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]]>Zeitschrift sur Politik und Literatur,
herausgegeben von
GlttMM SMMG und IM-M Gsl^MN.
12. Jahrgang.
I. Semester. I. Kant.
Leipzig,
Verlag von Friedrich Ludwig Herbig.
1853.
Fidclio von Bcethhoven. ^62
Hinter Ms liegen wieder die Freuden und Leide» eines Jahres, eine geringe
Zahl von Hoffnungen, welche erfüllt worden find, und die große Menge von
Erwartungen, welche sich als Täuschung erwiesen habe». Ueber die bunten Lichter
der Weihnachtszeit sehen wir alle zusammen, Schreibende und Lesende, Regenten
und Negierte in die wogenden Nebel vor uns hinein, in eine unbekannte Zukunft, die
Jeder in seiner Weise zu deuten und zu formen strebt, je nach seinen Idealen
und praktischen Zwecken, von der jeder Einzelne, je nach Temperament und
Bildung, das Beste hofft oder das Schlimmste befürchtet. Keine politische Partei
wird, wenn sie ehrlich urtheilt, mit den Ereignissen deö letzten Jahres zufrieden
sein können. Selbst die Regierungspartei, trotz der Fortschritte, welche ihre
NcactionSpläne in einzelnen Staaten gehabt haben, empfindet nichts weniger als
Behagen darüber. Zu viel Unzufriedenheit, zu viel Haß, zu viel Schwäche ist
in den letzten Jahren zu Tage gekommen, hat die Gemüther verbittert, den Blick
umflort, das Urtheil irre geleitet. In solchen traurigen Zeiten ist selbst das ein
Zeichen der Güte und der Tüchtigkeit einer Nvlkönatur, wenn solche Stimmungen
und Zustände allgemein von den Einzelnen als ein Unglück gefühlt und ge¬
tragen werden. Zwar ist mürrisches Schweigen weder eine imponirende, noch
eine besonders edle Thätigkeit der Volker, aber wir können in unsrer Nähe sehe»,
daß uicht jede Nation in Niederlagen und Unglück selbst diese Art von Haltung
besitzt. Keine Partei in Dentschland hat Ursache, mit dem vergangenen Jahre
zufrieden zusein, denn keiner ist es gelungen, darin männliche Kraft und sicheres
Selbstgefühl zu entwickeln.
Wenn aber das politische Leben ^er Deutschen reich an demüthigenden Erschei¬
nungen war, und wenn selbst in allen Kreisen der praktischen productiven Thätig-
t'eit die unsichere Zukunft der Handelsgesetzgebung und die Verminderung pro-
ductiver Capitalien durch eine massenhafte Auswanderung Mißbehagen hervor¬
brachten und fröhlichen Aufschwung hinderte», so giebt es doch eine Richtung des
deutscheu Lebens, in welcher wir sehr gesund und stark geblieben sind, wo kräftige
Sicherheit, patriotischer Sinn und ehrliche Selbsterkenntniß gerade jetzt in aus¬
gezeichneter Weise sichtbar geworden sind, das ist unsre Wissenschaft. Nie viel¬
leicht hat die deutsche Wissenschaft ihren Beruf so hoch gefaßt und so sicher und
edel, so bewußt und geistvoll darauf hingearbeitet, als gerade in den letzten
Jahren. Unsre wissenschaftliche Kritik hat die glücklichsten Versuche gemacht,
popnlair zu werden und durch ihre Analysen der Verbildung und Rohheit ent¬
gegenzuarbeiten. Die Naturwissenschaften kämpfen mit jugendlichem Feuer gegen
jede Art von Mysticismus und pfäffischer Despotie. Die ernste Muse der Ge¬
schichte ist rastlos bemüht, dem ermüdeten und gedrückten Volke seinen hohen
Wcltenberuf vorzuhalten, ihm einzelne patriotische Charaktere als Musterbilder
aufzustellen, und die ewigen Gesetze, uach denen die Volkskraft im Staate fluthend
und ebbend vorwärts strömt, zu ergründen und darzulegen, zur Lehre, zur Züch¬
tigung, zur Besserung.
Und deshalb können wir unser Blatt zum neuen Jahr nicht würdiger ein¬
weihen, als dadurch, baß wir das Buch eines bedeutenden und patriotischen
Mannes anzeigen, in welchem die Wissenschaft edel und hülfreich zum Volke
redet, einer liebevollen Freundin gleich, welche den tranken und niedergeschlagenen
Helden tröstet. In der Vorrede spricht Gervinus aus, daß er unternommen
habe, eine Geschichte der ersten Hälfte unsres Jahrhunderts zu schreiben, und die
Einleitung dazu als besonderes Werk vorausschicke, weil seine Freunde geglaubt,
ihr Inhalt könne dazu dienen, gesunkenes Vertrauen wieder zu beleben, gebeugte
Kraft aufzurichten. Auch wir wünschen und hoffen, daß die Schrift diesem patrio¬
tischen Zweck dienen wird. Der Verfasser ist bemüht, der bangen Furcht ent¬
gegenzutreten, welche sich in dieser Zeit der Verwirrung und Niedergeschlagenheit
nur zu oft in den Seelen der Edlere» regt, daß die Volker Europa'S, zunächst das
deutsche Volk, tu einer Periode des greisenhafte» Ablebens begriffen seien. Er
versucht aus dem Lauf der Geschichte allgemeine Gesetze der Staatenentwickeluug
zu construiren, weist einen constanten innern Proceß bei allen Culturvölkern
nach, der vom patriarchalischen Königthum durch den Aristviratismns und die
concentrirte Tyrannis Einzelner zu volkstümlicher Freiheit nothwendig hinführt.
Er weist nach, wie dieses große Gesetz für Mittelalter und neue Zeit modificirt
und genauer bestimmt wird durch den Gegensatz zwischen romanischer und ger-
manischer Individualität in der Völkerfamilie Europa's; wie über aller Verwirrung
und allem Unglück, welches Böller und Staaten seit dem Untergange des
Alterthums betroffen, doch im Großen ein stetiger Fortschritt zu immer höheren
Bildungen der Staaten unverkennbar sei; wie über den Schwankunge» der Par-
leim und den partiellen Zerstörungen durch den beschränkten Egoismus Einzelner
die Lebenskraft der Nationen nud der Zwang der Verhältnisse unzerstörbar nach
einem hohen Ziele hinarbeiten; wie auch die Reaction unsrer letzten Jahre Nichts
weiter sei als ein Moment in den großen Bildungsprocessen der europäischen
Staaten, ein Uebergang, gegen den wir zu kämpfe» haben in dem frohen Gefühl,
daß der endliche Sieg unsrem Kampfe nicht fehle» kaum In der Methode
seiner Darstellung wird die Kritik Manches auszusetzen habe». Gege» sei» Zu¬
sammenfassen der ungeheuern Summe von historische» Erscheinungen unter be¬
stimmte Gesichtspunkte, gegen das doctrinaire Formulircu der nationalen Eigen¬
thümlichkeit wird sich mancher gegründete Einwurf machen lassen. Große, höchst
wichtige Richtungen des Völkerlebens, welche bildend und bestimmend auf die
Schicksale der einzelne» Staate» wirken, die Lebensverhältnisse der productiven
Kraft und die Richtungen des ideale» Lebens, z. B. Geld- und Besitzverhältnisse,
Handel, Industrie, Kunst und Wissenschaft, sind bei seiner Construction des
geschichtlichen Processes vielleicht z» we»ig i» Rechnung gebracht; bei einzelnen
Ansichten ist wol auch größere Präcision des Ausdrucks zu wünsche»; aber wie sich
der Leser mich kritisch zu Einzelheiten des Buches stellen möge, der Totalein¬
druck des Werkes ist doch so, daß dasselbe als ein Weihnachtsgeschenk für das
deutsche Volk mit lebhafter Freude begrüßt werden muß. I» den letzten
Resultaten des Buches verehren wir eine Ueberzeugung, welche so edel und
groß ist, daß wir dieselbe zum Eigenthum aller Gebildeten unsres Volkes machen
möchten.
Das Buch selbst sei uns ein Beweis, daß auch die letzten schweren Jahre
neben vielem Schlimmen ihren großen Segen für uns gehabt haben. Der kritische
Ernst, mit dem wir die Vergangenheit unsres Lebens gegenwärtig betrachte», hat
nicht mehr je»c ironische Freiheit, mit welcher der Deutsche sonst wol gleichmäßig
seiue Staateuverhältnisse und die der alten Griechen oder der Chinese» betrach¬
tete. Der Schmerz und die Arbeit der letzten Jahre haben in den Seelen aller
Besseren jenen patriotischen Si»n wach gerufen, der sie zwingt, für ihre
politischen Ueberzeugungen mich in der Wissenschaft zu arbeiten, und die
Totalität eines deutsche» Gemüthes auch da zu zeige», wo man sonst gewöhnt
war, nur zu viel von demselben zu perla»g»er. Den Geist und das Wissen der
deutschen Gelehrten hat die Welt immer geachtet. Die Vertreter unsrer Wissen¬
schaft verstehen jetzt zu zeigen, daß ihnen auch die höchste Tugend des Mannes
nicht fehlt, Gesinnung, sittliche Kraft und treue Liebe zum Vaterlande.
Dieses Stück ist das einzige Drama im höhern Styl, welches in der gegen¬
wärtigen Wintersaison der Bühnen bedeutende Erfolge errungen hat. Es wird
auf allen größeren Theatern aufgeführt oder einstudirt. Der Dichter selbst hat
dnrch seinen „Erbförster" ein lebhaftes Interesse für sein Talent erweckt. Man
durfte erstaunen über seine Fähigkeit, leidenschaftliche Gefühle mit dem wirksam¬
sten dramatischen Detail zu schildern, zumal das Detail dem Schauspieler und der
Aufführung vollständig aptirt war, ohne daß der Verfasser jemals an eigenen
Stücken auf der Bühne Erfahrung gemacht hatte. Der Erfolg des Erbförfters
wurde durch den ästhetischen Fehler beeinträchtigt, daß Ursache und Wirkung
in keinem Verhältniß standen, daß Ton und Motive der Handlung aus der Sphäre
des bürgerlichen Schauspiels entnommen waren und darauf ein höchst tragischer
Schlich ohne innere Nothwendigkeit, nur durch Gefühlscapricen und Charakter¬
wunderlichkeiten motivirt, ausgebaut wurde; dieses Mißverhältnis gab der ganzen
Handlung etwas Willkürliches und Grausames. Trotz dieser Uebelstände war
man berechtigt, große Hoffnungen auf die spätere» Leistungen eines Talents
zu setzen, welches in so ausgezeichneter Weise die Eigenschaft besaß, — bei unsren
dramatischen Schriftstellern die seltenste von allen — starke Leidenschaften kunst-
gemäß darzustellen.
Das neue Trauerspiel erfüllt diese Hoffnungen nur zum Theil. Wieder
haben wir Gelegenheit, die glänzende Seite seiner Begabung, diesmal am höhern
Styl der Tragödie zu bewundern, aber-wieder zeigen sich in der Construction
der Handlung Uebelstände, welche nicht verdeckt werden können durch die
brillante Ausführung einzelner Scenen; und obwol durch dieses Drama die
Achtung vor der Begabung des Dichters nicht vermindert wird, so muß die Kri¬
tik doch zweifeln, ob sie gerade in dem, was an dem frühern Stück schwach war,
eiuen Fortschritt rühmen kann.
Der Inhalt des Trauerspiels ist folgender. Lea, Frau des Mattathiaö,
eines Priesters zu Mvdin, Mutter von sieben Söhnen, stolz auf ihre Abstammung
aus dem Hause David's und auf den reinen Glauben ihrer Familie, offenbart ihrem
LieblingSsvhne Eleazar, der auf seinen Heldenbrnder Juda neidisch ist, daß ihr
vor seiner Geburt durch einen Traum geweissagt sei, Eleazar werde Hohepriester
und König der Juden werden. Juda selbst, die starke Heldenkraft der Familie,
ist der Mutter verleidet, weil er Naizmi, die Simeitin, Tochter des Heuchlers
Boas, aus niederem Stamme, zum Weibe genommen hat. Jerusalem seufzt unter
der Despotie des Antiochus, welcher als Statthalter seines Baders, des Syrcrkönigs
Antiochus Epiphancs, daselbst regiert. Griechische Sitte und servile Gesinnung
scheinen die Kraft des jüdischen Volkes aufgezehrt zu haben. Doch die Fa¬
milie MattathiaS bewahrt tren die alten Erinnerungen und den Glanben der
Väter, und Mattathias selbst zürnt seinem Sohn Juda, weil dieser mit lebhaften
Farben die Demoralisation des Volkes schildert. Da dringt in das Thal die
Kunde, daß durch eine grausame That der Syrer der Oberpriester der Juden
mit seinem ganzen Hause hingeschlachtet worden ist. Den nächsten Anspruch auf
diese Würde hat die Familie des Mattathias. Die Mutter hält dies für ein
Zeichen, daß für ihren Liebling Eleazar jetzt die Zeit zu Handeln gekommen sei,
welche der eitle Jüngling »»geduldig erwartet. Er zieht mit dem Segen der
Eltern ab »ach Jerusalem, dort die Patrioten zu Samuel» »ud die höchste Würde
für sich zu erwecrbeu. Juda läßt ihn ziehen, er urtheilt, daß die Zeit uoch nicht
gekommen ist, wo die Volkskraft zum Kampfe gegen die fremden Tyrannen aus¬
gerufen werden kann. — Im zweiten Act ist der Greis Mattathias dem Ster¬
ben nahe. Die Familie wird aus dem Thal znsamme»ger»fen, und die stolze
Lea zeigt sich uoch in dieser Stunde deö Schmerzes unhold gege» die weiche,
liebevolle Schwiegertochter Ramri. Als die Kinder den Sterbenden umstehen,
kommt auch Eleazar aus Jerusalem, den letzten Segen des Vaters zu empfangen.
Er hat sich den Syrern angeschlossen und mehr geopfert, als Recht und Ge¬
wissen erlaubt hätten. Die Mutter weiß davon, aber in ihrer blinden Liebe sieht
sie in der Freundschaft mit den Fremden nnr ein Mittel zur Erhöhung ihres
Sohnes. Sie will den Segen des Vaters noch sür diesen Sohn gewinnen,
aber ein fanatischer Verwandter, JojakiM, sagt dem Sterbenden, daß sein Sohn
ein Verräther geworden sei. Bevor der Vater dem Sohne fluchen kann, tragen
die Simeiten die Nachricht herzu, daß ein Syrerhanfe in das Thal dringe. Die
Syrer treten auf, heischen Unterwerfung unter die griechischen Götter ihres
Königs, lassen einen Altar aufrichten und fordern von dem versammelten Volk
und dem Hause des Mattathias die Anbetung der Athene. Eleazar steht un¬
schlüssig, Juda sendet heimlich nach Waffen nud Männern dnrch das Thal. Unter¬
des) erklärt sich die falsche Sippschaft der Simeiten bereit, vor den fremden Göttern
zu beten, da cutbvennt der Zorn Juda's, er tödtet den abtrünnigen Simei am
Altare, stürzt den Altar um, treibt mit dem empörten Volk den Syrerhanfcn
ab und ruft die Juden zu deu Waffen. Mattathias segnet seinen Sohn Juda
und stirbt. Eleazar kehrt wieder neidisch nach Jerusalem zurück. — Im dritten
Act hat Juda deu jüngern Antiochus geschlagen und läßt die fliehenden Syrer
verfolgen. Ein Gesandter Roms bietet ihm römischen Schutz an, er weist diesen
Schutz mit heldenmüthigen Selbstgefühl zurück. Da plötzlich rückt ein neues,
größeres Heer des altem Antiochus heran, und der Abend des Sabbath ist an¬
gebrochen, wo das Gesetz den Juden verbietet zu fechten. Sie werden aus dem
Schlachtfeld ihres Sieges von dem neuen Heere angegriffen, alle Anstrengungen
des Juda, sie zum Kampfe zu bewegen, sind vergeblich, der fanatische Jojakim
ermahnt sie, nicht dem Feldherrn, sondern dem Gesetz zu gehorchen, sie lassen
sich widerstandlos und Psalmen singend hinwürgen, Juda selbst, verlassen von
seinem Volk, entkommt kämpfend wie ein Löwe. Die siegreichen Syrer treten
ans, im Gefolge des jüngern Antiochus erscheint Eleazar, ihm wird zum Lohn
für seine Ergebenheit die Hohenpriesterwürde versprochen. Die Scene verwan¬
delt sich. Im Felsenthale von Modin hat die Mutter Lea mit den jüngeren
Söhnen und dem Volke einen Häuser Syrer zurückgeschlagen, dem die Simeitcn
die Stadt überliefern wollten. Die Simeiten selbst kommen mit ihren Anhängern,
um Lea und ihre jüngsten Kinder gefangen zu nehmen !»ut den Syrern zu
übergeben. Die Volksmassen toben feindlich gegen einander, Lea ist in Gefahr,
mit ihren Anhängern übermannt zu werden, da dringt die Nachricht in das
Thal, daß Juda einen großen Sieg über die Syrer erfochten habe. Der
Zorn der Volksmasse wendet sich jetzt gegen die Simeiten, sie sollen gesteinigt
werden, Lea will mich NaiMu, das Weib ihres Sohnes, erbarmungslos todten
lassen. Da stürzt Jvjaknn mit der Nachricht herzu, daß das siegreiche Heer der
Juden vernichtet sei. Wieder wendet sich das unbeständige Volk ans die Seite
der Simeiten, Lea steht verlassen, sie erfährt noch, daß ihr Sohn Eleazar ab¬
trünnig geworden, ihre Kinder werden ihr entrissen und fortgeführt.
Im vierten Act führen die Simeiten die jüngsten Kinder der Lea auf der
Straße nach Jerusalem zu den Syrern, Lea, die Mutter, folgt verzweifelnd dem
Häuser, und wird von den höhnenden Feinden an eine Sykomore gebunden.
In dieser Lage findet sie Naval, bindet sie los und hilft ihr weiter. Dies ist
eine Scene von großer poetischer Kraft und Schönheit. Juda kommt, findet
sein geliebtes Weib, erfährt, daß die Brüder gefangen sind, die Mutter ihnen
nacheile in das Lager der Syrer, und spricht seinen Entschluß aus, sich uach
Jerusalem durchzuschlagen, das von den Syrern belagert wird nud in Gefahr ist,
ausgehungert zu werde». Die Scene verwandelt sich in eine Straße Jerusalems;
Hunger nud Verzweiflung. Zwei treue Brüder Juda's bemühen sich vergeblich,
den Muth des Volkes zu beleben, da erscheint Juda selbst, seine Gegenwart
erweckt den Muth' der Verzweifelten, es wird ein Ausfall beschlossen. — Fünfter
Act. Zelt des Syrerköuigs vor Jerusalem. Das Heer ist muthlos geworden,
in anderen Ländern des Königs ist Aufruhr entstanden, Eleazar zeigt sich als
Höfling im Gefolge des Königs. Da wird Lea dnrch die Wache hereingeführt.
Sie ficht um daS Leben ihrer jüngste» Kinder. Der König verheißt ihr das
Leben der Kinder, wenn diese von ihrem Gott abfallen wollten, sie verspricht
ihnen zuzureden, die drei jüngsten Kinder werden hereingeführt. In furchtbarem
Kampf zwischen Mutterliebe und Pflicht ernährt sie die Kinder, dem Glauben
treu zu bleiben und zu sterben. Eleazar wird durch diese Scene so erschüttert,
daß er aus dem Dunkel des Zeltes hervortritt, sich ans die Seite seiner Familie
stellt und dem Syrerfnrsten aussagt. Unter dem Segen der Mutter werden die
vier Kinder, welche begeistert Psalmen singen, zum Tode abgeführt. Die Mutter
bricht zusammen. Der Todesgesang der Kinder ist verklungen, da stürmt Juda
mit dem Volk von Jerusalem in wildem Anfall gegen das Heer des Königs;
es ist ein kleiner verzweifelter Haufe, welcher sich Bahn bricht, aber der König,
verstimmt durch die politischen Nachrichten, die er vorher erhalten, und erschüttert
durch die furchtbare Scene vor seinen Augen, erbietet sich gegen Juda, mit seinem
Heer abzuziehen. Die sterbende Lea ermahnt den Sohn, sich damit zu begnügen;
die Syrer ziehen ab, Lea stirbt, das befreite Volk bildet die Schlußgruppe
um Juda.
Diese Darstellung des Inhaltes wird genügen, eine Vorstellung von dem zu
geben, was an der Handlung unkünstlerisch ist. Es sind einzelne Momente ans
dem Freiheitskämpfe eines Volkes und aus dem Schicksal einer Familie mit
einander verbunden. Der Zusammenhang der Begebenheiten ist ein zufälliger,
oder wenn mau will, epischer. Die Einheit und innre Nothwendigkeit der
Handlung fehlt. Denn es ist nicht der übermüthige Stolz der Mutter, welcher
ihre Kinder zum Untergange führt — was der Dichter selbst als Grundidee der
Handlung anzusehn scheint — sondern es sind unglückliche Zufälle, Spiele des
Krieges u. s. w.
Dieser Volkskrieg selbst aber ist als Hintergrund der Handlung durchaus
nicht durchsichtig, uicht leicht verständlich, ja kaum interessant. Zwei Syrerkönige,
verschiedene Kriegsscenen, ab- und zuziehende feindliche Heere, der Zufall, daß
das Volk den Wahnsinn hat, am Sabbath nicht zu kämpfen, sondern sich schlachten zu
lassen, und vollends am Schluß die zufälligen politischen Motive, welche den Antiochus
bewegen, abzuziehen, geben diesem ganzen Kampfe etwas Willkürliches, Unverständ¬
liches. Dazu kommt ferner, daß das Volk selbst verdorbener, launischer, ja verrückter
dargestellt wird, als wünschenswert!) ist, wenn wir für seine Sache ein lebhaftes
Interesse haben sollen. Allerdings werden in Wirklichkeit bei einem Volkskampfe alle
die ausgeführte» Stimmungen, knechtische Servilität, wahnsinniger Fanatismus, hohe
Begeisterung, von dem Erfolge abhängiges Schwanken, sich vorfinden, aber nur ein
Geschichtswerk hat Raum, solchen Wechsel zu erklären und zu motiviren. In dem
geschlossenen Raume deö Dramas ist keine Möglichkeit, diese ewigen Umschläge
als etwas Natürliches in ihrer relativen Berechtigung darzustellen; sie vermehren
nicht unser Interesse an der Handlung, sondern sie verringern es, denn sie zer¬
streuen, und der Glaube selbst, für welchen die Familie des Mattathias stirbt und
Juda streitet, wird uns dadurch noch fremdartiger. Und doch ist diesem Kampfe,
der willkürlich und wunderlich um die Hauptpersonen hcrumwvgt, so viel Raum
geopfert, daß kein Raum mehr für eine gründlichere psychologische Darstellung
der einzelnen Charaktere blieb. — Es ist zunächst Vereinfachung des Hinter¬
grundes zu wünschen, das Hin- und Herziehen der Heere, die zwei verschiedenen
Antiochus, vor Allem die Unordnung in der zweiten Hälfte des dritten Actes
wären leicht wegzuschaffen. In dieser Scene, welche mit Gefangennahme der Kinder
Lea's endigt, verwirren die verschiedenen Stimmungen, welche vom Kriegsschauplatz
gebracht werden, anch die Zuschauer. Der Kampf der Parteien dauert zu lange,
und es würde förderlich für die Aufführung sein, wenn die ganze erste Hälfte
dieser Scene getilgt würde und man nnr den Haß der Einleiten und die Ge¬
fangennahme der Kinder als Folge der Verlornen Schlacht sähe.
Alle Personen sind mit wenigen, ja mageren Umrissen charakterisier, am
ungenügendsten Eleazar. Und in den Situationen ist den Menschen oft nicht
Zeit gelassen, das ihrer Stimmung und ihren Verhältnissen Entsprechende zu
thun und zu sage». Nur einige Beispiele statt vieler. Im Anfang ist festliche
Stille vor dem Hause des Mattathias. Juda tritt auf, einen todten Löwen
über der Schulter; er wirft den Löwen in eine Felsschlucht, Niemand auf der
Scene äußert Frende oder Verwunderung darüber, daß der Feind der Herden
getödtet sei, nicht die kleinen Brüder, nicht die Kränze windenden Mädchen. Die
Mutter begrüßt deu eintretenden Juda mit den Worten: „Zu deines Vaters Fest
kommst du allein u. s. w." Bei diesem Moment tan» die Regie verbessern, was
der Dichter weggelassen hat, etwa durch das stnnime Spiel der Nebenpersonen, die
sie in Gruppe» um Juda und den Felsspalt bewegen wird, oder noch lieber dadurch,
daß sie den Löwen ganz wegläßt. Aber nicht immer ist dergleichen ein leichtes Ver¬
sehen, oft versäumt der Dichter deshalb seine Personen in den einzelnen Situationen
das für sie Naheliegende, Zweckmäßige, Verständige sagen und thun zu lassen,
weil er die jedesmaligen Seelenzustände derselben nicht deutlich und genau genug
empfindet. Als z. B. ,am Ende des ersten Actes Eleazar nach Jerusalem zieht,
dort die Oberpriesterwürde für sich zu erwerben, spricht Juda kein Wort dagegen,
nicht einmal ein Wort der Warnung. Es ist wahr, er ist dem Bruder fremd,
er kaun mit orientalischer Ergebenheit den Willen der Eltern respectiren, er ist
überhaupt kein Manu vo» vielen Worten, aber in diesem Fall muß er, der Klare,
Verständige, Patriotische doch sprechen. Einer von seinem Geschlecht will aus
thörichter Lerblcuduug in die Schlingen der Feinde laufen, er kann als abtrünniger
Bruder des Juda der guten Sache unendlich schaden, er stürzt sich in Gefahren,
die ihn selbst verderben müssen, und gegen das Alles sollte der große, kräftige,
weise Sinn des Juda auch nicht ein Wort finden? Kein Wort, den Knaben, den
eitlen Thoren stark und überlegen zurecht zu weisen, wenigstens die Familie
zu warnen? — Und ferner, als im zweiten Act Eleazar als Anhänger der Syrer,
als Verführter und Ueberläufer am Todtenbett des Vaters und beim Ausbruch
des Aufstandes gegenwärtig ist, hat Juda wieder kein Wort, keine Handlung für
diese», jetzt, wo es unpolitisch,, unrecht, unverantwortlich ist, den Schwächling
wieder an den Syrcrhof zurückzulassen; versucht er weder durch Gewalt uoch
Grüude ihn abzuhalten. — Und ähnliche Unvollkommenheiten der Empfindung
lassen sich in jeder Situation nachweisen. Dadurch verlieren sämmtliche Charaktere
einen guten Theil ihres individuellen Lebens, sie werden zu Schatten der Begeben¬
heiten. Das Publicum weiß vielleicht nicht, was ihnen fehlt; aber Darsteller und
Hörer vermissen doch den größten Theil des reizenden Behagens, das stets durch die
wahre und genaue Darstellung menschlicher Natur ans der Bühne hervorgebracht wird.
Dieser Mangel an Wahrheit und Genauigkeit in der Zeichnung entspringt zuletzt ans
einer Schwäche, entweder des Talentes, oder des ästhetischen Gemeingefühls, oder
beider, er ist bei allen unser» neueren dramatischen und epischen Dichtern sehr
zu beklagen; aber das Talent, welches am meisten von Allen Hoffnung gab, ihn
zu überwinden, ist doch Otto Ludwig, und wir möchten ungeduldig werden, daß
dies ihm bei einem spröden und undankbaren Stoff nicht hinreichend gelungen ist.
Von den Charakteren ist Juda gut, in einzelnen Scenen vortrefflich gezeichnet.
Diese sichere, fröhliche Heldenkraft, der starke Sinn, welcher handelt, ohne viele
Worte zu machen, und dabei das reine innige Verhältniß zu seiner Frau, das
alles thut sehr wohl. Dagegen ist das Gegenbild Judas, Eleazar, verunglückt. Diese
Figur hat kein inneres Leben, welches uns interessiren könnte, sie erscheint als
störende Beigabe selbst in der Stcrbescene des Vaters, als Begleiter des Antiochus,
sogar die Reue und Rückkehr zur Familie beim Martyrium der Brüder sind
kurz, scizzeuhaft und deßhalb uicht glaubwürdig gezeichnet. Am wenigsten klar sein
Verhältniß zur Mutter. Bei aller thörichten Zärtlichkeit Lea's für diesen Sohn
weiß und erfährt sie im zweiten Act zu viel von seinem Abfall und seiner Freund¬
schaft zu den Syrern, als daß die stolze Patriotin im dritten Act noch irgend eine
Hoffnung ans ihn setzen könnte. Die Annahme, daß Mutterliebe sich über Fehltritte
eines Lieblings zu täuschen vermöge und geneigt sein werde, immer wieder zu hoffen,
nützt dem Stück nichts, der Dichter hätte uns diesen Proceß der Selbsttäuschung
in der Seele der Mutter darstellen müssen. Für alle solche charakterisirende Züge war
aber kein Raum. Unter den Nebenfiguren sind noch die Heuchler und Schleicher
aus dem Hause der Simciteu gut gezeichnet, ebenso Rasal, das zarte liebevolle
Weib des Juda. Im Vordergrund vor Allen steht Lea. Das menschlich
Erschütternde, der Mittelpunkt der Handlung, das, was dem Stück seinen Erfolg
und relativem Werth giebt, ist die Darstellung des Leidens und der heroischen
Kraft der Mutter. Sicherlich Gefühle von dem höchsten tragischen Werth, voll¬
ständig geeignet, den Zuschauer zu erschüttern und fortzureißen; nur hat die Ge¬
legenheit, bei welcher sie zur Darstellung kommen, für die Tragödie doch wieder
ihr Bedenkliches. Vier Kinder der Frau sollen den Martertode im feurigen Ofen ster¬
ben. Diese furchtbare, erntete Thatsache sollen wir mit in Kauf nehmen, aber eine so
unerhörte gransame Begebenheit empört unser menschliches Gefühl in einem Grade,
welcher für die reine tragische Wirkung unvortheilhaft ist. Was haben die rüh¬
renden guten Kinder verschuldet? Wir werden erschüttert bis aufs Innerste, aber
sie jammern uns zu sehr und der Gedanke an ihren qualvollen Tod stört
uns als widrig. Daß durch ihr heldenmüthiges Martyrium der Syrcrkönig zum
Abzug und Friede» bewogen werden kauu, glauben wir nicht, denn wir haben
zu wenig menschliches Leben in ihm gesehen. Daß diese grausame That die
Katastrophe einer tragischen Handlung darstelle, empfinden wir auch nicht, denn
die Liebe der Mutter zu Eleazar, welche im Anfänge des Stückes das Motiv für
die Verwickelung der Handlung zu werden scheint, ist durchaus nicht Schuld an
dem Tode der jüngsten Kinder, und daß die unschuldigen Kinder büßen müssen, was
Mutterstolz und Familienadel anderweitig verschuldet, das ist nus uoch störender
als das Abschlachten des jungen Macduff bei Shakespeare. Aber abgesehen von
diesen Bedeuten, ist die Ausführung dieses Theils zu loben, sogar zu bewundern.
Mit einem merkwürdigen technischen Geschick hat der Dichter die ganze große Scene
des Martyriums so arrangirt, daß das Gräßliche und Barbarische des Actes sich
so viel als möglich der Phantasie entzieht und die Leidenschaft wie der edle Sinn
der Mutter imponirend in den Vordergrund treten. Diese Scene halten wir nicht
nnr für die Hauptscene des Stückes, sondern in Darstellung des Pathos über¬
haupt sür das Beste, was in den letzten Jahren in Deutschland im tragischen
Styl geschrieben ward. Hier, wo der Dichter Raum für detaillirte Darstellung
eines großen menschlichen Gefühls hatte, zeigt sein merkwürdiges Talent wieder,
was er vermag und was er uus werden könnte, wenn — wenn er erwerben kann,
was ihm noch fehlt.
In diesen ausgeführten Scenen ist auch die Sprache edel und in der Regel
wohllautend. An vielen andern Stellen sieht man, daß der Vers dem Dichter,
der eine so charakteristische, markige Prosa schreibt, noch Schwierigkeiten bereitet.
In dem Bestreben, klar zu sein, ist er oft undeutlich und rauh.
Wieder erkennen wir in diesem Stück ein dramatisches Talent, welches die vir¬
tuose Kraft hat, große tragische Gefühle in imponirender Weise durch hohes
Pathos und dramatisches Detail herauszubilden, aber wieder empfinden wir anch,
daß der Dichter die Eigenschaft noch nicht besitzt, eine dramatische Handlung in,
ihrem innern Verlaufe durch die Charaktere mit Freiheit und übersichtlicher Klar¬
heit zusammenzufassen, und es scheint uns, als ob er lebhafter und genauer die
pathetischen und leidenschaftlichem Ausbrüche einzelner Persönlichkeiten empfände,
als die Wirkung, welche die Charaktere in den Situationen ans einander ausüben,
jene Gebundenheit und jenes Zusammcnhandcln aller Einzelnen in der Situativ»,
welches i» seiner Combination den Gesammteindruck jeder Scene und jedes Theiles
der Handlung stark »ut kräftig heraustreiben wird. Es fehlt ihm noch die Fertigkeit, die
bedeutenden Menschen, welche er zusammengebeten hat, gesellschaftlich zusammenzuhal¬
ten, planmäßig nach einem bestimmten Ziel zu dirigire» und in jedem Augenblicke des
Zusammenspiels mit Sicherheit zu empfinden, was in der Seele eines jeden
Einzelnen von ihnen vorgehen muß.
Ob diese Eigenschaft eines dramatischen Dichters durch das Leben selbst, durch
geselligen Verkehr mit vielen andern Menschen und durch eine starke praktische
Thätigkeit erworben werden kaun? Es ist möglich, und gern möchten wir dies gerade
bei der schönen Kraft Ludwig's hoffen.
siÄWttä-soKool.)
In dem stark bevölkerten Quartier bei Smithfield am Fuße von Hollborn-Hill
erstreckt sich Farringdvustreet gen Süden und Ficldlane gegen Norden. Ficldlane
ist eine der ärmsten Straßen Londons, nud da der dortige Bürgerstand, trotz
Allem, was in den letzten Jahren geschehen ist, dennoch die „Straßenbevölkcrnng"
fast eben so betrachtet, wie ein Kolonist die ihn umschwärmenden Indianer; so
ertheilt man dem Fremden, der sich in diese Gegend hinein ,, wagen will",
sollte es auch am hellen Tage sein, dennoch eine Menge Warnungen und guten
Rath. -
Das hat indessen Nichts zu bedeuten; freilich ist die Straße enge und dunkel,
sie wimmelt von Menschen, welche einem alte Kleider, oder „neue" ostindische
Tücher, oder Federmesser, Vögel in Käsigen und Käfige ohne Vögel, oder
all dergleichen mehr feilbieten, und muß man sich nach dem Orte seiner Bestimmung
bei ihnen erkundigen, so sind sie etwas zudringlich in ihrer Dienstwilligkeit, jedoch
plötzlich, wenn man recht vom Schwarm umringt, fast in Verlegenheit geräth,
wie man alle ihre Fragen, Auf- nud Anforderungen beantworten soll, erweitert
sich die Straße bedeutend — deren eine Seite ist abgebrochen — man wird
wieder von Licht und Luft begrüßt, und gleich nächtlichen Schatten beim Sonnen¬
aufgang weicht die Menge zurück.
Da wo Ficldlane niedergerissen ist, bietet sich dem Ange ein großer mit
Schutt, Erdhaufen u»d Baugründen versehener offener Platz dar, eine neue
hübschere Straße scheint ans den alten Tollen erstehen zu wollen, ein Sinnbild
des geistigen, > moralischen Wirkens, welches hier herrscht und das man einen
Augenblick darauf kennen lernt. Rechts auf der andern Seite des Platzes steht
man an einem großen dunklen Hause mit großen Buchstaben die Worte gemalt:
„?le1ä-I.all<z-Kassxkä-8oKoo1".
Vor diesem Gebäude ist gleich einem großen breiten Graben ein Schnttplatz
von einem unangcstrichencn Geländer umgebe», so daß mau, um in das Haus
gelangen zu können, einen dicht vor dem Hause hinlaufenden schmalen Erdweg
entlang gehen muß.
Als ich hinein wollte, öffnete sich die Thüre, und eine Masse von Kindern
wogte singend eine schmale, steile Treppe hinab, Ich verstand nur die Worte:
„Kleine Kinder gehen ans zwei Beinen" und der Refrain war stets: „Eins,
Zwei, Drei, Vier, Fünfe". — Durch diesen Gesaug wurde die Ordnung erhalten,
unter welcher sie sich alle auf dem Schnttplatze aufstellten.
Eine einfach gekleidete hübsche Dame von ungefähr 30 Jahren folgte nach,
stellte sich vor das Geländer und commandirte — zu meinem Erstaune» die
Kinder singend. — Sie sing an: „edilcti-vn !c> nun ir» l>l,c:, »ut sogleich
wurde der Gesang angestimmt, dessen Inhalt sie ausführten:
Lliilclren «0 to ima dro
In alinöi'i'^, prott^ row,
?ootst.kps liglü, t-'loof bnM,
'I'i8 Ä Il»pp^, I>i>PP7 sigkt.
Lvittle^ turiüng rounä link multa,
On not Iool> upon tho grolinä!
Pollow ins! I^ollov ins!
8in-;ii>g morril.^. ^)
Nach einigen anderen Gesängen nebst zugehörigen Märschen, wurde ein den
Ausmarsch begleitender angestimmt, dem ich anch folgte, da ich mir unterdessen von
der Dame die Erlaubniß erbeten hatte, die Schule besuchen zu dürfen,
Es war ein sehr großer, höchst einfacher, aber luftiger Saal. Sparren
u»d Dachpfannen bildeten die Decke und eine Menge kleiner Bänke längs den
Wänden das einzigste Ameublement. Je zwei und zwei Bänke machten eine
Klasse ans und es befanden sich daselbst ungefähr 1ö0 Kinder in 12 — Is Klassen
eingetheilt. Da waren Knaben und Mädchen von acht bis zwei Jahren , ja Einige
waren noch so klein, daß der Bruder oder die Schwester sie ans dem Schooß
halten mußte, denn ohne das Kind mitzunehmen, konnten die älteren Geschwister
das Hans nicht verlassen.
Es waren nämlich die Kinder der Armen im District, ans denen ein
rax^ca-8Llwoi (Armen, oder richtiger Lumpen - Schule) gebildet war und das
Aussehen der Kinder entsprach vollkommen der Benennung. Einige von ihnen
waren recht ordentlich gekleidet, allein die Meisten zerlumpt, einige schmuzig und
andere mit bloßen Füßen.
Kinderchen wie ich's euch heiß',
Stellt euch auf hübsch reihenweis;
Leichter Schritt und heitrer Blick,
Davor weicht kein Ang' zurück.
Dreht euch um, und dreht euch wieder,
Schlaget nicht die Augen nieder;
Folget mir und thut wie ich,
Singet froh und inniglich! —
Im Allgemeinen hatten sie ein gesundes keckes Aussehen und nicht ein
Einziges besaß diesen scheuen, schielende» Blick, den man so oft in unseren Armen-
schnlen bemerkt. —
Für diese ganze Anzahl Kinder befand sich augenblicklich uur eine Lehrerin,
jene junge Dame dort; allein um die gehörige Ordnung zu erhalten war ihr ein
großer rvthhaariger schlecht gekleideter Knabe behilflich, der sein Amt gewissenhaft
und lautlos verrichtete; so wie serner ein junges Mädchen, die auf die. ganz
Kleinen achtete.
In jeder Klasse war der Geschickteste erwählt, die Anderen zu unterrichten;
Hier wurde buchstabiert, dort gerechnet, hier gelesen oder geschrieben, oder eine
Abbildung von Thieren und Pflanzen gezeigt.
In der Klasse der kleinsten Kindern saß ein fünfjähriges Mädchen, welches
das Wort Bär buchstabieren lehrte, indem sie eine Abbildung desselben zeigte n. s. w.
Der übrige Unterricht bestand in Religion, Gesangbuch- unb Bibel-Lesen, Gesang,
Geographie und vaterländischer Geschichte. Die Lehrerin ging ab und zu, ertheilte
Befehle, hörte zu, corrigirte und dies stets mit eifrigem, jedoch mildem Ernst.
In einer Klasse sollten Rechentafeln gebraucht werden. Ohne Auftrag und Er¬
laubniß holte ein Knabe dieselben zum Vertheilen herbei, ließ sie aber alle fallen,
wodurch viele entzwei brachen. Sie wandte sich mit den Worten zu deu Anderen
„Seht hier, Kiuder, wie es oft zu gehen pflegt, wenn man sich um Dinge
bekümmert, die einem Nichts angehen," und bestrafte deu Knabe», indem sie ihn
in eine Ecke verwies. Es war ein schiefköpfiger, schieläugiger, achtjähriger Knabe,
vierschrötig, unbändig, trotzig, nud schalkhaft von Aussehen, so recht ein englischer
Eulenspiegel. Er wollte sich keineswegs ruhig verhalten und die Geduld mit der
sie ihn behandelte und ihn verhinderte, eine totale Störung zu bewerkstelligen,
lehrte mich, weshalb die Kiuder so lebenSmuthig aussahen. Allein eine solche
ragglZä-setiool ist auch eine Freischule im wahren Sinne des Worts, es eristirt
in England kein Schulzwang, die armen Aeltern müssen dnrch freundliche Vor¬
stellungen dazu vermocht werden, ihre Kinder zum Unterricht zu schicken und die
Gesellschaften, welche diese Schulen leiten, müssen solche Lehrer und Lehrerinnen
wählen, die es verstehen, ohne Stock sertig zu werden. Es ist indessen ein
unrichtiger Ausdruck, daß die Gesellschaft Lehrer und Lehrerinnen wählt, denn
die meisten derselben sind selbst Mitglieder der Gesellschaft und verrichten ihr Amt
freiwillig und ohne Bezahlung, wie sie es sich auch sehr angelegen ^sein
lasse», bei deu arme» Familien umherzugehen, um dieselben dazu zu überreden,
ihre Kittder i» die Schule zu schicken Das Ganze ist el» für uns fast unbegreif¬
liches Freiheits-System. Die Laster und Fehltritte der ärmeren Volksklasse, ihr
Vorrecht, sich der Belehrung zu entziehen und die daraus fließenden, Unheil
bringenden Folgen, haben eine liebevolle Aufopferung in andere» Klasse» der Ge¬
meinde erzeugt nud diese ersetzt den Zwang des Gesetzes.
Sie unterrichten, ohne die persönliche Unabhängigkeit zu knechten, es ist
das Grundprincip von Großbrittanniens politischem Leben.
Um 12 Uhr, als die Schulzeit beendet war und die Kinder singend in
Reihen aufmarschirten, um das Zeichen zum Aufbruch zu erwarte», brach ein
heftiges Gewitter ans und die Kinder schauten etwas ängstlich empor, ob des
Geprassels, den der starke Regen gegen Dach und Fenster verursachte. Die
Lehrerin fragte sie, ob sie bange wären, und als Einige dies, wenn anch
zögernd, bejahten, frug sie: „Was ist Regen? Hierauf vermochten sie nicht zu
antworten, und sie erklärte ihnen, daß der Regen vom lieben Gott gesendet
würde, um die Erde zu erfrischen, weshalb wir also nur dankbar und nicht bange
sein müßten. Aber, fügte sie hinzu, der Regen ist naß, weshalb es am Besten
ist, ihr wartet hier, bis es aufgehört hat, laßt uns daher noch Etwas singen,
was denn auch mit obligaten Bewegungen ausgeführt wurde.
Als die Kinder weg waren, sagte sie mir, daß die ältere Jugend, welche
die Schule zu besuchen pflegte, augenblicklich mit Feldarbeit beschäftigt sei, allein
ich könne nächsten Sonntag-Nachmittag einen Theil derselben hier versam¬
melt treffen.
Ans meine Frage, wie es käme, daß einige dieser armen Kinder Verhältniß»
mäßig so gut gekleidet wären, antwortete sie mir, daß mit dieser Schule eine
Damen-Bekleidungs-Gesellschaft, laäies-l-lotlrmg'-soLiet^ verbunden sei, welche die¬
jenigen Kinder kleidet,, deren Eltern einen Penny wöchentlich bezahlen. Viele
Eltern könnten selbst dies nicht erübrigen, jedoch wäre diese Einrichtung im stete»
Fortschreiten begriffen, den» die Schule wirkte nach und nach ans das Hans,
indem die reinlich gekleideten Kinder Ehrgeiz und Sparsamkeit bei den noch
nicht zahlenden Eltern erregten. Hieraus ersieht man eines dieser höchst prak¬
tischen Mittel, wodurch man bedacht gewesen ist, der Schule eine Autorität zu
verschaffen, welche die nothwendigste Ordnung und den gehörigen Gehorsam erzeugt.
Darauf zeigte sie mir eine Anstalt, die zur Schule gehört,, nämlich in der
unteren Etage ein großes Zimmer, wo obdachslose Knaben und Männer bei Nacht
aufgenommen werden. Die Betten sind so einfach, wie mir denkbar, eine Pritsche
und eine wollene Decke; allein an dieses Schlaflvcal stößt ein Waschzimmer und
zwei Badckammern, und wenn die obdachlosen Menschen Morgens weggehen,
bekommt ein Jeder 12 Loth Brod, damit der Hunger sie nicht zum Stehlen
zwingt. Abends erhalten sie ebenfalls auf Begehren 12 Loth Brod und im
Winter steht denen das Schnllvcal erwärmt zu Gebote, welche keine Heimath
haben und der Versuchung entfliehen „wollen". Für die sich Einsindenden wird
Unterricht im Lesen ze. ertheilt, auch in Handarbeiten, jedoch ist dies bis jetzt noch
unvollkommen. Das Ganzeist ein Privatunternehmen, eine Gesellschaft verwaltet
es und bestreitet die Ausgaben durch freiwillige Beiträge, und Alles wird ohne
Rücksicht auf den Charakter des Kommenden' dargeboten —„wir frage» nicht, ob
unser Bruder gesündigt hat, sondern nur, ob er hilfsbedürftig ist" und ohne
dem Empfänger irgend eine Verpflichtung aufzuerlegen, die ausgenommen, Abends
und Morgens einen religiösen Vortvcig anhören und ein Paar Psalme singen
zu müssen.
Man unterläßt auch nicht, sie darauf aufmerksam zu macheu, wenn sie des
Morgens die Schlafstelle verlassen, um einen Erwerb zu suchen, daß, sollte ihnen
dies mißlingen, sie gerne am Abend wiederkommen könnten, um mit den Kindern
in der Schule Unterricht und Wärme zu genießen. Hieraus geht hervor, welch
einen gemischten Anblick die Schule namentlich im Winter darbieten muß.
Ein Begriff hiervon ward mir, als ich am nächsten Sonntag die Schule
besuchte. Das Zimmer war beinahe überfüllt; die kleinen Kinder waren bei
Seite gedrängt, und eine Masse vou über 400 Menschen saß in dichten Reihen
mitten im Zimmer. Sie waren fast alle zwischen -ki und 20 Jahren — mir
wenig Aeltere — und fast ohne Ausnahme zerlumpt und schmuzig. Viele hatten
kein Hemd an, man sah ihre gelbe Haut durch die Fetzen der Jacken; die Be¬
kleidung Einiger wäre» nur mit Bindfaden verbundene Lumpen. Und was für
Physiognomien waren darunter! Alle Armuth, Leiden, Unwissenheit, List
und Verbrechen von ganz London schienen sich in einer neuen menschlichen
Gesellschaft concentrirt zu haben, welche eine nicht früher gekannte Physiognomie
angenommen hatte. Das also sind die Früchte von Englands Politik in den
Jahren -1789 bis 1846, diese Krankheit brach in der überkräftigen Gemeinde ans
und verbreitete sich unbeachtet, während der Staat triumphirte, während die
Armee und die Flotte den Feind besiegten nud während die Maschinen alle Con-
currenten erdrückten! So sah das englische Proletariat ans! Hin und wieder
verriethen einige Züge eine bessere Abkunft, allein vom Strom ergriffen,
waren sie dem Elend verfallen; übrigens muß ich auch erwähnen, daß mau hier
oder dort doch ein reines Hemd und eine Physiognomie bemerkte, deren sich kein
ehrlicher Mann hätte schämen brauchen.
Diese ganze Masse war in Klassen vou 10 bis 12 Personen eingetheilt,
und in jeder Klasse saß ein Herr oder eine Dame und las aus der Bibel vor,
die nöthigen Erklärungen hinzufügend. Mehrere der Damen waren ziemlich
jung und eine derselben schien nicht über 20 Jahr alt zu sein.
Ob — wie ich wol hin und wieder gehört — etwas Heuchelei oder
Eitelkeit an dieser Wirksamkeit Theil nimmt, wage ich nicht zu entscheiden; aber
so viel ist gewiß, daß el» tiefer, Ehrfurcht gebietender Ernst über die ganze Scene
verbreitet war, und ein Jeder mußte erkennen, daß das bizarre Aussehen der
Zuhörer keineswegs die Bewunderung, die man den Lehrern zollen muß, schmä-
wrn kann. Schon unter dieser Meuge zu sitzen ist wahrlich eine Auf¬
opferung; denn es befinden sich daselbst bei weitem mehr lebendige Wesen als
Menschen.
Ein älterer Herr kam mir entgegen und hieß mich willkommen, ohne mich
einer Empfehlung oder meinem Namen zu fragen. An diesem Orte entledigt
man sich aller englischen Formalitäten. „Wenn es Ihnen gefällt, so gehen Sie
nur überall umher," sagte er, „aber hüten Sie Ihre Taschen; an uns vergreifen
sie sich nicht, allein für einen Fremden kann man nicht einstehen." Später
fragte er mich, ob ich Lust hätte, sie singen zu boren; denn, fügte er hinzu, wir
betrachten den Gesang als ein sehr wirksames Besserungsmittel. Ans ein, mit
einer Pfeife gegebenes Zeichen verstummte Alles; auf einen Wink mit der Hand
standen Alle wie Einer auf. Er hub einen Psalm an, der angenehm anzuhören
war, wozu der Umstand nicht wenig beitrug, daß die Psalm-Melodien in Eng¬
land viel hübscher sind wie die unsrigen und in einem viel lebhafteren Tempo
gesungen werden. Nach beendeten Psalm fing das Bibellesen an. An dem
einen Ende des Saals befand sich, einige Stufen erhöht, hinter einem Vorhänge
eine andere Abtheilung: nämlich erwachsene Mädchen und die Mütter der kleinen
Kinder. Dort hielten diese ihre Sonntagsschule und ein sehr alter, priesterlich
aussehender Mann las mit ihnen die Bibel. Indessen' hier erregte der Fremde
eine Störung, sei es nun ans dem Grunde, daß die Frauenzimmer im Allge¬
meinen keinen Associationsgeist besitzen, nicht begreifen können, daß man sich für
ein Ganzes interessieren kann, ohne das Individuum zu beachten, oder weil sie
sich überlmnpt langweilten.
Meine Anwesenheit daselbst traf mit dem dritten Sabbath im Monat zusam¬
men, an welchem sogenannte Betvereine prl^er-möetmxs gehalten werden, welche
als ein Hilfsmittel für das Gedeihen der Schule eingeführt sind, um im Verein
Gottes Beistand für dieselbe zu erflehen. Die kleinen Kinder wurden entfernt,
die Frauenzimmer stiegen gesenkten Blickes und mit gefalteten Händen von der
Galerie hinab und stellten sich in Reihen am Fuße der Treppe auf; die an¬
wesenden Damen neben dieselben. Nachdem ein Psalm gesungen,sollte gebetet weiden
und zu dem Zwecke fielen alle diese dichten Reihen, mehr als 500 Menschen, auf die
Knie nieder. Dies verursachte einen unbeschreiblichen Eindruck. Man sollte
glauben, sie begrüßten einen, sich am Eingang zeigenden Gott. Der Wahrheit
gemäß bestand daS Feierliche und Jmpvuireude doch nnr hauptsächlich in der
Bewegung der Masse; unter den Einzelnen waren gewiß Viele von Andacht er¬
griffen, aber die Meisten waren sichtlich müde und zerstreut.
Daß die materiellen Wohlthaten deö Wirkens Centrum sind, wird dem
Leser nicht unbemerkt geblieben sein. Einerseits wirkt die Bekleidung-Gesellschaft,
indem sie die Eltern veranlaßt, ihre Kinder zur Schule zu schicken; den Mütter»
wird mitunter auch ein Kleidungsstück, eine Mütze oder ein Band verabreicht,
und dadurch veranlaßt man sie anch, in der Schule zu erscheinen und an den
Betstunden Theil zu nehmen, nicht selten werden dieselben sogar von den Damen
zu Theegesellschaften, t,Lg,-ins<ztmxs, eingeladen. Anderseits wirkt das Schlaf-
local! und die Brodverthcilnng dahin, daß die vagabondirenden, bittre Noth
leidenden Menschen die Schule besuchen, um zu arbeiten und dem Bibellesen und
Betstunden beizuwohnen. (Für die unglücklichen jungen Frauenzimmer, womit
die Gesellschaft in Berührung kommt, kann dieselbe selbst nichts weiter thun, als sie
anderen Gesellschaften zu empfehlen, deren Wirken später besprochen werden wird.)
Wenn die älteren Kinder die Schule verlassen, bemüht man sich, sie als Dienst¬
boten oder bei einem Handwerk anzubringen, und wenn man unter der ganz
wilden Masse, die das Schlaflvcal und die Brodvertheilung beansprucht,
Jemanden mit guten Anlagen entdeckt, so nimmt man sich seiner an, verschafft
ihm einen Dienst, einen Meister, oder befähigt ihn zum Auswandern. Hierbei
fehlt es durchaus nicht an Ereignissen, die, abgesehen davon, das! sie die Wirk¬
samkeit der Gesellschaft anspornen, nebenbei auch belohnend und interessant sind.
So befand sich unter Anderen dort ein Knabe, dessen Mutter bei seiner Geburt
gestorben, und dessen Vater vor einigen Jahren deportirt worden war. Der
Knabe wurde auf der Straße, in der nngebnndcnsteu Freiheit erzogen, und war
schon früh ein pcrfecter Dieb, Säufer .>c. Sein Quartier waren die dunklen
Bogengänge unter Sommvrsvl-Iiouso an der Themse, woselbst, seiner Erzählung
nach, Männer, Weiber und Kinder ein hansirendeö Volk bildeten, dessen Noth
und Laster schwierig mit Worten zu beschreiben find. Einst hatte er mit einem
Kameraden eine Reise nach Dublin verabredet, um den Onkel desselben zu plün¬
dern; allein der Verdienst war zu der Zeit nur mäßig, weshalb diese Reise von
Tag zu Tag verschoben werden mußte. Sein wachsendes Elend führte ihn zufällig
eines Tages nach Field-Lane, woselbst er mit großer Begierde das Schlaflveal
und die Brodvcrtheilnng benutzte und in der Schule verblieb, weil er augenblick¬
lich nichts Bestimmtes unternehmen konnte. Aber alsbald wurde sein Gemüth
durch die nie früher gekannte Nächstenliebe erweicht, und so wie man dies bemerkte,
verschaffte man ihm sogleich etwas Verdienst als Tagelöhner. Sein Principal
war dermaßen mit ihm zufrieden, daß er ihn der Gesellschaft dringend empfahl,
und diese rüstete ihn sofort zum Auswandern aus, damit er er sich wo möglich
unter Fremden die Stellung erringen könne, welche einem „Dieb" in seiner Heimath
unerreichbar bleibt. Am Bord des Schiffes traf er jenen Kameraden, dessen
Onkel von ihnen geplündert werden sollte und den das Schicksal ans ähnliche
Weise geleitet hatte.
Die Religion ist indessen doch die Hauptbasis, worauf die Existeuze der Ge¬
sellschaft beruht, oder wie dieselbe sich in ihren Jahresberichten ausdrückt: „Alles,
was bisher von uns geschehen ist, würde ein Nichts sein, wenn uicht die Seelen
gen Jesus Christus gewandt würden, ohne dieses Ziel wäre die ganze Arbeit als
fruchtlos zu betrachten und die angewandten Mittel als vergeudet." Die Wohl¬
that ist hier nicht Ziel, sondern nur Mittel. Aus dem Vorhergehenden ersieht
man, daß man in Uebereinstimmung hiermit sehr viel Gewicht auf den religiösen
Unterricht, Bibellesen, Psalmsingen und besonders lange Gebete legt, man prägt
ihnen stets die Lehre ein, daß ohne Glauben an Christus keine Rettung vor¬
handen ist, und alle guten Handlungen ohne diesen Glauben nutzlos sind. Mau
erklärt ihnen, daß „die Bibel" das einzigste wirksame Mittel ist, um den Men¬
schen für „das Leben" zu entwickeln und zu bessern. Umstände begraben die
Wirkung eines jeden ander» Mittels, zernichten, was jeder andere Unterricht
erzeugt hat.*)
Man drückt sich anch stets in einer hiermit übereinstimmenden Sprache aus:
„Gottes Gnade führte den Sünder in die Schule", (nämlich in die b'loial-I^mv-
nisssseä - scdool), „er suchte seine Zuflucht in dem Blute des geschlachteten
Lammes" u. s. w. und eben so wie die Jahresversammlungen stets mit Gebeten
eröffnet werdeu, so ist auch die erste Resolution unabweisbar die, daß man
Ursache habe, Gott zu danken, oder seine Dankbarkeit dem Throne des Lammes
darzubringen. Wenn man etwas mit ihnen liest, oder mit ihnen spricht, befindet
man sich in einer Welt, wo Gott auf eine beinahe handgreifliche Weise waltet,
und diejenigen Fälle, wo der Sünder nicht erlöst wird, sondern in Elend und
Verbrechen versunken bleibt, werden nach der schrecklichen Prädestinationslehre ge¬
deutet. Aber wer wird ein Dogma oder jene eigenthümliche salbungsreiche Sprache
verdammen wollen, wen» solche wahrhaft gute Handlungen daraus entspringen?
Wer wird sich an die etwa daraus entspringenden theoretischen Zweifel kehren, wenn
die Praxis den liebevollsten Sinn verräth? Der specifisch-religiöse Eifer wäre
vielleicht nicht so groß, wenn er nicht dnrch einen Widersacher oder Rivalen eine
bedeutende Nahrung erhielt. Jene» Ausdruck, die Seele muß zu Jesus Christus
gewandt oder bekehrt werden, versteht man erst recht, wenn man erfährt, daß
die Gesellschaft häufig den Kummer erlebt, daß einige ihrer vagabondirenden
Mündel zur Eintritt in katholische Schulen verführt werden, wohingegen ihr
doch auch zuweilen der Trost wird, die katholischen Lumpeuschnlen um einzelne
Mitglieder ärmer zu mache». Die menschliche von der Gottheit beseelte Bil¬
dung, oder, — um die Sprache der Gesellschaft zu gebrauchen — Gottes
Gnade allein hat bewirkt, daß sich die beiden feindlichen Glaubensgemcinden
dadurch bekämpfen, indem sie gegenseitig ihren Mitgliedern Wohlthaten erzeigen
und nicht wie ehedem sie dem Scheiterhaufen überliefern. Außer diesen ge¬
fährlichen katholischen Gegnern hat man ferner noch mit einigen zwanzig anderen
eifrig protestantischen Secten zu rivalisiren, worunter namentlich die Weslejaner ^
durch ihre Wohlthätigkeit gefährlich sind.
Man würde sich indessen irren, wenn man glaubte, daß dergleichen Gesell¬
schafte» von der reiche» englischen Kirche ausgehen, oder daß dieselbe dazu wesent¬
liche Geldbeiträge liefert. Die obenerwähnte Schule wird fast ausschließlich nur
von Privatleuten unterhalten -..... im Rechnungsjahre 1831 waren im Ganzen nur
!> ^ von Geistlichen gezeichnet^) — und unter den 33 Mitgliedern, welche die
Verwaltungs- und Jnspcctions - Comitec bilden, sind mir 6 Prediger oder
Kapellane.
Die Leiter der Schule behaupten freilich, daß sie für Gottes Reich streben,
und glauben es auch unzweifelhaft; allein dabei meinen sie, daß eine Verbesserung
der englischen Gesellschaft zu Gottes Reich gehört, und sie haben ein sehr scharfes
Auge für alle damit in Verbindung stehenden weltlichen Verhältnisse, obgleich sie
dieselben nur in geistlicher Sprache erwähnen und stets den Staat in die Kirche
einzuschließen scheinen. Es ist ja auch bekannt genug, daß sehr viele Engländer
die anglikanische Kirche für ein Bollwerk gegen Staat und Freiheit betrachten,
daß überhaupt, in diesem Lande, religiöse und politische Dogmen genan zusammen¬
gehören. Jedenfalls ist es ausgemacht, daß viele Leute religiösen Zwecken Geld¬
hilfe angedeihen lassen, die sie der bloßen Wohlthätigkeit nicht gönnen würden.
Ein hervorragender Repräsentant dieser Klasse ist der berühmte Earl von Shaf-
tesbury (früherer Lord Ashley), welcher Präsident einer Menge Wohlthätigkeitö-
Austalten ist, aber stets nur unter der Bedingung, daß dieselben einen bestimmten
anglikanisch-christlichen Zweck haben. Selbstverständlich hat die Gesellschaft stets
eine Menge dieser Richtung entsprechender Resultate auszuweisen. Eins der
charakteristischsten ist folgendes: Ein Kul, ein verlassener, höchst verfallener junger
Vagabonde, der in der äußersten Noth seine Zuflucht zu >^<M-l,a>w nahm,
besserte sich uicht allem sehr bald, sondern verschaffte sich eine ehrliche Einnahme
von 7 sah. die Woche; sobald er befähigt war, sich ein kleines Zimmer zu
miethen, bat er seine Kameraden zu sich und las die Bibel mit ihnen. Sie
waren 1l) an der Zahl und saßen in dem kleinen Zimmer an der Erde, ein
Talgstummel in eine Flasche gesteckt, wanderte von Hand zu Hand, je nachdem
sie die heilige Schrift „studirten und deutete»." Ein Theil dieser Kameraden
vermochte nicht ihm in seinein Eifer zu folgen, blieb weg und nannte ihn „lliL
raxgoä 8,'nu>" (den zerlumpten Heiligen). — Einer, der schon älter war, hatte
die Welt vielfach geprüft, und verzweifelte. Ein Lehrer fand ihn eines Morgens
auf deu Treppen von 1''arrinxäon-in!ieKc>t und nahm ihn mit sich zur Schule.
Es fiel ihm schwer, hier etwas zu verstehen, namentlich die Worte: „wenn
er der Vorsehung vertraue, werde ihm ein anständiger Erwerb zu Theil
werden. Um ihm einen Verdienst zu gönnen, und ihn an Arbeit zu gewöhnen,
ließ man ihn Holz sägen, wofür er den ersten Tag i- Pence bekam. „Es ist nicht
viel" sagte er, „ein Paar Taschentücher hätten mir leicht 4 sah. K D. eingebracht,
Mein thut Nichts, wir wollen eS einen Monat versuche»." Nach Verlauf dieses
Monats hatte er Sinn für Arbeit und Ordnung gewonnen, und man verschaffte
ihm einen guten Dienst. —- Ein französischer Arbeitsmann sagte gleich nach der
Februarrevolution zu einem Polytechniker: „Ich und meine Kameraden wollen
den Diensten der Republik drei Monate Elend weihen (drei Monate auf die
Wohlthaten der Republik warten). Der arme Franzose wurde angeführt; er
fiel vielleicht nach drei Monaten im Jnnikampf. Allein der Unterschied ist der,
daß der auf die Vorsehung wartende Engländer in der Zeit arbeitete, während
der sich ans die Republik verlassende Franzose Wunder erwartete.
Ohne einige statistische Erklärungen wird es indessen dennoch dem Leser
nicht möglich sein, sich aus dem Vorhergehenden allein einen klaren Begriff dieser
Anstalt zu bilden.
In dem Schlaflocal ist im Ganze» für 170 Menschen Raum vorhanden; woraus
indessen nicht der Schluß zu ziehen ist, daß das Jahr hindurch diese 170 Plätze
stets alle, oder vou denselben Personen benutzt werden. Diese Anstalt ist »ur
ein Zufluchtsort der äußersten Noth; Viele benutzen sie nur einmal, und selbst
die, welche sich der Schule anschließen, verwenden das erste erworbene Geld
dazu, sich ein eigenes Logis zu miethen. Während des Sommers ist stets Ueber-
fluß an Platz, wohingegen mau im Winter oft in die traurige Nothwendigkeit
versetzt wird, Leute abweisen zu müssen. Es befinden sich indessen i» London
gegen -10» andere og'g'va-LowmlL, wovon mehrere mit „Znflnchtslvcalen" iMuM«)
verbunden sind. Die Institution selbst ist ganz nen, die eigentlichen ra^sskä-
«elwot» bestehen erst seit -L bis l> Jahren. Die Field-Lane-Schule wurde freilich
schou vor -10 Jahren errichtet, allein ohne großen Erfolg, bis man das
Schlaflocal und die Brodverthcilung hinzufügte, und dies geschah erst im
Mai -I83-I.
Vom Mai .-i-I bis Mai ö2 haben gegen 3000 Kinder, Mütter und Vaga-
bonden die Anstalt freguentirt. Mit Ausnahme der Bekleidung beliefen sich die
Unkosten auf -1000 F, wovon Lord Shaftesbury außer seinem gezeichneten Contingent
von -10 ^' jährlich noch 3i2 ^' -13 sah. 8 P. beigetragen har, um das Schlaflocal
vou 90 zu -170 Plätzen zu erweitern. Die Brodvertheilnng hat in 9 Monaten
-1-10 ^ gekostet. Kost und Logis für verwaiste Kinder 38 .F. Answandcruugg-
tosten i-0 F. Für Lehrer und Handwerker -103 ^, für den i-<zi'uxo-must>or, welcher
das Schlaflocal verwaltet und daselbst des Nachts wacht, 5i0 ^. Das Uebrige
ist für Anschaffung von Büchern, Gerätschaften, Kohlen, Gas und für Miethe,
Abgaben, Reparaturen und Bekanntmachungen verwandt. —
„Um Gotteswillen! Kanonendonner in den Straßen! Revolution — Barri¬
kaden in Amerika!" — So rief mein „grüner" Freund erschrocken ans, als am
Nachmittag des 7. Juni Geschüizsalvcn ganz in der Nähe meiner Wohnung
krachten, so daß das Hans wankte und die Fensterscheiben klirrten. Ich huldigte
ihn mit der Versicherung, daß hier zu Lande die Parteien sich nicht auf Barri¬
kaden, sondern an der Wahlurne zu bekämpfen pflegten — und führte ihn sodann
nach dem Standorte der Batterie, — vor das große Gebäude der Mcchanics-
Hall, — von welchem das Sternenbanner wehte und aus dessen weit geöffnetem
Thore eine unendliche Menschenmasse heransströinte. Die demokratische Con¬
vention war zu Ende und hatte nach fünftägigen Disputiren und mehr als
funfzigfachem Ballvtiren endlich Franklin Pieree von Ncwhampshire und
Ursus King von Alsabaina zu ihren Candidaten für die Aemter eines Präsi¬
denten und Vicepräsidenten ernannt. Wie bewegt war das Leben während-der
Dauer dieser Convention in Baltimore! Wie wimmelten die Straßen von
fremden Gesichtern, wie begierig drängte sich das politische Publicum, d. h. hier
Jung und Alt, vor dem Siizungslocale der Convention und vor den Bureaux
der verschiedenen Zeitungen, um die von Stunde zu Stunde verdeutlichten Bulle¬
tins über den Fortschritt der Cvnventionöarbeit zu lese»! So lauge hatte die
Wahl zwischen Caß und Douglas geschwankt — keine Fraction hatte nachgeben
wollen, bis endlich durch einen Mittelweg, durch deu Borschlag eines dritten Can-
didaten, die Entscheidung herbeigeführt worden war. So war denn also ausgekämpft
und ausgerungen — und die Kanoucnsalven verkündeten dem Lande die definitive
Organisation der Partei nud den eigentlichen Anfang der „Campagne."
Wenige Tage darauf bezog die Convention der Whigpartei dasselbe Local,
um nun ihrerseits zwei Kandidaten aufzustellen. Der Verlauf der Verhandlungen
und das Ansehen der Versammlung unterschied sich nicht wesentlich von der
demokratischen Convention, wenn man nicht die meistens wohlbeleibteren Gestalten,
die steiferen Halskragen und die durch die inzwischen gestiegene Hitze nöthig ge¬
wordenen chinesischen Fächer als charakteristische Merkmale betrachten will. (Diese
Fächer, welche ein industrieller „in-rrelrgM tailor" mit seiner Adresse versehen
und hundertweise gratis geliefert hatte, und mit welchen die Herren Whigs sich
in und außer dem Sitzungslocale Kühlung zufächelten, haben seitdem den Na¬
men „wdix-c,vo1er3" erhalten.) Auch nach der von eben solchen und noch
stärkeren Wehen begleiteten Nomination des Generals Scott und seines Secuu-
dantcn Graham donnern die Kanonen, und die Abgeordneten zerstreuen sich
wieder in dem weiten Lande der Union.
Nun aber entbrennt der Kampf und steigert seine Wuth von Tag zu Tag bis zu
dem entscheidenden Zeitpunkte, — dem 2. November. Da wird kein Mittel
unversucht gelassen, die eigenen Kandidaten zu erheben, die der Gegner herab¬
zusetzen. Die alten Partciblätter und neue ephemere Campagne-Jonmale stoße»
mit vollen Backen in die Schlachttrompeten, — und namentlich müssen die Kan¬
didaten sich eine ganz unbarmherzige öffentliche Kritik gefallen lassen. Nicht genug,
mit der minutiösesten Beurtheilung ihres öffentlichen Lebens werden auch die
unbedeutendsten Momente ihres Privatlebens in freundlicher und feindlicher Absicht
hervorgezogen. Caricatnren, Pamphlete in allen Sprachen durchflattern das
Land, und daß es darunter an detaillirten Lebensbeschreibungen der Candidaten,
von verschiedenen Standpunkte» aufgefaßt, nicht fehlt, versteht sich von selbst.
So war namentlich eine Biographie des Whig-Candidaten Scott sehr verbreitet,
die mit einer Menge von Holzschnitten geziert war und das Bildniß des Gene¬
rals, in voller Uniform zu Pferde, von einer platzenden Bombe umstrahlt, a» der
Spitze trug. Ein Amerikaner, — selbst Whig, — zeigte mir die Brochure mit
den Worten: „^ro wo not. o, xrvat vvuplv, —- w malo s, man out. ol' ncuk-
INA?" —
Nach den Nominationcn erheben sich an allen Ecken himmelhohe Masten
(pe>l<Z8) mit Flaggen und Devisen „Pierce und King" — oder „Scott und
Graham,"- — die unter großen Feierlichkeiten errichtet und eingeweiht werden.
Immer dichter drängen sich die Volksversammlungen, auf welchen die Masse»
bearbeitet und gewonnen werden sollen. Gegen den Schluß des Octobers hin
vergeht fast kein Abend ohne ein solches „mvvlmx", zu dem die verschiedenen
Clubs und Korporationen mit Fahnen und Trauöpareuteu ziehen, entweder beglei¬
tet von der alten Mnkec-Musik, der Trommel und Pfeife, oder von einer der
trefflichen deutsche,? Musikbanden, die auf diesem Gebiet ein natürliches Privileg
besitzen. Kanonenschläge, Nacketeu, Jllumiuatioueu dürfen natürlich bei einer
solche» Versammlung nicht fehlen, und die Redner unterlassen Nichts, was Eindruck
ans die Menge macheu kaun, obgleich in der Regel die politischen Meinungen der
Zuhörer so feststehen, daß wenig zu gewinnen ist. Zweierlei hat mich indessen bei
diesen Gelegenheiten immer gewundert: erstens, daß dnrch die Masse von Feuer-
werke» aller Art, die mitten in der Stadt u»ter den mit Holzschindel» gedeck¬
te» Häuser» abgebrannt werden, kein Feuer entsteht, und zweitens, daß bei der
große» Spannung der Parteien es doch nie zu eiuer ernsten Reibung kommt.
An der allgemeinen Bewegung nimmt anch die hoffnungsvolle Jugend An¬
theil. Wenn ein Knabe 6 Jahre alt ist, so weiß er schon, welcher Partei sein
Vater angehört; er schlägt sich auf die eine oder andere Seite, — und zwar
keineswegs immer a»f die des Vaters. I» der Schule, ans de» Straßen und Spiel¬
plätzen wird politisire, und nicht selten horte ich bei solchen Gelegenheiten von
9 —'10jährigen Jungen die beredtesten Haranguen für oder gegen einen Candi-
baten improvisiren. Daß es unter dieser Klasse von Politikern nicht immer
so ganz friedlich abgeht, versteht sich wol von selbst.
Immer näher und näher rückt der entscheidende Tag heran, — immer leb¬
hafter wird der Kampf, denn die Hauptschläge werden natürlich immer bis zuletzt
verschoben. Jetzt ist die Zeit der Placate, worin eine Partei die andere zu über¬
bieten sucht, — und der Wahlzcttel, die nun schockweise in die Häuser geworfen
werden, die Einem auf der Straße um den Kopf schwirren, und die mau über¬
all findet, wo man sie nicht sucht. Diese Zettel enthalten in der Regel das
Abdeichen der Partei, z. B. einen Hickvry-Baum, das Symbol der Demokra¬
tie. — und die Namen der von der Partei des betreffenden Wahldistricts ausgestellten
Electoreu (bekanntlich ist die Präsidentenwahl eine indirecte). Nicht selten kommt
es aber vor, daß solche Wahlzettel mit den entgegengesetzten Symbolen versehen
sind, um die Stimmen unvorsichtiger Gegner zu erbeuten.
Jetzt noch 8 Tage — jetzt noch 6 — man Hort deu Puls des Volkslebens
klopfen! — Es giebt keinen andern Gegenstand des Gespräches mehr, als:
,t>u; vleetion". Was Du auch mit einem Amerikaner zu verhandeln hast, überall
heißt es: „^l'den- tliiz vlection, Klr!" — Nun endlich bricht der große Tag an,
der rechte Schalttag des amerikanischen Volkes, der gleich dem des Kalenders nnr
alle vier Jahre wiederkehrt. Schon früh Morgens dröhnen Kanonenschläge,
begleitet von dem fortwährenden Geknatter des kleinen Gewehrs — der zahllosen
„5>>i>ol.eng' er^ins", ohne welche hier kein Fest denkbar ist, am wenigsten ein
politisches. Nun wird eS an deu verschiedenen Wahlplätzcn lebendig. Wagen
kommen und gehen, die Straßen nach allen Richtungen durchkreuzend, um
kranke, oder säumige Mitglieder der betreffenden Partei abzuholen. Nachmittags
verdichten sich die Massen und lagern vor deu Urnen gleich Bienenschwärmen vor
dem Korbe. Daß bei diesem Gedränge, namentlich wenn der Spiritus bei
Einzelnen zu wirken anfängt, auch mitunter Tollheiten und ernstliche Conflicte
vorkommen, ist wol nicht zu verwundern; ja es geschieht zuweilen, daß Messer
und Pistolen zur Hilfe genommen werde», und daß der Wahlpvsten zu eiuer
wirklichen Wahlstatt wird. Doch kommt dies in der That seltener vor, als man
bei der bekannten Naschheit der Amerikaner und bei der allgemeinen Sitte (oder
Unsitte), Waffen zu tragen, erwarten sollte.
Je mehr der Tag sich seinem Ende zuneigt, um so mehr steigt das Ge¬
tümmel an den Urnen, denn Jeder will nun uoch sein Sonvcrainctätsrecht aus¬
üben. Natürlich steigt damit auch die Verwirrung und das Getöse. Jetzt mengt
sich auch uoch die Polizei hinein; — da wird Einer arretirt, der in seinem all¬
zugroßen Eifer des Guten zu viel that, indem er zwei oder drei Mal abstimmte;
dort wird Einer zurückgewiesen, um seine Legitimationspapiere zu holen. Endlich
schlägt es 6 Uhr die stimmt'after werden geschlossen, und nur beginnt die Zählung
in den verschiedenen Wahldistricten. Mit ängstlicher Spannung harrt die versammelte
Menge der von Zeit zu Zeit aufgerufenen Nachrichten über tels Resultat. Jubel und
Gelächter der siegenden Partei, Pistolenschüsse und die unvermeidlichen sdootinss-
begleiten jeden Ausruf. Da endlich das Ergebniß in den einzelnen Vier¬
teln der Stadt nicht mehr zweifelhaft ist, so werden jetzt an öffentlichen Plätzen un¬
geheure Freudenfeuer angezündet, denen alte Harztonnen ze. Nahrung liefern.
Jetzt entscheiden sich anch schon die kleineren Wetten, die sich nur auf die Stimmen-
zahl in den einzelnen Districten bezogen. Bald wird das Gesammtergebniß der
Stadt bekannt: der Jnbel steigt die ganze Nacht hindurch, und die eifrigsten Po¬
litiker gehen gar nicht zur Ruhe, sondern belagern die Telegraphen- und Zeitungö-
bnrcaux, um die unaufhörlich einlaufenden Nachrichten aus der Nähe und Ferne
gleich frisch zu erHaschen. So emsig arbeiten die Zauberdrähte, und so trefflich
sind die Vorkehrungen an den von der Linie entfernt liegenden Wahlposten ge¬
troffen, daß in der Frühe des nächsten Morgens die Blätter schon das Resultat
der Abstimmung in dem größten Theile der Union verkünden. Ein Paar Tage
lang sind die Spalten noch mit neueren Nachrichten, Berichtigungen, Widerrufen
und Bestätigungen gefüllt; ein Paar Tage lang zeigen die Besiegten verblüffte,
lange Gesichter, namentlich die, welche außer dem gehofften Triumph auch noch
bedeutende Summen durch Wetten verloren. (Ich hörte von Einem, der sein
ganzes Vermögen — 11,000 Dollars — verwettet hatte.) Daun ist wieder Alles
wie zuvor, höchstens wird dann und wann durch ein SicgeSbanket, einen Triumph¬
zug ?c. die Ruhe nach dem Sturm unterbrochen. Die Besiegten sagen: „Hexe
eine; bstter!" und stecken geduldig deu Spott ein, der ihnen in reichem Maße
zu Theil wird. Einer der beliebtesten Witze auf diesem Gebiete ist der vom
„8alt-river." Das ist nämlich ein sehr launischer Fluß voller Untiefen und
Hindernisse, der den Schiffern viel zu schassen macht und an dem sie sehr oft
sitzen bleiben. Mau sagt darum vou der unterlegenen Partei, sie habe eine
Fahrt auf dem 8alt-rio<zr gemacht, und sie muß über dieses Thema die mannich-
faltigsten Variationen hören. So verkauften z. B. in den Straßen New-Uorks
industrielle Jungen Fahrbillets für den Salt-i-ivor, und machten gute Geschäfte
damit.
Die öffentliche Vorstellung ist nnn vollendet, — jetzt aber geht das Spiel
hinter den Coulissen an. Von dem Augenblicke der Erwählung, — ja man kann
sagen der Nominativ», ist der Auserkorene der unglückliche Adressat einer Fluth
von Petitionen und Bewerbungen. Es beginnt jetzt ein allgemeines Wettrennen
nach allen möglichen Stellen, und der Präsident in »pv muß alle seine Energie
zusammennehmen, um in dieser Sündfluth nicht unterzugehen. —
Das Ambiren und Schleichen bei uns hat nichts Originelles, das ist, wie
überall in der Welt.
Unter den Vorlagen, welche die Regierung in den Kammern eingebracht hat,
stehen die neuen Gemeindeordnungen in erster Linie. Wie wichtig Gesetze über dir
Bildung der Kammern und dergleichen auch sein mögen: auch bei einer auf sehr um>
billigen Principien beruhenden Zusammensetzung der Volksvertretung, auch bei sehr
eingeschränkten Wahlrecht kann sich ein constitutionelleS Leben entwickeln. Wo aber nicht
durch eine freie Gemeindeverfassung der Sinn für Selbstständigkeit, für die bewußte
Pflege gemeinsamer Interessen genährt wird; wo das Individuum nicht durch Theil¬
nahme an dem Communallcben gewöhnt wird, seine» Blick über den cngbegrcnztcn
Kreis der Familie, in dem das Pflichtgefühl schon in dem blos ani malischen Instinct
einen hinlänglich fruchtbare» Boden findet, auf Verhältnisse hiuauszurichtcu, die, weil
sie zu gleicher Zeit de» Einzelnen sehr nahe berühren und doch eine höhere Gesammtheit
betreffen, ganz vorzüglich geeignet sind, die Selbstsucht des Individuums -ohne ihre
völlige Verläugnung zu fordern — einem wirksamen Läutcrungsprocesi zu unterziehen
und sie in das Gefühl der Bürgerpflicht aufgehen zu lasse»; wo das Individuum nicht
durch ni»e freie Geincindcvcrfassmig geübt ist, die leichter übersehbaren Angelegenheiten
der Stadt, des Dorfes ohne fremde Einmischung in ersprießlicher Weise regeln »ut
verwalten zu helfen: da wird man mit einer und mit zwei Kammern, mit Pairs »ud
Interessenvertretung, mit allgemeinem Wahlrecht und ähnlichen Dingen schwerlich über
den constitutionellen Schematismus zu einem constitutionellen Leben gelange»; da wird
auch den vollendetsten Formen das bewegende und zugleich erhaltende Lcbensprincip, der
constitutionelle Bürger fehlen. Es handelt sich hier in der That um Sein und Nicht¬
sein für den preußischen — und in Folge dessen — für den deutschen Eonstitutioualis-
mus; und ich glaube deshalb bei den Lesern ihres Blattes, die ohnehin es für keine
unbedeutende Frage halte» werde», wie ein preußisches Dorf verwaltet wird, Entschul¬
digung zu finden, wenn ich die Stellung, welche die Ordnung des Gcmcindcwesens in der
culturhistorische» Entwickelung Preußens einnehme» soll, und diejenige, welche die
neuen Regierungsvorlagen thatsächlich einnehmen, mit wenigen Züge» anzudeuten
versuche.
Ein Staat, der wie der preußische weder an Länderumsang »och a» Volkszahl
mit den übrigen Großmächte zu vergleichen ist; der geographisch so sehr zerrissen und
zur Vertheidigung höchst ungünstig gelegen ist; ein Staat, dessen Bewohner confessionell
fast in zwei gleiche Hälften getheilt sind, ohne durch eine gemeinsame und reichhaltige
Geschichte von altem Datum verbunden zu werden; ein Staat, dessen einzelne Theile
vielmehr als geistliche oder weltliche Fürstentümer, als OrdenSländcr, als polnische
Lchussürstcuthümcr u. tgi. eigenthümliche, wesentlich voneinander verschiedene historische
Erinnerungen und überall tiefe Spuren ihrer früheren Schicksale an sich tragen: ein solcher
Staat kann, wenn er anders eine Rolle spielen und gedeihen will, der bewußten Theilnahme
und Anstrciignng seiner Bürger weniger als jeder andere entbehren; er muß jede einzelne
Kraft zum gemeine» Besten möglichst hoch zu verwerthe» suche», und um sie im Falle der
Noth zu hohen Leistungen bereit und fähig zu finde», el» lcbeiidigcs Interesse des
Individuums an dem Gemeinwesen mit alle» Mitteln fördern. Auf der klaren Er¬
kenntniß dieser Nothwendigkeit beruhten die RcorganisationSpläne des Freiherrn v. Stein,
als dere» Zweck er selbst die Erweckung und Belebung des Nationalgcistes bezeichnete.
Was das Vaterland der Ausführung, — sogar der blos fragmentarischen Ausführung
seiner Pläne verdankt, wird setzt wohl selbst von den Gesinnungsgenossen derer, die
dein großen Staatsmann sein gewaltiges Werk durch halsstarrige Opposition nach Kräften
erschwerten, widerwillig anerkannt. Freilich wird noch immer mit einer gewissen Genug¬
thuung darauf hingewiesen, basi die Maßregeln Stein's nicht die ganze Fülle des
Segens hcrvvrgcsührt haben, den die „Ideologen" erwarteten, daß sie vielmehr in ihrem
Gefolge unläugbare Uebelstände mit sich führten, die »och zur Stunde drückend auf
dem Lande lasteten. Allein dem ruhigern Beobachter entgeht nicht, wie in Stein's
Pläne» eines in daS Andere griff, und wie die gerügten Uebelstände nicht der Aus¬
führung derselben, sondern der zu langsamen, zu späten Ausführung, und zum
großen Theil ihrer nicht vollständigen Ausführung zugeschrieben werden müssen.
Als „das nächste Beförderungsmittel" zur Belebung des NationalgeistcS bezeichnete
Stein „eine allgemeine Nationalpräsentation"." „Wenn dem Volke," schrieb er, „alle
Theilnahme an den Operationen entzogen wird, wenn man ihm sogar die Ver¬
waltung seiner E om uni nalang e legend eilen entzieht, kommt es bald dahin,
die Regierung theils gleichgiltig, theils in einzigen Fällen in Opposition mit sich zu
betrachten. . . . Mein Plan war daher, jeder active Staatsbürger, er besitze hundert
Hufen, oder eine, er betreibe Landwirthschaft oder Fabrikation oder Handel, er habe ein
bürgerliches Gewerbe, oder er sei dnrch geistige Baude an den Staat geknüpft, habe
ein Recht zur Repräsentation. Mehrere nur hierzu eingerichtete Pläne sind von mir
vorgelegt. Von der Ausführung oder Beseitigung eines solchen Planes hängt Wohl
oder Wehe unsres Staates ab, denn ans diesem Wege allein kann der
N a t i o» a l g e i se positiv e r w c et t und belebt w erde n."
Aus diesen Worten, welche Stein fünf Tage nach Sanction der alten Städte-
ordnung schrieb, erhellt zugleich, welche Stellung das letztere Gesetz in seinen Plänen
überhaupt einnahm, welchen Zweck es erfüllen sollte. Die Idee der Städteordnung ist
in ihren Eingangsworten selbst klar hingestellt. ES heißt hier: „Der besonders in neuern
Zeiten sichtbar gewordene Mangel an angemessenen Bestimmungen in Absicht des
städtischen Gemeinwesens und der Vertretung der Stadtgemeinde, daS jetzt nach
Elassen und fünften sich t h e i l en d c Interesse der Bürger und daS dringend sich
äußernde Bedürfniß einer wirksamer» Theilnahme der Bürgerschaften an der Verwaltung
des Gemeinwesens, überzeugen u»S von der Nothwendigkeit, den Städten eine selbst-
ständigere und bessere Verfassung zu geben, in der Bürgergcnieiudc einen festen Ver-
einigungspunkt gesetzlich zu bilden, ihnen eine thätige Einwirkung auf die Verwaltung
des Gemeinwesens beizulegen und durch diese Th el l na h me G ein el» si»n zu er¬
regen und zu erhalten," Worte, deren frischer Geist und blühende Gesundheit
allen veren befremdlich vorkommen wird, die in dem Beinhaus der jetzigen Gesetzgebung
unier den klappernden Paragraphen zu wandeln gewohnt sind. Aber die Gesetze jener
Zeit wollten Leben erzeugen »ut pflegen, während die gesetzgeberische Arbeit der
llcinmnthigen und verarmten Epigonen das Leben, wo es sich etwa regt, »ur zu ersticken
und im besten Falle an tausend Drähten zu leiten und zu fesseln trachtet. Deshalb
konnte jene» Gesetze» ihre Idee klar und offen an die Spitze gestellt werde», ni»c
strahlende Leuchte für alle Welt; bei dem repressiven Charakter der modernen Gesetzgebung
scheint el» gleiches Verfahre» natürlich nicht rathsam.
Es verstand sich von selbst, daß die Absicht, durch Belebung des Interesses an
dem Gemeinwesen den Nationalsinn und die Vaterlandsliebe zu wecken, nur dann
vollständig erreicht werden konnte, wenn nicht blos die städtischen, sondern sänuntliche
Gemeinden in dem Geiste organisirt wurden, der in der Städcordnnng einen wirksamen
Ausdruck gefunden. In der That wurde noch in dem Edict v, 30. Juli eine
solche Organisation, und zwar eine gleichmäßige für Stadt- und Langcmeinden
in Aussicht gestellt; nur die großen Städte, Königsberg, Elbing, Stettin, Berlin,
Potsdam, Frankfurt und Breslau sollten die Städteordnung v, k«08 behalten. Indeß
hinderten zunächst die Kriegsjahre, dann, nach Beseitigung der Gefahr, die wicdcrans-
tauchendc Liebe zum alten Schlendrian und die Selbstsucht der privilegirten Classen die
Ausführung des Planes; die verderblichen Elemente, welche sich bis dahin grollend der
bessern Einsicht fügen mußten, regten sich mächtiger und mächtiger, und fanden an der
natürlichen Feindin jeder Selbstverwaltung, an der Bureaukratie, einen bereitwilligen
Bundesgenossen. Doch war die dankbare Erinnerung an die Ideen, deren theilweise
Verwirklichung schon mächtig genug gewesen war, um die Erhebung des Landes vor-
zubereiten, noch nicht in allen Gemüthern so weit erloschen, daß man die Städteordnung
zu beseitigen gewagt hätte; ihre Fortexistenz in den Städten der Provinzen Preußen,
Pommern, Brandenburg, Schlesien und Posen blieb eine starke Mahnung, durch irgend eine
— wenn auch unzulängliche — weitere Ausführung des Stein'sehen Planes in die
städtische Verwaltung innerhalb der ganzen Monarchie eine gewisse Gleichförmigkeit zu bringen.
Aus dem Widerstreit der eben bezeichneten Elemente ging die im bureaukratischen Sinne
revidirte Städteordnung v. 17.März hervor, welche denjenigen märkischen Städten,
in denen die Stein'sche Städteordnung noch nicht eingeführt war, ferner den Städten
der Provinz Sachsen, der Stadt Wetzlar und allmählich auch den westfälischen und
poscnschcn Städten, die über 2,600 Seelen zählten, verliehen wurde. Mau mochte
hoffen, durch das neue Gesetz die alte Städteordnung zu verdrängen, und stellte deshalb
den Orten, die nach der letzter» verwaltet wurden, die Vertauschung derselben mit der
revidirten Ordnung frei; allein die Bürger hatten den Werth des alten Gesetzes bereits
so weit kennen gelernt, daß nur die Weisheit, die in dem berühmten Städten Wendisch-
Bnchholtz, Königsberg i. d. N. und Cremmen maßgebend war, sich für jenen Tausch
entschließen konnte.
In den übrigen Städten wurde der status puo aufrecht erhalte»; die kleinern
der Provinz Pose» behielte» die herzoglich Warschauische Verfassung; in Neuvor-
pommern blieb das Mische Recht geltend, i» der Form i» der es sür jede einzelne
Stadt dnrch landesherrliche Acte, Bürgcrschlüffe n. s. w. unter zahlreichen und oft
zweifelhaften Modificationc» sich i» den Jahrhunderten eingenistet hatte. Dieser alte
Zopf erregte indessen auch der Bureaukratie großen Anstoß; die ncuvorvommersche»
Städtcvcrsassuugc» wäre» »icht eodiflcirt; die Bürger, »annuelles die Stralsunder,
»ahmen auf Grund derselben einzelne Rechte in Anspruch, z. B. Statuten ohne landes¬
herrliche Keuchmignng z» errichten, mit dem städtischen Eigenthum ohne Einmischung
der Regierung schälte» und walten zu dürfen, — Rechte, die jeder richtige Bureaukrat
mit einigem Grane» betrachten mußte. Es wurde deshalb in der That auch hier 1836
die Einführung der revidirten Städteordnung beschlossen; allein die Sache verschleppte
sich; und als nach der Thronbesteigung des jetzigen Königs die Liebhaberei sür dergleichen
curiose Antiquitäten, wie sie hier, oft i» der ergötzlichste» Gestalt, »litte» in die mo-
terre Welt hineinragten, in starkem Zunehmen begriffen war, ließ man die neue Or¬
ganisation auf de» Antrag des Ministers v. Rochow definitiv fallen. Wie in den alten
Jahrhunderten sollten auch künftig in Stralsund die „Altcrlcnte des Gewandhauses",
denen die Leitung der Geschäfte des bürgerlichen Collegii obliegt, aus einem Wand-
schneidcr und fünf Brauern und Mälzern bestehn, und sich, wie in alten Zeiten die
römischen Pontifex Kollegien, durch Kooptation ergänzen; in Greifswald sollten nach wie
vor die würdigen Acltcrlcute der vier löblichen Gewerke der Schuster, Schneider, Bäcker und
Schmiede neben ZL auf eine sehr wunderliche Art gewählten Repräsentanten ipso jurv
Sitz und Stimme im bürgcrschastlichen Collegium haben, u. s. w.
Gegen die Städteordnungen war das Iunkerthnm eigentlich nur in so fern ein¬
genommen, als sie auch eine Organisation des ländlichen Gcmeindewcsens befürchten
ließen; diese mußte die Stellung der Rittergüter um so mehr alteriren, je ernster sie
darauf bedacht war, in durchgreifender Weise lebenskräftige Organismen zu schaffen.
Deshalb war der Widerstand gegen die Emanation von Landgemeindeordnungen viel
stärker und zäher; die betreffenden Arbeiten, die abweichend von dem Grundsatz, welchen
das erwähnte Edict von 4 84 2 ausstellte, prvvinzcnweisc vorgenommen wurden,
schritten, trotz des Drängens auf.einigen Proviuziallandtagcn ungemein langsam vor¬
wärts; endlich 186l wurde eine Ordnung für die Landgemeinden und kleinen Städte
in Westphalen, -18i!.> eine Ordnung für die Städte und das platte Land der Rhein-
provinz publicirt, — Gesetze, die zwar im Vergleich mit der Städteordnung von 1808
Vieles zu wünschen übrig ließen, aber dennoch als ein wesentlicher Fortschritt sich als
heilsam bewährt und gute Früchte getragen haben.
Auf dem platten Lande der östlichen Provinzen blieb es dagegen beim Alten.
Und doch war gerade hier, mehr als in den Städten der ganzen Monarchie, mehr als
in den Landgemeinden der westlichen Provinzen, eine durchgreifende Organisation von
Nöthen. Hier war durch die Regulirung der gutsherrlichen und bäuerlichen Verhält¬
nisse und durch die EigcnthumSvcrlcihung ein freier Baucrstaud erst wieder geschaffen
worden; er trat in den durch den Krieg ausgesogenen Provinzen, in einer Zeit, in der
die Landwirthschaft an tödtlichen Wunden blutete, also unter den ungünstigsten Verhält¬
nissen in den Genuß der neuen Freiheit und des eigenen Besitzes. Sollte diese gro߬
artige Maßregel ihren Zweck, die Bildung eines kräftigen Bauernstandes, rasch und
vollkommen erreichen; sollte sie namentlich die segensreichen moralischen Einwirkungen
ausüben, die der Besitz eines Eigenthums und die Freude an dem Wachsthum desselben
auf den Menschen, auf die Familie gewöhnlich zu äußern pflegen, so mußte der neue
Stand besonders unter so ungünstigen Verhältnissen durch schleunige Durchführung der
nothwendigen Konsequenzen und Korrelate jenes Acts einen sichern Halt und eine kräf¬
tige Unterstützung finden. Aber das Zögern aus dem eingeschlagenen Wege raubte dem
berühmten Edict vom l-i> Sept. 18-1-I die größere Hälfte seiner segensreichen Folgen.
Während der Rittergutsbesitzer in den großen landschaftlichen Creditinstitutcn eine Unter¬
stützung fand, vermöge deren er die Folgen der Kriegsjahre, wenn auch schwer, so
doch allmählich überwand, siel der Bauer dem Wucher in die Hände; bedrängt, wie er
war, konnte er nur schwer der Verlockung widerstehen, das Eigenthumsrecht durch Ver¬
kauf des Hofes in Anwendung zu bringen, in der Hoffnung, sich auf solche Weise den
wirthschaftlichen Kalamitäten entziehen zu können; so fiel> ein großer Theil der bäuer¬
lichen Ländereien wieder in die Hände der Rittergutsbesitzer. Wo eine tüchtige Kraft
sich durch alle Verlegenheiten durchkämpfte, wurde sie doch durch die auf der Besitzung
haftenden Ncallastcn, durch die Gemcinheitswirthschaft und dergl. im freiern Auf¬
schwung vielfach gelähmt und gehemmt. Inzwischen löste sich der an und für sich
lockere Comunalverband, der sich wesentlich auf das Verhältniß der Bauergüter zu den
Domiuieu gestützt hatte, immer mehr und mehr. Die Entlassung der Bauern aus der
Erbuntcrthänigkeit und die Verleihung freien Eigenthums fand eine wünschenswerthe
Ergänzung in dem Gesetz vom 7. Juni 1821, durch welches die Güter, die zu
Erbzinö- oder Erbpcichtsrccht besessen wurden, zur Ablösung der aus ihnen lastenden
Dienste, Natural- und Geldleistungen und somit ebenfalls zur Erringung einer
selbstständigem Stellung berechtigt wurden. An demselben Tage wurde durch Erlaß
der Gemcinhcits-Thciluugs-Ordnung die letzte reale Grundlage eines Commnnal-
vcrbandcs zerstört, die der Landcseultur so hinderliche gemeinsame Benutzung gewisser
Grundstücke durch mehrere Personen und ganze Gemeinde». Seitdem ist dnrch
Separationen, Ausbauten und dergl. die Jsolirung auch örtlich fortgeschritten. Je
weniger die dürftigen Neste des Gcmcindelcbens geeignet waren, Befriedigung oder
Nutzen zu gewähren, desto mehr stieg die Neigung, durch Maßregeln, wie die erwähn¬
ten, die im wirthschaftlichen Interesse getroffen wurden, sich dem Gemcindcvcrbandc mög¬
lichst zu entziehen.
Das ist die von der Kreuzzeitung so oft mit Emphase gescholtene „pulvcrisircnde Wir¬
kung" unserer Agrargcsetze, die, weil sie den Zweck, die Laudescultur wirksam zu fördern, mit
Consequenz verfolgten, zu den glänzendsten Acten der preußischen Gesetzgebung gehören,
und um so mehr gewürdigt zu werden verdienen, je größer die zu überwältigenden
Schwierigkeiten waren. So bereitwillig die Kreuzzeitung auch ist, jenen Vorwurf zu
wiederholen, wo es sich um neue Fortschritte der Agrargesetzgebung handelt, so zögert
sie doch, ans der ihr anstößigen Thatsache die nothwendigen Folgerungen zu ziehen,
daß man jener „Pulvcrisirung" ein heilsames Gegengewicht geben müsse, indem man
durch eine umfassende Reorganisation des Gemcindcwesens dem Gemeindeladen ein neues
und sicheres Fundament verleiht, indem man das jetzt Auseinanderfaltende durch ein
neues starkes Band in einer Weise wieder vereinigt, welche die Vortheile der Agrar¬
gesetzgebung nicht nur nicht schmälert, sondern fördert. Denn auch hier sind die Schatten¬
seiten der Gesetze, welche aus deu Principien beruhe», dnrch die sich die großen Gesetz¬
geber aus der Zeit unsrer sogenannte» Erniedrigung leiten ließen, nicht den Plänen
an sich, sondern der lückenhaften Ausführung derselben anzurechnen. Jene Staats¬
männer beabsichtigten, wie wir oben hervorhoben, daß die Organisation der ländlichen
Gemeinden mit der agrarischen Gesetzgebung Hand in Hand gehen sollte. Dann hätte
das Eine nicht nur die Uebelstände des Andern beseitigt, sondern das Eine hätte das
Andere gefördert.
Aber der Kleinmuth der moderne» Gesetzgeber konnte mir zu halben Maßregeln
Entschlußkraft finden. Obgleich die Organisation der Landgemeinde» i» den östlichen
Provinzen von Tage zu Tage dringender wurde, ließ man hier de» Zersctzungsproceß
sich vollenden, es blieb bei den Bestimmungen des Allgemeinen Landrechts, die aus ganz
andere, längst untergegangene Verhältnisse berechnet und namentlich aus die damalige
Verbindung der Dorfgemeinden und Domainen gegründet waren. Den letzten Zweck
Stein's, die positive Erweckung des Nationalgefühls durch Erregung der Theilnahme für
die Communalverwaltung, hatte man ganz aus dem Auge verloren; es war die ängstliche
Periode gekommen, in der man überhaupt Nichts „erregen" wollte, und vielleicht am
wenigsten das Nationalgefühl.
In dieser Lage befand sich das Cvmmunalwesen, als das Jahr 18i8 hereinbrach.
Wir halten hier in unsrer Darstellung vorläufig inne, »ut schließen mit einer
allgemeinern Betrachtung. Seit Emanation der alten Städteordnung waren vier
Decennien verflossen. Im Lause dieser Zeit waren — freilich in schwächerer Weise —
die Comnuinalvcrhältnisse des größten Theiles der Städte und die der beiden westlichen
Provinzen geordnet worden. Hat die Gcmcindcorganisativn inzwischen die von Stein
beabsichtigte Wirkung geäußert? hat sie den Gesichtskreis des Bürgers erweitert, die
Schränken deS bornirten Egoismus durchbrochen, die thätige Wirksamkeit für das Wohl
der Communen gefördert, das Interesse für die Entwickelung des Landes, die sich durch
die Neigung zur Theilnahme „an den Operationen des Staats" documentirt, wirksam
geweckt? Ein Blick aus unsre Erlebnisse in den letzten vier Jahren mag auf diese
Fragen Antwort geben. Es ist ein bemerkenswerthes Resultat, daß die Mehrzahl der
Männer, welche den Werth der Selbstständigkeit und den Werth eines Rechtes zu
schätzen wissen, aus den Wahlen der Städte und der westlichen Provinzen hervor¬
gegangen ist.
Freilich hat dieser „Oppositionsgeist" schon vor 18i8 großen Anstoß erregt und
die leitenden Kreise vor einem weitern Vorgehen auf dieser Bah» in hohem Grade
bedenklich gemacht. Allein die damals erhobenen Vorwürfe reducirten sich im Wesent¬
lichen darauf, daß Stadtverordnetenversammlungen und Landtage sich in ihren Petitionen
um Dinge kümmerten, die als allgemeine Landesangelegenheiten nicht speciell und
unmittelbar die Kommunal- und Prvvinzial-Interessen betrafen. Woher stammten diese
„Ausschreitungen"? Weil man 6 0 Jahre hindurch die Bildung einer Nationalrepräsen-
tation, die der Ort für eine Berathung der allgemeinen Landesangelegenheiten gewesen
wäre, verabsäumt hatte. Das Interesse an den Staatsopcrationcn zu beleben, war
gerade der Zweck Stein'S bei der Gcmcindcorgauisation gewesen; er hatte den Durst
geweckt, entschlossen, ihn durch eine Nationalrepräsentation zu befriedigen. Allein seine
Nachfolger zeigten in vielfach wiederholten Verheißungen dem Dürstenden nnr den
Becher von ferne, und waren sehr ungehalten, als er die Hand darnach ausstreckte.
Jetzt/ wo wir eine allgemeine Volksvertretung besitzen, aber eine einflußlose, rück¬
sichtslos behandelte, wiederholt sich dasselbe Phänomen. Auch einige der diesjährigen
Landtage haben sich um „allgemeine Landesangelegenheiten" gekümmert, und der rheinische
sogar ans eine für die Regierung sehr verdrießliche Art.
Vernunft und Erfahrung lehren, daß man, um zu befriedigende» Zuständen zu
gelangen und den unerquicklichen Reibungen ein Ende zu machen, sich für eine scharfe
Alternative zu entscheiden hat. Entweder will man über freie Bürger herrschen, und
dann räume man ihnen als nothwendige Consequenz einen wirklichen Einfluß auf die
Regierung ein. Oder man will über Knechte herrschen, und dann räume man Alles
fort, wodurch der Durst nach Freiheit und Selbstständigkeit genährt wird. Wer das
Letztere bei dem gegenwärtigen Enlturzustaudc für möglich hält, mag es wagen, hiezu
seinen Rath zu ertheilen. Aber jeder Mittelweg sührt nur zu Kämpfen, in denen die
Kraft deS Staates aufgerieben wird, und zu Zwittcrzuständcn, die früher oder später
doch zusammenbrechen müssen.
— Das neue Jahr
eröffnet sich, wenn die Dinge nicht plötzlich wieder unischlagen, unter günstigen Auspizien
für die liberale Sache, In England ist das Tory-Ministerium gestürzt und ein aus Whigs
und Peeliten gebildetes Cabinet im Begriff, die Zügel der Verwaltung zu übernehmen,
in Spanien erlahmt die Verwegenheit des strafbarsten Neactivusprojeetes vor der glor¬
reichen Manifestation eines eben so wüthigen, als unbeugsame» Widerstandes, und eine
Aenderung ist eingetreten, welche hoffentlich bald die constitutionelle Partei an das
Ruder des Staats bringen wird.
Daily News verglich neulich das Disraclische Budget mit den Wahl¬
bestechungen der Tones, die sich bei den Wahlen dnrch Freibier Wähler geworben
haben, und meinten, daß die Gewohnheit dieser Taktik einen Finanzplan eingegeben
habe, welcher die Nation dnrch die Aussicht auf billigere Bierpreise verlocken wolle, dem
Agricnltnrintcrefse durch die Verminderung der Malz- und Hopscnstcucr eine indirecte
Entschädigung zu geben. Der Versuch ist jedoch nicht gelungen. Nach viertägiger
Debatte ist Herrn Disraeli's Budget mit einer Majorität von 19 Stimmen im Unter-
Hause verworfen, und damit das Ministerium Derby nach clfmonatlichcm Bestände ge¬
stürzt worden. Formell handelte es sich nur um den Beschluß, ob man mit der Haus¬
steuer überhaupt eine Veränderung vornehmen wolle, und bis zuletzt versuchte Herr
Disraeli die Frage auf diesem engen Terrain zu halten, um die zahlreichen Neu-
linge im Parlament zu ködern, die principiell nichts gegen eine Erhöhung der Hausstcucr
hatten, und in der bloßen Anerkennung eines Princips, ohne sich zu feiner praktischen
Anwendung zu verbinden, nichts Arges sahen. Sir James Graham und Mr. Gladsioue
gebührt das Verdienst, diesem Bemühen mit Erfolg widerstanden zu haben, und deshalb
war während der ganzen Debatte stets das ganze Budget der Gegenstand der Ver¬
handlung, und es handelte sich nicht mehr um das Princip der Hausstcucr, sondern
um die Frage, ob man zu dem gegenwärtigen Ministerium Vertrauen genug habe, um
ihm eine Erhöhung der Steuern zu bewilligen, und die Antwort ist verneinend ausge-
fallen. Der Kampf war hartnäckig, doch sah man kurz nach Beginn der Debatte schon,
wie sein Ende sein würde, denn Herr Disraeli stand so gut wie allein — die Unter¬
stützung der Herren Walpole und Pakington hat ihm eher geschadet — den bedeutendsten
finanziellen Talenten des Unterhauses gegenüber, die sein aus den ersten Blick so glänzend
aussehendes Budget schonungslos des falschen Flitters entkleideten, nud alle wunden
Stellen desselben hervorhoben, Auch hier waren es wieder Sir James Graham und
Mr. Gladstone, welche nachwiese», wie das ministerielle Budget, indem es erst einen
Ueberschuß durch Erhöhung der Steuern schaffte, um ihn zur Herabsetzung anderer ver¬
wenden zu können, allen Grundsätzen einer gesunde» Fi»a»zpolitik widerspreche». Wie
leide»schaftlich der Kampf Mr. Disraeli bewegt hatte, zeigte sich an seiner Schlußrede,
in der er seine Gegner mit einer Bitterkeit und einer Heftigkeit der Sprache angriff,
die kaum andere Grenze» zu kennen schien, als den Ordnungsruf des Sprechers, und
die ma» laiige nicht im Unterhause gehört hat. So sagte er von Sir Eh. Wood, er
verwechsele Tadelsucht mit kritischem Sinn, und Jusolenz mit Rechtschaffenheit, und von
Sir James Graham, er beachte ih» zwar, könne ihn aber nicht achte». Ueberhaupt
war seine Rede eine Reihe der bittersten Jnvectivcn und SarcaSmcn, untermischt
mit scurrilcn Witzen, aber von so klarem und kräftigem Styl, so brillant und epi¬
grammatisch, und in ihrem raisonnirenden Theil von so gewandter, obgleich oft sophistischer
Logik, daß sich selbst seine Gegner, die er verletzte, der Bewunderung nicht ganz ent¬
halten konnte». Der unangemessene Ton seiner Rede wurde jedoch von Mr. Gladstone
mit großer Strenge gerügt, der ihm unter dem lauten Zuruf der Opposition und
störenden Unterbrechungen der Ministeriellen vorwarf, daß er, wie er in seiner Rede
geäußert hatte, zwar viel gelernt habe, aber nicht das Eine, in einem der Würde des
Hauses angemessenen Tone zu spreche».
Nach der Sprache einiger ministeriellen Blätter zu urtheilen, war der Rücktritt
des Ministeriums nach dem nachtheiligen Ausgang der Budgetdebatte noch keine ganz
ausgemachte Sache, und es hat möglicher Weise einige Zeit lang den Gedanken gehegt,
daS Budget zu opfern, und das Amt zu behalte». I» dem am Freitag (am Morgen
»ach der Abstimmung) abgehaltene» Cabinetsratl) beschloß ma» jedoch zu resigniren, und Lord
Derby begab sich sogleich zur Königin, die sich gegenwärtig aus ihrer Villa Osborne
aus der Insel Wight aushält. Von ihr ist Lord Aberdeen zur Bildung eines Cabinets
beruft» worden
Die Hauptbestandtheile des neue» Cabinets werde» die Führer der Whigs und
der Pecliten sein, und bei der gewichtige» Rolle, welche letztere i» der Opposition gegen
das gestürzte Cabinet gespielt habe», wird ihr Antheil wohl ein ziemlich bedeutender
werden. Aus dem Oberhause müßte von ihnen der Herzog von Newcastle, aus dem
Unterhause Sir I. Graham, Mr. Gladstone und Mr. Goulburue in dem neuen
Ministerium eine Stelle finden. Von den Whigs sind we»igste»s ein Grey, Lord
I. Russell, Mr. Labouchere zu berücksichtige». Sehr vereinfache» würde sich das Ar¬
rangement, wen» Lord Russell in'S Oberhaus versetzt würde, wo alsdann das Ministe¬
rium an Sir I. Graham einen sehr tüchtigen Führer im Unterhaus«: hätte; Schatz¬
kanzler würde Mr. Goulbnrnc werde». Ob die Manchestcrpartei einige Stelle» im
Ministerium erhalten wird, ist noch zweifelhaft; nach einigen Andeutungen der Times
scheint ma» nicht daran zu denken; die aristokratische Exclusivität der Whigs verträgt
eine solche Verbindung nicht, eher würde man einige vo» den sogenannten philosophischen
Radicalen. wie Sir W. Molesworth, Mr. Villiers, die zugleich von guter Familie sind,
berücksichtigen. Ein solches Coalitionsministcrinm würde parlamentarische und administra¬
tive Elemente in sich vereinige», wie sie selten ein Cabinet enthalte» hat. ,
Einige Blätter erwähnen einer Combination Derby-Palmcrstv». Nach diesen soll
nämlich Disraeli'S Budget mir mit Widerstreben Annahme im Eabinetsrath gefunden
habe», weshalb er auch den Kampf fast »»unterstützt hat führen müssen. Nach der
Niederlage wollte man den Exschatzkauzlcr durch einen Gcsandtschastspostc» i» ein ehren¬
volles Exil schicken, und dnrch den Beitritt Lord Palmerston's Talent und Popularität
zugleich für das Cabinet geol»ne». Diese Combiuatio» geht von der Voraussetzung
aus, daß sich überhaupt Lord Palmerston an Lord Derby anzuschließen gedenkt. Aber
diese Voraussetzung ist unsrer Ansicht nach irrig, und rührt von den Daily News und
den radicalen Organen her, bei denen Lord Palmcrstv» »le sehr beliebt gewesen ist, und
'die ihn, seitdem er die Annahme des hauptsächlich vo» de» Radicalen »ntcrstütztcn
Amendements Villiers verhindert hat, für einen verkappten Conservativen und Anhänger
Derby'S ausschreien. Lord Palmerston's gegenwärtige Abwesenheit aus dem Parlament
in Folge einer Krankheit, die sie sür eine gemachte erkläre», führen sie als einen Beweis
für sich ein. Wenn aber Lord Palmerston an der eben beendigten wichtigen Debatte
wegen eines ihn an das Zimmer fesselnden Gichtanfalls auch keinen Antheil genommen
hat, so beweisen doch die Abstimmungen seiner Anhänger genügend, daß er sich nicht
für das Ministerium Derby erklärt hat, sowol Mr. M. Milnes wie Oberst Frcestnnc,
seine beiden vertrautesten Anhänger, haben in der Vudgctsdcbattc mit der Opposition
gestimmt — ein genügender Beweis, daß der Lord, obgleich er sein politisches
Leben als Tory begonnen hat, noch nicht geneigt ist, zu seiner Jugendliebe zurückzu¬
kehren, und Lord Derby mit dem Talent zu unterstützen, das derselbe in den Reihen der
eigenen Anhänger so schmerzlich vermißt.
— Das Cabinet
Bravo Murillo war nach Auflösung der Cortes ans der Bahn schamloser Gewalt
fortgeschritten; da die vereinigten Fraktionen der prvgressistischen und mvdcrirten
Opposition sich in Bereitschaft setzten, den Wahlkampf gemeinschaftlich nud mit aller An¬
strengung aufzunehmen, so wurde die vcrfassungSbrücbige Regierung dnrch die verhäng-
nißvollen Consequenzen ihrer Politik unaufhaltsam weiter getrieben. Ihr gefährlichster
Feind war außerdem aus seiner bisherigen Zurückhaltung heranögeireten und hatte sich
offen an die Spitze der nationalen Opposition gestellt. Umsonst hatte, wie es scheint,
die Königin alle Mittel der Ueberredung aufgeboten, um den Marschall Narvaez sür
die Pläne des Gouvernements zu gewinnen, umsonst allerdings anch der Marschall
seine Souverainin dem Einfluß treuloser und verderblicher Rathschläge abwendig zu
machen versucht. Der Herzog von Valencia kehrte wenige Tage nach Schließung der
Cortes-Sitzungen aus Aranjuez nach der Hauptstadt zurück, und sofort schaarten sich
um ihn die Vertheidiger der Verfassung. In einer Versammlung der moderirten Oppo¬
sition ward ein aus funfzig Mitgliedern bestehendes Comite zur Leitung der Wahlen
niedergesetzt und Narvaez einstimmig zum Präsidenten erwählt. Dieser Versammlung, die
beim Bcrmudez de Castro stattfand, wohnten beide Concha's, der Marquis v. Pidal, der
Graf v. San Luis, Gonzales Bravo, Pacheeo, die Herzöge v. Rivas und Abrcmtcs,
welche die Zustimmung von -19 Granden überbrachten, nebst vielen Notabilitäten der
Moderados bei. Mon. Martinez de la Rosa und Mayans durch Unpäßlichkeit behin¬
dert, schickten ihre schriftliche Adhäsion. Die Progrcssistcn, die sich bei Mcndizalml
versammelten, und gleichfalls ein Comitü bildeten, traten mit dem von Narvaez präsi-
dirtcn in Verbindung, »ut sogar die ersten Banquiers und bedeutendsten Wcchselagcnten
vereinigten sich zur Wahl eines Ausschusses und schlössen sich dem Herzog von Valencia
an. Der große Name dieses Mannes und sein überwiegender Einfluß wurden zum Ver-
einigungspunkt der Opposition und zogen auf ihre Seite Viele herüber, die bis dahin
noch gezögert oder geschwankt hatten. Diesen drohenden Widerstand zu brechen, beschloß
das Cabinet einen unerhörten Gewaltschritt. Ein Decret des Ministers des Innern
verbot alle Wahlversammlungen, die nicht von der Regierung auiorisirt seien, „um
Störungen der öffentlichen Ruhe vorzubeugen und zu verhindern, daß den Wählern
moralischer Zwang auferlegt werde," fügte man mit jenein Cynismus von Ver¬
höhnung des Rechts und der gesunden Verminst hinzu, der seit dem zweiten December
in Gebrauch gekommen ist. Der Herzog von Sotvmayor, bei dem für den folgenden
Abend die Versammlung der Moderados angesagt war, ließ hierauf bei dem Gouver¬
neur von Madrid um die Erlaubniß dazu nachsuchen. Sie wurde ihm verweigert. Ein
erneuertes Gesuch, unterschrieben von allen Häuptern der moderirten Partei, unter ihnen
viele frühere Minister der Krone, die glänzendsten Chefs des Heeres, die ersten Namen
des hohen Adels, hatte dasselbe Schicksal. Es war klar, daß die Zusammcnfälschung
eines dienstwilligen Parlaments beschlossen sei, und man vor keinem Mittel zunickschrecke,
das zu diesem Ziele führen könne. Die Negierung erlitt übrigens einen neuen Schlag.
Die kurz vor Eröffnung der Cortes gefänglich eingezogenen und in Anklage gestellten
Geranien der 6 Oppositiousblätter wurden von den Geschwornen (genommen aus den
300 Höchstbcsteucrtcu der Provinz) freigesprochen und die Blätter dadurch in den Stand
gesetzt, wieder zu erscheinen. Die Redacteure traten sogleich zusammen, um ihr
gemeinschaftliches Verhalten zu verabreden, und beschlossen auf alle Gefahr hin, den
Kampf gegen das Willkürregiment von Neuem aufzunehmen.
Noch immer blieben der Hof und Bravo Murillo entschlossen, ihre Politik um
jeden Preis durchzusetzen. Die Opposition sollte in ihrem Haupte getroffen werden.
Der Marschall Narvaez wurde, unter der Form einer lächerlichen Sendung nach Wien
zur Einsicht der dortigen Militairarchivc, aus Spanien verbannt, mit der Ordre, un¬
verzüglich abzureisen. Nur aus sein dringendes Begehren erhielt er 2i Stunden Auf¬
schub. Diese Nachricht rief Einen Schrei der Entrüstung im Publicum und in den
Reihen der verfassungstreuen Parteien hervor. Der letzte Tag seines Aufenthaltes in
Madrid wurde für den Herzog von Valencia zu einer politischen Ovation. Alle Per¬
sonen von Ansehn und unabhängiger Gesinnung eilten in sein Hotel, ihm ihre Vei-
stimmung und Hochachtung zu bezeugen. Die Progrcssistcn, seine ehemals so erbitterten
Gegner, schickten eine Deputation an ihn ab, bestehend aus A. Gonzales, F. In¬
fame, zwei früheren Ministern des Regenten Espartero, Lujan und Pasaron y Lastra,
die ihm die Sympathien ihrer Parteigenossen überbringen sollten. Narvaez verließ am
11. Den. Madrid in der Richtung aus Bayonne, nachdem er zuvor das bereits ent¬
worfene, aber noch nicht veröffentlichte Manifest der gemäßigten Opposition an die
Nation unterzeichnet hatte. Die Petitionen um Wahlftcihcit wurden fortgesetzt und mit
Tausenden von Unterschriften der Wähler Madrids bedeckt. Außer den bereits ange¬
führten Namen figurirten darunter Leopold O'Dommel, einer der angesehensten Generale,
der bisher stets für den Bekenner einer sehr streng monarchischen Richtung galt, die
Generale Serrano und Cordova, der Herzog von Medina-Ceti. Der Kreis der An¬
hänger oder wenigstens der doch noch gcmnthmaßten Freunde der Negierung lichtete
sich unaufhörlich. Diese Petition wurde vo» Cvllantcs, — gleichfalls ein früherer Minister
der Königin, — dem Gouverneur überreicht.
Einer solchen Agitation gegenüber, die sich weder einschüchtern noch unterdrücken ließ,
wuchs die Verlegenheit des Ministeriums mit jedem Tage. Zugleich kamen Seitens des
GcncralcapitainS von Katalonien die beunrnhigendstcn Meldungen über die Stimmung dieser
Provinz und namentlich Barcelona's. Es hieß, der Hos sei unzufrieden mit den halben
Maßregeln Murillo's, und man bereite ein Cabinet vor, das den Staatsstreich mit
Beseitigung der Wahlen in'S Werk setzen solle. Die Namen Pczuela's und Pavia's
wurden genannt, zweier Generale, die ihre schnelle Beförderung der Hofgunst verdanken
und aus den ihnen übergebenen militairischen Missionen ein ziemlich zweideutiges An¬
denken hinterlassen haben. Doch scheint man über Velleitäten nach dieser Seite hin
nicht hinausgekommen zu sein.
Vor seiner Abreise hatte Narvaez jedoch noch den empfindlichsten Streich gegen
das Ministerium geführt, Unter denen, die ihn am letzten Tage besuchten, befand sich
auch der Kriegsminister Urbina (nicht Tibina, wie im vorigen Hefte steht), der von
Zweifeln bedrängt, eine Zusammenkunft mit dem Herzog von Valencia nachsuchte.
Letzterer bearbeitete in der ungestümen und gebieterischen Art, die ihm eigen, den
unglücklichen Minister so, daß derselbe noch an demselben Abende seine Entlassung
forderte, jede weitere Betheiligung an der Politik des Cabinets verweigernd. Vergebens
wandte sich B. Murillo jetzt nach allen Seiten, um für das Portefeuille des Kriegs
einen Minister zu finden. De Meer, der gleich O'Dommel im Rufe einer fast absolutistischen
Gesinnung steht, soll es abgelehnt haben. Lersundy, ein früherer College Murillo's,
wies ihn mit den Höbnischen Worten ab: „Sie haben Ihren letzten Kriegsminister
gehabt." Noncali, ehemals Gouverneur von Cuba, gab die schnöde Antwort: „Sie
haben sich festgefahren; ich will Ihren nahen Fall nicht theilen, behalten Sie Ihr
Portefeuille für sich." Der Eindruck des von Narvaez eingeschlagenen Verhaltens und
die Behandlung, die das Cabinet sich gegen diesen unstreitig hervorragendsten Chef des
Heeres erlaubt hatte, scheinen alle einigermaßen bedeutenderen Generale der Negierung
abwendig gemacht zu haben. In dieser Noth schlug der Ministerpräsident der Königin
zwei ganz obscure Namen, Blanco und Nendon zur Auswahl für das Kriegs¬
ministerium vor. Aber selbst die sorglose Isabella war bedenklich geworden. Sie ver¬
langte Zeit zur Ueberlegung; Lersuudy eilte zur Königin und ans seine dringenden
Vorstellungen erklärte Jsabella: „Wenn B. Murillo keinen Kriegsminister findet,
mag er seine Entlassung geben." Der Letztere soll sich hierzu sofort bereit erklärt, sein
College Vertrau de Lys dagegen ihm davon abgerathen haben, weil es besser sei, die
Demission abzuwarten, als sie einzureichen. Allerdings ein ganz angemessenes Ver¬
fahren für eine Sorte von Staatsmännern, von denen die Times sehr richtig sagt, es
seien Menschen, von denen man gar nicht geringschätzig genug sprechen könne.
Zahllose und widerspruchsvolle Gerüchte kreuzten sich in Madrid am -13. December:
das Cabinet solle im Begriff zu zerfallen sein, Noncali solle den Auftrag, ein Ministerium
Zu bilden, bekommen haben, das liberale Reformen vorschlagen werde, B. Murillo wolle
Concessionen in seinem neuen Constitutionsproject machen, ein total absolutistisches Cabinet
B. de Lys, Pczucla, Miraflores (der sich, beiläufig gesagt, mit Schande bedecken
würde) stehe in Aussicht Zc.
Eine Nachricht des Journal deS Dcbats vom le., wonach Bravo Murillo und
seine Kollegen ihre Entlassung gegeben, die Königin sie angenommen und Pidal, einen
Anhänger des Narvaez und Führer der constitutionellen Partei, mit der Bildung des
Ministeriums beauftragt hätte, wird leider durch eine telegraphische Depesche vom -is.
nnr zur Hälfte bestätigt. Das Cabinet Murillo ist allerdings gestürzt, aber durch eine
Verwaltung unter dem Vorsitz Noncali's ersetzt. Der General Lara bekleidet darin
den Krieg, der General Mirasol die Marine, Aristizabal die Finanzen, und Florente
(soll wahrscheinlich heißen Llorcntc) das Innere. Für die anderen Posten fehlen die
Namen. Lara war längere Zeit College Murillo's und legte kurz vor Zusammentritt
der Cortes das Portefeuille des Kriegs nieder, Mirasol war Kriegsminister im Beginn
des Murillo'schen Cabinets (Jan. -183-1) und schied schon nach wenigen Wochen aus.
Die beiden Letzteren sind weniger bedeutende Männer. Die neue Verwaltung sei, so heißt
es, ein UcbergangScabinct, worunter nach allem Vorhergegangenen und dem Benehmen
Noncali's und Lara's, so wie den bisher ehrenvollen Antecedentien Mirasol's wol nur
die Rückkehr zur Bersassnug und Gesetzlichkeit verstanden werden darf. Gleichwol
kann man dieses Ministerium weder parlamentarisch, noch zuverlässig constitutionell nennen.
Es sind daher von seiner Seite Schwankungen oder rcactionaire Velleitäten, vielleicht
gar von Seiten des Hofes eine Rückkehr zu absolutistischen Projecten zu befürchten.
Immerhin erscheint es jedoch, so viel man bis jetzt ersehen kann, als eine sehr wesent¬
liche Besserung der Situation, und jedenfalls wird durch alle diese Vorgänge die
Stimmung der Nation sich immer mehr zu Gunsten der Verfassung erheben. Die
nächsten Tage schon müssen Aufklärung bringen. Narvaez hat in Bayonne Hall ge¬
macht, augenscheinlich um die Ereignisse abzuwarten. —
Wir verschieben bis zum nächsten Hefte, wo definitive Ergebnisse sich herausgestellt
haben werden, unsre weiteren Betrachtungen über diese wichtige und folgenreiche
Krisis.
Der Besuch des Kaisers von Oestreich hat das
rege Leben, welches bei der Nähe der Weihnachtszeit schon an und für sich hier
herrschte, noch um ein Beträchtliches erhöht und der Schaulust der Menge, wie der
Auserwählten neue Befriedigung gewährt. Die Empfangsfeierlichkeiten, die, Paraden in
Charlottenburg, Berlin und Potsdam und welche Uniformen die hohen Herrschaften
dabei trugen, die Diner's und welche Toaste dabei ausgebracht wurden, die Fcstdar-
stcllungen im Opernhause und wie Fräul. Marie Taglioni ein pss seul dabei tanzte,
die Besuche in den Kasernen und wie huldvoll Se. kaiserl. Majestät sich dabei gegen
die pommerschen Recruten benommen, — das Alles ist sehr schön beschrieben und mit
wichtigen Nachträgen completirt in der Kreuzzeitung zu lesen, so schön, daß ich ein
zweiter Pindar sein müßte, wenn ich mich mit Erfolg an eine eigene Schilderung dieser
Olympische» Spiele wagen wollte. Ich habe bei der andächtigen Lecture der bald
dithyrambischen, bald epischen Ergüsse der Kreuzzeitung nur bedauert, daß die guten
Oestreicher durch das Verbot dieses Blattes verhindert sind, sich von den Festivitäten,
mit denen ihr jugendlicher Kaiser in der preußischen Hauptstadt empfangen wurde, ein
hinlänglich klares Bild zu machen. Dem einzigen Berliner Blatt, welches im Kaiser¬
staate zugelassen wird, der „Voss. Ztg." sehlt für die Darstellung so bedeutender Er¬
eignisse der nöthige Schwung. Um so mehr verdient der Umstand Beachtung, daß die
Kreuzzeitung bei der gegenwärtigen Sachlage wol schwerlich wieder in die Verlegenheit
kommen wird, durch ihre scrnpulosc Vertiefung in die Frage, ob der Rhein am Po
vertheidigt weiden müsse, und durch den allgemein überraschenden Widerruf der von ihr
schon ertheilten Marschordrc über die Alpen gerechten Anstoß zu erregen; die andere
Frage, ob der Po am Rhein vertheidigt werden müsse, wird sie voraussichtlich mit der
gebührenden Discretion behandeln.
Daß der kaiserliche Besuch eine große Demonstration ist, darüber ist alle Welt
einig. Nur über die eigentliche Bedeutung dieser Demonstration gehen die Meinungen
aus einander. ES will nicht recht befriedigen, sie mit einem, lediglich der Vergangen¬
heit zugewandten Gesicht, blos als Beweis sür die glückliche Wiederherstellung der
lange gestörten «zntöiük om'äialö, sür die Ausgleichung aller Differenzen auch auf dem
handelspolitischem Gebiet aufzufassen. Noch weniger will es befriedigen, wenn der un¬
erwartete Besuch als eine schlagende factische Enttäuschung der von den deutschen
Mittclstaatcn gehegten Hoffnungen, daß sie im Bunde mit der einen deutschen Groß-
macht gegen die andere operiren könnten, dargestellt wird. Man sucht die Bedeutung
des kaiserlichen Besuchs hauptsächlich in der Zukunft, und die loyalste Auffassung scheint
zur Zeit die zu sein, welche darin eine Demonstration gegen Frankreich, eine Wieder¬
herstellung blos der Waffenbrüderschaft erblickt. Doch giebt es, wie ich aus einem
Artikel der officiösen „Zeit" ersehe, auch böswillige Gemüther, welche zu meinen wagen,
daß in den Festivitäten dieser Woche eigentlich die Wiederherstellung der ,,Heiligen
Alliance" gefeiert werde, und daß wir auch in der innern Politik die Folgen dieses
wichtigen Ereignisses in Kurzem spüren würden. Wenn die „Zeit" wirklich so bittere
Ersahrungen gemacht hat, so ist es in der That kaum zu sagen, bis zu welchem Grade
die Ruchlosigkeit einiger Menschen steigt.
Die Kammern haben inzwischen ihre geräuschlose Thätigkeit fortgesetzt, vorläufig
ohne andern Erfolg, als daß der Präsident Uhden Gelegenheit gewonnen hat, auch seinen
Freunden begreiflich zu machen, wie wenig er eigentlich für den Vorsitz in einer solchen
Versammlung geeignet ist. Wenn es schon als eine anerkennenswerthe Bescheidenheit
betrachtet wird, durch mündliche Hinweisung auf die Unzulänglichkeit der eigenen Kräfte
eine ehrenvolle Bürde abzulehnen, so verdient es natürlich eine noch viel unverhohlenere
Bewunderung, wenn Jemand in möglichst kurzer Frist möglichst viel thatsächliche
Beweise liefert, daß er einer Stellung, zu der er durch den Eifer seiner Freunde empor¬
gehoben ist, nicht gewachsen sei. Da es dem Herrn Präsidenten mehr um die Ver¬
breitung dieser Ueberzeugung bei den unmittelbar Beteiligten, als um die Anerkennung
seiner Taktik bei der Nachwelt zu thun ist, hat er in dem stenographischen Bericht solche
Correcturen geduldet, daß nicht mehr mit Genauigkeit zu bestimmen ist, wie oft er zum
Erstaunen Derer, welche die Absicht nicht merkten, die Ausdrücke „Abtheilungen" und
„Commissionen" verwechselte, wie oft er durch die Aufforderung, über eine alternativ
gestellte Frage durch Ausstehe» und Sitzenbleiben abzustimmen, die ehrenwerthen Abge¬
ordneten in die peinigende Ungewißheit versetzte, wer denn nnn eigentlich aufstehen und
wer sitzen bleiben sollte. Als die Linke bei Erörterung der Frage, ob die zuerst in der
ersten Kammer eingebrachten Regierungsvorlagen schon vor dem Eingänge der Beschlüsse
dieses Hauses in der Commission der zweiten Kammer discutirt werden dürften, direct
a» sei» Urtheil apvellirle, ob der angezogene Paragraph der Geschäftsordnung anders
als die Linke es verlangte, interpretirt werden könne, entschied er zu Gunsten der Linken,
und lieferte dadurch seiner eigenen Partei den unangenehmen Beweis, daß er zwar als
schlichtes Mitglied derselben immer mit ihr zu gehen bereit sei, daß er aber als Prä¬
sident seine Rechtsüberzeugung dem Parteiinteresse nicht zum Opfer bringen wolle. Und
als er auf das Andringen der Rechten in der nächsten Sitzung diese Entscheidung, die
er als einen Irrthum bezeichnete, widerrief, lieferte er wiederum der Linken den unan¬
genehmen Beweis, daß sie sich täusche, wenn sie aus seine Entscheidungen bauen zu
können meine. So ümsichtjg operirt Herr Uhden nach allen Seiten hin; und wenn die
Rechte anders ein geeigneteres Subject' für die Präsidentenwürdc in ihrer Mitte aus¬
findig machen kann, so läßt sich voraussehen, daß Herr Uhden durch die nächste Wahl
von einer Stellung, in der er sich offenbar unbehaglich fühlt, entbunden werden wird.
Im achten Gewandhausconcerte wurden aufgeführt: Sinfonie von
I. Hayd» in Ls-Dur, Arie ans Figaro von Mozart, gesungen von Fräulein Bury;
Comala, dramatisches Gedicht nach Ossian, für Gesang und Orchester, von Ricks
W. Gabe, die Solostimmen gesungen von den Damen Bury, Bleycl und Dreyschock
und Herrn Behr; Concert für Violoncell von Bernhard Romberg, gespielt von Herrn
Bernhard Hildebrand-Romberg aus Hannover. — Das neunte Concert brachte
die Ouvertüre zu Spohr's Faust und die Sinfonie in -ODiir (Ur. 2) von Rob. Schu¬
mann; eine Conccrtarie von Fel. Mendelssohn-Bartholdy und eine Arie al eliiesa von
dem alten Italiener Stradella, gesungen von Fräulein Bury; Herr Dreyschock aus
Prag spielte Mendelssohn'S Concert in K-Roll für Pianoforte und eine Rhapsodie
eigener Composition. — Im dritten Concert des Musikvereins Euterpe führte man aus
die L-Vur Sinfonie (Ur. i) von Gabe, die Ouvertüre zur Zauberflöte und die Jubcl-
ouverture von C. M. von Weber; Fräulein Fastlingcr saug eine Arie ans Figaro
von Mozart und Lieder von Schumann und Taubert; Herr Jadassohn aus Breslau
spielte das Ks-Vur Concert für Pianoforte von Beethoven und eine Polonaise in Ls-
Dur von Chopin.
Die musikalischen Soirven des Königl. Domchors in Berlin haben unter der
Leitung des Musikdirektor Neidhardt begonnen. Sie finden in dem Saale des Schau¬
spielhauses statt und die Betheiligung des Publicums ist eine sehr lebhafte. Eröffnet
wurde die erste Soiron mit I. S. Bach's achtstimmigcr Motette: „Jauchzet dem
Herrn alle Welt". Es folgte eine Ouoeunquö für Männerstimmen von Palestrina,
hierauf das Mgmlloat von Dnrante mit dreistimmiger Streichbcglcitung. Den zwei¬
ten Theil begann ein Chor: „Das Blut Jesu Christi" von M. Bach; es folgte eine
Motette von Mendelssohn für Sopran- und Altstimmen und dieser endlich das le äeum
von Mozart mit obiger Instrumentalbegleitung. — In Berlin ist eine „Berliner Lieder¬
tafel" gegründet worden, deren Mitglieder ans Musikern, Sängern und Freunden der
Musik bestehe». Herr Thrun ist zum Dirigenten erwählt. In dem musikalischen Vor¬
stande befinden sich der Komponist Krigar, der Hof-Opernsänger Böse, der Kammer-
musikus Lotze und Dr. Dohm. Herr Krigar hat das Statut des Vereins entwor¬
fen. Die Gesellschaft scheint eine Fortsetzung des frühern Tonkünftlcrvercins zu sein,
doch scheinen hier nicht blos musikalische Zwecke vorzuwalten, da »ach den Bestimmungen
des Statuts jede vierte Versammlung im Monate mit Tafelfreuden verbunden sein wird.
Diese sind freilich die bewährtesten Bindemittel für derartige musikalische Zusammen¬
künfte; vielleicht würden alle vor einigen Jahre» entstandene Toukünstlervcrcine noch
grünen u»d blühe», hätte man kluger Weise das Klingen der Gläser mit den Tönen
der Saiten auf gleiche Stufe gestellt. So viel bekannt, besteht von allen jenen, da¬
mals so sehr gepriesenen Vereinen nur noch der Magdeburger; der Leipziger, durch
dessen Aufforderung die anderen entstanden, ging durch daS Ueberwiegen der dilettan¬
tischen Mitglieder und durch den plötzlich überhandnehmenden Einfluß des Kunstwerks
der Zukunft zu Grunde, ehe er noch in der Gegenwart rechten Fuß gefaßt hatte.
N. W. Gabe ist vom König von Dänemark zum Ritter des Danebrog-Ordens
ernannt worden.
W. v. Kaulbach's Gemälde: „Die Zerstörung Jerusa¬
lems ist, von H. Merz gestochen, so eben publicirt worden. — Der König von Belgien
hat 76 Künstler ernannt, die den akademische» Körper der königl. Akademie der bilden¬
den Künste zu Antwerpen bilde» sollen. Unter den '16 belgische» Namen glänzt der
des gefeierten Gallait; unter den 10 auswärtigen Mitgliedern befinden sich Kaulbach,
Cornelius, Schadow und Rauch. — Schloß Babelsberg bei Potsdam ist in 12 Aqua¬
rellen eines prachtvollen Albums erschienen. Sechs Blätter bieten die schönsten äußeren
Ansichten, die übrigen die größten Merkwürdigkeiten, die dieser berühmte Bau umschließt. —
Paolo Veronese's berühmtes Bild: Die Hochzeit zu Cana im National-Museum zu
Paris ist, nach dem Ausspruche von Kunstkennern, von Z. Prevvvst meisterhaft in
Stahl gestochen. — In Berlin erregt jetzt ein großes Bild des Landschaftsmalers
Hildebrandt: Gegend bei Rio de Janeiro bedeutendes Aufsehen; wozu wir gelegentlich
bemerken, daß der Berliner Kunstverein von der diesjährigen Ausstellung beinahe nichts
Anderes als Landschaften angekauft hat, obgleich das historische Fach und das größere
Genrebild diesmal aus das Glänzendste vertreten waren. -— Stcinhänscr'S Goethe-Monu¬
ment in Rom hat der Großherzog von Weimar für die Vorhalle des neuen Museums
angekauft. Die Ausführung ist nach einer Idee Bettina's, zum Titelblatt ihrer ,,Briefe
eines Kindes". Goethe ist als olympischer Dichter-Zeus, mit nacktem Oberkörper den
Lorbeerkranz in der gesenkten Rechten, die Lyra in der Linken haltend, dargestellt. —
Die kolossale Gruppe des farnesischen Stieres wird so eben in der königlichen Erzgießerei
zu Berlin in Bronze gegossen, »ut hat die Bestimmung, in Sanssouci vor dem großen
Bassin ausgestellt zu werden. >— Der griechische Saal des neuen Museums zu Berlin
gewährt nun in den zahlreich ausgestellten Abgüssen aller Antiken einen großartigen
Anblick, denn, wie Kenner versichern, fehlt anch keine einzige bedeutende Schöpfung
griechischer Kunst, so weit sie sich in Originalen bis ans unsre Tage erhalten hat. —
Die bayerische Ruhmcshalle wird nun in kurzer Zeit vollendet sein, denn in der Pina¬
kothek stehen schon 20t) Marmorbüsten, im Auftrage König Ludwig's ausgeführt, für
sie in Bereitschaft. — Zur Erbauung des böhmischen Nationaltheaters sind Preise für
Pläne ausgeschrieben worden. Erster Preis 1000 si., zweiter L00 si. Das Haus
soll 2S00 Personen fassen können. — Bei Franz Duncker in Berlin sind folgende
interessante Werke erschienen: „Luther, die Thesen an die Schloßkirche zu Wittenberg
anschlagend", nach dem für das Martinsstift in Erfurt bestimmten Relief von Hermann
H"del, lithographirt von Pietsch, und: „Umrisse zu Goethe's Iphigenie ans Tauris,"
gezeichnet von Hermann Heidcl, in Kupfer gestochen von H. Sapere. Die Heidel'schen Um¬
risse können zu dem Schönsten gezählt werden, was bis jetzt ans diesem Gebiete ge¬
leistet wurde.
— Der Bassist C. Form es befindet sich jetzt in Berlin und er¬
regt durch seine großartige Stimme Furore, Er sang bis jetzt im Theater, in
Hofconcertcn und bei anderen Gelegenheiten; man meint, nach Lablache sei er wieder
der erste große Bassist. — Die italienische Oper verläßt Berlin, nachdem sie sehr
schlechte Geschäfte gemacht. Dagegen scheint die Oper im Kroll'schen Etablissement zu
gedeihen, die erste Vorstellung derselben, „der Postillon" war so besucht, daß die Casse
geschlossen werden mußte. Dirigent ist ein Herr Wetterhahn, den Chor leitet Herr
Tschirch.
Bauern seid in Wien entwickelt eine eifrige und dankenswerthe Thätigkeit; außer
seinem neuen Lustspiel „die Krisen", welches nach einer Erzählung lievus ass clöux
monäes bearbeitet sein soll, hat er ein einaktiges Drama nach dem Franz. „Im Alter"
geschrieben; ist mit Umarbeitung seines ältern Stücks „Unterthänig" und einem
neuen Carnevalstück beschäftigt und hat ein Original-Schauspiel in i Alten „Aus
Versailles" versandt, welches nächstens in Berlin zur Aufführung kommen soll.
Beiträge zur Länder- und Völkerkunde. — Wir haben hier einige
Bücher anzuführen, die mit der größten Gewissenhaftigkeit ausgearbeitet sind und uns
ein sehr anschauliches und getreues Bild von den Ländern, auf die sie sich beziehen,
verschaffen. DaS umfangreichste und auch wol bedeutendste dieser Bücher sind die
Dcnkblättcr aus Jerusalem, von Hirns Tobler, praktischem Arzt. (Se. Gallen,
Scheitlin und Zollikofer.) Mau muß hier nicht etwa eine sentimentale Reisebeschreibung
in der Art des Herrn v. Chateaubriand erwarten, sondern die sorgfältig geordneten
Detailanschauungen eines praktischen Mannes, der unermüdlich bemüht ist, gerade in den
Zügen des Kleinlebens, die dem flüchtig durchreisenden Beobachter entgehen, die ganze,
volle, ungeschminkte Wahrheit zu geben. Sehr einladend sind die Schilderungen nicht;
die Zustände, in die wir eingeführt werden, sind im Gegentheil so gräulich als möglich,
aber wir haben überall den Eindruck der Zuverlässigkeit. — Ein cmpsehlenswcrthes Buch
von kleinerem Umfange ist die „Reise durch Sennaar nach Mandara, Nasnb, Cheli, im
Lande zwischen dem blauen Nil und dem Atbara, von Ferdinand Warme." (Berlin,
Franz Duncker.) Die Reise fand im Jahre 184-1 statt. — Ferner gehört dazu: „Die
Staaten von Mexico, Mittel- und Südamerika, in ihren geschichtlich-politischen, administra¬
tiven, Handels- und Cnlturbcziehuugcn, seit ihrer Unabhängigkeitserklärnng bis zum
Jahre 18öl), nach dem ^nnusiro «los clöux monclos bearbeitet von Dr. Frisch. (Lübeck,
Dittmer.) — Die guten Quellen, welche die Kevuv c!of cieux morales benutzt, sind
bekannt; die Bearbeitung ist gedrängt, übersichtlich, sie geht überall aus die Hauptsachen
aus, ohne doch etwas Wesentliches auszulasten, und ist daher ihrem populairen Zweck
durchaus entsprechend. ^
Roland's Graalfahrt, von Max Maria. Leipzig. Ed. Mayer. Der Dichter
hat sich bemüht, zwei Sagcnstvffe und'außerdem noch die Reminiscenzen ans der wirk¬
lichen Geschichte zu einem gemeinsamen Bilde zu verschmelzen. Wir haben allen Respect
vor der libcvollcn Sorgfalt und dem Talent, welches dabei aufgewendet ist, wir halten
aber dergleichen Versuche nicht für berechtigt, denn die Geschichte wird durch die Sage
und die Sage dnrch die Geschichte gestört, und wenn noch vollends, wie hier der
Fall ist, eine mystisch-religiöse Tendenz hinzutritt, so ist gar kein Faden aus dem
Labyrinthe mehr zu finden. Wenn man das romantische Epos noch weiter ausbilden
will, so, scheint uns die Form W. Scott's die allein berechtigte, nämlich wirkliche Bilder
aus der Geschichte, die ein individuelles Interesse erregen, zu anmuthigen, klar über¬
sichtlichen Gemälden zu gruppiren.
Die Grenzbvren beginnen am 1. Januar -I8ü3 den XII. Jahrgang.
Die unterzeichnete Verlagshandlung erlaubt sich zur Prmmmeration einzuladen
und bittet die Bestellungen möglich schnell aufzugeben, damit in der Expedition kein
Aufenthalt eintritt. Asse ZZuchhaildKmgeu und Postämter »ebenen ZZestel'lungen ein.
Leipzig im December 1832. Fr. Ludw. Herbig.
Als ein sehr elegant ausgestattetes Festgeschenk liege» uns zwei Bände
„Bunte Steine" von Adelbert Stifter vor (Pesth, bei Heckenast. Leipzig, bei
G. Wigand). Da wir bis jetzt auf diesen Dichter uoch nicht gekommen sind, so
ergreife» wir diese Gelegenheit, unsre Ansicht über deu Inhalt seines Talents
auszusprechen.
Die gegenwärtigen beiden Bände unterscheiden sich nur dem Titel »ach von
den sechs Bänden Studie«, die früher von demselben Dichter erschiene» sind.
Der Titel ist ganz zufällig, oder wenn um» will, ans einer Caprice gewählt.
Zum Anfang jeder Erzählung, oder doch der meisten unter ihnen, werde» el»
Paar Bemerkungen über eine bestimmte Steingattnng gemacht und dann vermittelst
einer ganz beliebigen Ideenassociation eine mehr oder minder zusammenhängende
Begebenheit daran geknüpft. Dieses Motiv ist also ein ganz äußerliches, in der
eigentlichen Methode der Conception habe» wir die alte» Studien. In der
Bvrredc spricht sich Adelbert Stifter sehr schon darüber aus, daß man sowol in
der Betrachtung der Natur, als in der Auffassung der geschichtlichen Welt einen
ganz willkürlichen Unterschied zwischen groß nud klein macht, daß in dem nnschciw
baren Wachsen eines Grashalms sich eben so mächtig die schöpferische Kraft der
Natur entwickelt, als in einem furchtbaren Gewitter, daß die anspruchslosen Motive
einer stillen Seele eben so den Proceß des Geistes veranschaulichen, als der große
Entschluß eiuer heldenhaften Natur, daß, wen» wir diese Erscheiinmgen i» das
auflösen, was doch für de» Geist allein das Bleibende ist, in ihr Gesetz, die eine
Erscheinung für uns so fruchtbar sein muß wie die andere. Er macht darauf
aufmerksam, daß für den Unkundige» die Beobachtungen von den Abweichungen
der Magnetnadel, die an vielen Orten zu gleicher Zeit stattfinden, auch einen
sehr kleinlichen Eindruck macheu würden, während doch dieser heimlich wirkende
Fleiß allein im Stande ist, die großen Siege zu vermitteln, die der menschliche
Geist über die Natur davon getragen hat. Das ist sehr schön empfunden, und
es ist vollkommen richtig, das! man gerade bei der Wissenschaft es am lebhaftesten
verfolgen kann, wie aus dem anscheinend Kleinen das Große hervorgeht; aber
der Dichter übersieht dabei doch einen Umstand. Der Eindruck des Großen und
Bedeutenden wird zwar dnrch diese kleinen, anscheinend unbedeutenden Unter¬
nehmungen vermittelt und knüpft sich an dieselben, aber er geht keineswegs darin
ans, er ist vielmehr ans der Einsicht in das großartige Zusammenwirken her¬
geleitet, welches aus einem tiefen Gedanken entspringt und eine große und hin¬
gebende Aufopferung nach allen Seiten hin erheischt, er ist also an sich schon etwas
Großes und Bedeutendes; und nun hat gerade die Kunst die Aufgabe, diesen
Eindruck des Großen und Bedeutenden, den der gewöhnliche Mensch dnrch
Einzelstndien sich mühsam erwerben muß, in einem Bilde zu concentriren und da¬
durch zur Unmittelbarkeit zu erheben. Die Kunst kauu also nicht daraus aus¬
gehen, uns Studien zu geben, wie sie der denkende und fein fühlende Mensch
selber macht, sondern sie hat die Aufgabe, uns dieser Studien anscheinend zu über¬
heben und uns das als wirklich daseiend darzustellen, dessen Existenz wir uns
im gewöhnlichen Leben nur durch Schlüsse und Reflexionen vermitteln.
Die Naivetät, die Adelbert Stifter in seine» Studie» anwendet, hat etwas
»ieflectirteS und ist außerdem »»künstlerisch. Ans seiner Einsicht nämlich, daß
alle Erscheinungen im Gebiet der Natur und Geschichte wichtig sind, geht die
Neigung hervov, auch in dem Kunstwerk Alles mit gleicher Wichtigkeit und einem
gewisse» magische» To» z» behandeln. Er erzählt mit derselben Würde und
Feierlichkeit, wie el» Großvater seinem Enkel die beschmuzten Höschen auszieht,
wie er große Naturerscheinungen darstellt. Das ist aber ein logischer wie ein
ästhetischer Mißgriff. „Wichtig" und „unwichtig", „bedeutend" und „unbedeu¬
tend" sind Nclativbegrisfe; sie drücken die bestimmte Beziehung eines Gegenstandes
zu einem ander» Gegenstand, den man hauptsächlich vor Augen hat, aus. Wenn
ich ein Genrebild male, so werde ich mit Recht auf gewisse kleine Züge ein gro¬
ßes Gewicht lege»; ich thäte aber Unrecht, wenn ich dieselbe Methode bei einem
historischen Gemälde a»we»bete. Nun läßt uns aber der Dichter vollständig im
Unklaren, was eigentlich sein Gegenstand ist. Als Beispiel wählen wir die
erste Erzählung. In der Einleitung betrachtet er einen Stein, der der Erzählung
den Namen giebt. Er erinnert sich, als Kind häufig ans diesem Stein gesessen
zu haben, und dabei fällt ihm ein, daß öfters ein Mann vvrübergcsahre» sei,
der Wagenschmiere seil gehste». Diese Wagenschmiere wird mit einer Andacht
behandelt, wie etwa daS Verhältniß Romeo'S zu Julie im Shakespeare. Einmal
hat ihm der Mann die nackten Füßchen mit Wagenschmiere bestriche», er ist nach
Hanse gekommen, hat den Fußboden beschmuzt und ist dafür von seiner Mutter
mit Nuthen gestrichen worden. Um ihn zu trösten, hat ihm sein Großvater die
Füße gewaschen und ist mit ihm spazieren gegangen. Ans diesem Spaziergang
hat er ihn ans das stille Leben der Wälder aufmerksam gemacht, ans die Vögel
das Wild, die Kohlenbrenner, Jäger n. s. w., er hat ihm die Thätigfeit ver-
schiedeuer Ha»dwerler anschaulich gemacht, ihm verschiedene Märchen erzählt,
»utar anderen auch die Geschichte von einer großen Pest, die vor, langen Jahren
das Land verwüstet, und ist dann mit ihm »ach Hanse gegangen. Pmiktnm. ---
Diese Komposition ist doch etwas Unerlaubtes. Auch z» einem Genrebild gehört
Einheit der Stimmung und wenigstens ein gewisser geschichtlicher Faden; wenn
man sich damit begnügt, verschiedene Stimmungen, Empfindungen, Anschauungen,
Vorstellungen lose an einander zu fädeln, so wird nicht einmal ein Genrebild dar¬
aus. Herr Stifter hat der Angabe nach seine ttrzüblnngen — die Methode
ist nämlich in allen dieselbe — vorzugsweise für reifere Kinder eingerichtet; aber
wir sind überzeugt, daß ein tüchtiger Junge anch nicht eine halbe Seite in diesen
Geschichten lesen wird, ohne darüber einzuschlafen; für Erwachsene aber, die an der
Sinnigkeit der Empfindung Freude haben, paßt wieder der kindliche Ton nicht.
Damit soll keineswegs gesagt sein, daß dem Dichter nicht ein großes Verdienst
zukommt. Einzelne Schilderungen von Landschaften, von dem Stillleben der
Natur, auch kleine Züge des Gemüths sind bezaubernd schön, und in dem Ganzen
herrscht ein friedlicher, wohlwollender Ton, der einen angenehmen Eindruck macht;
aber das reicht doch noch nicht aus. Vielleicht aus unbewußter Reaction gegen
die modernen Propheten, die ihre innere Hohlheit durch Großsprecherei zu ver¬
decken suchen, bleibt der Dichter lediglich im Detail, er macht nicht einmal den
Versuch, eine zusammenhangende verständliche Geschichte zu erzählen, oder eine
bestimmte Gestalt, einen bestimmten Charakter in deutlichen Umrissen zu zeichnen.
Es schwebt ihm vielleicht so etwas in der Phantasie vor, aber da er uns immer
mir einzelne Seiten zeigt, so können wir uns dieses Bild nicht ergänzen, für NW
bleibt Alles Charade und Räthsel. Es ist sehr schade, daß ein so feiner Kopf,
der mit so viel Empfindung für alles Schöne ausgestattet ist, durch ein falsches
ästhetisches Princip sich i» eine verkehrte Richtung hat treiben lassen.
Bereits bei der kurzen Besprechung einer Reihe neuer Bände in der Tauch-
nitz'sehen Ausgabe englischer Klassiker wurde der neue Roman von Thackeray
„Henry Esmond" erwähnt; wir kommen hier noch einmal darauf zurück, theils
weil das Buch an sich eine ausführlichere Besprechung verdient, theils weil wir
bei der Gelegenheit von dem Dichter selber Einiges sagen müssen, der in neuester
Zeit in Deutschland wie in England eine sehr große Beachtung gefunden hat.
Wie auch der Eindruck sein möge, den er ans die verschiedenen Individualitäten
macht, die Gerechtigkeit dieser Beachtung wird Niemand in Zweifel stelle».
Was in seinen beiden größeren Romanen: „ VimU,>-I^air" und l'en-
äennis", von denen hier allein die Rede sein soll, weil in seinen kleineren
humoristischen Schriften die Hauptsache fehlt, nämlich der Humor, zunächst auffällt,
ist die Feinheit und Sauberkeit der Zeichnung. An etwas Aehnliches ist man bei
unsrer Rvmanindustrie fast gar nicht mehr gewöhnt. Thackeray ist in einer seltenen
Weise Meister über die Sprache; sie steht ihm in ihrer ganzen Ausdehnung zu
Gebot, und er hat die Fähigkeit, dnrch leise Striche, die man vielleicht gar nicht
bemerkt, die feinsten Nuancen auszudrücken. Seine Bildung geht weit über die
eines gewöhnlichen englischen Dichters heraus. Die deutsche und französische
Literatur ist nicht ohne Einfluß auf ihn geblieben, und in der Kunst ist er nach
allen Seiten hin zu Hanse. Diese formalen Mittel würden aber nicht ausreichen,
wenn er nicht eine so gründliche Analyse des menschlichen Herzens damit verbände,
daß wir zuweilen darüber erschrecken. Es giebt keine Falte in der Seele, die
seinem Argnsauge entgeht, und es ist kein auch noch so kleiner Zug im Gemüth,
den er seiner Aufmerksamkeit uicht für würdig hält. Das ist nicht blos Beob¬
achtung, obgleich er viel und scharf gesehen haben muß; das ist zugleich eine
große Kraft der Imagination, eine unendliche Empfänglichkeit der Saiten seiner
Phantasie, die augenblicklich einen vollen Accord angeben, wenn sie von einem
einzelnen Ton berührt werden. Seine Figuren sind nicht blos, wie bei den
gewöhnlichen Realisten, Mosaikarbeiten aus einzelnen Anschauungen, sondern sie
haben ein inneres wirkliches Leben, sie bewegen sich nach ihren eigenen Gesetze»,
der Dichter kann sie eine ganze Weile ans den Augen lassen, er ist sicher, sie
immer in der vollen Kraft ihrer Natur wieder anzutreffen. Dabei beobachtet er
immer ein streng ästhetisches Maß. Obgleich er wol im Stande wäre, auch die
uugewöhiilichsteu Probleme zu lösen, und obgleich ihm seine reflectirte grüblerische
Natur gerade auf solche Aufgaben führen sollte, entfernt er sich doch nie, oder
fast nie, aus den Grenzen des allgemeinen gewöhnlichen Lebens, und ist gerade
darum sicher, überall zu überzeugen. Von den phantastischen Figuren, die
z. B. bei Dickens hänfig den größten Reiz ausmachen, ist bei ihm nie die Rede.
Der gebildete Leser hat für jeden seiner Charaktere, für jede seiner Situationen
den Schlüssel in der Hand ; er kann sie vollständig analysiren und an seinem eigenen
Gemüth die Nichtigkeit der dichterischen Schöpfung prüfen. Auch in seinen Farben
und Strichen ist nie etwas Uebertriebenes. Man merkt sogar an einzelnen Stellen sehr
wohl, daß er die Fähigkeit hätte, dnrch Anwendung stärkerer Striche und grellerer
Farben eine größere Wirkung hervorzubringen, aber er vermeidet eS geflissentlich,
weil es gegen seine ästhetischen Principien streitet. Nehmen wir noch dazu, daß
er anch das seltene Talent dehnte, uus die Aeußerlichkeiten der Dinge anschaulich
zu machen, ohne sie zu beschreiben, blos durch die Stimmung, die er der Situation
giebt, daß sich ferner in alleu seinen Ideen eine zwar sehr liberale, aber doch in
ihrem Grund gesunde Moral ausspricht, daß er warm für alles Gute und Schone
empfindet, und daß er z» seine» Gestalten, in denen er diese Ideen versinnlicht,
jene innige Liebe hat, die den wahren Dichter charakterisirt, so sollte man glauben,
das! alle Elemente eines vortrefflichen Kunstwerks in ihm vorhanden wären. Und
doch fehlt etwas darin. Ein Jeder, der nul'efangen und mit gesunden Sinnen
an die Lecture seiner Werte geht, wird trotz aller Bewunderung vor dem Talent
des Dichters sich des Gefühls einer gewissen Verstimmung nicht erwehren können.
Die Weltanschauung, die ihm der Dichter eröffnet, wird ihn nicht befriedigen,
ja er wird znlejzt Ermüdung und Erschlaffung fühlen.
Es ist nicht leicht, das, was ihm fehlt, in einem einzelnen Ausdruck zu¬
sammenzufassen; indeß glauben wir nicht mißverstanden zu werden, wenn wir es
den künstlerischen Idealismus nennen.
Wir sind in unsrer Tagen allzu geneigt, aus Abneigung gegen deu ober¬
flächlichen, auf conventionellen Vorstellungen beruhenden Idealismus der franzö-
sischen Kunstperiode uns mit einem Kunstwerk vollkommen zufrieden zu erklären,
wenn es die Natur getreu wiedergiebt. .Es ist das ein großer Irrthum. Das
wirkliche Leben in seiner vollen Ausdehnung und in seiner Vielseitigkeit reicht
nicht nur für die Kunst uicht ans, sondern es gehört gar nicht hinein. Das
klingt paradox, aber bei einigem Nachdenken wird man sich davon überzeugen.
Man hat ja auch neuerdings in der plastischen Kunst versucht, Scenen aus dem wirk¬
lichen Leben darzustellen, mit allem möglichen Aufwand technischer Mittel; es hat aber
doch keine Wirkung gethan, wahrend die alten Maler mit ihren einfachen Mitteln,
weil sie Ideale darstellten, noch immer die allgemeine Bewunderung erregen. Wir
nehmen die Genremaler davon gar nicht ans, denn die humoristische Idealität ist
auch eine Idealität. Ein Kunstwerk, welches uns die getreuesten Studien nach
der Natur giebt, beschäftigt wol unsren Verstand, vielleicht auch unsre Phan¬
tasie, aber wir eilen ungeduldig weiter und fragen bei jeder neuen Seite, wann
wird »um das eigentliche Kunstwerk anfangen? Jeder möge seine eigene Er¬
fahrung prüfen, ob er nicht selbst so empfunden hat. — Ja wir gehen noch
weiter. I» d^- läßt man sich durch das Gefühl der Uebereinstimmung
und Frende ^ einem Dichterwerk täuschen, und glaubt darin den reinsten Realis¬
mus zu haben, während doch die Realität dem Dichter nur als roher Stoff
gedient hat. So geht es z. B. den meisten Lesern mit Dickens; sie glauben in
ihm den reinsten Spiegel der Wirklichkeit zu haben, weil seine Schilderungen und
Darstellungen auf das Gemüth einwirken und einen bestimmten, in der Regel
befriedigenden Eindruck hervorbringen, und doch ist bei Dickens vou reinem
Realismus gar nicht die Rede. Abgesehen von den groben Verstößen gegen die
Wirklichkeit, die er aller Angenblicke begeht, die wir aber übersehen, weil sie die
poetische Stimmung uicht alteriren, zeigt er eigentlich überall, wo er an eine
Dmstellnng des gemeinen wirklichen Lebens geht, einen überraschenden Mangel an
Talent. So in seinen GcrichtSscencu, in seiner Beschreibung der Armenschnle u.s.w.
Seine eigentliche Kraft liegt im Phantastischen n»d Hnmoristischen; er gick't uns
nicht die Welt, wie sie an sich ist, sondern wie sie für den Geist des Dichters ist,
»ut das ist ein gewaltiger Unterschied.
Wir wollen, weil in diesem Punkt die Begriffsbestimmung in der That ihre
Schwierigkeiten hat, an eine alte Anekdote erinnern. Ein Mathematiker hörte
ein Musikstück an und fragte nach dem Schlich desselben seinen Nachbar: „was
ist nnn aber eigentlich damit bewiesen?" In unsrem hochfliegende» Künstler
bewnßtsein haben wir über diese Frage gelacht; sie ist aber ganz in der Ordiinng
und ein Jeder legt sie sich vor, wenn anch in anderer Form. Ein jedes Kunst-
werk laßt uns kalt, von dem wir nicht genau wissen oder empfinden, welchen
Eindruck der Künstler damit machen, welche Stimmung er hervorrufen wollte.
Es ist das der Geist des Kunstwerks, dem alle realistische Darstellung nnr als
Mittel dient, und dessen Abwesenheit das Kunstwerk, und damit jeden Ein-
druck aufhebt.
Der reine Realist, und wenn er mit der Allwissenheit Gottes die Welt
portraitirte, erregt uns nnr Langeweile. Die Welt in ihrer ganzen Breite anzu¬
schauen und zu empfinden, ist dem endlichen Geist einmal nicht gegeben. Sei»
Interesse, sein Glaube, bezieht sich nnr auf homogene Gegenstände. Wissen¬
schaft und Kunst, jedes in seiner Sphäre, arbeitet an der Befriedigung dieses
Interesse.
Nun ist Thackeray allerdings nicht el» bloßer Naturalist, el» gedankenloser
Empiriker, seine Seele hat eine bestimmte Färbung, einen bestimmten Glaube»;
aber dieser Glaube ist von der Art, daß er zu ebeu so imkünstlerische» Schöpfungen
führt, als die Gedankenlosigkeit. Seine Weltanschauung läuft nämlich auf den
Pessimismus aus — nicht den gemeine» Pessimismus, der sich am Schlechten
gewissermaßen freut, sonder» jenen ätherische» Pessimismus, der eine nicht seltene
Krankheit bei Humoristen ist, weil die Form ihrer Empfindung sie daran gewöhnt
hat, die Unterschiede zu verwischen.
Thackeray nannte seinen ersten Roman: Van^-I'zur, d. h. der Jahrmarkt
der Eitelkeiten. Dieser Markt ist das Leben. Der Dichter hat in die Tiefen
der menschlichen Seele geschaut, er hat die Tugend analysirt wie das Laster, die
Kraft wie die Schwäche, und hat endlich gefunden, wie König Salomo, daß im
Grunde des Lebens Alles eitel ist. Er ist dabei keineswegs in die Verirrungen
unsres jungen Dentschland gerathen, das in der That Kraft mit Schwäche, Tu¬
gend mit Laster verwechselt; in, Gegentheil macht er in jedem Punkt einen sehr
strengen Unterschied, er freut sich über das Gute »»d Starke u»d trauert über
das Schlechte und Schwache, aber er kauu sich das Eine von dem Andern nicht
getrennt denken. Er zweifelt nicht an den Ideen, sondern »ur an den Thatsachen.
Für ihn sind alle Illusionen verloren, nud damit auch der Glaube an die Er¬
scheinung des Guten. Er genießt dieses Bewußtsein nicht wie ein lachender Phi-
losoph, er ist weit entfernt von jener romantischen Ironie, die dem Geier gleich
auf Morgenwolken über dieser Welt der Verwesung schwebt. Sei» Schmerz
über das Schlechte ist ganz aufrichtig, aber um so nntünstlerischer ist der Eindruck,
den er macht; denn wenn z. N, eine Schrift wie Voltaires „Candide" uns
auch nicht erbauen wird, so lassen wir mis doch für einen Augenblick diese um¬
gekehrte Weltanschauung gefallen, eben weil mit ihr kein Ernst gemacht wird;
wenn aber unsre ganze Seele von dem Gefühl der menschlichen Unvollkommen-
heit niedergedrückt werden soll, so haben wir keinen Grund mehr, ans der in
Widersprüchen befangenen Welt in das harmonische Reich der Kunst zu flüchten.
Und diese erdichtete Welt ist auch nicht einmal ein wahres Gegenbild der
wirklichen. Allerdings werden wir im wirklichen Leben das Kleine stets hart
neben dem Großen antreffen, aber das Leben giebt uns andere Perspektiven, als
der enge Nahmen der Dichtung. Mit Recht hat zu allen Zeiten die Kunst aus
der Unendlichkeit des Zeitlaufs eine bestimmte einzelne That ausgewählt, nus
dafür erwärmt, die Zufälligkeiten des sogenannten wirklichen Lebens, die damit
nicht zusammenhängen, davon gesondert, und sie hat ihr Bild abgeschlossen,
sobald das Ziel erreicht war. Thackeray dagegen bemüht sich stets, einen ganzen
Lebenslauf in die Dichtung aufzunehmen. Indem er nun ohne Unterschied alle
Züge darin aufnimmt, die in der Wirklichkeit vorkommen, sobald sie ihm nur zu
psychologische» Studien Stoff geben, bringt er dadurch auch die Wirklichkeit in
el» falsches Verhältniß. Es ist sehr wahr, wir werden mit der Zeit alt und
gran, unser Jugendmuth hört ans, eine Illusion uach der andern geht verloren,
ein Gedanke verdrängt den andern, aber das Alles geschieht in größeren Zwischen-
räumen, es finden allmähliche Uebergänge statt, die das Gefühl des Widerspruchs
uicht aufkommen lassen. Giebt man nun aber die Widersprüche ohne diese Ver¬
mittelungen, so wird daraus nicht ein Portrait, sondern ein Zerrbild, wie wenn
man sich i„ einer krummen Fläche spiegelt. Kleine Schwächen, die auch im Leben
des größten Menschen vorkommen, nehme» i» dieser Verkleinerung einen Umfang
an, der dem gauzeu Bild einen schiefen Ausdruck giebt. Diese Verzerrung wird
noch vermehrt dnrch die Manier des Dichters, jede neue psychologische Entdeckung
mit einem lebhaften Gefühlsansbrnch zu begleiten, »ut dagegen die Umstände, die
uns einigermaßen aufklären könnten, entweder ganz auszulassen, oder mir obenhin
rnzndenten. Wir tonnen uns nicht helfen, so sehr wir die WahrheitSlielw des
Dichters anerkenne», i» dieser Mamer ist doch ein entschiedenes Streben
»ach Esse et.
Wie reich auch der Dichter in seinen Anschauungen sein mag, hei einer
solchen Methode der Darstellung ist doch eine gewisse Einförmigkeit nicht zu ver¬
meiden. Schon das einzelne Werk ermüdet zuletzt, vor Allem aber wird jeder
Leser, wenn er an ein zweites Werk geht, dasselbe schwächer finden, als das erste,
das er zufällig gelesen hat. Der Nerv wird nach dem häufigen Genuß starker
Gewürze abgestumpft. Daß in der That zwischen „Vanil^an'" und „l'lmäonnis"
ein erheblicher Unterschied ist, können wir nicht sagen, das zweite Werk aber hat
allgemein weniger angesprochen, als das erste, weil es das zweite war. Das
Glaubenssystem des Pessimismus ist bald erschöpft.
Vielleicht wird es mit dem neuen Roman in absteigender Linie fortgehen,
und doch, wenn man ihn an sich betrachtet, so findet sich mich hier ein so reicher
Schatz an feine» Beobachtungen, daß er ein ernstes Studium verdient. Wir
haben schon angedeutet, daß der Dichter sich diesmal auf das historische Gebiet
begeben hat. Der Roman beginnt mit dem Jahre und endigt 1718, 'er
spielt also in der Zeit, die anch Bulwer zu seinem „Devcreur," deu Gegenstand
gegeben hat. Mit diesem Werk hat er überhaupt manche Aehnlichkeit. Er ist
gleichfalls eine Familiengeschichte, auf welche die öffentlichen Verhältnisse nur von
ferne einwirken. In den eigentlichen historischen Schilderungen ist Thackeray nicht
glücklich gewesen, er erzählt viel zu hastig, zu fragmentarisch und zerstreut, um
unser Verständniß, geschweige denn unser Interesse zu erregen. Wenn wir
solche Schilderungen lesen, so tritt uns die Größe W. Scott's recht lebhaft vor
Angen. Dagegen ist in den individuellen Geschichten ein großer Neiz. Zwar
wiederhole« sich auch hier die alten Physiognomien, wir treffen die alten Be¬
kannten aus Vanlt^-rir alle wieder an, Rebekka und Amalie, Dobbin und
George, aber doch in sehr interessanten Variationen und mit einer weit großem
Noblesse ausgeführt. In den Nebenfiguren haben wir, wie immer bei Thackeray,
eine Reihe kleiner Meisterstücke. Vor allem Andern hinreißend ist aber die Dar¬
stellung einer Leidenschaft; sie ist in so feinen Zügen und doch mit einer solchen
Gluth ausgeführt, daß die ganze englische Literatur seit Shakespeare nicht ihres
Gleichen hat, und daß die französischen Gemälde ähnlicher Art grob und plump
dagegen aussehen. Hier ist auch die Manier deö Dichters, mehr anzudeuten, als
auszuführen, ganz angebracht, denn die beabsichtigte Wirkung wird doch völlig
erreicht. Es ist die gewaltige Sprache der Natur, von einem poetischen Sinn
aufgefaßt und verklärt. Und doch macht der Schluß eiuen noch viel unbefrie¬
digendem Eindruck, als selbst der von V-mit^zur. Erst ganz am Ende ver¬
sinkt das Weib, welches die Stelle Rebekka's einnimmt, in der wir zwar
eine gewisse Perversität der Anlage erkannten, aber doch auch einen gewissen
Adel der Gesinnung, der sie vor schlimmeren Abwegen zu bewahren schien,
plötzlich, ganz unvorbereitet, ganz unmotivirr, ganz beiläufig in einen Schlamm,
der uns mit Ekel erfüllt. Fast eben so schlimm ist die Auflösung jenes andern
Verhältnisses, obgleich dem Anschein nach eine günstige. Zu Anfang des
Romans ist der Held zwölf Jahre alt, seine Beschützerin die Mutter zweier
Kinder, von denen das eine wenigstens fünf Jahre zählt. Er wird von ihr
erzogen, und es entspinnt sich jenes zarte Verhältniß, das wir oben angedeutet
haben. Ihr Gemahl wird erschlagen, »ach längerer Abwesenheit sieht ihr Schützling
sie wieder, die bisher verhehlte Liebe bricht mächtig aus, und man erwartet, daß
das Verhältniß jetzt einen geordneten Lauf nehmen wird; aber sie widersteht, sie
hat sich ihm gegenüber immer als Mutter gefühlt, und halt eine Bereinigung für
unpassend. Wir sehen das Verhältniß mit einer gewissen Wehmuth sich auflösen,
denn Beide stimmen auf das Vortrefflichste zu einander, aber wir beruhigen uns.
Er verliebt sich leidenschaftlich in ihre Tochter, seine ehemalige Freundin ist seine
mütterliche Vertraute, und dieses Verhältniß dauert nicht weniger als zwölf Jahre.
Endlich erkennt er die Unwürdigkeit seiner jünger» Geliebten, die ihn schon mehr¬
mals verschmäht hat, und jetzt plötzlich, im Jahre 1718, 27 Jahre nach ihrem
ersten Zusammentreffen, heirathet er ihre Mutter, ganz ohne daß wir daraus vor¬
bereitet werde«. Das scheint uns uicht mehr angemessen zu sei». Denn nach
dem bisherigen lauge dauernden Verhältniß sieht es fast wie ein Incest aus,
und der Dichter hat das im Stillen selbst gefühlt, denn er huscht über die ganze
Auflösung mit eiuer Oberflächlichkeit hinweg, die noch weit über seine Gewohn¬
heit hinausgeht, und das Nachtheilige liegt doch nnr darin, daß wir gar nicht
mehr auf eine solche Entwickelung gefaßt sind, während das Verhältniß vorher,
wo wir es ganz allmählich ahnten, nus durchaus wahr und schön erschien. Es
ist dieser Mißgriff daher nicht ein einzelner Zug, der sich ablösen ließe, er liegt
in dem Organismus des Ganzen. Wir sind auch hier wieder in dem Markt der
Eitelkeiten; die Menschen jagen fieberhaft ihren Idealen nach, und wissen eigent¬
lich nicht, was sie wolle». —
Eine Vergleichung, die sehr nahe liegt, mit der jungenglischen und ameri¬
kanische» Schule, die in viele» Punkten mit Tackcray übereinkommt und doch
wieder einen starken Gegensatz ausdrückt, versparen wir auf ein anderes Mal/')
In dem ersten Decemberhcfte der ni;vu«z clmix anwies giebt Gustave
Blanche eine Uebersicht der Leistungen der schönen Literatur Frankreichs in den
letzten 2!i Jahren, auf die wir unsre Leser schon aus dem Grunde aufmerksam
macheu, weil das Meiste, was darin gesagt ist, sich auch auf unsre Zustände an-
wenden laßt. Namentlich finden wir sehr schon, was er über die Kritik sagt.
Ohne die Bedeutung der Kritik zu übertreiben, ohne namentlich in den Irrthum
zu verfallen, daß es ihr möglich sei, poetische Schöpfungen hervorzurufen, beweist
er doch, daß ihr eine sehr wichtige Stellung in der Entwickelung der Literatur
zukommt. Durch ein strenges, energisches Festhalten an den Prinzipien, durch
unermüdlichen Kampf gegen die falschen Tendenzen des Zeitalters bringt jsie es
endlich dahin, daß man ihr seine Aufmerksamkeit uicht länger versagen kann, daß
ihre Urtheile, die anfangs der öffentlichen Meinung als paradox erschienen, sich
in ein Gemeingut des Volks verwandeln. Gustave Manche hat um so mehr
Beruf, mit einem gewissen Selbstgefühl für das Recht der Kritik einzutreten, da
er seit zwanzig Jahren mir einer Consequenz ohne Gleichen die Pflichten des
Kritikers ausgeübt hat. Vou Seiten der Producenten und ihrer warmen An¬
hänger ist in früherer Zeit ein heftiger Kampf gegen ihn erhoben worden, man
hat ihn mit Zoilus verglichen („Es ist ja so angenehm", sagt Manche, „sich
auf diese Weise dem Homer an die Seite zu stellen"); aber gegenwärtig sind in
der öffentlichen Meinung alle die ernsten und strengen Urtheile, die er namentlich
über die romantische Schule gefallt hat, fast unbedingt vom Publicum adoptirt.
„Es ist daher kein so großer Heroismus, als mau glaubt" sagt Blanche, „nicht
zu lügen."
Wie wenig die meisten anderen Kritiker ihre Pflicht gethan haben, wird uns
vortrefflich anSeiuandergescht. Wir können das alles Wort für Wort auf Deutsch¬
land anwenden. Abgesehen von den selten Scribenten und von den gutmüthigen
naiven Jünglingen, die vor jeder Production, oder wenigstens vor jeder Production
ihrer guten Freunde in Staunen und Bewunderung gerathen, setzt er namentlich
die Nachtheile eiuer Gattung von Kritikern auseinander, die nicht darauf
ausgehen, ein mit Gründe» belegtes bestimmtes Urtheil zu fällen, sondern das
Publicum durch Witz, durch Esprit, durch phantastische Bilder zu amüsiren. Der
Geschmack des Publicums wird durch diese Schriftsteller uicht blos uicht gefördert,
sondern er wird an Frivolität gewöhnt, an Gleichgiltigkeit gegen den Unterschied
des Schönen und Häßlichen, des Rechten und Unrechten. Diesen sogenannten
Feuilletonstyl der Kritik haben zwar die Franzosen erfunden, aber wir sind ihnen
redlich darin nachgefolgt und können zwar uicht an Jntensivität des Esprit, aber
wohl an Umfang der Faseleien mit ihnen wetteifern.
Den Hauptgrund für die Verwilderung der moderne» Literatur findet Manche
mit Recht in dem herrschenden Materialismus, d. h. in der Neigung, statt mit
der »Seele, sich mit der äußerlichen', zufälligen Welt zu beschäftigen, mit Costum,
Decoration, Architektur u. s. w., so wie in der untunstlerischen Methode, die
Dichtung nicht aus ihrem innersten Kern, aus der Idee und dem Gemüth, sondern
ans dem Streben nach Effecten herzuleiten. Eine Wiedergeburt der Poesie hält
er also nur dann für möglich, wenn man sich von diesen materiellen Problemen
abwendet und wieder zu dem Studium desjenigen, was eigentlich der Inhalt
aller Poesie sein muß, zum Studium des menschlichen Geistes zurückkehrt. Blanche
steht also keineswegs, wie ein andrer, sehr begabter Krittler, Nisard, auf dem
Standpunkt des einseitigen Classicismus, er rechnet es vielmehr der romeutischcu
Schule sehr hoch an, daß sie die Aufmerksamkeit auf die englischen, deutschen und
französischen Dichter gelenkt, und daß sie die Autorität der alten Kunstrichter er¬
schüttert hat, aber er läßt auch nur dieses Verdienst, die Geister in Bewegung
gesetzt zu haben, bei ihr gelten; einen positiven Gewinn findet er nur in der
freiern Behandlung des Versmaßes, nicht in ihrem Inhalt, denn um angeblich
die historische Wahrheit herzustellen, haben sie die allgemein menschliche Wahrheit
aufgeopfert, und dann wieder vergessen, was sie eigentlich wollten; an Stelle der
historischen Wahrheit haben sie wieder die Eingebungen ihrer Phantasie gesetzt.
Wir stimmen in allen diesen Punkten mit ihm völlig überein.
Eins aber vermissen wir bei ihm. Seine Kritik, so scharfsinnig und gerecht
sie meistens ist, bleibt doch einseitig beim Urtheil stehen. Er mißt die Kunst¬
werke, die er kritisirt, an dem Maßstab seiner Principien und spricht darnach Lob
oder Tadel ans. Das ist zwar allerdings bei der Kritik die Hauptsache, aber es
ist noch nicht Alles. Der Kritiker, der vollständig seine Aufgabe erfüllen will,
muß sein Urtheil nicht blos äußerlich aus feststehenden Principien schöpfen, sondern
er muß es zugleich ans dem Innern deö Kunstwerks herzuleiten suchen; er muß
sich also bemühe», den Proceß des Schaffens zu belauschen und zu analysiren.
Wenigstens ist das bei bedeutenderen Schöpfungen nothwendig; es bei der Be¬
urtheilung jedes beliebigen Machwerks zu verlangen, wäre eine Thorheit. Aber
Manche geht nur in den seltensten Fällen darauf aus. Er beschränkt das Recht
der Individualität zu sehr, und darum wird er wenigstens in seinen Formen
häufig trocken und ermüdend. Diese Trockenheit liegt keineswegs in seiner ästhe¬
tischen Empfänglichkeit, die vielmehr sehr vielseitig ist und sich allen Seiten des
Geistes gerne öffnet, aber er versäumt es, sie zu expliciren, und darum wird es
ihm wenigstens für den ersten Augenblick schwer, die öffentliche Meinung für sich
zu gewinnen. Er verletzt, ohne es zu wollen, denn er steht den Productionen
mit dem Anschein der Feindseligkeit, oder wenigstens der Fremdheit gegenüber.
In dieser Beziehung ist unter deu französischen Kritikern Se. Beuve sein
vollständiger Gegensatz. Se. Beuve hat eigentlich gar leine feste Principien,
sondern er geht lediglich darauf aus, sich das individuelle Kunstwerk zu vergegen¬
wärtigen; wo er ein Urtheil giebt, nimmt er es nur aus dem Instinkte. Freilich
macht er es nicht so, wie viele unsrer spirituellen Recensenten, die vollständig
ihrer Aufgabe zu genügen glauben, wenn sie ihre Sympathie oder Antipathie in
allerhand bunten Bildern oder in allerhand baroken Einfällen ausdrücken; er
geht vielmehr sehr gründlich und gewissenhaft zu Werte, und man kann daher aus
jedem seiner Apercus viel lernen. — Aber mau hat dabei immer das Gefühl der
Unsicherheit, und in der That ist er auch in den zwanzig Jahren, wo er sein
kritisches Geschäft treibt, in die allerentgegengcsetztcsten Extreme versallen. Einen
vollendeten Kritiker würden wir also denjenigen nennen, der diese beiden entgegen¬
gesetzten Eigenschaften Blanche's und Se. Beroe's zu vereinigen verstände.
In der neuern Zeit sind auch mehrere junge Kritiker aufgetreten, die
wenigstens dahin streben. Die meiste Auszeichnung verdient der Referent über
die englische Literatur in der Ksvue av8 äeax monäos, Emile Montagne.
Der Aussät) über Hawthorne's neuestes Werk, der in demselben Heft steht, ist
musterhaft und entwickelt die Verirrungen eines glaubensbedürftiger, aber inhalt¬
losen Herzens, das fortwährend nach Schattenbildern jagt, weil es nur der
Phantasie folgt und nicht den Regulator des Gewissens in sich trägt, ans das
Vortrefflichste.
Wir haben noch einen andern Grund, auf diese französischen Kritiker auf¬
merksam zu macheu. Die eigentlich wissenschaftliche Literatur aller Völker ist
kosmopolitisch. Die Fortschritte des einen Volks kommen, wenn auch nicht ganz
in demselben Umfange, allen übrigen zu Gute. Von den poetischen Leistungen
nimmt man wenigstens ungefähr Notiz. Dagegen bleibt das ästhetische Urtheil
bei jeder Nation im Ganzen isolirt, und nur in den seltensten Fällen giebt man
sich die Mühe, das Urtheil, welches man über deu Dichter einer fremden Nation
fällt, durch die Urtheile der nationalen Kritiker zu modificiren, und doch scheint
uns dieses höchst wichtig, deun nur auf diese Weise wird die Einseitigkeit des
ästhetische» Standpunkts aufgehoben. Freilich ist es gerade in diesem Punkt für
den Ausländer sehr schwer, die Spreu von dem Weizen zu sondern, und zu
unterscheide», welche Kritik überhaupt eine Berechtigung hat; aber es ist doch
möglich und es muß geschehn.
Wenn man den Bergrücken überstiegen hat, der sich über dem Hallstädter
Salzberg erhebt, kommt man in die Gvsau, ein laug hingcdehnteö durchaus
angebautes Thal. Herr von Schröckinger-Neudcnberg giebt in seinem Reisehand¬
buche durch Salzburg und das Salzkammergut S. -123 von den Bewohnern der
Gosan die überraschende Nachricht, daß sie gemeinhin Gvsauer genannt werden,
wie auch daß sie sich in Kleidung und Sitten, vorzüglich aber durch den Dia¬
lekt wesentlich von den übrigen Kammergütlern unterscheiden. „Fester Körperban,
Einfachheit der Lebensweise, patriarchalische Sitten, vollkommene Ausbildung in
den Elementarkenntnissen vor Allem aber ausgezeichnete Duldsamkeit gegen
Andersgläubige, charakterisiren den Gosauer, welchen bei näherer Bekanntschaft
gewiß jedermann lieb gewinnen muß." Dieses glückliche Thal erreichte» wir
(mein Reisegefährte, ich und ein Führer ans den Salinen zu Hallstadt) an einem
der erste» Tage des Septembers, als die Sonne schou fast im Zenith stand, und
waren herzlich froh darüber: nicht wegen der im Neisehandbnche gerühmten treff-
liche» Eigenschaften der Gosancr, deiyi leider konnten wir nicht lange genug
bleiben, um uns von der Wahrheit dieser erfreulichen Nachrichten zu überzeugen —
sondern weil wir sehr müde waren. Auf den Rath unsres Führers begaben wir
n»S zu dem Schmiede, der am Ende des Thals ein Wirthshaus hält,
und wir hatten Grund, ihn? für diesen Rath dankbar zu sein, denn die
Tochter des Schmiedes, Barbara, ein etwa achzchnjähriges Mädchen, war un-
gemein reizend; und ich würde sie mit einer aufblühenden Rose vergleichen, wenn
ich nicht glaubte, daß mit dieser Vergleichung der Nose, eine weit größere Ehre
erwiesen wird, als diesem (und jedem andern) hübschen Mädchen. Wenn sie in
kurzem von einem beneidenswerthen Gosancr heimgeführt wird, so könnte sie eine
ähnliche Berühmtheit erlangen, wie die Töchter von Papa Ziebach mordbrenne¬
rischen Andenkens auf dem weiland GrimselhoSpiz, und zwar meines Erachtens
mit weit größerer Berechtigung. Ich dachte an den Freund von Carl Vogt, der
bei einer Vorausberechnung der zu einer Gebirgsreihe erforderlichen Zeit an ge¬
wissen Orten wo hübsche Wirthstochter waren, 8 oder 14 Regentage ansetzte.
Indessen mein Freund, ein tgi. preußischer Ncgierungsassessor, hatte nur kurze»
Urlaub und sah schon im Geist seine „Neste" sich bis zur Höhe des Dachsteins
thürmen und den Kollegen der ihn vertrat, verzweiflungsvoll die Hände ringen:
kurz er wollte von Regentagen nichts wissen. Ueberdies war unser Touristen¬
gewissen noch zu wenig abgehärtet, als daß wir die Wahrscheinlichkeit einer klaren
Aussicht vom Zwisclbcrge leichtsinnig hätten in die Schanze schlagen sollen. Wir
beschlossen also, nachdem wir einige Stunden geruht und uns etwas erfrischt hatten,
diesen Berg zu ersteigen und die Nacht in einer der auf ihm befindlichen Sennhütten
zuzubringen. Ein junger Mann aus Wien, der seinem Namen im Fremdenbuche
nicht ohne Selbstbewußtsein den Charakter „Ministcrialbeamter" hinzufügte, schloß
sich an uns an, ein Bube lud sein Gepäck ans, der Bruder der schönen Barbara
das unsrige, wir nahmen Abschied und traten unsren Weg an.
Der Wiener sprach unbefangen über östreichische Zustände und erzählte von
der PolizeiwirthsclM in der schönen Kaiserstadt, wie es jene noch viel schlimmer
sei, als unter Vater Weiden,^ und daß namentlich die Erlangung der Concession
zum Kauf einer Jagdflinte zu den größten Unmöglichkeiten gehöre. Indessen fing
es an bergauf zu gehn, und daS Gespräch verstummte allmählich, denn wir hatten
bald zum Rede» keinen Athem übrig. Der Berg ist ziemlich steil und unwegsam,
die Pfade winden sich über Baumwurzeln, Gestrüpp, Geröll und von Bergwasser
ausgewaschene Stellen. In dem mäßigen Schritt, zu dem sich beim Besteigen
größerer Anhöhen bald auch der jugendlichste Ungestüm bequemt, aber ohne die
mindeste Rast setzten wir unsren Weg fort, und kamen nach etwa anderthalb
Stunden aus dem Walde heraus, der sich um Rücken des Zwiselbergs hinanzieht,
Auf einer mit Tannen bestandenen Abdachung, wenige Fuß über uus, sahen wir.
die Sennhütte stehn, darüber erhob sich der kahle brcitabgeplattete Kegel des
Berges, uach der bekannten optischen Täuschung scheinbar sehr nahe, doch in
Wirklichkeit fast noch eine Stunde entfernt. Ein Blick auf die jetzt schou enthüllten
Theile der Aussicht, die Schneegipfel und Gletscher des Dachsteins hoch über uns,
die grünen Gosausecn tief unter uns, verlieh uns neue Kräfte, und schweigend
klommen wir die letzte Strecke' hinaus. Eine fast völlig klare Aussicht entschädigt
uns reichlich für die kleine Anstrengung. Nur der Westen zu dem sich die Sonne
schon hinabneigte, war etwas umwölkt. Ein Bild besonders aus dieser reichen
und großartigen Rnndumsicht, muß jeden, der es gesehn hat, unvergeßlich bleiben.
Gerade über uus ragen nackte zerklüftete Felsklippen und Hörner, Schneelager in
ihren Schluchten und Spalten, tiefer hinab ein mächtiges wcithinstarrendes Eis¬
feld, eine grauenvolle Einöde von der furchtbarsten Wildheit; das ist der Gipfel
des Dachsteins. schroffsten fallen die nackten braunen Gebirgswände ab, erst in
beträchtlicher Tiefe sind sie sanfter geneigt und mit unermeßlichen schwarzen Tannen¬
wäldern bewachsen. Und mitten ans diesen düstern Wäldern schimmert wie ein Smaragd
eine Wasserfläche vom schönste» sanften Hellgrün, und von einer Klarheit, daß
wir von unsrer Höhe aus deutlich die Bäume am Ufer sich in ihr spiegeln sahn;
es ist der Hintere Gosausee. Die wundervolle Farbe, die tiefe Abgeschiedenheit
und die gewaltige Umgebung giebt diesem Anblick etwas Zauberisches, und unwill¬
kürlich mußte ich an den verzauberten See denken, auf dessen Grnnde die
Grafentochtcr, die den verwünschten Prinzen geheirathet hat, in einem Glaspalast
sitzt und spinnt. Eine Viertelstunde etwa genossen wir diese einzige Aussicht,
dann begannen Wolken sich vor den Hohen des Dachsteins zu lagern und sich
allmählich tiefer und tiefer zu senken, so daß ein Theil der Landschaft nach dem andern
eingehüllt wurde, und wir verließen den Gipfel. Der Bube war schou, ohne uns aus
die Hohe zu begleiten, mit unsrem Gepäck uach der Sennhütte vorausgegangen,
wo wir zu übernachten gedachten, und hatte uns angemeldet. Bald hatten
auch wir sie erreicht. Die langen grauen moosbewachsenen Hütten, die hohen
schwarzgrünen Tannen, das wohlgenährte schwerfällige Vieh, der ziehende
Nebel, der hin und wieder zerriß, um eine steile Wand oder ein ragendes
Horn aus der Ferne durchblicken zu lassen — alles das gab ein Bild
wie es Seidl in München wahr und schlagend auf eine kleine Leinwand zu werfen
versteht. Die Sennerin war noch bei ihren Kühen, und wir richteten uns in ihrer
Abwesenheit in der Hütte häuslich ein.
Ueber nichts, glaube ich, sind in der norddeutschen Ebene so viele schiefe
und unrichtige Vorstellungen noch immer verbreitet, als über Sennerinnen und Senn¬
hütten. Herumziehende Tyrolersänger, lügenhafte Theaterdichter und begeistcrnngs-
trunkene Touristen haben es dahin gebracht, daß viele Leute sich die Sennerinnen
alö bezaubernd schöne Mädchen in dem ans Theatern üblichen Schwcizercostum vor¬
stellen, die den Gast mit biedern Händedruck, seelenvollem Blick und dem trau¬
lichen Du empfangen und ihm die herrlichsten Volkslieder vortragen, wobei sie
sich aus einer Guitarre begleiten, die an einem blauen Baude hängt; eine schöne
Stimme versteht sich gewissermaßen von selbst. In den fliegenden Blättern war
vor einiger Zeit eine Sennerin dargestellt, wie ein Berliner sie zu sehen erwartet
hatte, und daneben eine, die er wirklich zu sehen bekam. Der Contrast war
stark, doch uicht übertrieben. Die Sennerinnen führen in der Wirklichkeit ein
hartes Leben, voll Arbeit nud Entbehrung: drei bis vier Monate bringen sie
ans der Alpe in der tiefsten Einsamkeit bei den Heerden zu, falls nicht mehrere
Hütten bei einander liegen, und die Sorge für das Vieh, für die Milch und
Käsebereitung macht ihnen genng zu schassen. Fast immer sind es Mägde, denen
dieser schwere Dienst obliegt, und Schönheiten sind unter ihnen gerade nicht sehr
hänfig, weil weibliche Schönheit bekanntlich dnrch nichts so sicher zerstört wird
als durch harte Anstrengungen. Ueberdies liegt es auch nicht gerade im Interesse
der Besitzer der Alpen, schöne Mädchen hinauszuschicken, da diese leicht dnrch zu
häufige Besuche von der Erfüllung ihrer Pflichten abgehalten werden könnten.
Giebt es doch keinen geeigneteren Ort zu einem Stelldichein für Verliebte, als
eine Sennhütte, wo gewöhnlich stundenweit in die Runde keine Seele ist, die
sie belauschen konnte. Die böse Welt, deren Beobachtung die Sennerinnen so
SMz entzogen sind, hält sich dnrch ein allgemeines Mißtrauen gegen ihre Tugend
schadlos. In einem von den „Schnadcrhüpseln" — jenen kurzen vierzeiligen
Strophen, die im Volksmunde entstehen, und in diesen Gegenden sich meist ans
die Verhältnisse der „Buen" zu den Sennerinnen beziehen — heißt es:
Im Thal liegt der Nebel, Aus der Alma is klar,
Was d' Laut von mir red'», Is a und all's wahr.
Im Allgemeinen sind diese Schnadcrhüpfeln sehr leichtfertiger Natur und oft nicht
gut untheilbar. Der „Bue" äußert gewöhnlich ziemlich lockere Grundsätze.
Um a Kuh, um a Kalm B'suach i freili kaa Alm,
Um a Senndcrin glei, Ja da bin i dabei.
Auf d' Fray bin i gange Den ganzen Summa
Von der aan zu der andern — Hab koani guumma.Du gar so schö's Diendl, I muaß von Dir gehn,
Für die Zeit, wo d' mi g'liebt hast, Bebaut i mi schön.
Die Dirne tröstet sich eben so leicht;
El aus is mit mir Und mein Haus hat koa» Thür
Und mein Thür hat koan Schloß Und mein Schatz bin i los.
Nur selten stößt man auf den Ausdruck eines schmerzlichen Gefühls.
S'is no net lang, daß g'regt hat, die Landin tröpfle no;
I hab mal a Diendl g'hal't — I wollt, i hales no!
Eine Sennhütte ist im Allgemeinen kein begehrenswerther Aufenthalt. Die
unsre war ans rohen unbehauenen Stämmen gezimmert; der uugedielte Haupt-
raum hatte in der Mitte einen Heerd ans aufgeworfener Erde mit Holz eingefaßt
und mit Schiefer belegt; der Rauch zog wo er konnte und mochte, durch die
Spalten und durch die Thür, die den Tag über als einzige Lichtöffnnng offen
stand, denn ein Fenster gab es nicht. Der Heerd vertrat zugleich die Stelle des
Tisches; ringsherum waren an den Wänden Bänke und Gestelle befestigt, auf
denen hölzerne Kübel, irdene Schalen nud Töpfe, blecherne Löffel und anderes
Geräth sich befanden. Das Bett der Sennerin war der Raumersparnis wegen
auf vier breiten Pfosten, etwa zwei Fuß hoch über einer Bank in einer Ecke
angebracht, so daß der darunter befindliche Raum der Bank zur Aufnahme von
Gerätschaften benutzt werde» konnte. Von diesem Hauptraum war durch einen
Verschlag eine Art von Kammer abgetrennt, und über dieser der Heuboden, wo
wir übernachten sollten. In einiger Entfernung lag eine lange Hütte, die zum
Stall für das Vieh, und eine kleine, die zur Aufbewahrung von Käse und Milch
diente. Manchmal wird auch der Hauptraum zu ebener Erde als Viehstall benutzt,
nud die Sennerin muß sich mit einer Wohnung im Dach begnügen.
Endlich hatte die Schwägerin (so werden in Salzburg'die Sennerinnen ge¬
wöhnlich angeredet) ihre Kühe gemolken, und kam in die Hütte, um sich mit uns
über unser Abendessen zu berathen. Die Vorräthe ihres Haushalts bestanden in
Brod, Milch, Butter, Käse, Eiern und Kaffee. Während sie sich mit der Be¬
reitung des letztem beschäftigte, traten plötzlich zwei Buben vou etwa acht und
zehn Jahren in die Hütte, die von ihr als Brüder begrüßt wurden. Sie schienen
keinen besondern Auftrag zu haben, noch weniger konnte man bei ihnen das ro¬
mantische Gelüst voraussetzen, die Nacht ans dem Heuboden ohne besondere Ver-
anlassung zuzubringen; möglicherweise waren sie von den um die Tugend der
Tochter besorgten Aeltern als Ehrenwache gesendet, da diese wol erfahren haben
konnten, daß „Stadthcrren" hinaufgegangen waren. Unsre Schwägerin war
nämlich keine Magd, sondern die Tochter des Besitzers der Alpe, der aber acht
Kinder hatte, und sich vermuthlich dnrch diesen reichen Segen veranlaßt fühlte,
einige Dienstboten weniger zu halte». Sie war ein stämmiges Mädchen von
19 Jahren und sah nicht übel ans; anfangs that sie blöde, indessen einige Scherze
des Wieners über das landesübliche Thema, ob sie eine» Geliebten habe, wer
er sei u. s. w., machten sie allmählich unbefangen. Er gab vor, den Bruder der
schönen Barbara für ihren Geliebten zu halten, und meinte, die Buben seien
wol von den Aeltern hinausgeschickt, weil sie ihn hätten hinaufgehen sehen; sie
behauptete hartnäckig, gar keinen Geliebten zu haben, und neckte den Wiener
ihrerseits mit der Leidenschaft, die er für die schöne Barbara zur Schau trug.
So kam bald eine lebhafte allgemeine Unterhaltung in Gang, wobei die junge
Dame des Hauses manchmal Aeußerungen that, die von uns als leichte Ueber-
schreitungen der Grenzen des Anstandes angesehen werden mußten; aber offenbar
glaubte sie gar nichts Unschickliches zu sagen, und eS lag eben mir daran, daß
ihre Ansichten über diesen Punkt von den unsrigen verschieden waren. So saßen
wir denn in sehr heiterer Stimmung um das qualmende und dampfende Herd-
feuer, und soupirtcn in Erwägung der Umstände erträglich: namentlich muß ich
dem Kaffee der Sennerin die (freilich unerhebliche) Gerechtigkeit widerfahren
lassen, daß er besser war, als in den meisten Konditoreien von Berlin. Die
Schwägerin ging ab und zu, sorgte für uns, scheuerte eifrig die gebrauchten
Geschirre und kehrte sie mitunter ab, um verstohlen zu lachen; die Knaben saßen
blöde und aufrecht in einem Winkel, lächelten über halbvcrstandene Scherze
und wagten sich kaum hervor, um ein angebotenes Stück Zucker in Empfang
zu nehmen.
Mein Freund, der NegierungSassessor, folgte dem Beispiele seines östreichischen
College»; er entänßerte sich aller bureaukratischen Würde und trug ein altes
Volkslied vom ,,El»Sieb'l auf dem Zwiselberg " vor, das hier in der Mitte, wo
der würdige Mann gelebt hatte, mit doppeltem Interesse gehört wurde. Unter
Anderem berichtet das Lied Folgendes:
Der Eiusicd'l is a frommer Mann,
Hai a braune Kutten ein.
Und a kurzen Mantel.Der Einsicd'l hat a hohlen Zahn,
'S Braunbier säuft er all's z'Samen,
'S Braunbicr kann er beißen.Der Einsicd'l sitzt wol auf der Stiegen,
Der Kellnerin muß das Kind er wiegen,
Pumpcia muß er singen.
Nachdem dieses Lied mit Beifall aufgenommen worden war, begaben wir uns
zur Ruhe; d. h. wir zogen uus alle disponibel» Kleidungsstücke an, und kletter¬
ten ans den Heuboden, wohin uns die Buben folgten, wickelten »us in das Hen
und schliefen, so gut es gehen wollte. Freilich schläft mau nicht besonders gut
in einer kalten Septemberuacbt, 3000 Fuß über dem Meer nnter einem Dache,
durch dessen breite Spalten der feuchte Nebel ungehindert zieht — man müßte
denn daran gewohnt sein. Und doch erwarten wir, Dank den Anstrengungen
des Tages, erst gegen Sonnenaufgang, als die Sennerin längst bei ihren Kühen
war. Der Morgen war unheimlich. Auf allen in der Hütte befindlichen Gegen¬
ständen hatte sich der Nebel in dicken Tropfen niedergeschlagen; als wir heraus¬
traten, hing er so dicht UM uns her, daß wir nur die nächste» Tannen aus
dein gestaltlosen Gran herausragen sahen. Doch während ein Feuer angezündet,
ein Frühstück bereitet und verzehrt wurde, zertheilte er sich so weit, daß
wir nothdürftig unsrer Weg erkennen konnten. Wir hingen unsre Ränzel
über, sagten der Schwägerin Lebewohl und schritten abermals dem Gipfel des
Zwisclbergs zu.
Der mexikanische Krieg hat das Volk der Vereinigten Staaten in die Bah¬
nen einer Eroberungspolitik getrieben, deren Fortgang eben so verhängnißvoll,
als ihr endliches Ziel unberechenbar ist. Cuba ist der Punkt des Conflictes
geworden, wo die Interessen der alten und neuen Welt feindlich zusammenstoßen,
und unter den brennenden Fragen, welche den Frieden des Erdballs gegenwärtig
bedrohen, ist kaum eine, die so unerwartet und über Nacht, wie diese, eine zei>
störende Explosion herbeiführen kann.
Die Sympathien, die mit Recht die großen Geschicke Nordamerika's mit
den Hoffnungen einer neuen Epoche für die Menschheit verbinden, haben dazu
verleitet, diese Angelegenheit in ein Licht zu stellen, das nicht mit dem nüchternen
Urtheil einer richtigen Politik, viel weniger noch mit den unantastbarsten Grund¬
sätzen des internationalen Rechtes harmonirt. Noch mehr hat die wenig einsich¬
tige Vorliebe für demokratische Bestrebungen den wahren Standpunkt dieser
Frage verrückt nud das widerrechtliche Getriebe schlechter Leidenschaften mit dem
Firniß hehrer Principien bedeckt. Selbst Diejenigen, welche sich keine Täuschung
über den Werth und die Motive der „Liberaleren" Cuba's machen, sind gleich¬
wol sehr geneigt, von dem Standpunkt einer etwas überschätzten, und jedenfalls
nicht richtig verstandenen historischen Nothwendigkeit die Frage kurz abzumachen,
und indem sie das Verfahren der Annexationspartei verdammen, es mit dem
unvermeidlichen Gesetz der Entwickelung Amerika's zu entschuldigen. Mau über¬
sieht hierbei jedoch, daß die Wege dieser Entwickelung nicht gleichgiltig sind, noch
weniger die Frage der Zeit und der Umstände, in denen sie an einem bestimm¬
ten Punkte eingreift. Verirrungen und Mißgriffe in Beiden können sowol aus
die innere Gestaltung der Union verderblich zurückwirke», als einen für die höchsten
menschlichen Interessen schädlichen Einfluß auf die politische Weltlage äußern.
Unter diesem doppelten Gesichtspunkt muß die Bedrohung Cuba's durch amerika¬
nische Ervberungsgelüste betrachtet werden.
Ein Volk, das gleich den Vereinigten Staaten auf fast 130,000 Quadratmeilen
des culturfähigsten Gebietes der Erde kaum 24,000,000 Einwohner zählt, hätte
wol noch innerhalb seiner Grenzen so lohnende Aufgaben für seine Thätigkeit
und seinen Unternehmungsgeist, um vorläufig auf Eroberungen verzichten zu
können. Der umsichtigste und beste Theil der amerikanischen Staatsmänner sieht
daher auch mit Besorgnis; auf eine Politik, in welche die Projecte des Egoismus
der Sclavenhalter und die zügellosen Leidenschaften einer turbulenter Demokratie
die Union hineinzuziehen streben. Der eigentliche Krebsschaden der amerikanischen
Zustände, die Sklavcnfrage, die von Zeit zu Zeit Dimensionen annimmt, welche den
Bestand des Staatenbundes in Frage stellen, würde dnrch die Erwerbung Cuba'ö
in nicht geringem Grade verschlimmert werden. Die Partisane der Sclaverei
würden zunächst dahin streben, die Insel in mindestens zwei Staateil zu theilen,
und mit den dadurch sür den Kongreß, besonders im Senat gewonnenen Zuwachs
von Stimmen nicht nur mit verstärkter Kraft jede Maßregel zurückweisen, die
anch uur auf dem vorstchtigsteu Wege den Uebeln der Sclaverei zu steuern sucht,
sondern auch in deu neuen Staatenbildungen, die sich auf der ungeheuern Fläche
der zur Republik gehörigen Territorien vorbereiten, nach Möglichkeit die Insti¬
tution des Sclaventhnms hinein verpflanzen. Wir huldigen keineswegs jenen
philanthropischen Uebertreibungen, die von dem absoluten Standpunkt des sittliche»
Rigorismus die sofortige Aufhebung der Sclaverei in Amerika verlangen, ohne Rück¬
sicht auf die unermeßlichen materiellen Interessen, die darin verwickelt sind, nud ohne
Rücksicht, ob die Union darüber aus einander fällt; aber eine übermäßige Ver¬
stärkung des Sclaveninteresses muß unter alleu Umständen als verderblich
erscheinen.
Die Art und Weise, wie die Cuba-Projecte betrieben werden, ist ferner nicht
nur schmählich für die Ohren der Republick allen civilisirten Völkern gegenüber,
sondern auch tief dcmvralisirend für ihre öffentlichen Zustände. Schon die
Manoeuvres, mit denen Texas aunexirt wurde, und der dadurch hervorgerufene
Krieg mit Mexiko äußerten Rückwirkungen auf den Volksgeist, die vielleicht nicht
durch die große» Gebietscrwerbuugeu aufgewogen wurden. Greller und cynischer
treten diese schlimmen Neigungen und Excesse bei den Annexirungsversuchen auf
Cuba hervor. Am hellen Tage rüstet man aus dem Gebiet der Union Expeditionen
aus, die von den Gesetzen des Völkerrechts geächtet und der Seeräuberei gleich¬
gestellt werden; das Publicum wird Monate und Jahre laug durch fabrikmäßig
erfundene Lügen über die Zustände und Vorgänge auf Cuba in gefährliche
Illusionen versetzt, Illusionen, welche tapfere, aber irregeleitete Männer in eine»
schmachvollen Tod trieben; ja es bildet sich ein großer Bund („zum einsamen
Stern"), der seine Verzweigungen durch sast alle Staaten erstreckt in der aus¬
drücklichen Absicht, die Besitzungen einer Nation, mit der Amerika in Frieden
lebt, gleich Flibustiern zu überfallen. Es ist unmöglich, daß aus der Verwilderung
in Bezug auf geheiligte Satzungen des internationalen Rechtes nicht eine Saal
der Zuchtlosigkeit aufsprießen sollte, deren unheilvolle Früchte später, vielleicht zu
spät anch im Innern sich offenbaren werden. Die nächstlicgendste und nicht am
wenigsten gefährliche ist die Mißachtung des Ansehns der Centralgewalt. Seit
drei Jahren macht dieselbe vergebliche Anstrengungen, die Umtriebe der „Sym-
pathiserö und Liberatoren" zu bewältigen; ihre er.ecntiven Mittel erweisen sich als
unzureichend neben der offenen Begünstigung, welche die Behörden der ein¬
zelnen Staaten des Südens jenen angedeihen lassen, ihre Mahnungen und
Proclamationen verhallen wirkungslos, und selbst der Appell an die Gerichte
liefert in vielen Fällen nur den traurigen Beweis, daß die Geschwornen sich von
Sonderintcresseu und politischen Leidenschaften, nicht von der Erkenntniß des
Rechtes und wahrem nationalen Ehrgefühl leiten lassen. Man kann die aufrich¬
tigste Liebe für politische Freiheit haben und doch eiuen Zustand scandalös finden,
wie er sich in der Korrespondenz des Präsidenten der Vereinigten Staaten mit
Herrn Law, dem Director einer DampfschiffahrtSgescllschaft, welche auch Fahrten
zwischen New-Orleans und Havanna macht, herausstellt. Umsonst protestirt der
Esch der vollziehenden Gewalt gegen die eigenmächtigen Versuche von Privat¬
personen, einen Krieg zwischen Spanien und der Union hervorzurufen, umsonst
zieht er die Officiere der Republik von den Schiffen der Gesellschaft zurück, auf
denen der Proviantmeister Smith sich befindet, dem wegen Vermittelung aufrühre¬
rischer Korrespondenzen die Landung in Cuba Seitens des spanischen Gouverneurs
untersagt ist; Herr Law fährt fort, auf eigene Hand die Sache bis zu einem
gewaltsamen Conflict zu treiben, in dem Vertrauen, daß die Erhitzung der
nationalen Leidenschaften die Centralregierung und den Kongreß zum Kriege
treiben werde, selbst auf Grund eines völlig ungerechten Anlasses und wider die
bessere Einsicht aller leitenden Staatsmänner der Union. Da innerhalb weniger
Monate (4. März 185:!) die höchste Leitung der Republik an den Erwählten der
demokratischen Partei, den General Pierce, übergeht, so haben diese Berech¬
nungen nur zu viel Aussicht zu reussiren. Zwar ist Pierce nach allen über ihn
eingegangenen Nachrichten ein besonnener und gemäßigter Mann und keineswegs
ein hirnverbrannter Politiker; immerhin wird er es indeß schwierig finden, sich
der Strömung der Kriegs- und Eroberungssucht, die gerade in seiner Partei
vorherrscht, zu widersetzen, und das Gewicht der Wihgs ist in Folge ihrer bei¬
spiellosen Niederlage bei der letzten Präsidentenwahl zu lies gesunken, um schwer
in die Wagschale der Entscheidung zu fallen. Der moralische Zwang jedoch, den
bei dieser Gelegenheit eine Partei durch die Entfesselung der Vvltsleideuschafteu
gegen die höchstem Behörden der Republick anwendet, wird, falls der Erfolg ihn
krönt, seine verderblichen Folgen nicht verfehlen. Die Zukunft und nationale
Einheit der Vereinigten Staaten sind tief gefährdet, wenn die Centralgewalt zur
Ohnmacht herabgedrückt wird; ihre in den wichtigsten Beziehungen zum Auslande
verspottete Autorität würde bald auf dieselbe Insubordination auch in inneren Fragen
stoßen, und dann steht die Epoche vor der Thür, in der die Arena der Parteikämpfe
nicht mehr der Cougresz, und die Waffe nicht mehr das friedliche Wort sein wird.
Die Beschönigung, welcher die A»»exatio»Spartel sich bedient, Cuba, das
jetzt von eisernem Despotismus erdrückt werde, die Freiheit zu bringen, ist
t'ann einer Entgegnung werth. Freiheit kann man doch nur einem Volte
bringen, nicht einer Erdscholle. Was würde nun die spanische Crevleubcvölkernng
der Insel durch eine Einverleibung in die Union gewinnen? Innerhalb einer
Generation würde sie durch die angelsächsischen Eindringlinge absorbirt sein, ihre
Sprache, Sitte und Religion würden der großem und energischen, Nationalität
der ?)ankee'S unterliegen. ES ist gewiß, daß dies im Allgemeinen kein Schade wäre;
wenn man aber einem Volte dieses Loos bringt, mag es schon ein verdientes sein,
so ist es lächerlich, sich dessen Befreier zu nennen. Unter der großen Mehrzahl
der Creolen ist deshalb, wenn auch Haß gegen Spanien, deshalb noch keine
Liebe zu Amerika; die spanische Herab-Haft läßt ihnen wenigstens die Existenz,
welche die amerikanische Freiheit verwehren würde. Was aber die eigentlichen
Knechte der Insel betrifft, die Neger, so würden sie durch die Beschuahme Cuba'ö
Seitens der Union nichts gewinnen, vielleicht sogar noch ein schlimmeres Loos
erhalten; denn die Behandlung des Sclaven in den südlichen Staaten soll härter
sein, als sie denen in der spanischen Kolonie befindlichen zu Theil wird.
Für die Beziehungen Nordamerika'S nach Außen, und deshalb für die all¬
gemeine Politik entspringen ans der hartnäckigen Verfolgung der Projecte gegen
Cuba die größten Verlegenheiten und Nachtheile. Die hauptsächlichste darunter
ist die Gefahr eines Bruches mit England, der uuter deu gegenwärtigen Verhält¬
nissen sast der schwerste Schlag wäre, welcher das menschliche Geschlecht treffen
könnte. In demselben Augenblicke, wo England genöthigt ist, seine Waffen gegen
die Union zu kehren, Hort es ans, die Ruhe und Hoffnung der unterdrückten
Völker ans dem europäischen Continent zu sein. Ein Bruderkrieg der angelsäch-
Race würde daS Frohlocken aller Anhänger des Absolutismus, die Trauer aller
Freunde der Freiheit sein. Steht es daher den Letzterem zu, Bestrebungen zu
begünstige», welche dieses Unheil heraufzubeschwören drohen? Denn bei dem
größten Interesse, das England hat, in Friede und Freundschaft mit Nordamerika
zu leben, bei der in vielen Fällen Seitens seiner bewiesenen Geduld gegenüber den
Herausforderungen und Anmaßungen der jungen, etwas heißblutigen Nationalität
der Uaukeeö würde es kaum ein ruhiger Zuschauer bleibe» können, falls Amerika
mit Gewalt den Spaniern Cuba entreißen wollte. Im Besitz dieser Insel würde
die Union den Golf von Mexiko nud die westindischen Gewässer »ut damit deu
Welthandel beherrschen, der bei der in nicht serner Aussicht stehende» Verbindung
zwischen dem atlantische» und stillen Ocean eine seiner größten Straßen dahin
verlegen wird. Die Duldung eines so flagrante» Bruchs deö Völkerrechts und
der Verträge auf einem der wichtigsten Punkte der Erde würde ferner die eng¬
lische Macht des moralischen Nimbus völlig berauben, den eine große Nation nicht
ungestraft verlieren und nnr mit unsägliche» Opfern wieder erringen kauu. Es
ist möglich, daß die Zukunft den Vereinigten Staaten, falls sie einig bleiben, den
Besitz der nördlichen Hälfte des amerikanischen Kontinents und Westindiens, das
Scepter der Meere nud das oberste Schiedsrichteramt über die Völker bringen
wird; aber um heute ihre Hand darnach auszustrecken, sind sie bei all ihrer Macht
noch nicht mächtig genug, und ehe England ihnen heute die Hegemonie unter den
Nationen zugesteht, wird es die Stürme eines Weltkrieges entfesseln, und für die
Behauptung seiner Herrschaft und Ehre die letzte Kraft seiner unbesiegten Waffen
einsetzen. Was würde das Ende eines solchen Kampfes sein? Die Zerstörung
friedlichen Fortschritts sür Generationen und die Verrückung aller politischen Ver¬
hältnisse zum Vortheil des Despotismus. Das Bündniß zwischen England und
den Vereinigten Staaten, ihre friedliche Nebenbuhlerschaft auf deu Meeren inner¬
halb der Grenzen des internationalen Rechtes ist gegenwärtig die nothwendige
Bürgschaft für die Entwickelung der Menschheit. Es mag der Tag kommen, wo
Nordamerika die Führung zu übernehmen im Stande ist, sein Versuch, sie jetzt
schon den Händen Englands zu entwinden, würde zu seinem eigenen und zum
allgemeinen Verderben ausschlagen.
Es trösten sich Einige sogar mit der Hoffnung, falls nur Cuba durch einen
ohne Betheiligung der amerikanischen Negierung, von Privaten ausgeführten
Handstreich über Nacht der Union in den Schooß fiele, würde Spanien sich, für
eine verhältnißmäßige Entschädigung, in den Verlust geben, und England, wie
die übrigen Mächte, das tut aeeomM anerkennen. Abgesehen davon, daß diese
Hoffnung illusorisch erscheint, ist die Voraussetzung, auf die sie fußt, eine
Täuschung. Die spanische Macht auf Cuba ist für die Kräfte einer Privat¬
expedition viel zu stark, und wenn letztere anch einen Conflict zwischen Spanien und
der Union herbeiführen könnte, so dürfte sie doch sicher nicht vermögen, auf eigene
Hand sich der Insel zu bemächtigen. Die Besatzung derselben besteht aus
mindestens 30,000 gedienter und ausgewählter Truppen, und wird unaufhörlich
vom Mutterlande aus verstärkt. Ein Geschwader von Dampf- und Segelschiffen
steht außerdem dem General-Capitain zu Gebot, gegen welches die „Flagge des
einsamen Stern's" das Meer uicht behaupten könnte; die Eindringlinge wären
daher darauf angewiesen, sich aus einzelnen Schiffen durch die spanischen Kreuzer
durchzuschleichen und mit ganz ungenügenden Streitkräften aus der Insel zu landen;
unzweifelhaft ist es, daß Spanien ohne Unterstützung im Kampf mit den Ver¬
einigten Staaten, uicht blos mit einer Partei darin, Cuba verlieren müßte; die
überlegene amerikanische Seemacht würde die Kolonien vom Mutterland« ab¬
schneiden und die isolirte Besatzung schließlich überwältigt werde». Aber selbst
dies würde uicht der Erfolg weniger Wochen sein. Die festen Plätze könnten sich
zum Theil Monate lang vertheidigen, und in dieser Art des Kriegs haben die
Spanier bis auf unsre Tage ihren alten Ruhm behauptet. Endlich würde
Spanien wenigstens nicht ungerächt, sich seine werthvollste Besitzung, die Perle
der Antillen, entreißen lassen. Es würde die halbe Million Schwarzer ihrer
Ketten entledigen und die Schrecken entfesselter Bestialität über die Insel ver¬
breiten. Was würden die Amerikaner am Ende gewinnen? Demolirte Städte
und verwüstete Pflanzungen und die scheußliche Aufgabe, Hunderttausende von
unlegierten Sclaven wieder unter die Botmäßigkeit der Knechtschaft zurückzubringen,
eine Aufgabe, an der selbst der unbezähmbare Muth der Aankee's erlahmen
dürste. Ist es nicht Wahnsinn, für solche Eventualitäten den Frieden der Welt
und den innern Frieden der Union anf's Spiel zu setzen?
Mag Nordamerika die dankbarere und glorreiche Arbeit verfolgen, die Cultur
in die unermeßliche Wildniß seines Gebietes zu tragen, mag es anch Flotten äus¬
serte«, um dem Handel die fast hermetisch verschlossenen Thore jenes tausend¬
jährigen Reiches zu öffnen, dessen Küsten seit undenklichen Zeiten das Geheimniß
einer uralten, in sich versteinerten Civilisation bergen; die Sympathien der Volker
werden ihm bleiben, wenn sie es auch nicht in alle seinen Unternehmungen
begleiten. Aber die Union würde sie, und mit ihnen vielleicht auch ihr bisheriges
Glück verlieren, wenn die schlechten Leidenschaften in ihr die Oberhand ge¬
wännen und in übermüthiger Ueberschreitung aller Rechte und Verträge und für
die Fröhnung schnöder Eroberungslust die Fackel eiues unsinnigen Krieges ent¬
zünden sollten.
Mein Vater hatte sich vor ungefähr 26 Jahren einen großen Bauerhof
in Walby (l/2 Meile von Kopenhagen) angekauft. In jeuer Zeit war es eine
Seltenheit, Städter als Bauerhof-Besitzer oder Landbewohner zu sehen, die
großen Güter ausgenommen;, es gab eine Zeit in Dänemark, wo der Besitz von
Landeigenthum mit Uebelständen verbunden war, von denen der städtische Grund¬
besitzer verschont blieb. Daher kommt es, daß Städter sich selten ans dem Lande
ankauften, woselbst ihre Kinder sogleich bei der Geburt in die Lagcregister ein¬
gezeichnet wurden und gleich den übrigen Landbewohnern der Militairpflicht unter¬
lagen. Die Wälbyer Bauern sahen unser Einziehen mit Kopfschütteln an und prophe-
zeiheten Verschiedenes unter sich, und die Dienstleute der Gegend trafen eine Art
von Uebereinkunft, wonach keiner auf unsrem Hose dienen solle, so daß mein
Vater in der That den ersten Herbst, als die Wintersaat bestellt werden mußte, über
keine anderen Kräfte, als die er selbst mitgebracht hatte, nämlich einen Knecht und
einen Dienstjuugen, verfügen konnte. Zwar verschrieb er sich Leute aus der
nahen Hauptstadt, allein die Knechte des Dorfs wußten sie bald widerspenstig zu
macheu; die Nächte wurde» uus durch allerlei Spuck gestört, und die uns heiiu-
sucheudcu Gespenster entwendeten Hafer, Stroh, Schinken und Mehl. Mein
Vater mußte sich zuletzt wiederum mit seinen anderthalb Mann durchzuschlagen
suchen, obwol er nicht weniger als siebenzig Tonnen Land zu bestellen hatte.
Obgleich er selbst mit Hand anlegte und sich vom frühen Morgen bis tief in die
Nacht hinein plagte, wollte es nicht hinreichen, und wenn die heimkehrenden
Nachbarn an seinen Ländereien vorbeizogen, standen sie stille, betrachteten ernsthaft
das spärliche Tagewerk und gingen kopfschüttelnd nach Haus.
Als der Vater eines Morgens mit seine» anderthalb Mann, einem Pfluge
und einer Egge anf'S Feld fuhr, kam es ihm im Zwielichte so vor, als ob an
der Grenze seiner Felder eine Menge Männer, Pferde und Wagen aufgestellt
wären; er rieb sich die Angen, weil er meinte, es müsse ein Traum sein; —
Solches hatte er freilich jede Nacht geträumt. „Halt still! Ricks!" sagte er
zum Knechte, „Siehst Dn nicht Etwas da?" — „Ja freilich, Herr, ich sehe
Etwas." — „Was mag doch das sein, Ricks?" — „Ja, Herr, was mag's doch
sein?" — „Christian," wandte er sich an den Dienstjnngen, „lauf geschwind
dorthin und bring' Bescheid, was das für Leute sind." — „Wir sind es, Nachbar,"
sagte ein Manu, der sich mittlerweile genähert hatte; es war Sorau Cortsnn,
der Baucrvogt. „Wir haben Euch," fuhr er fort, „nun so lange abquälen sehen,
und weil wir Bauern unser Feld jetzt bestellt habe», wollen wir, wie es sich sür
brave Nachbarn geziemt, Euch bei dem Eurigen helfen, wenn Ihr es zufrieden
seid. Das ganze Dorf ist hier versammelt, und jetzt soll es gehen wie die
Schwerenoth, denk' ich; Ihr werdet den Pferde» schon ein wenig Hafer geben.
Wir halten uus unsre Kost selbst. — „El," rief mein Vater und ergriff des
Bauervogts Hand, was er bei den Uebrigen wiederholte: „Solche Nachbarn
findet man nicht alle Tage auf der Straße."
Die Arbeit ging nun im Sturmschritt vou Stätte», und in wenig Tagen
waren sämmtliche Felder bestellt, aber die Nachbarn waren nicht dahin zu bringen,
eine Einladung anzunehmen und bei uns zu essen. Im November hatten die
Knechte des Dorfs den Krieg aufgegeben und wir bekamen gute Dienstleute.
Allein nun erhoben sich neue Schwierigkeiten: sie behaupteten, die Kost tauge
nichts, weil die Köchin aus Wordingborg war. Die Kost war ihnen nie recht,
sie nannten sie „Stadtessen", und wenn man sie über ihre ungegründete Be¬
schwerde zur Rede stellen wollte, ließen sie das Essen stehen und gingen Abends
in's Wirthshaus, welches unglücklicher Weise uus gerade gegenüber belegen war.
Wenn sie wieder heraus kamen und angetrunken waren, hieß es, sie müßten
doch Etwas zu essen haben, im Hanse sei ja Nichts vorhanden. Am Weihnachts¬
abend brach ein allgemeiner Aufstand ans, weil die Apfelkuchen nicht auf die alt-
hergelwachte Weise zubereitet waren, und am ersten Festtage kamen Alle
betrunken ans dem Wirthshause. Im Dorfe hieß es: ans unsrem Hofe gäbe es
schlechtes Essen.
Fastnacht kam heran und man „stach nach dem Strohmanne". Es
ist dies eine Belustigung welche selten geworden ist, weil sie ziemlich viel kostet,
sie findet daher nur uach einer guten Ernte statt. Damals nahmen nur die
jüngeren eigentlichen Bauern und Bauernsöhne daran Theil. Zwischen dem
Wirthshause und dem gegenüberliegenden Hanse war ans einem Fundamente eine
mit Zweigen bedeckte Tanne aufgerichtet, auf welcher eine Strohpuppe emporragte,
welche als Türke ausstaffirt war. Sie hatte weiße nud blaue Kleider an und
auf ihrem Kopfe schimmerte ein mit Goldstickereien und Glasperlen besetzter rother
Turba». Die Theilnehmer des Festes waren beritten und producirten sich in
abenteuerlichem Costume. Der Sohn des Bauervogts,- Cork Sörcnson, hatte
sich in Kopenhagen einen MaSkenanzng gemiethet, der in einer Niedertracht
bestand, so daß er höchst stattlich anzusehen war, mit dem Speer in der Hand
auf dem hohen Rappen. Er war der Anführer, seine beiden Adjutanten waren
die Brüder Ions Sören und Ricks Sören, zwei Berühmtheiten des Dorfs, da
sie im verwichenen Sommer, als die Lanciers von Nestwed, zu den Herbstmanö-
vern einberufen, in Walby einquartiert waren, selbander fünf derselben durch¬
geprügelt hatten. Eine große reitende Musikbande spielte zum Feste auf, beson¬
ders Trompeter und Posaunenbläser waren darunter. So lange das Reiten
dauerte, wo Einer nach dem Andern nach der Strohpuppe stach und sie aus
der Spitze seiner Lanze aufzuheben sich bemühte, spielte» sie eine eigene,
einfache nud einförmige Melodie, welche ich niemals wieder gehört habe. Wenn
man eine halbe Stunde geritten hatte, gab der Anführer ein Zeichen und dann
bildete sich ein großer Zug; zuerst kam Cork Sörensvn, dann die beiden
Adjutanten Ricks Sören und Jens Sörc», dann die Musik und endlich sämmt¬
liche Theilnehmer, zwei neben einander; der Zug sah schön und altrittcrlich aus,
wenn sie so in den bunten Trachten und mit den wehende» Laiizcnwimpel» die
breite schiieebedeckte Straße e»dia»g zogen. Sie wählten dann jedes Mal eine»
Hof, um sich daselbst auszuruhen, und alle Pforten standen weit offen, gleich als
ob sie mit Sehnsucht dem Besuche entgegenharren«. Bei dem Hofthore wurde
eine Fanfare geblasen; darauf ritt mau in den Hof, und Cork Sörenson ließ
dann einige Evolutionen ausführen. Hieraus stiegen Alle ab, gingen ins Haus
nud wurden mit dem Besten, was das Haus vermochte, bewirthet.
Unsre große rothe Pforte stand offen gleich wie die übrigen; allein den
ganzen Tag über kam der Zug nicht zu uns. Jedes Mal, wenn sie nach anderen
Höfen dem unsrigen vorbeiritten, sagte Cork Sörcnson mit lauter Stimme:
„Kirstine Hanstochter ist nicht zu Hause!" Dies war nämlich der Name der
frühern, verstorbenen Besitzerin unsrer Hofe; und sie hatte, um ihrer guten Kost
willen, im vorteilhaftester Rufe gestanden. Wir Kinder fühlten den Schimpf,
der unsrem Hanse angethan ward, so tief, daß wir hinter den Thorpfosten weinend
kauerten und kaum aufsehen mochten, weil das Fest für alle Andern, nur für
uns uicht gemacht zu sein schien. Wenn der Zug so vorbeigeritten war, sagte
mein Vater stets: „Sie sollen weder Essen noch Trinken haben, wenn sie kommen!"
Allein der gedeckte Tisch blieb nach wie vor stehen, auf die Gäste wartend. Welch
ein betrübter Abend war das, als es nun dunkel geworden und die letzte Hoff¬
nung dahin war! Wir Kinder gingen nicht einmal in die Gesindestube, sondern
blieben stille bei unsren Aeltern sitzen, welche schweigend und verstimmt in das
Feuer, das in dem großen Ofen knisterte, hineiustarrteu.
Allein am folgenden Tage fing das Fest wieder an, nachdem die ganze Nacht
hindurch im Kruge gezecht worden war, und gegen Mittag ertönten plötzlich die
Trompeten in unsrem Hofe. Gott Lob, da sind sie! riefen wir Kinder, und
weinten beinahe vor Freuden. Der Vater sagte: „Ich habe sie nicht hergerufen";
allein mit einem auffallend erheiterten Gesichte zog er eiligst Stiefeln an, ging
hinaus und rief ihnen ein: „Fröhliches Fest und Willkommen" entgegen.
„Steigt — ab!" commandirte Cork Svrenson, und fügte leise, aber doch
hörbar hinzu: „Kirstine Haustochter ist nicht zu Hause!"
Allein nun hatte man bei uns nach städtischer Art gedeckt und unsre große
Stube sah recht freundlich und hübsch ans. Als Cork Svrenson an der Spitze
seiner Adjutanten und seines Musikcorps hineinmarschirte, rief er plötzlich: „Halkets
Maul, Musikanten!" und im tiefsten Schweigen stellten sich Bauern und Bauer-
söhne an der Wand auf, und die verlegenen Mienen stachen sonderbar ab von
den ritterlichen Trachten. Allein die große Herzlichkeit, welche im Hause herrschte,
wirkte nach und nach, und die Gäste wurden bald guter Dinge, als thuen
Häringssalat vorgesetzt wurde. Dieses einfache Gericht, welches so wohlthuend
wirkt, wenn man eine Nacht geschwärmt hat, war damals im Dorfe unbekannt,
und ein Schnaps, den wir selbst zubereitet hatten, schmeckte außerordentlich gut
dazu. Der Wein wurde in Karaffen servirt, und nicht wie bei den Bauern in
den laugen grünen Flaschen und ans unsrer kleinen geschliffenen Gläsern schmeckte
er besser denn aus den großen Humpen unsrer Nachbarn. Endlich kam ein
flammender Pudding auf den Tisch, und nun nahmen die Gäste die Kinder ihrer
Wirthe auf den Schooß -- an jenem reinen Feuer wurde die Gastfreundschaft
geschlossen.
Als sie wieder ans dem Hofe hinaufritten, rief Cork Svrenson: „Kirstine
Hanstochter ist zu Hanse!" Und dieses Wort gebrauchte man lange nachher in
Walby, um damit anzudeuten, daß man gut bewirthet worden sei.
In der nächsten Nacht und an dem darauf folgenden Tage wurde das Fest
fortgesetzt; allein am dritten Tag« waren sämmtliche Theilnehmer ganz aschfarben
im Gesicht, ihre Augen waren roth und ihre Stimme heiser, sie schwankten im
Sattel und mußten sich durch außerordentlich vieles Trinken zu stärken suchen;
der heißere Lärm hatte etwas Wildes und Unheimliches an sich, den die gellende
falsche Musik noch vermehrte, als sie am Vormittage abermals ans unsern Hof-
raum geritten kamen. Sie hatten eine Zugabe zum Feste' erdacht, die ihren Dank
für die gute Bewirthung ausdrücken sollte. Seit einer Woche hatte mein Vater
um eine Kuh bei dem Viehhändler, genannt der kleine Jenes Jörgen, gehandelt,
dieser forderte jedoch immer noch zu viel „weil sie eine ungewöhnlich feine Haut
habe", eine seiner stehenden Phrasen war: „Du hast eine feine Haut, Brüderchen,
dich kann ich gebrauchen", und die kleine grane Kuh sand er, wie gesagt, „un¬
gewöhnlich fein". Sie führten ihn nun, ganz betrunken, mit sich im Zuge, er
saß rückwärts ans seiner Kuh, und sie sowol als ihr Reiter wurden im Triumph
in unsren Saal geführt, die Möbeln schob man an die Seite, und der Zug ging
dreimal unter dem Geschmetter der Trompeten die Stube rund. Der Hut des
Viehhändlers war in der Weise an der Kuh befestigt, wie mau der Reinlichkeit
der Stube am zweckmäßigsten erachtete. Endlich machte man Halt, bildete einen
Kreis um die Kuh, verkaufte sie dem Vater und trank Weinkauf über ihren
Rücken. Hierauf ordnete der Zug sich wieder und mau brachte die Kuh mit
Musik nach dem Stalle.
Der Welttheil Australien. Nach den zuverlässigsten Quellen bearbeitet von
t)r. F. H. Ungewitter. Erlangen, <»S3. Adolph Ente.
Bei den riesenhaften Fortschritten, welche die Kenntniß unsrer Erdoberfläche
und die Cultur auch kaum entdeckter Länder macht, und bei dem dadurch gesteigerten
Interesse an dem räumlich Entlegenen sind uns Werke Bedürfniß geworden, in
denen gebildete Männer von Zeit zu Zeit mit Beuuhuug der neuesten Hilfsmittel
Bilder von den naturhistorischen'- und Cultnrverhältuisseu der Fremde geben. Ein
solches Buch mit ausgezeichnetem Geschick und nach sehr sorgfältigen Studien gearbeitet,
ist das Werk von Carl Audree über Amerika, dessen zweiten Band das Publicum
mit Ungeduld zu erwarten Ursache hat. Im vorliegenden Werk wird ein ähnliches Bild
von Australien gegeben. Gerade bei diesem Welttheil war eine dergleichen
ausführliche Schilderung mit Benutzung der neuesten geographischen, linguistischen
botanischen und geologischen Untersuchungen höchst wünschenswerth; denn dieser
große Theil der Erdoberfläche bietet die merkwürdige Erscheinung dar, daß in
eine verhältnißmäßig große Gleichförmigkeit der Natur und der menschlichen Existenz
die allerverschiedensten Culturverhältnisse «se in der neuesten Zeit eingedrungen
sind. Auf den Sandwichinseln übersieht König Taniehamcha >>l. ans seinem
steinernen Palast die Uebungen seines europäisch er^ercirten Kriegsheeres längs
der großen Chaussee nud die Manöver seiner Kriegsflotte im Hafen von Hvlolnlu,
und ans der andern Seite die große Hofkirche, das Museum und die eleganten
Kaufläden seiner Hauptstadt und hat schon im Jahre die Annexation seines
Reiches an die Vereinigte» Staaten nachgesucht; auf den Gesellschaftsiuscl» führe»
die katholischen Priester unter Frankreichs Schutz, und die protestantischen als
Vertreter der Landespartei und der Königin Pomare einen stillen erbitterten
Kampf mit einander, entreißen sich gegenseitig Seelen und organisiren eine Frem¬
den- und Sittenpolizei, die eine täuschende Ähnlichkeit mit der unsrigen hat, nur
etwas mehr Bambus und etwas weniger Heimlichkeit; unterdeß slorirt anf anderen
Inselgruppen in der Nähe noch eine so ausgebreitete und scheußliche Menschen¬
fresserei, daß gefühlvolle Mütter ihre eigene» Kiuder gegen die Kinder ihrer
Freundinnen vertauschen, weil es beide» Theile» doch gemüthlicher ist, die Kinder
der Freundinnen statt ihrer eigenen zu verzehren, und durch den Tausch diese Jucon-
venienz vollständig vermieden wird. Niemals ist die ungebildete, menschliche Natur
i» merkwürdigerer Gestalt sichtbar geworden, als auf der australischen Inselwelt. Dicht
neben reizender Naivetät und liebenswürdiger Unschuld haarsträubende Rohheit, und
höchst viehische Grausamkeit; dazu die allcriuertwürdigste Gebundenheit a» die locale»
Bedingungen der Natur, eine höchst originelle Gestaltung n. Defiguration des Sprach-
sinnes, eine sehr auffalleiide Mischung verschiedener Race». Der Verfasser des öde»
geuaiuite» Buches hat das vorhandene reiche Material sorgfältig geordnet. Die Darstel¬
lung der geologischen »»d naturgeschichtlichen Verhältnisse Sta»d ihm allerdings erst in
zweiter Reihe, das Hauptinteresse war für ihn die Einwirkung, welche die Cultur
auf diese Naturvölker ausgeübt hat, besonders das Christenthum. Der Versasser
selbst nimmt den Standpunkt eines frommen Christen mit einem Eifer ein, welcher
ihn zum Parteimanne »lacht und die Ruhe nud Klarheit seiner Darstellung be¬
einträchtigt. Sein Groll gegen die laue» Christen und seine »och größere Anti¬
pathie gegen die katholische» Missio»e» i» der Südsee lasse» ih» zuweilen die
würdige Ruhe verlieren, welche dem Schriftsteller das achtungsvolle Vertraue»
der Leser sichert. Auch wir habe» die Ueberzc»gnug, daß jene paradiesische Un¬
schuld deö Heidenthums, durch welche einzelne unserer Seefahrer so entzückt
wurden, uicht das Recht hat, erhalte» z» werden. Auch wir halten die heroische
Thätigkeit der Missionaire auf dein australischen Archipel für eine große und be¬
wundernswürdige That. Aber wir verlangen von einer Darstellung dieser Thätig¬
keit, daß sie mehr sei als Bewunderung der protestantischen Missionaire und Haß
gegen ihre Gegner. Wir verlange», daß sie u»ö diese» Proceß der Civilisation
zeige, wie er wirklich ist, »eben dem Nothwettdigc» und segensreiche» auch die
Schattenseite, die Herrschsucht und fanatische Einseitigkeit der protestantischen
Priester, die Verdüsterung des schwachen Vvlksgemüthcs durch die plötzliche
Aenderung des ganzen innern und außer» Lebens und die Gefahren, welche aus
so schnell veränderten Culturverhältnisse» für das Gedeihen, ja für die Existenz
der australischen Menschen hervorgehen. Auch wir halten die Ausbreitung des
protestantischen Christenthums für nothwendiger und besser, als die Jesmteu-
missioneu in Tahiti, aber wir fordern vou dem Geschichtschreiber, das; er die
Händel der einzelnen Missivnsgesellschafteu nicht so darstelle, daß aus der einen
Seite nur frommes Licht, auf der andern nur düsterer Schatte» sei. Die an¬
maßende Herrschsucht der evangelischen Missionaire unter Pritchard auf Otaheiti
hätte wohl einige» Tadel verdient, statt eines besonderen fanatischen Lobes. —
Das Werk ist eingeleitet dnrch ein Vorwort Heinrich's v. Schubert, der den
Verfasser darin als GesinnungSgcuosse» begrüßt. Da wir zwar über das Festland
vou Australien mehrere sehr brauchbare Handbücher haben, über den ganzen
Kontinent aber uoch keines, in dem die neuesten politischen Verhältnisse dargestellt
wären, so hat das Werk Aussicht, auch vou Anderen als den Parteigenossen des
Verfassers als ein sehr brauchbares Handbuch, in dem Vieles zu finden ist, benutzt
zu werde».
— Die Sündfluth, welche Lord Derby als die einzig mög¬
liche Folge des Sturzes seines conservativen Eabiucts prophezeihte, ist nicht eingetreten,
im Gegentheil stiegen auf die Nachricht vou dem Rücktritt des Torycabincts die Consols
ein der Londoner Börse um ein halb Procent, und sind in dem Maße wcitcrgestiegen,
als sich die Aussichten aus das Zustandekommen eines durch Einigkeit starken liberalen
Eabiucts verbesserten. Genau eine Woche hat der Bildungsprvceß gedauert, aus dem
eines der stärksten und an Talenten reichsten Ministerien, welche England seit langer
Zeit gehabt hat, hervorgegangen ist. Als Lord Derby am Sonnabend der Königin
seine Entlassung überbrachte, sah er sich nicht veranlaßt, einen Nachfolger zu empfehlen.
Lord John Russell wieder zur Bildung eines neuen Whigministeriums zu berufen,
wäre verlorene Mühe gewesen; Sir I. Graham oder einer der Führer der Pecliten
konnte mit seiner Partei, die nur Kapacitäten, aber keinen Anhang im Unterhause be¬
sitzt, ebenfalls kein Cabinet zusammenbringen. Beide zu vereinigen, war trotz mehr¬
maliger Versuche bis dahin nicht gelungen. Das Verdienst, dies indirect bewerkstelligt
zu haben, gebührt Lord Derby, und so sind die beiden ruhmwürdigstcn Thaten, die er
während seines zehnmonatlichen Ministeriums vollbracht hat, gerade diejenige», welche
seiner Partei die entscheidendsten Schläge gegeben haben. Erst mußte er, nämlich die
eigene protectivnistischc Partei mit List und Gewalt in das ftcihändlcrische Lager hin¬
überführen, um überhaupt vor das Parlament treten zu können, und dann durch eigene
Harttövsigkcit und die giftige Zunge seines SchatzkanzlcrS den Bruch mit den Pecliten
so unheilbar mache», daß sie sich einer Vereinigung mit den Whigs und den Liberale»
geneigter zeigten, — womit ein Haupthindernis! einer gesunden Parteibildung im Par¬
lamente weggeräumt ist.
Die Königin, die sich während der MinistcrkrisiS in Osborne auf der Insel Wight
aufhielt, ließ Lord Lansdowne und Lord Aberdeen zu sich rufen, Ersterer, Führer der
Whigs im Oberhause, hochgeachtet von allen Parteien, aber seit einem Jahre aus dem
activen politischen Leben zurückgetreten, Letzterer, ein vertrauter Freund des verstorbenen
Sir R, Peel und begeistert sür die Reformpläne des großen verstorbenen Staatsmannes
— Beide, Männer von großem Ansehen in der politischen Welt, und erhaben über den
Verdacht, bloße Parteimänner zu sein. Leider war Lord Lansdowne krank, und nur
Lord Aberdeen konnte dem Rufe der Königin folgen. Er übernahm das schwierige Amt,
mit Einverständniß und unter Mitwirkung des Marquis of Lansdowne, aus der ge-
sammten Opposition ein einheitliches Cabinet zu bilden. Nur auf diese Weise ließen sich
die rivalisircndcn Ansprüche Lord I. Russell'S und Sir I. Graham's, vou denen
Keiner sich dem Andern unterordnen wollte, ausgleichen. Noch ein dritter Name —
ein unbequemer Freund, aber ein gefährlicher Feind >— war zu gewinnen, Lord Pal-
merston, der sowol dem Ministerium Russell, wie dessen Nachfolgern seinen Einfluß im
Unterhause nur zu sehr fühlbar gemacht hatte. Er war bei der entscheidenden Abstim¬
mung gichtkrank gewesen, und erschien erst wieder im Unterhaus«?, als Herr Disraeli deu
Rücktritt des Eabincts anzeigte. Die mit den Chefs des zukünftigen Ministeriums in
Beziehungen stehenden Blätter deuteten gleich anfangs daraus hiu, wie wünschenswert!)
es sei, wenn Lord Palmerston aus seiner isolirten Stellung heraus- und wieder in die
alten Parteiverbinduugcn eintrete. Aber als wollte der edle Lord allen Versuchungen
dieser Art aus dem Wege gehen, reiste er schleunigst nach seinem Landsitz ab, und man
hörte ihn mehrere Tage in den Listen nicht nennen. Schon jubelten die conservativen
Blätter, daß der scharfsichtige Viscount der Haltbarkeit des projectirten Cabinets nicht
traue, und deshalb eine Stelle darin anzunehmen verschmähe, als er auf einmal als
Staatssecretair des Innern genannt ward, ein Amt, wozu ihn seine ausgezeichneten ad¬
ministrativen Fähigkeiten besonders passend machen. Jedenfalls ist seine Wiederversöhnung
mit Lord Russell ein großer Gewinn sür die Whigpartei.
Lord John Russell eine seiner politischen Bedeutung angemessene Stellung im
Cabinet zu geben, war ebenfalls keine leichte Sache. Sein fleckenloser politischer
Charakter, seine früheren Verdienste, und sein vollendetes Talent als parlamentarischer
Führer werden ihn stets zum ersten Manne seiner Partei machen, selbst wenn das
herannahende Alter noch mehr seine Energie lahmt, als dies bereits nach Manchen der
Fall sein soll, und er mußte daher eines der wichtigsten Aemter erhalten, ohne Premier
sein zu können. Anfangs hieß es, er werde in's Oberhaus treten, und die Präsident¬
schaft des Conseils übernehmen; aber er mag nicht Lust gehabt haben, das Feld seiner
langjährigen parlamentarischen Siege zu verlassen, und in die mit höheren äußeren Ehren
umgebene Sphäre des Oberhauses als Halbpensionirter überzugehen. Nun hat er das
Portefeuille des Auswärtigen und die Führerschaft des Unterhauses übernommen, zwei
so wichtige Aemter, daß sie ihn wol dafür entschädigen können, daß er nicht nominell
an der Spitze des Cabinets steht. Sonst sind von den Whigs noch beigetreten als
Lvrdkanzler Lord Cranwvrth, der in Lord Se. Leonards einen nicht leicht zu ver¬
gessenden und schwerlich zu übertreffenden Vorgänger hatte, dessen hohe Verdienste die
beste Anerkennung dadurch fanden, daß ihm seine politischen Gegner anboten, die Stelle
des Lordkanzlcrs unter dem neuen Ministerium zu behalten, Russell's ehemaliger Schatz¬
kanzler, Sir Ch. Wood, ist an die Spitze des Controlamtcs (ostindische Angelegenheiten)
getreten, und Earl Granvillc und der Herzog von Argylc l Ersterer Conscilpräsident,
Letzterer Kehcimsiegclbewahrcr) find unter den jüngeren Whigistischen Staatsmännern die¬
jenigen, aus welche die Partei am meisten Hoffnung setzt. Von den Pcclitcn sind
außer Lord Aberdeen als erster Lord des Schatzes im Cabinet Mr. Gladstone als
Schatzkanzlcr, der Herzog von Newcastle als Colvnialsccretair, Sir I. Graham als
Admiralitätslord, Mr. Sidney Herbert als Kricgssccrctair. Die öffentlichen Bauten und
Doiuaien hat Sir W. Molesworth übernommen, der den sogenannten philosophischen
Radicalen angehört, und dessen eigentliche Specialität die Colonialangclegenhciteu find.
Aber wenn er auch nicht ganz an seinem rechten Platze ist, so zeigt seine Ernennung
wenigstens eine Geneigtheit Seitens des Ministeriums, nicht die allzu große Exclusivität
der Whigs nachzuahmen. Die Manchcstcrleute find dagegen ganz leer ausgegangen,
und scheinen ihnen uicht einmal Anerbietungen gemacht worden zu sein, wenigstens will
ihr Organ, die Daily News, nur Torysmus und „Nustrianisnnis in der äußern Politik"
in dem neuen Cabinet sehen, und sagt ihm nur eine bedingte Unterstützung zu. Mit¬
glieder des Ministeriums ohne Sitz im Cabinet find der Pcelit Eardwcll als Präsident
des Handelsamtcs, und Sir A. Corkburn und Sir W. P. Wort (Beide ziemlich ent¬
schieden gesinnte Liberale) als Generalfiscal und Gcncralanwalt. Lord LanSdowne hat
einen Sitz im Cabinet ohne Amt. An Kapacitäten fehlt es dem neuen Cabinet durchaus
uicht, und ein Ministerium, das so gewiegte Politiker und erfahrene Administratoren wie
Aberdeen, LanSdowne, Russell, Gladstone, Graham, Palmerston, und parlamentarische
Größen wie die vier Letztgenannten in seiner Mitte zählt, kann gewiß eines der stärksten
genannt werden, welches die parlamentarische Geschichte Englands kennt. Nur einige
Namen von Bedeutung vermißt man darin, wie Lord Clarendon, dem anfangs das
StaatSsccretariat für das Auswärtige zugedacht gewesen sein soll, und der es auch viel¬
leicht noch übernimmt, im Fall Lord I. Russell die Arbeiten seiner zwei Aemter zu be¬
schwerlich finden sollte; ferner die Greys, deren Ausschließung Lord Palmerston zu
Bedingung seines Wiedereintritts gemacht haben soll.
Das Ministerium ist stark durch Kapacitäten und dnrch die Aussöhnung der Fractione»,
die weniger durch Principien, als dnrch persönliche Rücksichten ans einander gehalten, bis¬
her mir gelegentlich mit einander gewirkt haben; auf die Unterstützung der Radikalen
Md der Jrländer kann es nur bedingt rechnen. Gegen sich hat es eine geschlossene
Opposition von -wi- Stimmen, die Mangel an Talent durch Einigkeit und Rücksichts¬
losigkeit der Taktik ersetzen, welche das beschämende Gefühl, von einem schlauen Führer
zur Verläugnung ihrer Grundsätze verlockt worden zu sein, ohne den Preis dafür —
Amt und Würde u. f. w. — behalten zu können, mir hitziger und rücksichtsloser in der
Verfolgung des Ziels, das sie schon einmal erreicht hatten, machen wird, und die in
ihrem Führer einen der unscrnpulösesteu Parteimnuner besitzen, der noch dazu nicht von
ihnen Talente, die er selbst besitzt, sondern nur Gehorsam, den Mittelmäßigkeiten gern
geben, verlangt. Diese bedenkliche Stellung scheint uns schon ein Gewähr zu sein, daß
die Befürchtungen der Daily News unbegründet sind, und daß das Ministerium die
Nothwendigkeit einsehen wird, durch eine aufrichtig progressive Politik die liberale
Partei dauernd an sich zu fesseln.
Die Gesangskunst, physiologisch, psychologisch, ästhetisch
und pädagogisch dargestellt. Anleitung zur vollendeten Ausbildung im Gesänge?c.
Mit einer Berücksichtigung der Theorien der größten italienischen und deutschen Gcsang-
meistcr und nach eigenen Erfahrungen systematisch bearbeitet von C. G. Nehrlich;
zweite durchaus umgearbeitete und sehr vermehrte Auslage. Mit anatomischen Abbil¬
dungen. Leipzig, B. G. Teubner. 1N)!Z. — Die erste Auslage dieses Buchs erschien
in derselben Verlagsbuchhandlung unter dem kürzern Titel „die Gesangskunst oder die
Geheimnisse der großen italienischen und deutschen Gesangmeiftcr, 18l>1." Das Werk
hat zu jener Zeit eine weite Verbreitung gefunden. Es erschien gerade in einer Epoche,
wo die Klagen über den Verfall der Gesangskunst zu entstehen ansingen, welche sich
seit jener Zeit so gemehrt und in der That zu einem Nothgeschrei sich jetzt ausgebildet
haben. In Deutschland besonders war die Sorge um den Verfall des KnnstgcsangS
größer, als in Italien und Frankreich, denn in diesen beiden Ländern hatte man, obgleich
die Mode zu componiren eine andere geworden war, doch im Wesentlichen die früher
geltenden Grundsätze für die Gcsangsmusik beibehalten. In Deutschland gestalteten
sich die Verhältnisse anders: Weber, obgleich dieser einen natürlichen Instinct für schonen
Gesang besaß, und seine Nachfolger, ließe» dem Schwunge ihrer Ideen nun sehr wenig
Fesseln von der Gesangskunst anlegen, es zeigte sich im Gegentheile sehr bald das
geflissentliche Streben, die durch lauge Zeiten gesammelten Erfahrungen vollständig zu
negiren. Die Reaction gegen diese genialen Überschreitungen blieb nicht lange aus;
sie zeigte sich zuerst, und zwar recht verständig, in der ersten Ausgabe des vorliegenden
Buchs, sodann in Wenn se ein's Gesangschulc und in dessen Geschichte der Musik, zuletzt
aber in Fr. Wink's Buche: „Clavier und Gesang". In den ersten Werken spielen die
„Geheimnisse der alten Singmeister" eine große Rolle; man kommt jedoch kaum in den
Fall, trotz des eifrigen Nachsuchens etwas Anderes zu entdecken, als einzelne Unwichtig-
leiten und einige historische Notizen, welche dem Hilfesuchenden keine ausreichenden Auf¬
klärungen geben. Nach unsrer Meinung läßt sich eine richtige Gcsangslchrc überhaupt
»icht schreiben, denn das Verbreiter und Wissen einiger Elcmentargrundsätzc hilft weder
dem Schüler, noch Lehrern, die keine Erfahrungen an sich selbst gemacht haben. Der
Gesangsunterricht in unsrer Zeit, besonders in Deutschland, wird darum hauptsächlich
schlechte Früchte tragen, weil es die Meister nicht mehr verstehen, gute Compositionen
zu schreiben, und weil durch das häufige Licdersiugc» der geistreichen Tonsetzer der
letzten Jahre die Stimmen sowol, wie das Gehör sür die Unterscheidung und
Erzeugung eines schönen Tons verdorben sind. Früher gehörte zu einer vollstän¬
digen musikalische» Erziehung ein geregelter Gesangsunterricht, wenigstens eine lange
Uebung in den Singchörcn der Kirchen, und daraus läßt sich erklären, daß die früheren
Komponisten stets den Gcsangston zu treffen wußten. Viele Umstände verhindern in
unsrer Zeit eine derartige praktische Ausbildung; die geschriebenen Untcrrichtswerke ver¬
mögen nicht vollständigen Ersatz zu gewähren. Das Material des Vorliegenden ist sehr
bedeutend und durchaus geschickt geschrieben und verständig angeordnet, auch mangeln
nicht die praktischen Andeutungen, aber dennoch reichen sie allein nicht ans, um wirklichen
Nutzen zu schaffe». Desto größere Beachtung verdienen die Theile des Buchs, welche
sich über die Physiologie, Theorie und Diätetik des Gesangs verbreiten. Hierin ist das
Material gegen früher bedeutend vermehrt worden und zwar zum großen Vortheile des
Buchs. Die rein musikalische Seite des Buchs ist die schwächere; die der Bildung des
Verfassers zu Grunde liegende Basis ruht nicht auf ganz festen Säulen, obgleich eine
gewisse Sicherheit des Urtheils den weniger Aufmerksamer zu Anfange imponirt. Dem
Werke beigegeben sind die anatomischen Abbildungen des Kehlkopfes, der einzelnen Theile
und Muskeln desselben, der Lunge ze„ überhaupt aller der Organe, welche bei Erzeugung
des Tons mHr oder minder functionircnd auftreten.
Die lustigen Weiber von Windsor, komische Oper von Otto
Nicolai, wurden in Leipzig am Weihnachtsfeste das erste Mal aufgeführt. Das Buch ist
dem gleichnamigen Lustspiele Shakespeare'S entnommen und bleibt im Allgemeinen demselben
ziemlich treu. Die Musik bietet nicht zu viel Originelles, wie man überhaupt Otto Nicolai
nicht geniale Ueberschwänglichkeiten zum Borwnrsmachc» darf. Dieser relative Mangel gestaltet
sich jedoch unter den jetzt obwaltenden Verhältnissen in der dramatischen Musik zu einem
großen Lobe, denn die Sucht, Neues und Unerhörtes zu bringe», hat die jetzigen
Operncomponisten auf Abwege geführt. Nicolai hatte schon seit langen Jahren gegen
diese Genialitäten angestrebt, eigentlich schon zu den Zeiten, als Weber und Marschner
anfingen, berühmt und gesucht zu werden. Ein sehr verständiger Künstler erkannte er
schon zu jenen Zeiten die aufsteigenden Unwetter und er machte seinem Herzen durch
allerhand Aufsätze und Bücher Lust. Besonders richtete sich sein Eifer gegen die falsche
Stimmbehandlung einerseits, und sodann auf der andern Seite gegen die Uebermacht
des harmonischen Theils und die analoge Art und Weise, musikalische Gedanken aus¬
zuführen, blos in der Absicht, neu und originell zu erscheinen. Ein längeres Verweilen
in Italien hatte ihn in diesen Ansichten bestärkt; er verfocht besonders die Grundsätze
eines reinen, natürlichen Gesangs und einer ungekünstelten Harmonicführuug mit vielem
Eifer, ja oft fanatisch. Diese Aeußerungen der Reaction schienen damals uoch nicht
an der Zeit, und Nicolai trug keine andere Frucht seines Eifers davon, als den Namen
eines Apostaten, den er sich auch ehrlich dadurch verdiente, daß er Opern in rein
italienischem Style schrieb, freilich nur in der krankhaft sentimentalen Weise Bellini's,
wie dies z. B. aus seinem Templariv zum Erschrecken deutlich wird. Diese Opposition
war sowol unstatthaft, als unklug; das junge musikalische Deutschland rümpfte verächt¬
lich die Nasen, die Alten, welche noch an Cimarosa und Mozart glaubten, fanden seine
Schönthuerei mit den Schabloncncvmpvnisten der »eucsteu Zeit ungehörig und ketzerisch.
Als Nicolai vor sechs Jahren die „lustigen Weiber" aufführen ließ, war deshalb die
Stimmung gegen ihn; sie ist es noch heute, obwol in dieser Musik seine Thätigkeit zu
loben ist und seine Gesinnung geläutert erscheint. Die kritische Lust Berlins hat ihn
offenbar gestärkt, er unterscheidet freier und sicherer, seine Fantasie grünt und blüht, und
liegt nicht mehr in den Fesseln des ihn knechtenden AusländerthumS. Ferner sagt
Nicolai's Talent die komische Musik mehr zu, als die ernste. Ein tiefes, ernstes Gemüths-
leben lag wol nicht i» seiner Natur, darum mißlang es seinem Geiste, sich in tief tragische
Situationen hineinzuleben und sie in ergreifender Weise zu schildern; es gelang ihm
nicht, eine süßliche Sentimentalität zu überwinden. Aber ein feiner Kopf war Nicolai,
und groß gezogen in einer vortrefflichen und erschöpfenden Praxis. Sein Beobachtnngs-
talcnt fand reichliche Nahrung und seine umfassende Bildung ließ ihn eine segensreiche
und ihm selbst ersprießliche Kritik üben. Wie sehr ihn, alle diese Dinge zu Statten
kamen, zeigt die vorliegende Oper von Anfange bis zu Ende. 'Originelles und Neues
finde» wir nur an wenigen Stellen, und auch in diesen wird der Kenner el» leises
Anlehnen leicht errathen, aber das Gegebene ist überhaupt sein, zierltcy, neblig, musika¬
lisch gedacht, und deshalb für Jedermann eingänglich und verständlich. Den leichten
Worten und Gedanken angemessen, schwebt die Musik in leichtem Rhythmus einher, das
melodische Element tritt in den Vordergrund, eine geringere oder schwerere Betonung
hilft nach, wenn der zu leichte Inhalt des musikalischen Gedankens dem Wortsinne nicht
vollständig zu genügen scheint. Die dadurch erlangte Durchsichtigkeit erfreut und ergötzt,
der Zuhörer wird nicht verstimmt durch öde Eintönigkeit, nicht verletzt durch das
Haschen nach geistreichen, aber unmvtivirtcn Wendungen. So weit ist Alles lobens-
werth, aber der hinkende Bote kommt nach, nämlich die große Unselbstständig-
keit und das Hin- und Herschwanken in der Erfindung zwischen verschiedenen
Zeiten und verschiedenen Vorbildern. Von Mozart an bis zu Ander finden
sich allerhand geschickt verwendete Beiträge, und besonders ist es der Letztere, dessen
beliebte Tanzrhythmen uns oft zu unsrem Mißvergnügen überraschen. Leider
ist in der komischen Oper der Italiener und Franzosen diese Stilform sehr üblich
geworden, und es ist dem Einzelnen schwer, sich der gangbaren Mode gänzlich zu ent¬
ziehen. Wol aber waren eine nicht geringe Anzahl faber Melodien zu vermeiden, die
der Componist augenscheinlich nur stehen ließ, um einer sichern Wirkung auf die Menge
gewiß zu sein. Den größten musikalischen Werth haben wir in den Finalen und über¬
haupt in den Enscmblestücten entdeckt; die Arien sind im Verhältniß zu diesen gering,
und die einzelnen sentimentalen Stückchen übertreffen an Werth nicht viel die Kücken'sche
Muse. Die Jnstrumentation ist vom Anfange bis ein's Ende fein und bescheiden;
eine wirksame Unterstützung der Singstimmen, drängt sie sich nie unbescheiden vor, und
alle ihre Effecte, besonders im dritten Acte, sind dem Ohr angemessen und wohlthuend.
Die Aufführung in Leipzig war eine recht gelungene; die Sänger sowol, als das
Orchester haben brav gewirkt und fast untadelhaft, da die Einsätze im ksrlgndo oft
schwierig waren und das gewissenhafteste Eintreffen am richtigen Orte verlangten. Daß
die Oper überhaupt allgemeinen Eingang in Deutschland finden werde, ist zu bezweifeln.
Die groben und derben Scherze, die oft in das Kindische ausarten, wollen unsrem
Gaumen nicht recht behagen, wenigstens sollte man daran denken, Scenen bestialischer
Rohheit, wie das Wctttrinkcn im zweiten Act, zu verkürzen, zumal wenn sie für das
Verständniß der Handlung nicht unbedingt nöthig erscheinen. Am besten gezeichnet
erscheinen die Figuren des John Falstaff, der Frauen Fluth und Reich; auch der
Junker spärlich weiß durch sein „O süße Anna" recht angenehm zu ergötzen.
Unter den bei Andrv aufbewahrten nachgelassenen Manuscripten Mozart's hat man
eine unvollendete Oper entdeckt: I>o sposo cloluso, ossis: ig rivglilü «ki ers Dom»!
per un solo /Vmimlij. Opon 1)uM ü 3 -M. Das italienische Textbuch ist vollstän¬
dig vorhanden; das Libretto denen zu Figaro und Lohi wttv ähnlich, wie denn
auch der Styl und der Charakter der Musik der neugefundenen Oper jenen ähnelt.
Bon der Musik sind vorhanden: die Ouvertüre (0 <!ur, ^IleAro, ^4) mit einem gra¬
ziösen Zwischensätze Oiuwili!, Sie ist kein abgeschlossenes Ganze, sondern geht
in ein Quartett (I) aur, V») über. Noch ganz ausgeführt ist ein Terzett für Sopran,
Tenor und Baß (Zs <jur, ^lulimliiio, ^). Außer dieser Nummer sind noch zwei andere,
nur mit Singstimme und Baßbeglcitung ausgeführte zu nennen: eine Bravourarie für
Sopran OIIöW'v une«^«», <w>', ^4) und eine Arie für Tenor <MoFi'», K ciur,^).
Man vermuthet, daß diese Oper im Jahre l783 geschrieben ist, zu der Zeit, als er
sich in Salzburg, nach dem erst«! Wochenbett seiner Frau, bei seinem Vater aufhielt.
Herr Johann Andrö in Offenbach steht im Begriffe, eine Partiturausgabc nach Mozart's
Manuscripte und einen von Jul. Audrv ausgearbeiteten Elaviercmszug zu veröffentlichen.
Robert Schumann, Dr. Marx, Stephan Halter und Fotis sind zu Ehrenmitgliedern
des Musical Instituts ok London ernannt.
— Einer der hervorragenden
deutschen Landschaftsmaler ist Professor Friedrich Preller in Weimar, geboren zu
Eisenach den 23. April 1805. Wir wollen in kurz zusammengedrängten Umrissen den
Entwickelungsgang, den seine künstlerische Persönlichkeit genommen, etwas näher beleuchten.
Der im Knabe» stark sich geltend machende Formsinn fand vielfältige Anregung zum
nachzeichnen und Nachbilden in dem Evnditorgeschäft seines Vaters. Der erste grünt--
liebe Unterricht wurde ihm einige Jahre darauf in der öffentlichen Zcichcnschnle zu
Weimar zu Theil, wo einsichtsvolle Männer in dem heranreifenden Jüngling bald ein
bedeutendes Talent entdeckten. Im Jahre 1821 hielt sich Preller einige Zeit in Dresden
ans, um in der dortigen, an Kunstschätze» so reiche», Galerie alte Meister zu studiren,
unter welche» ihn besonders der berühmte Ruisdael dermaficn fesselte, daß er sich vor¬
nahm, genaue, fleißig durchgeführte Kopien seiner schönsten Gemälde zu machen. Der
Nutzen, den der Kunstjünger daraus zog, war kein blos vorübergehender; denn sein an¬
geborener Tiefblick wurde dadurch noch geschärft, und man kann, ohne seiner Originalität
damit nahe zu treten, behaupten, daß selbst aus Preller's späteren genialen
Productionen dieses gründliche Studium des alten ernsten Meisters ersichtlich ist. Eine
ganz andere Richtung verfolgte er vom Jahre 1825 an. Er ging nach Antwerpen,
um dort auf der Akademie unter Brce's Leitung Studien über die menschliche Figur
zu machen, was leider so viele Landschaftsmaler der Jetztzeit verabsäume». El» Bild
aus dieser Periode Preller's ist schon deshalb merkwürdig, weil es Goethe eigenmächtig,
ohne die Erlaubniß des Künstlers abzuwarten, zur Ausstellung »ach Dresden absandte,
wo eS allgemeinen Beifall errang. Es stellt einen Bärentanz in einer Straße Ant¬
werpens, unter der neugierige» Volksmenge, vor, und befindet sich gegenwärtig i» der
großherzoglichen Sammlung zu Weimar. Dieses Bild ist voll Lebe» und charakteristischer
Nuancirung, und zeigt von der originellen Auffassung des volksthümlichen Elementes.
Der damals uocls junge Künstler hatte i» jener Zeit die Freude, bei der jährlichen
Preisvertheilung der Nntwerpncr Akademie den zweite» Preis zu erringe» — für eine»
Ausländer viel. Eine» Samen Talente angcmesseiie» Wirkungskreis eröffnete ihm sei»
Aufenthalt in Rom vo» 1828 bis 1831, wo besonders Koch einen mächtigen Einfluß
auf seine weitere Entwickelung ausübte, worüber sich Preller jetzt »och in Worten der
größte» Dankbarkeit ausspricht. Ueberhaupt hat der Ausenthalt in Italien tiefe Ein¬
drücke in seinem leicht empfänglichen Wesen hinterlasse», de»» die Bilder, die er, i»
seine Heimath zurückgekehrt, malte, trugen alle, selbst wenn sie deutsche Landschaften vor¬
stellten, den Stempel südlicher Fornischönhcit und intensiver Farbenpracht an sich. Aber
sein Sinn war zu deutsch, als daß er sich lauge diesem fremdländischen Einflüsse hätte
hingeben mögen. Preller warf sich in die Arme der nordischen Natur, die in ihrer
Art eben so viele eigenthümliche Schönheiten auszuweisen hat, als die südliche. Um sich
sein Auge dafür rein und klar zu erhalten, unternahm er jährlich eine Reise, wobei ihn
manchmal seine talentvollsten Schüler begleiteten. Die einsame Insel Rügen und das
pittoreske Norwegen waren ganz dazu geeignet, seine Vorliebe für südlich-glühende
Farl>e»linken zu brechen. Die Früchte, die ihm dieses beharrliche Aufsuchen der Natur
eintrug, liegen offen vor den Augen seines Volkes. Seine Bilder gewänne» an Kraft,
Würde und künstlerischer Abrundung, und im Vergleich mit seinen früheren Leistungen
bemerkt man mit Vergnügen, wie es ihm mit diesen nordischen Landschaften fast
durchgehends gelingt, den Totaleindruck der Naturscenen künstlerisch zur Einheit zu
concentriren. Da er sich von der Romantik der Düsseldorfer Schule, die manchmal
sehr stark mit der Illusion coquettirt, fern gehalten hat, aus der andern Seite
sich eine gewisse Wahlverwandtschaft mit älteren Meistern in seinem ganzen künst¬
lerischen Wirken zeigt, so kaun man wol füglich sagen, Preller stehe in der Mitte
zwischen der altern historischen Landschastsschulc und der jüngern modernen Richtung
----- tiefe, ernste Farbe — edel und einfach in der Composition — correcte Durch¬
führung. Den vollen Werth seiner Stellung in der Kunstwelt anerkennend, ernannte
ihn die Dresdner Akademie im Jahre 1846 zu ihrem Ehrenmitgliede. Um ihn an sein
Verhältnis; zu Goethe aus das Würdevollste zu erinnern, erhielt er an dem Tage der
Festfeier des Goethe-Jubiläums das Ritterkreuz des Falkcnordens. Eine Reihe von
interessanten Scenen aus Wieland'S Märchen in den Zimmern der grvfihcrz. Residenz zu
Weimar beweist übrigens noch, daß sich Preller eine große Fertigkeit in Darstel¬
lungen aller Thiergattungen erworben hat; wie überhaupt Weimar die Stadt sein
dürste, die dem Kunstkenner mehr wie jede andere Gelegenheit darbietet, sich mit Preller's
Schöpfungen näher vertraut zu machen. In Leipzig im sogenannten „römischen Hause",
dessen Besitzer Herr Buchhändler Baumgärtner ist, befindet sich ein größerer Cyclus von
Wandgemälden. Sie versinnlichen mit vieler Lebhaftigkeit die entscheidendsten Momente
aus der Geschichte des Odysseus. Wir bemerken dabei sür das elegante Publicum, daß
sich in dem jüngst erschienenen, glänzend ausgestatteten Werke: „ Odysseus vo» Ponsard",
ans dem Französischen übersetzt von Adolf Böttger (Leipzig, Baumgärtner), eine
treffliche Copie eines dieser ausgezeichnet schonen Bilder befindet. Preller nimmt immer
seine Motive ans der Wirklichkeit, daher fehlt seinen Bildern anßer der Kunst auch
nicht jene letzte Wahrheit, ohne die ein echtes Kunstwerk nicht bestehen kann. Eine
weise Oekonomie mit Licht- und Schatteucffccten sichert ihm auf ganz natürlichem Wege
seine Erfolge. Besonders gelungen ist in seinen Gemälden der klare Luftton, von dem
so häusig die volle Harmonie der Landschaft abhängt. Seine Marincstnckc versteht er
meisterhaft durch den naturgetreuen Wellenschlag des Vordergrundes zu beleben. Er
scheint sich in den letzten Jahren vorzugsweise mit der Fertigung von Secbildeni be¬
schäftigt zu haben, wir wollen deshalb nicht die Hoffnung ausgeben, aus einer der
nächsten Ausstellungen von einer Preller'sehen Waldlandschaft überrascht zu werde», da
er auch im Baumschlag und in Fclscnparticn sehr Bedeutendes zu leisten weiß.
Kaulbach, gegenwärtig in München lebend, beschäftigt sich mit den Entwürfe» der
letzte» Cartons, die er im nächsten Frühjahr im neue» Museum zu Berlin auszu-
führen beabsichtigt. Außerdem malt er das Bild des Königs Max von Bayer». Für
München hat er bereits die Zeichnungen vo» Thorvaldse», Klenze, Cornelius, Ohlmüller
und Peter Haß vollendet, die i» der »enen Pinakothek im Fries ausgeführt werden sollen. —
David Tauler's berühmtes Bild: Fünf Sinne, wurde bei einer großen Auction
j» Gent vom Brüsseler Kunstvereine sür die nahmhaste Summe von 26,000 Francs
angekauft. —
Carl Kappcs in Frankfurt a. M., der zwei Platten, täuschende Kopien des be¬
rühmten kleinen Crucifixes oder des Dcgenknopfcs von Albrecht Dürer l^Bartsch
Ur. 23) gestochen, hat nun auch eine Copie des seltenen, kleinen, runden Holzschnittes
des heiligen Hieronymus (Bartsch Ur. 11!)) geliefert. —
Der Berliner Kunstverein hat von K. Hübner aus Düsseldorf ein neues Genrebild
und von Ueberhand ein neues Scestück angekauft. —
Der bekannte holländische Kunstmaler Baron Westrcnncr von Tielland hat bei
seinem, unlängst erfolgten Ableben seine kostbare Kunstsammlung der Regierung vermacht,
welche damit ein besonderes Museum, Museum MLslrvimium, errichtet. —
Der Bildhauer Drackc in Berlin hat eine Art Tisch mvdcllirt, der durch eine
sinnreiche mechanische Vorrichtung den Modellen beim Actzeichnen jede mögliche' Stellung
und schwierige Lage erleichtert, wodurch eine größere Sicherheit erzielt wird. Wie man
hört, wird die königl. Akademie der bildenden Künste zu Berlin einen derartigen Tisch
für ihren Actsaal ausführen lasse». Noch können wir über Drake'S künstlerische Thätig¬
keit berichten, daß er ein treffliches Brustbild des Dichters Robert Ncinick vollendet hat;
auch ist seine Statue Oken's sür Jena im Modell fertig. Vor Kurzem sing er
die Statue Rauch's zu modelliren an, welche dazu bestimmt ist, im neuen Museum »eben
Schinkel und Winkelmattn ausgestellt zu werden. —-
Das längere Zeit beabsichtigte Copernicus - Denkmal wird nun endlich ausgeführt.
Der König von Preußen hat die zur Deckung der Kosten noch fehlende Summe aus
seiner Chatouillc gespendet. —
Romane unserer jüngern Schriftsteller
lassen sich, im Ganzen betrachtet, in zwei Classen theilen, in Romane, welche das Leben
gebildeter Menschen der Gage»wart schildern und in Dorfgeschichten. Im historischen
Roman ist wenig neue Kraft zu Tage gekommen.
Bevor die einzelnen Werke angezeigt und das Gelungene in ihnen gerühmt werden
kann, verlangt eine allgemeine melancholische Betrachtung, welche in diesem Blatt nicht
selten angestellt worden ist, wieder ihr Recht.
Wenn man die deutschen Romane, welche Leben und Zustände moderner Menschen
darzustellen beflissen sind, in Bausch und Bogen Übersicht, so muß man zunächst mit
Verwunderung fragen, weshalb so gar wenig von dem Leben der Gegenwart darin zu
finden ist.
Ist denn in der That das Leben um uns herum so arm an interessanten Gestalten,
an erschütternden Begebenheiten, ja auch an großartigen Leidenschaften? Ueberall, —
in fast jedem Kreise menschlicher Thätigkeit, in jeder Gegend des Vaterlandes, strömt
trotz Allem und Allem das Leben doch immer so reichlich und so energisch, daß eS einem
Menschen. der Darstellungstalcnt hat und sich die Mühe nehmen will, das Leben selbst
kennen zu lernen, nie und nirgend an den interessantesten Anregungen, Eindrücken und
Motiven fehlen kann. Grade heraus, was uns fehlt, sind nicht die Bilder des Lebens,
welche der Dichter zu verarbeiten hat, sondern die Dichterkraft, Augen, welche das Leben
anzusehen wissen, Bildung, welche dasselbe versteht und Schönheitssinn, der dasselbe zu
idealisiren weiß. Wenn doch nur einer von all den Romanen, welche im letzten Jahr
in Deutschland geschrieben sind, uns das tüchtige, gesunde, starke Leben eines gebildeten
Menschen, seine Kämpfe, seine Schmerzen, seinen Sieg so darzustellen wüßte, daß wir eine
heitere Freude daran haben könnten. Wir haben doch in der Wirklichkeit eine große Anzahl
tüchtiger Charaktere unter unsrer Landwirthen, Kaufleuten, Fabrikanten u.s. w,, deren Lebens-
lauf und Verhältnisse dem, der sie kennen lernt, das höchste menschliche Interesse einflößen:
warum haben wir keinen Dichter, der Analoges für ein Kunstwerk verarbeitete? Und
diese großen Kreise menschlicher Thätigkeit selbst, der Landbau, der Handel, die Industrie,
bilden die Grundlage für so unzählig viele höchst interessante und auffallende Beziehungen
der Menschen zu einander, für die erschütterndsten Leidenschaften und die allermerkwür-
digsten Verwickelungen; warum haben unsre Dichter keine Feder, uns solche Erschei¬
nungen der Wirklichkeit mit künstlerischer Wahrheit und Schönheit darzustellen? Die
Antwort daraus ist leider, weil unsre Romanschriftsteller in der Mehrzahl sehr wenig,
ja zuweilen so gut wie nichts von unsrem eigenen Leben, von dem Treiben der Gegen¬
wart verstehe». Selbst I. Gotthelf wäre mit all seiner Gestaltungskraft nicht im Stande,
seine Bilder zu schreiben, wenn er nicht jahrelang unter den Bauern gelebt, ihren Haus¬
halt, ihre Thätigkeit, ihre Freuden und Leiden bis in's kleinste Detail kennen gelernt hätte.
Die meisten unsrer deutschen Dichter nehmen sich die Freiheit, das Treiben der
Gegenwart zu schildern, ohne die Thätigkeit der Menschen, welche sie darstellen wollen
und den Einfluß, welchen diese Thätigkeit auf Gemüth und Anschauungen hat, hin¬
reichend zu kennen. Sie suchen das Poetische immer noch im Gegensatz zu der Wirklichkeit,
gerade als wenn unser wirkliches Leben der Poesie und Schönheit bar wäre, und doch
ist in dem Leben jedes praktischen Landwirths, jedes Geschäftsmannes, jedes thätigen
Menschen, welcher bestimmte Interessen mit Ernst und Ausdauer verfolgt, mit der Aus¬
übung seiner Thätigkeit viel mehr poetisches Gefühl verbunden, als in den Romanen
zu Tage kommt, in welchen unsre Dichter schattenhafte Helden in den allerunwahrschein-
lichstcn Situationen dem wirklichen Leben wie ein Kcgenbild gegenüberstellen. Und des¬
halb sollte Jeder, welcher Romane schreiben will, sich zuerst doch die kleine Mühe geben,
selbst ein tüchtiger Mann zu werden, das heißt, in irgend einem Kreise menschlicher
Interessen heimisch, durch eine ausdauernde und männliche Thätigkeit in die große Kette
der kräftigen Menschen als ein nützliches Glied eingefügt. Als W. Scott anfing, seine
Romane zu schreiben, war er selbst schon lange Gutsbesitzer, Landbauer, Jäger, Com-
munal-Beamter seines Bezirkes, nebenbei freilich auch gelehrter Altertumsforscher und
Literarhistoriker. Und durch eine Reihe von Jahren hatte er mit all den Urbildern seiner
Gestalten, in den Landschaften, welche er schildert, unter den historischen Erinnerungen,
welche er sür die Kunst lebendig machte, in Wirklichkeit verkehrt, hatte sich selbst kräftig
und thätig gerührt. Daher ist auch Männerarbeit geworden, was er geschrieben hat,
eine Freude und Erquickung sür die Besten seines Volkes und die Gebildeten aller
Völker. Unsere Romanschriftsteller pflegen — sofern sie keine Damen sind sich sehr
früh zu dem Stande der Literaten zu zählen, und ihren Lebensberuf im Nonianschrcibcn
zu suchen, bevor sie tüchtig geworden sind, irgend einen andern zu finden. Die Jahre
ihrer blühenden Jugend bringen sie in der Regel ohne eine andre dauernde und würdige
Thätigkeit hin, in einem Wechsel von sanguinischen Spannungen und schlaffe» Genüssen,
isolirt von den großen Strömungen unsres Lebens, noch glücklich, wenn sie durch
Familicnvcrbiudungen oder persönliche Eigenschaften für ihre Freistunden die Reize einer
heitern Geselligkeit gewinnen, welche ihre» als die schöne Insel im Ocean der Glück¬
seligkeit zu erscheinen pflegt. Das Geplauder am Theetisch, kleine Gefühlsabcutcucr mit
Mädchen oder jungen Frauen, Zänkereien mit ihren Kameraden und eine studentische
Verachtung spießbürgerlicher Prosa sind die Eindrücke, weiche sie in ihren Romanen ver¬
arbeiten. Zu diesen kommen bei Einem oder dem Andern Reminiscenzen aus der Jugend¬
zeit, das Dorf, die kleine Stadt, enge Familienverhältnisse, in denen sie ausgewachsen
sind, hier und da Reise- und literarische Bekanntschaften und die große Masse der destil-
lirten Empfindungen und Anschauungen, welche sie durch eine wahllose Lectüre aller
möglichen andern Romane gewinne». Aus solchen Reminiscenzen wird ein erster, ein
zweiter Roman zusammcngcschriebcn, vielleicht zeigt sich eine jugendliche Kraft darin,
vielleicht sind es auch nur Zufälligkeiten des Stoffes, welche das hungrige Publicum
unsrer schlechten Lesebibliotheken anlocken. Ein gewisser kleiner Ruf wird gewonnen, die
buchhändlerischc Spekulation bemächtigt sich des jungen Dichters und treibt ihn zu
neuem Schaffen, wenn dies uicht schon die Geldnoth, der gemeine Zwang der äußeren
Verhältnisse thut. So entsteht ein Producircn ohne besondre Berechtigung. Die wenigen
lebhaften Eindrücke und Anschauungen, welche das eigene Leben gegeben hatte, sind schnell
verarbeitet, die feste, respectable Stellung in der bürgerlichen Gesellschaft fehlt, welche
dem Menschen regelmäßige Pflichten und innern Halt am ersten giebt, und am besten
ein regelmäßiges Einströmen gesunder Anschauungen und neuer Eindrücke vermittelt,
und so wird die Darstellung flüchtig, skizzenhaft, die Erfindung schwächlich oder aben¬
teuerlich, der Styl bleibt ungebildet wie der Charakter. DaS ist das traurige Schicksal
der meisten deutschen Romanschriftsteller. Das ist auch der Grund, weshalb wir fast
gar keine gute, und so sehr viele schlechte Romane zu lesen verurtheilt sind.
Ob der gegenwärtige Zustand unsrer Bildung und des deutschen Lebens vorzugs¬
weise geeignet ist, gute Romandichter hervorzubringen, läßt sich allerdings bezweifeln,
vor Allem deshalb, weil gerade jetzt auch dem Leben der Besseren ein Theil von dem
Behagen fehlt, ohne welches das schöne Schaffen undenkbar ist. Aber daß unsre
Romanschriftstellern — immer im Ganzen betrachtet — schlechter als mittelmäßig ist,
daran tragen die Schaffenden allein die Schuld, und vergebens suchen sie diese auf ungün¬
stige Verhältnisse des Vaterlandes, ans die Prosa des Lebens, ans die Industrie der
Buchhändler und die Rohheit des große» Lcsepublicums zu wälzen.
Ferner aber ist merkwürdig, mit welcher Beharrlichkeit sich eine andere Abtheilung
unsrer Romanschriftsteller fern von der uns umgebenden Welt in dem kleinen und monotonen
Gebiet der idyllischen Dorfgeschichten umhertreibt. Man konnte vor einigen Jahren
glauben, daß dieses Genre überwunden se^, es lebt jetzt >in den Jahren der Reaction
in einer Masse von Romanen, Novellen, Scizzcn u. s. w. wieder aus; bei Vielen Symptom
einer mit sich selbst unzufriedenen Bildung, welche gerade Verstand genug hat, einzu¬
sehen, daß es ihr fehlt, aber uicht Kraft genug, dieses Fehlende zu erwerben. Das
Schlimme ist nur, daß diese jungen Flüchtlinge ans dem Culturlcben der Zeit ihre
Verstimmung und Schwäche auch aus diesem Gebiete der Stoffe nicht los werden. Ueber
die relative Berechtigung von Dorfgeschichten ist schon früher die Rede gewesen. Wo
eine geniale Kraft, wie Jeremias Gotthelf, oder ein seines Talent, wie Nucrbach, etwas
Erfreuliches schaffen konnte, da ist deshalb noch nicht fiir Jeden ein Geschäft zu machen, am
wenigste» dann, wenn unsre Dichter uns das starke und gesunde, aber immerhin beschränkte
und enge Lebe» des Bauernstandes durch eine schlechte Zuthat von Sentimentalität verderben.
Wohl ist der Stand des Landmanns der große Quell, woraus sich fortdauernd neue
Familienkraft erhebt, welche in alle Rinnen des Volkslebens hineinfließt und überall
neues Wachsthum hervorbringt. Aber es ist sehr bedenklich, das beschränkte Leben dieses
Standes, in zierlicher poetischer Verklärung dem Leben der Gebildeten, dem modernen
Leben als ein Ganzes von schöner Einfachheit, ein Ideal von Kraft gegenüber zu stellen.
Denn es ist die größte Gefahr vorhanden, dabei »»wahr, ma»irirt, zuletzt langweilig
z» werden. Aber diese Gefahr droht doch nur den beste» Idylle»Schreiber». Die
nicistc» kommen nicht über das Ausmale» der Staffage heraus, oder über das Zu-
sammciircihcn einzelner Züge, welche der Wirklichkeit abgelauscht sein mögen, denen aber
die künstlerische Verarbeitung fehlt.
Nach dieser mehr wahrhaften, als fröhlichen Bemerkung beginnen wir die Auf¬
zählung der einzelne» Romane mit den neuen Dorfgeschichten. (Fortsetzung folgt.)
Chronik der Gewerke. Nach Forschungen in den alten Quellensammlungc»
und Archiven vieler Städte Deutschlands und der Schweiz zum Erstenmal zusammenge¬
stellt und unter Mitwirkung bewanderter Obermeister aller Innungen in den Druck ge¬
geben durch H. A. Berlepsch. Se. Gallen, Scheitlin und Zollikofer. Siebenter
Band. Chronik der Feuerarbeiter. — Diese Chronik der Gewerke enthält außer einem
allgemeinen Theil, Deutsches Städtewesen und Bürgerthum, »och die Alterthümer der
Schneider, Gold- und Silbe»Schmiede, Schuhmacher, Metzger, Bäcker, der Maurer und
Steinmetzen und der Holzarbeiter. Der vorliegende Theil hat die Einrichtung der frühern,
eine kurze Geschichte des Handwerks, die Einrichtung des Innungswesens, die Statuten,
Grüße, Gebräuche und Gewohnheiten mit einer Anzahl interessanter geschichtlicher
Notizen, Sagen und Anekdoten, das Ganze mit ziemlichem Fleiß gesammelt und mit Verstand
zusammengestellt. Der geschichtliche Theil konnte manchmal vollständiger sein, aber
der Leser wird Interessantes und Belehrendes in Fülle finden. Wer sich für die
Zustände und Bildung unsres Volks interessirt, möge diese Sammlung durchblättern;
es wird ihm manchmal sein, wie ein Blick in eine fremde Welt, von deren Existenz er
bisher keine Ahnung gehabt hat. Die wunderlichen Bräuche und Formeln des Hand¬
werks cMiren zum Theil noch jetzt, aber der alte, oft bedeutende Sinn, der in
ihnen lag, ist verschwunden, und sie sind jetzt nicht viel besser, als eine Sammlung von
Albernheiten, welche der verständige Handwerker verachtet. Früher war das anders.
Sie bildeten das Ceremoniell, durch welches das Leben des Einzelnen, Haltung und
Zusammenhang mit dem Leben seiner Genossen erhielt, und sie wurden das Band,
welches den wandernden Handwerkern, der in der Fremde sonst sast rechtlos und schutz¬
los gewesen wäre, mit den Männern gleicher Beschäftigung in ganz Deutschland und
darüber hinaus vereinigte, ihm Unterstützung, Schutz und Erwerb sicherte, wohin er
anch kam. Und ferner ist von allgemeinem Interesse, zu sehen, wie aus einfachen An¬
fängen und aus einer geringen Anzahl von gewerblichen Thätigkeiten, die nach der
Völkerwanderung von Unfreien betrieben wurden, sich allmählich das ungeheure Gebäude
unsrer modernen industriellen Entwickelung aufgebaut hat. Von den Leibeigenen des
deutschen Grundbesitzers, welcher zur Zeit der Pipine in seinem Hofe auf den Trüm¬
mern römischer Kolonien saß, bis zu den Maschiuenbanetablisscments der Gegenwart,
welch große Anzahl z. B. von Eiscngcwerbcn ist entstanden und untergegangen. Wo sind
die Plattner, Harnischmacher, Bogner und Haubcnschmicdc hin, trotzige Gesellen, welche
im Mittelalter mit breiten Schritten dnrch die Straßen ihrer Städte gingen und in
blutigen Händeln zuweilen ihre Werkstücke an den Leibern der Junker zerklopften, für
welche sie gearbeitet hatten? Und noch in der Gegenwart gehen Handwerke unter, so die
Rätier, die Drahtzieher, welche zu unsrer Väter Zeit allbekannt waren. — Das Wert ist
kein undankbares Unternehmen; der Neugierige findet darin Material gesammelt, der
Romanschriftsteller kann darin interessante Studien machen, und der Hmidwerker selbst
lernt eine Vergangenheit kennen, mit welcher er immer noch dnrch viele Reminiscenzen
zusammenhängt.
Die Grenzbote» beginnen am 1, Januar 18!>!Z den XII. Jahrgang.
Die unterzeichnete Verlagshandlung erlaubt sich zur Prcimlmeration einzuladen
und bittet die Bestellungen möglich schnell ciufzngeben, damit in der Expedition kein
Anfenthglt eintritt. Asse, Riichsjlmdluiige» und Postmirl^r nehme» Reslelsuiigl'» mi.
Zu hoch gesteigerte Erwartungen sind das größte Unglück des Touristen.
Was hatte ich nicht Alles von der reizenden Lage des königlichen Lissabon
an den breiten Ufern des Tejo gehört und gelesen. Ein zweites Paradies sollte
Hiersein, und nichts auf der Welt sich mit dem Schauspiel vergleichen, wcunmanan
einem schönen Sommermorgen den Tejo hiuaussegelte, so hatte mir oft ein junger
gebildeter Portugiese, mit'dem mich der Zufall längere Zeit zusammengeführt,
versichert.
Solche frohe Hoffnungen trieben mich schon am grauenden Morgen aus dem
zwar eleganten, aber engen Schlafraum, als unser Schiff, der Jupiter, in die
Mündung desTejo hincinranschte. Man merkte augenblicklich, daß das Schiff
in die stärkere Strömung gerieth und gegen dieselbe hinan arbeiten mußte. Schon
vorher war ein portugiesischer Lootse zu uns am Bord gekommen, ein kleines
braungebranntes, dürres Männchen, ganz in einen weiten braunen Mantel von
grobem Wollenzeug gehüllt, stach er trübselig gegen die derben, rothwangigen
Matrosen unsres Schiffes, lauter echte Söhne Altenglands, ab. Und mit welcher
krächzenden Stimme ertheilte er in einem Gemisch von Englisch und Portugiesisch
dem Mister Smith, erstem Steuermann unsres Dampfers, seine Befehle, die dieser
mit sehr unwilligen! Gesicht darüber, jetzt wenigstens unter dem Befehl eines
tief von ihm verachteten Portugiesen stehn zu müssen, an die Leute verdolmetschte.
Es ist ein schöner mächtiger Srrvm dieser Tejo, hier wo er seine Fluthen dem
Ocean zuwälzt, und man könnte ihn seiner Breite und Tiefe wegen eher für eine
weit einschneidende Meeresbucht, als für ein Binnenwasser halten, trägt er doch
die mächtigste Kriegsflotte bis dicht vor die Mauern Lissabons. Die Ufer desselben
sind fruchtbar, voll südlicher Vegetation; reich bedeckt mit Dörfern, die sich
aus der Ferne besser als in der Nähe präsentiren, geschmückt mit Landhäusern,
Kirchen und den Trümmern alter Schlösser. Eine fortlaufende Reihe lieblicher
Bilder erfreut das Ange, großartige Eindrücke, die für das Leben bleiben, habe
ich aber auf der ganzen Fahrt nicht gewonnen. Hohe Berge oder gewaltige
Felsenmassen fehlen. So weit das Ange die Gestaltung des Landes vom Schiffe
aus verfolgen kann, ist dasselbe an beiden Ufern wellenförmig geformt und dabei
sehr reich bewaldet. Unter den vielen Ortschaften, die sich immer näher zusammen¬
drängen, je mehr mau sich der Hauptstadt nähert, fesselte Belem mit seinen Thür¬
men und weitläufigen Klosterhallen zumeist meine Aufmerksamkeit. Von grünen
Bäumen halb umschattet streckte es seine stattliche, lange Front am Strome hin.
Wo man ans Spaniens und Portugals Boden großartige Gebäude der ältern
Zeit sieht, da kann mau sicher sein, daß sie mit Hilfe des Klerus gestiftet sind und
religiösen Zwecken dienen mußten. Die Kraft beider Länder, vereint mit den
Schätzen der reichsten Kolonien Asiens und Amerika'S, diente einst so treu der
Kirche, und was hat sie a»S ihnen gemacht? Verdorben, verfallen sind diese beiden so
überaus reich von der Natur begabten Länder in geistiger, wie materieller Be¬
ziehung, und Portugal am meisten. Und wie herrlich ist dabei der Himmel, wie
fruchtbar der Erdboden! Spanien fängt an, sich, wenn anch nur langsam, zu
erholen, seit durch den Sieg der Christinv's die Priesterherrschaft wenigstens vor¬
läufig gebrochen wurde; Portugal aber scheint nicht mehr innere Kraft genug zu
besHen, sich wieder empor zu arbeiten.
Bald hinter Belem breitet Lisboa in seiner ganzen Länge sich am Flusse aus.
Eine gewaltige, weit ausgestreckte weiße Häusermasse, ermüdend in ihrer Ein¬
förmigkeit, ist das Ganze; kein Thurm erhebt sich stolz in den blauen Lüste»,
keine Kuppeln, Spitzen, Säulenhallen geben dem Ange einen Ruhepunkt; Alles
ist flach, monoton, daher leicht abspannend. Welch ganz andern Anblick z. B.
gewährt das alte Cöln, wie es sich mit seinen Thürmen und seltsam geformten
Gemäuern aus den Fluthen des Rheins erhebt. Und Constantinopel, Genua,
Venedig, selbst Algier, sie alle enthalten vom Meere ans gesehen ungleich viel
mehr Reize als die hochgepriesene portugiesische Hauptstadt. Was an ausgezeich¬
neten Gebäuden in derselbe» war, hat das bekannte furchtbare Erdbeben zum
größten Theil zerstört. Portugals Kraft war damals aber schon gebrochen, es
konnte seine Hauptstadt nicht mehr mit großartigen, anch von der Ferne imponi-
renden Gebäuden schmücken. Trotz dieser Monotonie gewährt übrigens die lange
Reihe der hohen weißen Häuser an dem breiten Strom einen stattlichen Anblick.
Dazu der belebte Hafen, der immer eine gute Zahl großer und kleiner Seeschiffe
enthält, wenn er sich freilich auch nicht mit dem von Marseille und Hamburg oder
gar vou London und Liverpool vergleichen kann. Besonders fremde Kriegsschiffe,
die sich ans dem Tejo für längere Zeit vor Anker legen, konnte man hier sehen.
Vorn an, ganz allein in republikanischen Stolz, lag eine schöne nordamerikanische
Segelfrcgatte von l>Z Kanonen. Ein schlankes Schiff, ein Meisterstück der Schiffs-
baukunst, in der es die Nordameril'alter so weit gebracht haben. Die sternen-
besäete Flagge der Vereinigten Staaten flatterte lustig in dem lauen Morgenwind,
vom Verdeck toute kriegerischer Trommel- und Pfeifenklang zu uns herüber. Eine
Strecke dahinter lagen zwei große Kricgödampfer der französischen Republik mit
ihrer Tricvlorflagge, Daß die Franzosen es verstehen, schöne Schiffe zu bauen,
wenn sie bisher auch weniger glücklich in ihrer Führung waren, konnte man anch
diesen Dampfern schon beim Vorüberfahren ansehen, und nicht ohne Neid erkannten
der Capitain und die übrigen Officiere des Jupiter diese Vorzüge an. Vou deu
Franzosen weit getrennt ankerte eine Flotille Ihrer Majestät der Königin Victoria.
Ein mächtiger Dreidecker von 1t>0 Kanonen trug die Admiralsflagge, zwei Segel¬
fregatten und ein Dampfer bildeten sein stattliches Gefolge. Mit einigen Schüssen
begrüßte unser Jupiter die Flagge seiner Königin und hißte am Vordertop seiue
Flagge mit dem Zeichen ans, daß er die königliche Post an Bord führe, (wenn
er auch sonst der Peninsular-Compagnie gehörte) und ein dumpftöueuder Schuß
erscholl zum Gegengruß von dem Bord des Admiralschisses. Englische Kanonen¬
schüsse können die Bewohner Lissabons gar hänfig hören.
Kaum hatte unser Dämpfer den Rauch ans seinem Schlot gelassen, so um¬
ringten eine Menge von Böten das Schiff. Zuerst kam die Douane an Bord
und ein Posten Douaniers blieb auf dem Deck, um zu verhindern, daß keine
Waaren heimlich an'S Land gebracht würden. Auch ein Sanirätsvffieier prüfte
die Papiere des Schiffs und der Passagiere, bevor er den freien Verkehr mit
dem Lande gestattete. So streng auch Alles ausgeforscht wurde, und so genau
auch die Douaniers in dem großen Gebäude am Commerz-Platz alle Sachen der
Passagiere, die sich an das Land setzen ließen, untersuchten, so wird doch vielleicht
in keinem Lande so viel und so offen geschmnggelt, als in Portugal. Alle Be¬
amte, hoch wie niedrig, werden bei der constanten kläglichen Ebbe aller Staats-
casstn äußerst unregelmäßig bezahlt und sind deshalb ans Betrug und Bestechung
offenbar angewiesen, wenn sie es nicht vorziehen, als ehrliche Leute zu verhungern.
ES ist möglich, daß so große Ehrlichkeit i» Portugal zuweilen vorkommt, ich habe
keinen derartigen Fall erfahren können; dagegen viele Geschichten, welche zeigen,
mit welcher Naivetät diese Bestechungen auf die unverschämteste Weise betrieben
werden. Da ich selbst alle meine Sachen im Schiff ließ, und auch die Nächte auf
demselben zubrachte, so war ich aller Dvuanen- und Polizei-Scherereien über¬
hoben, und konnte als ruhiger Zuschauer gemächlich die vielen komischen Scenen,
die sich mit meinen früheren Reisegefährten zutrugen, betrachten. Und doch anch
hier mußte ich auf's Neue empfinden, welchen Rang ein Deutscher — wenn er
uicht eben ein Preuße oder Oestreicher ist,— indem großen europäischen Weltver¬
kehr einnimmt. Von allen Passagieren unsres Dämpfers, die in Lissabon blieben,
wurde keiner von den Zoll- und Polizei-Behörden so willkürlich behandelt, so
mit nutzlosen Förmlichkeiten gequält, so verächtlich' über die Achseln angesehen, wie
ein armer deutscher Handwerker der von einem deutschen Meister nach Lissabon
engagirt war. Selbst die widerlichen maltesischen Handelsleute, das ärgste, un-
verschämteste Gesindel der Welt, wurde mit sichtbar größerer Achtung behandelt,
als dieser arme Hesse, der sonst guter Leute Kind und in ganz anständiger Klei¬
dung war. Aber freilich das englische General-Consulat hatte einen Beamten auf
die Douane gesandt, der sich Aller, die mit englischen Passen versehen waren,
mit Rath und That annehmen mußte; und was ein Engländer in Spanien und
Portugal will, das geschieht gewiß. Vou der Existenz des Kurfürstenthums
Hessen wußten übrigens auch die höheren Beamten auf der Douane kein Wort.
Das Erste, was dem Fremden im Hafen von Lissabon und noch mehr in
der Stadt ausfallen wird, sind die vielen Neger. Selbst in Algier grinsen den
Fremden uicht so viele schwarze Gesichter mit krausen Wvllköpfen an, wie hier.
Die frühere enge Verbindung Portugals mit dem Sclavenstaat Brasilien muß
bewirkt haben, daß man unter den Lastträgern, Kutschern, Bootsführern fast mehr
schwarze als weiße Gesichter sieht. Auch zu höheren Stellen haben sich dieselben
wacker emporgearbeitet. Ich trat in 'einen Laden, Papier zu kaufen, der Laden¬
gehilse war ein Vvllblntueger, sehr elegant mit brennend rother Halsbinde, blauer
Weste, und mächtigen weißen Vatermördern angethan, die von dem schwarzen Ge¬
sicht angenehm abstachen. Er war ein höchst elegant gepichter schwarzer Dandy mit
einem sehr lächerlichen, affectirter Benehmen.
Außer den Negern findet mau als Wasserträger und bei anderen körperlich
angreifenden Arbeiten viele „Gallego's" (Gallicier) auf deu Straße» von Lissabon,
schlanke, starke Männer von einem fast nordischen Ausdruck in Gesichtsbildung
und Körperbau, die sich vou deu kleinen schwächliche», ausgebrannten Portugiesen
ans den ersten Blick unterscheiden. — Aber diese Portugiesen! Eine häßlichere
Bevölkerung wie die von Lissabon habe ich nie in meinem Leben gesehen. Man
vermißte hier schmerzlich die nervigen Spanierinnen mit ihren zierlichen Füßchen,
dem elastisch stolzen Gang, den edelen ovalen Gesichtern und blitzenden Augen,
die ich in Cadix Tage laug bewundert hatte. Fast alle Portugiesinnen, die
ich sah, vou der vornehmen Edeldame, die sich in ihrer alterthümlichen, reich
vergoldeten Kutsche daher schleppen ließ, bis ans das Dienstmädchen im Gasthofe,
waren geradezu häßlich. Selten nnr traf man erträgliche Gesichter, noch seltener
hübsche, und Schönheiten, wie man sie in Cadix zu Dutzenden sieht, habe ich
während meines Aufenthaltes in Portugals Hauptstadt weder auf deu Gassen,
noch im Theater, noch in den Häusern gesehen. Sie mögen vorhanden sein, aber
sie sind schwer zu finden. Der Wuchs der meisten Frauen ist klein und untersetzt,
der Gang zu watschelig, um graciös zu sein; dazu häufig ein rundes Gesicht, eine
dicke, aufgestutzte Nase, plumpe, aufgeworfene Lippen und eine unreine gelbliche
Hautfarbe. Nur die schwarzen Haare sind reich und schön, und die dunkelen
Augen zeigen den lebendigen südlichen Ausdruck, obgleich auch diese mir in Spanien
viel strahlender und feuriger erschiene»; auch fehlt die reizende Nationaltracht der
Spanierinnen hier gänzlich, und alle Frauen, vornehm wie gering, waren ganz in
der Art, wie man sie in den südfranzösischen Hafenstädten sieht, gekleidet. Eben
so häßlich wie das weibliche Geschlecht ist fast durchgehend die Männerwelt,
vornehm wie gering. Nur unter den sehr geschmackvoll und dabei auffallender
Weise anch reinlich und ordentlich nniformirtcn Soldaten und Officieren sah man
schlanke, kräftige Gestalten mit theilweise hübschen Gesichtern; sonst haben die hiesigen
Männer vielfach ein sehr verkümmertes schwächliches Aeußere und häßliche Gesichter.
Besonders fielen mir die vielen Schleier und Einäugigen unter dem Volte ans, und
unter den mittleren Ständen die ungemein große Zahl von Brillenträgern, die
man übrigens auch in Spanien sieht. Eine Nationaltracht fand ich anch bei den
Männern nicht, außer daß die unteren Stände, selbst bei der drückenden Julihitze,
oft lange weite Mäntel von grobem braunem Tuch trugen. Alt und Jung, vor¬
nehm und gering führte zum Schutz gegen die Sonnenstrahlen fast stets einen
großen Regenschirm von rother, selten von schwarzer Farbe bei sich.
Angenehm dagegen berührt den Fremden, schon bei seinem ersten Gang dnrch
die Stadt, eine auffallend große Höflichkeit. Der Spanier ist in stolzer Weise
höflich, der Portugiese aber außerordentlich zuvorkommend, ohne daß dabei ein
Interesse des Eigennutzes durchblickt. Jeder Maun, vornehm wie gering, den
man ans der Straße anredet und um irgend Etwas fragt, wird augenblicklich den
Hut abziehen, selbst wenn der Anredende diese Form versäumen sollte. Nirgend
habe ich ein so beständiges Grüßen auf der Straße gesehen wie hier. Die Hut-
macher müssen gute Geschäfte macheu, daher mag es auch komme», daß man in
Lissabon eine verhältnißmäßig so große Zahl von eleganten Hutmacherlädcu findet.
Auch in näherem Verkehr sind die Portugiesen von Lissabon ungemein gefällig und
zuvorkommend, und überhäufen deu Fremden förmlich mit Artigkeiten. So war
ich z. B. auf der Fahrt von Cadix bis Lissabon mit einem jungen Kaufmann,
der Agenturgeschäfte für ein französisches Haus besorgte, übrigens ein echter Por¬
tugiese war, oberflächlich bekannt worden. Mit einer Dienstfertigkeit und Gefällig¬
keit, wie ich sie von meinem besten Freund nicht hätte besser erwarten können,
widmete der Manu mir jejzt einen großen Theil seiner Zeit, und war ein ungemein
eifriger und dabei angenehmer Führer in Lissabon, mir um so werther, da er
fertig Französisch sprach.
Die ersten Straßen und Plätze, welche der vom Tajo kommende Fremde in
Lissabon betritt, sind großartig und schön. Der Commerzplatz, dessen eine Seite
ans den Fluß sieht, kaun es in Großartigkeit der Anlage, und selbst der einzelnen
Gebäude, die ihn umgeben, mit den schönsten Plätzen Deutschlands und Frank¬
reichs, einige Glanzpunkte in Paris und Berlin etwa abgerechnet, aufnehmen.
Sämmtliche Ministerhotels liegeu an diesem Platz, und auch von den Gesandt¬
schaften und Consulaten haben mehrere die Zeichen ihrer Staaten hier aufgehängt.
Auch das Pflaster ist in diesem Stadttheil ganz gnr, und die Unreinlichkeit nicht
großer, als man sie in Südeuropa gewohnt ist. Nicht weniger reinlich —
wohl gemerkt nach portugiesischem Maßstabe, denn ein Holländer würde schon
dies für den Inbegriff aller Unflätherei halten — sehen noch einige andere große
breite Straßen mit stattlichen Häusern in der Nähe dieses Platzes aus. Fremde
Kaufleute, die hier wohnen, sollen aus eigenen Mitteln einige Gallego's besolden,
welche deu allergröbsten Schmuz wöchentlich einige Mal entfernen und in den Fluß
werfen. So wie mau aber mehr in das Innere der Stadt kommt, in diese un-
gemein steilen Straßen Berg ans, Berg ab, die ein schwerer Wagen ohne Hemm-
schuh gar nicht befahren konnte, beginnt eine Herrschaft des Schurzes, von der
man sich bei uns in Deutschland durchaus keine» Begriff machen kann. Wenn
man, wie es bei mir der Fall war, aus algierischen Städten kommt, ist Ange und
Nase in Allem, was Reinlichkeit anbetrifft, wahrlich nicht verwöhnt, aber über
diesen Schmuz aller Art, der die Luft förmlich verpestete, war ich doch erstaunt.
Man denke, die ganze große Stadt von 27!i,000 Einwohnern besitzt keine öffent¬
liche Straßenreinignng, keine Kloaken oder Abzugsgräben irgend einer Art. Aller
Unrath ans den Häusern, selbst der schmuzigste und widerlichste, wird ohne Wei¬
teres auf die Gassen geworfen, welche den allgemeinen Mistplatz der ganzen Be¬
völkerung bilden. Hier bleibt er in großen und kleinen Haufen ruhig liegen, bis
die Sonne ihn verdunstet, oder die 10—1-1,000 herrenlosen Hunde, die sich Tag
und Nacht auf den Gassen umhertreiben, ihn auffressen. Diese herrenlosen Hunde
sind von der verschiedensten Race, aber durchgängig so ekelhafte, verwilderte und
verkommene Bestien, daß selbst der eifrigste Hundefrennd sich mit Widerwillen
von ihnen fortwenden wird. Sie vermehren natürlich die vielen Schmuzbilder
ans deu Straße», wo sie sich begatten, ihr Wochenbett halte», oder ihr Sterbe¬
lager finde», wo auch ihre Leichname ungestört liegen bleiben, bis die übrigen
halb verhungerten Gefährten sie aufgefressen haben. Die Angen der portugie¬
sischen Damen müssen ganz anders als die unsrigen organisirt sein, denn sie
finden in allen diesen schmuzigen Scenen nichts Widerliches, und ihre Geruchs-
organe sind abgestumpft, wie bei uns nur die jener sehr nützlichen Menschenrasse,
welche ans der Reinigung der Cloaken ihren Lebensberuf macht. Ich habe ge-.
sehen, daß zwei portugiesische Damen in ihren alterthümlichen Carossen an einer
Stelle halten blieben und eine gemüthliche Conversation mit einander begannen,
wo ein mehrere Fuß hoher Kothhaufen ein solch furchtbares Miasma aushauchte,
daß wir mit Taschentüchern vor der Nase eiligst seiner Nähe entflohen.
Auch in anderen Dingen herrscht eine merkwürdige Unbefangenheit, und noch
andere, als niederländische Genrebilder kann man hier an allen Ecken und
Winkeln sehen, ohne daß selbst die Angen der jungen Fräuleins, die fast den
ganzen Tag anf ihren Balkonen zuzubringen Pflegen, bemerkenswerthen Anstoß
daran nehmen. Hier liegt eine Bcttlerfamilie halb nackt und nnr mit Fetzen be¬
kleidet, und die Fran stellt mit günstigem Erfolg eine Jagd auf dem Kopfe ihres
Mannes an, an der andern Ecke kauert ein portugiesischer Bauer und benutzt
mit haarsträubender Seelenruhe die Straße zu einer menschlichen Thätigkeit, für
die man sonst die größte Zurückgezogenheit zweckmäßig hält. Solche Scenen
kann man am hellen Tage überall ans den Gassen und Plätzen der königlichen
Hauptstadt sehen. Des Nachts sind die Straßen für einen Fußgänger gar nicht
zu passiren, und ich möchte in der Dunkelheit lieber die gefährlichsten Alpenwege
beschreiten, als eine längere Wanderung dnrch das Häuserlabyrinth Lissabons machen.
Schon die Hunde, die dann überall in Hansen umherliegen, erheben gegen den
Wanderer, der sie in ihrer Ruhe stört, ein wüthendes Geheul und weise» ihm
grimmig die Zähne. Man hat diese eckelhafter Thiere wiederholt auszurotten ver¬
sucht, hat das aber stets wieder aufgegeben, da sie wenigstens einen Theil des
Straßenschmnzes vertilgen. Nimmt ihre Zahl aber zu sehr überHand, so schlagen
die Abdecker einige Tausende todt, und werfen die Leichname in den Tejo. Nach
wenigen Monaten soll aber eine solche Abnahme wieder völlig ausgeglichen sein.
Merkwürdig ist, daß diese Hunde, so räubig und mit Aussatz besetzt sie auch
oft aussehen, doch niemals von der Tollwuth angesteckt werden sollen.
Mögen die Leser mir verzeihen, daß ich so lange bei diesen häßlichen Din¬
gen verweilt habe. Schmuz, Gestank, Straßenbettler und Hunde bilden so wesent¬
liche Elemente von Lissabon, daß man sie selbst bei der flüchtigsten Schilderung
dieser Stadt nicht übergehen kann. War es mir doch auf vielen Straßen nicht
möglich zu weilen, ohne ein mit illo ne OoloZnö getränktes Taschentuch vor die
Nase zu halten.
Was hier ferner auffällt, sind die, vielen Affen und Papageien, die man
überall auf den Balkonen angekettet sieht. Jedes Haus fast hat mehrere solcher
unruhiger und schreiender Gäste. Wir machten uns den Spaß und zählten, daß
auf den verschiedenen Balkonen von fünf größeren Häusern ans der >'ur0»,
I'.mmiwi-l;« 11 Affen und 17 Papageien an Ketten befestigt saßen; die Vögel
krächzten, die Affen schnitten Gesichter, wiesen uns das Gesäß, und warfen Scha¬
len ans die Straße.
Die Balkone, dnrch Vcrcmdas vor der Sonne geschützt, dienen einem großen
Theil der weiblichen Bevölkerung Lissabons fast zum regelmäßigen Anfenthalt.
Anständige Frauen zu Fuße sieht mau nur in geringer Zahl ans den Gassen,
deren Zustand auch das Spazierengehen fast unmöglich macht. Selbst für
Herren hat das Gehen, bei dem man beständig ans den Weg sehen muß,
wenig Einladendes, zumal der Weg fast immer Berg auf, Berg ab führt; weshalb
man sich sehr häufig der Cabriolets bedient. Es sind dies eigenthümliche Wagen,
die sehr hohe Hinterräder und niedere Vorderräder haben, und zwei bis drei
Personen sassen. Zwei abgetriebene Gäule oder auch Maulthiere ziehen dieselben.
Auf dem einen sitzt der Postillon mit hohen Stiefeln, rundem Glanzledcrhnt,
Lederhosen und einer kurzen hellfarbigen Jacke, Alles zwar nach portugiesischer
Art etwas schmuzig, in der Ferne aber gar nicht übel aussehend. Wir mietheten
uns für die Tage unsres Aufenthalts ein solches Cabriolet mit zwei erträglichen
Pferden, und einem alten weißköpfigen Kutscher, der früher in dem Stall von
Dom Miguel angestellt gewesen war. Ein kleiner komischer Kauz, stets vergnügt,
und dabei von einer Höflichkeit und Gefälligkeit, von der ich nur die Hälfte
unsren deutschen Fiakern wünschen mochte. Obgleich wir kein Wort vou seinen
Plaudereien verstanden und ihm daher nie antworteten, so war seine Zunge doch
unermüdlich.
Da meine Reisegefährten Engländer waren, so kehrten wir auch in dem
englischen Hotel ein. Allen Comfort, den der beste französische oder deutsche Gast-
Hof gewähren kaun, findet man in diesem englischen Hotel in Lissabon vereinigt.
Von all dem Unrath der Straße plötzlich in ängstlich reinlich gehaltene Zimmer
mit vollkommen englischer Einrichtung versetzt zu werden, gewährt doppelten Genuß,
wofür mau gern die uicht wohlfeilen Preise bezahlt. Aehnliche gut eingerichtete
englische Gasthöfe trifft mau übrigens in allen bedeutenderen Städten am Mittel-
meer. Wer nicht gar zu ökonomisch reisen will, dem möchte ich die englischen
Hotels stets empfehlen, denn er wird sicher sein, große Ordnung und Reinlichkeit
in ihnen zu finden, Dinge, die man im Süden nur allzu häufig entbehren muß.
Auch trifft mau in allen englischen Hotels Kellner und Lohndiener, die Fran¬
zösisch sprechen. In Lissabon, wo viele deutsche Kaufleute leben und anch unter
dem Schutz der preußischen Gesandtschaft deutscher protestantischer Gottesdienst
und deutsche Schule gehalten wird, soll auch, wie man mir später sagte, el» ganz
empfehlenswerter deutscher Gasthof sein, in dem die Capitaine der norddeutschen
Handelsschiffe viel verkehren. Ich habe ihn nicht besucht, überhaupt in Lissabon
selbst keinen einzigen Deutschen gesprochen.
Herrlich ist die Aussicht, die mau von der Terrasse des hochgelegenen eng¬
lischen Hotels genießt. Ein großer Theil der Stadt mit ihren flachen Dächern
und vielen Balkonen, die fast alle mit blühenden Sträuchen besetzt sind, die Zin¬
nen und Thürme der zahllosen Kirchen, von denen ein großer Theil leider dem
gänzlichen Verfall entgegengeht, breitet sich hier zu den Füßen des Sitzenden ans,
und hinter der Stadt der schöne breite Tejo mit seinen üppig grünen Ufern.
Man rastet auf dieser Terrasse, die ganz mit hochstämmigen, blühenden Mandel-
nnd Orangebäumen besetzt ist, wie auf einer Insel, auf die man aus den Ge¬
fahren des Meeres gerettet ist.
Der erste Ausflug, den wir von diesem Asyl aus machten, nachdem wir
am Morgen einige Stunden der Krenz und Quer in der Stadt herumgegangen
und gefahren waren, uns die verschiedenen Bilder des Straßenlebens zu beschauen,
ging uach dem stolz, auf einsamem Hügel gelegenen Palast von Ajuda, von
dessen Fenstern aus man eine köstliche Aussicht hat. Von diesem Palast ist nur
das Mittelgebäude vollendet, es ist ganz mit Marmor bekleidet, der Ban nach
großartigen Verhältnissen angelegt. Wie oft in Spanien und Portugal, reichte
aber später das Geld nicht aus, um den angefangenen Plan zu vollenden; man
gab den Ban auf, und ließ das schou Gedanke wieder in Trümmer zerfallen. In
keiner Stadt der Welt habe ich so viel Trümmer aller Art gefunden. Ein großer
Theil der Paläste und Kirchen, welche das furchtbare Erdbeben von-176!) zerstörte,
ist nicht wieder ausgebaut worden, und liegt noch jetzt in Schutthaufen da. Sieht
man übrigens irgend ein tüchtiges Gebäude, eine gute Straße, eine großartige
Anlage in Lissabon, ja Portugal, so kaun mau sicher sein, daß der Minister
Pombal der Gründer derselben war. Dieser seltene Mann hat während seiner
Herrschaft von 17!i0—1777, wo er Portugal fast allein regierte, mehr für dasselbe
gethan, als alle Regenten nach ihm. Wären nach ihm die Regierungen nicht so
gar Schwank) und übelgeleitet gewesen, das von der Natur so begünstigte Laud
befände sich in ganz anderem Zustande. Nur Dom Pedro, dessen früher Tod
bedauert wird, suchte einige Ordnung in die zerrütteten portugiesischen Verhältnisse
zu bringen. So ist es auch jetzt noch arg, und der Marschall Saldanha, so zwei¬
deutige» Charakter er auch sonst besitzt, wird als der einzige Staatsmann von
Talent und Kraft im ganzen Lande bezeichnet. Beides erscheint einen» Fremden frei¬
lich nicht groß, indeß scheint das Maß für menschliche Große und Kraft in Por¬
tugal um mehrere Zoll kleiner zu sein, als in Deutschland.
Nicht sehr weit vom Ajnda-Palast, dessen Inneres wenige Sehens¬
würdigkeiten hat und sehr kahl und ode aussieht, liegen die großen Gebäude des
berühmten Klosters von Belem, ebenfalls zur Hälfte in Trümmern. Es muß
nach der Größe, der Anlage und der Pracht der Ausführung früher ein reiches
Nieseuklvster gewesen sein, dessen Mönche über königliche Schätze zu gebieten
hatten. Jetzt ist eine Art Waisenhaus oder Erziehungsanstalt für arme Kinder
in den noch wohlerhaltenen Theilen des Gebäudes, die ich nicht besah. Am
Abend besuchten wir das von Außen ganz elegant aussehende Theater „Donna
Maria" ans der „Praca Dom-Pedro", einem hübschen Platz. Portugiesische Schau¬
spieler führten ein Trauerspiel, ich weiß uicht von welchem Autor, ans. Sie
schrien noch heftiger und gestikulirtcn uoch verzweifelter mit den Armen in der Luft
herum, als man es von den unzähligen schlechten Schauspielern im übrigen Europa
zu scheu gewohnt ist. Das Theater war übrigens nur schwach besucht. Der erste
Raug ist sehr elegant, von Marmorsäulen getragen, er wies nur wenige Inländer.
Unter den Schauspielerinnen war ein hübsches pikantes Gesicht; die übrigen warm
häßlich, klein von Gestalt und geschmacklos im Anzug. Unser Lohnbedieuter, ein
abgefeimter Schuft, lud meinen englischen Gefährten ein, für die Stimme vou fünf
Guineen ein Souper bei der hübschen Tragödi» einzunehmen. Große Sittenstrenge
scheint gerade nicht zu deu Vorzügen von Lissabon zu gehören, wenigstens drängt
sich die Kuppelei dein Fremden mit auffallender Zudringlichkeit entgegen. In einem
Lande, wo alle Verhältnisse so tief zerrüttet sind, und wo es zu den Ausnahmen
schort, wenn ein Beamter regelmäßig seine Bezahlung erhält, darf so etwas frei¬
lich nicht verwundern.
Da die Umgegend von Lissabon dem Fremden viel mehr bietet als die Stadt
selbst, so fuhren wir am andern Tage noch in den kühlen Morgenstunden nach
Cintra, das 3 Meilen entfernt ist. Ein reizender Weg führt Berg auf Berg ab,
oft so in der Nähe des Tejo, daß man die Schiffe auf ihm zählen kann, dann
wieder unter Bäumen von wahrhaft tropischem Wuchs. Man sieht hier den
ganzen Reichthum der Natur, aber anch die grenzenlose Verfallenheit des Landes.
Kein geschäftlicher Verkehr, keine belebende Thätigkeit irgend einer Art, sobald
man ans den Thoren der Stadt tritt. Ganze Strecken Landes liegen unbebaut
und mit Gesträuch bedeckt zu beiden Seiten des verwahrlosten Weges, und
harren vergebens der fleißigen Hand des Behälters. Doch soll Lissabon und
seine Umgebung von der faulsten und indolentesten Bevölkerung des Landes be¬
wohnt sein; in deu übrigen Provinzen, besonders den nördlichen, herrscht ein
größerer Fleiß und mehr Thatkraft. Namentlich in den Weinbcmdistricten arbeiten
die Winzer hart und eifrig. Auf der Hälfte des Weges liegt das königliche
Schloß Qucluz, wo wir anhielten. Hier hauste Don Miguel während seiner
Herrschaft, die dem Lande so viel Blut kostete. Ein Engländer, der schon da¬
mals in Portugal lebte, schilderte mit lebhaften Farben die vielen Züge von
Grausamkeit und Rohheit, welche die Negierung dieses Herrn so merkwürdig
machten. So hatte er die unbequeme Gewohnheit, mit einem leichten Wagen,
der mit i muthigen Hengsten bespannt war, in vollem Galopp mitten in das
stärkste VvlkSgcwühl, besonders bei öffentlichen Heften und ähnlichen Gelegen¬
heiten, hineinzujagen. Das Schreien der flüchtenden Menschen und die vielen
komischen Scenen bei der allgemeinen Flucht sollen ihm die größte Frende gemacht
haben. Dann hatte er wol, wenn er gerade guter Laune war, die Herzensgüte,
deu Beschädigtem einige Crnsado's als Almosen hingeworfen. Eine andere Ge¬
schichte ist in den englische« Familie» Lissabons allgemein bekannt und wird gern
erzählt. Ein englischer Capitain auf Halbsold ging mit seiner jungen schönen
Gattin und noch einem Freunde ans der reizend gelegenen Terrasse von Alcantara
spazieren. Hier begegnet ihnen Dom Miguel mit seinem vertrauten Freund, einem
ehemaligen Barbier oder so etwas, deu er zum Baron von Qnclnz gemacht hatte,
und trunkenen Muthes, fingen diese Beiden an, die größten Jncvnvenienzen gegen
die Dame zu begehen, wollten sie öffentlich küssen und dergleichen mehr. Es
waren aber derbe Engländer, an welche der portugiesische Herrscher diesmal ge¬
rathen war, und diese verstanden keinen Spaß, sondern boxten ihn mit seinem
feigen Begleiter sogleich nieder, und hieben Beide tüchtig mit ihren Nohrstöcken
durch. Der vor Wuth schäumende Herr schickte, als er aus ihren Händen ent^
kommen war, sogleich nach einer Patrouille, und die Ehrenmänner hätten ihre
That wol mit ihrem Leben büßen müssen, wenn sie in die Hände derselben ge-
fallen wären. Glücklicher Weise erreichten sie aber noch ein Boot und flüchteten
an Bord eines englische» Linienschiffes, das im Tajo vor Anker lag. Der König
schickte wiederholt seinen Adjutanten ans das Schiff und verlangte die Auslieferung
seiner Züchtiger, die ihm aber natürlich verweigert ward. Zornig ließ er endlich
zwei Batterien auffahren und drohte, das englische Schiff zu beschießen. Als
dem Capitain diese Drohung gemeldet ward, blickte er den Adjutanten Dom
Miguel's etwas spöttisch an, ließ das Schiff mit der Breitseite gegen die Batterie
wenden und das Signal geben: „Fertig machen zum Gefecht." Als der König
diesen Ernst sah, ließ er die ganze Sache fallen, und hat nicht weiter ans der
Bestrafung bestanden.
Das Andenken dieses Mannes ist noch jetzt besonders in Lissabon, das Zeuge
seiner Neigungen und despotischen Gelüste war, sehr verhaßt. Nur ein Theil
des Adels und des Klerus, die durch ihn ihre alten Privilegien wieder zu ge¬
winnen hoffen, und das von diesen bearbeitete Landvolk einiger Gegenden wünschen
seine Herrschaft zurück. Seine Tage werden aber niemals wiederkehren; denn
England, dessen Einfluß in Portugal allmächtig ist und stets bleiben wird, da
von seinem Gelde fast daS ganze Land lebt, kann so capriciöse unberechenbare Cha¬
raktere, wie Dom Miguel, aus dem portugiesischen Throne nicht wünschen. Ein
Paar englische Kriegsschiffe vor Lissabon und Oporto machen jeden Herrscher
unmöglich, der mit dem Cabinet von Se. James in Feindschaft lebt.
In Cintra kamen wir schon gegen 8 Uhr Morgens an. Die Lage des Ortes
ist reizend. Große Haine von Citronen- und Orangebäumen mit goldenen Früch¬
ten und silberweißen Blüthen zugleich bedeckt, dazwischen Hecken und Lauben vou
Lorbeeren und Myrthen, währeud der Heliotrop mit seinen lieblich duftenden
Blüthen alle Mauern, wie bei uus der Epheu, umrankt. Eine üppig bewachsene,
grüne Ebene zieht sich von dem Schloß, welches am Fuß hoher, in ihren Spitzen
oben wild zerklüfteter Kalksteinfelsen liegt, bis zum Meere hin. Unten der atlan¬
tische Ocean mit seinen schäumenden Wellen, und wieder die verschiedenen Berg¬
landschaften, abwechselnd mit idyllischen, großartigen, wild zerrissenen und schauer¬
lichen Umrissen und Formen, das Alles zusammen giebt dem Ort seinen
unbeschreiblichen Reiz. Mir sind wenige Plätze in Europa bekannt, in denen sich
so anmuthig eine Villegmtura halten ließ. Der volle Zauber des Südens, der so
mächtig, daß Jeder, der ihn einmal empfunden, immer wieder zu ihm hingezogen
wird, ist hier auf einem Erdfleck vereinigt. Die Engländer mit ihrer praktischen
Umsicht haben die Reize vou Cintra wohl erkannt, und eine ganze Kolonie eng¬
lischer Familien hat sich auf kürzere oder längere Zeit hier niedergelassen; daher
findet man anch einen sehr comfortabel eingerichteten englischen Gasthof hier.
Auch von den portugiesischen Adclfamilieu haben mehrere vortrefflich gelegene
„Qnintas" — Landhäuser mit weitläufigen Gärten — in denen sie einen Theil
des Jahres verbringen. Schon ans hundert Schritte kann man übrigens erkennen,
ob eine Besitzung von Engländern oder Portugiesen bewohnt wird. Bei Ersteren
Ordnung und Reinlichkeit in der ganzen Umgebung, alle Wege der Gärten von
Unkraut gesäubert, die Bäume in ihrem Wachsthum geregelt, die Staketen oder
Mauern in gutem Stand gehalten; bei den Portugiesen hingegen trotz aller Pracht
Unordnung und Verfall, wohin das Auge um . sieht. Die Gitterthore eines Parks
zeigen vielleicht in kunstvoller Arbeit ein reich vergoldetes HerzogSwappcn, aber
daneben klafft eine breite Lücke in der dem Einsturz nahen Mauer, das Bassin
der Fontaine im Garten ist vom schönsten Marmor, Alles aber mit grauem Moose
und Wucherpflanzen dicht überzogen, da nie eine reinigende Hand sich zeigt,
schöne Marmorsäule» tragen den Balkon des Hauses, aber zerbrochene Fenster¬
scheiben daneben sind mit altem Papier verklebt, und so fort; nur selten ein har¬
monisches Ganze, fast nirgend Fleiß, Sorgfalt und Sauberkeit, Dinge, die den
Meisten in Portugal kaum dem Namen nach bekannt scheinen. So hielt vor
einer dieser „Qnintas," einem großartigen Gebände, eine sehr elegante Equipage,
in die eine vornehme Dame stieg. Der Wagen, mit einer geschlossenen Krone
darauf, war vou der besten englischen Arbeit, aber seit Wochen nicht mehr ab-
gewaschen, das Geschirr der schönen andalusischen Hengste reich mit — vielleicht
gediegenem — Silber beschlagen, aber so unordentlich gehalten, daß statt der
verdorbenen Schnallen das Riemenzeug an mehreren Stellen mit gewöhnlichem
Bindfaden zngebändclt war, der Kutscher trug eine vou breiten Goldborten star¬
rende Livree, aber aus einem Loche am Ellenbogen schaute naiv ein überaus
schmuziges Hemd hervor, und eben so schmuzig sahen die beiden Lakaien trotz
ihren kurze», gelben Kniehosen und gclbbeblechten Fracks ans. Eine solche Equi¬
page wäre i» England, Frankreich, Deutschland unmöglich. Ich habe, seitdem
ich in Lissabon war, den Italienern oft im Stillen Abbitte gethan, daß ich sie
bisher für die schmuzigste und unordentlichste aller civilisirten Nationen in Europa
gehalten.
Das Schloß von Cintra, in dem die königliche Familie sich während
der Sommermonate größtentheils aufhält, ist ein ziemlich großes, sehr
alterthümliches Gebäude mit einigen hohen, häßlichen Thürmen. Die in¬
neren Theile des Schloßes, die wir beschallten, sahen sehr einfach, und
etwas verwahrlost aus. Daß das hübsche Buch des Herrn von Malortie in
Hannover: „Ueber die Kunst eine Hofhaltung zu führen" von seine»! Collegen
in Lissabon noch nicht benntzr ward, merkte man an dem unordentlichen Anzug der
sich müssig umhertreibenden Lakaien und anderer Hofbedienten und dem wüste»
Aussehen der Schloßhofe, Gänge u. s. w. Nur durch einen guten Marstall, der
sehr edle englische, spanische und maurische Rosse enthält, soll der königliche Hof
in Portugal jetzt noch Luxus treiben, sonst aber ungemci» einfach leben, obgleich
er einen Schwarm von hohen und niederen Hosbeamte» aller Art um sich hat.
Von der Königin und ihrem Gemahl dem König, spricht man i» Portugal sehr
wenig, weder Gutes noch Böses, im Ganzen scheint mir der König, welcher per¬
sönlich sehr gutherzig, höflich, zuverlässig genannt wird, trotz seiner deutschen Ab¬
kunft mehr beliebt zu sein, als die etwas stolze zurückhaltende Königin. Großen
politischen Einfluß hat auch der König nicht, und mit warmer Theilnahme hörte
ich die Erzählungen der Fremden über die Schwierigkeiten seiner Stellung. Der
gute Herr hat zuletzt doch kein glückliches Loos. Als Symptom, wie arg hier
die finanzielle Zerrüttung sei, wurde mir erzählt, daß ein englisches Hans dem
König uur auf dessen persönlichen Wechsel erst kurz vor meiner Ankunft 4000
Pfund Sterling geliehen, damit die nothwendigen laufenden Ausgaben der Hof¬
haltung bezahlt werden könnten. Seitdem ist der König allerdings Erbe seines
Vaters geworden, und sein persönlicher Reichthum wird mehr als seine vortreff¬
lichen Eigenschaften den Portugiesen imponiren. Besonders der jetzt verbannte,
früher allmächtige „Costa Cabral" Graf von Se. Thomas, wurde allgemein als
der Fluch des Landes bezeichnet.
Unser Mittagsmahl in Cintra nahmen wir bei der Familie eines englischen
Obersten ein, die daselbst wohnte, Verwandte eines Reisegefährten, die so freund¬
lich gewesen waren, mich einzuladen. Die Quinta, welche der Oberst ans zwei
Jahre gemiethet hatte, war zwar nur ein kleines, aber reizend gelegenes Gebäude.
Englischer Comfort einte sich hier mit der ganzen Fülle und Ueppigkeit südlicher
Vegetation. Wir dinirten nach englischer Weise, unter einem Sonnendach,
das von einem großen Citronenbaum getragen wurde, dazu die Aussicht auf das
unendliche Meer, angenehme Gesellschaft und ein treffliches Mahl, was kann der
Mensch mehr verlangen! Ich erinnere mich nicht, jemals anmuthiger gespeist zu
haben, obgleich meine Tischnachbarin, eine blauäugige, blondhaarige Jrländerin
eben so unvollkommen Französisch sprach, wie ich Englisch, so daß unsre Konver¬
sation alle Augenblicke in's Stocken gerieth, bis wir einander lachend zu helfen
suchten.
Nach Tische machten wir auf großen, muntern Eseln — gegen deutsche Esel
gehalten, waren es höchst feurige, phantastische Esel — die in Portugal häufig
zum Reiten benutzt werden, noch einen Spazierritt auf die Berge. So besuchten
wir auch eine große Quinta des Marquis Saldauha, die eine bezaubernde Lage
hatte. Der sehr große, weitläufige Garten mit riesigen Waldungen von Citronen-
bäumcn sah aber wieder recht verwahrlost aus. Unter den Leuten dieser Quinta
traf ich auch einen alten Deutschen, der 1809 mit der englisch-deutschen Legion
nach Portugal gekommen war und sich als Schmied daselbst niedergelassen hatte.
Der Mann, aus dem Harz gebürtig, konnte aber kaum noch etwas Deutsch sprechen
und war Portugiese in Sitte und Lebensgewohnheit geworden. Seine Frau war eine
Portugiesin, sein Sohn, der kein Wort Deutsch verstand, sah sehr portugiesisch
— oder vielmehr, Deutsch gesagt, ruppig aus, ein Enkelkind aber, ein Bube von
3—6 Jahren, der fast nackt herumlief, hatte die blauen Augen und blonden Haare
des Großvaters und eine trotzige, echt germanische Gesichtsbildung. Die große
Höflichkeit und Gutmüthigkeit der Portugiesen gegen Fremde, habe ich bei dem
Besuch dieser und noch einiger anderer Quinta's wieder bewundert. Alle, selbst
die Verwalter sprachen nur mit abgezogenem Hute und leisteten bereitwillig jede
nnr mögliche Gefälligkeit, ohne eine Belohnung dafür zu erwarten. Diese allgemeine
Dienstfertigkeit und herzliche Artigkeit aller Staude kauu mit manchen anderen
Uebelständen hier aussöhnen.
In der hellen Mondnacht fuhren wir nach Lissabon zurück. Warm und
linde war die Luft und ein süßes Aroma strömte aus den vielen blühenden Bäu¬
men und Sträuchern, an denen der Weg vorbeiführte. Der Zauber eines südlichen
Himmels umgab uns. Wiederholt begegneten wir unterwegs Patrouillen der Lissa¬
bons Muuicipalgarde, hübsche stattliche Leute vou militärischem Ansehen. Die
Unsicherheit in Cintra und ans dem Wege von Lissabon war nämlich so groß ge¬
worden, daß auf die Klagen mehrerer fremden Gesandten, die dort ihren Sommer-
aufenthalt haben, die Negierung sich endlich ganz gegen ihre Gewohnheit entschloß,
einige Schritte dagegen zu thun. Da es in ganz Portugal weder Gendarmen, noch
eine irgendwie geachtete Justiz giebt, so gehören Raub- und Mordanfällc dort zu
den gewöhnlichsten Dingen, die als lästige, aber unvermeidliche Uebelstände er¬
tragen werden. Nur in Lissabon und der Umgegend, wo der Hof sich häufig
aufhält und viele Fremde wohnen, besteht eine Muuicipalgarde, die recht thätig
sein soll, sonst haben die Verbrecher im ganzen übrigen Lande so ziemlich freies
Spiel. Ueber die allgemeine Käuflichkeit der Justiz hörte ich von Allen, die schon
länger im Königreich waren, nnr eine Stimme. Wer am meisten Geld zahlt, soll
sicher sein, zu gewinnen.
Einen doppelt unangenehmen Eindruck machte es, als wir aus der schönen
freien Natur mit ihren würzigen Blüthendüften, wieder in die übelriechenden Gassen
der Stadt einfuhren. Die Hausbewohner benutzen die Stille der Nacht, um
alles Entbehrliche ans Thür und Fenster auf die Straße zu schütten und zu
gießen. Ganze Rudel der halb verhungerten Hunde heulten und bellten und
machten sich die Beute aus den Unralhhanfcn mit wildem Gekläff streitig.
Da unser Dämpfer mit der Morgendämmerung abging, so blieb uns nur so
viel Zeit im Hotel, Thee zu trinken, dann ging es fort nach dem Hafen.
Auf der t'eaea, 6us Uamul!,u'W sahen wir eine Militärpatrouille einen
Menschen, der so eben in der Wuth einen Mord begangen hatte, verhaften. Es
war ein wildes, wüstes Bild, wohl für den Abschied aus dieser Stadt geeignet.
Das bleiche Licht des Mondes schien auf einen Hause» von schmuzigen, diebischen
Gesindel, wie es bei Nacht in den Straßen Lissabons hernmluugert. Es hatte sich
um den Mörder, der erst nach vielem Widerstand verhaftet ward, versammelt.
Wäre nicht die Furcht vor den Bayonnctten der Soldaten gewesen, es hätte den
.Kerl gewiß befreit; so begnügten sich die Gruppen, ihn zu bedauern und es un¬
gerecht zu finden, daß der arme Mensch bestraft werde» sollte.
Ans unsrem Dampfer war ein arges Gewühl, als wir an seinen Bord stie¬
gen. Eine Menge neuer Passagiere, darunter el» portugiesischer Grande mit
Frauen, Kindern, schlottriger Dienerschaft, Assen, Hunden, Papageien und ich
glaube uoch anderem Gethier, trieb sich auf dem Verdeck umher, und es dauerte
lange, bis Alles seinen gehörigen Platz fand.
Als die ersten Strahlen der Sonne den Tejo in rosiger Gluth zu färben
begannen, wandten wir der Königsstadt mit ihrem Glanz und Schirm; den Rücken.
Großbritanniens Kriegöflagge wurde, als wir vorüberfuhren, auf dem Linienschiff
bei der Reveille aufgezogen. Und donnernd schallte der Abschiedsgruß, mit welchem
wir die Flagge, die Herrin der Meere, begrüßten, in den stillen Morgen hinein.
An der Ecke vom New-Broad-Street und Westminster-Street, nicht weit von
der Bank, ist eine See-Assecuranz-Compagnie. Kommt man zwischen 10 und i
Uhr und fragt nach dem Director Mr. Ellis, so wird man in ein Zimmer ge¬
zeigt, woselbst ein kleiner, anscheinend finstrer Mann von ungefähr i0 Jahren
i» Policen und Büchern vertieft sitzt. Mit dem Schlage /, erhebt er sich, knöpft
seinen schwarzen Frack zu und geht — wohin? Ja, wenn diese Frage von der
griechischen Sphinx vorgelegt würde und es gälte dein Leben lieber Leser, Dn
würdest es dennoch nicht errathen. Wohlan, er geht, um Kindern Unterricht in
StaatSölonvmic zu ertheilen. Wollen die Leser mir gefälligst folgen, so werden
sie sich von der genauesten Wahrheit zu überzeugen, allein man muß darauf auch
vorbereitet sein, das, man anfangs mir eine unvollständige Vorstellung erhalte»
kann, wenn mau mitten in einen Schulcnrsuö hineintritt. Deshalb wollen wir
Hr. Ellis jeden Tag folgen, damit wir gleich den Bergwandcrern zuletzt eine
weite Aussicht gewinnen.
Zuerst gingen wir nach Chancery-laue woselbst eine Birckbeet-Schule für
Haudwerkskiudcr ist. Eine Birckbeet-Schule ist eine der sieben Schule», welche
Mr. Ellis auf eigene Kosten für 20,000errichtet und mit diesen Namen versehen
hat, weil er sich nie als den Stifter nennt, sondern stets einen vor 22 Jahren
verstorbenen »r. Birckbeek, dem er die erste Idee dazu verdauten will. Dies
verrathe ich Dir freilich zu früh lieber Leser; aber es erweckt vielleicht einen stillen
Respect bei Dir vor diesem Manne, der dich veranlaßt, mir desto bereitwilliger
zu folgen.
Die Schule selbst ist ein altes Gebäude und die Schulstube eine große,
runde, sehr hohe Halle mit amphitheatralisch geordneten Bänken rundherum auf
den Seiten und einigen Bänken in der Mitte. Augenblicklich waren mir die ersten
Classen anwesend, ungefähr Knaben von 8—12 Jahren. Wir machten die
Bekanntschaft des Inspectors Hr. John Nach, von Geburt ein Deutscher, so
wie serner von ö jungen Leuten, die den „Vorlesungen" beiwohnten, da Mr.
Ellis sie zum Lehrerfache erziehen ließ.
Die Knaben waren einfach, aber gut gekleidet. Es sind die Kinder von
den Handwerkern und kleineren 8in>öl«;<;i,«n'« (Detailhändler, Spcckhöcker, Kuchen¬
bäcker u. s. w.) aus der Nachbarschaft, welche 6 Pence^) wöchentlich für den
Schulgang bezahlen. Dies ist also leine gewöhnliche Armenschule. Der Unterricht
fing damit an, daß die Knaben, Einer nach dem Andern aus einem Buche lasen,
welches betitelt war: „Betrachtungen und Gedanken eines alten Tagelöhners";
allein in einer ganzen Stunde wurde kaum eine Seite beendet; denn jedes Mal
nach einem Punktum mußte der Knabe den Sinn erklären, und bald entspann sich
dadurch ein lebhaftes Gespräch zwischen Mr. Ellis und den Knaben. So z. B. hielt
er einmal bei dem Worte „leben" an und frug, „Wovon leben die Menschen?" —
Von unä IiinKon. — Sind die Lebensmittel eben so schnell vorhanden, wie
wir dieselben verzehren, oder dauert es längere Zeit, ehe wieder eine Ernte
eintrifft? — I.vt/t(;r08. — Kannst Du Dein ganzes Leben hindurch Essen und
Trink'en erhalten, indem Du blos zu dem, der geerntet hat, sagst, daß Du
hungrig und durstig bist? — IVcin, antworteten die Knaben lachend, led mu5s
i'Ilm vtva» äakür xodov. — Wodurch hat er die Ernte bewerkstelligt? — vurod
Arbeit. — Was mußt Du ihm dafür geben? ,^<ut, vo«r vtvas, clnrek die-
8(!it<z orx<möst. — Wovon leben also die Menschen?— Von ^euelt. — Wovon
lebt der Ackerbauer im Winter, Frühjahr und Sommer?— Von avr vorigenKrnte.—
Wovon leben aber Diejenigen, welche arbeiten? Wird der Schuster z. B. von den
Schuhen gesättigt, die er näht, oder die er genäht hat? — Von I^vMvron. — Wir
leben also von früherer Arbeit, von ersparter oder ererbter Arbeit, nicht wahr? Wie
nennt man ersparte Arbeit mit einem Worte? — Vermögen. — Wenn ich nun z. B.
als Schneider, mit ersparter Arbeit oder Vermögen mir mehr erwerben will, wie
fange ich das an? — 80 sol/vn 8i<; /Xncltnv in /Vrlieit. — Was sind das für
Andere? — Kolollv <Up hottst Köln« erspN'I.v ^rkvit oäer Vormüxvn dksk/.su,
Kiel, <ni abvr g«;um; pro<ii'bon vvllvn.— Wie nennst Du das Vermögen, welches
Andere beschäftigt, damit diese leben und sparen können? — ('aM-ü. — Was
ist also Capital? — Vermögen, das Vermögen or/vu^U Wenn ich Andere
für mich arbeiten lasse, was muß ich ihnen dann dafür geben? — i.,.>in.
Gebe ich ihnen Allen gleichen Lohn? — Ma, darin ist «in grosser llntvrselded.
— El was du sagst, Unterschied im Lohn? Wer erhält denn den größten Lohn?
— 6er MeissißM — Der Fleißigste sagst du? Ist das recht? Wenn ich als
Schneider einen Nock gemacht haben will, gebe ich dann demjenigen den höchsten
Lohn, der am eifrigsten arbeitet und sollte er auch nie früher eine Nadel in der
Hand gehabt habe»? — Mi», er mu«8 auelr der LrauvIibm'Leo 8«in. — So ist'S,
der Brauchbarste, der am Meisten gelernt hat. Aber ist das genug? Deute
einmal nach. Ich habe z, B> 1V Arbeiter. Dem Branchbarsten und Fleißigsten
will ich gern einen hohen Lohn zahle»; aber____— Dem Mrtieh^en, —
Da haben wir's, dem Ehrlichsten! — Der Ehrlichste, Brauchbarste und Fleißigste
erhält den höchsten Lohn. Der Lohn richtet sich nach Brauchbarkeit und Fleiß,
aber namentlich nach Ehrlichkeit, so daß der Unredliche, selbst wenn er geschickt
ist, dennoch seine Arbeit schwierig los werden kann. Aber wenn um alle gleich
ehrlich, brauchbar und fleißig wären, würden sie denn alle gleichen Lohn erhal¬
ten? — Min. äas ist von vmstiinüeu bedingt, v.: ()>> .lemand Capital
erspart oder ererbt bat, pas nur bebilüleb ist. — Ja, das ist freilich ein sehr
wesentlicher Umstand. Kannst dn mir um sagen wie ein solches Capital angelegt
wird, oder worin es besteht? Worin besteht z. B. das Capital eines Müllers?
— in seiner Milde, seinem Kern und seinem eontanten Cette, um den Müller-
gesellen ihren I.vim z-u be/adieu. — Wenn er um am Jahresschluß seine Rech¬
nung abschließt, wie nennt man dann das, was er mehr eingenommen wie aus¬
gegeben hat? — Keinen Veräienst und ?rollt. — Worin besteht der? Was
geht erst von der Einnahme ab? — Verseideis der Kerätirsebalten, Verbrauch
von Korn und <lor Arbeitslohn — lind worin besteht das Capital des ganzen
Landes? — Im Erdboden, «ter Kaat, in den (ieoäuden, l<keltern, Nasebmen,
Selüssen, Nimm, baarem lZvIäv etc. ete. — Und was ist der jährliche Profit
des Landes? — XVas nach Verliranel, und Versebieiss übrig ist—Wozu wird
der Lohn verwandt? — /am heben, /um Verbrauch oder /um I^rsparen eines
Vermögens, vvenn er I'h'stervs üI»ertriM. — Ist der Lohn hier im Lande im
Allgemeinen hoch oder niedrig? — Niedrig. — Es giebt also reiche Leute,
die niedrige» Lohn geben? — .1a. — Ist das nicht sonderbar und wäre es
nicht richtiger sie dnrch ein Gesetz zu zwingen, höher» Lohn zu zahlen? — Min.
— Warum uicht? Laßt »us eine so wichtige Frage nicht mit Nein beantworten,
ehe wir dieselbe genan geprüft haben. Was würde die Folge davon sei», wen»
sie gezwungen würden, höhern Lohn zu gebe»? — xVir winden sie verhindern
mit Vortheil /.u arbeiten, ihre WirKsainKeit hemmen, veil sie dann mir weniger
Arbeiter anstellten oder das ersparte Vermöge» veeln-anehen würden. — So
das so fortgehe», so würde die ganze ersparte Arbeit des Laudes verzehrt
werde», und wir würden Alle Mangel leiden. Nicht wahr? — .>a. — Aber
kann denn andrerseits der Capitalist den Lohn so niedrig ansetzen, wie es ihm
beliebt? Kann z. B. der Müller, welcher 13 sel>. die Woche giebt, mit einem
Male den Lohn ans 7 sed. herabsetzen und dennoch seine Leute behalten? Oder
wovon ist die Große des Lohns abhängig? Bestimmen andere Umstände den¬
selben? — .la 2. ob Umsatz, und Handel (elle träte) Ful sins. — Da
erwähntest d» einen wichtigen Umstand: Handel und Wandel gut. Wenn du
bei einem Gewürze'rämer ein Pfund Zucker kaufen willst und er vou dir 3, statt
früher i Pence dafür fordert, hast dn dann einen guten Handel gemacht? —
.>a! — Sagt aber Gewürzhändler das auch — Min gewiss nickt. — Warum
macht er dünn einen schlechten Handel? Warum nimmt er nur 3 statt i Pence?
— V/eil ändere für 3 I'cree verlauten. — Und wenn du das hörst, würdest
dn natürlich bei Anderen kaufen, wenn er auf seine früheren Preise beharrte,
nicht wahr? — .la. — Warum verkaufen aber die Anderen billiger? — Weil
viel /ueker aus XVestindien xokommen ist. — Das will sagen, es ist mehr
Zucker vorhanden, als der augenblickliche Bedarf erfordert? — ^a. — Aber so
wie es sich mit rohen und verarbeiteten Producten verhält, so auch mit den
Arbeitern, nicht wahr? Je mehr Arbeiter vorhanden sind, desto mehr sinkt der
Arbeitslohn, und eben so, wie Du zu dem gehst, der am billigsten verkauft, so
sucht der Verkäufer auch nur die billigste Arbeit und die billigsten Arbeiter? —
,!a. — Wir brauchten erst das Wort „rohe Producte", kann mir jemand von
Euch ein Nohprodnct nennen? — Einer rief: l^leiseb! und die Anderen lachten.
— Ja, mein kleiner Freund, Fleisch ist ein Nohprodnct, was wir aber erst mögen,
wenn es die Küche passirt hat. Aber ein anderes rohes Product? — uom. —
Und damit geht es wie mit dem Zucker, der Preis desselben, beruht lediglich auf
der Güte der vorigen Ernte? — .la. — Und wenn ein Land mehr erntet, als
ein anderes, so hat dies Einfluß auf deu Preis, weil es sein Korn in das andere
Land einführt? — .In. — Ist es stets so in England gewesen? — Avio, vor
einigen .laliren bestand liier ein Küustlielier ?reif. — Ein künstlicher Preis?
Laßt einmal hören, was versteht Ihr darunter? — Ls existirte ein (-leset,/.,
zalulAe dem Kein lremdes uom viae l''.rlegang eines sellr hohen /.olls ein-
xvMlrl. werden Konnte, v8 sei denn, dass das Korn im Lande boeli im
j'reise stand. — Und dies Gesetz ist aufgehoben? — ,1a. — Erleiden unsre
Landleute denn dadurch keinen Verlust? — .la, das bellaujden sie lreilielu —
Sagen sie das? Nun, was meint Ihr davon? — Was würdet Ihr dem Land¬
mann antworten, welcher darüber klagend die Wiedereinführung deö alten Ge¬
setzes verlangte? — l)ass er das nett verlangen Kann, wenn nielit das
besetz gleichzeitig einen Imkeren Lolln feststellt. — Ja, wenn er aber durch
die Abschaffung früherer Verhältnisse Schaden erleidet, wie können wir ihm dann
so antworten? — >1u, er dart ja nur mehr lÄnsield und Fleiss auk seinen ^eker-
bau verveiulen, so wird er dadurell auch seine lÄnnaluue verweliren. Ganz
sicher, und laßt uns einmal sehen, ob wir hierzu uoch etwas hinzufügen können.
Bezahlt denAckcrbancr nicht dem Staate und dessen Beamten große Abgaben und
denen Unterstützung, welche Mangel leiden? Gesetzt nun, wir könnten ihn ver¬
anlassen, mit uns dahin zu streben, daß der Staat sparsamer wird und die Ab¬
gaben verringert, und wir ihm zu Folge dessen begreiflich macheu, wenn das
Leben leichter und wohlfeiler wird, verringert es die Anzahl der Bedrängten,
folglich anch deren Unterstützungssnmme? — >w. — Aber glaubt Ihr nun nicht
bei alle dem, daß doch Einzelne einen wahrhaften unerwarteten Verlust erleiden,
welcher Anderen wiederum zum Vortheil gereicht? Ja, das läßt'sich gewiß uicht
läugnen, es bleibt aber stets, selbst bei den zweckmäßigsten Veränderungen, den¬
noch unvermeidlich. Bei der Anlage von Eisenbahnen verloren die Miethsfnhr-
lcute; aber habt Ihr nie von Chaplin und Horne gehört, denen die großen
Frachtwagen zugehören? — ,ta! .In ! — Wohlan, früher waren sie Miethssuhrleutc,
allein jetzt fahren sie nur Güter von und nach den Eisenbahn-Stationen und
sind dabei reich geworden. Wodurch sind sie es geworden? — Dureli KluxKvil uncl
V/ii-I^-rmKeit. — Ja, und weshalb schafft ihre Wirksamkeit? Warum vertraut
man ihnen den Gütertransport an? — Weil v» nräoiMeKo un<Z oKrNvds
sua. — Ja. Und als freie Bürger haben wir ein Gesetz discutirt und ange¬
nommen, welches der Klugheit, Wirksamkeit, Ordnung und Ehrlichkeit frommt,
und dadurch gethan, was wir für Recht anerkannten. Kann daher der Ackerbauer
behaupten, daß Ihr sein Brod verzehrt, oder haben Eure Eltern erst dafür ge¬
arbeitet, ehe sie es Euch darreichte»? — 8i<z Kabou alatur ge-rrbLilot. — Die
schriftliche Darstellung dieser Scenen wird im Vergleich mit der Wirklichkeit steif
und trocken. Man hat dabei nur die Vorstellung eines einzelnen antwortenden
Knaben, allein die Unterredung wurde vou Lehrer und Schüler in der ganzen
Klasse lebhaft verfolgt; denn Alle waren eifrig, Alle fühlten sich hingerissen von
dieser einfachen Unterhaltung des alltäglichen wirklichen Lebens, ihr ganzes geisti¬
ges und moralisches Dasein wurde unwillkürlich von dieser Einfachheit aufgeregt,
die doch in sich Wissenschaft und Moral mit einander verband. Ich gebrauche
das vielleicht etwas materielle Bild: „ihr geistiges und moralisches Dasein wurde
aufgeregt," allein es steht mir noch so deutlich bevor, weil es in dieser, so wie
in den meisten englischen Schulen Gebrauch ist, daß nach erfolgter Frage Keiner
antworten darf, ohne daß der Blick des Lehrers ihn dazu auffordert, aber Alle,
die die Frage beantworte» können, geben dies dadurch zu erkennen, daß sie die
Hand emporstrecken.
Und nun diese äußerste Spannung zu beobachten, wen» häufig nach der
Frage alle Arme cmporgestreckt wurden, gleichsam wie wenn ein Bataillon das
Gewehr fällt und unverwandten Blickes den Lehrer angestarrt, wen er dnrch sei¬
nen zur Antwort auffordernden Blick beglücken werde. Mitunter erscholl doch die
Antwort trotz aller Disciplin, sie fällten das Gewehr und gaben ans einmal Feuer.
Bei schwierigen Fragen sah man oft sich einen Arm erheben, aber wackelnd und
langsam sich wieder senken, aber dann erhob sich englisch-bedachtsam ein anderer
Arm „in 8v>.i.!0 l.1><; uiilUür", und die Frage mit Gewalt beugend, las man in
seinen Mienen: „ich kann antworten," darauf erfolgte aber stets die Gegenfrage:
„Ist das richtig, ihr Anderen?" — Kam während der Unterhaltung ein unge¬
wöhnliches Wort vor, so wurde gleich gefragt, wie dasselbe buchstabirt werde,
denn hier wird erst der Begriff entwickelt, und dann erst beschäftigt man sich mit
dem Worte und znlcht mit den Buchstaben. —
Das nächste Mal begleitete ich Mr. Ellis nach der jüdischen Freischule in
Bell-Lane. Es wird sich später eine Gelegenheit darbieten, dieses Stadtquartier
näher zu beschreiben, hier bemerke ich nur, in sofern ich es beurtheilen konnte,
macht es allen schmuzigsten Quartieren Londons den Rang streitig. Diese Schule
kauu nicht mit einer r!.rgg'va-8eiwx>l verglichen werden, denn ungeachtet alles
Elends und der Armuth, worin Tausende von Londons Juden leben, ist ihr
Familienband doch selten zerrissen, uneheliche und ganz verlassene Kinder giebt
es nur wenige, und muß freilich dennoch eine Masse Kinder ihren Lebensunter¬
halt auf der Straße suchen, so haben sie doch alle eine Heimat!), deren religiöse
Ceremonien, wenn sie auch nicht ihren Geist erheben, doch vor vielfachen Lastern
bewahren. Aus den Physiognomien der Kinder, dem echten Londoner Proletariat-
TypuS und der sächsischen Brutalität, welche auf eine eigene Weise mit den
morgenländischen Zügen vermischt waren, konnte man doch deutlich erkennen, wie
armselig, rauh und wild jene Heimath dennoch wol sein mußte.
Mr. Ellis hatte an dem Tage erst eine kleine Rechnung mit seiner Klasse
(Knaben von -10 bis 12 Jahren) abzuschließen, dadurch veranlaßt, weil in der vo¬
rigen Stunde einige Unordnungen vorgefallen waren. Er hielt eine kleine Rede,
die weder den Ton täppischer Weichherzigkeit, noch den eines zürnenden Zncht-
meisterö verrieth, er sprach zu ihnen, wie ein Mann mit vernünftigen Menschen spricht.
Er sagte diesen Kindern der Armenschnle, daß er einer unangenehmen Sache
erwähnen müsse; er sei der Meinung, sie hätten sich vergangen und bäte sie,
die Sache selbst zu untersuchen und zu beurtheilen; eine Woche sei verstrichen,
Zeit genng zur Beruhigung der Gemüther; er hoffe daher, sie hätten eingesehen,
nicht allein gegen einen Lehrer gefehlt zu haben, der große Ansprüche ans Achtung
und Aufmerksamkeit habe, sondern auch gegen einen Mann, den sie selbst ein¬
geladen hätten; denn nachdem er mit der Schuldirection die Verabredung ge¬
troffen habe, ihnen freiwilligen Unterricht zu ertheilen, würde er doch nicht ge¬
kommen sein, wenn nicht die Eleven nach vorhergegangener Erwägung selbst gegen
ihn den Wunsch geäußert hätten, seine Vorträge zu hören. — Nach einigen Augen¬
blicken erhob sich einer dieser kleinen zerlumpten Judenjungen und erklärte im
Namen seiner Kameraden: „sie hätten ihren Fehler eingesehen und bäten Mr. Ellis,
er möge gütigst ihre Entschuldigung dafür empfangen." Sicher werde ich das,
antwortete Mr. Ellis, und es freut mich, sagen zu können, daß unsre kleine
Uneinigkeit hiermit auf eine rühmliche Weise geschlichtet worden ist.
In dem Buche, woraus gelesen wurde, war von der Bank die Rede, worauf
Mr. Ellis eine Fünfpfmidnvte hervornahm. Keines der Kinder hatte früher ein
solches Vermögen gesehen, und dieselbe wanderte von Hand zu Hand. Wie viel
gilt dieselbe? fragte er, — I^und I'l'ancI, ttir! riefen eine Menge Stimmen. —
Fünf Pfund Sterling? Dieser Lappen Papier? — .1», 8ir, alcun Lu^lauZs KanK
IM 8lo uvterskiolillöl. — Ja, aber wozu nützt diese Unterschrift? — Wenn Sie
damit nuet> aer Kuru xelien, eeliulten 8Jo kund i'iuüil in 6»1ä (Artur. —
Seid Ihr dessen ganz gewiß? Würde Jeder von Euch sie sür fünf Sovereigus
annehmen? — >>u! — Woher seid Ihr so sicher, sie für den Preis für mich wech¬
seln zu wollen? — Veit die vu»I< reied — Reich? Gesetzt nun den Fall,
daß Ihr hinkommt und die Direction der Bank wäre mit dem Golde davon ge¬
laufen? — klein, 8ir, et-i« sima olrrlielre I^ente. — Aha, nun merke ich es,
Ihr habt Vertrauen zur Bank, weil sie reich und ehrlich ist? .in! — Worauf
ist also die Bank von England begründet? — /ni Vermium unä Lln-IielrKeit.
— Ist das aber genügend? Ist es hinreichend, daß wir vor mehreren Jahren
in Erfahrung gebracht haben, die Bank besitze viel Geld und werde von ehr¬
lichen Männern verwaltet?---So bekümmert man sich wol jetzt nicht
mehr darum, ob die Geschäfte erfolgreich betriebe» werden? — .!». — Wodurch
erhält mau denn diese Kunde von der Bank? — vnreli V«,rtr8Fen — cwreli
(ierüelrte — cwrvk VeriitkelttlieKnnss. — Richtig, Du mein kleiner Freund, durch
Veröffentlichung. Daher veröffentlicht die Bank jede Woche ihre Rechnung, was
Ihr am Sonnabend in den Zeitungen sehen könnt. Dieses Gespräch interessirte
die Knabe» in einem hohen Grade, und Mr. Ellis fragte sie nun, ob sie die
Öffentlichkeit für etwas Gutes betrachtete», worauf sie >>u antworteten. Darauf
fuhr er fort: Seht hier eine andere Art von Note, kennt die Jemand von Euch?
— Du« ist «in (NveK, Lir! — Ein Check, richtig, aber was bedeutet das Wort?
— 8lo liilbvn Civlü bot vinvw Kaniuisr uiul »».vllon vino ^nwvisuns «iarauk
An II>N M5, unä Zjvsv ^nvvisunx nennt mun «'IivvK. — Ein Banquier, was
ist das? Worin bestehen Banqniergeschäfte? — <Zo1ü eier Lvnlv nul/ubevuliren
uncl iiur ^usMdluaH in Lvreilse-Iiall xci tnUlen. — Kann das denn ein einträgli¬
ches Geschäft sei»? — .1», «leim er donne/.t all« ttapilalika /um Allseukl-port».
— Wie kann er das wagen, da ich mein Geld jeden Augenblick zurückfordern
kann? — .?a. Sir» äouo. es ist nielit na/unelunen, class äivs ^U« nuk vinuial
Anm veram. — Richtig, also sind die Bauquiergcschäfte auf die Wahrscheinlich-
keit begründet, daß eine gewisse Masse Geld stets unangerührt verbleibt, weil
alle Menschen, die dort Capitalien stehen haben, nicht all ihr cvntantes Geld auf
einmal gebrauche» werden und könne». Aber sagten wir nicht, daß ich dem
Banquier Nichts dafür bezahlte, ist das so? - - >>u, — Untersuchen wir das. Was
macht der Banquier mit dem Gelde? — Kr maelu, <z« lwelitb-u'. — Was will
das sagen? — Kr «vtxt in Wirksamkeit, uni Vorwögen xu vrrivxen, unä
KeKammt äaäurck seinen Xnll>el> üavon. — Richtig, aber fallen ihm dann
nicht Zinsen zu, die mir gebührten? — .la. — Was gebe ich ihm also dafür?
— Die Zinsen, die 8le selbst nielit cri>alten. — Warum behalte ich denn diese
Zinsen nicht selbst? — wem, äenn so Kann liir <Ze1ä vivdt, vio 8in es viin-
seben, ^jecien ^ugondliek ^ur /<.us^ainung deren sein. — Ganz recht, daher
wird es uns nun erklärlich, ans welche Weise Leute hier in London jährlich
-12,000 Psd. mit dem Gelde Anderer verdienen können; ja 12,000 Pfd. Ist es
nicht eigentlich der Schande werth, daß Einige so leicht so Viel verdienen ton¬
nen? ... (Zögernd) klein. — Warum nicht? sucht es recht zu begreifen. Er¬
zeigt mir der Banquier dadurch einen Dienst, daß er mein Geld für mich bewahrt?
— .la. — Ja freilich thut er das. Es gewährt dem Publicum großen Vortheil,
daß es sein Geld z. B. gegen Feuersgefahr in dem Hause des Banquiers haben
kann, welches mit großen Unkosten seinerseits gegen dieselbe gesichert ist. Was muß
aber andererseits der Banquier thun, um das Geld fruchtbringend zu machen? —
IZr muss wirksam sein. — Und? — tirai Klug, Viel gelernt immer. — Und
welche Eigenschaft muß er besonders allgemein anerkannt besitzen? Nun was
verlangt man von einem Manne, dem man sein Geld anvertraut? — Mrliol,-
Keil. — Natürlich! Wofür erhält er also die -12,000 Pfd. jährlich? — dur sei-
nen guten Kuk, kiir seine Kr/ioliung, Klugkeit uncl seine lZereitvilligKeit. —
Daraus könnt Ihr also ersehen, daß ein Jeder von uns sehr gut ein Banquier
werden kann, und wenn auch nicht mit -12,000 Pfd. jährlich, so tonnen wir uns
doch jedenfalls durch Ehrlichkeit, Klugheit und Wirksamkeit ein genügendes Aus¬
kommen verschaffen. .
Eines schonen Sommermorgens fuhr ich oben auf einem Omnibus von
6raeeeiiureli-s^cet, nach Peckham, um zufolge einer Einladung eine der Schulen
zu besuchen, die Mr. Ellis selbst hat bauen lassen. Peckham ist ein Außeupuukt
Londons in Südost, jenseits der Themse. Bei dem letzten Hanse, einem
Wirthshause „Lord Nelson" geht der Weg rechts ab, man passirt eine hölzerne
Brücke, die über den villov-droek Weidenbach führt, und befindet sich zwischen
Kornfeldern und Wiesen. Dicht an der Landstraße, auf einer grünen Wiese, liegt
einsam ein neues weißes Haus, mit rothen Dachpfanne», dies ist die Schule.
Ueber die Vvrdiele gelangt man in die inland-selmoi, Kinderschule, eine geräumige
luftige Stube, einfach, aber äußerst nett und reinlich eingerichtet; auf der einen
Seite des Zimmers sind Bänke amphitheatralisch hingestellt, um die Kinder leicht
übersehen zu können, wenn sie zum Vortreten versammelt sind. An den Wänden
hingen eine Menge colorirter Abbildungen aus dem Thier- und Pflanzenreiche,
und in einem Glasschrank standen in kleinen Gläsern allerlei Proben von Ge¬
treide, Baumwolle, Muskatnüssen, Cochenille, Mineralien n. s. w. In diesem
Zimmer liefen (etwas vor der Schulzeit) eine Menge kleiner, reinlich gekleideter
Kinder umher und spielten, näherten sich dem Fremden auch freundlich und ohne
Schüchternheit. An diese Stube grenzt ein schmaler Heller Gang mit Waschfässern,
die durch einen Springbrunnen gefüllt werden. Das nächste Zimmer ist eine große
Schulstube, wo sich alle Kiuder (circa 250 an der Zahl) versammeln können, und
ferner noch getrennte Zimmer für die Mädchen- nud Knabenschule. An den
Wänden in der großen Stube, deren Decke das Dach war, hingen: Landkarten,
naturgeschichtliche Abbildungen; eine große Karte mit architektonischen Zeichnungen,
einfach, aber vorzüglich gut ausgeführt vou „einem Freunde der Schule";colorirte
Abbildungen des menschlichen Körpers nach dem Knochen-, Muskeln-, Adern- nud
Nervensystem, Noten, astronomische Karten über Mond- und Sonnenfinsternis;,
die Bewegung und den relativen Abstand der Planeten, über Ebbe und Fluth.
Alles dies wird hier für einen Sixxöucv die Woche gelehrt, und mau wird sogleich
einen Begriff davon erhalten, wie es gelehrt wird.
Mr. Ellis kam mir seiner Frau nud seiner Tochter angefahren. Gern
möchte ich jetzt diese Menschen näher beschreiben, denn sie schweben mir noch vor,
wie das Lieblichste, was mir je begegnet ist, aber wie oft sind die so gern ange¬
wendeten Wörter ein ungenügendes und unbehilfliches Material. Was nützt es,
von Geschichtszügen und dergl. zu reden, wenn man so gern eine Vorstellung
erzeugen möchte von stiller, einfacher Anspruchslosigkeit, einer gefunden, verständigen
Menschenliebe, eiuer Sauftmuth ohne Sentimentalität, vou menschlichem Physio¬
gnomien, welche das Gepräge von Gemüthsruhe, Lebenslust nud Heiterkeit sind.
Sogar der Umstand, daß der Manu mit seiner Frau nud Tochter ankam,
mußte bei dem Fremde» ein Gefühl der Freude erregen, welcher bereits schon
durch die freundliche Schule heiter gestimmt worden war. Das Leben dieses
Mannes zeugt vou der schönsten Eintracht, bei seinem Wirken, seiner Liebe und
Sorgfalt sür seine Mitmenschen, verstehen ihn seine Nächste» und sind ihm
dabei behilflich, und das stärkt und verschönert wiederum sein häusliches Glück.,
Gar zu oft macheu wir leider die Erfahrung, daß erst Kummer und Leiden
Menschen aufopfernd machen; vielleicht waren die Leser mit mir der Ansicht, daß
der Mann, welcher vom Comptoir hingeht, um Unterricht zu geben, gewiß ein
Junggeselle, Wittwer, oder ein auf sich angewiesener Mann sein müsse; diese
Art von Einsamkeit macht aber den Meuscheu gewöhnlich mir theoretisch¬
wohlthuend.
Mr. Ellis war gekommen, um eine seiner gewöhnlichen Stunden zu ertheilen;
die oberste Klasse, ungefähr 80 Knaben und Mädchen, versammelten sich in dem
großen Zimmer; die Mädchen besetzten die vordersten Reihen, waren alle reinlich
und nett, mit weißen Schürzen vor, und einige uuter ihnen waren sehr hübsch
zu nennen. Das Wort „arm" eröffnete die Unterredung. Nachdem er etwas
über den Unterschied zwischen „arm und unvermögend" und von dem Unglück
und der Demüthigung geredet hatte, allein von Unterstützung oder knappen Tage¬
lohn leben zu müssen, fragte er: „Ist es denn aber wahrscheinlich, daß alle Ihr
hier Anwesenden, selbst wenn Ihr noch so klug, fleißig und sparsam seid, Euch
dennoch ein Vermögen erwerben werdet? — Min, — Warum nicht? — XVml
aler Kien; oben- avr /mckvrv von un8 lin^kiau indem Kann, K. Krank
wvräkn. — Ja, was wird aber dann Derjenige thun, der sich Vermögen erworben
hat? — Amt Juliden — Warum? . .. Nun, weiß Niemand zu sagen, warum? ...
Du?. . . Wink wir VurgmiKe» Apo-IKrl.. — Das ist recht gut, und Du ver¬
dienst dafür geachtet zu werden; aber sollen wir immer thun, was uns Vergnügen
macht und wozu wir Lust haben, können unsre Handlungen allein ans Lust be¬
gründet und verantwortet werden? — Ma. — Laßt uns eine» vernünftigen
Grund ermitteln. Redeten wir nicht das letzte Mal von Assecnranzen, Brand, Hagel,
Vieh, Lebensassecuranzcn, Krankcncassen ze. sammt deren Einrichtungen?— Giebt
es nicht auch eine Assecuranz, welche alle Menschen gegen Unglück, große Leiden,
Folgen von Krankheit, kluge und ehrliche, aber verunglückte Berechnungen n. tgi.
schützt? — Ma. — Und dennoch; die existirt in uns selbst, weil wir Alle
als Menschen die Aufgabe zu erfüllen haben, glücklich zu werden. Wir bilden
Alle einen Verein, um menschliches Glück zu befördern. Und worin besteht das
Glück? — Nun, das haben wir bereits untersucht, worin besteht es? — Dur»,
<l^85 unsrv Kain^Kent.<in unsre!» t'llwlrtvn (Uüimroclum. — Richtig. Und
in der großen menschlichen Assecuranz haben wir also unsre Fähigkeiten ver¬
sichert, um glücklich zu werden, gegen die Verpflichtung, glücklich zu macheu? —
.Ku — Folgt dann nicht hieraus, daß der Unglückliche, der sich an uns wendet,
dadurch unsre Assecuranzprämie einfordert? — ,>!r.^) -- Aber aus welche Weise
werden wir nun dem Kameraden helfen, der sich an uns wendet, oder dessen
Unglück wir entdecke»?-— Werden wir ihm zur Arbeit oder zum Müssiggang ver¬
helfen? — Xur ^rden. — Wenn er arbeiten Kinn, nicht wahr? — >>». — Laßt
uns dies durch ein Beispiel ans dem Leben dieser Stadt betrachten. Es giebt
Leute, denen die beklage»swerthe Lage der Nähterinnen aufgefallen ist, und die da¬
her eine Gesellschaft gebildet haben, um ihnen zu helfen. Der Zweck ist, ihnen
einen täglichen Verdienst von 1'/^ "der wo möglich 2 su. zu sichern, in¬
dem nämlich die Mitglieder der Gesellschaft sich verpflichten, nur in solchen Läden
z» kaufen, deren Eigenthümer dafür den Mädchen einen höhern Arbeitslohn be¬
zahlen. Werden aber die Nähterinnen mit der Zeit hiervon Nutzen haben? .>a. —
I^lin. — Ich hörte Jemand „Nein" sagen. (Ein IN oder l'I jähriges
Mädchen, mit einem klugen, scharfen Auge, streckte eifrigst die Hand empor.)
Nun warum sagst du „Nein"? — V^eil «lie l<ri>in>um^ >l<>.s /-Vrl>eilst(nach eil<:
VennenrunK 6er al't><;it.vrmnvn vvruriiaetivn our6v, ana venu 6ann alö lZe-
sellseiialt nickte ^lie V/unrer ^nlvnni'te, se> vür«l<; <l<!r l.vim §;leieli voie«je:r
sinken. — Ich theile durchaus die Ansicht meiner kleinen Fre»udi». Wie sollen
wir es aber anfangen, dieser Klasse von Arbeitern zu helfe»? (Unsichere
Handbewegungen.) Nun, woher kommt diese Menge von Franc» und Mädchen,
die nähen? Hat die Natur sie alle mit gleichen, oder verschiedenen Anlagen aus¬
gerüstet? — Verselüeelenen. — Und sind ihre verschiedene» Fähigkeiten voll¬
ständig entwickelt worden? — Min. — Was haben sie entbehren müssen? -
tlnterrielit, /VnlKIiirunA', Kenntnisse!. — Ja wahrlich! Aber laßt uns das etwas
deutlicher betrachten. Einer meiner Freunde kennt eine Dame, die von ver¬
mögenden Aeltern, mit einem Manne verheirathet ward, der eine sehr geachtete
Stellung in der Gemeinde einnahm. Vor ungefähr zwei Jahren starb der
Mann plötzlich und hinterließ sie mit zwei Kinder» ohne alles Vermöge». Sie
legte »icht die Hände in den Schooß, sondern bemühte sich um Arbeit. Da sie
sich aber »icht mit ihre» beide» Kinder» mit Nähe» für i si>. den Tag er¬
nähre» ton»te, so fing sie a», P»vvcnzeng zu machen und Puppen aufzuputzen,
und hierdurch hat sie seitdem durchschnittlich Z .-6. die Woche aus eine leichte und
angenehme Art verdient. Weshalb verdiente sie un» 3 ^. die Woche, während
so viele andere Frauenzimmer kaum im Stande sind, 0 su. die Woche zu ver¬
dienen? — Mi!l 8ÜK Kiu;;- war. — Und? — Un6 Aut. er/nxen un6 nnter-
rilltet. — Und? — Hin! Mu^ig-. — Und? (Schweigen.) Weil es eine re¬
solute, brave Frau ist. Was lerne» wir hieraus? Was fehlt der arbeitenden Klasse
so häufig? — lilussdeil, . . . ix»l.e l'no.i«>tun^ . . . xM; ^elk'rü. — Ja und was
würde die Folge davon sein, wenn wir das Unsrige dazu beitrügen, daß sie klug,
wohlerzogen, tüchtig und ehrlich würden? I.nuwlil.,!» sie siel, mein, mit 6er
nieelrigstlni lliuninedeit ?.n deseluili.i^en. — Richtig. Sie würden ans eine
selbstständige Art mannichfaltige Lebensstellungen ergreifen können. Und welchem
Gesetze, welcher Bewegung leiste» sie dadurch Folge? Das will ich E»es er-
klären: „Sie folgen dem ganzen menschlichen Streben, Die Menschheit wird
immer klüger und aufgeklärter. Große Genies gehen derselben stets voran mit
schönen und nützlichen Erfindungen, diese erzeugen wiederum eine Menge neuer
Beschäftigungen und Erwerbsquellen, die aber stets mehr und mehr geistige und
weniger physische Kräfte erfordern, und uns Allen ist es Pflicht, nach besten Kräften
mitzufolgen."
Als die Stunde beendet war, entfernten sich die Zuhörer in einer Art von
militärischem Marsch; die anderen Mädchen und Knaben zogen unter einem ahn
lieben Marsch in den großen Saal ein, und vermittelst dieser Ordnung war die
ganze Schule in einer auffallend kurzen Zeit in Klassen und Abtheilungen aufge-
löst. Die älteren Mävchcu, welche noch vor einem Angenblick während des Mar¬
sches in ihren Reihen ganz kriegerisch ausgesehen hatten, saßen in ihren Klassen
beim Nähzengc; die anderen Mädchen in der ihrigen zur Schrcibftuude. Die
Knaben waren in der großen Stube in Klassen zu 10 bis -12 eingetheilt, und
hier wurde nach Lancaster s Methode in der Geographie vor den Landkarten, im
Rechnen, Lesen und Bnchstabiren unterrichtet. Kein Wort wurde buchstabirt, ehe
dessen Bedeutung erklärt, oder der dasselbe bezeichnende Gegenstand vorgezeigt
war. In jeder Abtheilung unterrichtete der flinkeste Knabe unter der Aufsicht
des Oberlehrers der Schule Mr. Shields und einem Unterlehrer. Mr. Shields
und ein junges Mädchen bildeten das Lehrerpersonal in den Klassen der Mäd¬
chen. Mr. Ellis hatte schon früher Mr. Shields sehr rühmlich gegen mich er¬
wähnt, und mich aufgefordert, seine Bekanntschaft zu machen, da es bis jetzt der
begabteste Mann sei, den er noch für seine Schule gewonnen und ausgebildet
habe. Ich verblieb daher noch eine Stunde, um dem Vortrage des Mr.
Shields beizuwohnen, und kann nicht behaupten, daß mir die Zeit lang wurde.
Welche Freude gewährt es Einem, wenn man über ein Kornfeld geht
und ans dem sorgsam bestellten Acker die frischen grüne» Keime wuchern sieht,
während die Sonne scheint, und die Jnsecten summen. Aber was ist das im
Vergleich mit einem Felde, wo menschliche Sprossen in gutem Boden wachsen, wo
Liebe die Sonnenwärme spendet und die erwachende Kindcrklngbeit summt,
und wo es keiner besonders scharfen Ohre» bedarf, um das Gras wachsen zu
hören.
Um l ö'/s Uhr wurden die Knaben in einem amphitheatralisch eingerichteten Saal
versammelt, und Mr. Shields hielt hier einen Vortrag über ein Stück weißen
Zucker nud einen Theelöffel voll Puderzucker. Erst mußten die Kinder die
Eigenschaften des Zuckers angeben, z. B. hart, spröde, porös, krhstallisch,
auflösbar, süß. Er fragte sie, aus welcher Pflanze und auf welche Weise
eS erzeugt würde. (Das Zuckerrohr wurde vorgezeigt.) Er zeichnete die
Maschine, die Walze, und erklärte ihnen das ganze Reinigungsverfahren. —
„Saht Ihr dies nicht Alles voriges Jahr ans der Ausstellung?'' —
Darauf Minute» die Knaben alle die Orte, wo das Zuckerrohr gebaut wird,
»ud beschriebe» die Reise, welche die Schiffe macheu müsse», »in es »ach Eng¬
land zu bringen. Demnächst wurde stets fragend und antwortend untersucht, was
England wiederum für den importirten Zucker exportirte, »ud warum Kuglaud
nicht selbst Zucker baute, und Indien oder Brasilien keine Baumwollenwaaren,
T»es, Eisenwaaren oder Maschinen verfertigte. Nach und nach erfolgte dem»
das Resultat, daß die Industrie hauptsächlich auf den Guben der Natur, und der
Handel aus dem gegenseitigen Bedarf beruhte. Darauf fragte er: Wäre es
möglich, das Verhältniß umzukehren? — Min! — Warum thut mau es nicht?
Die Franzosen haben es doch wirtlich schon theilweise gethan? . . . Aber ihr
Zucker (von Wurzeln) würde in England 6 Pence das Pfund kosten und ist bei
weitem nicht so gut. Eben so würde es geben, wenn man sich in den
beide» Indien oder Brasilien mit Productionen abgebe» wollte, welche die Natur
England auf eine weit leichtere Art verliehen hat »ud die deshalb bedeutend
billiger sind. Die Unterredung kehrte wieder zum Znckerban und zu den
Colonien zurück, und war bald tief in englischer Colonial- und Handelspolitik
verwickelt, ohne daß die Eleven es bemerkte», und ich darf wohl behaupten,
ohne daß selbst die Sprache, in der sie geführt wurde, etwas davon wußte.
Und dies rührte Alles vou einem Theelöffel voll Zucker her. „Ja", sagte
später Mr. Shields scherzend, „wenn die Kinder Thee und Kaffee trinke»,
müsse» sie doch wisse», was sie trinke»." Es ist wol »icht anzunehmen'
daß hier viele Kinder ans diese Weise wissen, was sie genießen, ja wol
kaum viele hiesige Studenten und selbst die hochznvcrchrcnde» Ncichötags-
Herre» müssen es mir »icht übel nehme», wenn ich in dieser Hinsicht, was sie
betrifft, leise Zweifel hege; es kann ihnen aber vielleicht zum Troste gereichen, daß
Richard Cobden 'einmal in dieser Schule äußerte: „Daß der Dreiviertel-Theil
des englischen Parlaments sich nicht so gut ans Staatsökonomic verstände, wie
diese Spcckhocker und Handwerker-Kinder.
Wen» man diese Unterrichts-Gespräche mit anhört, so erscheint fast Nichts
so verwickelt und schwierig, alö daß es «icht durch richtiges Fragen verdeutlicht
und darauf von aufgeweckten und aufmerksamen Kindern beantwortet werden
könnte. Es kommt aber Alles darauf an, wer frägt. Eine Menge Dinge, die
höchst schwierig scheinen, siud freilich mir eine znsammenhäiigendc Reihe einfacher
Wahrheiten, aber es erfordert Genie, »in den einfache» Zusammenhang zu erkennen
und zu heuchelt. So viel ist jedenfalls ausgemacht, daß man nicht gut zugegen
sein'kann, ohne den Wunsch zu hegen, selbst noch ein Kind zu sein, um
in eine solche Schule gehen zu können.
—^ Mit dem Ende des
Jahres und der kaiserlichen Reise nach Berlin kam die frohe Nachricht, daß an einer
Einigung der Parteien in der Zollsrage nicht mehr zu zweifeln sei. Wenn durch den
Erfolg bestätigt wird, was Regierungszeitungen mit großer Bestimmtheit versichern, so
würden wir das beste Ereignis!, das wir seit Jahren erlebt haben, mit größter Freude
begrüßen, einen Sieg der gerechten preußischen Forderungen und eine Verständigung
mit den Gegnern auf gerechter Grundlage. Der Zollverein, vergrößert durch Hannover
und Oldenburg, bleibt stehen, die östreichische Partei verzichtet auf die Zollcinheit mit
dem Kaiserstaat, das heißt, auf die Feststellung eines Termins, an welchem diese Zoll¬
einheit in Zukunft stattfinden soll, an die Stelle dieser Zollcinheit tritt ein Handels¬
vertrag des Zollvereins mit Oestreich; die Verträge der Zvllvcreiusstaaten unter ein¬
ander und des Zollvereins mit Oestreich sollen zu gleicher Zeit abgeschlossen werden.
Das Letzte soll die Concession sein, welche Preußen den Gegnern zu machen hätte. —
Diese Eonccssion wird der Ehre Preußens nichts vergeben, und ein liberaler
Handelsvertrag mit Oestreich liegt eben so sehr im Interesse von Preußen, als von
irgend einem andern deutschen Staate. Wenn alle diese guten Nachrichten sich bestätigen,
so betreten wir Deutsche mit dem neuen Jahr die Bahn einer neuen, großartigen Ent-
wickelung unsrer Kräfte. — Der Zollverein ohne die Nordsccstaatcn war trotz seiner
zwanzig Millionen Zolleiunahmen doch nicht viel besser, als ein Provinzialgcschäft, mit
den Nordseestaatcn wird er allmählich eine Weltmacht. Eine Zollcinheit mit Oestreich,
uns Deutschen aufgezwungen, hätte unsre materielle Entwickelung aus der Bahn eines
ruhigen Fortschritts hinausgeschleudert in die Wirbel uns fern liegender und verworrener
Staatsverhältnisse, und noch mehr, als das Gedeihen unsrer landwirthschaftlichen Pro-
duction und Industrie wäre dadurch vernichtet worden. Jetzt scheint Beides vermieden.
Hamburg und Bremen, zuletzt auch die Mccklcnbnrgc werden sich früher oder später dem
Zollverein anschließen. Dadurch werden die Zoll- und Vermögensverhältnisse in dem
arg gefährdeten Holstein für den Zollverein von größter Bedeutung werde», und die
fürchterliche Indolenz, mit welcher man bis jetzt dem Verlust dieses deutschen Bundes¬
landes zugesehen hat, wird aufhören. Wir haben ferner die Aussicht ans eine Zoll-
verciusflottc, die nicht lange aus Kauffahrern allein bestehen wird, und es werden dadurch
Verhältnisse in Deutschland herbeigeführt werden, welche in größerem Maßstabe einige
Aehnlichkeit mit denen der Niederlande im 17. Jahrhundert haben müssen. Auch
dort wurde ein sonvcraines Sclbstrcgimcnt der einzelnen Landestheile, die di-
vergirenden Interessen der einzelnen Staaten und die Eifersüchteleien der Parteien
durch die Macht der gemeinsamen Vcrkehrsintercsscn überwunden und die Staaten all¬
mählich zur politischen Einheit genöthigt. Denn die Niederlande waren zur Zeit Ruyters
und Tromp's durchaus kein einheitlicher Staat, und der deutsche Zollverein hat mehr
Kraft der Evnccntration, als er bis jetzt gezeigt hat.
Merkwürdig ist die stille Veränderung, welche seit dem Tode Schwarzenberg's
in der östreichischen Politik eingetreten ist. Was sich schon beim Tode des Fürsten
voraussagen ließ, daß seine deutschen Erobcrungsplänc, für Oestreich so gefährlich,
bald verlassen werden würden, ist schon jetzt wenigstens theilweise eingetroffen. Wir be-
scheiden uns, auf Jahre hinaus nicht gara» zu wissen, auf welchem Wege die Annähe¬
rung an das prcufiische Königshaus und der Besuch in Berlin vermittelt worden sind;
wahrscheinlich haben sich dabei alle ieuc persönlichen Einflüsse geltend gemacht, welche
bei einem politischen Ealcnl von jeher schwer in Rechnung zu bringen gewesen find.
Aber der Bürger des Kaiserstaates muß sich über das Resultat eben so sehr freuen,
als der Deutsche. ES ist immer noch eine sanguinische Hoffnung, daß es der östreichi¬
schen Regierung gelingen werde, ihre Ausgaben und Einnahmen in's Gleichgewicht zu
bringen, und das bei dem gegenwärtigen System nothwendige ungeheure Heer
zu erhalten, ohne durch hohe Auslagen die productiven Kapitalien der Bevölkerung
in gefährlicher Weise zu verringern, und durch Entziehung von Arbeitskräf¬
ten die Production selbst zu hemmen. ES erscheint als eine unlösbare Auf¬
gabe für das gegenwärtige Oestreich, sein jährliches Minus von ungefähr
vierzig Millionen durch die gesteigerte Stcuertraft des Landes zu überwinden,
denn von den europäischen Staaten sind nur Portugal und die Pforte in ihren Gcld-
vcrhältnissm schlimmer daran, als Oestreich, welches durch die wiederholten Anleihen der
letzten Jahre und durch seine für die Saatöcasse so ungünstigen Geldoperationen den
Staatscredit gerade in einer Zeit fast erschöpft hat, wo es alljährlich genöthigt ist, den¬
selben in bedenklicher Weise anzuspannen. Bei solcher Lage ist die einzige Hoffnung
des Kaiserstaates eine bedeutende Reduction der Armee, und eine solche ist wieder nur
denkbar bei einem aufrichtigen nud dauernde» Einverständnis! mit Preußen. ES ist mög¬
lich, daß vorläufig mehr die französische Frage, als die Rücksicht auf die Finanzen die
Annäherung an Preußen vermittelt hat; aber es läßt sich vorhersehen, daß in wenig
Jahren, nach einer oder zwei neuen Anleihen, die Rücksicht ans die Finanzen die mächtig
zwingende für den Kaiserstaat werden wird. So hat auch Oestreich über die angebahnte
Versöhnung mit preußischen Interessen sich wenigstens eben so sehr zu freuen, als die
deutschen Staaten und ihre Bürger.
Bravo Murillo war vor
der Manifestation einer politischen Opposition zurückgetreten, die in ihren Reihen fast
Alles zählte, was Spanien an gesellschaftlichen nud politischen Größen besitzt; der
schon zur Hälfte ausgeführte Staatsstreich sah sich plötzlich der Macht eines moralischen
Widerstandes gegenüber, der ihm sogar seine letzten militärischen Stützen entriß. Marie
Ehnstinc und ihre von ihr geleitete Tochter ließen daher die bisherigen Werkzeuge ihrer
absolutistischen Politik falle», ohne darum ihren Plänen völlig zu entsagen. Das neue
Ministerium ist, wie wir es i» unsrem vorletzte» Hefte voraussagte», weder parlamen¬
tarisch, noch zuverlässig constitutionell; es erstrebt mit milderen Mitteln und mit ermä¬
ßigten Forderungen eine Umwandlung der spanischen Verfassung, die, falls sie gelänge, den
Freiheiten der Nation verderblich werde» müßte.
Schon die Zusammensetzung des Cabinets Roneali-Llorcntc ist nicht geeignet das
Mißtrauen gegen die Absichten des Hofes gänzlich zu entfernen. Der Chef desselben, General
Noncali, der zugleich das Aeußere verwaltet, hat eine Laufbahn voll Polnischer Tcrgi-
versatione» durchgemacht; ehemals el» eifriger A»hä»ger der Progrcssiste» und Espar-
tero's, wandte er sich später den Modcrados zu und verfolgte als Gcneralcapitain
von Balcneia seine früheren Gesinnungsgenossen bei Gelegenheit des Aufstandes von
Murcia und Carthagena unter Bonn et mit nnbarnchcrziger Härte. Mit Narvaez ist er
persönlich verfeindet, weil dieser ih» im Jahre 18>'>0 von dem Posten eines Gencräl-
Gouvcrncnr's von C»ba des schlaffen Benehmens wegen, das Nvncali bei dem ersten An¬
griff des Lopez ans jene Insel bewies, abberief und durch Jost de la Concha ersetzte.
Seit dem Sturz des Regenten hat Roncali übrigens stets für einen prononcirten Mo¬
narchisten gegolten. Llorcnte, der Minister des Innern, hat seine Carriörc als Jour¬
nalist begonnen, war 18i>7 zur Zeit des Ministeriums Pachcco ein Anhänger der soge¬
nannten Puritanv's, d, h. der streng Constitutionellen, figurirte aber letzthin unter den
Mitgliedern der Partei Bravo Murillo's selbst noch am 1. Den. bei der Präsidentenwahl.
Mit dem Portefeuille der Justiz ist Vcchey bekleidet, den die Stimmen der Ministeriellen
am 1. zum Vicepräsidenten deS Congrosses erhoben. Der Fiuanzuiinistcr Aristizabal fun-
girte als Director des Staatsschuldeuwcsens unter dem gestürzten Cabinet. Lara der
Kriegsminister, trat zwar einige Tage vor Eröffnung der Cortes aus diesem Posten von
der Seite B. Murillo's zurück, hat aber vorher an einer langen Reihe von Gewalt¬
akten des Letzicrn Theil genommen. Nur dem Marineminister General Mirasol kann
man keine Antecedenzien vorwerfen, die seine constitutionellen Gesinnuugc» verdächtige»;
ebenso wenig aber bietet er auch Garantien, die, neben den Personen seiner College»,
seiner Ernennung eine große Wichtigkeit gebe» konnte».
Der Beginn der neuen Verwaltung ließ befürchten, sie werde völlig in die Fuß-
tapfen ihrer Vorgänger trete». Wir habe» schon berichtet, basi nach der Freisprechung
der K Opvositionöblältcr der Hauptstadt die Redacteure derselben beschlossen hatten, auf
alle Gefahr hin, den Kampf gage» Bravo Murillo wieder aufzunehmen. Diese uner-
schrocküe» Männer bliebe» ihrem Worte getreu. Noch am 1i. als weder der Sturz
Murillo's noch die Frage, wer ihm nachfolge» sollte, entschiede» war, bereitete» sämmt¬
liche Zeitungen für die nächste Morgeimummcr die energischsten Oppositivusartitcl vor.
Zugleich erschien das Wahlmaiiifcst der moderirte» Partei, »uterzeichnet von i>8 Namen
der hervorragendste» Männer Spaniens, an ihrer Spitze den deS Marschall'S Narvaez.
Der Gouvcr»c»r von Madrid, Herr Diaz, vielleicht uoch ob»e Kunde von den Vor¬
gängen im Palaste wurde in der Nacht vom 1i. zum.tu. durch de» Angriffschorus der
Oppositionspresse und das Manifest überrascht; despotisches Werkzeug eines despotischen
Ministers, confiscirte er Alles und der Fiskal vo» Madrid ging so weit in der Frechheit
eines ehrlosen Servilismus. das Wahlmcmifcst in Anklage zu stellen und die Verhaftung
seiner Unterzeichner zu beantragen. Es ist nothwendig zu bemerken, daß dieses Dokument
voll der höchste» Mäßigung und edelsten Loyalität ist, daß seine Unterzeichner auf jeden
Appell an die politischen Leidcnschafte» verzichte», wozu das eidbrüchige Verfahren B. Mu-
rillo'S sie wohl berechtigt hätte. Sie zähle» die Wohlthäte» auf, die Spa»le» der Consei-
l»dio» verdankt, erinnern daran, wie dieselbe in den stürmische» Tage» vo» 1848 die
königliche Gewalt »ud die öffentliche Orduu»g geschirmt, crörtcr» die VcrfassuugSprojekte
Murillo's und weisen nach, daß sie die öffentlichen Freiheiten vernichten und die nationale»
Institutionen zu einem leere» Spielwerk herabsetze» würden. Sie erklären mit verständ¬
licher Hi»de»t»»g auf Frankreich, daß Sparte» nicht nöthig habe, seine Freiheit z» opser»,
um fremde» Beispiele» zu folge», daß vielmehr eine wahrhaft spanische Politik gegc»-
wärtig allein die Ratio» vor Gefahre» schützen und auf der Bahn des Wohlstandes
und glücklicher Entwickelung erhalten könne. Sie fordern endlich die Wähler aus, nur
treuen Anhängern der Verfassung ihr Votum zu gebe».
Der Confiscation dieses Manifestes, so wie ihrer sämmtliche» Blätter folgte ein
Wuthausbruch der OppofltionSpressc, den man begreifen wird, wenn man weiß, daß
Murillo's Entlassung alle Klassen der Bevölkerung Madrids in einen Taumel der
Freude geworfen hatte. Von einem Ministerium befreit, das die Nation in die furcht¬
bare Alternative zwischen Revolution und Despotismus zu stellen drohte, brach die
öffentliche Stimmung in den einstimmigen Ruf ausi „Spanien ist gerettet!" Die Ent¬
täuschung, welche jene despotischen Acte hervorriefen, war daher von der änsicrsten Ent¬
rüstung begleitet. Der einmal entfesselte Strom, der so lange niedergetretenen Meinung
spottete aller Gewaltmaßregeln. Ohne Rücksicht ans die vorhergegangene , Beschlag¬
nahme erneuerte die Presse am folgenden Tage ihre Augriffe mit verstärkter Gewalt.
El» Schrei auf Anklage gegen Murillo drang ans ihren Spalten, mit dem sich die feind¬
seligsten Urtheile über seine Nachfolger verbanden. DaS Diario Espagnol, ein modc-
rirteö Blatt, schleuderte den Letzten Worte zu, die von der ganzen Energie spanischer
Leidenschaft Zeugniß geben: „Nieder mit den Erben der Principien des gestürzten
Eabincts, nieder mit dem Leichnam, der aus dessen Grabe aufsteigt, um die liberale
Meinung und die Freiheit des Gedankens zu verfolgen. Mögen die Wähler sich vor¬
stellen, was die Wahlen unter einem Ministerium sei» werden, das nicht erröthet, eine
solche Erbschaft von Missethaten anzunehmen, nud seine Verwaltung mit ähnlichen Ma߬
regeln beginnt. Mögen sie sich rüsten, ihm einen unerbittlichen Krieg zu machen, wie
sie dazu bereit waren, jenen gegenüber, die es unter andern Namen fortsetzt."
War das Ministerium Noncali wirklich unschuldig an den Maßregeln des Herrn
Diaz, oder wagte es nicht, sie vor der aufgereizten öffentlichen Meinung zu vertreten,
es entließ ih» sowol, als den Fiscal von Madrid von ihren Posten, annullirte die
Anklageschrift des WahlmaniscstcS nud gab dasselbe frei. Wenn man bedenkt, daß
dieses Verfahre» erst nach einem fast zweitägigen Zögern erfolgte, so ist der Verdacht
erlaubt, daß jene Acte welliger deshalb desavouirt wurden, weil sie widerrechtlich und
gesetzlos, als weil sie gefährlich oder vielmehr unmöglich durchzuführen waren. Herr
Bravo Murillo hielt es Angesichts des Sturmes, der sich über seinem schuldigen Haupte
zusammenzog, sür gerathen, eine Erholungsreise außerhalb der Grenze» Spaniens zu
machen, wozu ihm der französische Gesandte, General Aupick, der in Vollziehung der
Politik seines Gebieters das entlassene Cabinet durch seine Rathschläge angespornt nud
geleitet hatte, bereitwillig die Pässe lieferte. Wenige Tage nach seinem Sturze reiste
Murillo eiligst nach Frankreich ab, begleitet von dem Exministcr des Jnnern, Herrn
Bordia, einer seiner unterwürfigen Creaturen, den er wenige Wochen vor Eröffnung der
Eortcs, nach Ordvnez Rücktritt, mit dem Ministerium des Jnnern betraut hatte. Seine
übrigen College» sind vorläufig i» Madrid zurückgeblieben. So stark war die Fluth
des öffentlichen Hasses, welcher diese Mensche» verfolgte, daß selbst einer der Generale,
den B. Murillo der Königin zuletzt zum Kriegsministerium vorschlug, Rcudon, ein
Brigadier, seit vierzehn Jahren aus dem activen Dienst, öffentlich i>» Diario Espagnol
erklärte, er habe niemals von dem frühern Ministerpräsidenten ein solches Anerbieten
erhalten, würde es außerdem auch unbedingt zurückgewiesen haben.
Die Aufhebung der von den, Gouverneur und dem Fiscal von Madrid angeord¬
neten Maßregeln und die Absetzung dieser Beamten bestimmten die oppositionelle Presse
dem Ministerium gegenüber eine ruhigere, abwartcndc Haltung anzunehmen. Weit ent¬
fernt davon, es zu unterstützen, ja mißtrauisch jeden seiner Schritte beobachtend, wollte
sie ihm dennoch Zeit gebe», seine Politik darzulegen. Am -Ill. erschien nnn das Pro-
grauen des Cabinets in der Gestalt eines Rundschreibens, das der Minister des Innern,
Herr Livre»te, an die Gouverneure der Provinzen erließ. Dasselbe behandelt aus¬
schließlich die Frage der Verfassungsrevision. Es spricht vorerst die Ansicht aus, daß
eine Aenderung mancher Verfassungsbestimmungen nothwendig sei, wofür als Beweis an¬
gegeben wird, daß seit sieben Jahren <M der letzten Revision von keines der
verschiedenen Ministerien, obwol deren guter Wille nicht zu bezweifeln sei, sich in den
Schranken der Verfassung habe halten tonnen. Eine Entscheidung des Landes müsse
aber auch über die Revision stattfinden, da die Krone diese Frage einmal angeregt habe.
Die Entscheidung solle in voller Freiheit erfolge», und das Ministerium werde, nachdem
die öffentliche Stimme sich über die Ncvisiousprvjectc ausgesprochen, sich entschließen,
was davon dem Votum der Cortes zu unterbreiten sei. Den Schluß bildet eine Pero-
ration, in der gesagt wird, das Cabinet wolle den Glanz der Krone erhöhen, ohne das
Repräsentativsystem herabzudrücken. Die freie Discussion und die Verantwortlichkeit der
Minister solle nach wie vor das Princip der öffentlichen Institutionen bleiben.
Man beurtheilt dieses Programm nicht zu streng, wenn man darin die Absicht
erblickt, in der augenblicklich schwierigen Situation bestimmte Erklärungen zu vermeiden,
zu temporisiren und später je nach den Umständen zu handeln. Der Hos hat —> das
geht aus dem Verhalten des Ministeriums, wie aus dem in Rede stehenden Programme
hervor .......... ans seine Absichten, das parlamentarische System zu stürzen, nicht verzichtet,
ist aber genöthigt, sie in Etwas zu verschleiern. Das Ziel ist nicht aufgegeben, nur
der Weg, der dahin führen soll, ist geändert. Es ist fast überflüssig, hinzuzufügen, daß
z» einer Verstärkung der königlichen Prärogative in Spanien im Interesse des Landes
nicht das geringste Bedürfniß vorliegt, daß sie im Gegentheil eine Fluth Von Miß-
bräuchen und traurigen Resultaten herbeiführen würde. Die Basis, ans der die legis¬
lativen Gewalten ruhen, ist eine streng konservative, ein durch hohen Census bestimmtes
Wahlrecht mit noch beschränkterer Wählbarkeit für den Congrcsi, die königliche Er¬
nennung auf Lebenszeit aus gewissen Kategorien sür den Senat, eine durch Kautionen
und scharfe Strafgesetze (wir rechnen die Murillo'schen Willturdecrctc nicht darunter)
bedingte Preßfreiheit; eine Revision im monarchischen Sinne müßte dem parlamentarischen
System an die Wurzel greifen, und dahin geht augenscheinlich die Absicht des Hofes.
Die Befugnisse der Eortes sür die Gesetzgebung und hauptsächlich für die Besteuerung so
zu vermindern, die Ministerverantwortlichteit so unwirksam zu mache», durch Fesselung
der freie» Discussion und noch gesteigerte Beschränkung des Wahlrechts die Beherr¬
schung des Wahllörpcrs und des Parlaments Seitens der Regierung so zu sichern, daß
die Krone factisch die volle Alleingcwalt in Händen hat, und die Cortes nnr »och ein ge¬
fügiges Instrument des Gouvernements sind, ist sein Strebe». Die Ncvisionsprojeete Bravo
Murillo's enthüllen diesenZwcck so nnverl'cnnbar, daß jede Beschönigung desselben mit liberalen
und patriotischen Floskel» wie eine Verhöhnung der gesunde» Vernunft erscheinen aufi.
Herr Llvrcutc hat in seinem Cireular mit keinem Worte und in keinem Punkte jene
alle nationalen Freiheiten eseamotircnden Projecte seines Vorgängers ausdrücklich des»
avouirt. Er hat die ganze Frage nur mit einer unklare» Phrasenbrühe begossen und schlie߬
lich als Streben des Cabinets etwas hingestellt, was man als völlige» Unsinn betrachten
müßte, nehmlich die Krone zu erhöhe», oh»e die nationalen Freiheiten z» beschränken,
wüßte man nicht, daß diese widerspruchsvolle Formel daraus berechnet ist, Vcrwin'lag
in die Reihen der Opposition zu bringe». Seit nach dem Sturz Espartero'S die inneren
Zustände Spaniens sich allmählich geordnet haben, ist die Geschichte des Landes sast
ausschließlich der Kampf der parlamentarischen Gewalt gegen die gouvernementale Kor¬
ruption und die despotischen Gelüste des Hofes und der Eamarilla. Die Rechte der
Cortes beschränken, der Oeffentlichkeit und Preßfreiheit noch engere Grenzen ziehen,
heißt die Geschicke der Nation, ihre Zukunft und Freiheit dem Spiel schmählicher
Palastintrigncn, den verderblichen Einflüssen Frankreichs, den herrschsüchtigen Anmaßun¬
gen des von Rom aus geleiteten Klerus in die Hände liefern. Wenn in den letzten
sieben Jahren die Minister die Verfassung öfters verletzt haben — abgesehen von dein
systematisch auf ihre Vernichtung hinarbeitenden Verfahren Murillo's — so ist dies die
Schuld der Minister, nicht der Verfassung; den» die Entschuldigung drängender Noth¬
wendigkeit lag niemals dafür vor. Höchstens könnte man in Folge dessen Bestimmungen
treffen, die Wahlen zu läutern, die Eortes unabhängiger zu machen, die Ministervcrant-
wortlichkeit zu verschärfen, nicht aber alle Garantien abschwächen, welche die öffentliche
Freiheit gegen die Attentate eines nach der Nbsolutic lüsterne» Hofes und seiner mit
zahlreichen Mitteln der Gewalt und Bestechung ausgestatteten Räthe schützen sollen. Das
Ministerium Roucali-Llorentc wartet offenbar den Verlauf der Ereignisse ab, deren Gang
es mit allen irgend anwendbaren Mitteln seinen Plänen gemäß zu leiten versuchen wird,
um dann den nächsten Cortes einen geringern oder größern Theil, vielleicht das Ganze
der Murillo'schen Rcvisivnsprojcete vorzulegen.
Daß diese Politik, die nnter einem konstitutionellen Firniß die Zwecke des Absolu¬
tismus verfolgt, der Nation und ihren Freiheiten noch große Gefahren und schwere
Krisen zu bringen droht, ist nicht zu läugnen. Immerhin bleibt die Vertreibung Murillo's vom
Staatsruder und die seinen Nachfolgern auferlegte Nothwendigkeit, der Presse und Wahl¬
bewegung eine größere Freiheit zu gestatten, ein außerordentlich wichtiger Sieg für die con-
stitutionelle Sache. Es ist kaum glaublich, daß bei der durch die letzten Ereignisse
gegebenen politischen Anregung, bei der Unermüdlichkeit der Presse, der Zähigkeit und
Rührigkeit der liberalen Parteien eS dem Ministerium! gelingen sollte, eine Majorität
aus den bevorstehenden Wahlen zu erhalten, die sich zu Revisionen der Verfassung ver¬
stehen dürfte. Von Neuem an die Mittel der Gewalt zu appelliren, dürste man aber
noch weniger wagen; die Velleitäten eines Staatsstreichs, die Murillo herauskehrte, haben
zu bedenkliche Gegenwirkungen hervorgerufen, die man zum zweite» Male nicht ungestraft
heraufbeschwören würde. Die Presse, welche mit seltener Einigung der verschiedenen
liberalen Parteien ihre Opposition gegen jede Revision fortsetzt und das Sündenregister
des gestürzte» Cabinets unaufhörlich reproducirt, läßt das politische Bewußtsein der
Nation am Rande der ihren Institutionen drohenden Gefahren nicht einschläft». Als
ein Beispiel nachahmnngöwerthcr Eintracht, mit der Parteien jetzt in gemeinsamer Ver¬
theidigung des nationalen Rechtes handeln, die vor noch nicht langer Zeit sich in blutigen
Kämpfen zerfleischten, kann das Urtheil der Epoea, eines Moderadoblatts, über die
Progrcssistcn, gleich nach Murillo's Rücktritt, dienen. „Das Verhalten der Progressiv»
i» diese» Tagen," sagte sie, „ist ein Muster vo» Vaterlandsliebe, Selbstverläugnung und
Uneigennützigkeit, und kann nur mit dem der Moderados verglichen werden." Bemerkens-
werth ist ferner die von dein Heraldv gebrachte Aufzählung der politischen Verbrechen des
gestürzten Ministeriums. Derselbe rechnet dem Cabinet Murillo 3et capitale Verfassung«-
Verletzungen und 57 eigenmächtig deeretirte Credite im Belauf von fast 90 Millionen
Realen (<> Millionen Thaler) nach.
Wenn einige neuere Nachrichten wissen wollen, daß es dem gegenwärtigen Cabinet
gelungen sei, die Phalanx der vereinigten Oppositionen aufzulösen, den größte» Theil
der Moderados zu sich herüberzuziehen, ja sogar die Auslösung des moderirtcn Wahl-
comitv'S zu veranlassen, so muß nach verbürgteren Quellen und offenkundiger Ereignissen
dies bis jetzt als unrichtig bezeichnet werden. Daß einige Moderados, die nur die ma߬
lose Willkür Murillo'S und die dagegen sich erhebende allgemeine Bewegung in das
Oppositionslager getrieben hatten, der milder auftretende» Politik der jetzigen Minister
sich wieder anschließe», ist gewiß und war vorauszusehen. Die beiden Hauptbestandtheile der
moderirtcn Opposition, die sogenannte liberale Fraetio» derselben und die Partei des
Narvaez beharren aber i» der »»bedingtesten Zurückweisung aller Ncvisionsprvjccte. Der
Hcraldv, das eingestandene Organ des Herzogs von Valencia ist der eifrigste Ver¬
theidiger der unveränderten Aufrechthaltung der Verfassung. Das Cabinet kann sich so
wenig aus diese letztere Fraction stützen, die gerade die Sonimitäte» der Modcradopartci
im Heere, der Noblesse, der Magistratur und in den Wortes in sich schließt?, daß es
das Gesuch des Marschalls Narvaez, der noch immer in Bayonne verweilt, nach Spanien
zurückzukehren, abschlägig beantwortet hat. Indessen verfolgt es seine Schaukelpolitik,
entfernt auf der einen Seite die zu verhaßte» und compromittirte» Werkzeuge B. Murillo's
aus ihren Aemtern, verfolgt aber gleichzeitig hier und da die Oppositivnsprcsse mit
Benutzung der Willkürdeercte jenes Ministers. So ist das Diario Espagnol dnrch
erneute Beschlagnahme und gefängliche Einziehung seines Geranten zur momentanen Sus¬
pension seines Erscheinens gczwnngc» worden, wahrscheinlich jedoch nur bis zu einer
abermaligen, nahen Freisprechung. Die Wahlbewcgnng in den Provinzen nimmt bereits
ihren Anfang und die Abgeordneten der aufgelösten Cortes eilen in ihre Wahlbezirke,
um ihre Wiederwahl vorzubereiten. Von: Ausfall der Wahlschlacht wird allem Er¬
messen nach das Schicksal des spanischen Constitutionalismus, sür die nächste» Jahre
wenigstens, abhängen.
— Lord Aberdeen's Cabinet ist jetzt vollständig constituirt
und das Parlament hat sich bis zum 10. Februar vertagt, um dem Ministerium Zeit
zu geben, seine Vorlagen vorzubereiten. Vorher theilte Lord Aberdeen in seiner An¬
trittsrede dem Oberhaus das Programm des neuen Cabinets mit, und Lord Derby
fand für gut, die Anklage sactioscr Evalitio» zum Sturz seines Ministeriums zu wieder¬
holen, und dem neue» Premier und seinen College» ein Mißtrauensvotum zu gebe», in¬
dem er in Nachahmung des ewigen denkwürdigen Ausspruchs eines Demokraten aus dem
sächsische» Unvcrstandslandtage erklärte, daß er die Principien des Ministeriums nicht
kenne, sie aber mißbillige.
Daß das neue Cabinet aus einer Anzahl von Persöiilichkcite» zusammengesetzt ist,
deren politische A»kannte»zia» vo» sehr verschiedenartiger Natur sind, läßt sich nicht la»g-
»e», aber ihr Zusammenwirken ist weniger die Ursache als die Wirkung von Lord Derby's
Sturz. Seine ganze Taktik als Oppositionsführer war dennoch zugeschnitten, als ob das
Parlament noch dieselbe Stellung dem Lande gegenüber einnähme, wie vor der Reformbill.
Damals hatten oligarchische Einflüsse einen so überwiegenden Antheil an seiner Zusammen¬
setzung, und die öffentliche Meinung war »och so wenig daran gewöhnt, als selbststän¬
diger politischer Factor aufzutreten, daß der Minister, der eine Majorität innerhalb der
Pforten vo» Wcstminsterhall besaß, sich wenig darum zu kümmern hatte, was man außer-
halb derselben zu seinen Maßregel» sagte, und nur der Umstand, daß mit wenigen Aus¬
nahmen selbst den entschiedensten Partcimännern die Ehre und die Größe des Vater¬
landes stets über Alles ging, hat bewirten können, daß diese Allmacht des Parlaments
so selten mißbraucht worden ist. Seit der Reformbill aber ist das Parlament
gegen die Einwirkung der öffentlichen Meinung viel empfindlicher geworden, und die Macht
der letztem hat dnrch die Gewohnheit sich bei der Entscheidung großer politischer Fragen
selbstthätig zu betheiligen, so zugenommen, daß nicht mehr das Parlament dem Lande,
sondern das Land dem Parlamente die politische Parole ertheilt, und daß selbst die
stärkste Majorität im Unterhause nie würde daran denken können, dem Lande eine Po¬
litik aufzuzwingen, welche seinen wohlerwogenen Interessen widerspräche. Aber persönlicher
Haß gegen den großen Staatsmann, der, nachdem sein klarer Blick die Unzulänglichkeit
der alten Parteiprogramme erkannt hatte, kühn die innere Politik Englands in eine
neue Bah» großartiger Entwickelung lenkte, machte Lord Derby taub gegen die Stimme
des Landes u»d gage» die Lehren der Erfahrung. Er gedachte immer noch dereinst
als Minister im Interesse eines einzelnen Standes zu regieren, der den Verlust seiner
frühern Alleinherrschaft nicht verschmerze» konnte, und spiegelte ihm die mögliche Wieder¬
gewinnung derselben vor, ja, glaubte sicherlich selbst daran. Er handelte wie ein Agi¬
tator, der seine Versprechungen nicht, wie der Staatsmann, nach der Möglichkeit ihrer
Verwirklichung, sondern nach der Zahl von Anhängern, die sie ihm zuführen, mißt.
Die Taktik rächte sich, als er selbst die Macht in die Hände bekam. Er sah ein, daß
er selbst mit einer protcctionistische» Majorität im Parlamente einen: Lande nicht eine
prvtcetionistische Politik werde aufzwingen können, und die erste Arbeit, die er und sein
gewandter Lieutc»a»t im Unterhause zu verrichten hatte, war, ihrer Partei begreiflich
zu machen, daß die Fahne, unter der sie sieben Jahre gefochten, nicht ihre Fahne sei.
Ein offenes Bekenntniß des begangenen Irrthums hätte die Partei trotz ihres merk¬
würdig zahm Glaubens an ihre bisherigen Führer gesprengt, und nur ein offenes Be¬
kenntniß und die bestimmte Verpflichtung, nie wieder zu dem einmal aufgehobene'u
Princip zurückzukehren, konnte die einzige Partei, die einem conservativen Cabinet (im
englischen Sinne) eine Majorität im Parlament und Bestand vor der öffentlichen Mei¬
nung geben konnte, die Pcelitcn, zum Anschluß an das Ministerium bewegen. Lord Derby
widerrief zwar sein früheres politisches Glaubensbekenntnis!, aber in einer Weise, die Meu-
talrescrvationcn verrieth und jedes Vertrauen zu ihm unmöglich machte. Aber selbst
dann hätte mau ihn noch geduldet, wenn er nicht ein Budget zu einer Zeit vorgelegt
hätte, wo es weder angewendet noch gründlich geprüft werde» könne, und die An¬
nahme desselben zur Bedingung seines Verbleibens im Amte gemacht hätte — ein Budget,
das in seinen einzelne» Bestimmungen Rückfälle in den alten protectionistischen Aber¬
glauben verrieth, und den Finanzen des Landes eine ganz neue, die gründlichste Er¬
wägung bedürfende Basis zu geben beanspruchte. Als diese Herausforderung vom Un¬
terhaus,: mit einer Abstimmung gegen das Ministerium beantwortet wurde, legte Lord
Derby sein Amt mit der ziemlich deutlichen Drohung nieder, daß er seinen Nach¬
folgern das Gewicht seiner compacten Majorität fühlen lassen werde, und mit so leiden¬
schaftlichen Angriffen aus die Führer der Peclitc», daß el»e Aussölmung mit dieser
Partei für immer unmöglich ist.
Die compacte Minorität der gegenwärtige» Opposition und die sactiosc Rücksichts¬
losigkeit ihrer Führer machte» el» festes Zusammenschließen aller Fractionen, welche in
einer vollständigen Durchführung der von Sir N. Peel angebahnten Frcihandelspolitik
die Lebensbedingung für die Wohlfahrt der englischen A'ativn erkannt haben, zur ge¬
bieterische» Nothwendigkeit. Der Ruf des Vaterlandes genügte um rivalisircndc An¬
sprüche auszugleichen, und alle Streitigkeiten, so gereizt sie auch geführt worden,
vergessen zu machen. Principien brauchten von keiner Seite geopfert zu werden, denn
seit der Feststellung der commerziellen Politik Englands hat sich der Theil der ehe¬
maligen conservativen Partei, der Sir R. Penis Fahne folgt, immermehr den liberalen
Grundsätzen ihrer ehemaligen whiggistischen Gegner genähert, und in keiner wichtigen
Frage der innern Politik findet ein principieller Gegensatz zwischen ihnen mehr statt,
sondern höchstens eine Meinungsverschiedenheit über die Art, wie die von beiden Fraktionen
anerkannte» Principien anzuwenden sind. Was die äußere Politik betrifft, so hat der
Widerstand der Peelitcn gegen Lord Palmcrsto» als Vertreter der auswärtigen Politik
der Whigs mehr der Form, als dem Prineip derselbe» gegolten, wie Lord Aberdeen i»
seiner Antrittsrede im Oberhause selbst erklärte. Im Uebrigen sprach er sich für Par-
lamcntSrcform, Ausdehnung der Nationalcrzichung, Jnstizrcform, Vermehrung der
Dcscnsivtraft des La»des und natürlich für eine weitere Fortführung und Ausdehnung
der bestehenden FreihandelSpolitik ans.
Seit unsre»! letzten Berichte sind noch eine Anzahl Namen zu dem Ministerium
gekommen, vo» denen wir nnr einige anführe», welche für die Richtung, in welcher das neue
Kabinet seine Basis auszudehnen sucht, charakteristisch sind. Lord Can»i»g, Peelit, den
»lau ansemgs als Minister des Auswärtigen bezeichnete, ist Gencralvvstmeiftcr geworden;
Herr Kcogh, der talentvolle und beredte Führer der „irischen Brigade" ist Gcncralanwalt
für Irland, so daß also auch das Ministcriuni dieser durch ihre Einigkeit und ihre
numerische Zahl wichtigen Partei eine versöhnende Hand hingereicht hat; von den weiter
fortgeschrittenen Liberalen oder wenn man will Radicalen findet man zwei neue Name»
verzeichnet! Villiers als .luclM ^ävnogte (etwa Generalauditeur), der Veteran der
Frcihandclspartei und Antragsteller bei der Frcihandclsdebatte bei Erösf»u»g des gege»-
wärtigc» Parlaments, und B. Osborne als Aduiiralitätssccrctair. Der Reichthum a»
geistigen Kräften, über de» das »nun Cabinet z» gebiete» bat, hat ihm bereits den
Name» „Cabinet aller Talente" verschafft, den schon das Fox-Grenville'sehe Cat'inne, das
nach Pitt'S Tode -180» an's Ruder kam, führte. Hoffeiitlich wird die Gleichheit des
Namens kein One» sür die Dauer der neuen Administration sein, denn das Cabinet
aller Talente von 1806 zcrstcl durch innere Uneinigkeit »ud durch de» frühzeitigen Tod
Fox's nach kaum einjähriger Dauer.
Die beiden Führer der geschlagene» Partei büße» schwer sür ihre Niederlage.
Lord Derby hat a»ßer seinem politische» Partcicapital auch noch im Kampfe seine» Ruf
als ritterlicher Charakter verloren, denn Unaufrichtigkeit und Zweideutigkeit in den
Worte», und aalglatte Geschmeidigkeit in den Grundsätzen, wie sie der Erbe der
Stanley's während des ganzen Verlaufs der neuesten politische Krisis gezeigt hat, ge-
ziemen gewiß einem so pieux vK«zö.-,Iikr nicht. Herr Disraeli halte zwar wohl keine
Grundsätze, aber die mühselige Arbeit eines halben Lebens z» verlieren, und muß wieder
von vorn anfangen, nachdem er kaum »ach jahrelangem Ringe» das heißersehnte und
allzutheucr erkaufte Ziel erreicht hatte. Aber mau wird ihm »icht de» Ruhm versage»
to»ne», daß er de» ungleichen Kampf gegen eine ganze Phalanx der eminentester parla¬
mentarische» Tale»te mit hartnäckigem Muth und glänzendem Geist geführt hat, und
beklagen müssen, daß eine so bedeutende geistige Begabung so sehr des Schwerpunkts
solider politischer Grundsätze entbehrt. Einem ultramontanen irischen Blatte, das sehr
geistreich geschriebene ParlamcntSstizzen bringt, entnehmen wir eine graphische
Schilderung der Schlnßkatastrophe seiner ministeriellen Wirksamkeit: Disraeli's Schlu߬
rede, die drei Stunden dauerte, war eine der gewaltigsten oratorischen Leistungen, die
man je im Hanse gehört hat. Personen, welche sich an alle Leistungen Eanning's,
Stanley'S, Plnnkctt's, Lindhnrst's, Brougham's, Peel's und Sheik'S erinnern können,
erklären, daß Theile seiner Rede in schrecklicher Jntensivität des Sarkasmus Alles über¬
treffen, was jemals von einem dieser Redner in seinen besten und erfolgreichsten Reden
gehört worden ist. Er war, wie Kemble von Kaau sagte: „Fürchterlich im Ernst."
Er sah sein Schicksal voraus und schäumte darüber: getäuschte Hoffnung machte ihn
wahnsinnig; die Verzweiflung flößte ihm Wuth ein; seine Sarkasmen waren sardonisch
und schrecklich; seine eigene Aufregung war entsetzlich und seine Zuhörer theilten sie ......
sie waren buchstäblich clettrisirt. Die glühende Leidenschaftlichkeit seiner Stimme war
geradezu peinlich. Die Angriffe und der Spott seiner Gegner reizte ihn bis zur Wuth,
und er zahlte ihnen mit Wuth, Energie und blitzglcicher Beredsamkeit zurück. Er fühlte,
wie ihm der große Preis gerade in dem Augenblick ans den Händen gerissen wurde,
wo er ihn festhalten wollte, und er verachtete die Beweggründe der Führer, die sich
verschworen hatten, ihn niederzusetzen, und oben ans der Galerie saß Einer, dessen
stolze und leidenschaftliche Seele mit ihm sympathisirte, und dessen Gesicht unzweideutige
Freude über die Züchtigung, welche die Gegner empfingen, verrieth. Aber Beide fühlten,
daß Alles vorbei sei, und die letzten Worte des aufgeregten Redners, obgleich mit er¬
schütternder Gewalt gesprochen, schienen ans seinen Lippen zu sterben, wie eine Art
Grabgcläut aller seiner theuersten Hoffnungen, und hatten einen trüben und melancho¬
lischen Klang, als verkündeten sie ein dieses Gefühl der Eitelkeit aller der irdischen Träume,
die nur „der nichtige Bau sind eines SchcingesichtS!"
E
s erregte Auf¬
sehen, als vor einigen Wochen in der zweiten preußischen Kammer der Abgeordnete
Graf Renard, eines der eifrigsten Mitglieder der äußersten Rechten, einen Antrag,
die Reform der Sportclgcsetzgcbung betreffend, einbrachte und die rechte Seite des
Hauses trotz der Erklärung des Justizministers, daß die Regierung eine Vorlage hier¬
über vorbereite, die Dringlichkeit des Antrags verlangte, und zur Abstimmung brachte.
Bekanntlich wurde derselbe nur mit der winzigen Mehrheit von vier Stimmen ver¬
worfen. Dies Resultat erregte im Lager der Rechten den höchsten Unwillen, die Kreuz-
zeitung perorirte über das traurige Bündniß des Ministeriums mit der Linken, mit
welcher vier Minister gestimmt hätten, und forderte zugleich das Land und die Wähler
aus, aus diesem Votum Kenntniß zu nehmen, auf welcher Seite die aufrichtigen Ver¬
treter der wahren und dringenden Interessen des Volkes sich befänden. Es ist gewiß
interessant zu erfahre», daß hinter dieser tugendhaften und patriotischen Entrüstung nnr
der Aerger über eine gescheiterte PortefcnilleSintriguc sich verbarg. Die äußerste Rechte
wünschte nämlich den Mann ihres Vertrauens und ihrer Zuneigung, Herrn Abbe», den
sie gegenwärtig gerade nicht zur Förderung der parlamentarischen Geschäfte auf den
Präsidcnteustuhl der zweiten Kammer erhoben hat, statt des Herren Simons, der nicht
das Glück hat, vor den Augen des Herrn v. Gerlach und seiner Partisane Gnade zu
finden, in das Justizministerium zu bringen. Der jetzige Chef der Justiz soll, dem Vernehmen
nach, in den höheren Regionen nicht besonders beliebt sein und würde wahrscheinlich nach
einer Abstimmung der Kammer, die nach den von ihm abgegebenen Erklärungen den
Charakter eines unzweideutigen Mißtrauensvotums gehabt hätte, eine Stellung ausgegeben
haben, die, von mehr als einer Seite angefochten, ihrem Inhaber verleidet werden musite.
Bei dem loyalen Abscheu, deu die Partei des Herrn von Gerlach gegen jede parlamen¬
tarische Anmaßung, die Besetzung des Ministeriums bccinflußen zu wollen, zur Schau
trägt, muß man Betrübniß empfinden, sie selbst den Weg der Sünde wandeln zu sehen,
um ihren Lieblingen den Eintritt in das Cabinet zu offnen. Allerdings der Zweck heiligt die
Mittel! Bemerkenswert!) ist es aber ferner noch, daß sie dabei ein Verfahren nicht verschmähte,
was selbst eine, parlamentarischen Grundsätzen anhängende Partei nicht befolgen wird, so lange
es sich nicht darum handelt, einem Ministerium wegen seiner allgemeinen Amtsführung den
Proceß zu machen. Wenn bei einer legislativen Frage die Regierung eine Vorlage
verspricht, so pflegt man ihr die Rücksicht zu erzeigen, die Vernunft und Billigkeit ge¬
bieten, dieselbe abzuwarten und ihr die dazu nöthige Zeit zu lasse». Die Gewohnheit
der Demokratie in der Nationalversammlung von 1848, bei jeder Gelegenheit dem Mi¬
nisterium die Initiative aus den Handen zu reißen, wurde mit Recht getadelt. Die
äußerste Rechte verfuhr in diesem Fall nicht nur eben so, sondern ahmte auch darin
jene nach, daß sie mit höchstem Pathos ihre Liebe zu den armen und leidenden Klassen
hervorkehrte. Und diese ganze Komödie des Mitleids und öffentlichen Pflichteifers nur
um eine» mißliebigen Minister durch einen der frommen Anhänger des Herrn v. Gerlach
zu ersetzen! Einige bezeichnende Vorgänge bei der Abstimmung dürfen nicht Übergängen
werden. Bei den ersten Proben dnrch Ausstehen und Sitzenbleiben, darauf durch Zäh¬
lung, erklärte sich eine kleine Mehrheit für die Dringlichkeit; als die namentliche Ab¬
stimmung verlangt wurde und stattfand, schlug dieselbe aus die andere Seite um. Herr
v. Manteuffel, der Untcrstaatsscerctair des Innern, war während des Namensaufrufes
im NcstaurationSzimmer, und enthielt sich auf diese Weise seiner Stimme als Abgeord¬
neter. Die beiden Minister v. Raumer und v. Westphalen, gleichfalls Abgeordnete der
zweiten Kammer und bekanntlich die der Junkerpartei besonders angenehmen Mitglieder
des Cabinets, erschienen unmittelbar nach dem Schluß der Abstimmung in der Kam¬
mer, und wurden dadurch gleichfalls der Nothwendigkeit überhoben, sich für oder wider
zu entscheiden. Die vier Minister, deren Votum mit der Linken die Kreuzzeitung so
tief gekränkt hat, sind die Herren v. Manteuffel, v. Bodelschwingh, v. d. Heydt und
Simons. Was das Verhalten der Linken bei dieser Gelegenheit betrifft, so genügt es,
zu bemerken, daß, wenn auch weder Herr Simons, noch überhaupt das ganze Ministe
rinn Vertrauen oder Sympathien bei der constitutionellen Partei besitzen, diese ihre Hand
unmöglich zu einer Juukercabalc bieten konnte, die eine Veränderung erstrebte, welche
eine Verschlimmerung genannt werden müßte; daß ferner Herr Uhden, der schon als
Mitarbeiter Hassenvflng's bei dem Umsturz der hessischen Verfassung der Letzte ist, den
sich Preußen als Justizminister wünschen kann, außerdem an Fähigkeit für diesen Posten
weit hinter Herrn Simons zurücksteht. Erwähnt mag noch werden, daß Gras Renard,
der so beweglich von den die Armen erdrückenden Sporteln der preußische» Justiz sprach,
nach der Abstimmung zu Herrn Simons ging, um ihm seine Freude auszudrücken, daß
sein Antrag nicht die Mehrheit gefunden habe. Ja, Brutus ist ein ehrenwerther Mann,
und ehrenwerthe Männer sind sie Alle.
— Johann Sebastian Bach's Matthäus-Passion, musi¬
kalisch-ü sthetisch dargestellt von Johann Theodor Mvsewius. MitMu-
sikbcilageu. Berlin, Guttcntag. — Dieses Buch erschien schon im Anfange des
verflossenen Jahres. Allein sein vortrefflicher Inhalt und die edle musikalische Gesin¬
nung veranlassen uns, wenigstens in einigen anerkennenden Worten, dem Verfasser für
seinen Fleiß und seine Hingebung zu danken. Das Werk enthalt eine sorgfältige Ana¬
lyse der Matthäus-Passion; die genaue Bekanntschaft des Verfassers mit jeder einzelnen
Note des Werkes macht es ihm möglich, die besonderen musikalischen Schönheiten deutlich
hervorzuheben, und aus diesen concreten Fällen den ästhetischen Inhalt zu demonstriren.
Diese Art und Weise, musikalische Werke zu erklären, ist gewiß die einzig richtige. Wir
sind jetzt nicht mehr daran gewohnt, und selbst die musikalischen Zeitungen, denen es
am meisten obliegt, durch praktische Winke und sorgfältige musikalische Beschreibungen
zu belehren, haben zum Theil diesen Weg Verlassen und gefallen sich häusig darin, mit
philosophischen Phrasen um sich zu werfen. Viele dieser Blätter sind deshalb in der
Achtung der Musiker gesunken; sie wirken nur noch unter den Dilettanten, welche, freilich,
aus Unkenntniß der musikalischen Wissenschaft, in diesen leeren Phrasen eine hohe Weis¬
heit zu erblicken glauben. Es wäre für einen gediegenen Musiker die dankbarste Auf¬
gabe, dem gebildeten Dilettanten die classischen Werke der Tonkunst durch eine Reihe
von Aufsätzen in ihren ästhetischen und musikalischen Schönheiten aus einander zu setzen,
so daß die minder Erfahrenen schon mit Hilfe eines Clavicranszugcs ein klares Ver¬
ständniß sich erwerben dürsten, die Gcrcistcrcn aber aus der Partitur selbst die höhere
Erkenntniß sich aneigneten. Die größeren Gcsangöwcrke würden zum Beginnen einer
solchen Aufgabe die geeignetsten sein; das der Musik beigegebene Wort bietet dem Er¬
klärer eine Menge Momente, in denen er sich dem Schüler ans verständliche Weise nä¬
hern kann. Die reinen Jnstrnmcntalwcrkc freilich bedingen ein wenigstens annäherndes Ver¬
stehen der musikalische Wissenschaft, außerdem aber auch eine gewisse natürliche Anlage.
Durch Hilft dieser letztem wird es leichter möglich sein, die musikalischen Gedanken
eines Andern zu durchdringen und mitzufühlen, als durch die seltsamen Commentare,
,die über die größeren Orchestcrwerke in der jüngsten Zeit von schwachen Musikern und
schlechten Aesthetikern für unmusikalische Dilettanten geschrieben worden sind.
Wer in dem Buche von MosewiuS eine Anzahl von Redensarten sucht, die er aus
leichte Weise sich anzueignen und in ästhetischen Theezirkcln zu verwerthen vermeint, der
irrt sich. Es tritt ihm hier ein tiefer Ernst entgegen; man sieht hier die Arbeit eines
Mannes, der mit dem, was er in einem langen und thätigen Leben für heilig achten
gelernt hat, nicht Scherz treibt, der Worte der Abwehr genug für Jene hat, die in
ihrer falschen Weisheit uns die ruhmwürdige Vergangenheit unsrer Tonkunst für eine
Chimäre erklären.
Um dem Versasser in seiner Darstellung der PassionSmusik zu folgen, ist es sür
den Leser nöthig, daß er sich die bei Schlcsingcr in Berlin erschienene Partitur oder
den Clavicrauszug zur Seite legt, ans welche sehr häufig hingewiesen ist. Mit diesen
Hilfsmitteln aber ist es leicht, den würdigen Vs. zu verstehen, denn seine Darstellung ist
sehr klar, weil sie sich auf große Kenntnisse stützt und durch ein warmes Gefühl ver¬
mittelt wird. Es giebt nur wenige Musik'gelehrte in Deutschland, welche in genauer
Kenntniß der alten Tonmeister, und insbesondere von I. S. Bach, mit MosewiuS wett¬
eisern dürften. Davon giebt fast jede Seite des Buches Zeugniß, und wir stoßen oft
auf Notizen und Bemerkungen, die" nur aus der, Feder eines Mannes fließen konnten,
der diese» Stoff so genau durchdrungen hat. Die Eintheilung des Buches ist sehr
praktisch angeordnet. Zuerst handelt es über die Rolle des Evangelisten, die Tenor-
stimme, welche das Ä6ste und !27ste Capitel des Evangeliums Matthäi rccitirend vor¬
trägt. Diesem Capitel folgen die in dem Evangelium als selbstredend eingeführten Per¬
sonen, die als Individuen hervortreten und von dem Verfasser musikalisch nach ihren
Eigenthümlichkeiten haarscharf von einander geschieden und charakterisirt sind. Diese sind:
Christus; der Verräther Judas; der eifrige, sclbstvcrtraucude, schwache Petrus;
der Hohepriester mit seiner Pricsterschaar; der mitleidige, menschenfreundliche Pila-
tus; die beiden Mägde, die Jünger nud das Volk. Der lebte grössere Abschnitt
handelt über die Kirchengemcine, die zwischen die einzelnen Verhandlungen mit „eige¬
nen, den Anhängern Christi entströmenden Betrachtungen" eintritt, die sich „in Dar¬
legung ihrer Theilnahme als Zuschauer der Handlung und als selbst betheiligt" zeigt.
Durch diese Theilung des Stoffes ist es dem Aichor möglich geworden, erschöpfende
Nachweise über jede einzelne Figur zu geben, die Absichten des Tousctzers zu enthüllen
und zu gleicher Zeit auch nachzuweisen, welche hohe Stellung Bach unter den Heroen
der Tonkunst einnimmt und weshalb er so unendlich viel höher stand, als ein gewöhn¬
licher musikalischer Rechenmeister. Die Kraft der Poesie des Tvnsetzers erscheint neben
seinen tiefsinnigen Ideen am hervorragendsten in den Recitationen des Evangelisten und
in der künstlerischen Gestaltung des Charakters Jesu. Doch mögen wir nicht läugnen,
daß in uns bei der Betrachtung der Recitative so mauche Zweifel über die Schönheit
einzelner Stellen und die Intentionen des Componisten erwachst'» sind, über welche sich
der Verfasser mit Enthusiasmus verbreitet. Auch in Beziehung auf die Arie mögen
wir nicht immer i» die Meinung des Verfassers einstimmen. So tief die Arie» anch
empfunden, mit wie großer Kunst sie auch geschaffen sind, so dürfen wir doch uns da¬
hin äußern, daß eine gewisse in thuen liegende Starrheit, die allerdings der protestan¬
tische» Anschauungsweise der Leidensgeschichte Jesu ganz analog ist, uns mehr mit
Schauer als mit Rührung erfüllt, und daß ein vermittelnder Proceß zwischen den uns
anerzogenen Gefühlen und unsrer historisch-musikalischen Kenntnissen dazu gehört, um
einen bcstiedigcudcn Genuß zu erzielen. Diese kleinen Abweichungen unsrer Ansichten
erscheine» um so geringer, als wir von den tiefen Kenntnissen des Verfassers und
von seinem ernsten Kunsteiser mit der höchste» Achtung ersülli sind und ihm das große
Verdienst mit Freuden zugestehen, daß er in semen Buche zur diesem und gründ¬
lichern Kenntniß des alten Herrn mehr und Ersprießlicheres beigetragen habe, als
irgend einer der frühere» Commentatoren.
In Ur. 2. d. I. ist in dem Artikel „Französische Kritik" el» sächsischer Druckfehler zu
berichtigen: der Kritiker der >!(n-in> >M >Mux mmMe,» heißt Gustave Planche.
Die Grenzboten beginnen am 1, Januar 18i>,'! den XII. Jahrgang.
Die unterzeichnete Verlagshandlung erlaubt sich zur Präimmeration einzuladen
und bittet die Bestellungen möglich schnell auszugeben, damit i» der Expedition kein
Aufenthalt eintritt. Alle R»est)ni!de»»lie>i »ud 'Postämter nelimi'» AestMimmii a».
Wir haben vor einigen Wochen den neuen Roman von Thackeray nach der
Ausgabe von Tanchnii., besprochen; in dieser Ausgabe sind seit der Zeit wieder bereits
eine Reihe von Bänden erschienen. Mit dein vierten Bande ist der neue Roman
von Bulwer vollendet, außerdem ist noch ein zweibändiger Roman: „(>as>,1o ^van"
da, und von den bereits rühmlich angeführten I>!in^>!»l«I->Va'<^ von Dickens der
sechzehnte Band. Indem wir uns die Besprechung aller dieser Schriften vor¬
behalten, gehen wir hier zunächst auf den neuen Roman von Dickens ein, von
dein zwar bis jeizt nnr die erste Hälfte erschienen ist, über den wir uns aber doch
bereits ein ziemlich vollständiges Urtheil bilden könne».
Ein jeder neue Roman von Dickens ist ein Ereigniß, denn er wird von dem
gesammten Lesepnblicum Europa's mit Begierde erwartet und in seinen einzelnen
Stadien mit Eifer verfolgt. Leider kann unser Urtheil diesmal kein so günstiges
sein, als wir es wünschten. Zwar finden wir auel> hier wieder eine Reihe vor¬
trefflicher Schilderungen, eine Ausmalung von Stimmungen, wie sie nur Dickens
versteht, und kleine humoristische Züge der feinsten Art; aber das Ganze macht
einen höchst unbehaglichen Eindruck. Wenn wir es mit einem Schriftsteller zu
thun hätten, dessen Stärke in der Komposition liegt, so würden wir Anstand
nehmen, ein solches Urtheil auszusprechen, bevor die Acte» geschlossen sind. Bei
Dickens ist es aber »icht der Fall. Seine Eompositivu lässt fast immer viel zu
wünschen übrig, seiue Vorzüge liege» stets in der detaillirten Ausführung, und
in dieser hat er sich diesmal die ärgste» Mißgriffe zu Schulden kommen lassen.
Der Gegenstand ist ein Civilproceß, wie in dem Romane von Warren
„zehntausend Pfund jährliche Renten". Es ist einer von jenen ungeheuern, das
Erbrecht betreffenden Processen, die über mehrere Generationen hinanSdauern und
bei denen am Ende alle Parteien gleichmäßig verlieren, weil die Kosten das
NechtSobject übersteigen. Die sittliche Idee, die Dickens in die Entwickelung
dieses Processes gelegt hat, ist die, daß eine große Zahl von Familiengliedern
durch die Betheiligung an diesem Proceß und durch die dadurch erregte» sanguini¬
schen, unbestimmten Hoffnungen aus dem Kreise der praktischen Beschäftigungen,
aus der ernsten, einem bestimmten Zweck nachgehenden Arbeit herausgerissen und
zu träumerischem Müßiggang verleitet werden, und daß sie endlich auf die traurigste
Weise enden. Dickens hat bei allen seinen Darstellungen neben dem ästhetischen
Interesse auch einen praktischen Zweck vor Augen; er will hier die Langsamkeit
des englischen Ncchtsverfahrcns, und was damit zusammenhängt, das Ueberwiegen
des formalen Rechts über das materielle Recht, des Buchstabens über den
Sinn, mit bitterer Satyre geißeln. Das ist unstreitig ein sehr lobenswerther
Zweck, aber er begeht auch hier einen Fehler, zu dem er sich schon in den frü¬
heren Romanen geneigt zeigte: er läßt sich von seiner Heftigkeit hinreißen und faßt
nur die eine Seite des Gegenstandes in's Auge. Daß dieses zähe, unerschütter¬
liche Rechtsgefühl, welches sich einmal von dem formalen Recht und von dem
Buchstabe,! nicht trennen läßt, ein wesentliches Moment für die große nud
freie Entwickelung Englands gewesen ist, fällt ihm nicht ein; er geht in seiner
Leidenschaft so weit, daß er das ganze Rechtssystem der Engländer mit den
schwärzesten Farben malt und daher in unsrer Zeit des Napoleonismus und
der rettenden Thaten zu den bedenklichsten Mißdeutungen Veranlassung giebt.
Etwas Aehnliches hat er schon in deu „Pickwickieru" gethan, wo die Ein¬
richtung der Geschworenen auf eine Weise carikirt wird, die doch über
allen Spaß geht. Daß dem Humoristen darin ein größerer Spielraum ver¬
stattet werde» muß, unterliegt keinen: Zweifel, aber er darf sich doch nicht un¬
bedingt seinen Neigungen und Vorurtheilen hingeben, sonst wird die Freiheit
seiner Stimmmig zur Impietät. Wir wisse» zwar sehr wohl, daß die Engländer
darin Spaß verstehen und daß sie eine novellistische Darstellung nicht für eine
politische Abhandlung nehmen; aber die Neigung zum Radikalismus, d. h. zu
ganz unbestimmten sanguinischen Hoffnungen, die zu den historischen Zuständen
in gar keiner Beziehung stehen, greift auch in England immer mehr um sich, und
el» so geiht- und gemüthvoller Dichter wie Dickens sollte sich nicht dazu hergeben,
ihm Vorschub zu leisten.
Indeß wir könnten von diesem Bedenken absehen, wenn die Ausführung
ästhetisch zu billigen wäre. Das ist aber nicht der Fall. Leider ist die Mysterieu-
literatnr auf Dickens nicht ohne Einfluß geblieben. Der Roman ist erst zur
Hälfte zu Ende, und schou ist eine ganze Reihe von Personen auf die
elendeste Weise umgekommen. Der Eine ist durch täglich wiederholte Opinm-
vergiftuug gestorben, der Andere halb verhungert, der Dritte, ein starker Säufer,
durch Selbstverbrennung umgebracht, ein Vierter liegt den ganzen Roman hin¬
durch in de» letzten Zügen, mehrere Andere treten gleich zu Anfang als
wahnsinnig auf. Alles das sind Opfer jenes gräulichen Processes. Das sind
nach unsrer Ansicht zu viel der Greuel, und sie können durch den sittlichen
Zweck nicht gerechtfertigt werden. Engen Sue hat bei seinen Greuclgeschichten
ja mich einen moralischen Zweck vor Angen, wenigstens nach seiner Angabe.
Indeß bei dem dürftigen Talent Engen Sue'S sind wir meistens in der Lage,
dnrch seine Schauergeschichten in eine ganz andere Stimmung versetzt zu werden,
als er beabsichtigt; wir tonnen meistens darüber lachen. Bei der unglaublichen
Virtuosität unsres Dichters dagegen wird unser Gefühl in der That gefangen;
er erreicht seineu Zweck vollkommen; aber das ist um so schlimmer. Er schildert
alle jene Todesarten ans das Ausführlichste und erfüllt uns dadurch mit Ekel und
Entsetzen. So ist z. B. jene Darstellung des Selbstverbrennnngsprocesses das
Abscheulichste, was in unsrer ganzen Literatur vorgekommen ist,,selbst Ainsworth
ist nichts dagegen. Die Kunst hat in unsren Tagen allgemein die sehr bedenkliche
Neigung, im Schmuz, in der Verwesung zu verweilen, aber sie verkennt damit
ganz ihren Zweck, denu statt uns zu erhebe», zieht sie uus dadurch unter das
wirkliche Leben hinunter.
Ein anderer Fehler, in den Dickens diesmal mehr als früher verfallen ist,
ist die Neigung zu unverständlichen Originalen, für die wir keinen Maßstab in
dein gewöhnlichen menschlichen Leben finden. Wir gehen in dein Recht, welches
wir darin dem Humoristen zusprechen, sehr weit. Wenn es dem Dichter gelingt,
uns ein lebensvolles, in sich zusammenhängendes, heiteres und anziehendes Bild
zu schaffen, so fällt es uns gar nicht ein, die WahrscheiulichkeitSrechnuug dagegen
anzuwenden. Führt uus ja auch die plastische Kunst Centauren, Sphinxe und
ähnliche Gestalten vor, deren Unmöglichkeit uns die Naturgeschichte nachweist, die
aber für unsre Phantasie vollkommen lebensfähig und wirklich sind. Aber diese
Bedingung müssen wir anch stellen: jede eigenthümliche Natur, die uns der
Dichter vorführt, muß lebendig in sich selbst und so interessant sein, daß wir sie
als möglich und wirklich wünschen. In den meisten Fällen ist das auch Dickens
gelungen, und wenn er zuweilen über das Maß hinausgeht, so sehen wir es
seineu übrige» Vorzügen nach. Aber diesmal überwiegen die Mißgriffe. Wir
wollen hier als Beispiel einen kleinen Zug anführen. Eine stolze Lady wird von
zwei Kammerjungfern in einem Wagen abgeholt. Sie läßt die eine, die sie
protegirt, mit in dem Wagen zurück fahren, die andere bleibt draußen. Diese
Letztere zieht zu unsrem Erstaunen plötzlich Schuhe und Strümpfe ans und sängt
an, mit langsamen Schritten auf dem durchregneten Wege dnrch Schmuz und
Pfützen dem Wagen uachzuwatcn. Unser erster Eindruck ist, das arme Mädchen
sei dnrch ihr widerfahrene schlechte Behandlung plötzlich verrückt geworden; wir
erfahren aber später, daß sie in jenem Augenblick beschlossen hat, sich in> der
Lady zu rächen, und daß sie, um diesen Entschluß ihrem Gedächtniß fester ein¬
zuprägen, sich bei der Gelegenheit einen starken Schnupfen und Rheumatismus
holen will. Ein so raffinirter, außer den Grenzen aller Wahrscheinlichkeit liegen¬
der Zug könnte nur dann gerechtfertigt werden, wenn wir vorher die lcidenschaft-
lich rachsüchtige Gemüthsstimmung so im Detail angeschaut und dadurch unsre
Stimmung so vorbereitet hätten, daß wir über keine Extravaganz mehr erstaunen.
Aber wir haben von ihr fast gar nichts gehört und werde» daher vollständig
überrascht. Eine solche Ueberraschung erreicht nie den Zweck, den der Dichter sich
gesetzt hat, und ist daher ästhetisch nicht zu rechtfertigen.
Aehnliche Züge finden sich in nicht geringer Zahl vor. Was. aber noch
schlimmer ist, eine ganze Reihe von Figuren sind ans ähnliche extravagante Ein¬
fälle basirt und weiter nichts als die Variationen solcher Einfälle, z. B. ein
gewisser Skimpole, der, bereits ein bejahrter Mann, sich immer noch für ein
Kind ansieht, wie ein Epikuräer lebt und ruhig erwartet, bis Jemand kommt,
ihm seine Schulden zu bezahlen. Wäre diese Figur mit wirklichem Humor
ausgestattet, so würden wir sie gern hinnehmen, wie wir ja z. B. an
Sviveller große Freude haben; aber die nackte Abnormität kann uns nicht
beftiedigen.
In dem ganzen Roman herrschen die häßlichen, widerwärtigen Charaktere
vor, und bei der Darstellung der guten ist er in der Intention geblieben. So
ist z. B. der tugendhafte Jarndyce ohne alle wirklichen charakteristischen Eigen¬
schaften. Er ist zwar von einer unbegrenzten Humanität, streut Wohlthaten
nach allen Seiten aus und hat für jeden Zug des Herzens die feinste Empfäng¬
lichkeit, aber er hat zu wenig Persönlichkeit und hält daher den anderen greller
ausgeführten Personen kein Gegengewicht. Der einzige plastische Zug, der von
ihm angeführt wird, daß er nämlich droht, zum Fenster hinanSznspriugen, wenn
mau sich bei ihm für irgend eine Wohlthat bedankt, und daß er sagt, der Ost¬
wind wehr, wenn sein sittliches Gefühl irgend wie verletzt wird, ist an sich zu
dürftig und kehrt in zu endlosen Wiederholungen wieder, als daß er diesen
Mangel ersetzen könnte. — Bei einer andern gutartigen Natur hat sich der
Dichter die Aufgabe erschwert. Es ist ein einfaches, bescheidenes Mädchen,
welches durch sein stilles, hingebendes Schaffen und Wirken, durch seiue Gut¬
herzigkeit und seinen klare» Verstand aller Menschen Herz gewinnt und überall
Wohlgefallen verbreitet, wo es einkehrt. Solche Figuren weiß Dickens sehr
schön zu schildern, aber er ist hier in den sonderbaren Mißgriff verfallen, sie ihr
Leben und ihre Wirksamkeit selber beschreiben zu lasse». So ein bescheidenes,
naives Wesen will objectiv angeschaut sein; wenn es uns aber selbst seine Vor¬
züge aus einander setzen soll, seine Bescheidenheit und Naivetät, so glauben wir
nicht mehr daran, denn jene Vorzüge werden nur reizend und anziehend durch
die Bewußtlosigkeit. Es ist um so unbegreiflicher, wie Dickens darauf gekommen
ist, die Hälfte seines Romans mit diesen Tagcbnchblättcrn auszufüllen, da er
dadurch die Einheit seiner Erzählung unnöthiger Weise auf das Unbequemste
unterbricht.
Wir würden als diese Fehler uicht so scharf hervorgehoben haben, wenn
wir nicht schon häufig Gelegenheit gehabt hätten, die glänzenden Vorzüge unsres
Dichters an'S Licht zu setze». spüre» davo» sind a»es in diesem Werte reichlich
Vorhäute», aber wir glauben doch, das! die englische Kritik wohl daran thun
würde, den Dichter sehr ernst auf seine Mißgriffe aufmerksam zu machen, damit
er sich nicht in einen falschen Weg verliett.
(HnnÄlvs tlo >!l (^«Ilmisaünll ^I^puro, earis 1862, ^MM»1-—0ol.ohl>.r.)
Anstralie» ist 3000 Stunden von der englischen Küste entfernt, »»d seit
20 Jahren ist Australien eine reiche und blühende Kolonie; Algerien liegt nnr
36 Stunden von der französischen Küste, und Algerien ist so zu sagen noch zu
erschaffe». l8!!0 führte A»stralieu in England 8000 Ballen Schafwolle zu einem
Werth vo» 1 Million Thaler ein; 1860 war die Einfuhr auf 200,000 Ballen
von einem Werth von 26 Millionen Thaler gestiegen. In demselben Jahre, 1860,
führte Algerien nach 20jähriger Occupation und bei dem fruchtbarsten Boden und
den besten Vorbedingungen zu einer gedeihlichen Entwickelung der Schafzucht kaum
6000 Ballen zu einem Werth von 260,000 Thaler aus.
Diese beide» Zahlengruppen charakterisieren hinreichend den Zustand einer
Kolonie, die trotz der günstigsten Lage und der größten Fruchtbarkeit des Bodens,
trotz des »»ermeßliche» Geldes und Blutes, das Frankreich an dieselbe verschwendet
hat, für das Mutterland immer »och eine schwere Bürde ist, und jetzt erst laug¬
sam anfängt, leise Zeichen einer gedeihlicher» E»twickel»»g z» gebe». Wir glaube»,
daß die Gründe dieser abnormen Erscheinung, die so grell von den Eolonisatioiiö-
versnchen anderer Völker absticht, am besten ans einem kurzen Abriß eüier Ge¬
schichte der Colonisation Algeriens werde erkannt werden, und wir benutzen daher
gern das reiche Material, das in der obengenannten Zeitschrift gesammelt ist, zu
einer Skizze über diesen Gegenstand, der bei der großen Beachtung, die alle zur
Auswanderung taugliche» Gegenden gegenwärtig verdienen, gewiß von Interesse ist.
Die nächste Folge der Einnahme Algeriens durch die Franzosen war eine
totale Anarchie in der ganzen ehemaligen Regentschaft. Die Franzosen hielten
nur die Stadt besetzt, »ut ihre Autorität erstreckte sich nicht über die Vorposten
hinaus. Einen großen Theil der alten Regentschaft hatte der Sturz Hussein Dey's
aller anerkannten Behörden beraubt, und es konnte daher daselbst die Unordnung
unter allen Formen auftreten. In den Städten und unter den Stämmen ver¬
suchten ehrgeizige und unruhige einheimische Häuptlinge sich theils in die Trniuincr
der gefallenen Macht zu theile», theils ihre Herrschaft auf die des gestürzten
Dey's zu setzen. Die Milizen, durch deren Hilfe der Letztere die Steuern ein¬
gesammelt und die Bevölkerung in Gehorsam gehalten hatte, lagen mit den
arabischen Stämme», oder unter einander im Streit. Rund um Algier wurde» die
Güter zerstört, die Garde» verwüstet, die Lnsthänser geplündert und angezündet.
Die Pächter der Meditschah zahlten nicht mehr ihre» Pacht a» die i» der Stadt
wohnenden Eigenthümer; die Dvmanialbesitze wurden von Unberechtigten i» Besitz
genommen oder verheert. Die ganze Regentschaft war ein Schauplatz täglicher
Räubereien und Gewaltthaten.
Das erste und das zweite Jahr der Eroberung vergingen fast ganz in einem
Scharmützelkrieg ohne sichtbare Resultate. Die Politik der Regierung in Bezug
auf Algerien bewegte sich in beständigen Schwankungen und Widersprüchen, als be¬
trachte sie ihre Eroberung als eine Bürde, von deren Erbschaft man sich nicht
offen loszusagen wagt, die man aber doch sehr gern losgewcscn wäre. Zu schwach
an Zahl für das ausgedehnte Terrain konnte die französische Armee nirgend ein
entscheidendes Uebergewicht erlangen, und nach einem dreijährigen kleinen, aber
von unverhältnißmäßigen Verlusten begleiteten Kriege erstreckte sich die Herrschaft
der Franzosen nur auf die Stadt Algier und seine Bannmeile, aus Orau, Mv-
staganem und Arzew mit ihren Umgebungen von wenig Kilometern, auf Bona und
Bndschia, wo die Autorität der Franzosen unmittelbar vor den Thoren aufhörte.
Erst nach dem ersten Frieden mit Abd-el-Kader (am 26. Febr. 1834) nahmen die
Dinge eine festere Gestalt an. Zwar gestattete derselbe dem Emir seine Autorität
auszudehnen und neue Widcvstandsmittel vorzubereiten, aber er erleichterte auch den
Franzosen den Zutritt in das Jnnere, und erlaubte ihnen während der vorübergehen¬
den Ruhe ihre Herrschaft auf den bereits besetzten Punkten zu befestigen. Zu gleicher
Zeit machte die Ordonnanz vom 22. Juli, welche der Cvlvnialverwaltnng andere
Grundlage» »ut dem eroberten Lande den Namen: Französische Besitzungen im
nördliche» Afrika gab, der Ungewißheit ein Ende, ob die Regentschaft unter
Frankreichs Herrschaft bleiben würde oder nicht. Auch eine Jnstizorganisativn
erhielt das Laud.
Das erste äußere Merkmal eines gesicherter» Zustandes waren ausgedehnte
Bauten, die der Staat in Folge der militärischen Besetzung unternahm, und die
in Straßen, Kasernen, Hospitälern, Magazinen, Befestigungen :c. bestanden, so
wie in verschiedenen Gebäuden zum Gebrauche der Civilverwaltnng. Auch begann
nun die Entwässerung der Moräste in der Umgebung von Bona, in der Mctid-
schah nud etwas später die Trockenlegung der Sümpfe bei Bvnffarik, Bndschia
und Philippcville. Für die eigentliche Colonisation, für die Bewirthschaftung
des Bodens, geschah wenig, doch wurde der AkklimatisiruugSgartcu, wo sich die
Colonisten die sür den Boden und das Klima Algeriens am besten geeigneten
Pflanzen und Bäume zu einem mäßigen Preise verschaffen können, und der jetzt
eine Ausdehnung von 34 Hcctareu hat, gegründet. Die Prwatbetheilignng war
noch gering. In Algier war der Zufluß von Einwanderern noch am größten.
Sie bestanden nicht blos aus Gewerbs- und Handelsleuten, wie sie stets Armeen
folgen, soudern die neuen Ankömmlinge suchten Grund und Boden zu erwerben.
Sie kauften nicht nur Besitzungen in der Stadt, sondern auch vor deu Thoren,
obgleich die neuen Eigenthümer in den meisten Fällen nicht einmal ihre durch
Kauf erworbenen Felder zu besuchen wagen durften. Erst als Abd-et-Kader'S zweite
Schilderhebnng mit seiner Niederlage geendigt, als Mascara und Tlemcen ein-
genommen worden, wurde durch deu moralischen Eindruck des Siegs der franzö¬
sischen Waffen eine größere Sicherheit in der Umgebung von Algier hergestellt,
die benachbarten Stämme unterwarfen sich, und die Regierung konnte hier 14
neue Landgemeinden gründen. Einige Privatbesitzer, wie der Fürst Mir, Herr
de Gnilhem, und drei oder vier andere wagten sich sogar über die Linie der
französischen Vorposten hinaus, und ließen sich mitten in der Ebene nieder. Aber
diese geringe Ausdehnung der Kolonisation beschränkte sich lediglich ans die Provinz
Algier, denn in Bona, dessen Bewohner sich stets ruhiger gezeigt haben, als die
der übrigen beiden Provinzen, war den Europäern der Ankauf von Grundstücken
von Eingeborenen fast unbedingt untersagt. Die militärische Besetzung wurde
zwar auf La Calle, wichtig wegen seiner Korallenfischerei, seiner Korkernten und
seines Bergbaus, und Guelma ausgedehnt, die Colonisation zog aber keinen
Nutzen davon.
Der Vertrag an der Tafua mit Abd-el-Kader war ein politischer Fehler, denn
er schwächte das dnrch den mißlungenen Zug nach Constantine ohnedies schon
benachtheiligte Ansehn der französischen Waffen, gab dem Emir in den Augen
der Eingeborenen den Ruf eines unüberwindlichen Gegners der Franzosen, und
ließ ihm Zeit, durch List und Umtriebe eine sast ausschließliche Herrschaft über
das ganze arabische Laud zu begründen, die er bei der ersten günstigen Gelegen¬
heit gegen die Franzosen wendete. Der einzige Vortheil, den die letzteren von
dem Vertrag hatten, war, daß sie ihre freigewordenen Kräfte gegen Constantine
wenden konnten, welches anch am 13. Oct. -1837 in ihre Hände fiel. Die neue
Eroberung wurde jedoch nicht in dem Maße zu der Consolidirung der französischen
Herrschaft durch eine energische Ausdehnung der Kolonisation verwendet, wie man
hätte erwarten sollen. Man befolgte eine eben so falsche und noch exclusivere
Politik als in Bona. Man beschränkte sich nicht blos darauf, deu Europäern
den Ankauf von Grundstücken von den Eingeborenen zu untersagen, mau verbot
ihnen sogar, sich in der Stadt niederzulassen, so daß die Araber glauben
mußten, die Franzosen wollten bei ihnen blos ein vorübergehendes Lager auf¬
schlage», und daß die Fortschritte des Ackerbaus, der Industrie und des Handels,
also die wahren »ud soliden Fortschritte, die allein einen ernsthaften und dauern¬
den Einfluß ans die Zukunft haben, allein die Hilfsquellen Algeriens zur Ent-
wickelnug bringen, und die Herrschiist Frankreichs befestign,, die Mein den Ein¬
geborene» die lleberzenguug geben können, daß eS umviderrnflich das Land in Besitz
nehmen wolle, mehrere Jahre gleich Null blieben. Die Vertheidiger dieses Systems
glaubten die Zukunft der Kolonie lediglich durch den Fleiß der einheimischen
Bevölkerung sichern zu können, und träumten von einer Art franko - arabischen
Fendalregieruug, in der das arabische Element unter dem Schutz der französischen
Militairantorität, nnter welcher eingeborene Häuptlinge gleich mittelalterlichen Vasallen
standen, von jeder Berührung mit den Europäer» rein erhalten werden sollten.
Man vergaß dabei nur, daß diese Häuptlinge, trotz ihrer Uutcrwürfigleits-
bethcnernngen, die Franzosen stets mit doppeltem Haß als Feinde und als Christen
betrachtete», und daß ihr Gehorsam nur so lange wie ihre Furcht dauern werde.
Dieselbe Neigung, schonenden Rücksichten gegen die Vorurtheile der Cingebvrenen
die Sicherung der Kolonisten nachzusetzen, zeigte sich bei der Errichtung der
beiden verschanzten Lager bei Colias und Blidah, welche die Metidschah von
Sude» »»d Westen decken sollte». A»es hier schloß man die Europäer von den
beiden Städten ans, und begnügte sich, vor derselbe» verschanzte Lager anzulegen,
anstatt durch Verstärkung des europäischen Elements in der Bevölkerung der
beiden Städte der Stellung eine dauernde Festigkeit zu geben. Ueberhaupt war
damals die Zeit der kleinen Lager und der kleine» Posten, von denen mehrere,
namentlich MaiVlma und Mered, seitdem Dörfer geworden sind. Ueberall errichtete
man solche Posten; »ran verstreute sie auf verschiedenen Punkten, um das Land
von arabische» Marodeurs zu säubern, und es gegen die gefährliche» Angriffe
zu sicher», welche die verdächtigen Bewcgimge» Abd-et-Kader's fürchten ließe».
Die schlechtverbürgte Ruhe wirkte deinioch »icht so ganz ungünstig auf die
Eutwickeliliig der Eolouie ein. Auf der Metidschah fände» sich neue Ansiedler
el», Dely-Ibrahim, Buffarik und einige andere Niederlassungen, obgleich sie immer
noch mehr militärische Lager als eigentliche Dörfer waren, vergrößerten sich.
Algier selbst nahm allmählich eine ganz andere Physiognomie an. Die Arbeiten
am Molo wurden mit großer Thätigkeit betrieben, Privathäuser erhoben sich a»
alle» Ende»; die Straße» wurde» gerader, breiter und ebener; die ganze untere
Stadt, uur uach europäischer Art gebaut, hatte die letzten spüre» maurischer
Physiognomie verloren. Die Ausfuhr der Landesproducte war von 2V4 Millionen
Francs auf 3,Ki>l),»N0 gestiegen.
Der unerwartete Einfall Abd-el-Kader'ö Ende wenige Tage nach dem
Triumphzuge des Prinzen von Orleans nach dem eisernen Thore, wendete die Sachen
rasch wieder zum Nachtheil. Die ganze Metidschah war von arabischen Streifparteien
überschwemmt, von dem sich einige sogar bis in die unmittelbare Nähe vou Algier
wagten. Die Felder wurden verwüstet, die Heerden fortgeführt, die Bauernhöfe
beraubt lind in Brand gesteckt. Einige Stunden genügten, um die Früchte
jahrelanger muthvoller Ausdauer und geduldige» Fleißes zu vernichte». Die
einzeln verstreuten Posten, die jetzt in den anscheinend so unterwürfigen Bewohnern
der Städte nur Feinde entdeckten, waren ohne Stützpunkt, und konnten mir mit
der größtem Schwierigkeit und Gefahr die notdürftigste Verbindung unter sich
erhalten. Die Kolonisten auf der Ebene mußten sich selbst vertheidigen, und
obgleich sie dies mit der größten Tapferkeit thaten, so mußte» sie doch zuletzt
der Uebermacht weichen, und eine Zuflucht in Algier suchen.
Dieser Krieg, der mehrere Jahre dauerte, bildet einen Wendepunkt in der
Geschichte der Kolonisation Algiers. Der Wohlstand der Kolonie litt bedeutend,
und ihre Entwickelung stockte. Die Ausfuhr des Jahres -1839 ist zwar noch /^/^
Mill, Fras., weil der späte Ausbruch des .Kriegs keine» nachtheiligen Eindruck
mehr machen konnte, sinkt aber im nächsten Jahre um 2 Mill. FreS., fast um die
Hälfte. Um Algier sind durch die Verwüstung der Metidschah bedeutende Capi¬
talien zu Grunde gegangen, und die erlittenen Unglücksfälle mache» die Arbeiter
und die Colomste» gleich furchtsam. Außerhalb der Mauern Algiers giebt es
keine Sicherheit mehr; die Arbeitskräfte sind selten, das Lohn hoch, die Kapita¬
listen sind mißtrauisch geworden. Nur eine gute Folge hat die herbe Lehre: mau
öffnet Blidah und Tscherschell den Europäer», de»u mau hat jetzt erkannt, daß
man sich auf die Eingeborene» nicht verlassen darf. Außer in Bona, wo einige
Morgen Land bebaut find, und Philippeville, wo die Transporte von Konstantine
eine uicht ganz unbedeutende Handelsbeweguug veranlassen, hat das in der
östlichen Provinz vorherrschende Verwaltuugssystem, und die Aufmerksamkeit, welche
der Krieg fast ausschließlich in Anspruch nimmt, die Sorge für die Colonisirung
des Landes und die Vermehrung seiner europäischen Bevölkerung fast ganz ver¬
gessen machen. Die Provinz wird rein als militairische OecuMwn betrachtet.
In Oran sind die Sachen noch ziemlich auf demselben Punkte stehen geblieben,
wie sie bei der erste» Besetzung standen. Die Franzose» habe» drei oder vier
Punkte an der .Küste, und einige kleine Posten im Innern inne, weiter Nichts.
Da hier der Niederlassung der Europäer dieselben Hindernisse entgegenstehen
wie in Konstantine, so hat die eigentliche Kolonisation so gut wie gar keine
Fortschritte gemacht. Blos die Truppen haben einige Hektaren in der Nähe ihrer
Lager bebaut, und diese werden später der Keim der ersten Ackerbauniederlassuugen
in dieser Provinz.
Die europäische Civilbevölkernng Algeriens betrug 1836 -1-1,221 Seele»; 183V
11,1)61; 1837 -16,770; 1838 20,878; 183» 23,023; 1810 27,201- Seelen,
wovon nur 12,193 Franzosen.
Die Ausfuhr algerischer Producte belief sich 183!i ans 2,1-02,7ki1- Freö; 1836
auf 1,831-,ÜÜ2 Fras; 1838 auf 3,613,101 Fras; 183» auf 1,230,9!>!> Fres; 181-0
auf 2,21-0,838 Fras ; Ende 1810, uach zehnjährigen Besitz des Landes, waren erst
72 Kilometer Kunststraßen in ganz Algerien angelegt.
Die Ernennung deö spätern Marschalls Bugeaud zum Generalgouvemeur
bezeichnet eine neue Epoche in der Entwickelung Algeriens. Die Armee wurde
vou Hause bedeutend verstärkt und stieg von K9 auf 79,000 Mann, mu später
(-18/is) allmählich ans -106,000 Maun gebracht zu werden. Die einzelnen Posten,
die zu schwach zu selbstständiger Vertheidigung waren, wurden eingezogen, und
die Unterwerfung des Landes nach einem System betrieben, das allein die dauernde
Herrschaft über dasselbe sichern konnte. Bis dahin hatte» die Franzosen eigent¬
lich nur verschiedene kleine Städte an der Küste besetzt gehalten, in denen sie
gewissermaßen belagert waren, ohne die Fruchtbarkeit des Bodens benutzen zu
können. Um den Ackerbau in Aufnahme zu bringen, mußte man vor Allem mit
Energie von dem Lande Besitz nehmen, und den nomadisirenden einheimischen
Stämmen, deren Indolenz außer Staude war, vou den reichen Hilfsquellen des
Landes Nutzen zu ziehen, ein für alle Mal zeigen, daß man beständiger und
unbeschränkter Herr des Landes bleiben wolle. Die Energie des neuen Gou¬
verneurs paßte gut zu einer solchen Rolle. Mit der Uebermacht, über die er
jetzt dispvnirte, waren die Araber bald erdrückt, Abd-el-Kater, bis in die
Wüste verfolgt, verlor nach einander alle festen Punkte, die er sich durch jahre¬
lange Mühen geschaffen, nud starke' mobile Colonnen durchstreiften in allen
Richtungen Algerien, um die zur Beherrschung des Landes Nichts beitragenden
Posten zu zerstören und diejenigen zu besetzen, welche die Unterwerfung desselben
sicherten. Bald bemerkten die Araber, daß es keinen Punkt in ganz Algerien,
im Tell oder in der Wüste, gab, wo die französische Armee sie nicht erreichen
und züchtigen konnte.
Vor Allem galt es nun, die neubefcstigte Macht zu Ausdehnung der Coloni-
sation zu benutze». Die Unsicherheit des flachen Landes hatte bis jetzt noth¬
wendiger Weise die Colonisten ans die Städte beschränkt, und hier hatte man wirklich
uicht unbedeutende Fortschritte gemacht. Ju Algier, Oran und Bona waren
allmählich die Trümmerhaufen verschwunden, aus den engen Winkelgäßchen
waren breite und bequeme Straßen geworden, schöne Paläste erhoben sich da,
wo früher elende maurische Spelunken gestanden hatten, und neue Quartiere ent¬
standen wie durch Zauber. Phillippeville, wo -1838 uoch kein Hans stand, hatte
jetzt schou i—Ü000 Einwohner und vergrößerte sich sichtlich. Die sämmtlichen
von Europäern in Algerien erbauten städtische» Gebäude schlug man -18t-! aus 2-1
Millionen Francs an, ungerechnet des Gruudwerths, der 7 Millionen betrug.
Aber es genügt nicht, die Küstenstädte zu bcvölker» und neu zu baue». Um sie für
immer französisch und europäisch zu machen, mußten zwischen ihnen und den Ein¬
geborenen feste Wohnsitze für eine ländliche Bevölkerung geschaffen werde«, welche
für die Ernährung und Vertheidigung der Städte sorgten. So hoffte man sich
eine einheimische Miliz erziehen zu tonnen, welche erlaubte, das dem Mutterlande
so enorme Kosten verursachende Heer zu vermindern, und zugleich eine ackerbauende
Bevölkerung zu erhalten, welche die reichen Kräfte des Landes zur Entwickelung
brachte, und die eroberte Provinz, anstatt zu einer Last für den Schatz, zu einer
Quelle des Nationalwohlstandes machte.
Der Umstand, daß militairische Nothwendigkeit zuerst den neuen Colouisa-
tivusplau eingegeben hatte, zog schon eine zu große Einmischung der Regierung
in die persönliche Freiheit der Colonisten nach sich, da man die Wahl der zu den
Niederlassungen bestimmten Punkte nicht den Colonisten überlassen konnte, sondern
nach militärischen Rücksichten vornehmen mußte. Aber der gern bevvrmuudeude
Geist der französischen Verwaltung that auch uoch das Seinige, um die Hemm¬
nisse zu vermehren. Die Direction des Innern übernahm die Wahl der Niedcr-
lassungSorte, die Vermessung und Vertheilung der Ländereien, die Unterbringung
der Familien, die Herstellung der Wege und öffentlichen Gebäude, und die Ueber¬
gabe provisorischer Concessionen. Alle Pläne mußten erst dem Verwaltungsräthe
zur Prüfung vorgelegt werden, und konnten ohne die Billigung des Ministers nicht
in Ausführung kommen. Die pecuniairen Bedingungen waren ziemlich günstig.
Die Concessionen wurden gratis gegeben; das Minimum des vom Colonisten ge¬
forderten Anlagecapitals war auf -12— 1600 Fras. festgestellt. Jede concessionirte
Familie hatte freie Ueberfahrt vou Toulon oder Marseille nach Algier, und der
Präfect konnte ihr Reisegeld bis zum Cinschiffnngöhafen geben. Jeder Kolonist
erhält für 60V Fras. Baumaterialien zu seinem Hanse, Ackerwerkzeuge, Sämereien
und Bäume, und leihweise Ochsen, um seinen Acker umzubrechen. Ein großer
Nachtheil dieser Freigebigkeit war, daß sie viele Dürftige herbeilockte, die
weder die Kenntnisse, noch die nöthigen Kräfte, gute Ackerbauer zu werden, be¬
saßen, und die daher kärglich aus einem Boden vegetirten, den sie nicht mit
Nutzen bebauen konnten. Der Hanptübelstand aber waren die beengenden Vorschriften
über die Wahl und Einrichtung der Ansiedelung. Der Auswanderer, der seine
Heimath verläßt, thut es meistens, weil er daselbst nicht freien Spielraum genug
für seine Arbeitskräfte findet, und er wird sich daher dorthin wenden, wo man
ihm freie Verwendung und die wenigsten Hemmnisse entgegensetzt. Daher wird
er trotz der großen Entfernung stets Amerika vorziehen, so lange man dieses
System beibehält.
Dennoch war das neue Verfahren ein großer Fortschritt gegen das alte,
und die Folgen zeigten sich bald in der vermehrten Einwanderung, so daß die
europäische Bevölkerung Ende 18i1 auf M/727, und 1812 ans 4i,ö00 Köpfe
gestiegen war. Erst jetzt beginnt eigentlich die Kolonisation Algeriens, begünstigt
durch die fast vollendete Pacification des Landes, an dessen Grenzen man uur
uoch Krieg führt, der nach dem siegreichen Feldzug gegen Marocco (I84i) so gut
wie ganz aufhört. Jedes Jahr sieht eine weitere Ausdehnung des Gebiets, die
Gründung »euer Niederlassungen, Vermehrung der öffentliche» Bauteil in den
Städten und auf dem flachen Lande. Die Einwanderung aus Frankreich nimmt
einen neuen Aufschwung. In den ersten Jahren der Occupation war sie geradezu
verboten; später war sie mit Formalitäten und Schwierigkeiten umgeben, die sie
fast uuniöglich machte». Erst um das Jahr 1841 sah die Regierung das Unpo¬
litische dieses Verfahrens ein, und begünstigte das Ucbersiedeln ackerbauender Fa¬
milien ans Frankreich nach Algerien. Seit jener Zeit nahm die Einwanderung
stetig zu, bestand aber dennoch hauptsächlich aus Gewerbsleuten, Kaufleuten und
Luxnöarbeitern, unter denen die Nichtsranzose» vorherrschten, und eigentlich sieht
man nicht eher als 1843 eine Landbevölkerung entstehen, in welcher das franzö-
sche Element überwiegt. Ende 1844 war die Civilbevölkcrnng Algeriens auf
76,420 Personen gestiegen, darunter 38,000 Franzosen. Der Zuwachs in einem
Jahre betrug 16,234 Köpfe, wovon mehr als ^ Franzosen waren. Am stärksten
war jedoch die Einwanderung im Jahre 1846, wo sie sich auf 46,-143 Köpfe be-
lief, und wo 1882 Cvucessivusgesnche zum Anbau in deu Dörfern eingingen.
Davon kamen allein 1699 auf französische Familie». In der Provinz Algier stieg
die La»dbevölkerung von 6102 ans 8910 Seelen; die neue» Dörfer am Fuß des
Atlas, namentlich Joinville nud Dalmatie, entwickelte,, sich sehr rasch, Bvnffarik
zählte bereits 3(50 Hänser, und in der Duera, die vor drei Jahren noch wüst
gelegen hatte, zählte man bereits 34 einzelne Güter, uuter denen die große
Trappistennicderlassnng Stahncli die blühendste war. Sie bestand aus dem Kloster,
einem schönen Gute, Werkstätten, einer Mühle, zusammen zu 330,000 Fres. ver¬
anschlagt, hatte 300 Hectaren bebautes Land, ein beträchtliches Material, 170 Stück
größeres Vieh, 4000 gepflanzte Bäume und 100 Einwohner.
Noch regsamer als auf dem flachen Lande sah es in den Küstenstädten, »amentlich
Algier aus. Die Privatpersonen entwickelten hier eine große Thätigkeit, und die Bau-
unternehmungen vervielfältigten sich außerordentlich; das i» Europa herrschende Spe-
cnlalivnöfieber hatte auch Algerien angesteckt, und man baute weniger aus Bedürfniß,
als um mit eiuer ziemlich unsi'ehern Aussicht auf Gewinn Capitalien anzulegen.
Der Rückschlag kam schon 1846 mit der finanziellen Krisis in Europa, die sich
in Algeric» um so fühlbarer machte, als hauptsächlich europäisches Capital zu
den Häuserspeculationen verwendet worden war. Die nächste Folge war eine
allgemeine Stockung der Bauunternehmungen, und eine Abnahme der zugewan¬
derten Arbeiterbevölkerung, die zum Theil in die Heimath zurückkehrte, zum
Theil auf dem Lande Beschäftigung suchte. Diese Abnahme war so groß, daß Ende
1847 die Einwohnerzahl der Kolonie von 109,400 auf 103,893 Köpfe ge¬
fallen war.
Wenn die finanzielle Krisis auch zwar im Allgemeine» den Unter»ehalt»gö-
gcist lähmte, so war ihr Einfluß auf die ländliche Kolonisation doch nicht so nach¬
theilig, als man hätte befürchten sollen. Allerdings stockte die Einwanderung, und
die schüchtern gewordenen Capitalien zogen sich zurück. Aber von den in den
Städten brodlos gewordenen Arbeitern suchten und fanden viele Beschäftigung
ans dem Lande, und die wenigen noch disponible» Capitalien, die in i>em leichten,
aber gefährlichen Spiel der Speculation keine Verwendung mehr finden konnten
oder wollten, wurden in der soliderer» Bodencultnr angelegt. Daher bemerkte
man außerhalb der Städte eine langsam fortschreitende, aber-solide Entwickelung.
In der Provinz Algier war vor vier Jahren noch das ganze Land zwischen dem
Meere und der Metidschah, von Algier bis Cvleah eine Wüste gewesen; 1846
war dieser Theil der Säbel von Straßen und Wegen durchschnitten; -18 Dörfer,
mehrere Hofe, und eine kleine Stadt Dnera waren daselbst entstanden, und die
arabische Stadt Cvleah war vergrößert und verschönert, und ganz französisch ge¬
worden. Die ländliche Bevölkerung der ganzen Provinz bestand aus 11,258
Köpfen, wovon 7000 Franzosen; sie hatten 7752 Hcctaren als Feld und Garten,
und 14,000 Heetaren als Wiese, Baumgärten'U. s. w. in Cultur. In der Provinz
Constantine machte das Arrondissement Philivpeville große Fortschritte. Die erst
vor 8 Jahren gegründete Stadt zählte bereits 6000 Einwohner und hatte eine
Zolleinnahme von 500,000 Fras. In der Umgebung bevölkerten sich die neuange¬
legter Dörfer, und man zählte bereits 111 besondere Wirthschaften zu einem
Werth von 439,000 Fres. Die ländliche Bevölkerung der Provinz, mit Ausnahme
der Districte von Bona und La Calle, über welche die Angaben fehlen, zählte
1377 Kopfe, die 1258 Hectaren als Feld und Gärten bebaut hatte», und circa
1500 Hectareu als Wiese bewirthschafteten. In der Provinz Orau machte in
diesem Jahre die Kolonisation die raschesten Fortschritte. Man legte zwei neue
Dörfer, Stidia und Se. Leonie an, und bevölkerte sie mit Auswanderern ans
Preußen, die ursprünglich nach Brasilien wollten, aber von den AnswandernngS-
agenten in Dünkirchen im Stiche gelassen worden waren. Leider vermissen wir
nähere Angaben über das Loos, das ihnen in dem neuen Vaterlande geworden.
Aus dem militärischen Posten Dschema-Gazanat wurde die kleine Stadt Nemours,
die 400 Einwohner zählte. Die übrigen Städte nahmen ebenfalls zu, und über¬
haupt ließen sich von den dieses Jahr eingewanderten 1-i,000 Europäern 7000
in der Provinz Oran nieder, während daS an natürlichen Hilfsquellen so reiche
Constantine nur um 918 Einwohner wuchs, und Algier deu verhältnißmäßig
geringen Zuwachs von 6000 neuen Einwohnern erhielt.
Im Ganzen war Ende 1846 die ländliche Bevölkerung Algriens (mit Aus¬
nahme von Bona und La Calle) 16,442 Köpfe stark, worunter 9167 Franzosen.
Die übrige europäische Bevölkerung bestand hauptsächlich ans Spaniern, Italienern,
Mahonneseru und Maltesern. Sie bebaute 12/is4 Hectaren Feld, 15,100 Hcc¬
taren Wiese und circa 2000 Hectaren mit Maulbeerbäumen und Weinstöcke», zu¬
sammen von einem Werth von 23 Millionen Fras.
Die Fortschritte waren allerdings nicht groß für eine 16jährige Occupntiou;
aber die Kolonie war wenigstens aus dem Provisorium herausgetreten, und die
Bevölkerung fing an, sich durch festere Bande a» die neue Heimath zu knüpfen.
Zwischen den Kolonisten entstanden Familienverbindnngen, welche die Verschieden-
heit der Nationalitäten allmählich zu verwischen ansingen. Das Commuuallebeu
entwickelte sich; man machte.durch Association öffentliche Anpflanzungen, und es
wurde möglich, an eine Regelung der Arbeitsleistungen in Natura zu denken. Die
verschiedenen Culturen vervollkommneten sich, namentlich die des Tabaks, und auch
der Seiden- und Baumwvllcnbau gewann an Ausdehnung. Die Bienenzucht
wurde eingeführt. Die Bvdcucrzeugnisse vervielfältigten und verbesserten sich,
und der Farmer, der in Besitz eines Hofes v. 8—-10 Hcctarcn to. 32 Morgen)
war, konnte auf ein Jahreseinkommen von mindestens 1200 Fras. rechnen.
Von jetzt an bis 1860, wo die Kolonisation einen neuen Aufschwung nimmt,
ist mit Ausnahme der bereits aufgegebenen Versuche von 1848, der Fortschritt
der Kolonisation solid, aber nicht auffällig. Er besteht hauptsächlich in der lang¬
samen, aber stetigen Zunahme der Bevölkerung der Dörfer, in der Vermehrung der
ertheilten Concessionen, in der Verbesserung der Bewirthschastungsmethvde, in
der Einführung gewinnbringender und für Boden und Klima besser geeigneter
Culturarten. Die Ausfuhr von Nohproducteu des Landes bleibt fast stationair,
»»d beträgt mir 3,879,614 Fras. Der weiteren Entwickelung und dem gegen¬
wärtigen Zustande der Kolonie widmen wir einen zweiten Artikel.
Die preußischen Konstitutionellen sind seit der Märzrevolution von verschiedenen
Seiten mit Vorwürfen verfolgt, mit Hohn überschüttet worden der wirklichen oder
angeblichen Schwankungen und Nachgiebigkeiten wegen, in welche sie durch die
Gewalt der Ereignisse gedrängt wurden, oder die ihnen wenigstens scheinbar zur
Last fielen. Ein besonnenes und gemäßigtes Urtheil muß schon jetzt zu der Ein¬
sicht kommen, daß eine Partei, die sich in so außerordentlich schwieriger Stellung,
wie die constitutionelle, inmitten des Sturmes furchtbarer Umwälzungen und der
ihm folgenden reißenden Rückströmuug der Contrerevolution befand, Mißgriffen
und Täuschungen nicht entgehen konnte; ja selbst daß da, wo dieselben hätten
vermieden werden können, die Umstände ihnen zur Entschuldigung dienen. Die
letzten beiden Jahre ferner köunen Jedem, der nicht durch leidenschaftlich parteiische
Verblendung oder dnrch bornirte Vorliebe für einseitige Principien befangen ist,
den Beweis liefern, daß weder Mangel an Gefinnnngstreuc, noch an Beharrlich¬
keit die Fehlgriffe der constitutionellen Partei und ihre daraus entspringenden
Unfälle und Niederlagen verschuldet haben; in demselben Augenblick, wo die
letzten, schwachen Aussichten des Sieges ihrer Politik für lange sich verdunkelten,
schaarte sie sich enger, als vorher, um ihr Banner und setzte eiuen Kampf fort,
der den Streitern nicht einmal die öffentliche Anerkennung, geschweige denn Er¬
folge zu bringen versprach. Eine spätere Epoche erst wird es den Constitutionellen
zum Ruhme anrechnen, daß sie in Tagen, wo der jähe Sturz der nationalen
und liberalen Bestrebungen, welcher der Märzrevolution mit so erstaunender
Schnelligkeit folgte, Frivolität, Indifferentismus und thatlose suffisance gerade
in denjenigen Kreisen der Nation verbreitete, ans welche jede Fortschrittsbewegung
sich stutzen muß, unentmnthigt an der Vorbereitung und Herbeiführung besserer
Zeiten gearbeitet haben.
Von einer Partei aber, welche die Zähigkeit in Festhaltung ihrer Principien
besitzt, in der Niederlage nicht zu verzagen und weder dnrch den Mangel jeder
Aussicht persönlicher Erfolge, noch selbst durch ihre zeitweilige Isolirung im Volke,
sich beirren läßt, kann man mit Recht verlangen, daß sie sich diejenige Organi-
sation giebt, welche die Erreichung ihrer Zwecke bedingt und welche die .obwalten¬
den Verhältnisse irgeud gestatten, und daß sie, im Ziel beharrlich, nicht in der
Beschaffung der Mittel sich lässig oder energielos zeige. Die principielle Ausdauer
ist gewiß in hohem Grade ruhmwürdig und die unerläßliche Vorbedingung
zur Durchsetzung großer politischer Erfolge, die unermüdlich praktische Bethä¬
tigung jedoch muß hinzutreten, wenn jene nicht unfruchtbar bleiben soll; in dieser
letztern Beziehung aber hat, wie wir uns nicht verhehlen können, die constitutionelle
Partei in Preußen Vieles aus den Augen gelassen und nicht mit dem Eifer und
Nachdruck gehandelt, der ihrer sonst so ehrenwerthen Beständigkeit entspräche.
Die Thätigkeit in den Kammern, und sei sie noch so angestrengt und pflicht¬
treu, ist allein nicht genügend, um die Zwecke, welche die constitutionelle Partei
verfolgt, zu fördern. In jedem Lande, welches repräsentative Einrichtungen besitzt,
wird eine Partei, die sich ganz ans das enge Feld des Parlaments beschränkt und
es versäumt, in weiteren Kreisen für die Verbreitung ihrer Principien zu
wirke», allmählich den Boden im Volke und in der öffentlichen Meinung verlieren,
ohne den sie auch ihren Platz in der Vertretung nicht behaupten kann; in keinem
Lande aber würde sie sich von dieser Gefahr mehr bedroht sehen, als gegenwärtig
in Preußen. Die Constitutionellen dürfen nicht vergessen, daß sie nicht mehr
wie vor die allgemeine Stimmung beherrschen. Der Rückschlag jenes
Jahres hat einerseits den reactionairen Bestrebungen vielfachen Anhang geschaffen,
andererseits jene Art demokratischer Gesinnung erzeugt, die sich damit begnügt,
sich für einige ziemlich abstracte Ideen zu begeistern, und die gemäßigteren
Grundsätze der Constitutionellen, so wie ihre Anstrengungen mit mitleidiger Ge¬
ringschätzung betrachtet. Die Gleichgiltigkeit gegen alle Politik hat ferner in
trauriger Weise um sich gegriffen, und die besonderen Umstände, welche die Ge¬
burtswehe» der preußischen Verfassung begleiteten, haben dazu beigetragen, die
Sympathien für diese und das constitutionelle System im Volke zurückzudrängen.
Die Regierung endlich gebraucht ihre sehr bedeutenden Mittel gvuvernementaler Ein-
Wirkung mit viel größerem Nachdruck, als es vor dem März der Fall war. Damals
konnte die constitutionelle Partei mühelos ans dem breiten Strom der öffentlichen
Meinung einherschwimmen; die Gewalt desselben war so mächtig, daß sie ihr ohne
große Nachhilfe die glänzendsten Erfolge verhieß. DaS seichte und stagnirende Fahr¬
wasser, in das sie jetzt gerathen ist, verlangt aber das Aufgebot aller Kräfte, um
vorwärts zu kommen. Jene Flitterwochen des Liberalismus sind auf immer vor¬
über, die Tage der rauhen Arbeit sind gekommen.
Um die parlamentarische Opposition der Konstitutionelle» zu unterstützen,
um sie eigentlich erst wirksam sür die Nation zu machen, ist eine entschiedenere
und zahlreichere Vertretung ihrer Partei in der Presse nud eine Organisirung
derselben in Vereinen unabweislich. Die eine dieser Bedingungen ist von der
andern uicht zu trennen. Zwar sind wir weit entfernt, indem wir von Vereinen
sprechen, an jenes lächerliche Clubwesen zu denken, welches nach den Märztagen
emporschoß und durch seine Albernheiten und Ausschweifungen wesentlich dazu bei¬
getragen hat, falsche und ungünstige Anschauungen von politischen Associationen
zu verbreite». Nicht Vereine sollen gebildet werden, die, zusammengefahren aus
den ersten Beste», die ein Paar Stunden nicht anders todtzuschlagen wissen, sich
versammeln, um über Dinge zu debattiren, von denen sie nichts verstehen und
welche sie nichts angehen, und Petitionen, Adresse» und Erklärungen zu beschließen,
um die sich Niemand kümmert, oder die höchstens belacht werden, noch weniger
sollen Vereine sich mit der unausgesetzten Auschüruug der gefährlichsten, politischen
Leidenschaften beschäftigen — was übrigens jetzt die Verhältnisse ohnehin schon
verbieten würden —, nein, die politischen Vereine sollen eine gesellschaftliche
Concentrirung der Anhänger und Gesinnungsgenossen einer Partei in den grö¬
ßeren Mittelpunkten der Bevölkerung bezwecken, die es möglich macht, die ge¬
meinschaftlichen Interesse» wahrzunehmen, besonders wichtige Zwecke zu fördern,
und in entscheidende» Momenten, vor Allem bei den Wahlen, alle Kräfte der
Partei zu sammeln und zur Geltung zu bringen. Daß die Constitutionellen in
Preußen bei Hervorrufung solcher Vereine und im Verlauf ihrer Thätigkeit poli¬
zeilichen Belästigungen und Behinderungen mehr oder weniger ausgesetzt wären,
ist unzweifelhaft; diese aber würden nicht im Stande sei», deren Bestehen zu
unterdrücke», wenn wirklich die politisch und gesellschaftlich hervorragendsten Per¬
sönlichkeiten der Partei sich a» die Spitze stellte», die ehe» sowol selbst jetzt »och
i» Preußen der Regierung eine gewisse Rücksicht a»ferlege», als auch jede» Vor-
wand eutfenie», de» man angeblich gesetzwidriger Zwecke halber gegen derartige
Verbindungen erheben könnte. Die Partei der Kreuzzeitung hat überall durch
gouvernementale Gunst bevorzug t gesellschaftlich-politische Vereine dieser An begründet,
die für sie ein mächtiger Hebel des Einflusses und Zuwachses sind; die Regierung,
deren Beamte zum Theil daran Theil nehme», hat außerdem für sich de» unge¬
heuren Einfluß eitler complicirte» Administrativ». Wen» die Constitutionellen
dem gegenüber müßig bleiben, so muß die allmähliche Zerbröckelung und Auf¬
lösung ihrer Parteigeuosseuschaft die unausbleibliche Folge davon sein. In einigen
großen Städten sind sie allerdings z» Vereinen zusammengetreten; theils jedoch
ist deren Zahl zu gering, theils ist ihre Thätigkeit nicht ans die richtigen und noth¬
wendigen Zwecke geleitet. Bei den letzten Wahlen ist dieser Mangel einer all¬
gemeinen Organisation in sehr bevanerlicher Weise zu Tage getreten; was die
constitutionelle Partei überhaupt noch durchgesetzt hat, verdankt sie deu isolirten
Anstrengungen einzelner ihrer Mitglieder, die hier und da sich eines localen oder
anch weitergreifenden Ansehns erfreuten. Beständen in den größeren und mitt¬
leren Städten des Laudes solche gesellschaftliche Vereine der Konstitutionellen, so
wäre gleichzeitig dadurch das Mittel an die Hand gegeben, der Parteipresse Ver¬
breitung zu verschaffen; und dies führt uns auf die zweite und unstreitig noch
wichtigere der vorerwähnten Bedingungen.
Die constitutionelle Partei befindet sich gegenwärtig in Betreff ihres An¬
hangs in der Presse in einer Lage, zu der man in keinem der größeren oder
mittleren Berfassuugsstaateu Enropa'ö ein Beispiel finden dürfte. Die parla¬
mentarische Opposition in einem Lande von 17 Millionen Menschen, die bis
vor Kurzem noch an ->!>() Mitglieder in beiden Kammern ausweisen konnte und
auch jetzt noch, uach den Verlusten des letzten Wahlkampfes, deren 70—-W zählt,
ist ohne jedes Organ in der Hauptstadt; und anch in der Provinzialpresse findet sie
nur sehr geringe Unterstützung und »irgend eine getreue Vertretung ihrer
Politik. Das Eingehn der „Constitutionellen Zeitung" war in dieser Beziehung
ein wirklich beklagenswerthes Ereigniß, das die Partei mit Aufbietung aller Opfer
hätte verhindern sollen; doppelt beklagenswerth war es aber, daß man sie An¬
gesichts der allgemeinen Wahlen fallen ließ. Der moralische Schlag, den die Con-
stitutionellen damit in der öffentlichen Meinung erlitten, schadete ihnen eben so
sehr, als der Mangel jedes Organs, mit dem man den Wahlkampf nach allen
Seiten hin hätte wirksam betreiben und die zerstreuten Anstrengungen concen-
triren können. In den alten Provinzen ist die „Breslauer Zeitung" augenblick¬
lich das einzige größere Tageblatt, das die constitutionellen Principien mit Be¬
ständigkeit vertheidigt; über Schlesien hinaus ist indeß ihre Verbreitung und des¬
halb ihr Einfluß nur genug, und ihre besondere Stellung zu den schlesischen Schutz-
zöllueru beeinträchtigt in manchen Fragen ihr Verhältniß zu der Partei. In der
rheinischen Presse ist die letztere allerdings zahlreicher vertreten; das einzige Blatt
derselben aber, welches in der östlichen Hälfte der Monarchie sich größern Ab¬
satzes erfreut, die Kölnische Zeitung besitzt nicht die wünschenswerthe Consequenz
und Strenge der politischen Haltung und hat dnrch ihre mit Recht allseitig ge¬
mißbilligte Auffassung des französischen Staatsstreichs, auf die sie unbegreiflicher
Weise anch jetzt noch immer zurückkommt, während sie doch im Uebrige» das
napoleonische System zu vertheidigen nicht beansprucht, sich schwer in der öffent¬
lichen Meinung geschadet.
Ein solches Verhältniß zur Presse kann nicht fortdauern, ohne den Einfluß
der constitutionellen Partei tief herabsinken zu lassen. Das Nothwendigste wäre
die Gründung einer neuen Zeitung in Berlin, und so lange die Mittel dazu
nicht beschafft werden, wenigstens die eines bescheidenem Organs, um die mehr
oder weniger mit der Partei sympathisirenden Provinzialblätter in richtiger
Erkenntniß der parlamentarischen Vorgänge zu erhalte», und, wo es nöthig ist,
Angriffen und Entstellungen feindlich gesinnter Organe entgegenzutreten. Daß dies
Geringere bald in'ö Werk gesetzt werde, ist ein eben so mäßiges, als dringendes
Verlangen. Die Gründung einer Zeitung freilich dürfte für's Erste nicht zu
ermöglichen sein. Ein Theil der Constitutionellen leidet an einer, man möchte
sagen, provinziellen Geringachtung der Berliner Presse; ein anderer legt überhaupt
keinen hohen Werth auf die Thätigkeit der Zeitungen, und ist deshalb nicht
geneigt, bedeutende Opfer dafür zu bringen. Die Wenigen, welche die ganze
Wichtigkeit der Frage erkennen, können natürlich nicht allein das leisten, wozu
die Kräfte Aller bereit sein sollten.
Die parlamentarische Fraction der Constitutionellen tarfr demnach Gefahr,
sich in Bezug ans die Presse einer Stimmung zu überlasse», die halb Resignation,
halb el» nicht gerechtfertigtes Gefühl vornehmer Gleichgiltigkeit ist. Man thut
in der Kammer seine Pflicht; unterstützt die Presse diese Bemühungen nicht, ver¬
nachlässigt die öffentliche Meinung die Männer, die für die Interessen ihrer
Mitbürger der ermüdenden Arbeit langwieriger Sessionen sich widmen, nun so
wäscht man seine Hände in Unschuld. Wir glauben jedoch nicht, daß dieses Ver¬
halten und dieser Trost Männern genüge» dürfe», die, wie es unzweifelhaft bei
den Constitutionellen der Fall ist, von dem Ernst ihres Thuns und der hohe»
Wichtigkeit ihrer Aufgabe erfüllt sind. Diese Männer sind es sich bewußt, daß
die Kämpfe des Parlamentes, welche sie führen, kein müßiges Spiel, nicht das
leere Getriebe persönlicher Eitelkeit oder Rancüne sind. Sie verfolgen einen
höher» Zweck, wenn sie die Kraft ihrer besten Jahre und die edelsten Eigenschafte»
geistiger Begabung aufwende», um den Sieg ihrer Principien vorznbereitc»,
sollten sie ihn selbst nicht erleben. Sie denken daran, daß die Zukunft ihres
Volkes, die Zukunft ihrer eigenen Nachkommenschaft tief betheiligt ist bei dem
Erfolg oder der Niederlage der Sache, die sie vertheidigen.
Neben dieser Auffassung kan» eine Vernachlässigung nicht bestehn, welche die
Frucht der Anstrcngunge» preisgiebt, welche» die constitutionelle Partei in
den Kammern sich unterzieht. Der parlanientarische Dunstkreis, wie man zu¬
weilen die Selbsttäuschung einer Kammerfraction über ihr Verhältniß zum Lande
genannt hat, kann dem scharfen Blick« derjenigen, welche die liberale Opposition
leiten, unmöglich lange die Erkenntniß der Gefahren entziehn, mit denen eine
fortgesetzte Isolirung von dem großen Forum der Öffentlichkeit sie bedroht. Man
darf demnach hoffen, daß bald etwas geschehen wird, um die durch das Eingehen
der Constitutionellen Zeitung entstandene Lücke vorläufig, wenn auch nur einiger¬
maßen, durch ein kleineres Organ auszufüllen, und daß außerdem der weitere
Zweck, die Partei durch ein täglich erscheinendes, großes Blatt in der Hauptstadt
wieder zu vertreten nicht aufgegeben wird. Als eS galt, die Constitntioaelle Zeitung
zu unterstützen, war gewöhnlich so große Gefahr im Verzüge, daß die Hilfsmittel
dazu von den gerade Anwesenden aufgebracht werden mußten, und mau nicht
Zeit hatte, in weiteren Kreisen Beihilfe sich zu erwirken. Hätte man über die
Gesammtheit der nach und nach bei verschiedenen Anlässen aufgebrachten Beiträge
auf einmal verfügen können, so würde eine planmäßigere Verwendung das Be¬
stelln des Blattes gesichert haben. Geht man jetzt ernstlich an die Vorbereitungen
zur Gründung eines neuen großen Organs, so wird man die Kräfte der Partei,
je nach ihrem Anhang in den verschiedenen Provinzen, herbeiziehu können. Indem
man in der vorhin angedeuteten Art eine gesellschaftliche Vcreiusbilduug erstrebt,
wird man hiefür die besten Anhaltspunkte gewinnen und zugleich sür weitere Zwecke
sich in Bereitschaft setzen. Nur wenn durch eine beständige und richtig geleitete
Mitarbeit der Presse und durch die unausgesetzte Anregung in den gebildeteren
Theilen des Volkes die parlamentarische Opposition einen Rückhalt gewinnt,
auf dem sie süßen kann, der ihren Muth belebt und ihren Kämpfen die Beach¬
tung und Anerkennung des Landes vermittelt, kann ans ihrer Thätigkeit eine
allmähliche Verwirklichung der von ihr verfochtenen Principien erwachsen; abge¬
schnitten von diesen nothwendigen Wurzeln alles politischen Lebens, würde weder
Kenntniß, noch Beredsamkeit, noch die unbeugsamste Ausdauer im Parlament die
stufenweise Schwächung und das endliche Zerfallen der constitutionellen Partei
abwenden können.
Die 90 bis "100 raMck-LvIwoK in London haben einen gemeinschaftlichen
Anhaltspunkt in der KaMzä-sÄwnl-Union, sind aber im Uebrigen durchaus
selbstständig und agiren unter höchst verschiedenen Bedingungen. In Natcliff,
einer Gegend bei den oft- und westindischen Docks, hat sich ein Geistlicher nieder¬
gelassen, um die verlassenen Matroscnkinder bei sich zu versammeln; ich traf
ihn in Finsbnry, woselbst er von Haus zu Haus hierzu Beiträge einsammelte.
In Lambcth hat ein Privatmann, Mr. Henry Beaufoy, eine raMü-»c,tlo»l
erbaut, ein großes hübsches Gebäude, welches ihm 10,000 -F Se. kostet, und
außerdem i000 ^' zu dessen Erhaltung ausgesetzt. Dasselbe ist »ur zum Schul-
gebrauch. Vielleicht werde» Einige der Ausicht sei», es hätte hierzu eiues so großen
und hübschen Hauses uicht bedurft, u»d die 1i,000 wären besser für Brod
und Schlaslvcal zu verwenden gewesen; allein ein Jeder giebt das Seinige, und
Brod und Schlaslvcal wird gewiß bald nachfolgen.
Eines der elendesten Quartiere Londons ist Westminster-Proyer, es liegt
rund um die Abtei und wird von dem stolzen Palais und den ParlameutSgebäudeu
begrenzt. Nirgend kann der Gegensatz von englischem Reichthum und Armuth
schärfer bezeichnet sein, als hier. Die Bevölkerung dieses Quartiers, auch Se.
Margaret District genannt, ist 60,000 Seelen. Noch im Jahre 1838 wagte es
die Polizei nur schwer bewaffnet zu besuchen. Hier war der Zufluchtsort von
mehr als 2000 Kindern, welche zur Dieberei und zum Trinken erzogen wurden,
ja, das Elend, Laster und Verbrechen wucherte hier so üppig, daß es auf seine
Weise den Reichen nachahmte und eine eigene Universität errichtete. Hier fand
man Schulen, wo Unterricht im Stehlen und die Polizei zu täuschen ertheilt wurde.
Den Tüchtigste» wurden Belohnungen ertheilt, und der höchste Ehrenpreis für
einen Jüngling bestand darin, daß er einen alten ausgelernten Dieb auf seineu
Streifzügen begleiten durfte. Aber durch Stehlen wird man selten wohlhabend,
weshalb auch die Kiuder in Westminster-Proyer einen Anblick des schauderhaftesten
Elends gewährte».
Im Jahre -1838 vereinigte» sich 6 Mitglieder vou der London-City-Mission/)
um zu berathschlagen, was eigentlich zum Besten dieser Kiuder zu thun sei. Sie
beschlossen eine Schule zu errichten und wagten sich persönlich in deu District, um
die Kinder abzuholen. Es war so viel Kraft in ihrem guten Willen und ihrer auf¬
opfernden Menschenliebe, daß sie bald eine Schnur Kinder versammelt hatten und
die Schule ihren Anfang nahm. Sie bestritten selbst alle Ausgaben, worunter
12 »l> (gegen drei Species) wöchentlich für einen Schulvorsteher, welcher diesem
Posten vortrefflich gewachsen war. Ebenso kleideten sie die Kinder und hielten
sie zur Reinlichkeit an. Bald darauf vermehrte sich die Auzahl dermaßen durch
Freiwillige, daß sie noch einen großen Stall dazu miethen mußten. Verschiedene
Umstände veranlaßten indessen, daß die Auzahl dieser 6 Herren erst aus i, dann aus
3 und zuletzt auf Einen reducirt wurde, welcher nicht die Mittel besaß, die ganze
Bürde allein tragen zu können, weshalb auch, obgleich er sein Bestes that, die
Schule sehr bald erkrankte. Dies kam Lord Shciftesbury zu Ohren und
jetzt war sie gerettet. Von jetzt an wurden durchschnittlich 700 Kiuder in der
Schule versammelt, und kürzlich hat die Kax^sa-Kedool-llnion noch ein .luvoline-
>'.(;k>i.F(; hinzugefügt, woselbst die am meiste» Verlassenen täglich zwei Mahlzeiten
erhalten und in irgend einem Handwerke unterrichtet werden. Allein Noth und
Elend sind in dieser Gegend zu groß, als daß diese Bemühungen schnell eine
bedeutende Besserung herbeiführen können, denn wenn man anch alles Mögliche für
die Kinder thut, so sind dochdic Aeltern noch ärger. Diese müssen durch sich selbst
zur Arbeitsamkeit, Reinlichkeit »ut Mäßigkeit gelangen und die (!it.y-ni88in)n ist uner-
müdet ini Ermahnen und Ermuntern, was nicht immer gut aufgenommen wird. Einst
kam ein Mitglied dieser Gesellschaft zu einer Familie, wurde aber mit Schimpfe
Wörtern überhäuft, und die Drohung, ihn zur Thüre hinauszuwerfen, wäre gewiß
vollzogen worden, hätte nicht plötzlich ein Kind uuter dem Tische hervorgeschrien:
„Vater, Mutter! er gehört zu meiner Schule!" Dies veränderte die ganze Scene,
man wurde höflich, machte Entschuldigungen und bestrebte sich fernerhin, sogar
den Ermahnungen und Rathschlägen des Missionairs Folge zu leiste».
Merkwürdig ist es indessen, daß im Allgemeinen diese armen Kinder auf-
geweckter und begabter sind, als die der Reichen, und wenn sie erst Geschmack
am Schulunterricht gewonnen haben, haben viele mit einer Begierde darnach
gestrebt, die—namentlich vor der Errichtung des .luvelino-Kcckago --dem Hun¬
ger und den Mißhandlungen der Aeltern trotzte; denn sie besuchten die Schule,
wenn sie von den Aeltern zum stehle» ausgeschickt wäre», »ud gingen, wohlbewußt
der ihrer harrcttden Strafe, vergnügt nach Hanse.
Dieser stille Heldenmuth, so wie die allgemeine große Lust zum Lernen,
gewährt den Lehrern auch wahre Befriedigung bei ihrer mühseligen Arbeit, ja die,
welche sich so recht damit beschäftigen, werden von einer förmlichen Leidenschaft
dafür ergriffen, ^ eine Leidenschaft, die sich Allen mittheilt, die mit ihnen und
deu Kindern in Berührung kommen, so daß alle Zerstreuungen Londons vor dem
Genuß, diese Anstalten zu besuchen, zurückstehen.
Eine Stufe höher, als diese niedrigste Klasse aller Schulen, steht die eigent¬
liche Volksschule, die eine, wenn auch uur sehr kleine Unterstützung zur Erhaltung
der Gebäude vom Staate erhält, deren Unkosten aber im Uebrigen durch frei¬
willige Beiträge und Schulgeld der Aeltern bestritten wird, allein dieses Schulgeld
ist nur 1, höchstens 2 Pence wöchentlich. Die Volksschule zerfällt in zwei Haupt-
abtheilungen: U>v i^nimmt -in.l pnri^it svliool» (Districtsschulcn) für Anhänger
der anglikanischen Kirche, und to- >!>!!!->!> unä soroign «elwol^ für Dissendeuteu
(Presbyterianer, Independenten und Baptisten). Jene bilden in London eine
Anzahl von circa 700 Schulen mit 6!i,000 Kindern, diese 200, mit 1^0,000
Kindern. Außerdem habe» alle übrige» Gla»beusge»osse», Wesleja»er, Cougre-
gationalisten, Juden, Katholiken?c. ihre besonderen Schulen, stets übereinstimmend
mit dem Princip, welches bis jetzt in England vorherrschend ist, daß Religion
und Unterricht nicht von einander getrennt werden können. —
Ueber diese Volksschulen stehen die privaten Iioiiräinx und Frammar-heim»!»
(Gymnasien und gelehrte Schulen), welche gewöhnlich reiche Legate besitzen. Ein
Theil dieser ^iunmar-selwols sind deshalb a»es zugleich Freischnlen. Man findet
indessen häufig in England, daß Anstalten, welche ursprünglich für die armen Klassen
gegründet waren, später zu den vermögenden Klassen übergegangen sind, und
namentlich ist dies mit mehreren Schulen der Fall. Ein Beispiel hiervon beweist
die Schule in Newgate-Street, welche Cdrists-llospl^l oder Mut-CZoat-SvItool
genannt wird. Den letzten Namen erhielt sie bei ihrer Begründung durch die
Bedingung, daß die Eleven stets mit blauen Kitteln oder Talaren gehe»
mußten, wozu gelbe Strümpfe und Schuhe mit Schnallen gehörten; auch
mußten sie stets ohne Kopfbedeckung gehen, was noch das Einzigste ist,
was seit der Stiftung unverändert geblieben. Die Schule wurde 13!^ von
Eduard dem VI. gestiftet, welcher dieselbe zur Aufnahme und zum Unterricht
für die armen „ Blauen-Kittel-Kiuder" bestimmte. Nach und nach wurde sie aber
stets mehr eine gelehrte Schule, weil die, welche die Plätze zu vergeben hatten, die¬
selben ans dem Mittelstande besetzten. Carl II. vermehrte sie mit einer Mathematik-
klasse für 40 (später so) Kinder, und diese 36 Kinder werden zufolge eines alten
Gebrauchs uoch jetzt jeden Neujahrstag bei Hofe präsentirt, und jeden Oster¬
montag besuchen sie die Börse und den nächsten Tag den Lordmajor in seiner
Residenz, Nalision-llousk. Die Zahl der Eleven ist 900 und außerdem ein
dazu gehörendes Filialinstitut in Hartford für L00 Kinder. Allein die alte In¬
schrift der Schule, dieselbe sei für arme Kinder bestimmt, ist in jeder Rücksicht
erloschen. Dies ist, wie erwähnt, »ur ein einzelnes Beispiel der reichen In¬
stitutionen, welche den Armen genommen sind; wenn die englische Gemeinde jetzt
daher große Opfer bringt und den Districts- und Bürgerschulen bedeutende
Geldmittel zufließen läßt, so bezahlt sie zugleich eine alte Schuld, indem sie das
Vergehen der Borgänger Sühne.
Seit Anfang dieses Winters habe» sich in einzelnen größeren Städten
Deutschlands bei der Wahl von Gemcindevertrctcrn die ersten Symptome einer
liberalen Richtung und gesetzlichen Opposition gezeigt. Seit zwei Jahren schien
der selbstständige Wille und das Interesse an der Politik im Bürgerthum Deutsch¬
lands ganz vernichtet. Nur noch in den preußischen Kammern repräsentirte eine
Anzahl von talentvollen Männern das liberale Element im deutschen Staatsleben,
eine Minorität, welche von der öffentlichen Meinung verlassen schien. Es war
eine traurige Zeit der politischen Schwäche, und Niemand hätte sie schmerzlicher
empfinden sollen, als die Regierungen selbst. Denn diese waren in der That in
einer ähnliche» Lage, wie sie Lord Brougham als Mitglied des Whigministerinms
im Jahre 1882 bei der englischen Regierung beklagte, sie waren zu stark, denn
sie hatten keine kräftige Opposition, welche ihren Maßregeln die Parteieinseitigkeit
nahm, eine gründliche Discussion und sorgfältige Prüfung ihrer Schritte möglich
machte, die Controle übte, die öffentliche Meinung aufkläre» und die Verantwort¬
lichkeit für die erlassenen Gesetze dem Ministerium tragen helfe. Wenn unsre
Staatsmänner nicht alle das Verhängnisvolle eines solchen Zustandes eingesehen
habe», so ist doch sehr sicher, daß sie sich dieser Ueberzeugung einst nicht werden
entziehen können. Es war eine merkwürdige und peinliche Periode, welche ganz
Deutschland durchzumachen hatte, und mit gespannter Aufmerksamkeit mußte der
Patriot zusehe», wie lange die Fluthwelle der Reaction fortströmen wurde, die
den festen Grund politischer Selbständigkeit und verständiger Kraft im Volte
überdeckte. Bis zum Ausgange des letzten Jahres war nirgend eine Abnahme
dieser Richtung zu merke». Noch die preußischen Wahlen zu den neuen Kammern
hatten eine nltracvuservative Partei in voller Stärke gezeigt. Aber fast zu
derselbe» Zeit tauchte hier und da in verschiedene» Städten Deutschlands, zunächst
uur in den begrenzten Kreisen des Gcmeindelebcns, wieder etwas von Selbst-
ständigkeit und liberaler Anschauung des Lebens auf, wie einzelne kleine Eilande
aus der Ueberschwemmung. Und wie man in der Natur eine solche Erscheinung
als den Anfang der Ebbe betrachtet, so wird man sich anch in der deutschen
Politik nicht täuschen, wenn man annimmt, daß die Reaction in dem Volksgemüth
den höchsten Puukt gegenwärtig bereits erreicht hat, nud daß ein Umschlag in
der öffentliche» Meinung sich langsam, aber unaufhaltsam vorbereitet. Damit ist
noch nicht gesagt, daß auch die Herrschaft anderer Principien in der Staats-
regierung nahe bevorstehe. .Im Gegentheil, es ist wahrscheinlich, daß wir noch
viele und eifrige Maßregeln der Regierungen erleben werden, welche aus der
herrschenden Stimmung der letzten vergangenen Jahre hergeleitet werden müssen,
und es ist nicht weniger wahrscheinlich, daß der neue Geist lange Zeit und harte
Kämpfe nöthig haben wird, um zu erstarken und sich im Staatsleben durchzusetzen,
denn eS sind bis jetzt in der That nur die ersten schwachen Wandelungen der
öffentlichen Meinung zu berichten. Aber eben deshalb, weil sie die ersten find,
erregen sie ein allgemeines Interesse und verdienen eine kurze Darstellung.
In Frankfurt a. M. war unterm ki. Oct. d. I. ein Bundesbeschluß ver¬
kündigt worden, der die in den Jahren 1848 nud 1849 getroffenen Abänderungen
der Staatsverfassung namentlich im Betreff der Wahl der gesetzgebenden Ver¬
sammlung, so wie der politischen Gleichstellung der Jude», Landbewohner und
Beisassen, als nicht ans gesetzlichem Wege herbeigeführt bezeichnete und alle etwa
nöthigen Veränderungen der alten Verfassung vou 18-16 uur auf dem durch diese
selbst vorgeschriebenen Wege durchführbar erklärte. Dem gemäß erließen am
14. October Bürgermeister und Rath der freien Stadt ein Ausschreiben, durch
welches nur die christlichen Bürger der Stadt zur Bildung des Wahlcollegi-
»ins der 76 Bürger eingeladen wurden, welche die zur nächsten gesetzgebenden
Versammlung bestimmten 4!i Glieder aus löblicher Bürgerschaft wählen sollte.
Ueber diese so leichte und glückliche Lösung der wirren Verfassungsfrage herrschte
große Freude im Lager der sogenannten Reform - Freunde, jener reactionaircn
Partei, welche durch ihre Agitationen gegen die aus den Jahren der Revolution
herstammenden Gesetze nicht wenig zum Erlaß deö BuudeSbeschlusses beigetragen
haben dürfte, und die Postzeitung versicherte auf das Bestimmteste, daß über
jene NestanrationSmaßregel keine Mißstimmung in der Bürgerschaft zu bemerken
sei, und daß man sich allgemein freue über daS Ende der mehrjährigen leidigen
Verfassnugswirren und über die Rückkehr der öffentlichen Zustände zu dem be¬
währten Alten. Auffallen mußte indeß, daß die Reformpartei nicht im Stande war, den
18.Oct. als den Jahrestag der Verleihung der Verfassung von 1816 wieder zu einem
öffentlichen und allgemeinen Festtage, was er vor 18i8 gewesen war, zu stempeln; der
letzte Zweifel über die Stimmung der Bürgerschaft mußte aber schwinden, als am
SU. October das Ergebniß der an den beiden vorhergehenden Tagen stattgehabten
ttrwahlen bekannt wurde. Seit vielen Jahren war nicht eine so große Masse
von Stimmzetteln eingereicht worden als dieses Mal; es hatten im Ganzen
2348 Bürger in den 3 Abtheilungen ihr Wahlrecht ausgeübt, 509 mehr als im
vorhergehenden Jahre, und das Ergebniß war ein entschiedener Sieg der Liberalen,
die mit 1-1 Stimmen (43 gegen 32) in der Mehrheit geblieben waren. Aller¬
dings war diese Mehrheit an sich nicht übermäßig bedeutend, allein sie reichte,
Dank dem indirecten Wahlvcrfahren, vollkommen hin, sämmtlichen Kandidaten
der Liberalen zur gesetzgebenden Versammlung die verfassungsmäßige absolute
Stimmenmehrheit zu sicher». Wahrscheinlich ans Furcht vor einem solchen End¬
resultat übergab am 22. October eine Anzahl Wahlmänner der 3. Abtheilung,
in welcher die Reformfreunde gesiegt hatten, dem aller» regierenden Bürgermeister
einen Protest gegen die Willigkeit der Wahlen der 1. Abtheilung, in welcher V»
der gewählte» Wahlmänner ans „Gothanern" bestand, wegen angeblich dabei vor¬
gekommener Unrichtigkeiten. Siebzig Bürger, behauptete man, hätten unberechtigter
Weise in der -I. Abtheilung gestimmt, und nur dadurch sei jenes den Gothanern
günstige Resultat erzielt worden; auch Deutschkatholiken hätten mit gestimmt,
obwol sie als Mitglieder einer nur geduldeten Konfession dazu nicht befugt
gewesen seien, u. tgi. »i. Der Senat schenkte diesen Angaben geneigtes Gehör
und schrieb für die 1. Abtheilung eine Neuwahl auf den 1. und 2. November
aus, obwohl sich herausstellte, daß diese so stark betonten Unrichtigkeiten lediglich
darin bestanden, daß el» Lithograph und ein Buchdrucker in gutem Glaube» i»
der -I. Abtheilung gestimmt hatten, während sie als prädicirte ,,Handelsleute" in
der 2. Abtheilung hätten stimmen solle». Der Zudrang zu den Wahlurnen war
am 1. »ud 2. November noch viel größer als bei der ersten Wahl, eS wurden
130 Stimme» mehr abgegeben als am 18. und 19. October, »»d die Confer-
vativeu mußten ihre Anfechtung des ersten Wahlergebnisses mit der entschiedensten
Niederlage bezahlen; denn während sie bei der ersten Wahl wenigstens 7 Kan¬
didaten (unter 2ü) in die 1. Abtheilung zu bringen vermochten, fielen sie jetzt
mit ihren sämmtlichen Kandidaten durch, alle Ali Wahlmänner wurden ans der
liberalen Partei gewählt, und es standen nunmehr in dem neu zusammengesetzten
Wahlcollegium die Liberalen mit ö0 den Conservativen mit 2ö Stimmen gegen¬
über. Unter solchen Umständen konnte es nicht ausfallen, daß die in der gesetz¬
gebenden Versammlung zu wählenden />!> Bürger und deren i!> Ersatzmänner
ohne Ausnahme der liberalen Partei entnommen worden sind. Dieser
unbedingte Sieg der liberalen Partei ist übrigens noch deshalb interessant, weil
die „Gothaner" nicht blos die lebhaften Agitationen der conservativen Reformpartei,
sondern auch die passive Theilnahmlosigkeit der Demokraten gegen sich hatten.
Der Sieg der Liberalen hat in der Entwickelung der Verfassungstrists der freien
Stadt bis jetzt allerdings noch keine positiven Erfolge gehabt; es ist ihm aber
wenigstens das Eine zu danken, daß die in vollem Anlaufe daherstürmeude
Restauration veralteter und durch Gesetze längst aufgehobener Einrichtungen seit
jenen denkwürdigen Wahlen gehemmt ist. Die gesetzgebende Versammlung hat
wenigstens ihr und des Senats Rechte energisch und in würdevoller Weise
gewahrt; nud auch das ist der Beachtung und der Anerkennung werth.
In Breslau hatten Mitte November Ersatzwahlen für das verfassungsmäßig-
ausgelöste Drittheil des Gemcinderathcs und die außerdem erledigten ö Mandate
von Gemeindevcrvrdneten stattzufinden. Die 1. Abtheilung der Wähler harte 13,
die 2. Abtheilung 14, die 3. Abtheilung 12 Wahlen vorzunehmen. Die Comites
der verschiedenen Bezirke waren dadurch in volle Thätigkeit gesetzt worden. Am
1Z. und 13. November wurden Vorversammlungen abgehalten, Kandidaten aus¬
gestellt, Wahlzettel vertheilt. Für die 1. Abtheilung erhielten die Wähler zwei
Listen, eine durch die Post, eine durch den Boten der Ressource. Die letztere
Liste ließ eine namhafte Anzahl derjenigen ausgeloosten Gemcindevervrdnetcu
vermissen, welche bei den Abgeordneten-Wahlen zum Landtag für die Kandidaten
der Opposition, die H. Graff und Weutzel, gestimmt hatten. Unter dem Vor¬
geben, lediglich tüchtige Communalvertreter zu empfehlen, hatte man nicht wenige
um das Interesse der Stadtgemeinde hochverdiente Männer ihrer politischen
Richtung wegen von deu Wahlen ausgeschlossen. — Die Versammlungen waren
im Ganzen nur spärlich besucht, doch entsprach die Betheiligung an den Wahlen
selbst, namentlich in der 3. Klasse, so ziemlich den gehegten Wünsche». In
mehreren Bezirken war der Wahlkampf hartnäckig. Oft schwankte das Resultat
bis zum letzten Augenblick und wurde dann durch wenige Stimmen kurz vor dem
Schlüsse der Wahlhandlung entschieden. Der Sieg der Liberalen war nach
Umständen ein vollständiger, indem zwei Drittheile der Wahlen ans ihre
Kandidaten sielen. Die Demokraten haben in Breslau mitgewählt. Aus dem
Verhältniß der Stimmen ergab sich, daß die conservative Partei, deren Organi¬
sation — von der Negierung begünstigt — die vollständigste ist, doch höchstens
^ der Wähler beherrscht, während die constitutionelle Partei V», die Demokraten
ungefähr der Stimmen hatten, die beiden letzteren ohne jede genügende
Parteiorganisation.
Im Königreich Sachsen wurde in Folge eines auf dem letzten Landtage ver¬
einbarten Gesetzes die Auflösung der bisherigen und die Wahl neuer Gemeinde-
vertretungen nöthig. Bis zum Jahre 18i8 bestand für die Wahlen der Ge-
mcindcvcrtrcler in den über 200 stimmfähige Bürger zählenden Städten das
indirecte Wahlverfahrcu; durch das Gesetz vom 17. Nov. -I8i8 war das directe
Wahlverfahrcn eingeführt, und es erfolgte zugleich, in nothwendiger Consequenz
dieser Aenderung, eine gänzliche Erneuerung der Gemeindevertretungen durch
allgemeine directe Wahlen. Die unmittelbare Folge jeuer Maßregel war damals
ein augenblickliches Uebergewicht der radicalen Partei im Schooße der man cow
stitnirten Collegien, allein die Ergäuznngswahleu der nächsten Jahre hatten fast
überall das frühere Verhältniß der Parteien wieder hergestellt, und nirgend hat
man, namentlich seit der Unterdrückung der Maiunrnhen des Jahres 18/« 9,
Gelegenheit gehabt, ein schädliches Uebergewicht ersterer Ansichten, oder eine un-
berechtigte systematische Opposition gegen die städtischen oder die höheren Staats¬
behörden in den Stadtvervrdnetencollcgicn zu entdecken. Bei solchen Erfahrungen
mußte die Wiedereinführung des vormärzlichen WahlverfahrcnS und die dadurch
bedingte vollständige Neuwahl der Gemeindevertretungen fast als bedenklich er¬
scheinen, wenn man nicht annehmen wollte, daß die dieser Maßregel zu Grunde
liegenden Motive theils in den Cvnseaucuzen des Systems zu suchen siud, welches
grundsätzlich alle Spuren der Bewegung vou 1848 in den staatlichen Einrichtungen
vertilgen will, theils durch die Hoffnung eingegeben wurden, in allgemeinen Neu¬
wahlen die wenige» in den Gemeindevertretungen noch vorhandenen liberalen
Elemente zu beseitigen. — Im Laufe der letztverflossenen Monate haben die Neu¬
wahlen der Stadtverordneten-Collegien im ganzen Lande stattgefunden, und zwar,
wie es scheint, in den kleine» und einzelne» Mittelstädten ganz im Sinne der
Regierung. Ziemlich zuletzt unter allen Städten, erst gegen Ende December,
hatte auch die Bürgerschaft Leipzigs die Wahl neuer Vertreter der Stadt-
gemeinde vorzunehmen. Die Betheiligung der Wähler war größer als in den
letzten Jahren, die abgegebenen Stimmzettel zeigten eine wohldiöciplinirte Thätig¬
keit aller Fractionen der liberalen Partei, und das Ergebniß der Abstimmung
war auch hier die entschiedene Niederlage der Konservativen, die nur wenige ihrer
Koryphäen auf die Wahlmäuuerliste brachte». Man kann annehmen, daß bei
dem directe» Wahlmodus die conservative Partei allerwenigstens eben so viele
E.aiididaten in die Stadtverorduetenversauimlnng gebracht habe» würde, als sie
aus die Wahlmäuuerliste zu bringen vermocht hat. Allein es liegt im Wesen der
indirecten Wahlen, daß die Mehrheit der Wahlmänner, bei nur einiger Partei¬
disciplin, die von der Gesammtheit derselben vorzunehmenden Wahlen ausschließlich
und unbeschränkt beherrscht. Und so geschah es auch in Leipzig. Bei der definitiven
Wahl der Stadtverordneten fielen sa um du ehe Kandidaten der Konservativen durch,
bis auf einen einzigen, der seiner großen Tüchtigkeit und allgemein respeetirten Per¬
sönlichkeit wegen, mit Unterstützung der andern Partei, die nöthige Stimmenzahl
erhielt. Ein so vollständiger Sieg der liberalen Partei ist in Leipzig noch nicht
vorgekommen, so lange es überhaupt Stadtverordnete zu wählen gab. Männer,
welche vorher eine nicht unwichtige Stellung in dem Leipziger Gemeindewesen
bekleideten, welche oft an der Spitze großer Majoritäten standen, welche die
Stadt oder den Handelsstand in den Ständeversammlungen vertraten, — sie sind
spurlos verschwunden von der Liste der Gewählten, und haben theilweise nicht ein¬
mal unter den Ersatzmännern ein bescheidenes Plätzchen gefunden. Männer wie
Poppe, der noch in der letzten Ä. Kammer eine Rolle spielte und später von
Hrn. v. Beust mit dem damals vielbesprochenen Briefe über die Zollfrage be¬
ehrt wurde; oder wie Wünning, der von Seiten der Sachs. Regierung dem Ver¬
treter derselbe» aus den Wiener Konferenzen beigegeben und in dieser Stellung
mehrfach ausgezeichnet worden war, und viele Andere, deren bürgerliche und gescll-
schafliche Stellung ihnen bisher stets einen Platz im Schooße der Vertreter der
Stadt gesichert hatte, sind dieses Mal vollständig unberücksichtigt geblieben. Man
kann die Exclusivität, mit welcher die Aufstellung der Candidatcnliste betrieben
wurde, mißbilligen; man kann den durch das Wahlergebnis) herbeigeführten Ver¬
lust mehrerer der tüchtigsten und bewährtesten Arbeitskräfte im Interesse der Stadt
bedauern, und mau wird vor Allem bemerken müssen, daß die große Majorität
der neuen Stadtvertreter nicht der constitutionellen Partei, sondern — wie bei der po¬
litischen Vergangenheit Leipzigs natürlich — einer gemäßigten Demokratie angehört,
deren Antecedentien doch ziemlich zweifelhafter Natur sind, und deren Haltung in
der Gegenwart noch nirgend erprobt worden ist, aber man darf sich nicht verhehlen,
daß die Thatsache selbst, betrachtet im Zusammenhange mit den Erreignissen in
anderen Städten, ein Zeichen der Stimmung ist, welche sich langsam umkehrt.
Uebrigens hat die Negierung wegen Formfehlern die Bestätigung der Leipziger
Wahlen verweigert.
Rechnet mau zu diese» Ereignissen noch, daß auch in anderen großen Städten
Preußens bei den letzten Deputirtenwahlcn eine Verstärkung der constitutionellen
Partei sichtbar war, so wird man das Bedeutsame dieser Vorgänge nicht abläug-
nen können, gleichviel ob der Einzelne je nach seiner Richtung darüber Freude
oder Zorn empfindet.
^ Nenigkeitscorrespondenzen zu schrei¬
ben, ist wol das mühseligste Menschenwerk. Herumsnchcnd, hinhvrchend, ausspähend
bei jeder Gelegenheit und aller Orten können die Berichterstatter meistens kaum
noch den berühmte» rothen Faden Goethe's fassen, der doch solchen Mittheilungen
einzig und allein jenen Reiz und jenes Interesse zu verleihen vermochte, welches
der Leser suchen muß, um in den Tagesereignissen nicht blos isolirte Vorkomm¬
nisse, sondern die Schatten und Lichter eines Lebens zu finden. Unsre Gene¬
ration hat das Leben auf die großen Städte concentrirt; machtlos verpuffen
mannichfache Versuche zu neuen Dceentralisationeu, welche allerdings das Herrschen
und Beherrschen leichter machen, als das Regieren ist. Doch schon vom heidnischen
Alterthume erbten wir den Wahrspruch, verflossene Tage fordern selbst Götter
vergebens zurück. Die großen Städte sind Nervenknoten des LcbeusorgauismuS,
und die politischen Landeögrcnzcn bedeuten in der modernen Lebensfluth nicht mehr,
als etwa der versenkte Felsblock in einen Flußbett. Die darüber hiustreichende
Welle hebt sich etwas höher als ihre Genossen, gewinnt aber dadurch nnr ver¬
stärkten Fall und beschleunigte Naschheit ihres Laufes nach dem Ziele. Dabei
und darüber verloren die Städte großentheils jenes absonderliche Wesen, welches
man speciell als altstädtisch und bürgerlich bezeichnete. Boruirte Sentimen¬
talität in der Publicistik, welche überall verwelkendes und sich entfärbendes Leben
sieht, spricht nun von einem Absterben der Eigenthümlichkeiten. Sie erinnert
an den Goethe'sehen General im zweiten Theile des Faust, der, vor dem Faße
liegend, jammert:
Dieweil mein Fäfilein trübe rinnt,
Die Welt geht auf die Neige. >
Wir sind kein greises Geschlecht; denn das Greisenalter schasst keine neue
Lebensbahnen, es lebt in die Vergangenheit zurück und kennt nach sich nnr den
Tod. Epigonen sind wir dagegen im vollsten Maße. Immermann hat mit
diesem einzigen Worte das Zeitalter so vollkommen richtig charakterisirt, wie vor
und nach ihm kein Denker in langen Abhandlungen. Die Ueberkommcnschaften
der Vergangenheit lasten ans unsren Schultern massenhaft und ungestchtet. Das
Abgethane vom fürder Nothwendigen energisch abzuschneiden, sehlt wol nicht die
Kraft, aber der rechte Entschluß. Denn die neuen Lcbensgestaltuugeu häufen
sich gleichermaßen massenhaft, eben so nngesichtet ans die vorhandenen Lasten des
Epigouenthums. Der Hader geht darum, was feste Wurzel im Alten geschlagen,
was neuer Lebenstrieb des Ererbten, was wirklich abgelebt und was zu neuem
Leben berechtigt sei. Im Bedürfuiß «ach Reform sehlt der klare Blick, die kalte
Entschlossenheit zur Revision. Beides kommt sicherlich, aber langsamer, unschein¬
barer als unter günstigeren Verhältnissen. Erst wenn das Abgethaue Staub
geworden, bemerken wir die Lücke, erst wenn das Neue eine Macht, sein
Entstehen.
Gerade in Frankfurt drängen sich derartige Betrachtungen eindringlicher ans, als
an vielen andern Orten. Staat und Stadt fällt zusammen, beiderLebeu wurzelt in einem
individuell kleinen, durch die Verhältnisse so großen Gcschichtsleben. Die steinernen
Stätten der alten Geschichtsgänge stehen noch und die umgewandelten Schatten¬
reste der deutschen Geschichtögröße residiren wieder innerhalb der Mauern. Das
eigene Gesellschaftsleben Frankfurts vererbte sich von Geschlecht zu Geschlecht, ohne
zu innigem Zusammenhange mit jenem, von allen Seiten herandampfenden Gesell-
schaftsleben zu kommen, welches in Frankfurt seine Hauptstadt erobern will. Frank¬
furts Geschäftsleben ist dagegen bis in seine feinsten Verzweigungen untrennbar
mit dem uichtfraukfurtcr Leben verwachsen, ist ohne dasselbe undenkbar. Die
Capitälen aller drei Hessen, Nassaus, Badens sind nnr Residenzen, während
Frankfurt in tausendfachen Beziehungen ihre Landeshauptstadt wurde; und selbst
Unterfrankcns Leben ist nicht nach Würzburg, Nürnberg oder gar München zu
lenken, sondern fluthet immer von Neuem nach dem natürlichen Hasen seiner
Einmündung in deu großen Weltverkehr. — Hat Frankfurt etwas dafür gethan,
daß es so wurde? Brauchte es etwas dafür zu thun? Diese Fragen wiegen schwer
und sind verwickelt. Sie werden einfacher, wenn wir der Frankfurter anstatt
Frankfurt sage»; der Staat, als solcher, hat überdies auf die Frage, wie sie
zunächst vorliegt, keinen unmittelbaren Einfluß. Sie ist geschäftlicher und socialer
Natur, und obgleich der Deutsche von den Regierenden seit Jahrhunderten in
strenge persönliche Abhängigkeit von den Autoritäten verseht wurde, so liegt es
doch uoch heut keineswegs gleichermaßen in seinem Charakter, wie im französischen,
den Staat als die Quelle zu denken, woraus der Einzelne erst seine Existenz
schöpft. In geschäftlicher Hinsicht hat der Frankfurter — dies ist bekannt —
unendlich viel gethan, die von ihrer Lage begünstigte Stadt zu dem zu mache»,
was sie ist. Und er wurde vom Staate unterstützt, gerade durch das sehr aristo¬
kratische Regiment am lebhaftesten. In socialer Hinsicht dagegen — und dazu
gehört jedwede feinere Cultur — hat der Frankfurter niemals absonderlich gestrebt,
seine Stadt zum Mittelpunkte der Umlaute zu macheu. Was dafür geschah, ist
neuern, oft neuesten Ursprungs, verdankt seine Entstehung einzelnen Persönlich¬
keiten, keinem Sinn und keiner Neigung des größer» Publicums. Dieses dachte
immer nur an den Meßplatz, während z. B. beim Theater, Cäcilicnverci»,
Museum u. s. w. fast immer ein und dieselben wenigen Namen als Gründer,
Beförderer und Erhalter zu nennen sind. Und seitdem ihre Träger großentheils
vom Grabhügel bedeckt werden, fühlen all diese Anstalten und Unternehmungen
den Maugel großartiger Mäcenaten.
Damit ist just kein Tadel auf die Frankfurter geworfen. Früher, als noch
die bischöflichen Residenzen ihren Glanz ringsum verbreiteten, konnte Frankfurt
gar nicht daran denken, mit diesen Pflegstättcn der feineren Lebensblüthen zu con¬
curriren, besonders da auch Farbenpracht und sinnliches Wohlbehagen sie umgab,
dessen Gleichen die Republik den Vertretern der geselligen Cultur unmöglich bie¬
ten konnte. Dabei war der Frankfurter stolz auf seinen kaiserkrönenden Republi-
kanismus und mochte die Unterthanen der hundert Souverainetäten nicht so recht
in pari mit sich stellen; durch und durch bürgerlicher und mcreantiler Aristokrat
schien ihm engerer Verkehr mit jenen eine sociale Mesalliance. Der enge Staats-
uud Stadtkreis ließ unter die Frankfurter nicht jene Gewohnheit des Personen¬
wechsels kommen, welche selbst im kleinsten Staate — weil doch eben Stadt und
Staat »irgend gänzlich zusammenfielen — eine leichtere gesellschaftliche Beweg¬
lichkeit erzeugte. Die ganze Gesellschaft ruhte fest auf der Grundlage der Fa¬
milie, Zünfte, Genossenschaften, kurz der echten Frankfurter Stadtkinder, zwischen
die sich mir höchst ausnahmsweise fremde Einwanderer, nie aber vorübergehende
Fremde dräugen konnten. Wer einmal eingewandert und in irgend eine Gewerb-
schaft aufgenommen war, der blieb und wurde ein Frankfurter — wenn er reich
war. So ist's bekannt, daß man den Namen der Brentano von der Brenta ab¬
leitet. So kamen die du Fay als Hngucnvttische Flüchtlinge zur Zeit Franz I,.
aus Toulouse und führen noch zum Andenken an ihre Kreuzzugsritterschaft ein
Kreuz, an ihre hohe Gerichtsbarkeit Schwert und Rad als Wappenzeichen. Die
de Vary flohen unter Alba ans dem Walloncnland hierher; die Brüder Bernuö —
wohl anch flandrischen Ursprungs — kauften 1697 mit kaiserlicher Bewilligung
den nach dem Main gehenden Theil des Saalhofs, wo sie 1717 den großen Ban
gegen den Ncntcnthurm aufführten. Ans der Wetterau stammten die noch älte¬
ren Frankfurter Holzhausen, welche schou 13ü7 Mitglieder der Gcwcrbschaft
Limpnrg waren, worin 1387 auch die ursprünglich hessischen Günderode ausge¬
nommen wurden. Dagegen wurden massenhafte Einwanderungen, wie z. B.
die niederländische, immerhin einigermaßen ferngehalten vom rechten Frankfurter
Einleben; und sie mußten dnrch Stiftungen ze. selbstständig für ihre Angehöri¬
gen sorgen.
Wie in allen Handelsstädten, so blieb anch der Frankfurter immer zurück¬
haltend gegen den fluchenden Andrang der Fremden, welcher sich ja überdies nach
jeder Messe wieder verlor. Man hatte gehandelt und verkehrt — damit waren
die persönlichen Beziehungen zu Ende. Jenes Einleben nichtkaufmännischer und
nichtbürgerlicher Elemente in die Stadt, wie es zuerst der Hofhalt des Fürsten
Primas, dann der Bundestag brachte, berührte immerhin nur einzelne Kreise;
längeres Verweilen anderer Fremde ist erst ein Erzeugnis; neuerer Zeit; einzig
und allein die Nationalversammlung war ein gesellschaftliches Ereigniß, womit
die Fremde in die verschiedensten Schichten und in das Frankfurter Leben einrückte.
Und recht eigentlich erst seit dieser Zeit ist Frankfurt mehr und mehr ein Ver-
sammlnngspunkt der ringsum liegenden Lande anch außerhalb des geschäftlichen
Verkehrs geworden. Die jetzige Stellung der Stadt zu dieser Bewegung er¬
innert in der That gewissermaßen an das mit der Kette abgegrenzte frühere Ver¬
hältniß der Judengasse zur Christcnstadt; oder noch eigentlicher an die russischen
Slobodcn, welche die deutschen Städte der Ostseeprovinzen umlagern. Die Kette
der Judengasse ist zerrissen und das Hans „zum rochen Schild" an deren Ecke
erscheint nur noch eben so monumental für die Herrn von Rothschild, wie die
Habsluirg am Vierwaldstättersee für die Kaiser von Oesterreich. Auch die deut¬
schen Hansestädte der Ostseeprovinzen mußten den Russen der Slobodcn ihre
Thore, ihre Zünfte, sogar ihre Nathssessel offnen. Aber „der passive Widerstand"
gegen solche Umwandlungen war überall zähe; und der Frankfurter hat sich eben¬
falls sehr schwer entschlossen, seine abgeschlossene Gesellschaft fremden Elementen
zu offnen.
Es ist jedoch, als triebe das Schicksal bei den verschiedensten Veranlassungen
die Menschen von allen Seiten immer wieder heran. So harte man's in den
Kleinstaaten und Kleinstädter ringsum auf dem schriftlichen Vcrordnungswcge
verboten und das Verbot noch am Sylvestertag mit der polizeilichen Schelle ein¬
geschärft, daß in einem Gasthause eine Freinacht gefeiert werde, daß die Gemeinde
für allen Schaden dnrch etwaige Schüsse und Nenjahrsnachtbclnstignngen verant¬
wortlich sei n. s. w. Wer also Geld hatte, fuhr nach Frankfurt, wo man den
Leuten wenigstens uicht verpönte, daS neue Jahr in fröhlicher Gesellschaft anzu¬
treten. Einige kleine Raufereien abgerechnet, welche übrigens in der polizeilich
untersagten Sylvesternacht der Umlaute noch viel weniger fehlten, hat man anch
nicht gehört, daß das Staatswohl gefährdet worden sei. Dagegen war für
Menschen ernsteren Sinnes die Paulskirche zu einem mitternächtlichen Gottesdienst
geöffnet, während eine ähnliche Anregung und Gelegenheit zur Sammlung frommer
Gedanken, soviel bekannt, in keiner Nachbarstadt edle Entschädigung für den
verpöntem Sylvesterjnbel bot.
Abgesehen von der Kirchenfeier erregte aber die strahlend erleuchtete und
durchheizte Paulskirche in dem Besucher wehmüthige Betrachtungen. Man braucht
sie nicht erst zu nennen. Licht und Wärme sind die letzten Ueberbleibsel dessen,
was einst die Nationalversammlung hier geschaffen! Und während in der Erinnerung
durch die heilige Stille des Gebetes erschreckend die Abschläge des 10. Septbr.
an die hohen Pforten des Parlamentes dröhnten, zerfloß dem Auge immer ferner
der Zuruf zwischen den Nationalfahnen jener Zeit:
Des Vaterlandes Größe,
Des Vaterlandes Glück,
O schafft sie, o bringt sie
Dem Volke zurück.
Vorüber, vorüber!. . ..
Trüb und nebelig war der Nenjahrsmorgeu, doch eilte die Bewegung der
Gratulanten mit gekrümmten Händen massenhaft durch die Gassen. Dieser alte,
den Antritt des neuen Jahres vergällende Brauch hat sich wohl in keiner ein¬
zigen Stadt in gleichem Umfang und Maßstab erhalten, als eben hier. Die
sonst so streng verpönte Bettelei steigt in'ö wahrhaft Angemessene und z. B. vor
dem Rothschild'schen Hanse sind Polizeiwachen aufgestellt, um nnr einige Ordnung
in den Hunderten zu halten/ welche ihren Nenjahrszvll fordern. — Die Zeile
hin bewegt sich auch ein Stück alter Herkommenschast, noch dazu in neuem Ge¬
wände. Es ist die goldstrotzcnde Bürgermeisterkutsche mit ncubcschirrteu Galla-
Pferden bespannt, von purpnrrvther Dienerschaft beinah überdeckt. Sie führt zur
altherkömmlichen Nathssitzuug, welche am ersten Morgen des Jahres abgehalten
wird. Moderner und mit weniger auffallendem Ceremonie!! fand aber in der¬
selben Zeit die Gratulationscour bei dem preußischen Gesandten und derzeitigen
Bundcstagspräsidcntcn Herr v. Bismark-Schönhausen statt. Daß man anßer
den Equipagen der Diplomatie anch sonstige Equipagen bemerkte, anßer den
Uniformen der Officiere sämmtlicher Besatzuugsthcilc auch den nichtvfficiellen
schwarzen Frack, ist natürlich. Hatte in den Salons der frühern Gräfin Bergen,
jetzigen Gräfin Hohenthal nur die Geldaristokratie neben der Diplomatie und dein
Officiercorps Zutritt gehabt, waren auch vom Grafen Thun die Gesellschaftskreise
kaum weiter gezogen worden, so öffnen sich die Gesellschaftszimmer des Herrn v.
Bismark, außer für Jene auch für alle Notabilitäten der Kunst und Wissenschaft,
Dies giebt seinen Abenden eine wohlthuende Ungezwungenheit, welcher derartige
Kreise sonst wol mirnnter entbehren, während treffliche Musik (z. B. neulich
daS Quartettspiel der Gebrüder Müller) die Gesammtheit in einem gemeinsamen
Interesse vereinigt. Hatten früher einzelne, vielleicht nicht nnbeeinflnßte Stimmen
wegen des Wegganges des Grafen Thun, sowie der Gräfin Bergen-Hohenthal
einen gesellschaftlich stillen Winter prophezeiht, so stellt man jetzt die Gesellschaften
des preußischen Gesandte» denen zur Seite, welche Herr Ludwig Brentano im
Winter alle vierzehn Tage zu versammeln pflegte. Sie waren bisher
noch unerreicht geblieben. Denn im strengen Sinne kann man doch nicht jene
außerordentlichen Fälle zum Vergleich heranziehen, wo die Familie von Bethmann
sich veranlaßt fühlte, die Honneurs im Namen der Stadt zu machen, wie es z. B.
der Vater zu Ehren der Naturforscherversammlung und 1846 der Sohn
für die Germanistengcsellschast gethan hat.
— Ricks Simonsen, der sogenannte dänische Baruel, ist
der hervorragendste unter allen dänischen Historien- und Schlachtenmalern. Gerühmt
werden seine großen Gemälde: Die Schlachten bei Fridericia, Jdstcdt und Friedrichs-
stadt. Der Künstler sandte sie nach Paris, wo er Anerkennung erntete und die Gemälde
in Kupfer stechen ließ. Nicht minder zeichnet sich Ricks Simonscn als Kricgsgenrcmalcr,
deren es gerade nicht viele giebt, ans. Es erscheint nämlich gegenwärtig eine größere
Anzahl allerliebster Bilder von charakteristischen Kriegsscenen, die sich durch Laune, pla¬
stische Schlagkraft und überhaupt durch geniale Ausfassung auszeichne», im Handel.
Ein sehr interessantes Werk der Druck- und Holzschneidekunst war auf der dies¬
jährigen Berliner Ausstellung die große Folioausgabe des neuen Testaments von Ru-
dolph Decker in Berlin, welche schon aus der Londoner Ausstellung bedeutendes Aus¬
sehen erregt hatte. Das Prachtwerk ist mit den Bildnissen der vier Evangelisten und
den Vignetten nach Compositionen von Kaulbach und Cornelius, so wie mit Initialen
von Ndalbert Müller geschmückt. Die Zeichnung auf Holz machte L. Burger, an dem
Holzschnitt betheiligten sich Unzelmaun und die beiden Vogel.
Für das Nadetztydcukmal ist bis jetzt die Summe von Ä8M-I Fi. ö8 Kr. zu¬
sammengekommen. Der Kaiser, welcher dazu -1000 Fi. beigetragen, hat anch noch
1l)i) Centner Metall ans piemontesischen Kanonen dazu bewilligt. Dem vorläufigen
Plane nach soll das Denkmal den greisen Helden vorstellen, wie er von den ver¬
schiedenen, alle Nationalitäten der Gesammtmonarchie umfassenden Truppengattungen
auf einem Schilde getragen, mit gezogenen Schwerte vorschreibt und daS Banner des
Doppeladlers als'Sinnbild der Einheit des Kaiserstaates erhebt.
Professor Drackc in Berlin, der Freund des verstorbenen Dichtermalers Robert
Rcinick in Dresden, ist mit dem Relief beschäftigt, welches das Brustbild des Verbliche¬
nen enthält und seinen Grabhügel zu schmücken bestimmt ist. Die Aehnlichkeit soll dem
Meister trefflich gelungen sein, da er als Freund des Verstorbenen außer den gewöhn¬
lichen Hilfsmitteln der Todtenmaske und der Portraits noch den lebendigen Eindruck
zur vollsten Geltung zu bringen wußte. .
Die höchst werthvollen Gemälde, welche der wegen seines Kunstsinnes bekannte,
verstorbene Herzog v. Orleans angekauft hatte, sollen am 18. Januar in London öffent¬
lich versteigert werden. Darunter befinden sich mehrere berühmte Bilder der neuesten
französischen Malerschule; wir machen hier nur einige besonders namhaft: der „Tod des
Herzogs von Guise" von Delaroche; Schaffners „I/rMCksvil al Uimini" nud sein
„Ehristus als Tröster", der „Oedipus" und die „Stratoniea" von Ingres. —
Andreas Ueberhand, gegenwärtig in Düsseldorf lebend, schickte vor Kurzem vier
schöne Bilder nach Cincinnati, wohin auch einige Landschaften von Lessing folgen sollen. —
Eine kleinere; aber ausgezeichnete Ausstellung der brüsseler Akademie zeigt ein Auf¬
sehen erregendes Bild von de Kaiser: „Tasso im Gefängniß", unter den übrigen Bildern
ragen noch in künstlerischer Hinsicht hervor: das „Urtheil Salomo's" von Wappnaer's!
Sliuguayr's „Ueberschwemmung bei Brüssel im Jahre 18!i0" und de Lap's „Altnen-
syuagvge zu Prag." —
Zum Präsidenten der kaiserl. Akademie der Künste zu Petersburg ist die Tochter
des Kaisers, die Großfürstin Maria Nikolajcwna (verwitwete Herzogin v. Leuchtenberg)
ernannt. Die erste Unterschrift des neuen Präsidenten ernannte den von Heidelberg nach
Baden-Baden übergesiedelten Maler Saal zum Ehrenmitgliede der kaiserl. Akademie,
Wie man vernimmt ist Saal derzeit mit einem unlängst begonnene» Werke in großen
Dimensionen beschäftigt. —
Vor längerer Zeit bat einer der im Park zu Windsor angestellten Arbeiter
um Erlaubniß, eine Statue, die in einer der Waldpartie» theilweise in der Erde
versteckt liege, ausgraben und sie in seinem Gärtchen aufstellen zu dürfen. ' Er erhielt die
Erlaubniß, unternahm nicht ohne Mühe die Ausgrabung, und binnen Kurzem stand der
Fund auf einem Piedestal und schon weiß angestrichen vor der Cottagc des Arbeiters. Ohne
zu ahnen, was er erblicken würde, kam anch Prinz Albert hin, und sah zu seinem
Erstaune» ein Werk von großer Schönheit n»d großem Werthe. Sei» lebhaftes In¬
teresse für Alles, was die schöne K»»se aiigeht, trieb ih» an, weitere Nachforschungen
anstellen zu lassen. Und man fand nicht me»igcr als vier a»dere Statue», eine kolossale
Grippe von drei Figuren und zahlreiche Bruchstücke. Der Ort, wo sie so lange ver¬
borgen lagen, ist ohne Führer sast nicht zu finde», denn er liegt wol eine englische
Meile weit hinter der sogenannten langen Allee im dichtesten Walde: kein Weg oder
Pfad irgend einer Art führt hin, und das nächste bewohnte Haus liegt zwei englische
Meile» weiter hinaus. Sie an einem solchen Orte, von malten Eichen und dichtem
Haselgebüsch umgeben, und von hohem Farrenkraut überwuchert zu sehe», crimiert lebhaft
an Stccveii's Eiitdeckmigen in Centralamerika. Es war dasselbe Bild, aber in kleinem
Maßstabe und in nordischem Colorit. Ein Londoner Bildhauer, Mr. Thornycrost, ist
mit der Restauration beauftragt, und in seinem Atelier befinde» sich drei der Statue»
und die große Gruppe. Mit Ausnahme einer griechischen Statue von parischem Mar¬
mor sind sie alle vo» einem Meister, Pietro Franeavclia, geb. 1l>38 i» Cambray, und
el» geschätzter Schüler des berühmten Johann v. Bologna, wie aus Inschriften an den
Statuen selbst hervorgeht. Der Gegenstand der ersten Gruppe „Venus vertheidigt eine
Nymphe gegen einen Faun" ist meisterhaft behandelt. Es ist nach dem darauf verzeich¬
neten Datum das jüngste unter den drei Werken, »»d verräth trotz seiner Vortrefflich-
keit in der Komposition, der Zeichnung und der Anatomie schon einige Spuren von
der assectirteu Grazie, welche bei den späteren Bildhauern der italienischen Schule zur
Earicatur wurde. Vo» den drei Statuen ist die eine ein Aeolus, die andere ein
Simso», dem die Hände hinter dem Rucke» zusammengebunden sind, und dessen gewal¬
tige Anstrengungen, seine Bande zu zersprengen, dem Künstler Gelegenheit gegeben
haben, seine große Geschicklichkeit in der Darstellung der MuskelthätigM und seine
anatomischen Kcmitinsse darzulege». Das schönste Werk ist el» Apollo, eine Stat»e
voll jugendlicher Schönheit. Er ist mit eine», K»le aus eine» Fels gestützt dargestellt;
der rechte Arm ruht aus der Leier, der Körper ist ein wenig vorwärts gebeugt; der
lorbccrbckräuzte Kopf wendet sich nach der rechten Schulter, als lauschte er; die ganze
Bewegung der Gestalt ist voll Leichtigkeit und Eleganz. Die Times vermuthet, daß die
Statuen zur äußern Verzierung der jetzt niedergerissener „Royal Cottagc" gedient hätten,
und daß sie in Folge einer plötzlichen Laune Georg's IV. beseitigt worden wären.
Wir
haben in unsre» gelegentlichen Bemerkungen über das Leipziger Theater bereits mehrfach
erwähnt, daß die Oper entschieden das Beste an demselben ist; sie hat einen ausge-
zeichneten Dirigenten, ein wohlbcsetztcS Orchester, und auch die Regie ist neuerdings
einem fleißigen, strebsamen und gebildeten Künstler übertragen. Was die Solopartien
betrifft, so kann ein Stadttheater natürlich sich nicht auf europäische Großen einlasse»;
indessen war für die Zusammensetzung eines tüchtigen Ensemble, wie es für die moderne
Oper nothwendig ist (zwei Soprane, ein Alt, zwei Tenore, ein Bariton, zwei Bässe),
wenigstens eine tüchtige Grundlage vorhanden, die durch allmähliche geschickte Acquifltionen
erweitert und verbessert werden konnte. Ein Stadttheater, welches im Ganzen über so
große Mittel disponiren kann, wie das Leipziger, kann in der Oper immer ein tüchtiges
Ensemble herstellen, welches die Absichten des Componisten, soweit sie in das musikalische
Gebiet gehören, vollständig wiedergiebt, wenn es nur seine Aufgabe streng im Auge
behält und sich auf keine Charlatanerien einläßt. Daß übrigens dem Zeitgeschmack
einige Concessionen gemacht werden, namentlich für die Mcßzeit, die dem Theater eine
große Einnahme verschafft, und die ganz andere Ansprüche macht als künstlerische, daß
mau also für diese Zeit eine Knallopcr mit Auszügen, bunten Costnms und ähnlichem
Flitterstaat einübt, ist ganz in der Ordnung und würde auch im Uebrigen der Harmonie
keinen Eintrag thun, wenn man nur sür die andere Zeit strenger an dem künstlerischen
Gesichtspunkt festhielte. Sobald aber in die Höhere Leitung des Theaters jene Unstetigkeit
und Zerfahrenheit eintritt, wie wir sie jetzt an unsrem Theater sehen, wird nicht allein
das gesunde Verhältniß zwischen Dirigenten, Sängern und Orchcstermitgliedcrn gestört,
sondern, was das Schlimmste ist, der Geschmack des Publicums verwildert in einer
Weise, die auch sür die Zukunft die ernsthaftesten Besorgnisse einflößen muß. Das
Publicum ist keineswegs eine souveraine, in ihrem Geschmack vollständig ausgebildete
Behörde, die keinem Einflusse unterworfen wäre, aber es hat in der Regel einen guten
Fonds, der nur einer festen Tradition und Autorität bedarf, um seinerseits anch wieder
fördernd aus die Künstler einzuwirken. Wenn die Localkritik nicht zufälligen
Stimmungen oder noch mißliebigeren Einflüssen folgt, so kann auch sie schon viel
thun, aber die Hauptsache bleibt immer, daß dem Publicum eine Reihe von durchdachten,
abgerundeten, dem Zweck der Kunst entsprechenden Leistungen geboten wird, an denen
es sein Urtheil schuld, daß es sich mit einem Wort daran gewöhnt, mit Vertrauen in
die Vorstellung zu gehen, ungefähr in derselben Weise, wie das Institut deö Gewand¬
hauses sich durch die Cvuscanenz seiner Wirksamkeit ein wenigstens im Ganzen billiges
und urthcilsfähigcs Publicum geschaffen hat. Nun springen aber im Theater die Mi߬
griffe zu lebhaft in die Augen, und der Mangel an einem festen Plan, an einer zweck¬
mäßigen Organisation ist zu handgreiflich, als daß sich ein solches gcmüthvolles und
bildungsfähiges Verhältniß zwischen dem Publicum und den Künstlern herstellen könnte.
Wir wollen heute uns daraus beschränken, nur einen dieser Mißbräuche hervorzuheben.
Das Theater hat gegenwärtig vier fest angestellte Sängerinnen, von denen zwei, die
eine als Primadonna, die andere vorzugsweise als Soubrette und Localsäugcrin ihre
Ausgabe vollständig und zum Theil glänzend lösen, die beiden anderen dagegen, in denen
gleichfalls nicht »»bedeutende Kräfte vorhanden sind, werden fast gar nicht verwandt.
Nun ist für de» Winter noch eine fünfte als Gast engagirt, Frau von Marra, die in
der letzten Zeit fast ausschließlich das Repertoir füllt. Wir wolle» dem künstlerischen
Ruf dieser Dame nicht im geringsten zu nahe treten; sie hat als Koloratursängerin
unbestreitbare Vorzüge und giebt durch ihre Virtuosität dem Publicum häufig Gelegenheit
zu gerechtfertigter Beifallsbezeigungen. Aber wir müssen behaupten, daß ihr lange
dauerndes Gastspiel sür unser Theater von dem allcrnachthciligstcn Einfluß ist. Wir
haben dazu folgende Gründe. — Ein Gastspiel halten wir überhaupt nur dann für
gerechtfertigt, wenn durch den Urlaub oder den Abgang irgend eines der Sänger eine Lücke
entstanden ist, zu deren Ausfüllung Proben angestellt werden müssen. Nur ausnahms¬
weise dürfen größere Celebritäten der Oper, die das Publicum doch auch kennen lernen
möchte, vorgeführt werden, und diese Gastspiele dürfen eine gewisse Dauer nicht über¬
schreiten. Denn jedes Gastspiel stört den Zusammenhang, theils indem es ein schnelles
flüchtiges Einstudiren »euer Opern nöthig macht, theils weil es die Tradition und
Gewohnheit unterbricht. Vor Allem aber ein Gastspiel wie das der Frau v. Marra.
Bei der langen Dauer desselben wird der Geschmack, dem sie vorzugsweise huldigt, der
neuitalienische, und der damit unbedingt zusammenhängende Schlendrian dein Publicum
angewöhnt, die anderen Künstler werden in der ganzen Zeit fast gar nicht oder nur aus¬
nahmsweise beschäftigt, ihr künstlerisches Zusammenleben verliert allen Halt. Nun ist
Frau v. Marra außerdem große Virtuosin und verfährt, wie es in diesem Fall gewöhn¬
lich ist, den musikalischen Regeln und Gewohnheiten gegenüber mit souverainer Willkür.
Sie liebt es, in einem größern Stück in zwei verschiedenen großen Rollen aufzutreten;
so giebt sie z. B. in Robert dem Teufel sowol die Alice, als die Prinzessin, und um
das möglich zu machen, wird der zweite Act ausgelassen. Nächstens steht uns ein noch
größerer Genuß bevor; sie wird nämlich in den Hugucnottcn die Königin und die
Valentine zugleich singen, und da diese mehrfach neben einander auftrete», so wird für
diese Scenen die Rolle vorübergehend einer zweiten, resp, dritten Sängerin übertragen.
Das ist doch eine Wirthschaft, deren Absurdität Nichts an die Seite gesetzt werden kann.
Wenn die Stimmmittel der Frau v. Marra über das gewöhnliche Maß hinausgehen,
so mag sie zwei oder drei Opern an einem Abend hinter einander singen, aber ein jeder
Komponist, und wenn es Meyerbeer ist, hat das Recht, zu verlangen, daß seine Leistungen
nicht aus eine so unerhörte Weise zerrissen werden. — Einen weiter» Uebelstand wollen
wir nur beiläufig erwähnen. Die Inspiration, mit der sie sich Takt und Rhythmus
nach augenblicklichem Ermessen zurechtlegt, ist von einem so unerhörten Umfang, daß
wir allen Glauben an Takt und Rhythmus verlieren. Das mag an sich sehr schon, es
mag auch vielleicht ein Fortschritt in der Kunst sein, denn da die Kunst gegenwärtig
g/mz in der Zukunft spielt, so ist es schwer, in irgend einem Punkt noch eine feste
Meinung zu bewahren, allein es ist jedenfalls gegen die Sitten und Ueberzeugungen
unsrer gewöhnlichen Musik und daher ganz dazu gemacht, das Orchester in die voll¬
ständigste Verwirrung zu setzen. Wäre Frau v. Marra dauernd engagirt, und wäre ihr
die Leitung des Theaters in die Hände gegeben, so ließe sich vielleicht mit der Zeit
eine künstlerische Einheit wieder herstellen, es würde dann nicht gesungen und gespielt,
wie es der Komponist gewollt hat, sondern wie es dem Geschmack der ausübenden
Künstlerin zusagt; allein das Gastspiel muß doch einmal ein Ende nehmen, die alte
Weise muß wieder zurückkehren, und alsdann würde es im höchsten Grade schwierig sein,
Musiker in die gewöhnte Ordnung wieder hinüber zu leiten, die allen Glauben an den
Viervierteltakt verloren haben. — Alle diese Uebelstände sind um so mehr zu beklagen,
da in einzelnen Fällen, wo die gewöhnlichen Kräfte verwandt werden, z. B. bei der
Aufführung der „lustigen Weiber", das Theater gezeigt hat, daß es etwas sehr Gutes
leisten kann. —
Musikalische Charaktcrköpfc. Ein kunstgeschichtliches Skizzenbuch
von W. H. Nie si. (Stuttgart und Tübingen, Cotta.) — In der Brockhaus'sehen „Ge-
genwart" standen vor einiger Zeit zwei Artikel über die Oper und das Volkslied, die
aus eine geistreiche Weise die Entwickelung der modernen Kunst mit den allgemeinen
Fortschritten der Cultur und des nationalen Lebens in Verbindung setzten. Der Ver-
fasser derselben, Herr Riehl, der sich auch in anderen Fächern einen rühmlichen Namen
gemacht hat, namentlich dnrch sein Buch „über die bürgerliche Gesellschaft", setzt hier
seine Studien fort und giebt eine Reihe von einzelnen, aber der Tendenz nach mit ein¬
ander zusammenhängenden Genrebildern aus dem Kunstleben, die vor Allem den Zweck
verfolgen, die Kunstgeschichte auch in den entlegeneren, minder glänzenden Kreisen, die
man über den Hauptrepräsentanten der künstlerischen Entwickelung gewöhnlich ganz
übersieht, zu individualisiren. Es ist ihm dieses auch wenigstens theilweise in hohem
Grade gelungen. Seine Charakteristik des Wiener Componisten Wenzel Müller, des
Verfassers der „Teufelsmühle", ferner des Kunstkritikers Mattheson und des Hosopcrn-
eompvnisten Hasse ist durchaus vortrefflich, und eröffnet uns die interessantesten Blicke in
das Kleinleben der Kunst. Sehr hübsch angelegt und ausgeführt ist auch die Ver-
gleichung zwischen Bach und Mendelssohn aus dem socialen Gesichtspunkte, die wesent¬
liche Stellung des Erstem innerhalb des deutschen Bürgerthums und das Hervorgehen
des Letztern aus der sogenannten gebildeten Gesellschaft. Freilich darf man nicht er¬
warten, und es liegt auch nicht in der Absicht des Verfassers, eine erschöpfende Cha¬
rakteristik von dem Kunstwerth dieser Männer zu geben, er will nur die eine Seite
desselben, sein Verhältniß zu den öffentlichen Cnltnrzuständcn beleuchten, und dies ge¬
schieht aus eine feine und geistreiche Weise. In Beziehung auf die Urtheile würde»
wir im Einzelnen Manches einzuwenden haben, im Allgemeinen aber geht er mit der
Grundansicht, die in unsren Blättern vertreten ist, Hand in Hand. Er ist fest davon
überzeugt, woran freilich vor einigen Jahren noch kein Mensch zweifelte, daß die Musik
eine Kunst für sich ist, die ihren eigenen Gesetzen folgt und die wesentlich nur durch
das sinnliche Mittel des Gehörs und dnrch dessen Gesetze, Takt, Rhythmus, Melodie
und Harmonie ans den Geist wirken kann. Er verwirft daher die Musik der Zu¬
kunft, die andere Organe ihrer Wirksamkeit gesunden zu haben glaubt, vollständig. —
Eine Ausstellung dürfen wir nicht vorenthalten. Der Verfasser schreibt einen blühen¬
den, individuell belebten Styl, der unzweifelhaft dazu beitragen wird, die Aufmerksam¬
keit des Publicums lebhafter anzuregen, aber er übertreibt diesen Styl in der bekann¬
ten jungdeutschen Manier; er führt eine Reihe burschikoser Ausdrücke und Wendungen
in die gebildete Schriftsprache ein, die derselben nicht anstehen und die zur Individua-
lisirung auch keineswegs nöthig sind. Freilich ist dieser Styl heut zu Tage nicht mehr
blos in Deutschland, sondern anch in Frankreich zu Hanse (z. B. sendo schreibt ganz
in der nämlichen Manier); aber er ist trotzdem zu verwerfen und von einem Mann von
so durchgebildeten Geschmack, wie es Herr Riehl ist, läßt sich wohl erwarten, daß er
sich von diesen Uebertreibungen wieder frei machen wird.
Zu der Klasse der Dorfgeschichten werden hier alle Er¬
zählungen gezogen, welche ländliche Verhältnisse mit behaglicher Breite und reichem
Detail schildern, auch wenn die Helden derselben den Anspruch erheben, „gebildete"
Menschen zu sein.
Der Pfarrer von Grnnrode. Ein Lebensbild von Heinrich Pröhle.
2 Tsin. Leipzig, Avenanns und Mendelssohn, -I8Ü2. Das Buch stellt in Form einer
Selbstbiographie das Leben eines Pastors dar, von der Wiege bis zu seinem Jubiläum.
Der Pastor ist der Sohn eines weisen und nachdenklichen Dvrshirtcn, erhält durch
den Prediger des Ortes seinen ersten Unterricht, verlobt sich als Student, hat die
Leiden eines alten Candidaten durchzumachen, verliert während dieser Zeit seine Braut
durch den Tod, wird endlich Pastor in einer verwahrlosten Gemeinde, heirathet ein braves
und liebenswürdiges Mädchen, Pastorstochter, verliert leider auch sie und seine Kinder
durch den Tod und schließt als einsamer Greis mit der Beschreibung seines Amtsjubi¬
läums das Buch. Unter allen Nomaneompositivnen ist die des biographischen Romans
am lockersten. Es ist dabei der Willkür des Darstellers so viel Raum gelassen, wie
»ur irgend möglich, und dieser wird deshalb um so mehr die Pflicht haben, sich aus Dar¬
stellung solcher Momente zu beschränke», welche einen wesentlichen, bildenden Einfluß aus
das Leben des Helden ausgeübt haben. Und wenn sich der Verfasser bei einer solchen
Lebensbeschreibung nicht die Ausgabe stellt, irgend eine interessante Charakterentwickelung
oder ein durch eine einheitliche Idee getragenes und bewegtes Menschenleben darzustellen
und so durch seine Analyse des menschlichen Gemüthes oder durch eine Darstellung von
dämonischen Walten des Schicksals eine Art von innerer Einheit hineinzubringen, so
wird eine solche Erzählung kaum den Eindruck einer Kunstschöpfung machen und in die
unsichere Klasse der Untcrhaltuugslecturc fallen, welche zwischen Beschreibungen der Wirk¬
lichkeit und freien Schöpfungen mitten inne stehen und deswegen nach keiner Seite hin
vollständig befriedigen. Das wirkliche Leben eines protestantischen Dorfpsarrers in einer
bestimmten Gegend Deutschlands, von ihm selbst erzählt, kann für die Gegenwart und
für alle Zukunft Werth haben, weil wir möglicher Weise aus der genaue» und ehrlichen Schil¬
derung der Wirklichkeit interessante Zustände des Volkes, s'eine Bildung, sein Gemüth,
die Localitär u. s. w. in einer bestimmten Zeit erhalten. Aber diese Art von Interesse
wird schwächer von dem Augenblick an, wo der Leser nicht mehr genau unterscheiden kann,
was der Wirklichkeit entnommen und was Erfindung des Schriftstellers ist. Offenbar
hat H. Pröhle die Absicht gehabt, das treue Abbild eines wirklichen Lebens zu geben,
und viele Einzelheiten sind höchst charakteristisch und interessant. Aber so bescheiden
auch seine Erfindung auftritt, man empfindet sie doch überall heraus und ist deshalb
genöthigt, an das Buch die Anforderung künstlerischer Composition zu machen. Diese
aber ist unvollständig. Pröhle selbst hat offenbar das wirkliche Leben der Landleute
fleißig beobachtet, sich viel um Sitten, Gewohnheiten und Anschauungsweise des Volkes
gekümmert und er hat ein herzliches Interesse an den vielen ernsten und launigen
Zügen, welche uns, als Einheit zusammengefaßt, ein Bild von dem Volkscharakter
geben. Aber es ist ihm nicht vollständig gelungen, den reichen Schatz von Anschauungen
und Beobachtungen aus der Wirklichkeit für die Zwecke der Erzählung zu verarbeiten.
Was der Wirklichkeit entnommen ist und was er erfunden hat, steht bisweilen wie ge-'
trennt neben einander. Die Anekdoten aus dem Treiben des Harzdorfcs, in welchem
der Held geboren wurde; die Figur des alten Hirten, viele Züge aus dem Leben des
Helden, seine Noth als Kandidat n. s. w. sind einzeln betrachtet, sämmtlich anschaulich
und lebhast erzählt, aber als Theile einer Composition betrachtet, haben sie keine noth¬
wendige innere Beziehung zu einander; el» großer Theil dieser Einzelheiten könnte
ebenso gut fortbleibe», und da neben Vielem, was charakterisiren hilft, Manches steht,
was nicht interessant ist und nicht zur Sache gehört, so hat der Leser auch die Empfindung,
daß der Verfasser nicht zweckvoll erzählt. Indeß ist die einfache und anspruchslose
Geschichte doch mit so viel Liebe und Behagen zusammengesetzt und es ist eine so gute
und verständige Art darin, und so viele kleine interessante Anekdoten, daß das Buch,
wie auch seine künstlerische Berechtigung sein mag, doch für Viele eine angenehme Lec-
ture sein darf
Der Verfasser hat sich zuerst durch kleine Bilder mit böhmischer Loealfarbc bekannt
gemacht, und ist seitdem ein fleißiger Schriftsteller geworden; aber so lebhaft er auch
Einzelheiten anschaut und darstellt, so ist es ihm doch nicht möglich, Personen in der
Bewegung zu zeichnen und eine Begebenheit zu erfinden, welche durch die Thätigkeit
verschiedenartiger Charaktere verständig fortgeführt und zu einen Schluß gebracht wird.
Ja, es ist merkwürdig, wie schwer es ihm wird, eine Geschichte zu erzählen, Ursachen
und Wirkungen übersichtlich darzustellen und Anfang, Verlauf und Ende in ein richtiges
Verhältniß z u setzen. Florian soll das Leben eines armen Dvrsknaben enthalten, der
in kümmerlichen und ungeordneten Verhältnissen aufgewachsen ist, plötzlich zu
ungeheurem Reichthum und dadurch in eine radical andere Stellung zum Leben
kommt, den Kampf mit dem Leben zu bestehen und sich selbst zurecht zu finden hat.
Der Verfasser kommt erst im zweiten Theile dazu, dem jungen Burschen die Erb¬
schaft zu verschaffen, und versucht auf den wenigen noch übrigen Bogen das neue
Leben desselben zu ordnen, indem er ihn in die gebildete Welt einführt und dort kleine
Erfahrungen machen läßt. — Das ist eine unbillige Verwendung des Raumes. Da
aber dem Verfasser von früheren Bcurtheilcrn bereits vorgeworfen ist, daß die Geschichte
am Schluß gar nicht zu Ende sei, ja erst recht angehen müsse; so beschränken wir
uns daraus, einen gemäßigten Ausfall gegen seine Methode, Charaktere zu zeichnen,
anzubringen. Er hat ^ein wohlwollendes Gemüth und viel Liebe zu seinen Figuren,
aber er ist deshalb und noch aus anderen Gründen zu gut gegen sie, er läßt ihnen zu
viel Willen, er freut sich über Alles, was ihnen einfällt, auch über nuvcrständigeS Zeug.
Wenn ein Schriftsteller in den Fehler verfällt, seine eigenen Charaktere zu bewundern,
und dieselben auch in gleichgiltigen Situationen als etwas merkwürdig Großes oder
Schönes oder Jmponirendcs darzustellen, so wird der Leser leicht kritisch und fängt an
zu untersuchen, ob die so geschilderte Person wirklich groß und imponirend, oder auch
nur der Situativ» angemessen handle. Und wenn er entdecken sollte, daß dies nicht
der Fall ist, und daß der Autor da Verehrung für seine Helden verlangt, wo der
Leser diese unmöglich gewähren kann, sondern vielmehr das Gegentheil, so entsteht in
dem Leser leicht ein Zustand von Hcrzensverhärtnng und tückischer Blasirtheit, der für
den Verfasser gefährlich ist.
Aber die Darstellung des Herrn Josef Rank leidet noch an einem andern verwandten
Uebelstand. Eine Probe seines Styls mag das beweisen. Eine junge Dame tritt in die
Familienstube, wo Mutter und Schwester sie beim Frühstück erwarten. Ihr Eintritt
wird folgendermaßen geschildert: „In diesem Augenblicke unterbrach ein leises Rauschen
das Gespräch. Liane war in den Salon getreten. Sie blieb an der Thüre ihres
Zimmers stehen und überblickte die Scene im Salon mit ernstem, ruhigem Auge. Die
stille Majestät ihrer Erscheinung sollte bald entdeckt werden und ihre Wirkung thun.
Wie vor der siegreich ausgehenden Sonne die Nebel schwinden, so entflohen bei dem
Anblick Liancns die Verdüsterungen, welche sich aus die Stirn ihrer Mutter und Schwester
gelagert hatten. Beide hatten eben an Lianen gedacht und waren betrübt geworden;
beide sahen nun Lianen und wurden froh. Liane sagte mit einer Stimme reinsten
Wohllautes: „Guten Morgen, Mutter und Schwester;" trat aber nicht vor, um sie weiter
zu begrüßen, dagegen beeilten sich Mutter und Schwester, ihr entgegen zu kommen, ihr
die Hand zu reichen, der Königin des Hauses den Kuß liebender Huldigung aus den
Mund zu drücken. Man begab sich an den Tisch mitten im Salon, wo das Frühstück
aufgetragen war." — Da es dem Verfasser ein wenig an Verstand und Talent fehlt,
das wirklich Charaktcrisircnde zu finden, fo malt er das Unbedeutende und Triviale
als charakteristisch aus und sucht darin Effecte. Er möge sich hüten! denn er ist auf
dem besten Wege bei folgender Art von kleinen Romanen anzukommen, deren Methode
nicht für nachahmungswürdig erklärt werden kann; z. B.: „Ein Vaucrmädchcn ging über das
Feld. Auf ihrem nackten linken Fuße war ein brauner Fleck. Die mächtigen Wasser
des Himmels waren dem Abend vorher herabgestossen und hatten den Boden erweicht,
mit ruhigen^ Selbstgefühl war das Mädchen in den erweichten Boden getreten, er
war ausgespritzt und hatte ihren Fuß gezeichnet. Sie ging unbekümmert um den
braune» Fleck vorwärts. Da sah sie ein Gänseblümchen in dem grünen Nasen. Sie
beugte sich nieder, indem sie den Oberkörper der Erde zusandte und die Augen
auf die Blume heftete, näherte den Daumen und Zeigefinger dem stillen Kinde der
Flur und pflückte dasselbe. Daraus erhob sie sich, zerpflückte die Blume in ihren
Händen und ließ die Blätter, den Stängel und alles Uebrige auf den Boden fallen.
Darauf drehte das Mädchen sich um, und ging nach Hause. Ein Engel umschwebte
ihren Schlummer. — Ende. Der Verfasser möge sich klar machen, weshalb eine solche
Darstellung nicht den höchsten Ansprüche» der Kunst Genüge thut. Uebrigens ist im
Florian auch mehreres Hübsche, die Scene, wo dem armen Jungen sein Reichthum ver¬
kündet wird und das Benehmen der Dorfbewohner dabei. Die Schilderung des Eindrucks,
welchen dieses ungeheure Glück des Einzelnen aus die verschiedenen Charaktere im Dorfe
ausübt, ist ausführlich, ja und auch gut gemacht. Es würde uns sehr freuen,
wenn wir von dem übrigen Inhalte Aehnliches rühmen könnten.
Noch schlimmer steht es mit der ältern Erzählung: Moor gar den. Hier hat
der Verfasser versucht, in einer östreichischen, etwa se^iermärtische» Gebirgslandschaft das
Jahr 1848 und seine Nachfolger zu schildern. Dieses Unternehmen ist ihm vollständig
mißglückt. Die Charaktere sind nichts als Aggregate einzelner, oft mit einander un¬
verträglicher Einfalle. Die Begebenheit ist sehr dürstig, ja es ist gar keine Noman-
handlnng darin, denn die Geschichte sieht nur aus wie ^>le Einlci'ung zu einem
längeren Roman, es fehlt Alles darin, eine Idee, eine abgeschlossene Handlung, mensch¬
liche Interessen, das Ganze ist ehrlich gesagt, nicht besser als Nonsens—Lesbar dage¬
gen sind die Geschichten der armen Leute, kleine Bilder, viele unbedeutend, einige inter¬
essant, Alle sorgfältiger in Styl und Sprache als die größeren Geschichten; sie werden
den Freunde» seiner erste» Schilderungen willkommen sein.
Tannnda — nach dem Indianischen Ortsnamen so genannt — ist ein kleines
Städtchen von einigen hundert Einwohnern, mit den Gebäuden allerdings etwas
im Englischen Geschmack, der BeviMerung aber, ein Paar einzelne Fälle vielleicht
ausgenommen, total Deutsch. — Mir war es übrigens ein merkwürdiges Gefühl,
in einem fremden Land und Welttheil, wie auch in einer Englischen Kolonie, so
urplötzlich lauter Deutsche und in der That ein rein deutsches Leben und Schaffen
um mich zu finden; manchmal mußte ich mich wirklich ordentlich besinnen,
besonders wenn ich so überall kleine Gruppen in den Straßen stehen sah
und Alles Deutsch reden horte, ob ich denn auch wirklich in Australien sei. Es
war aber doch nun schon einmal nicht anders, und ich gewohnte mich zuletzt auch
daran — ich glaube, ich hätte mich gewöhnt, wenn sie Chinesisch gesprochen hätten,
denn so schnell von einer Sprache in die andere geworfen zu werden, wie mir das
in den letzten Jahren in Einem fort gegangen ist, macht Einen zuletzt gegen alles
Derartige ziemlich gleichgiltig.
Tauunda ist aber nicht allein seines Deutschthums, sondern auch seiner
Religionsparteien wegen merkwürdig, und mir lag besonders daran, das Nähere
über diese zu erfahren. Die wichtigste, wenigstens die bedeutendste Gemeinde
unter diesen ist die A. Kavelsche oder altlutherische, die jedoch in der letzten
Zeit einen ziemlich bedeutenden Stoß in ihrer Einigkeit durch einige simple
Rechenfehler erhalten hat. Früher gehörten die Gemeinden Tauuuda, Hahudvrf,
Läugnen und Lightsgaß, lauter deutsche Ortschaften, zu einander und zu einer
Kirche. Da hatte, ich weiß selbst nicht einmal, ob im Frühjahr dieses (1831),
oder im Herbst vorigen Jahres, Pastor Kavel den unglückseligen Gedanken,
den Untergang der Welt auf Tag und Stunde vorher prophezeihen zu wollen,
und er war dabei leichtsinnig genug, die Zeit nicht etwa einige tausend Jahre
hinaus zu schieben, sondern den Leuten dicht auf die Haut zu rücken. Das
Resultat war dasselbe, was der berühmte Prediger Miller in den Uankeestaaten
hatte — der liebe Gott that den Leuten aber nicht den Gefallen, die Welt zu
der bestimmten Stunde aus den Angeln zu heben, und Alles ging seinen bestimm¬
ten Gang fort, nur die Kavelsche Kirche nicht.
Zu der prophezeihten Stunde soll damals die ganze Gemeinde hinausgezogen
sein nach einem kleinen Creek, etwa zwei Meilen von Tannndci, und eine halbe
Meile von Langweil, dort den Messias zu erwarten. Statt dessen kam ein
starkes Gewitter, das sie tüchtig auswusch, und Abends schliefen sie wieder, statt
im Paradiese, in ihren Nelken.
Auf die Gemeinde machte das aber einen bösen Eindruck; die Leute hatten
fest darauf gerechnet, mit zerstört zu werden, und fanden sich jetzt alle wohl und
gesund — einige kleine Erkältungen vielleicht abgerechnet — und so weit von
der ewigen Seligkeit entfernt, als je. Durch die nicht eingetroffene Prophezeihung
wurde aber auch zugleich ihr Glaube an den Propheten selber erschüttert, und ein
Theil der Kavclschen Gemeinde siel von Kavel ab. So wählte sich Langweil den
Pastor Meier, einen frühern Missionair der Australischen Indianer, zum Pastor,
und nur Hahudors und Tauunda, vielleicht auch LightSgaß behielten den echten
Glauben, da die Meier sche Gemeinde den sobaldigen Untergang der Welt stark
bezweifelte. Hr. Pastor Kavel rückte ihn aber indessen unverdrossen auf den
Uebergang von 1899—1900 hinaus. —
Was man in Tauunda selber — (d. h. der »»gläubige Theil der Bevölke¬
rung, denn Tauunda wird in Heilige und Weltkinder eingetheilt) über die
Gemeinde und ihren Glauben sich erzählt, grenzt an das Fabelhafte, und man muß
sicherlich auch vorsichtig selbst im Glauben dieser Berichte sein, denn ich fürchte
fast, daß die Weltkinder da Manches übertrieben haben. Dem Neligionswahnsinn
ist freilich Nichts unmöglich. Jedenfalls wollte ich mich selber soviel wie möglich
unterrichten, und besuchte deshalb Hru. Pastor Kavel, von dem ich auch aus das
Freundschaftlichste aufgenommen wurde.
Ich war gerade zu einer sehr interessanten Zeit nach Tannnda gekommen.
Hr. Pastor Kavel hatte sich nämlich erst vor einigen Tagen mit seiner Wirthschaften»
trauen lassen, und es war hierbei der sehr eigenthümliche Fall vorgekommen', daß,
obgleich Herr Pastor Meier in Läugnen und ein anderer Pastor, Herr Mücke,
der eine freisinnigere Gemeinde, auf die ich nachher noch zurückkommen werde,
in Tannnda gegründet hat, Beide von der Regierung ordinirt waren, Herr Pastor
Kavel doch keinen dieser Herren sür würdig oder befähigt hielt, die Trauung an
ihm zu vollziehen, und deshalb mit seiner Braut nach Adelaide fuhr, sich dort
von dem Civilgericht copuliren zu lassen. Hiermit war nun seine Gemeinde anch
nicht recht einverstanden, weder mit der Civilehe, obgleich er sich nachher, in
Tannnda angekommen, noch einmal von Einem des Vorstandes einsegnen ließ, als
auch mit der Ehe selber — wobei die Leute meinten, er hätte auch selbst in
einer solchen Suche „den Schein" vermeiden sollen. Wenn mau aber bei Hei-
rathssachen immer erst die ganze Gemeinde fragen wollte, würden am Ende wenige
zu Stande kommen wenigstens nicht so, daß sie beiden Theilen behagte, und
solche Sache» muß Jeder immer am besten selber wissen. —
Der nächste Tag war ein Sonntag, und es versteht sich wol von selber,
daß ich die Kavel'sche Kirche besuchte, nach der ich zum Hrn. Pastor zu Tische
geladen war. Der Gottesdienst war natürlich der altlutherische, aber mit eiuer
enormen Zahl von Gesangbnchsvcrsen und Bibelstellen. Das Singen hörte nicht
ans, und wenn ich auch keineswegs meine Meinung als unfehlbar hinstellen will,
so glaube ich doch wahrhaftig auch nicht, daß unsrem Herrgott daran gelegen sein
kann, jeden Sonntag das halbe Gesangbuch vorgesungen zu bekomme». Ich
mußte an dem Tag 32 Gesangbuchsverse singen — und der Text? Ich bin fest
überzeugt, daß die Leute, die jene Lieder geschrieben haben, denn gedichtet kann
man sie nicht wohl nennen, die beste Absicht dabei hatten, und daß sich ihr innig¬
stes Gefühl dabei aussprach, es bleibt aber doch immer schwierig, „allerheilsamstcu"
z. B. in zwei Sylben zu fingen oder zu sprechen.
Herr Pastor Kavel predigte gut und fließend........d> h. mit gut will ich nicht
etwa sagen, daß ich mit dem Sinn der Predigt einverstanden war — er sprach
aber wie ans innerster Ueberzeugungnnd ich will das zu seiner Ehre glauben
und sprach so, daß ich auch wohl begreife, wie er gerade die Klasse von Menschen,
mit der er zu thun hat, dem, was er da sagte, gewinnen konnte. Sonst aber
war seine Predigt ein Extract des Unduldsamsten, was man in irgend einem
Glauben mir vorbringen kann — nur sein kleines Häufchen von Auserwählten
war es, dem das Himmelreich einst offen steht, und einen Satz seiner Predigt
werde ich nie vergessen. „Die, so wirklich nach Gottes Wort handeln, aber nicht
den rechten Glauben haben, sind, mögen sie so gute und Gott sonst wohlgefällige
Thaten thun, als sie wollen — rettungslos verdammt und gehen zum Teufel.
Ja Gott wird solche Menschen, gerade um ihrer guten Thaten willen, nur noch
um so mehr hassen, weil er ebendieselben als eine Art von Heuchelei ansieht —
da sie den Glauben nicht haben." Und das sollte ein Gott der Liebe sein.
Diese Predigt war sauber zwischen eine unbestimmte Anzahl von Capiteln
aus der Bibel und die vorgenannte Zahl von Gesangbnchsvcrsen eingepackt, mir
wurde aber unheimlich dabei — ich bin sonst nicht gerade sehr ängstlich,
aber mir schnürte es fast das Herz zusammen, wenn ich daran dachte, Gott
konnte mich vielleicht auch mit zu diesem kleinen Häuflein rechnen, das da vor
allen Dingen verlangte, selig z» werden und die Millionen des Erdballs scho¬
nungslos in die Holle stieß — ich verlangte in dem Augenblick absolut mit den
Anderen bergunter zu gehn. Ich bin übrigens fest überzeugt, daß Hr. Pastor
Kavel eine ungefähre Idee hatte, was Geistes Kind ich sei, und es ist wol mög-
lich, daß er wenigstens einen Theil der Predigt zu meinem eigenen Besten hielt,
damit ich einsähe, in welcher entsetzlichen Gefahr ich schwebe, oder, wen» das
nicht anschlüge, mir vorzeitige Warnung meiner einstigen Bestimmung in einem
sehr warmen Klima zu geben; jedenfalls wußte er, daß ich kein Altlnthcraner sei,
ich hätte mich sonst gleich bei meinem ersten Besuch ihm als solchen vorgestellt,
und die natürliche Folge davon war meine spätere Verdammnis;, mit der er mich
also freundlich genug bekannt machte. Doch wie dem auch sei, für eine» Ver¬
dammten nahm er mich, als ich nachher zu ihm zu Tische kam, so gastlich und
herzlich auf, wie er es mit einem Rechtgläubigen nicht hätte besser thun können,
und sein kleines junges Frauchen war eben so — ich kann es ihm gar nicht ver-
denken, daß er den Junggesellenstaud deu Jnnggescllcnstaud sein ließ, und sich
für sein Alter eine freundliche und menschliche Existenz sicherte. Ans Religions-
gespräche wollte er übrigens in seinem Hause uicht eingehen nud wußte sie auf
sehr geschickte Art stets abzuleiten — ich kann ihm das anch gar nicht verdenken,
ich hätte es ebenso gemacht, so was gehört ans die Kanzel, aber uicht in'ö Haus;
ich verdachte ihm aber die Masse Gebete und Capitel ans der Bibel vor und
uach Tische — so etwas gehört ebenfalls auf die Kanzel, und wenn mau sich auch
das mit in's Hans nimmt, so ist das eben nur eine Geschmackssache.
Ueber die Religion der Kavel'schen Gemeinde, ihren Glauben an ein bald
bevorstehendes tausendjähriges Reich, aus ihre eigene und alleinige Auscrwähllheit
kann und will ich Nichts sagen — es ist dies eben ein Glaube», eine Religion
wie jede andere, und so lauge die Leute mir wirklich dem, was sie da bete», auch
vou ganzer Seele ergebe» sind, und mit inniger Ueberzeugung daran hangen, so
sehe ich uicht ein, warum ihr Glaube nicht ein eben so guter sein sollte, wie jeder
andere. Ihre Irrthümer werden sie schon einsehn, wenn wir da oben einmal
zusammenkommen.
Die Gemeinde hält sich übrigens sehr streng abgeschieden — der Artikel 1
ihrer Kirchenordnung sagt:
„Die Gemeinde geht von dem Grundsatz aus, daß nur Die als wahre
Glieder der Kirche betrachtet werden können, welche nicht meinen, aus
eigener Vernunft und Kraft an Jesum Christum glauben zu können,
sondern die vom h. Geiste durch das Evangelium berufen, mit Seinen
Gaben erleuchtet, im rechten Glaube» geheiligt sind und in demselben
erhalte» zu werden trachten.Zu unsrer Verwahrung aber gegen alle Donatistische und Nova-
tianische Jrrsale wollen wir hierbei zugleich ausdrücklich ans den 8. Artikel
der Augsburgischen Confession, so wie ans alle, el» Gleiches besagende
Stellen in den übrige» symbolischen Büchern unsrer evangelisch-lutheri¬
schen Kirche verwiesen haben.
In die Kirche nud Gemeinde werden, nach sorgfältiger Prüfung,
nur Diejenige» aufgenommen, welche die heilige Schrift als Gottes Wort,
ferner die Lehre der evangelisch-lutherischen Kirche, wie solche in dein
kleine» Katechismus Luther'ö und der unveränderten Augsburgischen Con-
fession ausgesprochen ist, als schriftgemäß, und als Lehre der Kirche
anerkenne», die übrigen L symbolischen Bücher der lutherische» Kirche,
weil sie mit den beiden erstgenannten übereinstimmen, auch als Glaubens¬
bekenntnisse der Kirche und Gemeine gelten lassen, so nach Kräften
durchlesen wollen, und mit dieser Kirchenordnung einverstanden find."—
In ihrer Gemeinde verfahren sie dabei ebenfalls gegen abtrünnige »der un-
ordentliche Mitglieder streng genug, die Gesetze lauten wenigstens so, und ich
glaube auch nicht, daß ihnen in dieser Hinsicht el» Vorwurf zu mache» ist.
Artikel 1» sagt:
„Die Kirchen^uchr, die, wie sich von selbst versteht, schriftgemäß geführt
werde» muß, erstreckt sich über alle Glieder der Gemeinde, ohne
Ansehn der Person, des Ranges, Alters und Geschlechts."
In Fällen der Kirchenzucht giebt es drei Grade der Bestrafung: der erste
ist nnr Z»rückweis»»g vom heiligen Abendmahl auf eine kurze Zeit, ,,um Raum
zum ernstern Nachteule» und tieferer Buße über eine stattgefundene Uebertretung
zu verschaffen"; Ä) öffentliche Vorstellung vor der Gemeinde und Vorhaltung der
begangene» Sünde, und drittens
„Ausschließung aus der Gemeine u»d uuter Umständen Uebergabe an
den Sala», öffentlich vor der Gemeinde, im Fall der Sünder seiner
Uebertretung völlig überwiesen ist, dieselbe aber hartnäckig läugnet oder
unbußfertig fortsetzt, Males. 18, 17. -I. Corinth. ii, <—ö und V. -13.
I. Timoth. -I, 20. Siehe auch die alte lutherische Holstein-Schleswigsche
Agende."
Die Altlutheraner haben in dieser Hinsicht einen förmlichen Dualismus und
glauben steif und fest an den „Kometen»im in Ki«e.K."
Zu den Rechten der Gemeinde gehört auch »ach Artikel -I I das folgende:
„ Prediger »ut Aelteste sollen ihr Amt nnr uuter fortgesetztem Anrufe»
um den Beistand des h. Geistes verwalten, und jedes Gemcindemitglied
hat el» Recht, sie »»gefragt, ob dasselbe dazu berechtigt sei, darauf auf¬
merksam zu machen. Hehr. -10, As.
Artikel -I-I konnte mit Nutzen in eine unsrer neue» Konstitutionen aufgenommen
werde».
Die Gemeinde von Läugnen hat, glaube ich, ziemlich dieselben Artikel bei¬
behalten. Herr Pastor Meier dort ist übrigens ein Mann, der sich schon tüchtig
in der Welt herumgeschlagen, und besonders eine Zeit laug das trostloseste aller
Geschäfte betrieb, die Australische« Jndianer zur christliche» Religion überzuführen
und sie dabei zugleich zu civilisiren. Er gab eS endlich, als er einsah, daß doch
an diesen verzweifelten Stämmen Hopfen und Malz verloren sei, auf und über¬
nahm die Predigerstelle bei dieser Gemeinde. Außerdem hat er sich aber auch
mehrfache Verdienste durch die Herausgabe mehrerer kleinen Schriften erworben,
deren eine die Sprache der Stämme behandelt, mit denen er in Verkehr gewesen,
und die andere ihre Sitten und Gewohnheiten.
Dies sind nun die „Heiligen" Tannnda's, diesem gegenüber stehen aber
mich noch die sogenannten „Weltkinder", und nach Artikel 1 der Kavel'schen
Kirchenordnung läßt sich denken, daß sie nicht viel von den anderen Gemeinden
— deren Unduldsamkeit dabei sprichwörtlich geworden — zu hoffen hatten. Die
Wclttmoer sind aber auch natürlich nicht alle einerlei Meinung, es sind Katho¬
liken und Protestanten dabei; daun Freisinnige — d. h. solche, die den lieben
Gott einen guten Mann sein lassen und schlicht und einfach ihre eigenen Wege
gehn, oder Deisten, die eben nnr an einen Gott glauben und den heiligen
Geist mit wirklich schauderhafter Gleichgültigkeit betrachten, ?c. — Dann aber
auch gehören zu diesen „Weltkindern" und zwar in einem nicht geringen Theil
solche, die allerdings nicht mit der Alles von sich ans dem Weg werfenden Kavel'¬
schen Gemeinde gehen wollen, die aber doch noch an ihren alten Gebräuchen
hängen und, obgleich hier Weltkinder genannt, in manchen Gegenden Deutschlands
zu den strengsten Kirchgängern und den eifrigsten Gesangbnchverssängern gehört
haben würden.
Das riesige Werk nnn, diese verschiedenen Exemplare von „Christen" alle
nnter einen Hut, oder doch wenigstens in eine Kirche zu bringen, unternahm
Herr Or. Mücke aus Berlin, der sich hier in Süd-Australien niedergelassen hat.
Er gründete eine freisinnige oder freie Gemeinde und ist jetzt in Tannnda Pastor —
Natürlich stehen sich Kavel und er ans das Feindlichste gegenüber, denn wenn
auch »r. Mücke keineswegs gegen den andern Glauben, sondern nnr für den
seinigen kämpft, so verträgt sich das natürlich nicht mit den Grundsätzen der
Gegenpartei, und es sollen da manchmal sehr erbauliche Sachen vorfallen.
Herr or. Mücke hat übrigens außerdem einen äußerst schwierigen Stand, denn
er will im Kleinen ausführen, was, wenn es im Großen ausführbar wäre,
vielleicht zu einem Segen des Menschengeschlechts, wenigstens doch ein sehr be¬
deutender Schritt in der Cultur desselben sein würde. Er will ein Gewirr von
Secten in einander schmelzen, die nach allen Seiten Hinansstarren, und das Re¬
sultat ist ihm leider Gottes leicht genng zu prophezeihen. Es wird ihm nicht
gelingen. Der einen Partei ist er nnn einmal, wenn sie auch keine Altlntheraner
sind, nicht orthodox, genng — sie erinnert sich mit einer stillen Sehnsucht ihres
Pastors in Deutschland, der ihnen doch von der Kanzel herunter den Text tüchtig
las, wenn sie gefehlt hatten, und — alle Wetter, wie hatte der die Bibel los,
„und was 'ne Stimme hatt' er" — „da künne mer noch so fast schlvsen," sagte
mir einmal ein Sachse, „der schrieb Eenen uff."
Und die andere Partei — die Freisinnigen, die Deisten — ja du lieber
Gott, mit denen ist das wieder eine ganz kitzliche Sache — die hören wol recht
gern einmal, anch von einer Kanzel herunter, daß sie recht haben, und daß man
dem lieben Gott auch „im Geist und in der Wahrheit" und uicht blos durch
äußern Prunk dienen könne, aber das ist auch Alles — das Kirchengehn ist
ihnen kein Bedürfniß mehr, eben so wenig mögen sie viel Geld ausgeben, Kirche
und Prediger zu unterhalten, und das Resultat bleibt dasselbe, sie werden gleich-
giltig. Der Pastor, der sich der Religion gewidmet hat, besitzt außer dem zu
diesem Zwecke verwandten Geist auch eiuen Körper, der gekleidet, gegen das
Wetter geschützt, und einen Magen, der befriedigt sein will, und das Wort,
„der Mensch lebt nicht vom Brod allein," läßt sich auch eben so wohl umdrehen
und auf den heiligen Geist anwenden.
Doch genug vou deu religiösen Secten und Verhältnissen dieses kleinen deutschen
Oertchcus, das solcher Art seiue eigenen Interessen, inmitten einer englischen Be¬
völkerung vertritt und behauptet. — Aus der Kirche auf deu Acker ist uur ein
Schritt, und ich athme noch einmal so frei, als ich wieder frische Lust schöpfe, um
mich aber, und über mir den klaren sonnigen Himmel sehe.
Tannnda ist besonders ein kleines ackerbauendes Städtchen und hat ziemlich
gutes Laud in seiner Nähe. — Die Bevölkerung ist dabei fleißig und — eine
Hauptsache in diesem Erwerbszweig — ausdauernd, und Hunderte, die mit we¬
nig oder gar keinen Mitteln Hieher gekommen sind, haben sich jetzt schon ein klei¬
nes Besitzthum gegründet, und leben zufrieden, oder doch wenigstens sorgenfrei.
Der deutsche Fleiß, den auch die Engländer gut genug zu schätzen wissen, spricht
sich besonders hier an manchen Stellen aus, wo z. B. die Kavelschen Gemeinden
bei ihrer erste» Ankunft für sehr theures Geld keineswegs gutes Land gepachtet
oder gekauft habe», wo wenigstens unter mehr praktischer Leitung mit ein klein
wenig mehr hausbackener Erfahrung und ein klein Bißchen weniger heiligem Geist
für geringere Summen jedenfalls besseres Land zu bekommen gewesen wäre, wo
die Leute dabei sogar noch mit Schiffsschnlden ansingen, und sich nichts desto
weniger in uoch gar uicht so langen Jahren nicht allein schuldenfrei gearbeitet,
sondern anch uoch einen Sparpfeuig erübrigt und Vieh und Werkzeug ange¬
schafft haben.
Ich bin aber total gegen ein Pachtsystcm, wenigstens gegen ein Pachtsystem
auf lange Jahre, denn wenn es auch sür den Angenblick einen Vortheil zu bie¬
ten scheint, indem Leute, die mit sehr geringen oder gar keinen Mitteln anfangen
wollen, dadurch Hilfe bekommen, bis sie selber einmal flott werden, so hat es
doch anch wieder unendlich viel Nachtheile, und ein Ackerbauer, der in einem
fremden Lande beabsichtigt, sich eine einstige Heimath zu gründen, sollte sehr vor¬
sichtig sein, wie er sich in ein weitläufiges Pachtsystcm, noch dazu ohne Verkaufs¬
recht, einläßt. Das Beispiel habe ich hier an Hunderten von Plätzen gesehn,
wo die Pächter allerdings ihre Aecker bestellten, weil sie eben leben und den Zins
herausschlagen mußten, sonst aber auch nur die allernothwendigsten Verbesserungen
anbrachten, ja sich scheuten, einen Nagel einzuschlagen, weil sie ihn ja doch, wenn
sie einmal wieder fortgingen, „dem Eigenthümer lassen mußten." In Hütten habe
ich sie wohnen sehn, wo es mich gedauert hätte, einen Hund hineinzujagen, und
ihre Ausrede war ^ je nun, die zwei Jahr behelfen wir uns schon, und nachher
müssen wir ja doch hinaus. Fruchtbäume werden ans eben dem Grunde nicht
angepflanzt, und überhaupt jede Verbesserung — von Verschönerungen nun ganz
abgesehn — unterlassen, die erst auf einige Jahre hinaus Nutzen "bringen würde.
Die Felder muß er aber cultiviren — er muß von jedem seinen Zins geben,
also will er auch aus jedem seine» Nutzen zieh», dadurch aber trägt er natürlich
zur Cultur der Gegend selber mit bei, und was ihm, wäre er Besitzer eines noch
so kleinen Eigenthums, gerade zum Vortheil gereichen würde, das ist jejzt, sobald
er später einmal dort Land in der Gegend kaufen will, sein eigener Schade —
er treibt sich das Land selber in die Höhe oder muß eine ganz andere Gegend
aufsuchen, und dort wieder vou vorn anfangen. Ein Pächter fühlt sich auch nie
auf seinem Lande wohl, er gehört dort, wie er recht gut weiß, nicht hin, und
so wie sei» Pachtcvntract abgelaufen ist, muß er weiter zieh», ist er ein Fremdling
auf dem Boden, den er Jahre lang bearbeitet und geerntet hat. Hat Einer aber
auch nur das kleinste Stück Land zum Eigenthum, so arbeitet er mit viel größe¬
rer Lust und Liebe daran; jedes, was er daran thut, thut er für sich selber; vou
jedem Baum, den er pflanzt, weiß er, daß er auch die Früchte ernten wird, und
das Land ist mit einem Worte seine Heimath, und später einmal die Heimath
seiner Kinder.
Die Gegend um Tanunda herum ist fruchtbar geung, doch läßt sich, deö
ungewissen Klimas wegen, gar kein durchschnittlicher Ertrag der Ernten bestimmen.
Ich habe Bauern gesprochen, die mir versicherten, in dem einen Jahr ti) und im
zweiten "IiZ Büschel Weizen vom Acker geerntet zu haben, heiße Winde oder zu
feuchte Witterung sprechen dabei ein sehr gewichtiges Wort, und die größte Vor¬
sorge dagegen kann Nichts ausrichten. Die heißen Winde haben schon ganze
Ernten zerstört, und gerade im Adelaide-District komme» sie sehr häufig vor —
doch macheu eiuzelue Jahre darin auch einen Unterschied. Während solchen Windes
soll die Luft ordentlich erstickend sein und der Staub so wirbeln, daß mau in Ade-
laide manchmal nicht über die Straße sehen kann, und Alles in den Zimmern,
trotz fest verschlossener Fenster und Thüren, dicht mit feinem Staub bedeckt wird.
Der Weinbau wird übrigens einmal, gerade wie in Um-Süd-Wales, ein
sehr bedeutender Erwerbszweig für das Land werden, denn Tausende von Aeckern,
die uicht besonders zu Weizen und selbst weniger für Weideplätze geeignet find,
werden treffliche Weinberge geben. Die dort gezogene Traube soll ausgezeichnet
süß und saftig sein, und der davon gekelterte Wein, von dem ich mehrere Sorten
gekostet habe, ist wirklich vortrefflich. Jetzt liegt das Ganze aber freilich noch
im Entstehen, und die Weinbauer», die den Ban ordentlich begonnen haben, sind
noch bei den Versuchen, welche Neben sich am besten für Süd-Anstralien eignen
werden. Herr August Fiedler bei Tannnda'giebt sich besonders Mühe in dieser
Hinsicht und hat schon einige, wirklich ausgezeichnete Sorten gezogen. Der merk¬
würdigste Wein, den ich dort kostete, war ein von einer MnSkalcllcr-Traube gekelter¬
tes Getränk, das den frappantesten Ananasgeschmack hatte. Er hat ebenfalls Rhein¬
wein, Medoc und mehrere andere Sorten gezogen, und die meisten solcher Art,
daß sie das beste Resultat für spätere Jahre erwarten lassen.
Handwerker giebt es von allen Arten in Tannnda, und alle sind fast Deutsche;
Handwerker stehen sich überhaupt auch ziemlich gut in Australien, besonders wenn
sie nicht jeder Zeit, oder gleich im Anfang nur allein ans ihrem Handwerk be¬
stehen und dann und wann einmal etwas Anderes ergreifen wollen, bis sich eine
Aussicht wieder für ihr eigenes Geschäft findet. > Ein Maßstab für den Lohn ist
aber nicht gut anzulegen, da dieser eines Theils wechselt, andern Theils dadurch
ein ganz anderes Verhältnis! erhält, daß nicht immer ans Arbeit zu rechnen ist,
und der Arbeiter eine Woche vielleicht einmal ziemlich hohen Lohn erhält^ eine
andere aber müßig gehen muß. Macht er nur seine Berechnung uach dem aller¬
dings guten Lohn für das ganze Jahr, so ist es sehr leicht möglich, daß er sich
höchst bedeutend dabei verrechnen konnte.
In Tannuda sind drei deutsche Kaufleute, eine deutsche Apotheke, zwei deutsche
Aerzte und anderthalb deutsche Gasthäuser.
Anderthalb in sofern, als das eine, das Tannnda Hotel, ganz von Deutschen
(der Wirth heißt Müller) gehalten wird. Das andere hält ein Engländer Namens
Johnson — das Alliance Hotel — der übrigens sehr gut Deutsch spricht, und eine
sehr hübsche junge deutsche Fran hat. —
Am nächsten Montag war ein Ball, ein deutscher Ball in Tanunda, und ob¬
gleich ich selber nicht tanzen kann, interessirte es mich doch natürlich, demselben
beizuwohnen. Die Musici dazu waren von Adelaide verschrieben worden, hatten
aber Abhaltung bekommen, und es mußten daher ein paar andere, nothdürftig
genug, in der Gegend aufgetrieben werden. So ein deutscher Ball in Tannnda
ist aber keine Kleinigkeit, der dauert nicht blos von Abends sieben oder acht Uhr
bis Morgens, so lange die Leute tanzen wollen, sondern gleich anch noch mit
über den nächsten Tag hinüber, in die andere Nacht hinein. Unter zwei Tage
wird dort gar nicht angefangen.
Am ersten Abend, als der Tanz gerade beginnen sollte, und etwa eine Stunde
nach Sonnenuntergang ging ich mit dem einen deutschen Arzt, einem !)>', Pabst,
etwa I V2 Meile von Tanunda ab in den Busch, wo er das alte Grab eines
Indianers wußte. Ich wünschte gern ein vollständiges Gerippe eines der Ein-
gebornen mitzunehmen, und wir halten beschlossen, das Grab zu öffnen. Es ist
dabei immer einige Vorsicht nöthig, obgleich den Tag über keine Schwarzen in
der Nähe gewesen waren, man weist nicht, wie und wo die schwarzen Burschen
herumkriechen, und sie könnten Einem leicht einmal zur unrechten Zeit ans den
Hals kommen, —
Wir sanden das Grab und begannen unsre schauerliche Arbeit — der
Boden war leichter Sand und wir rückten rasch vorwärts — mein Spaten stieß
bald ans etwas Harres — die Indianer begraben ihre Todten nicht tief — doch
eS war noch nicht das Gerippe, — wir kamen erst zu dem Holz, mit dem sie
gewöhnlich die Leiche bedecken. Das Licht einer gewöhnlichen Laterne leuchtete
uns, n»d der Modergeruch der aus der feuchten Erde, zu der wir jetzt kamen,
emporstieg, war widerlich. Ich warf einen Theil des Holzes heraus und arbeitete
weiter,
„Hier must der Kopf liegen" sagte der Doctor, ,,das hineingesteckte Holz ist
das -Zeichen" wir gruben nach, aber vergebens das ganze Holz warfen wir
aus dem Grab, die ganze feuchte Mvdererde, bis wir auf den harten, und augen¬
scheinlich noch nie berührten Unterboden kamen. Dort lag alles Land, jedenfalls
mit den Theilen deö früher ans ihnen ruhenden und dann verwesten Körpers
zersetzt, aber kein Gerippe — die Schwarzen hatten das schon, wie es bei man-
chen von ihren Stämmen Sitte ist, selber herausgenommen und verbrannt, und
wir waren geprellt. Der Doctor fluchte ans die Halunken, denen man selbst im
Tode nicht mehr trauen könnte, und ich packte Spaten und Sack, den wir uns
zum Hiuciupacken der Gebeine mir genommen hatten, zusammen, mein Begleiter
nahm die Laterne ans, und wir wanderten, mit dem Erfolg unsrer nächtlichen
Sendung natürlich höchst unzufrieden, in das nahe Städtchen zurück.
Fröhlicher Lärm schallte uns von dort entgegen, Violine, Trompete und
Clarinette spielten jedes in seiner eigenen Tonart einen rauschenden Galopp, die
Paare wirbelten im Kreise herum, der Saal war, waS sie ans dem Leipziger
Theaterzettel „festlich erleuchtet" nenne», — Aus dem Grab auf den Ball —
der Abstand war zu gewaltig, und ich brauchte wirklich erst einige Minuten, bis
ich mich recht in meine neue Umgebung hineingefunden hatte. Die geputzte fröhliche
Schaar schwang sich indessen bei dem entsetzlichen Dreiklang rasch nud mit leuch¬
tenden Blicken im Kreise herum, »ud in einem freundlichen Seitenstübchen fand
ich eine andere Gesellschaft „ehrbarer Staatsbürger" versammelt, die sich hier bei
einem Gläschen Medoc deö doppelten Genusses — der Musik und des Tanz-
stanbcS erfreuten. Hier waren die „Honoratioren" versammelt, Doctor und
Apotheker, Pastor und Schulmeister, Kaufmann A'. — ja das sind ja wol bei
uns die „Honoratioren", nur base wir noch bei uns Bürgermeister und Zoll¬
beamten dazu rechnen. Hier in diesem glücklichen kleinen Städtchen kannten wir
aber derzeit weder die einen noch die anderen — Zollbeamte eMirteu hier aus
dem einfachen Grnnde nicht, daß das Städtchen mitten im Lande lag, und Gerichts-
barkciten waren ebenfalls nicht da — nicht einmal Polizeidiener — gewiß ein
höchst außerordentlicher Fall in einem deutschen Städtchen. Die Einwohner
fühlten das aber anch und halten, wie sie mich versicherten, ernstlich petilionirt,
eine Polizeistation nach Tannnda zu bekomme», was ihnen anch gnädigst ver¬
sprochen war, und die Diener der Gerechtigkeit wurden mit Sehnsucht für nächste
Zeit erwartet.
Zu gleicher Zeit hatten sie, beiläufig gesagt, auch darum petitionirt, nach
Tanuuda eiuen Gerichtssitz und eine Magistratöpcrso» gelegt z» bekommen, wozu
die Stadt selber und die dicht bevölkerte Umgegend allerdings berechtigte
Auges hatte aber darum zu gleicher Zeit nachgesucht, und wenn anch sein Distnct
lange nicht so viel Seelen und besonders nicht ans einen Platz concentrirt, ause
weise» konnte, war doch ein Nutzen für die Kolonie mit dem „Lourtlrou!,«: ° ver¬
bunden, und Auges hatte sich viel zu verdient um die Kolonie (d. h. um sich
selber) gemacht, um deshalb nicht in dieser Sache einen Vorzug zu verdiene».
Auges sollte das <!<>r!.rei>«>u8v und die Taunnder die Polizeidiener bekomme». —
Zur Ehre der Ta»under sei es übrigens gesagt, daß sie, — anßer was der
gesellschaftliche Umgang im natürlichen Lauf der Dinge mit sich bringt, indem sich
die, auf gleicher Bildungsstufe Stehenden doch immer zu suchen und zu finden
wissen, keinen weitern Unterschied zwischen Honoratioren und „Gevatter
Schneider und Handschuhmacher", zur Schan tragen. Es herrscht ein höchst
freundlicher und auch geselliger Ton zwischen alle» Staude», ja weit freund-
schaftlicher habe ich sämmtliche Deutsche untereinander gerade hier in Tauuuda, als
in Adelaide selber gesunde». So geschah es den», daß wir hier eine» recht
vergnügten Abend verlebten, und wen» ich auch nicht selber tanze, so sah ich doch
gern die fröhlichen Paare, und die hübschen lächelnden und i» ihrem Gott ver¬
gnügten Gesichter der jungen Frauen »ud Mädche», von denen Tauuuda eine
recht gesegnete Gottesgabe auszuweisen hat.
Uuter deu Tcnmudern existirt aber eine Persönlichkeit, die ich hier um so
weniger mit Stillschweige» übergehen kann, da sie uicht allein in der Welt da¬
steht, sondern das Glied einer Kette bildet, die sich um den ganze» Erdball zieht,
»»d zwar der wunderlichsten Kette an die wol »och je ein Menschenkind gedacht
oder von der es geträumt hat — eine Kette von kleinen, vier Fuß zwei Zoll
hohen, lustigen, fideler, deutschen Schneidern.
So wunderlich das klingt, so wahr ist es, und wenn ich zurückdenke an all
die verschiedenem Plätze und Welttheile wo ich sie schon gesunde», so kommt eS
mir manchmal vor, als ob ein neckischer Kobold eine solche kleine Brüderschaft
genommen, und, sich zum eigenen Spaß, in alle vier Winde hinauögestreut habe.
In Nordamerika fand ich, während meines dortige» Aufenthaltes, vier, von denen
ich drei selbst damals schon für Brüder hielt, so sehr glichen sie in Benehmen und
Aussehen einander, und doch lebten sie in vier verschiedenen Staaten. Später
sah ich einen andern in Buenos-Ayres, damals war ich aber, wegen meiner Land¬
reise und den entsetzlichen Schilderungen und Prophezeiungen, die ich darüber
höre» mußte in einer zu aufgeregten Stimmung mich viel uni ihn zu bekümmern.
Ein Prachtexemplar lernte ich aber in Kalifornien kennen — >in.to.wdn, oder
Johnny, oder Napoleon, wie er seines Hutes wegen genannt wurde, ist in den
ganzen südlichen Minen bekannt. Einen kleinern, lüdcrlichcrn aber auch
fidelern und gutmüthigem Schneider gab es ans der ganzen Welt nicht mehr,
und schon drei Mal hatte er in den Minen ein Vermögen gesunde», und drei
Mal auch mit größter Gewissenhaftigkeit bis ans den letzten (wie durchgebracht.
Das nächste Exemplar faud ich auf Tahiti in der Südsee, unter der Regie¬
rung Ihrer huldreichen Majestät, der Königin Pomare. In Adelaide, Australien,
war ein anderes, dem letztem wie aus der Seele gestohlen, ein berühmter
Domiuospieler, und ein so kurzes komisches Stück Weltgeschichte, wie man sich
nnr deuten kann, — nud der leiste der Mohikaner — Muse leihe mir den
kühnsten deiner Flügel, das Würdigste, das Holdseligste, was DU noch je von
kleineren deutschen Schneidern geschaffen, auch würdig zu beschreiben. Doch
nein, hier entsinkt der Griffel meiner Hand — Dich, c- Du lieber kleiner Herr
Nachbar, Dich mein wonniges Schneidcrlein mit Deinem allerliebsten kleinen kur¬
zen Röckchen, den sorgfältig gewichsten Stiefelchen, den get'rauften nud wahrhaft
indianisch pommadisirteu Härchen, dem Lächeln und dem bezaubernden Lächeln
mit dem Dn Dich der liebenswürdigen — doch das sind Privatsachen — ja mir
fehlt das Wort, das Alles, Dein ganzes Was —- Dein ganzes Ich -- oder hier¬
her gehört wirklich der Gattungsname, — also Dein ganzes Wir zu beschrei¬
ben. Und was für ein kleiner Sappermcnter, für ein kleiner gefährlicher
Don Juan Du warst — war nicht des Schuhmachers Frau vor kurzer Zeit
erst in wahrer Verzweiflung zu Dir den gauzeu langen Weg von Adelaide her¬
aufgekommen, und hattest Du nicht allein ihr früher ach nur zu leichtgläubiges
Herz zurückgewiesen, sondern sie anch noch — o Du eiserner Spötter — mit
einer prosaischen Geldfvrderung „an Deinen Finanzminister" gewiesen? — hatte
ihr Mann Unrecht, als er ihr zwei Tage danach folgte, Dich einen Verführer
und lüderlicher — nicht Don Juan, sondern etwas anders zu nennen, und Dir
zu wünschen, daß Dich seine Frau nicht blos das kleine Bißchen, sondern recht
ordentlich „verledcrt hätte" — o es war ein wahrer schnhmacherlicher Ausdruck.
Ich hatte damals die Willenskraft bewundert, mit der Du Dich, wie durch eine
Versenkung seinem Zorn und seiner Nähe entzogst, wahrscheinlich schrittest Du
nachher, während Dich der herzlose Schuster überall suchte, irgendwo im Waldes-
dunkel, rachcbrntend ans nud ab, und harrest nach, wie Dn am schnellsten und
sichersten Genugthuung für die erlittene Schmach bekämest — o wie Dir das
Herz blutete, als Du schon am nächsten Morgen elf Uhr wieder zurückkehrtest und
erfuhrst, der Schuhmacher habe sich Dir vor etwa einer halben Stunde durch die
Flucht entzogen — also war es doch die Figur gewesen, die Du durch die Büsche so
lange, halb gedankenlos, halb sinnend beobachtet hattest, und horte ich nicht selbst
heute Abend wieder und mit eigenen Ohren, wie der ehrliche Schmied, der einen
wahren Abscheu vor solchen Gräueln hatte, dem jungen Mann, mit dessen Frau
dn den ganzen Abend in schwimmender Seligkeit dahinflogst, und der du die
Hände drücktest bis sie schrie — leise und gutmüthig warnend zuflüsterte „auf seiue Frau
Acht zu geben — sie sei in Gefahr?" — O lieber Herr Nachbar - denn mit Recht
durften wir uns so nennen, da ich No. und dn No. 7 wohntest — in Gefahr
an deiner Seite — und doch standest du da, mit dem engen Beinkleidchen und
dem knappen Röckchen und dem im rechten Winkel sorgfältig ausgestreckten Ell¬
bogen und »ach vorn gebogenen Däumchen — jeder Zoll ein Schneider -—
Doch genug, genug, es ist vou jeher mein Schicksal gewesen, mich von Allem,
was mir lieb geworden, wieder losreißen zu müssen. So lebe denn wohl, und
möge Dich Gott vor allen rachedürstenden Schusterfrauen, wie eifersüchtigen Ehe¬
männern bewahren.
Am nächsten Morgen, als eben die Sonne über den nächsten Berghügeln
emporstieg, stand ich ans, rüstete mich zur Abfahrt und wanderte, gleich nach dem
Frühstück, als noch die meisten Tanuuder kurzer Ruhe pflegten, sich eines Theils
von den überstandenen Strapatzen des letzten Abends auszuruhen, andererseits
ans die des nächsten vorzubereiten, einem schmalen Waldweg folgend, gen Gaw-
lertow», das ich etwa Nachmittags zwei Uhr erreichte, aber nicht betrat, sondern
links liegen ließ, einen kleinen Abstecher nach Bnchsselde zu machen, wo sich
die Brüder Schönburg aus Preußen — Richard Schönburg auch schon dnrch
seine früheren Reisen mit seinem ältern Bruder in Guiana bekannt — angesiedelt
hatten. Den einen der Brüder hatte ich schon in Adelaide kennen gelernt, und
wurde von den lieben Leuten wirklich auf das Herzlichste aufgenommen.
Buchsfelde liegt am Gawlcrfluß — ein kleiner Creek der im Sommer, wie
fast alle australische Bäche, zu laufen aushört, und ist eine förmliche kleine deutsche
Kolonie, die dem wackern Leopold von Buch zu Ehren von Schvmbnrgs
Buchsfelde genannt wurde. Schomburgs selber haben hier eine Section Land,
und obgleich sie im Anfang, an daS Land selber wie an die harte Arbeit nicht
gewöhnt, noch dazu mit vielem Unglück, wie schlechter Ernte und krankem Bich
zu kämpfen hatten, so zeigen sie doch jetzt, was der Wille des Menschen vermag,
wenn er einmal, mit ruhiger Ueberlegung, auf ein vorgestecktes Ziel fest gerichtet
ist. Was sie früher mit fremder Hilfe bestellen -ließen, und was schlecht geriet!),
das haben sie jetzt selber angegriffen, und die Saat steht bis jetzt vorzüglich, ihr
Bich befindet sich vortrefflich; ein Garten, den Richard Schönburg in ziemlich
großem Maßstab, und mit unsäglicher Mühe und Arbeit angelegt hat, ist seiner
Vollendung nahe, Wein und Fruchtbäume sind gepflanzt, mehrere Gebäude, die
sie größerer Bequemlichkeit wegen angefangen haben, werden auch wol noch
diese» Winter beendet werden, und sie können sage», daß sie in dem fremden
Lande, nach dem Abschied von der Heimath, das Schwerste überstanden haben —
es ist aber immer die Heimath nicht, und dem gebildeten Manne bietet ein wilder
Welttheil nie das, was es dem, nur für seine persönlichen Bedürfnisse sorgende»
Arbeitsmann bieten kann, und der erste hat doch so viel tausendmal mehr dafür
verloren. El» Rübe ist weit leichter verpflanzt, als eine Rose; die eine wird,
wie sie da eben ist, ans dem Boden gezogen und wo anders wieder eingesteckt
und eingedrückt — nach dem ersten Regen oder der ersten Gießkanne voll ist sie
zu Hause — an der Rose müssen erst die tausend und tausend Wurzeln und
Fasern, die nicht beim ersten Ausnehmen etwa schon gewaltsam abrissen, auch noch
abgeschnitten werde», sie für die ihr bestimmte enge Behausung zugänglich zu
machen, und das thut der armen Rose oft so entsetzlich weh — aber sie grünt
und blüht deshalb doch, und treibt, wenigstens in den nächsten Jahren, die
schönsten Knospen und Blumen.
Richard Schönburg, ein tüchtiger Kunstgärtner, hat, wie ich schon vorher
erwähnte, damals mit seinem ältern Bruder Guiana bereist, und sich jetzt hier
in Süd-Australie» niedergelassen, wo ein vortrefflich angelegter Garten von seiner
Thätigkeit Zeugniß giebt. —
Sein anderer Bruder, l)r. Otto Schönburg, vereinigt alle drei Facultäten
in sich, denn außer dem, daß er Feld und Garten mit bestellt und als Architekt
und Bicharzt hilfreiche Hand leistet, hat er eine ziemlich bedeutende medicinische
Praxis in der Umgegend, besonders als Geburtshelfer, ist dabei zum Friedens¬
richter seines kleinen Districts ernannt worden, und wird nächstens, wenn sich die
Bnchöfelder erst eine Kirche gebaut habe», was jetzt im Werke ist, auch predigen.
— Das heißt praktisch.
Zur Charakteristik der Deutschen in Anstralien glaube ich aber zwei Fälle
nicht unerwähnt lassen zu dürfen, die gerade damals dort vorfielen. Es war
eben in der schlimmsten Aufregung der Mahlzeit, und zwar sollte der District auf
der andern Seite des Gawler am nächsten Tag seine Stimmen sammeln. Wir
saßen beim Abendbrod, als der eine der Brüder einen Augenblick hinausgerufen
wurde. Lachend kam er wieder herein und erzählte uns, was er gesollt. Draußen
war ein Deutscher gerade über dem Creek drüben gewesen, und hatte ihn gefragt,
was der Zettel bedeute, den er den Nachmittag bekommen. Es war dies eines
der gewöhnlichen vom Magistrat jedes Districts ausgestellten Papiere, dnrch
welche die verschiedenen Wähler von der Zeit der Wahl in Kenntniß gesetzt und
aufgefordert wurden, derselben beizuwohnen. ,,Und muß ich da gehen?" frug
der Deutsche — d. h. ungefähr, verlangtes die Polizei? Herr Schönburg
erklärte ihm, daß er allerdings ni es t polizeilich gezwungen werden könne, daß es
aber seine Pflicht als Bürger sei, seine Stimme ebenfalls für die Wahl eines
Vertreters abzugeben, damit die wirkliche Meinung der Majorität bet'aune würde,
und nicht vielleicht die Minorität in der öffentlichen Meinung blos deshalb ihre
Wahl durchsetze, weil sie eben die „fleißigere" gewesen sei -- „Ah so" hatte
der Mann gesagt — „na ich will sehn, ob ich komm."
Er konnte aber nicht, denn er war am nächsten Morgen ganz schön zu
Hause — er mußte ja nicht.
Der andere Deutsche, von dem sie mir erzählten, hatte in der letzten deutschen
Revolution in seinem kleinen Ort eine sehr bedeutende Rolle gespielt, er war
ein Licht gewesen, ein Stern, zu dem viele ausgesehen und von dem sie Besserung
ihres Zustandes erwartet hatten. Damals hatte er Deutschland glaub' ich rasch
verlassen müssen und war, wenn ich nicht irre, eben nnr der Gesahr entgangen,
verhaftet zu werden, oder hatte doch pccnniaire Verluste erlitten — kurz, ein
Haar in der Sache gefunden. Als der hier zur Mitwahl aufgefordert wurde,
sagte er sehr entschiede»: — „Wählen? — ja — einmal meine Finger in so
einer Geschichte gehabt und nicht wieder — Namen unterschreiben? — ne —
kann nicht aufgeführt werden ...... der Teufel weis;, was sie nachher damit machen,
und dann haben wir wieder die alte Komödie." Er ließ sich das nicht
ausreden.
Armes Deutschland.
Leider konnte ich mich nicht ans längere Zeit in diesen lieben Familien ans'
halten, denn wenn ich wirtlich noch mit der Wilhelmine nach Sydney und Manilla
ging, so hatte ich eben keine Zeit mehr zu verlieren, denn ich wollte mich doch
auch noch etwas in Adelaide selber umsehe», und einige Briefe schreiben. Am
nächsten Morgen neu» Uhr brach ich a»f, um noch vor dem Abend Gawlertowu
zu erreiche», und vou dort ans am nächste» Morgen um fünf Uhr mit der Post
nach Adelaide fahre» z» können, stolperte im Dunkel» - es war el»e wahre
stockfinster»iß, d»res de» Gnmwald und über eine unbestimmte Anzahl von Feuzeu
weg, de»n ich verlor de» Weg unter den Füße», behielt aber, da es sterneichell
war, meine Richtung bei, und erreichte etwa ein viertel auf elf Gawlertowu.
Dort übernachtete ich und war am nächsten Morgen um 10 Uhr in Adelaide.
Unterwegs passirte weiter nichts Außerordentliches, als daß wir eine alte
Dame mit hatten, die i» jedem Wirthshaus, an dem wir hielten, und wir hielten
ebeu an jedem, einen ,,n»ddl<;r >w> " »u sich „ahn, und außer ihr noch zwei
Männer, die nach den neuentdeckten Sydney-Goldmiue» wollte», und vo» deuen
der eine feierlich erklärte, es sei dadurch — was ihn besonders verleitet habe,
seine bisherige gute Beschäftigung z» verlasse» — »ur eine schon lange ver¬
kündigte Prophezeihung der heilige« Schrift wahr geworden, »»d er fange jetzt
an, fest überzeugt zu werde», daß Australien wirklich das ,,a»serwählte Land" sei.
Dem religiösen Fanatismus ist uoch Nichts zu wahnsinnig gewesen.
Wir haben hervorgehoben, wie sich das ländliche Gemeindewesen im Laufe
dieses Jahrhunderts auf dem platten Lande immer mehr und mehr in seine Atome
zersetzte, und daraus die Nothwendigkeit hergeleitet, durch eine umfassende Reor¬
ganisation desselben diesem Auflösungsproceß entgegen zu wirken. Die Principien
der Agrargesetzgebung sollten nach der Absicht der Staatsmänner, welche den
Grund zur Wiedergeburt Preußens legten, nicht isolirt, sondern in Verbindung
mit den Ideen der Selbstverwaltung und Nationalrepräsentation zur Ausführung
kommen; je länger man den innern Zusammenhang dieser Materien zu berücksich¬
tigen verabsäumte, desto fühlbarer wurde es, daß die Agrargesetzgebung ihres
nothwendigen Komplements und Cvrrectivs beraubt war, — eines Gesetzes,
welches die sich verflüchtigende» Elemente des ländlichen GcmeindelebenS »ach den
Principien der Städteordnung wieder zusammenfaßte.
Die seit dem Jahre 1840 wieder stark hervortretende Tendenz, den Staat
i» die constitutionelle Bahn hinüberzuleiten oder hinüberzudräugeu, konnte, un-
befangen gewürdigt, nnr als ein neuer und mächtiger Antrieb betrachtet werde»,
die Organisation des Gemcindeweseus endlich zu vollenden; denn es war nicht
zweifelhaft, daß jene Tendenz früher oder später sich als unwiderstehlich erweisen
würde. Und wer das Vergangene übersah, erkannte anch, daß das Streben der
gebildeten Klassen, „an den Operationen des Staats Theil zu nehmen," die
beabsichtigte Wirkung der in den Jahren -1808—-I811 aufgestellten, und in
der Gesetzgebung der späteren Jahre zum Theil ausgeführten Grundsätze war,
daß es eine durch die Landesgesetze erzeugte und gezeitigte, also eine im eigent-
lichen Sinne des Worts legitime Frucht war. Um so mehr war es Pflicht,
das damals sich kundgebende Streben in Bahnen zu lenken,' in denen es nutz¬
bringend wirken und zugleich sich läutern konnte, durch Heranziehen der Bürger
zur Gemeindeverwaltung den Sinn sür wohl überlegte Operationen zu stärke»,
ehe das Volk in die allgemeine» Staatsangelegenheiten eiugnff.
Die Vernachlässigung dieser Pflicht trug sehr bittere Früchte. Als die Er¬
eignisse des Jahres 18i8 hereinbrachen, warf sich im unklaren Nencrungsdrang
eine große Masse von Kräften, die man in beschränkteren Kreisen mit Nutzen hätte
verwende» können, auf die allgemeine Weltverbcsseruug, mit einer Leidenschaft,
die bei dem Mangel der Erfahrung, daß jede, auch die beste Theorie durch die
bei der menschlichen Schwäche nnn einmal unvermeidliche Mangelhaftigkeit der zu
ihrer Ausführung erforderlichen Organe stets einen beträchtlichen Abbruch erleidet,
nur zu erklärlich war, und störte durch eine ungestüme und verworrene Thätigkeit
den ruhigen Entwickelungsgang. Jetzt, wo diese Stimmen zum Schweigen ge¬
bracht sind, erhebt sich eine andere Klasse von Individuen, deren politische Bildung
in Folge jener Versäumniß ebenfalls im Rückstand geblieben ist, die Klasse der
Rittergutsbesitzer; hätten diese durch frühzeitige Theilnahme an dem Gemeiudelebeu
Gelegenheit gehabt, sich selbst praktisch davon zu überzeugen, wie ihnen dadurch ein
weiterer und dankbarerer Wirkungskreis eröffnet wird, als bei der Jsolirung auf
ihre „kleinen Monarchien", so würden sie sich jetzt schwerlich mit starrsinnigem
Particularismus einer Entwickelung entgegenstemmen, welche den Einfluß des
großen Grundbesitzes auch über die Zeit der nächsten politischen Sündfluth hin-
aus sicher zu stellen geeignet^ ist.
Der Unstern, der über der Ordnung unsres Gemeindewesens waltete, ging
anch IKitt noch nicht unter. Wie sehr man auch, damals ans allen Seiten, die
Dringlichkeit der Angelegenheit anerkannte l in der Nationalversammlung kam
weder der Negieruugseutwurf, noch die von der Linken ausgearbeitete Vorlage zur
Berathung. Der darauf folgenden (ausgelösten) zweiten Kammer lag kein Ge-
meiudeordnungseitzwurf vor. Erst in der Session von 18i9— 60 wurde ein
Negiernngöentwurf berathe», und unter dem 11. März -1860 sanctionirt. Dieses
Gesetz, welches noch zur Stunde in Preußen rechtskräftig ist, ordnet das Ge¬
meindewesen in der gauzeu Monarchie, für die Städte und für das platte Land,
in gleichmäßiger Weise, doch dergestalt, daß für Gemeinde», die weniger als
1300 Seele» zählen, einfachere Formen festgesetzt sind.
Es ist hier nicht der Ort, ein so umfangreiches Gesetz in seinen einzelnen,
wenn auch noch so wichtige» Bestimmungen zu beleuchte». Wir beschräiike» uns
auf die Frage, ob daS Gesetz im Große» und Ganzen zweckentsprechend war,
und müssen dabei auf die Achillesferse desselben hinweisen.
Für die Städte und die westlichen Provinzen war ein neues Gesetz nicht
dringlich; hier genügte» leichte Modifikationen der bestehenden Ordnungen; aber
für das platte Land der östlichen Provinzen war eine umfassende Organisation
um so nothwendiger, je mehr hier die dürftigen Neste des Cvmmnnalwesenö
einem völligen Zerfall entgegengeeilt waren. Wenn hier das neue Gesetz als
zweckmäßig erachtet werden sollte, so mußte es die zahllosen kleinen Ortschaften,
Güter, vereinzelte Etablissements zu Verbänden zusammenlegen, die dnrch ge¬
meinsame und belangreicheJntcrefsen zusammengehalten würden und die in sich
die geistigen und materiellen Mittel vereinigten, für jene Interesse» erfolgreich
Sorge tragen zu tonnen. Das war der Angelpunkt in der neuen Organisation;
denn da, wo es sich nur um unbedeutende, nichtsnutzige Gegenstände handelt,
wird sich nie Theilnahme für das Gemeindewesen entzünden; und da, wo man
anßer Stande ist, den Gcmeindepflichten zu genügen, wird die Theilnahme bald
erlöschen; sie nährt sich von ihren Erfolgen. Vor dieser Präjndicialfragc, ob
Verbände mit wirklichen, bedeutsamen Interessen, und mit der Möglichkeit, sie
pflegen zu können, gebildet sind, treten alle anderen, über die Ausdehnung deö
Gemeindebürgcrrechtö, über die Art der Verwaltung n. s. f. vorläufig in den Hinter¬
grund. Sie wird an so wichtiger, je schwieriger die Aufgabe der Gemeinde von
Jahr zu Jahr wird, je mehr man von ihr — und nicht vom Staat — erwartet, daß
sie durch Hebung des geistigen und materiellen Wohls an der Losung der soci¬
alen Frage nach Kräften arbeite. Um den Gemeinden einen bedeutsamen Inhalt
zu geben, der auch das Interesse der gebildeteren Insassen zu erregen geeignet war,
mußte es wünschenswert!) scheinen, sie an die kirchlichen Verbände, wenigstens
an Schnlverbändc anzulehnen, in ihnen die Mittel zu vereinigen, daß die Armen¬
pflege auch in vorsorglicher Weise — jede andere ist nnr ein unzulängliches
Palliativ — durch Begründung von Sparkassen, Altersversvrgnngskassen, Arbeits-
lvcalen u. s. s. gehandhabt werden konnte, daß die Sorge für den Wegebau in
einer das materielle Wohl hebenden und zugleich die Armenpflege erleichternden
Weise ausgeübt werde» konnte. Es war zugleich daran zu denken, daß man
später ein Institut, wie das der Friedensrichter, an die Gemeinde anlehnen könne.
Der Entwurf des Gesetzes ließ zu einer solchen Organisation möglichst
freie Hand; er bestimmte -l: „Zu einer Gemeinde gehören alle innerhalb ihres
Bezirks gelegenen Grundstücke. Jedes Grundstück muß einem Gemeindebezirk
angehören," und 66: „Gemeinden, die für sich allein den Zwecken des Gemeinde-
Verbandes und den Bedürfnissen der örtlichen Verwaltung nicht genügen, bilden
mit benachbarten Gemeinden eine Sammtgemeinde." Man mochte nur bedauern,
daß die „Zwecke des Gemeindeverbaudeö" in dem Gesetz nicht genauer bezeichnet
waren, und daß nicht ein Minimum der Bevölkerung für eine Gemeinde fest¬
gesetzt war/
Allein die Kammern verdarben jene heilsamen Bestimmungen. Statt des
ersten Grundsatzes wurde festgestellt: „Jedes Grundstück muß einem Gemeinde¬
bezirk angehören oder einen solchen bilden;" — und § 66 erhielt folgende
Gestalt: „Gemeinden, die für sich allein den Zwecken des Gemeindeverbaudeö nicht
entsprechen, können sich mit einer oder mehreren Gemeinden zu eiuer Sammt¬
gemeinde verbinden." Indem man einzelne Grundstücke isolirt ließ, vernich¬
tete man den Begriff der Gemeinde, und damit die Seele des Gesetzes; und
in den man Gemeinden, „die für sich allein den Zwecken des GemeindcverbandeS
nicht entsprechen," nichts desto weniger in dieser Unzulänglichkeit fortzuexistiren ge¬
stattete, verlor mau den ganzen Zweck des Gesetzes, die Organisation ans
dem Auge. Gerade sür solche Gemeinden war ein Gesetz von Nöthen; für die¬
jenigen, die für sich allein den Zwecken des GemeindcverbandeS bereits entspra¬
chen, konnte man es ganz oder wenigstens viel leichter entbehren.
Die Nachwelt wird einige Mühe haben zu begreifen, wie man eine Bestim¬
mung in ein Gesetz aufnehmen konnte, die seinem Hauptzweck direct zuwiderlief.
Und in der That ist die Anordnung, daß Ortschaften, die sür sich allein dem
Zweck einer Gemeinde nicht genügen, dennoch wenn es ihnen beliebt, das frühere
nichtsnutzige Scheincommnnalleben fortspinnen dürfen, in einer Gemeindeordnung
so sonderbar, daß sie die bittersten Sackasmen herausfordert. Das Ministerium:
erblickte indeß in jener Abänderung eine wesentliche Verbesserung und acceptirte
sie dankend. Freilich entging ihm nicht, wie sehr dadurch der Zweck des Gemeinde¬
lebens gefährdet werden könnte; es verschwieg aber klüglich seine Bedenken, und
begnügte sich damit, ein Interesse, das ihm besonders am Herzen lag, gegen die
Folgen jener gefährlichen Abänderung sicher zu stellen, — daS polizeiliche.
Derselbe Paragraph (§. W des Entwurfs, H. 126 des Gesetzes) der die Vereini¬
gung ungenügender Gemeinden zu einer Sammtgemeinde in das Belieben der
einzelnen Contrahenten stellt, verfügt obligatorisch: „Gemeinden, welche eine
genügende Pvlizcivcrwaltuug aus eigenen Kräften herzustellen nicht vermögen,
werden mit benachbarten Gemeinden zu einem Polizeibezirk vereinigt. Die Bildung
solcher Bezirke erfolgt dnrch die Staatsregierung," Das Interesse für die Armen¬
pflege, den Wegebau, das Schulwesen u. s. w. schien also nicht so belangreich,
ein durchgreifendes Verfahren zu rechtfertigen; nur wo die Polizei in's Spiel
kam, war man sofort entschlossen, der alten Dürftigkeit dnrch eine wirkliche Or¬
ganisation ein Ende zu machen, und jeden Widerspruch von vorn herein dadurch
unschädlich zu machen, daß man die Bildung der Polizeibczirke ausschließlich in
die Hand der Regierung legte. Der Geist <>it, vom-r vorbei!) deö damaligen
Gouvernements konnte sich nicht treffender charakterisiren.
Nach jener Aenderung hing es von der Einsicht und dem guten Willen der
Betheiligten, uoch mehr aber von dem Einfluß ab, den die Regierung bei der
Abgrenzung der Gcmeindebezirke geltend zu macheu entschlossen war, ob die Ge¬
meinden von ihrer Befugniß, sich zu vereinigen, einen umfassenden Gebrauch
machen wurden. In deu Kammerdebatten war das Gesetz so interpretirt worden,
daß mir in ganz seltenen Fällen vereinzelte Etablissements, die schwer in irgend
einen Gemeindeverband eingefügt werden könnten, isolirt bleiben dürften. Mau
hatte namentlich auf einzelne sporadische Niederlassungen in großen Forsten hinge¬
wiesen. Wurde bei Abgrenzung der Gemeiudebezirke in diesem Sinne verfahren;
bildeten jene Fälle wirklich nur seltene Ausnahmen: so konnte man sich damit
einverstanden erklären. Ja es wäre auch kein Unglück gewesen, wenn man hier und
dort ein Rittergut mit einer Bevölkerung von 1000 — 1!i00 Seelen als kleine
Monarchie hätte fortbestehen lassen.
In der That war es in den Instructionen, welche Herr v. Manteuffel in
Bezug auf die Ausführung der Gemeindeordnung erließ, als Regel bezeichnet,
daß Güter oder vereinzelte Etablissements, wie Mühlen, Wirthshäuser, Pfarr-
wohuungen u. tgi. entweder unter einander, oder mit benachbarten Gemeinden,
zusammengelegt werdeu sollten. Aber als Herr v. Westphalen das Ministerium
des Innern übernahm, wurde die isolirte Fortexistenz der bisher nicht in einem
Gemcindcvcrbaiide befindlichen Grundstücke zunächst als gleichberechtigter Fall hin¬
gestellt; factisch wurde sie, für die Rittergüter, die Regel, — und die Vereinigung
wurde die Ausnahme. Bald wurde es vollständig klar, daß die Rechte in beiden
Kammern, als sie die ausnahmsweise isolirte Fortexistenz einzelner Besitzungen
befürwortete, den Todtstem, in das neue Gesetz zu pflanzen gewußt hatte.
Wenn nämlich die Vereinigung von Ortschaften zu einer Gemeinde nicht
die Regel bildet, so wird sich ein Gemeindeladen auf dem platten Lande der
östlichen Provinzen nie entwickeln. Einige statistische Angaben können das über¬
zeugend darthun. Wer den geringen Bildungsgrad der großen Masse der länd¬
lichen Bevölkerung und ihre» geringen Wohlstand, namentlich in den östlichen
Provinzen, erwägt, wird sich leicht davon überzeuge», daß Ortschaften mit einer
Bevölkerung von weniger als -1000 Seelen nicht die zur ersprießlichen Entwickelung
eines CommnnallebenS erforderlichen geistigen nud materiellen Kräfte in sich
schließen. Ans einer officiellen Zusammenstellung, die auf den Zählungen des
Jahres beruht, ergiebt sich, daß die Provinzen Ost- und Westpreußen,
Posen, Brandenburg und Pommern 20,9i0 ländliche Gemeinden enthalten; von
diesen zählen nur 10i mehr als 1000 Einwohner, d. h. also, fast alle sind,
wenn sie isolirt bleiben, zu einem kräftigen Gemeindeleben unfähig. Ja selbst
wenn mau das Postulat von 1000 Seelen für eine Gemeinde anf die Hälfte, auf
500 Seelen reducirt, so sind unter jenen Z0,9-i>0 ländlichen Ortschaften noch immer
über 19600, also mehr als 93 Procent, welche anch diese Bevölkerung nicht er¬
reichen. In Ostpreußen zählen 21 !i5 ländliche Ortschaften unter 6-106, in West¬
preußen 1719 unter 3774 (fast die Hälfte), weniger als hundert Seelen. Hier
giebt es sehr ausgedehnte zusammenhängende Landstriche, in denen die durch¬
schnittliche Bevölkerung einer ländlichen Ortschaft noch nicht hundert Seelen er¬
reicht. Von dieser Bevölkerung fallen etwa drei Viertheile auf das weibliche Ge¬
schlecht und die Jugend unter 2ü Jahren; anch von dein letzrcn Viertel geht
bei der großen Menge der Tagelöhner ein nicht unbeträchtlicher Theil entweder
in Folge des Mangels an Grundbesitz, oder in Folge des geringen SteucrbetragS
für das Gemeindeladen verloren, und so schrumpft hier das Material, welches
die Gemeindeordnung zu gemeinnütziger Thätigkeit organisiren sollte, zu einem
höchst kläglichen Minimum zusammen.
ES erhellt schon ans diesen Zahlen, die freilich durch die Erwägung, wie
vereinzelt auf dem platten Lande Bildung und Wohlstand sind, eine noch viel
prägnantere Bedeutung bekommen, daß die Vereinigung der Ortschaften die
Regel bilden mußte, daß ihre isolirte Fortexistenz nur als sehr seltene Ausnahme
gestattet werden durfte. Das entgegengesetzte Verfahren mußte factisch zur Folge
haben, daß die Entwickelung eines GemeindelebcnS auf dem platten Lande zur
Unmöglichkeit wurde, d. h. daß der eigentliche Zweck des Gesetzes von 1850
verfehlt wurde.
Herr von Westphalen schlug dein entgegengesetzten Weg ein. Damit war
der Versuch, der Städteordnung von -1808 ihre Ergänzung zu. geben, als ge¬
scheitert zu betrachten, und es drängte sich die Besorgnis; ans, daß vielleicht auch
jenes Denkmal einer großen Zeit, in den Schiff^es der neuen Schöpfung
hineingezogen werden könnte. Bald nämlich mußte eS sich nnn herausstellen,
daß das Gesetz von 1830 nicht brauchbar war; denn für diese Art der Aus¬
führung war es allerdings nicht berechnet.
Zwar versuchte die Linke der zweite» Kammer in der denkwürdigen Sitzung
vom 1-1. April 1831 noch einmal, sich dem Untergang des Gesetzes entgegen zu
stemmen, indem sie durch deu Abg. v. Nichthofc» eine Deklaration dahin bean¬
tragte, daß die Zusammenlegung vereinzelter Grundstücke die Regel bilden, daß
es uur „ausnahmsweise" gestattet sein sollte, „ans ihnen selbstständige Gcmcindc-
bezirke zu bilden; wenn wegen ihrer isolirten Lage und ihrer übrigen örtlichen
Beschaffenheit und Größe die betreffenden Kreis - und Bezirks - Commissionen eine
Vereinigung mit irgend einer Gemeinde sür unzweckmäßig erachten." Der An¬
trag auf Tagesordnung wurde mit -l-i? gegen 99 Stimmen abgelehnt, die bean¬
tragte Declaration mit -133 gegen 99 Stimmen angenommen. Aber die
Entscheidung fiel in den Brunnen. Herr von Westphalen faßte seinen organisa¬
torischen Beruf dahin ans, „Eigenthümlichkeiten" zu pflegen, d. h. die alte Arm¬
seligkeit des ländlichen Cvmmnualweseus möglichst zu conserviren. Nur, wie ge¬
sagt, für die Polizciverwaltung sollte besser gesorgt werden.
Daß sich nnter der Bevölkerung im Allgemeinen keine große Neigung zeigte,
von ihrem Recht Gebrauch zu machen, und sich auch ungeachtet der Gegenwir¬
kung der Regierung zu Sammtgemeinden zu verbinden, darf nicht verwundern.
Uuter den Rittergutsbesitzern herrscht größtentheils zu viel Kastcustvlz, der sich
nicht überwinden kann, auf derselben Bank mit dem Bauer über das Wohl der
Commnn zu berathe», und der Bauer ist meist nicht im Stande, die Folgen einer
größern Vereinigung zu übersehen; er hält lieber an dem Bestehenden fest, selbst
wenn eS ihm ungenügend erscheint, als daß er sich ans eine Neuerung einläßt,
von der sein Mißtrauen eher Schlimmes als Gutes erwartet. Dazu kam, daß,
wo mau die Bildung von Sammtgemeindcn wünschte, der Versuch meistens nnr
in solchen Fällen und in so zaghafter, kleinlicher Weise unternommen wurde, daß
er unmöglich ans Anklang rechnen durfte. Gern hatte man nämlich hier und
dort ein heruntergekommenes Dorf, das mit seiner Armenpflege dem Kreise zur
Last fiel, mit einem Gute, oder einer besser arrangirten Dorfgemeinde vereinigt,
und hingegen zeigte sich natürlich ein energischer Widerstand, den kein billiger
Beurtheiler dein Gutsbesitzer oder der wohlhabender» Dorfgemeinde verargen
wird; den» eine Vereinigung in so kleinlichen Maßstabe würde die Pest des Pau¬
perismus uur in gesunde,Körper hinübertragen, ohne daß die Kräfte der letztern
so weit gestärkt wären, daß sie den Krankheitsstoff überwinden könnten. Bildet
man dagegen Gemeinden von größerm Umfang, — etwa kirchspielswcise, wo die
confesfion eilen Verhältnisse es erlauben, — so werden die, aus einer solchen
Vereinigung etwa hervorgehenden Lasten auf eine größere Anzahl wohlhabender
Personen repartirt und leichter getragen; dann finden sich auch eher die Mittel,
nützliche Arbeiten zu beschaffen, und durch Gewährung von Arbeit die Zahl der
wirklich Unterstützungsbedürftigen zu vermindern. In den seltenen Fällen, in
denen man das Gesetz in dieser umfassenden Weise auszuführen suchte, hat sich
in der That kein Widersprich gezeigt. In einem Kreise des Gumbinner-Re¬
gierungsbezirks ist z. B. die Abgrenzung der Sammtgemeindebezirkc Kirchspicls-
weisc erfolgt, unter allseitiger Beistimmung der Betheiligten; und dieser Kreis
zählt über 30 Rittergüter.
Dem Ministerium: genügten indeß die Ersahrungen, die sie bei einer unge-
schickten Ausführung des Gesetzes herausgestellt hatten, vollkommen zu dem Ent¬
schluß, das Gesetz von lttliö zu beseitigen. Nach Reactivirung der Stände mußte
die Gemeindeordnung noch mehr wie ein neuer Lappen ans ein altes Kleid er¬
scheinen. In der Session von -18.^—62 trat der Minister des Jnnern mit
zahlreichen neuen Gemeindeordnnugsgrüuden vor den Kammern, zum Theil für
einzelne Provinzen, zum Theil für Stadt- oder Landgemeinden gesondert. Die
Gründe, welche der Herr Minister gegen das Gesetz von 18!i0 anführte, geben
ein zu klares Bild von seinem eigenthümlichen Urtheil, als daß wir sie ganz
übergehen konnten; sie hatten außerdem dadurch sür uus ein besonderes Interesse,
daß sie großentheils den Ausführungen des Herrn Ministerpräsidenten in früheren
Sessionen schnurstracks zuwider liefe», und nicht selten eine Kritik derselben ent¬
hielten, welche durch die anscheinende Harmlosigkeit, mit der sie vorgetragen
wurde, kaum ihren Stachel verlor. Solche Gründe freilich, wie den, daß die
Gemeinden sich nicht an die Bezeichnung „Gemeindevorstand" für „Magistrat"
und „Schulze" gewöhnen könnten, dürfen wir wol übergehen. Diese Wäsche
waschen wir am besten <;n l'lurüIlL. Daß wir dergleichen vom Ministertisch hören
müssen, ist ein Kreuz, welches wir, da wir es nicht ablegen können, am besten in
schweigender Resignation tragen.
Wer offne Angen hat, wird den „specifischen Unterschied zwischen Stadt und
Land" als eine Sage der Vorzeit betrachten, die ans den längst entschwundenen
Tagen des Gewerbezwanges und Zunftwesens herrührt. Jetzt sind nicht nur die
Schranken gefallen, die einst den Städter von dem Landbewohner trennten; es
ist überhaupt unmöglich geworden, die verschiedenen Berufsarten zu trennen,
seitdem der Fortschritt der Cultur sie tausendfach in einander verschlungen und
eine der andern dienstbar gemacht hat. Die kleinen Städte — und sie bilden die
Mehrzahl — ziehen namentlich in den östlichen Provinzen ihren Haupterwerb
aus dem Ackerbau; Fabrikthätigkeit kennen sie hier fast gar nicht, und das
niedere Gewerbe vegetirt in thuen mir kümmerlich. Dagegen hat sich die Ge-
Werbthätigkeit überall hin auf das platte Land zerstreut; und einzelne sehr be¬
deutende Zweige derselben, wie die Branntweinbrennerei, die Rübenznckcrfabrika-
tion u. a. haben nicht nnr auf dem platten Lande ihre vorzüglichste Stätte
gefunden, sondern sie sind nicht minder, wie die Viehzucht, wesentliche Theile des
landwirthschaftlichen Betriebes geworden, dergestalt, daß der letztere um vielen
Orten ausschließlich auf jene gewerblichen Unternehmungen basirt ist. Wie in
den kleinen Städten das Gewerbe mit dem Ackerbau, auf dem platten Lande der
Ackerbau mit dem Gewerbe sich verschwistert hat, sind einzelne Zweige der
Wissenschaft, namentlich Physik und Chemie, für den Landwirth wie für tausend
Gcwerbtreibende unentbehrliche Hilfsmittel geworden. Und wie der Fabrikant
zugleich Kaufmann geworden ist, verdient mich der Landwirth diesen Namen, ganz
abgesehen davon, daß der Güterkanf selbst ein Gegenstand der Speculation ge¬
worden ist. Während so eine menschliche Thätigkeit in die andere greift, eine die
andere durchdringt, fabelt man von einem specifischen Unterschiede zwischen Stadt
und Land.
Wir wollen Zahlen sprechen lassen. Bereits seht ist das Handwerk in
seinen bedeutendsten Zweigen überwiegend aus dem platten Lande vertreten,
wenn mau die Zahl der Meister und solcher Personen, die für eigene Rechnung
arbeiten, ins Auge faßt. Es haben sich nämlich in Preußen folgende Klassen
von Gewerbtreibenden überwiegend ans dem platten Lande angesiedelt: Grob-
schmiede (3-1,-132 gegen 63-19 in den Städten), Schneider (40,728 gegen 29,70V),
Rad- und Stellmacher (-14,-12-1 gegen 3890), Tischler, Böttcher, Zimmerleute und
Schiffbauer, Maurer (die beiden letzten Kategorien sogar mit Ausschluß der nur
zu Reparaturen berechtigten Personen), Verfertiger feiner und grober Holzwaaren,
Korbwaarcnmacher, Mühlenbaner, Steinacher und Steinhauer u. a., der Spinner
und Weber nicht zu gedenken. Die übrigen namhaften Gewerbe sind auf dem
platten Laude wenigstens so stark vertreten, daß sie einen specifischen Unterschied
zwischen Stadt und Land nicht mehr begründen können. Es leben nämlich ans
dem Platten Lande: <<,!i0t> Bäcker (gegen -12,886 in den Städten), 7L8t Fleischer
(gegen -10,888 in den Städten), 38,742 Schuhmacher (gegen 49,222), 3387
Riemer und Sattler (gegen Ü69V), -13-17 Gerber (gegen 3926), -1687 Färber
(gegen 2868), -I3-I Wagenbauer (gegen -I4-I), 2260 Drechsler (gegen 4322),
-I-I27 Ziegel- und Schieferdecker (-I2-I-I), -1302 Töpfer und Ofenfabrikanten
(gegen 3597), -1500 Glaser und Glasschleifer (gegen 3439), 6392 Schlosser,
Nagel- und Büchseuschmiede, Maschinenbauer und ähnliche (gegen-12,649), u. s. f.
Diese Zahlen geben ein klares Bild von der starken Emigration des Gewerbes
ans der Stadt auf das Land, und beweisen deutlich, daß der specifische Unter¬
schied zwischen Stadt und Laud, der verschiedene Gemeindeordnungen noth¬
wendig machen soll, immer mehr und mehr in das Reich der Schatten sinkt.
Dennoch hat die Reactivnspartei diese Fabel so oft wiederholt, daß sie selbst
daran glaubt und daß sie unter der gedankenlosen Menge zahlreiche Nachbeter
gefunden hat. Herr v. Westphalen hält daran fest, wie an einem Glaubenssatz;
trotz aller Evidenz des Gegentheils wird er uicht müde, ihn als ein unantastbares
Axiom zu wiederholen.
Den Staatsmännern der Nevrganisationscpvche Preußens war es vollkommen
klar, daß nach Einführung der Gewe-rbcfreiheit der specifische Unterschied zwischen
Stadt und Land schwinden müsse, und im Hinblick auf die unausbleibliche Ent¬
wickelung der Verhältnisse beabsichtigten sie schon damals, eine gemeinsame Com-
munalordnnng für Stadt und Land zu entwerfen. Jetzt, wo die Wirkungen der
Gewerbefreiheit in Zahlen nachgewiesen werden können, ist es der wunderlichste
Anachronismus, von einem specifischen Unterschied zwischen Stadt und Land zu
reden. Der Unterschied ist lediglich ein relativer. Erstens dadurch, daß, wenn
mau das Verhältniß der städtischen und ländlichen Bevölkerung in's Auge faßt,
das Gewerbe (und selbst dann mit einigen Ausnahmen) in den Städten, der
Ackerbau ans dem Lande die Mehrzahl der Bevölkerung beschäftigt; diese Diffe¬
renz ist aber nicht so durchgreifend, daß man in den Städten die Ackerbürger,
aus dem Lande die Gewerbtreibenden in Bezug auf das Gemeindelebeu ignvrire»
oder hintansetzen dürfte. Zweitens dadurch, daß die städtische» Gemeinden im
Allgemeinen stärker bevölkert sind, als die ländlichen. Hindurch wird aber nicht
eine gesonderte Gesetzgebung sür Stadt und Land, sondern für größere und
kleinere Gemeinden befürwortet, wie es auch die Gemeindeordnung von 1830
zwischen größeren und kleineren Gemeinden unterscheidet und den letzteren eine ein¬
fachere Verwaltungsform verleiht.
Der zweite Hauptgrund, den der Minister des Innern gegen das Gesetz v.
18ii0 geltend machte, war der, daß in sehr vielen Ortschaften des platten Landes
gar nicht das Material vorhanden wäre, die in der Gemeindeordnung festgesetzten
Formen, Gemeinderath und Gemeindevorstand auszuführen. Wenn der Herr Mi¬
nister seine Ausführung des Gesetzes dabei im Sinne hatte, so tan» man ihm
nnr vollständig beiiretc». Denn sobald mau womöglich jedes Gut, jedes Dorf
isolirt läßt, wird in vielen Ortschaften die Anzahl der Wähler kaum so groß sei»,
wie die geringste Anzahl der Mitglieder der zu wählende» Commnnalbehörden,
und noch häusiger wird die Zahl der Wähler wenigstens so unbedeutend sei»,
daß das Repräsentativsystem zur Caricatur wird. Das aber ist höchst merk¬
würdig, wie der Herr Minister diese Schwierigkeit beseitigt. Statt nämlich zu
schließen, daß an den Orte», i» welchen nicht eünual zur Herstellung des Formen-
wesens ein genügendes Material vorhanden ist, noch viel weniger die Entwickelung
eines kräftigen Gemeindelebens zu erwarten ist; statt zu schließen, daß das Ge¬
setz uicht darauf berechnet war, in den armseligen Atome», i» die sich die Com-
munen zerlegt hatte», durchgeführt zu werden, daß es vielmehr augenscheinlich
ans das reichere Material größerer Verbände berechnet war; statt dessen hat er
noch einfachere Formen ausgesonnen, so einfache, daß sie auch für die dürftig¬
sten Ortschaften passen!
Als ob dieses Formenwesen der Zweck der Gemeideordnung wäre!
Eine nothwendige Folge dieser seltsamen Abirrung war die Ausschließung
der Rittergüter von dem Gemeindeleben. Um die Eigenthümlichkeiten der „kleinen
Monarchien" zu Pflegen, sollten sie eigene Gutsbezirke" bilden. So wurde in
einigen Provinzen des Staats mehr als die Hälfte des Areals dem Gemeinde¬
verbande entzogen.
Die einfacheren Formen, welche das Ministerium für die armen Dorfge¬
meinden ausgesonnen, haben nur ein psychologisches und antiquarisches Interesse.
Die erste Kammer war durch sie allerdings sehr zufriedengestellt; allein die zweite
lehnte die von der Negierung dringend gewünschte Entscheidung der Frage, ob
eine gesonderte Gemeindeordnung für die Städte und für das platte Land er¬
lassen werden sollte, bis zur Beendigung der Berathung über sämmtliche Vor¬
lagen ab, und war im besten Zuge, im Einzelnen die neuen NcgiernngSvorschläge
mit den liberalen Bestimmungen der Gemeindeordnung von 1830 zu vertauschen,
als plötzlich der Schluß der Session erfolgte.
Nichts desto weniger erschien bald darauf, am 19. Juni 18S2, eine Königl.
Ordre, welche die weitere Ausführung von -I8Ü0 untersagte.
So war ein Werk, auf das man 60 Jahre vergeblich gewartet hatte, das
endlich von dem gegenwärtigen Ministerpräsidenten unternommen und nach seinen
Ansichten ans den Kammerberathungcn verbessert hervorgegangen war, unter
den Auspicien desselben Mannes ernstlich wieder in Frage gestellt.
— Unsere diesjährige Wintersaison ist nicht so
brillant ausgefallen als die vorige, die durch den Besuch des Kaisers eingeleitet, durch
den der russischen Großfürsten eine ungewöhnliche Lebendigkeit erhielt, über die sich die
Venezianer selbst heute noch verwundern. Wir erfreuen uns jetzt nur der Gegenwart
von einigen Dutzenden schwindsüchtiger, die im Sonnenschein die Riva entlang
hüstelnd hin und her schleichen und sich über alles Mögliche beschweren, über Luft und
Wasser, übet Mangel des Feuers und überflüssige Kälte, über trockene Unterhaltung
und feuchte Stuben; es muß zugegeben werden, daß manche dieser Beschwerden nichts
weniger als unbegründet sind, so fehlt es z. B. gar sehr an zweckmäßigen, nur einiger¬
maßen comfortablen Miethwohnungen, die wenige» erträglichen aber sind enorm theuer.
So sehr dem Venezianer anch die Navolöon's der Fremden gefallen, die bald seine ein¬
zige Erwerbsquelle bleiben werden, so ist er doch zu schlaff, um die geringste Anstrengung
zu machen, die ihm nicht unmittelbar Vortheil bringt. Daran geht anch die Handels-
tbätigkeit der Stadt zu Grunde, da zu weit aussehenden Unternehmungen Kraft und
Muth überall fehlen. Wer Capital hat, zieht vor, Wuchergeschäfte zu treiben, den
Geldwechsler zu machen und Vergleiche», wo er den Gewinn täglich in die Tasche steckt,
ohne sonderlich viel zu wagen. Nur das Machtwort der Regierung könnte uns z. B.
die so sehr nothwendige Anstalt zum Seebader verschaffen, wie die zweite Brücke über
den (iMillo W'giiäö, die nächsten Sommer angeblich schon dem Gebrauch übergeben
werden soll.
Wenn es den Venezianern schlecht geht, so ziehen sie gleich den meisten übrigen
Italienern vor, anstatt ihre eigene Lässigkeit anzuklagen, der fremden Herrschaft die
Schuld in die Schuhe zu schiebe», sie soll überall für den Riß stehe», dagegen nimmt
keiner de» geringsten Anstand, sie überall und ans jede Weise zu betrüge»; ein Amt an¬
nehmen oder suchen heißt bei ihnen oft nichts Anderes, als sich ein Recht erwerben, sich
auf Kosten des Staats oder der Staatsangehörigen oder beider zugleich möglichst und
aus jede Weise zu bereichern. Es ist unglaublich, welche Schwierigkeiten für das Guber-
nium aus der allgemeinen Verbreitung dieser ehrlose» Denkungsart entspringen; denn
nicht nnr ist es äußerst schwer, die Schuldigen zu entdecken, da ganze Kollegien in dieser
Beziehung getreulich zusammenhalten, sondern es hat anch noch die Gewißheit, daß das
Bestrafen Einzelner nichts hilft, da ihre Nachfolger es schwerlich besser machen werden
und das Loos ihrer Vorgänger wol für ein Unglück, aber keineswegs für eine Schande
ansehen. Am meisten soll, wie man sich hier sagt, der Staat bei der Douane betrogen
werden; z. B. wurde in Padua, wie man erzählt, vor der Revolution entdeckt, daß
die dortigen Mauthbcamten während mehrerer Jahre doppelte Bücher geführt, der Re-
gierung nur die Hälfte des Zollertrags verrechnet, die andere Hälfte aber brüderlich
unter sich getheilt hatten. Eine lange Untersuchung begann, i» deren Folge ein Dutzend
Angestellter theils fortgejagt, theils in's Zuchthaus gesteckt wurde. Dergleichen kommt
häufig genng vor, aber es hilft nicht sonderlich viel, da die Neue» selten besser sind
als die Alten. Eine Stelle beim Zoll haben, gilt hier gleich dem Besitz eines großen
adeligen Fidcicommisscs oder einer ergiebigen geistlichen Pfründe. In Wien weiß man
dies recht wohl, aber was soll man machen? Man kann doch nicht alle italienischen
Beamten fortjagen und durch deutsche ersetzen, was als eine schreiende Beeinträch-
tigung der Inländer ausgelegt würde, selbst von denen, die den wahren Sachverhalt ge¬
nauer kennen. So erinnern Sie sich z.B., daß ich Ihnen im vorigen Jahre als eine
der Hauptbeschwerde» der italienischen Provinzen die bezeichnete, daß man bei ihnen nicht
gleich den übrigen Provinzen das seither auch dort wieder aufgehobene Institut des
Geschworcu-Gerichts eingeführt habe. Es hing dies aber so zusammen: die Regierung
hatte vor Erlaß des Gesetzes Experte und Notabeln aus dem ganzen lombardisch-venezia-
nischen Königreiche zusammenkommen lassen, »in ihre» Rath über die Einführung des¬
selben zu höre». Die Meinung der Herren ging einstimmig dahin, daß öffentliches Zeugen-
verhör und Aburthciluug durch Geschworene sür Italien gänzlich unbrauchbare Einrich¬
tungen seien, da Niemand sich der Privatrache der Angeklagten als Zeuge oder Ge¬
schworener würde aussetzen wollen, eine Ansicht, der Jeder, der italienischen Zorn und
Haß keimt, seinen Beifall kaum versage» dürste. Ueberdies verstärkten diese Experten
und Notabeln das Gewicht ihres Gutachtens noch dadurch, daß sie selbst als die neue
Einrichtung in Italien nicht eingeführt wurde nud darüber allgemeine Verstimmung
entstand, sast sämmtlich ihre in Wien geäußerte Ansicht in der Heimath sorgfältig ver-
läugneten, somit den erste» praktischen Beleg für die Nichtigkeit derselben lieferten. Un¬
gefähr eben so ging es mit der Studicufreiheit auf den Universitäten, über deren Ein¬
führung vorher auch Deputationen der verschiedenen Facultäten vom Minister consultirt
wurden, die sich mit Händen und Füßen dagegen wehrten und als Hauptmotiv den
meiner Erfahrung nach ebenfalls ganz stichhaltigen Grund angaben, daß ihre jungen
Leute, die jetzt schon faul genug seien, dann vollends gar Nichts mehr lernen würden,
wenn der Professor weder das Recht besäße, ihre Anwesenheit in den Eollcgieu zu contro-
liren, noch durch die halbjährigen Examina sie wenigstens zu ewigem Studiren zu zwingen.
Schade nur, daß die Herren, sobald sie nach Padua zurückkamen, ebenfalls ihre
Wiener Ansicht vergaßen und l'eine Scheu trugen, das Oäium derselben allein auf die
Negierung zu wälzen. Für das Maß der Ehrliebe der gelehrten Körperschaften von
Padua und Pavia mögen folgende Züge noch bezeichnend sein, die mir vou Personen
mitgetheilt wurden, die vollkommen unterrichtet waren, wenn ich auch manche kleinen
Umstände nicht mehr ganz genau wiedergegeben haben sollte. Es ist so ziemlich welt¬
bekannt, daß das Lxsmkn rjxorasmn und die Ertheilung des Doetorats nirgend an
so leichte Bedingungen geknüpft und so schwer bezahlt werden, als in diesen beiden
Sitzen der italienischen Gelehrsamkeit. Beim Examen in der Medicin z. B. hat der
Candidat unter Anderem auch zwei chirurgische Operationen an einem Leichnam vorzu¬
nehmen, und vorher theoretisch zu erörtern. Dabei soll es folgendermaßen zugehen-
Etwa zwölf bis fünfzehn verschiedene Fragen der Art werden in eine Büchse gethan,
und der Kandidat hat zwei zu ziehen; dann sagen ihm die Herren Examinatoren, er
könne nun einen Rcspiro vor Beginn der Sache nehmen, und weisen ihn in's Neben¬
zimmer, dessen Thüre zum Ueberfluß gewöhnlich noch offen gelassen wird. Dort harrt
seiner der Herr Prosector, der die Fragen alle aus langjähriger Erfahrung anf'S Ge¬
naueste kennt, und bläut ihm die Antwort möglichst deutlich und schnell ein, zeigt ihm
die Handgriffe, die er am Cadavcr zu machen hat, und entläßt ihn dann nach minde¬
stens einem halbstündigen Unterrricht, welchem die Herren Examinatoren ganz gemüthlich
zuhören konnten, wenn sie sonst Lust hatten. Natürlich müßte der junge Mann sehr
ungeschickt sein, wenn er auch jetzt noch nicht durchkäme. Diese Art von Examen und
Doctorpromotion trägt aber jedem der Herren Professoren jährlich durchschnittlich
20,000 Lrs. (?), und um diesen Preis verträgt es ihre Ehre schon, Italien mit schlechten
Aerzten und unwissenden Advocaten anzufüllen; natürlich ist das Examen in allen
anderen Fächern von eben dieser Art. So war es bei de-in der Botanik z. B. lange
Jahre stehende Sitte, nur über zwei bestimmte Pflanzen zu examiniren, welche der
Cnstode des botanischen Gartens dem Examinanden, natürlich gegen eine Erkenntlichkeit
von einigen Lvuisd'ors mit den nöthigen schriftlichen Weisungen schon präparirt zu¬
stellte. Vor einiger Zeit kam ein neuer dcutschgebildetcr Professor an die Stelle des
frühern Lehrers der Botanik und litt diesen Mißbrauch nicht. Der Cnstode klagte ihn
laut an, daß er ihn seines ehrlich erworbenen Brodes beraubt, und um 6000 Zwanziger
mindestens jährlich verkürzt habe. Dem Minister sind diese Mißbräuche wohl bekannt,
was soll der aber machen? kann er die Lichter der Universität wegjagen? wie und wo¬
her soll er sie denn ersetzen?
Glauben Sie ja nicht, daß die eben berührten Uebelstände etwa blos ein Resultat
der deutschen Herrschaft seien. Sie finden sich bei den rein italienischen Regierungen
zehnfach stärker wieder, da man sich dort nicht einmal vor Ahndung zu fürchten braucht,
wenn man nur die Beute mit den höher Gestellten geschickt zu theilen weiß. Was von
Ordnung und Zucht hier zu finden, verdankt man gerade deutscher Ehrlichkeit und
gutem Willen; wie denn der verhältnißmäßig sehr gute Ruf der Justiz im Königreich
wesentlich durch die große Zahl deutscher Beamter, die in diesem Fache arbeiten, bedingt
ist, während ihrer Anstellung in der Administration, besonders den unteren Stellen der¬
selben, natürlich beinahe unüberwindliche Schwierigkeiten entgegenstehn. Einstweilen sind
die Lombardei und Venedig immmerhin noch — Piemont ausgenommen - die best¬
regierten, und deshalb bei weitem die reichsten Länder Italiens, was sie nnter der Ver¬
waltung der Herren Mazzini und Como. schwerlich mehr wären. Wie die Italiener
gegen die Deutschen gesinnt sind, mag man aus dem beurtheilen, was von den Plänen
der kürzlich in Mantua abgeurtheilten Verschwörer verlautet, die hier noch immer den
Stoff für das Tagesgespräch bilden. Man vernimmt darüber eine Menge der aben¬
teuerlichsten Dinge, die höchst fürchterlich sein würden, wenn sie nicht in noch größerm
Maße lächerlich wären für Jeden, der da weiß, wie weit hier zu Lande die Ausführung
hinter den Vorsätzen zurückzubleiben pflegt; so soll es nnter Anderem der Konspiration
vornehmster Zweck gewesen sein, den jungen Kaiser bei passender Gelegenheit zu mcnchcl-
mordcn, und damit das Zeichen zu einer sicilianischen Vesper gegen alle Deutschen,
oder der Sympathie sür dieselben verdächtigen Italiener hier zu geben, welch letztere
Zahl auch keineswegs so klein ist nach den Erfahrungen der letzten Jahre. Indessen
trösten wir Betheiligten uns einstweilen mit der Betrachtung, daß schon die Nürnberger
keinen hingen, ehe sie ihn hatten.
Bemerkens- und beherzigenswert!) für die Beförderer geistlichen Einflusses in
Wien dürfte übrigens der große Antheil sein, den Geistliche an dieser absurden Ver¬
schwörung genommen, so wie überhaupt die Feindseligkeit, die nnter dem niedern Klerus
gegen die östreichische Regierung, wie gegen alles übrige Deutsche herrscht, so daß, um
nnr ein Beispiel nnter hundert anzuführen, der Beichtvater des venezianischen Dienst¬
mädchens einer mir bekannten deutschen Familie, die ihm gestand, daß sie die Herrschaft
um einige Victualien benamst habe, geradezu sagte: „Deutsche zu bcstehlc», sei viel eher
verdienstlich als sündlich." Eine Theorie, die dem leichtsinnig gutmüthigen Mädchen
doch selber von so zweifelhaftem Werthe schien, daß sie bei Gelegenheit einer Wohlthat
ihrer Herrin, vorzog, derselben den Diebstahl zu gestehen.
— Die Mitglieder des neuen Ministeriums sind mit Aus¬
nahme Gladstone's, dessen Wahl sür die Universität Oxford noch nicht entschieden ist,
sämmtlich wieder gewählt, und zwar unter Umständen, welche beweisen, daß das neue
Cabinet im Lande sich einer entschiedenen Popularität erfreut, und daß sich England,
trotz Herrn Disraeli's Prophezeihung, eine Koalition gern gefallen läßt, wenn sie
aus Männern besteht, die, vollkommen einig über die wichtigen Tagesfragen und über
Maßregeln, welche die Wohlfahrt des Landes fordert, die geringeren Meinungs¬
verschiedenheiten unberücksichtigt lassen, und sich zu Ausführung der wichtigen Maßregeln,
über die sie übereinstimmen, vereinigen. Im Gegentheil mündet ein solches Bciscite-
setzen theoretischer Differenzen, so lange sie noch keinen Einfluß auf die praktische Politik
haben können, sehr dem gesunden Sinne des Engländers. Mr. Gladstone's Wahl
dauert 14 Tage und wird erst den 20. d. M. entschieden. Wie ihr Ausfall sein wird,
ist wegen des eigenthümlichen Charakters der Wählerschaft der Universität Oxford sehr
ungewiß. Wähler sind nämlich sämmtliche Mitglieder der Convocatiou (die Fellows u.s.w.
sämmtlicher Colleges), ungefähr 3000, ohne Rücksicht, ob sie ihren Wohnsitz in Oxford
haben oder nicht. Nun sind diese Zi)0i) Wähler als Pfarrer, Advocaten und Grund¬
besitzer ziemlich gleichmäßig über die ganze Ausdehnung sämmtlicher drei Königreiche
vertheilt, uur der kleinste Theil wohnt in und um Oxford, und bei dem geringern Theile
der übrigen ist der Zustand der Finanzen so blühend, daß sie trotz unsrer billigen
Eisenbahnepvche eine Reise nach Oxford machen können. Die Wahl liegt fast ganz in
der Hand einer kleinen, fanatisch hochkirchlichen Clique, an deren Spitze der Erzdechant
Denison steht, und die auch kurz nach der Erhebung des Lords Derby zum Premier¬
minister die Wahl desselben zum Kanzler der Universität durchsetzte. Zuerst hatten sie
eigenmächtig den Lord ChandvS als Candidaten aufgestellt, da aber dieser die Ehre
mit großer Entschiedenheit ausschlug, nahm sie ihre Zuflucht zu einer ganz unbekannten
Größe, einem gewissen Mr. Pcrccvcil, dessen politische Verdienste und sonstige Eigen¬
schaften, so groß sie anch nach der Versicherung seiner neuen Gönner sind, bis jetzt
aller Welt verborgen geblieben sind. Und doch ist es möglich, daß eine solche politische
Null den Sieg über eine Persönlichkeit davonträgt, die schon als Zögling in Eton und
Oxford den künftigen Staatsmann verrieth, und die die Erwartungen, welche man damals
von ihr hegte, vollkommen gerechtfertigt hat, denn bis jetzt haben blos etwa 800 ihre
Stimmen abgegeben, und Gladstone hat nur eine kleine Majorität.
Die Stadt Oxford, die im Gegensatz zur Universität sehr entschieden liberal ist,
und sonst stets in diesem Sinne wählt, hat sich diesmal aus die Empfehlung ihres
frühern fast radicalen Mitgliedes, Sir P. Wood, der von dem neuen Ministerium ein
richterliches Amt, das eines Vicckanzlcrs, angenommen hat, sür Mr. Cardweli, den Präsi¬
denten des Handelsamtes, entschieden, der nun wahrscheinlich anch einen Sitz im Cabinet
erhalten wird. Der sehr demokratische Stadttheil FinSbury hat ohne alle Opposition
Sir W. Molesworth wieder gewählt, was uns doch ein Zeichen zu sein scheint, daß nicht der
ganze Radikalismus in die Opposition des radicalen Organs, der Daily News, einstimmt.
In dem Wahlflccken Morpeth ist Sir G. Grey gewählt, unter Lord I. Russell Staats-
secretair des Innern, der bei den allgemeinen Wahlen in Northumberland gegen den
Dcrbyiten Lord Louvainc unterlag, und nun, obgleich ohne Amt in dem neuen Cabinet,
die Zahl der eminenten staatsmännischen und rednerischen Talente, die das neue Cabinet
unterstützen, noch vermehren wird.
Auch in Irland haben sich die Aussichten für die Regierung sehr günstig gestellt.
Trotz des großen Einflusses, den die ultramontane Pricstcrschajt daselbst ans die Wähler
hat, und obgleich sie diesen Einfluß gegen das neue Ministerium geltend zu machen
suchte, sind die Mitglieder der sogenannten irischen Brigade, die ein Amt unter Lord
Aberdeen angenommen haben, ohne Ausnahme und zwar mit Unterstützung der gemäßig¬
ten katholischen Geistlichkeit wieder gewählt worden; die Ultramontanen haben sich mit
großer Leidenschaft gegen das Ministerium und die „Abtrünnigen" erklärt, ohne vielen
Anklang zu finden, und die einzige Folge ihres Widerspruchs ist eine Spaltung in der
irischen Brigade, die derselben ihre talentvollsten Mitglieder geraubt und ihre Zahl
bedeutend vermindert hat.
Von einem Süd- "
Slaven. — Kaum vor einem halben Jahre ist Montenegro, von Rußland als uuab-
hängigcr Staat anerkannt, in die europäische Staateufamilic eingetreten, und jetzt ist es
bereits eine stehende Rubrik in der Journalistik wenigstens der östreichischen —-
geworden. Wir wollen es den, jungen Staate nicht verdenken, wenn er, seine Kräfte
vielleicht überschätzend, sein Dasein ans eine eclatante Weise Europa modificiren will;
auch sind wir weit davon entfernt, die Bedeutung der bisherigen Vorgänge in deu
„schwarzen Bergen" zu soryiren: dessenungeachtet dürfen wir aber nicht übersehen,
daß in diesen Vorgängen der Keim großer Ereignisse und Wirren verborgen liegen
kann, und nehmen davon Act, wenn anch in anderer Weise, als es bisher geschehen ist.
Ein freundnachbarliches Verhältniß zwischen der Türkei und Montenegro hat wol
niemals bestanden und konnte schon ans nationalen und religiösen Gründen nicht be¬
stehen, ?in Grund zu Streitigkeiten zwischen beiden Theilen hat es daher auch niemals
gemangelt; dieselben wurden aber mit Säbel und Flinte in der Hand, ohne diploma¬
tische Intervention, mit wechselndem Glücke geschlichtet, und beide Theile lebten gerüstet
in einer Art Waffenstillstand, der kleine Reibungen nicht ausschloß.
So war es auch seit dem Tode des Wladyka Pctar. Die Türken sahen zwar
tue Entwickelung der Zrnagorcr Verhältnisse seit der Erhebung des Fürsten Danilo mit
Besorgniß; da sie aber bon xre mal Zrs Montenegro als unabhängiges Land betrach¬
te» mußten, waren sie eben ruhige Zuschauer.
Eine dumpfe Gährung, welche durch die Brutalität der Türke» unter der Rasa
der benachbarten Herzegowina hcrvvrgernfc» worden war, gab den Ersteren Veranlassung,
sich beim Fürsten Danilo zu beklagen, daß sie von Montenegrinern genährt werde; hin-
wiederum beschwerte sich dieser bei dem Wesir von Albanien, Osman Pascha, daß
Mißhelligkeiten zwischen dem Fürsten und dem Stamme Pipcri, die dnrch eine neue
Steuerumlage hervorgerufen waren, von den Türken zum Nachtheile der Montenegriner
ausgebeutet würden. Dazu kamen beiderseits räuberische Einfälle in fremdes Gebiet,
wofür natürlich keine Genugthuung zu erlangen ist — kurz, der Waffenstillstand wurde
gebrochen, obwol es noch nicht erwiesen ist, von welchem Theile.
Die Montenegriner bürsteten nach Repressalien und warteten gerüstet die Gelegenheit
dazu ab; andererseits aber rüstete auch der Wesir Osman Pascha, um die Montene¬
griner zu empfange», wenn sie in die Ebene zu steigen Lust bekämen. Sie ließen in
der That nicht lange auf sich warten: an einem neblichten Novembcrmorgen stieg ein
Häuflein Moutcnegriner von ihren Bergen herab und nahm ohne Schwertstreich die im
See von Se'utan liegende, allseitig vom Wasser umgebene Feste Shabljak ein, ehemals
die Residenz der zrnagorcr Fürsten, und als solche ein Gegenstand steter Wünsche des
eroberungssüchtigen Voltchcns der Zrnagora. Die Absicht der Mvntcncgrincr mochte wol
die sei», sich einen Haltpunkt am See von Skutari zu schaffen, um die in diesem See
liegenden, ehedem zu Montenegro gehörenden, von de» Türken aber mitten im Frieden
besetzten Inseln Wranina und Lasseudra, vielleicht wol auch Skutari (?) den Türken zu
entreißen.
Die Besetzung von Shabljat hatte einen doppelten Erfolg. Sie verbreitete Furcht
und Schrecken unter den Türken Albaniens, während sie andererseits unter der (serbi¬
schen) Raja dieser Provinz und der Herzegowina die lebhafteste Sympathie für die
Montenegriner hervorrief. Der Erfolg machte den Fürsten kühner; er mochte nun
daran denken, den doppclkvpfigcn Aar der Zrnagora einen Fing dnrch das rechtgläubige
Serbenland versuchen zu lassen, und rief seine Tapfern zum Kriege gegen den Erbfeind
aus. Dieser Aufruf war natürlich nicht vergebens; die Mißhelligkeiten mit dem Stamme
Piperi, die sonst nicht ohne Kampf geendet hätten, wurde» freundschaftlich ausgeglichen —
was in den schwarzen Bergen Waffen trage» kann, ergriff sie freudig und zog in den
Kampf. Alle Grenzen wurden besetzt, und die Kampfschaar des Fürsten wuchs wol
aus 10,00» Mann an. Mit diesen rückte er über die Moratscha, lieferte dem bei
Podgoriza lagernden Wesir Osman Pascha ein Treffen, in welchem erst die Montene¬
griner-hart bedrängt wurden, endlich aber die Türken schlugen; Podgoriza wurde nach
diesem Gefecht von den Montenegrinern besetzt und einige Tage daraus die nördlich von
Podgoriza liegende Feste Spusch nach tapferen Widerstände der albancscr Türken beim
zweiten Sturme erobert.
So standen die Dinge beim Ablaufe des Jahres Die Montenegriner hat¬
ten die ganze Moratschalinie im Besitze, welche ihnen, da die beiden Flanken durch die
Festen Spusch und Shabljak gedeckt werden, eine vorzügliche Operationsbasis gewährt.
Andererseits säumten auch die Türken nicht, sich, so gut es ging, in Vertheidi-
gungszustand zu setzen. Ismail Pascha, der Wesir der Herzegowina, und Osman
Pascha, der Wesir von Albanien, boten die gesammte waffenfähige Mannschaft ihrer
Wessirlicks zum Kampfe auf; sieben Bataillone der in Bosnien liegenden regulairen
Truppen (Nisaui) wurden in Eilmärschen nach dem Kriegsschauplatze abgeschickt, so daß
die Türken im günstigen Falle eine Truppcumassc vou etwa 30,000 Mann den Mon¬
tenegrinern entgegenstellen können. Durch diese Hoffnung ermuthigt, schickte Osman
Pascha ein Christenweib — bekanntlich geht bei den Zrnagoreru ein Weib überall frei
ans und ein, ohne irgendwie belästigt zu werden — an den Fürsten Danilo ab und
ließ ihn frage», auf wessen Veranlassung er die Türken angegriffen habe, und auffor¬
dern, Shabljak zu räume». Der Fürst beschenkte den weiblichen Parlamcntair und ließ
dem Wesir erwiedern: „Er habe die Türke» weder auf Veranlassung des Czar (Ru߬
lands), »och des Tschcssar (Oestreichs), noch irgend Jemands angegriffen; er habe es
aus eigenem Wille» gethan, um mit Gottes Hilfe das Erbgut seiner Ah»e» wieder
z» erobern oder als Held zu sterben."
Diese kühne Antwort konnte ihre Wirkung nicht verfehle». Die hohe Pforte,
ohnehin schon gereizt, daß Rußland Montenegro's Unabhängigkeit anerkannt habe, und
daß Oestreich in Kurzem dasselbe thun dürste, richtete an die Vertreter der Großmächte
ein Memorandum, worin sie ihre sehr zweifelhaften Ansprüche auf Montenegro zu be¬
gründen sucht, was aber nicht recht gelingen und der stambuler Staatskanzlei keine Lor¬
beeren einbringen dürfte. Zugleich wurde das Küstengebiet von Albanien in Blvcade-
zustand erklärt, und Omar Pascha, als Scraskicr der rumelischcu (europäisch-türkischen)
Armee, mit der unverzüglichen Unterdrückung der „moutcuegriuischcn Rebellion" beordert.
Diese diplomatischen und militärischen Anstrengungen des Divans zeigen, daß er in
Montenegro keinen unbedeutenden Feind sieht, und nicht so leicht mit ihm fertig zu
werden hofft, als das „^ournsl as const-uckinoplv" oder die „Ist^lui vnIiM", die
türkische Staatszeitung, ein an Scharfblick und Wahrheitsliebe seinen europäischen Col¬
lege» vollkommen ebciibürtigcs und in gleicher Weise nrtheilfähigcs Älatt. Diese beiden
Blätter nämlich haben die „rebellischen Räuberhorden vou Kara Dagh" (Montenegro)
auf dem Papiere bereits vernichtet und Mouteuegro erobert.
Es liegt auf der Hand, daß de» Moiitcucgriueru aus dem begvmicnen Kampfe
manches Ungemach erwachsen kann. Ihrer excentrische» Tapferkeit wird el» Führer eilt-
gegeustehcn, dessen militairische Gaben sich in manchem harten Strauße erprobt haben.
Wenn auch Omar Pascha's Truppen keinen Vergleich mit den Montenegrinern aushalten
können, so ist der Vortheil, einen fähigen Feldherrn zu besitzen, um so weniger zu über¬
sehen, als man von dem Fürsten von Montenegro noch nicht weiß, ob er überhaupt
militairische Fähigkeiten besitze, da die bisherigen Kämpfe mit den Türken von der her¬
gebrachten Kampfesweise in sofern abwichen, als sie im offenen Felde stattfanden, aber
gegen unfähige Führer wie Osman Pascha und undisciplinirte, wenn anch tapfere alba-
nesische Truppen geführt wurden. Dagegen haben die Montenegriner an dem Ter¬
rain ihres Landes und des benachbarten Albaniens einen Bundesgenossen, der anch die
richtigsten strategischen Combinationen zu nichte machen kann. An Waffen und Muni¬
tion haben sie keinen Mangel, so lange, wie sie zu sagen Pflegen, die Türken deren
besitzen. Sie fühlen sich, trotz des Glanzes von Omar Pascha's Namen, in ihren Ber¬
gen sicher und erwarten den Feind mit kanipflnstigcr Ungeduld.
Die Wichtigkeit des Momentes liegt aber nicht in den bisherigen Ereignissen, son¬
dern in der allgemeinen Lage der slavischen Provinzen der Türkei. Daran verändert
sich nichts, wenn auch die Montenegriner in ihren Bergen auf's Haupt geschlagen wür¬
den; dagegen kann der geringste Vortheil, den vielleicht »ur Zufälligkeiten, das Terrain
oder das bloße Wetter ihnen gegen einen Feldherrn von Omar Pascha's Uns an die
Hand geben würde, die ganze Situation verändern. Hinter Montenegro steht die
gescnnmte serbische Raja von Ober-Albanien, der Herzegowina und
Bosnien, welche, wie man endlich selbst in Stambul einzusehen gelernt hat, „von dem
Gifte des Panslavismus inficirt ist" und nur auf den passenden Moment wartet, um
über die Türken herzufallen und sich aus vicrhundcrtjährigcr Knechtschaft zu befreien.
In dieser Beziehung ist der Kampf Montenegro's gegen die Türkei ein Ereigniß von
europäischer Wichtigkeit und der größten Beachtung werth, denn unstreitig hängt von
seiner Entscheidung der längere oder kürzere Bestand der Türkenhcrrschast in den oben
genannten Provinzen ab.
So viel für jetzt. Ich will den Ereignissen nicht vorgreifen, sondern nur einige
Anhaltspunkte zur Würdigung derselben geben.
Indem wir die vorstehende Darstellung des geehrten Herrn Einsenders mittheilen,
welche eine Uebersicht des zwischen den Montenegrinern und Türken ausgebrochenen Kam¬
pfes giebt, fügen wir Einiges hinzu, theils unsre Ansicht über die dort statthabenden
oder in Aussicht stehenden Ereignisse, theils die neuesten Nachrichten betreffend, welche
darüber eingegangen find.
So viel Interesse im Allgemeinen das kühne Wagniß eines kleinen Stammes
erregen ausi, so sind doch die Sympathien, welche in allen slavischen Bevölkerungen für
die Schilderhcbung der Montenegriner natürlicher Weise sich regen, nicht ganz maßgebend
für das Urtheil, das man vom Standpunkte der europäischen Politik darüber fällen
muß. Es ist unmöglich, nicht unverkennbar die Hand Rußlands in jenen Vorgängen
zu erblicken; die unausgesetzte Anschürnng der slavischen Völkerschaften des türkischen
Gebietes, die daraus erwachsende Schwächung und die sich häufenden Verlegenheiten der
Pforte sind eben so viele Hebel des russischen Einflusses i» Konstantinopel. Sie sind
zugleich das beste Mittel unter den der Pforte unterworfenen oder ihr tributairen Slaven,
das Ansehen der russischen Macht und den Nimbus des „weißen Czaren" zu erhöhen.
Wir können daher nicht mit ungemischten Gefühlen Bewegungen betrachten, die, mögen sie
immerhin lang geknechtete Völker von dem verhaßten Joche der Feinde ihres Glaubens
zu befreien suchen, doch ihrem Hauptzwecke nach die große Frage des Orients einer
Lösung zuführen sollen, die, gelänge sie, das Gleichgewicht Europa's zum Vortheil eines
Reiches erschüttern würde, das eben so die Freiheit der Völker, wie den Fortschritt
menschlicher Civilisation zu bedrohen scheint.
In diesem besondern Falle ist es kaum zu erwarten, daß die kühne Unternehmung
des Fürsten Danilo im Falle des günstigsten Ausganges mehr bewirken dürste, als eine
Dazwischenkamst der russischen Diplomatie, die der Psorte mehr schaden, als den Slaven
nutzen würde. Daß die Provveativ» von Seiten Montenegro's erfolgt ist, kann schwer¬
lich bestritten werden. Grenzstreitigkeiten und gegenseitige Beschwerden sind keine hin¬
reichende Ursache eines so eclatanten FriedenSbruches, wie der Ueberfall von Shabljak
war. Die gehoffte Erhebung der Serben ist indeß bis jetzt noch nicht erfolgt; auch ist
es kaum anzunehmen, daß die serbische Regierung anders, als unter der Hand Mon¬
tenegro unterstützen werde, da offene Hilft ihr schwere Verlegenheiten zuziehen würde.
Shabljak ist, nach vorheriger Schleifung, bereits von den Montenegrinern geräumt
worden, und durch das Herannahen imposanter türkischer Streitkräfte, sowol auf der
Seite der Herzegowina, als namentlich von Albanien her, ist der kühne Angriff
des Fürsten Danilo auf einen VcrthcidigungSkricg zurückgeführt. Es zieht sich in
der That diesmal ein sehr ernstes Ungewitter über Montenegro zusammen. Omar
Pascha, der östreichische Renegat, wird Alles aufbieten, um seinen früher erworbenen
Ruf auch hier zu bewähren, und der Divan scheint zum Aeußersten entschlossen. Obschon
Rußland sowol als Oestreich mit entschieden ungünstigen Angen einen Erfolg der
Türken ansehen würden, so darf man nicht vergessen, daß andererseits England die
Psorte vor einer ernsthaften Intervention schützen wird. Man kann nur wünschen, daß
das tapfere Volk der schwarzen Berge nicht statt der geträumten Erfolge schwere
Unfälle möge zu beklagen haben. Denn siud wir auch gerade keine Anhänger des Pan-
slavismus, so möchten wir doch nicht das traurige Schauspiel erleben, die Jahrhunderte
lang standhaft behauptete Freiheit eines christlichen Stammes noch in unsren Tagen
dem Säbel der hinfälligen Osmanli's erliegen zu sehen.
— Wir widmen den Ereig¬
nissen in Spanien eine unausgesetzte Aufmerksamkeit, sowol der wichtigen Entscheidun¬
gen, die dort für die constitutionelle Sache sich vorbereiten, als der Nachlässigkeit wegen,
mit der sie fast durchgängig in der deutschen Tagespresse behandelt werden. Seit län¬
gerer Zeit hat sich die früher so gespannte Theilnahme an den spanischen Zuständen nach
anderen Seiten gewendet, und da jetzt plötzlich wieder eine Krise von allgemeinem In¬
teresse in Spanien auftaucht, so ist unterdessen das Verständniß der politischen Ver¬
hältnisse jenes Landes ziemlich verloren gegangen. So benntzt fast die ganze deutsche
Tagespresse die Madrider Privat-Correspondenz eines weit verbreiteten Blattes, deren
Urtheillosigteit und Unzuverlässigkeit eine flüchtige Durchsicht in Kurzem lehren sollte;
die zweite Quelle sind die französischen Blätter, die ihre Nachrichten sämmtlich dnrch die
Allgemeine Madrider Correspondenz beziehn, welche ministeriell ist. Was aus diesen
beiden Wegen gemeldet wird, druckt man ohne jede Sichtung oder Kritik ab, so daß die
unverständlichsten und seltsamsten Widersprüche daraus hervorgehn. Die demokratischen
Blätter zeigen außerdem eine vornehme Verachtung gegen den Kampf für das kon¬
stitutionelle System, der in Spanien gegenwärtig geführt wird, oder sie wollen sich
einen Vers, ihren Principien gemäß, daraus machen und stellen dann erst recht Alles
in das schiefste Licht. Nur eine genaue Kenntniß der Sachlage wird aus den Mangel-
haften Nachrichten, die wir über Spanien erhalten, das Richtige herauslesen können.
Alle seit unsrem letzten Bechst stattgehabten Vorgänge können das Urtheil nur
verstärken, das wir über das zweideutige Benehmen des jetzigen Ministeriums aus-
sprachen. Es hat verschiedene Zugeständnisse gemacht, aber sein ganzes Verhalten ruft
den Argwohn hervor, daß dies nur zu dem Zweck geschehe» sei, Spaltungen in der
Opposition zu erzeuge», dadurch den Ausschlag der Wahlen zu seinen Gunsten zu wen¬
den und dann vor den Cortes wieder mit den Ncvisionsprojecten B. Murillo's oder
doch mit dem wesentlichsten Theil derselben hervorzutreten.
Eine Reihe von Absetzungen rcactionaircr Werkzeuge Murillo's ist allerdings erfolgt;
von den Gouverneuren der Provinzen befinden sich darunter uuter Andere» Forvnda
in Barcelona, Carbonnel in Valencia, Bordiu, der Bruder des frühern Ministers des
Innern, in Sevilla, die sich besonders verhaßt gemacht hatten. Dies und die Zusage
der Regierung, ein liberales Prcfigesctz zu geben und völlige Wahlfreiheit zu lassen,
haben eine Anzahl Modcradv's bewogen, aus dem in Madrid niedergesetzten Wahl-
comitv auszuscheiden und eine freundlichere Stellung zum Cabinet einzunehmen. Ihre
Zahl ist fast eben so groß, wie die der im Comitv Zurückgebliebenen, an Bedeutung
der Persönlichkeiten halten sie jedoch mit den Letzteren keinen Vergleich aus. Der Nam¬
hafteste der Ausgeschiedenen ist Sartorius, Gras v. San Luis, ehemals Minister des
Innern unter Narvaez und eifriger Anhänger desselben; seine Amtsführung war indeß
die Schattenseite der Verwaltung des Herzogs von Valencia, und trotz seines bedeuten¬
den Talentes steht sein Charakter nicht in der höchsten Achtung. Unter den Uebrigen
sind Bcrmudez de Castro, die Generale Cordova und Non de Olano, Zaragoza, Esteban
Collantcs, Alfaro, Campomapor zu nennen. Alle diese, außer Sartorius, sind jedoch
keine Notabilitäten erste» RmigcS, und außerdem erklären sie sich nach wie vor gegen
die Verfassungsrevision; sie haben nur ihre Opposition gegen das Cabinet und eine
autinünistericlle Betreibung des Wahlkampses eingestellt. Der „Hcraldo", der seinen
alten Beziehungen zu Sartorius, der vor 8 oder 9 Jahren sei» Redacteur war, sein
Verhältniß zu Narvaez geopfert hat, ist das einzige Organ der moderirte» Madrider
Presse, das sich auf die Seite der Ausgeschiedenen geschlagen hat. Auch er bekämpft
»ach wie vor die Verfassungsrevision, und überhaupt herrscht zwischen den Aus¬
geschiedenen und dem gebliebenen Conn,'; bis jetzt keine Art von feindseliger Stimmung.
Das fortbestehende Wahlcomitö der Mvdcrados, dessen Verfahren die unbeding¬
teste Billigung verdient, zählt noch immer alle großen Namen der Partei unter seinen
Mitgliedern und muß als der eigentliche Vertreter derselben betrachtet werden. Es hat
am 6. Januar ein neues Manifest an die Wähler erlassen, in welchem mit musterhafter
Würde, Mäßigung und Entschlossenheit sein Verhalten erörtert und den Wählern das
ihrige angerathen wird; die Unterzeichneten erklären darin, daß es ihnen nicht gelungen
sei, von den Minister» eine Aufklärung über die Punkte der Verfassung zu erhalten, in
Betreff welcher dieselben die Revision B. Murillo's festhalten wollten, und daß man
daher befürchten müsse, daß alle von jenem beabsichtigten Veränderungen, mit Ausnahme
der Unterdrückung der öffentlichen Cortcssitzungen, wieder aufgenommen werde» könnte».
Sie erklären ferner, daß sie durch ihre Ehre verpflichtet seien, das Bündnis; mit der
progrcssistischcn Partei, welche wie sie die Fahne der Verfassung aufgepflanzt, aufrecht
zu erhalten, auf dessen Auflösung das Ministerium sei» ganzes Streben gerichtet habe,
Sie ernähren endlich die Wähler, sich durch keine Einschüchterungen beirren zu lassen;
Schrecken und Gewalt würden ans ihre Urheber zurückfallen. Sie zeigen ihnen deshalb
an, daß eine Commission niedergesetzt sei, um die etwaigen Uebergriffe von Beamten
bei den Wahlen zu überwachen, und nöthigenfalls der gerichtlichen Bestrafung zu über¬
weisen, an deren Spitze der Herzog v. Svtomayor stehe und deren Mitglieder die
Herren Pidal, Mon, Rios Rosas, Pacheeo, O'Dommel, Gonzales Bravo und Scijas
Lozano seien. Außer diesen befinden sich unter den t6 Unterzeichnern des Manifestes
noch die beiden Concha'S, die Herzöge von Rivas und Medina de la Torres, Serrano,
Mayans, Caldcro» Collantes, Moyano, Moreno Lopez, Nocedal und vor Allen der
Marschall Narvaez, in dessen Auftrage General O'Dommel unterzeichnet hat. Die Pro-
gressistcn haben zur Ueberwachung der Wahlfreiheit gleichfalls eine Commission nieder¬
gesetzt, die aus Madoz, Olozaga, Domeucch, Lascrna, A. Gonzales, Ordax Avccilla,
Zomorano und Canero besteht, und mit der der Modcrados gemeinschaftlich verfahren
wird. Beide Wahlcomitö's vereinigen sich außerdem über die auszustellenden Kandidaten,
die dann von den Stimmen beider Parteien unterstützt werden. Die Progressiven haben,
um einen Beweis ihrer Mäsngnng zu geben, für eines der Madrider Wahlcollegicii
Martinez de la Rosa acceptirt, der, da auch die Regierung seiner Wahl sich nicht wider¬
setzt, somit einstimmig gewählt werden dürste. Die Wahlen sind aus den i. Februar
angesetzt und ist die Wahlbewcgnng bereits überall im Gange. Wie es scheint, wird
das Ministerium den Wahlversammlungen kein Hinderniß in den Weg legen.
Am 5. Januar ist das verheißene Preßdccrct erschienen, welches dasjenige Murillo's
vom 2. April 1852 aushebt, und in seinen wesentlichen Bestimmungen ans das Gesetz
Pidal's vom 6. Juli 18is zurückgeht. ES gewährt, wenigstens seinem Inhalt nach,
der Presse einige Erleichterungen; zwar sührt es statt der aus den 300 Höchstbestcucr-
ten jeder Provinz genommenen Jury eine Richterjury el», es beseitigt jedoch die Preveu-
tivhast der Herausgeber (mit einigen seltenen Ausnahmen), setzt das Maaß der Geld¬
strafen ans ein Maximum von 3000 Realen (200 Thaler) herab und entzieht der Re¬
gierung die Befugniß, eine Zeitung zu unterdrücke». Die definitive Gesetzgebung soll
den Cortes vorbehalten bleiben. Wenn man bedenkt, was die spanische Presse unter
dem Druck der Decrete Murillo's gelitten hat (der Hcraldo ist im letzten Jahre fünf¬
zig Mal confiscire worden, und das Diario Espagnol präsentirte neulich der Regierung
seine» fünften Geranien seit Jahresfrist, von de» übrigen war einer verhaftet, drei
gegen Kaution freigelassen), so könnten die neuen Bestimmungen im Vergleich damit
als eine Wohlthat erscheinen, wenn sie in dem Geiste gehandhabt würden, wie es ein
sie begleitendes Cireular Llorcnte's, des Ministers des Innern, in Aussicht stellte. Der
Erscheinung des neuen Prcßgcsetzcs folgte jedoch unmittelbar die Beschlagnahme der
ganze» Madrider Oppositionsprcsse, angeblich wegen einer zu heftigen Kritik desselben.
Derartige Vorgänge können kein Vertrauen zu dem Cabinet erwecken, noch weniger das
Lob, welches ihm der Pariser Constitntionel spendet, der seine Hoffnung ausspricht, es
werde seine Mission, Spanien von dem „Elend des Kammerwcsens" zu beseelen, glück¬
lich durchführen.
Die letzten Nachrichten verkünden einen theilweisen Ministcrwcchsel als unmittelbar
bevorstehend. Die Zurückweisung von Narvaez' Gesuch um Erlaubniß der Rückkehr nach
Spanien (der Marschall hat übrigens ein besonderes Schreibe» an die Königin, von seinem
Aufenthalt in Bayonne aus, gerichtet) soll den Finanzminister Aristizabal zum Rücktritt
bewogen haben. An seiner Stelle soll Llorente die Finanzen und Herr BcnavideS dann
das Innere übernehmen. Der Letztere ist ein Mann von anerkannt großem Talent,
dessen Vergangenheit jedoch nicht sür feste politische Grundsätze bürgt. Er ist bereits
durch verschiedene Schattirnngen hindurch von dem conscrvatirsten Mvdcratismus bis
an die Grenze der progrcssistischcn Färbung gegangen.
— Unsre Bühnen entwickeln in diesem Winter eine Thätigkeit,
welche höchst achtungswerth ist und leider dnrch eine entsprechende Thätigkeit der dra¬
matischen Schriftsteller nicht unterstützt wird. Allerdings ist von der Masse der cinstu-
dirten Stücke noch kein Schluß zu machen aus die Güte der Leistungen, da sehr häufig
aus unverantwortliche Weise geschlendert wird. Was aber auch bei sehr sorgfältigem
Einstudiren durch die Thatkraft und Energie eines Mannes geleistet werden kann, zeigt
z. B. das Hoftheater zu Weimar. Dort, wo gegenwärtig kein Ueberfluß an bedeutenden
jugendlichen Kräften unter den Darstellern ist, und die Erfolge vorzugsweise in einem
tüchtigen, gut eingeübten Ensemble zu suchen sind, wurden von Ende September, wo
Marr's Thätigkeit sichtbar wurde, bis Anfang dieses Jahres im Schauspiel dreizehn
neue Stücke ausgeführt, sieben neu einstudirt, von Opern zwei neue und vier neu ein-
stndirte gegeben. Dies ist, zumal wenn man einige Mängel im Personal berücksichtigt,
eine so merkwürdige und ungewöhnliche Thätigkeit, daß hier wenigstens die neuen Stücke
angeführt werden sollen. Es sind: die bezähmte Widerspenstige, und Viola von Shake¬
speare. Das Trauerspiel in Tyrol von Immermann. Agnes Bcrncmcr von Hcöbcl.
Heitere von Seiglivre. Drei Farben. Das goldene Kreuz. Ein Mann. Des Königs
Befehl. Der Kaufmann. Schwarzer Peter. Zwei Tage aus dem Leben eines Fürsten.
Zu Hause. — Die neuen Opern sind Faust und Hcrnani. Unter den neu cinstudirtcn
Schauspielen ist Nathan der Weise. Ein Glas Wasser. Die Erzählungen der Königin
von Navarra u. s. w. — In den nächsten Wochen werden unter anderen die Krisen von
Baucrnseld, Nocoeco von Laube, Mathilde von Bencdix, und von Opern der fliegende
Holländer gegeben werden. — Unter den Ausführungen im Schauspiel war die des
Trauerspiels in Tyrol zum neuen Jahre deshalb merkwürdig, weil es dem Talent
Marr's gelungen ist, das Stück samisch so vortrefflich einzurichten, daß es die größte
Wirkung und einen ungewöhnlichen Erfolg hatte. Schon zu Innenraum's Lebzeiten
hat Marr zur Frende des Dichters diesem Stück in Braunschweig zu ähnlichem Erfolge
verholfen. — Da wir gegenwärtig keinen Ueberfluß an neuen dramatischen Werken
haben und die Behandlung großer älterer Dramen dnrch ausgezeichnete Techniker wie
Marr, Eduard Devrient u. s. w. sind, wohl verdient allgemeiner bekannt zu werden, so
sollen in d. Bl. dergleichen samische Einrichtungen aus den deutschen Theatern, bei
welchen die Regie besondere Einbildungskraft und Geist zeigt, von Zeit zu Zeit kurz
dargestellt werden.
Das Central-Organ für die deutschen Bühnen, dessen officieller Theil durch den
Intendanten des Hoftheaters zu Stuttgart, F. von Galt, der dramaturgische durch Dr.
Eduard Zöller besorgt wird, hat seinen zweiten Jahrgang begonnen. Das Blatt, bereits
früher in d. Bl. empfohlen, ist vortrefflich geeignet, eine Uebersicht über das Theatcrlebcn
der Gegenwart zu gebe», und ist seine Verbreitung in weiteren Kreisen dringend zu wün¬
schen. Es enthält außer dem reichen Wochenmatcrial von Thcatcrnenigkeitcn, den Ncpcr-
toiren größerer Bühnen, auch interessante Berichte über das Theater des Auslandes,
ästhetische Aufsätze, Bilder aus dem Kmistlcbc» u, s. w. So ist in No. 2 ein hübscher
kleiner Aufsatz über die spanische Oper. Außer dem Genre der Zarzuelas oder Vaude-
villes, welche im Allgemeinen eine Nachahmung der französischen sind und außer der
italienischen Oper, welche in den meisten größeren Städten stehende und wohlorganisirte
Truppen hat, welche neue Opern so schnell wie Italiener und Franzosen, das heißt
zwei bis vier Jahr früher als die Deutschen bringen, ist in neuester Zeit auch eine Oper
von Ventura de la Vega in spanischer Sprache geschrieben morden, welche von der
dortigen Kritik als eine spanische Original-Oper bezeichnet wird, ist die Musik vou
einem gebornen Italiener Francesco Babieri. Die Oper heißt 5ugsr von luvM
(Mit dem Feuer spielen). Der Inhalt hat eine auffallende und unheimliche Aehnlichkeit
mit der Martha von Flotow. Eine Herzogin von Medina mischt sich zur Zeit der
Wallfahrten unter die Manola's, Stutzerinnen ans dem Volke, ein junger Mann (hier
Felix genannt) verliebt sich in sie. Durch die Intriguen der halb komischen Figur des
Marquis de Caravaca, welcher hier thätiger und bösartiger erscheint, als in der Martha
die entsprechende Person, wird die Herzogin veranlaßt, den Felix, als er sie erkennt,
sür verrückt zu erklären. Er wird in das Irrenhaus abgeführt. Dort wird er wirklich
wahnsinnig. Komischer Narrencorps, dessen Chef ein verrückter Ncgimcntstambour ist.
Die reuige Herzogin kommt als Manvla verkleidet in das Irrenhaus, bringt ihren Ge¬
liebten zur Vernunft zurück, entführt ihn und weiß an seiner Stelle den Marquis ein¬
zusperren. Ihr Vater mit Gerichtspersonen kommt dazwischen, Felix sott in's Gefängniß
abgeführt werden, die Herzogin zeigt jetzt in ihrer Liebe spanische Energie. Da kommt
ein Brief des Königs, welcher den unglücklichen Felix in seinen alten Adel wieder einsetzt.
Diese Oper, welche greller und finsterer als unsre Martha zu sein scheint, entzückt Kritik
und Publicum durch reizende Melodien, gute Chöre und die coquetten Manoeuvres mit
Fächer und Mantillen, durch welche die spanische Manola sich auszeichnet. Die Haupt¬
rolle wird von einer Sennora Montenegro gegeben. — Dabei sei bemerkt, daß das alte
berühmte Theater de la Cruz in Madrid am -19. Decbr. öffentlich im Mcistgebvt sub-
hastirt und für 999,000 Realen vou dem reichen Beförderer der nationalen Musik,
N. Daguerra, erstanden worden ist, der die Räume nur der spanischen Oper öffnen
will. Da die Spanier kaum die ersten Anfänge einer nationalen Oper besitzen, so ist
dieser Entschluß kühn zu nennen, sehr patriotisch, stolz und spanisch, aber bedenklich.
Deutsche Opern. Tory der Wildschütz, die 3actigc Oper des Her¬
zogs von Coburg-Gotha, Text von Fr. v. Elzholtz, soll zuerst in Leipzig zur Auffüh¬
rung kommen. —- Marschner's Austin wird in der Hosoper am Kärnthner Thor
gegeben werden, auch Hovcn's Operette „Ein lustiger Rath" wird dort vorbereitet. —
Flotow componirt wieder zwei neue Opern „Rübezahl" und „die Studenten von Bou-
logua", die Texte vou Puttlitz. Indra wird nach dem großen Erfolge in Wien auch
in Berlin einstudirt. —
Franz Wallucr, zuletzt Director zu Freiburg im Br.. hat das Theater in Posen
übernommen, für die Theater zu Mainz und Riga werden Unternehmer gesucht.
Neue Dramen. Willibald Waldherr (Phantom. eines routinirten Schriftst.) Die
Frau, Schauspiel in 4 Acten, angenommen an der Hofburg, aufgeführt in Hamburg. —
Eduard Mautner. Der Courier, Lustspiel in 1 Act. — Der Stadtgerichtsasscssor
May zu München ein Trauerspiel: Zenobia, angenommen am Hofes, zu München.
Friedrich Bodenstedt schreibt ein Drama Prinz Hermann, Mehrere drama-
tisircn Onkel Toms Hütte. — Rudolph Gottschall hat das Lustspiel von
Sheridan, die Nebenbuhler, für unsre Bühne umgearbeitet. — Stadtgcrichtsrath
Werther in Berlin ein fünfactigcs Schauspiel „Susanna und Daniels, bei dem
Königl. Theater angenommen. — Auch das ist el» Zeichen der Zeit, daß wir
wieder aus solche fromme, höchst dramatische Stoffe zurückkommen, wie sie die protestan¬
tischen Geistlichen zur Belehrung ihrer Gemeinden im 16. Jahrhundert schrieben. Seit
dem würdigen Paul Rebhuhn, dem Schüler Luther's, welcher seine Historie von
der keuschen Susanne zur Erbauung seiner Vogtländer ausführen und im Jahr 1336
zu Zwickau drucken ließ, hat das deutsche Theater dreihundert Jahre diesen pikanten
Stoff entbehren müssen. Jetzt kommt er wieder. Zu Paul Rebhuhn's Zeit wurde das
Stück im Sommer gegeben, damit Susanne sich in der Badescenc nicht erkälten möchte.
Es wird menschlich sein, wenn man jetzt zu Berlin dieselbe humane Rücksicht auf die
Darstellerin der Titelrolle nimmt.
— Unter den Kupferstechern hat sich aus der letzten Berliner
Ausstellung besonders Fritz Werner ausgezeichnet. Sein Actzdruck von dem Bilde Menzel's
„Friedrich II. unter seinen Freunden" zeigte ein seltenes bis in die feinsten Nnanycn des
Originals eindringendes Verständniß. Jeder Strich saß an der rechten Stelle. Seine
Federzeichnungen zeigen eine künstlerisch-kecke, feste und gewandte Hand, welche stark
an die genialen Federschlägc Menzel's erinnert. —
Der Bildhauer Gaffer in Wien mvdcllirt gegenwärtig die Statue des bekannten
Schauspielers Bogumil Dawisvn. —
Wellington's Reiterstatue, nach dem Modell des Grafen d'Orsai, noch bei Leb¬
zeiten des Herzogs in Guß ausgeführt, ist nun dem Kunsthandel übergeben. Man
rühmt das Blatt nicht nur als Kunstwerk, sondern anch als das ähnlichste Abbild, das
von dem berühmte» Britten extftirt.
Die architektonische Preisaufgabe des Königs Max von Bayern ist am Tage vor
seiner Abreise »ach Italie» einschiebe» worde». Unter den Preisbcwcrbern befanden sich
1i Architekten, 1l) deutsche und i französische, deren Entwürfe mehreren Münchner Ar-
chitekte» und auswärtigen Fachmännern zur Begutachtung vorgelegt wurden. Unter
diesen Projecten befand sich einer, der in allgemein architektonischer Beziehung der gro߬
artigen idealpraktischen Tendenz der königl. Aufgabe dermaßen entsprach, daß sämmtliche
Schiedsrichter einstimmig denselben als des ersten Preises von i-OVO Fi. würdig erkannten.
Er rührt von: königl. prcnß. Professor der Architektur W. Stier in Berlin her. —
Das Comitv für el» Ka»t-Denkmal in Königsberg will eiuen Aufruf an die
deutsche Nation erlassen zu diesem Denkmal beiznstcncr».
Cornelius entwickelte in der letzten Zeit eine großartige Thätigkeit. Die Cartons,
in welchen er die letzten Dinge nach der Offenbarung Johannis behandelt, rücken rasch
vorwärts. Die vier apokalyptischen Reiter sind durch den vortrefflichen Stich Thäter'S
Volkseigenthum geworden. Die Lünette dazu, die Ausgießung der sieben Schalen des
Zorns, so wie die Predcllc, welche drei Werke der christlichen Barmherzigkeit darstellt
(Besuch der Gefangenen, Tröstung der Traurigen, Berichtigung der Irrenden), sind
ebenfalls im Carton vollendet. Demnächst wurde fertig das Bild von dem neuen
Jerusalem mit seiner Lünette, die den Sturz des Satans, und seiner Prcdelle, welch?
die Speisung der Hungrigen enthält. Endlich eine der acht kolossalen Nischcngruppen:
„Selig, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit" — und neuerdings das
dritte Hauptbild: die „Auferstehung." Mit dem vierten Hauptbilde, dem „Sturze der
babylonischen Hure", ist der Meister eben beschäftigt.
An den Wandgemälden im k. Schlosse zu Dresden arbeitet Bendemann an dem
Zug des Apollo aus deu Parnaß, als Darstellung der geistigen Erhebung des Grie-
chenthums; ein trefflich evmponirtcs Bild, das uns die ganze Erhabenheit des Gottes
der Ideale vorführt. Der Vollendung nahe ist der rauschende Zug des Bacchus auf
den Parnaß, ein Bild der in üppiger Fülle ausströmenden Naturkraft.
Das Bild der Kaiserin Josephine, welches sich gegenwärtig in der Leuchtenbergi-
sehen Galerie zu München befindet, wird im Austrag Napoleon's von einem namhaften
französischen Künstler copirt.
Wie man vernimmt, wird Lessing's neues Bild: Schützen, die einen Paß ver¬
theidigen, nächstens in Kupferstich und Lithographie erscheinen. —
Die letzte Berliner Kunstausstellung hat 8600 Thaler reinen Ueberschuß gegeben,
der theils zur Unterstützung armer Künstler, theils zur Gründung eines Fonds fiir
arme inländische Künstler und deren Hinterbliebene Familien verwendet wird.
Der östreichische Kunstverein hat als Prämienblatt für seine Mitglieder Gallait's
berühmtes Bild: „Egmont's letzte Augenblicke" bestimmt, wozu der sehr gelungene
Kupferstich des Parisers Martinet gewählt wird.
Der Kunstverein zu Pesth hat den Grafen Emanuel von Andrassy vor Kurzem
zu seinem Präsidenten ernannt.
Der Maler H. Goldschmidt in Frankfurt a. M., Entdecker des Planeten Lukretia,
hat in Florenz eine vortreffliche Copie des Bildnisses von Galilei (von Soustermanu)
gemacht, und selbe dem großen Naturforscher Arago geschenkt, welcher sie in einem
Saale des Pariser Observatoriums aufstellen ließ.
Rauch hat drei seiner schönsten Statuen: Glaube, Liebe und Hoffnung der Kirche
seiner Vaterstadt Arolsen als Geschenk zugesendet. Auch Kuulbach Hut dieser seiner
Vaterstadt drei Bilder zugesagt, Scenen aus der Bergpredigt von Christus. Arolsen
wird reich werden durch seine berühmten Söhne.
Zur Errichtung eines Denkmals für deu verstorbenen König Friedrich Wilhelm III.
in Breslau sind bei dem dortigen Comitv bereits gegen 12,000 Thlr. eingegangen.
Einer der größten Bildhauer Amerika's, Grecnvugh, ist wahnsinnig geworden;
man sagt allgemein aus Künstlereifcrsucht gegen den Bildhauer Power.
— Frcundcsbildcr ans Goethe's Leben, Studien zum
Leben des Dichters von H. Düntzer (Leipzig, Dyk). — An eine literarhistorische
Monographie kann man keine anderen Anforderungen stellen, als die der Verfasser selbst
angiebt. sowol aus dem Titel, als in der Vorrede bezeichnet Herr Düntzer das gegen¬
wärtige Werk mir als eine Vorarbeit, die er bei einer spätern Biographie Goethe's als
Material benutzen will. Ob es recht ist, solche Vorarbeiten augenblicklich in Bücher zu
verwandeln, mag dahingestellt bleiben; bei der großen Theilnahme, die Alles, was sich
auf Goethe bezieht, im Publicum erregt, darf man wol hier von der allgemeinen Regel
eine Ausnahme machen. — Als Vorarbeit betrachtet, verdient das Buch alles Lob,
namentlich wenn man es mit jenen Sudeleien vergleicht, mit jener ganz gemeinen Buch¬
machern, die ans zwei Büchern ein drittes zusammenstellt, und die man schon im In¬
teresse der Sittlichkeit nicht streng genug verurtheilen kann. Herr Düntzer bietet in
viele» seiner Ansichten und in der Form seiner Darstellung überhaupt Grund zu
gerechter Polemik, aber Eins kann man ihm nicht absprechen, er hat seinem Gegenstand
ein sehr eifriges und gewissenhaftes Studium gewidmet. Das gegenwärtige Buch ent¬
hält die Charakteristik des Verhältnisses, in dem Goethe zu Lavater, Jacobi, Wieland
und Knebel stand. In allen diesen Monographien ist das Material sehr vollständig
benutzt, und es wird wenig Männer gebe», die in der Goethe-Literatur so zu Hause
sind, daß sie nicht vieles Neue aus jeder einzelnen dieser Darstellungen erfahren. Als
Beitrag zur Sammlung und Sichtung des Materials hat also das Buch unsre voll¬
ständige Anerkennung. Ob man aus der Anordnung und Ausführung desselben ein
günstiges Vorurtheil für die Befähigung des Verfassers herleiten kann, ein Leben Goe¬
the's ans die Art zu schreiben, wie es die Nation zu erwarten das Recht hat, darüber
enthalten wir uns alles Urtheils. Wir fügen nnr noch hinzu, daß der Eindruck dieses
Buchs, wie der aller gewissenhaften Arbeiten über Goethe, immer daraus herauskommt,
daß wir den Dichter anch in seinen persönlichen Verhältnissen noch immer mehr lieben
und ehren lernen. —
Deutsche Geschichte von den ältesten Zeiten bis auf die Gegen¬
wart, von Adam Pfaff. (.Braunschweig, Westermann). — Das Werk erscheint in
vier Bänden zu 120 Bogen, in Lieferungen zu 8 Silbergroschen. Bis jetzt sind vier
Lieferungen erschienen. Der Verfasser hat sich die Aufgabe gestellt, in einer ansprechenden
Form dem allgemeinen Publicum ein Bild von dem innern Zusammenhang seiner histori¬
schen Entwickelungen zu geben. Unternehmungen ähnlicher Art sind in unsre» Tagen
ziemlich häufig. Das gegenwärtige Werk, welches sich mit Ernst bemüht hat, auch die
neueren Forschungen in der deutsche» Mythologie und den deutschen Rechtsalterthümern,
soweit es in einer populairen Schrift möglich ist, zu benutzen, zeichnet sich durch Klar¬
heit, Einfachheit, eine schicklich gewählte Form, und eine wenigstens im Ganzen billigcns-
wcrthe Vertheilung des Materials ans. Die gegenwärtigen Lieferungen gehen bis aus
Carl den Großen. —
Von dein bekannte» Werke von I. I. v. Littrow: Die Wunder des Himmels,
herausgegeben von C. v. Littrow, ist das dritte und vierte Heft der neue» vierten Be¬
arbeitung, in Stuttgart, Hoffmann'sehe V. B., erschienen. Das Werk gehört zu den
bekanntesten Pvpulaircu Büchern über Astrvlivmie. Die letzten beiden Hefte enthalten die
Planeten mit ihren Trabanten, die Konnte», den Fixstcrncnhimmcl und den Anfang der
physischen Astronomie oder der Gesetze der Bewegung am Himmel.
Leben und Thaten des Admirals de Urner. Erzählt von or.O.KlopP.
Hannover, Carl Nümpler, 1832. — Vor» ist das Bildniß des Admirals. Die Bio¬
graphie hat den Zweck, als Volksbuch zu diene», es ist el»c einfache, klare Sprache
und verständige Darstellung daran zu rühmen, so wie ein patriotischer Sinn des
Verfassers. —
Dein Ministerwechsel, der vor wenigen Monaten in Piemont statt fand, lag
hauptsächlich die kirchliche Frage zu Grunde. Das Cabinet des Marchese d'Azeglio
nahm Anstand, der heftigen Opposition der sardinischen Bischöfe und der von der
römischen Curie eingenommenen feindseligen Stellung gegenüber, das eingebrachte
und von der Deputirtenkammer bereits votirte Civilehegesetz auch durch die
weiteren legislativen Stadien zu treiben. Eine Zurücknahme erschien jedoch uicht
weniger mißlich, zumal die Agitation gegen den Klerus in der Bevölkerung immer
mehr um sich griff; die Einziehung der Kirchengüter war von der demokratische»
Partei angeregt worden und fand in den von vielen Munieipalvertretuugen
deswegen beschlossenen Petitionen zahlreiche Unterstützung. Massimo d'Azegliv,
dessen reiner Charakter und aufrichtigste Hingebung an die constitutionelle und
nationale Sache keinem Zweifel unterliegt, war in der letztem Zeit, hauptsächlich
durch das Drängen auswärtiger Einflüsse in Schwankungen und Zugeständnisse
an die reactionaire Partei getrieben worden, die das Ansehn seiner Verwaltung
tief erschüttert hatten. Der aristokratische klerikalen Fraction nach wie vor verhaßt,
begegnete er nicht mehr dem frühern Vertrauen bei den Liberalen und sogar den
erbitterten Anfeindungen der äußersten demokratischen Linken. Höchst peinliche
Zerwürfnisse mit dem (damaligen) französischen Gesandten, Herrn His de Buteuval,
rücksichtlich der Presse und der Flüchtlinge beschleunigten seinen Entschluß, vom
Staatsruder zurückzutreten. Eine Krisis erfolgte, die eine verhängnißvolle
Wendung zu nehmen schien, als der König nach fruchtlosen ttntcrhandlnngen mit
dem Grafen Cavour, die Chefs der rechten Seite, die Grafen Nevel und Balbv,
zu sich bescheiden ließ. Ein von diesen gebildetes Cabinet würde eine Preisgebung
der liberalen Politik im Innern und nach Außen bedeutet und in seinen Conse-
quenzen die Existenz der Verfassung gefährdet haben. Der loyale Sinn Victor
Emanuels bewahrte Piemont vor diesem Unglück und Italien vor der Vernichtung
seiner letzten Hoffnungen. Obwol ein eigenhändiges Schreiben des Papstes,
bestimmt den König von der Einführung der Civilehe abzubringen, den Be¬
strebungen der recictiouairen Fraction zu Hilfe kam, fanden die Herren Revel
und Balbo kein geneigtes Gehör für ihre Forderungen. Die Unterhandlungen
mit Cavonr wurden wieder aufgenommen und ein Ministerium durch diesen zu
Stande gebracht, dessen Zusammensetzung eine Leitung der öffentlichen Angelegen¬
heiten im Sinne des entschieden constitutionellen linken Centrums in Aussicht stellte.
Der jetzige Ministerpräsident selber schied, wie man sich erinnern wird, vor
einiger Zeit ans der Verwaltung d'Azcglio's, weil seine Person ganz besonders
die Antipathien des Klerus und der rechten Seite erregte. Seine Rückkehr an
die Spitze der Geschäfte mußte daher die energische Durchführung der begonnenen
Reformen und die standhafte Vertheidigung der Unabhängigkeit Piemonts und
der Krone gegen die Anmaßungen des Vaticans bedeuten. Er ist außerdem der
hervorragendste Vertreter der Freihaudelspolitik und des Bündnisses mit England,
und seine hohe finanzielle Kapacität verbürgte durchgreifende Maßregeln zur
Ordnung der durch die Folge» des unglücklichen Krieges mit Oestreich noch immer
schwer verwickelten Finanzlage. Seine Gelangnug an das Ruder des Staates
wurde deshalb von der öffentlichen Meinung, wie von der liberalen Presse, mit
großem Beifall begrüßt, und die Entscheidung des Königs in dieser bedenklichen
Krisis konnte die Anhänglichkeit an den Monarchen und seine Dynastie nur
steigern und befestigen.
Die Session ist seit mehreren Wochen eröffnet und bis jetzt hat eine com-
pacte Majorität der zweiten Kammer das neue Cabinet unterstützt. Die Durch¬
führung des Ehegesetzes ist indeß im Senat ans übrigens vorauszusehende Hin¬
dernisse gestoßen; der Entwurf desselben, der schon ziemlich verstümmelt aus den
Berathungen der Commission hervorgegangen war, wurde nach lebhaften Debatten
mit 39 gegen 38 Stimmen verworfen. Dieses Ergebniß beunruhigte das Publi-
cum und veranlaßte Brofferio, den Chef der demokratischen Linken in der zweiten
Kammer, zu eiuer ziemlich scharfen Jnterpellation an das Ministerium; auf die
bestimmte Versicherung des Cvuseilpräsidculeu jedoch, daß die Regierung die
Einbringung eiues neuen Entwurfs vorbereite, ging die Versammlung zur Tages¬
ordnung über. Es erscheint »unzugänglich, daß, um dessen Annahme im Senate
zu sicher», die Krone vou der ihr zustehenden Befugniß der Ernennung neuer
Senatore» Gebrauch macheu muß, was auch zweifelsohne geschehn wird. Die
Petitionen der Municipalitäten wegen Einziehung der Kirchengüter werden vor¬
aussichtlich durch die Annahme der Tagesordnung beseitigt werden, und nur die
Stimmen der demokratischen Abgeordneten für sich gewinnen. Eine Maßregel
dieser Art wäre auch in Piemonts gegenwärtiger Lage ein eben so unkluges, als
unnützes Wagestück.
Die Berathung des Budgets in der zweiten Kammer bot die seltene Erschei¬
nung dar, die Versammlung dem Gouvernement eine Vermehrung der Bewilli-
gnügen für das Capitel der Marine gewissermaßen aufdringen zu sehen. Es
erhielt dasselbe einen Zuschuß von 100,000 Lire über die ministeriellen Veran¬
schlagungen. Andrade, für die Versorgung der Arsenale der Landarmee gleichfalls
Zuschüsse zu poliren, wurden vom Kriegsminister, wie vom Premier, als überflüssig,
mit Erfolg zurückgewiesen. Es geht daraus hervor, wie sehr die populaire
Meinung in Piemont ans ihrer Hut gegen Oestreich ist und wie man Eventuali¬
täten nicht sern glaubt, die eine Erneuerung des Kampfes mit dieser Macht
herbeiführen könnten. In Betracht der Finanzen brachte Cavvur eine Vorlage
ein, nach welcher die Regierung ermächtigt sein solle, die 2 Millionen Lire Ren¬
ten, welche von der durch das Gesetz vom 12. Juli 1850 decretirtcn Anleihe
von ü Millionen noch disponibel sind zu veräußern. Der Ministerpräsident ver¬
sicherte dabei, daß eine weitere Belastung des Staatscredits nicht nöthig sein
werde, um die Passiva der vergangene» Jahre zu decken und das Gleichgewicht
zwischen der Staatsciuuahme und Ausgabe herzustellen. Der Antrag des Cabinets
fand nur ans den beiden Extremen der Kammer Gegner; sogar der Gras Nevel,
welcher die finanzielle Autorität der Rechten ist, befürwortete ihn und die über¬
wiegende Mehrheit vou !>0 gegen 27 Stimwen bewilligte am 13. Januar die
vou der Regierung verlangte Autorisation, der auch die Zustimmung des Senates
nicht entstehen dürfte.
Die constitutionelle Regierung Sardiniens gewährt den aus den despotisch
beherrschten Staaten des übrigen Italiens vertriebenen Liberalen eine Zufluchts¬
stätte, und macht Turm hierdurch zu dem Mittelpunkt eines geistigen Lebens, das
die edelsten Kräfte der Halbinsel in sich vereinigt. So verweilt Mamiani, nach
Rossi's Tode eine Zeit lang Mitglied der römischen Regierung, ehe Mazzini deren
Politik in die Bahn verderblicher Uebertreibungen stürzte, jetzt in Piemont
und Scialvia, früher einer der constitutionellen Minister des Königs von Neapel,
und jetzt in jenem Laude verurtheilt und geächtet, hat in diesen Tagen an der
Turiner Universität den Cursus der Nationalökonomie wieder ausgenommen, die
er schon in den Jahren 18it> und i7 daselbst lehrte und deren größter Vertreter
in Italien er seit Rossi's Tode ist. Der Ministerpräsident, wie Scialvia, ein
eifriger Anhänger des Freihandels, eröffnete vor Kurzem selbst eine im Sinne
dieser Richtung gebildete nationalökonomische Gesellschaft durch einen Vortrag.
Einen günstigen Einfluß auf die piemontesischen Zustände wird der jüngst
in England eingetretene Ministerwcchsel haben. Zwischen die feindselige Politik
Oestreichs und Rom's und die sehr gefährliche Nachbarschaft des srauzöstschen
Kaiserreichs gestellt, muß Piemont in der thätigen Unterstützung Englands seinen
Halt suchen. Die Principien des Derby'schen Cabinets, noch mehr aber die
glänzende Unfähigkeit Lord Malmesbury'S waren indeß nicht geeignet, ihm die¬
selbe zu gewähren. Die gegenwärtige, whig-peelitische Verwaltung dagegen wird
gewiß diesen wichtigen Punkt der britischen Politik sehr ernstlich im Auge behalten.
Ein schmerzliches Ereigniß hat in letzterer Zeit Piemont und ganz Italien
in tiefe Trauer versenkt und auch in weiteren Kreisen die Sympathien aller derer
gefunden, deren Herzen sich an den großen Kämpfen der Menschheit betheiligen,
der am 26. October v. I. erfolgte Tod Giobcrti's. Die Municipalität von
Turin ließ die Leiche dieses edlen Patrioten nach seiner Vaterstadt bringen und
seine feierliche Bestattung vereinigte alle großen Körperschaften des Staates, die
Nationalgarde und die zahlreich zusammengeströmte Bevölkerung. In dem mäch¬
tigen Ausdruck der nationalen Trauer eines dankbaren Volkes verhallte der klein¬
liche Geifer, womit die Engherzigkeit unversöhnlichen Priesterhasscs selbst über
das Grab hinaus den großen Todten verfolgte.
Wir glauben, daß ein kurzer Abriß dieses der Unabhängigkeit und Freiheit
Italiens gewidmeten Lebens willkommen sein wird. Vincenzo Gioberti wurde
den !>. April 1801 in Turin geboren, als Sprößling einer durch schwere Un¬
glücksfälle herabgekommenen Kaufmannsfamilie. Von seiner Mutter erzogen,
widmete er sich nach beendigten Studien dem geistlichen Beruf und erwarb von
1823—25 nach einander in glänzenden Prüfungen die verschiedenen Grade bis
zur Ordination. Der König Victor Enianuel >. stellte ihn in seiner Capelle an
und Karl Albert ernannte ihn zum Caplan des Hofes. Um seine Unabhängigkeit
nicht Preis zu geben trat er 1833 aus dieser Stellung zurück. Der Theilnahme an
den revolutionairen Ereignissen jener Jahre beschuldigt, wurde er bald darauf
verhaftet, nach erkannter Unschuld zwar freigegeben, aber, als der Sympathie»
mit der Bewcgungspartei verdächtig, verbannt. Er kam Ende 1833 nach
Paris und erhielt ein Jahr darauf eine bescheidene Stelle in einer Privatschule
in Brüssel. Während eilf Jahren unterrichtete er hier Kinder in den Anfangs¬
gründen der Wissenschaften.
In dieser Zurückgezogenheit verfolgte er seine Studien und veröffentlichte
jene Werke, welche den Anstoß zu den Negeuerativnsbestrelmngen Italiens gaben.
Das philosophische, religiöse und politische System Givberti'ö war ganz in dem
begründet, was er als die nothwendigen Bedingungen einer Verjüngung seines
Volkes zu erkennen glaubte. Nach beiden Seiten hin stritt er deshalb gegen
die Extreme, welche in seineu Augen diese Entwickelung hemmten oder gefährdeten.
Er wollte das Papstthum wieder zu jener großen, gnclfischen Rolle des Mittel¬
alters erheben, die allerdings über Deutschland Unglück und Zersplitterung ge¬
bracht hat, der aber Italien die Jahrhunderte hohen Ruhmes und seltener Blüthe
verdankt. Er hoffte unter den italienische» Fürstenhäusern wieder jene nationale
Politik zu erwecke», die in der Versumpfung eines selbstsüchtigen Absolutismus,
der seine Erhaltung mit der Abhängigkeit von Außen erkauft, verloren gegangen
war. So sehen wir ihn nach einer Seite hin die Doctrinen der Bonald »ut
de Maistre, welche den Katholicismus mit der Despotie verbrüdern, nach der an¬
dern die Uebertreibungen Lammenais' bekämpfen, der sich in socialistische Theorien
zu verirren drohte. Er verwarf daher auch die Consegueuzen der französischen
und deutschen Schulen, welche die menschliche Bcrnunst von der Herrschaft des
kirchlichen Dogmas befreit habe». Sein ganzes Bestreben war ein politisches, ein
Bestreben, dem sein Geist eben so, wie sein Herz, gehörten; er verfolgte ein
Problem, das seine Politik verwirklichen sollte, das auf dem geistigen Gebiete
aber nicht gelöst werden kann. In seinen religiösen Anschauungen hatte er viel
Verwandtschaft mit deu Iansenistcn, wie denn auch Pascal sein Lieblingsschrift¬
steller war.
Unter seine» in Brüssel erschienenen Werken erwähnen wir die „'l'vorm ^
8ol'r»NÄturaIv (1838), I'wia'»cku/,in>no all'8tniUu ücilg, in»8vin.l (18-is), öl I'ii-
mato moralv « civile äeßMaUu,in (<8z3), dem die „?roi«Aomkva" zur zwei¬
ten Ausgabe 18/,ki folgten. Ferner das Buch >,<Jot lZnuno." Im ?rimlilo
stellte er als sein Programm auf: „Italien bedarf eines Bundes seiner Staaten;
für diese Staaten Reformen; für diesen Bund einen geistlichen Chef: den Pabst;
einen militärischen: deu König von Sardinien, den Hüter der Alpen; eine Haupt¬
stadt: Rom; einen Waffenplatz: Turin; und vor Allen bedarf es für die italieni-
schen Fürsten des Gefühls der Nationalität, für die vom Ausland beherrschten
Provinzen des Beispiels vereinigter Kräfte, der Geduld und der Zeit."
Das Geschick schien den großen Plan einer friedlichen Verjüngung Italiens,
den Gioberti hegte, zu begünstigen. Auf den strengen, jeder Reform abgeneigten
Gregor XVl., der übrigens merkwürdiger Weise den bei ihm verklagten Schriften
Givberti'S, statt sie zu verdammen, Lob gespendet hatte, folgte 1846 Pius IX.
und begann zum Erstaunen der Welt jene liberale Mission, der eine so traurige
Umkehr folgen sollte. Carl Albert verließ das System der Unterdrückung und
Unterordnung an Oesterreich und schloß sich mehr und mehr den neuen Ideen an.
Eine Entzündung der Geister sür Givberti'ö Politik, durch die hinreißende Macht
seiner Schriften angeregt, verbreitete sich dnrch die Nation und gewann ihre
edelsten Kräfte. Sogar die Jesuiten zeigten sich, angezogen dnrch den Salz von
der weltlichen Herrschaft der Kirche, Gioberti geneigt, eine Freundschaft, die
dieser jedoch dnrch sein Werk über den „modernen Jesuiten" (18/i7) energisch
zurückwies, und der dieser berühmten Schrift und der späteren Ereignisse wegen
der bitterste Haß seitens des mächtigen Ordens folgte.
Doch der Gang jener friedlichen, von so vielen Hoffnungen getragenen
Bewegung sollte durch furchtbare Katastrophen in wilde Kämpfe gestürzt, dnrch
schreckliche Unfälle unterbrochen werden. Das grausame Willkürregiment der
neapolitanischen Regierung rief die Aufstände von Palermo und Neapel hervor,
welche nun die regelmäßigeren Fortschritte in Mittel- und Oberitalien fast zu hastig
vorwärts drängten. In diese schon sehr gespannte Lage schlug der gewaltige
Anstoß der Februarrevolution, der die Erhebung der Lombardei und den Krieg
zwischen Piemont und Oesterreich zur unmittelbaren Folge hatte.
Gioberti, der seit 1866 schon den A»se»ehalt in Brüssel mit dem in Paris
vertauscht hatte, verließ letzteres am 26. April 18i8 und wurde in Turin mit
beispielloser Begeisterung empfangen. Karl Albert ernannte ihn zum Senator
(bekanntlich war am 8. Februar das constitutionelle Statut in Piemont ertheilt
worden), was er jedoch ablehnte; Turin und Genua erwählten ihn hierauf zum
Abgeordneten. Ans einer Rundreise, die er nach Mailand, dem piemontesischen
Hauptquartier, «ach Parma, Genua, Livorno, Florenz und Rom machte, begrüßte
ihn überall derselbe Enthusiasmus. Der Papst überhäufte ihn mit Beweisen
seines Vertrauens und seiner Zuneigung. Givbcrti's Bestreben war, da der
Kampf nun doch einmal ausgebrochen, die Einigkeit aller Kräfte für die Unab¬
hängigkeit Italiens zu erhalten. Bei seiner Rückkehr nach Turin wählte ihn die
Deputirtenkammer mit Acclamation zu ihrem Präsidenten; im Juli trat er in
das Ministerium Colleguo, das, nach der Niederlage von Custozza, am 16. Ang.
sich zurückzog.
Dem hierauf.folgenden Ministerium Nevel, machte Gioberti die heftigste
Opposition; er hielt dafür, daß die Tendenzen desselben mehr das Sonderinteresse
Piemonts, als das allgemeine von Italien im Auge» hätten. Er fand dabei
die kräftigste Unterstützung der demokratischen Partei, deren Uebertreibungen
später seinen Sturz und die Niederlage der nationalen Sache herbeiführten. Auch
Nevel gab bald seine Demission und am 16. December ernannte der König Gioberti
zum Präsidenten des Conseils und Minister des Auswärtigen; seine erste Hand¬
lung war die Auflösung der Kammern. In den darauf folgenden Wahlen ward
er in zehn Bezirken zum Abgeordneten erwählt. Doch die Täuschungen, die er
in Betreff seiner Popularität in Folge dessen wol fasse» durfte, sollte» bald zer¬
rinnen. Piemont und Italien sahen sich damals durch die unverständige, republi¬
kanische Schilderhebnng in Rom und Florenz i» die schwierigste Lage versetzt;
Gioberti beabsichtigte eine militairische Intervention Piemonts, welche dem ver¬
derblichen Einschreite» Oestreichs u»d Frankreichs vorgebeugt, die liberalen In¬
stitutionen jener Staate» gerettet u»d zugleich die Erneuerung des Krieges gegen
Oestreich, ans welche die Demokratie in Piemont hindrängte, verhindert hätte.
Der Befehl zum Einmarsch in Toscana war bereits ertheilt; da brach der Sturm
der Opposition in der Kammer gegen Gioberti los, seine eigenen Kollegen zeig¬
te» sich »»zuverlässig und er zog sich vor dieser Bewegung zurück, die er nicht
mehr bemeistern konnte. Eine Zeitung, die er sofort nach seinem Rücktritt grün¬
dete, um die demokratische Politik z» bekämpfen, lebte nicht länger, als einen
Monat. Es folgte jetzt jener unglückliche Feld,zug gegen Oestreich, der nach
wenigen Tagen mit der Schlacht von Novara und der Abdication Carl Alberto
endigte. Dessen Sohn Victor Emanuel, der nunmehr den Thron bestieg, be¬
schloß der Verfassung treu zu bleiben und bot, um dem Volke el» Pfand seiner
Aufrichtigkeit zu gebe», Gioberti den Eintritt in das Cabinet an; dieser »ahn
jedoch nur den Titel eines Ministers ohne Portefeuille an und ging schon wenige
Tage darauf als Gesandter nach Paris, wo er die Unterhandlungen über den
Frieden mit Oestreich führte. Nach der Vollendung dieser Aufgabe legte er
nach zwei Monaten schon seinen Posten nieder, blieb indeß in Paris nud zog
sich wiederum in das stille Leben seiner Studien zurück. Wie tief verbittert die
edle Seele dieses Maunes durch deu Unverstand und die Parteisucht derer war,
welche seine Politik und die Hoffnungen Italiens zum Scheitern brachten, geht
aus den Worten hervor, welche er niederschrieb: „Ich fiel und mit mir siel die
Verjüngung Italiens, die ich begönne»; dies bringt mir so viel Ehre, daß ich
mein Loos nicht vertauschen möchte gegen das des glücklichsten meiner Gegner."
Im Jahre 18S0 gab Massari Givberti's Korrespondenz nud politische Reden
heraus. Er selbst veröffentlichte 1831 das Wert „it Munovumvnto civile (in^I'
Antoni." Als der Tod ihn ereilte war er mit neuen wissenschaftlichen Arbeite»
beschäftigt. Die „Nachahmung Jesu Christi" und die „promcssi sposi" waren
die Bücher, die man neben seinem Sterbelager ausgeschlagen fand.
So endete das Leben dieses Mannes, dessen schlichte Charaktcrgröße den
hohen Beispielen des Alterthums vergleichbar ist, ehe die niedergeworfene Sache,
für welche jeder Puls seines Herzens schlug, vou Neuem sich erheben konnte.
Sein weitblickender und unverzagter Geist aber wird über die Nacht des Un¬
glücks hinaus an der kommenden Befreiung seines Volkes sich aufgerichtet haben
und vertrauensvoll hinübergegangen sein.
Eine Uneigennützigkeit ohne Gleichen stand seinem hingebenden Patriotismus
zur Seite. Angewiesen auf deu Ertrag seiner Feder wies er eine Pension zurück,
die ihm Carl Albert uach dem Erscheinen seines „l'riuruto" antragen ließ.
Als Minister schickte er seinen Gehalt dem damals im Kampf begriffenen Venedig.
Nach seinem Austritt lehnte er Pension nud Ordensverleihung ab. Zu seinem
Beruf als Schriftsteller zurückgekehrt, beharrte er darauf, seinen Freunden eine
bescheidene Unterstützung zurückzuerstatten, die sie 1847 für ihn unterzeichnet
hatten, damit sein dem Vaterlande gewidmetes Leben jeder niedern Sorge über¬
hoben sein möge.
Seine Werte, die Gregor XVI. zum Theil wenigstens gebilligt und Pius IX.
bewundert hatte, sind jetzt alle auf den Index der von der Curie verbotenen
Bücher gesetzt.
Die socialistischen Tendenzen der Februarrevolution blieben nicht ohne Einfluß
auf die Colonisation Algiers,'und als vollends der Junianfstand gezeigt hatte,
welche Gefahr der Staat durch die Masse der brodlosen Arbeiter lief, beschloß mau,
einen großartigen Versuch zu machen, sich ihrer durch eine Uebersiedelung nach
Afrika zu entledigen. Im August 1858 legte daher die Negierung der National¬
versammlung ein Gesetz über die Errichtung vou Ackerbancolvnicn in Algerien vor,
und verlangte dafür einen Credit von 30 Mill. Fras. Die Nationalversammlung
genehmigte das Gesetz, und ungefähr 13,!;0U Auswanderer sollten sich ans Staats¬
unkosten in Algerien in 52 Colonien ansiedeln, vou denen 12 auf die Provinz
Algier, 9 auf Konstantine und 21 ans Oran kamen. Jeder Kolonist erhielt ein
Stück Land von 2—10 Hectarcn, mit einem Wohnhaus, Ackerwerkzeug, Säme¬
reien, Vieh und eine tägliche Ration Lebensmittel, bis er sich von den Produkten
seines Stück Landes ernähren konnte. Ende 18ö1 sollten jedoch alle diese Sub¬
ventionen aufhören, und die Kolonien, die anfangs unter der Militairantorität
standen, sollten unter die Civilverwaltnng gestellt werden. Leider wurde dieser
an sich recht gute Plan, wenn mau einmal die Einmischung des Staates in die
Colonisation für wünschenswert!) anerkennen will, sehr mangelhaft ausgeführt.
Der Hauptfehler war, daß man die Mehrzahl der Kolonisten unter den unbeschäf¬
tigten Arbeitern von Paris wählte, und deshalb meistens Leute bekam, denen
sowol die körperliche Kraft, wie die Kenntnisse, die zum Ackerbau nöthig sind,
gänzlich fehlten. Ferner mußte nothwendiger Weise den Gesellschaften, denen büreau-
kratische Laune die einzelnen Mitglieder zuweist, jene Harmonie sehlen, die sich
von selbst einstellt, wo sich Ansiedler freiwillig zusammenfinden. Manchmal war
auch die Wahl der Oertlichkeit nicht günstig, denn den neuen Kolonien fehlte eS
zuweilen an Absatzwegen, oder sie hatten eine ungesunde Lage. So kam es, daß
sie anfangs gar uicht in Blüthe kommen wollten, bis die zum Ackerbau untüchtige
Bevölkerung, die zum Theil uach Frankreich zurückkehrte, zum Theil in die Städte
zog, von wirklichen Landleuten und verabschiedeten Soldaten ersetzt wurde, neue
Straßen die Ansiedelungen besser als früher mit den nahen Märkten in
Verbindung brachten, und die Fortschritte der Cultur und Eutwässeruugsarbeiten
einen besser» Gesundheitszustand zur Folge hatten. Von da an wurden
mehrere derselben zu den blühendsten Niederlassungen Algeriens, und der Erfolg
ermuthigte das Kriegsministerium, im nächsten Jahre 12 neue Dörfer mit 6000
Kolonisten zu gründen. Man trug aber Sorge, diesmal nur des Ackerbaues
kundige Personen zu wählen, und noch dazu so viel als möglich aus einer Nach-
barschaft oder einem Departement, so daß schon persönliche Beziehung,! zwischen
ihnen bestanden. Auch erhielt jede Familie blos ein Hans »ut 8—10 Hektaren
Land. Dieses neue System hat im Ganzen gute Folgen gehabt, denn Ende 1830
besaßen die in den Ackcrbancolonien der Provinz Algier angesiedelten 1033 Familien
2009 Stück Vieh und 9383 Stück Ackerwerkzeuge, und hatten 3373 Hectaren
umgebrochen, 309/i- eingesäet und 173,762 Bäume gepflanzt. Auch die Privat-
cvlvnisation machte Fortschritte, und namentlich dehnte» sich die Ansiedelungen ans
das linke Ufer des Aradsch aus. Leider brach auch in diesem Jahre die Cholera
ans und richtete große Verwüstungen an, so daß die europäische Bevölkerung,
anstatt zuzunehmen, ans 112,607 Köpfe (um 219i Personen) sank. Im folgenden
Jahre, als die Seuche aufgehört hatte, hob sie sich dafür ans 123,963 Einwohner.
Aber die Fortschritte der Colonie bestanden in diesem Jahre weniger in
der sichtbaren Zunahme der Bevölkerung, als in der stetigen und sichern
Entwickelung der Bodencultur. Zum Theil theuer bezahlte Erfahrungen und
zahlreiche Versuche in öffentlichen und Privatanstalten waren die Schule, in der
sich die Kolonisten heranbilden koanten. Ein rationelles Bewirthschaftssystem
griff immer mehr um sich; man nahm bei der Bebauung des Bodens mehr auf
seine Beschaffenheit und ans das Klima Rücksicht; die Bauerhöfe füllte» sich
mit Vieh, bessere Ackerwerkzeuge u»d i» größerer Anzahl wurden eingeführt,
der Boden wurde sorgfältiger bebaut, und alle Hilfsquellen des Bodens ver¬
ständiger als früher benutzt. Zu de» blühenden Niederlassungen sind zu zählen
Cheragas, wo die ans dem Vardepartcment stammenden Colonisten den Ban
wohlriechender Pflanzen betreiben und sich mit der Bereitung ätherischer Oele
beschäftigen; Alet Fayet, wo der große und der kleine Grundbesitz sich gegenseitig
unterstüizen, der erstere durch seine Capitalien, der andere dnrch die Handarbeit,
mit der er den ihm gewordenen Beistand bezahlt; Baba-Hassan, wo man Getreide,
den Oelbaum, die Rede, Tabak baut, und eine bedeutende Heerde befahl;
Coleah, das sich von den Verwüstungen der Cholera vollständig erholt hat;
Bnsfarik, das in Folge der Trockenlegungen »ut Pflanzungen weit gesünder ist
als früher. Schone und zahlreiche Gebände, fleißig cultivirte Felder und aus-
gedehnte Anlage» spreche» vou dem Wohlstand der Colonisten; 19 Einzelhöfe
befinden sich i» der Umgegend und fast alles zur Ansiedelung gehörige Land ist um-
gebrochen. Die ackerbauende Bevölkerung der Provinz Algier betrug 1831 13,679
Köpfe, die 7976 Hectaren bebauten, und 19,743 Stück Vieh (darunter 3400
Stuck Rindvieh und 7000 Stück Schafe) besaßen. Die ackerbauende Bevölkerung
der Provinz Konstantine bestand ans 3i3i Einwohnern mit 3823 Hand. Feld
n. s. w., und 11,333 Stück Vieh. In der Provinz Oran war die ackerbauende
Bevölkerung i780 Manu stark, bebaute 10,729 Hcetaren und besaß 11,268 Stück
Vieh. Stadt und Land zusammengerechnet betrug die Civilbevölkerung Mitte
1832 131,738 Personen, wovon ans die Provinz Algier 37,081, ans Oran
40,820, auf Konstantine 27,867.,kamen. Nur die Hälfte davon, 06,373, waren
Franzosen; von den übrigen waren i 1,738 Spanier, 737i Italiener, 7323
Malteser, 39!18 Deutsche, 1V38 Schweizer u. s. w.
Uebersieht man genauer die BevölkernngSlistcn der einzelnen Provinzen von
Jahr zu Jahr, so kommt man zu dem merkwürdigen Resultate, daß seit fünf
Jahre» die Provinz Algier ein Viertel ihrer Bewohner verloren hat, während
Oran um fast die Hälfte, und Konstantine um mehr als die Hälfte zugenommen
hat. Diese Erscheinung läßt sich jedoch leicht erklären. So lange der Krieg
und ein falsches System die beiden Provinzen Oran und Constantine der euro¬
päischen Einwanderung fast verschloß, wandte sich die bei weitem größte Mehrzahl
der ankommenden Europäer nach Algier; übrigens war die Metidschah auch fast
das einzige, was man in Frankreich von Algerien kannte. Aber von dem Augen¬
blicke an, wo die Ruhe wieder hergestellt, der Friede gesichert und die Interessen
gewährleistet waren; von dem Augenblick an, wo man die natürlichen Hilfsquellen
der beiden Provinzen des Ostens und des Westens zu würdigen wußte, und erkannte,
daß die Thäler Algeriens ebenso fruchtbar waren, als die Metidschah; von dem
Augenblick an, wo die gesetzlichen Schranken fielen, welche die Europäer bisher von
diesen beiden Provinzen fern gehalten, fehlte es nicht an Kolonisten, und namentlich
Spanien lieferte wegen der geringen Entfernung seiner Küste ein starkes Contin-
gent Einwanderer, die wegen ihrer Mäßigkeit, Arbeitskraft und Thätigkeit, und
ihrer Vertrautheit mit mehreren der in Algerien üblichen Eulturarteu ein außer¬
ordentlich schälcharer Zuwachs der Bevölkerung sind. Auch die finanzielle
Krisis, die Algier besonders schwer traf, weil dort die Agiotage am ärgsten
herrschte, hat nicht wenig dazu beigetragen, die Bevölkerung einer Provinz zu
vermindern, deren Wohlstand in Folge der Speculation zum großen Theil nnr
künstlich war.
Die natürlichen Hilfsquellen Algeriens siud bei weitem noch nicht so ent¬
wickelt als sie es verdienten. Der fruchtbare Boden und das glückliche Klima
befördern das Gedeihen der Naturproducte der gemäßigten und tropischen Zone,
und die Producte Ostindiens und Südamerikas, Gewürze, Cochenille, Indigo,
würden sich im Süden, in der Nachbarschaft der Sahara eben so gut cultiviren
lassen, wie mehr im Norden Weizen und Mais, und die Producte, welche
Spanien, Italien und Südfrankreich nach dem Norden ausführt. In Algier
erbaute Baumwolle hat in Liverpool großen Beifall gefunden, die Seide bildet
schon einen Ausfuhrartikel, der Cochcnillceactus wird mit Erfolg cultivirt, und
der Krapp aus Algier ist 23 Procent reicher an Farbestoff als der von Cypern,
und um die Hälfte billiger. Um Medcah und Milianah hat man einen Wein zu
bauen angefangen, der in seinen Eigenschaften den guten Gewächsen Frankreichs
gleicht. Auch die Rosinen stehen an Qualität denen von Malaga nicht nach.
Es werden jedoch noch mehrere Jahre vergehen, ehe diese Producte eine
erhebliche Ziffer in der Aussnhrliste Algeriens zeigen. Viel wichtiger sind jetzt
die Erzeugnisse der zahlreichen Heerden, die ans den schönen natürlichen Wiesen,
welche unmittelbar nach den Nvvcmbcrrcgen sich mit aromatischen Kräutern bedecken,
und die Ebenen und Abhänge schmücken, eine reichliche und gesunde Nahrung
finden. In der Ansfnhrliste von 1848 figuriren die rohen Häute mit
1,261,000 Fras., Schafwolle mit 700,00», Knochen, Hufe und Hörner mit
133,000, Talg mit 107,000 Fras. Die Schafwolle rührt hauptsächlich von den
Heerden der im Süden Algeriens nomadisirenden Stämme her, ist aber an
Quantität und Qualität uoch nicht wieder zu dem geworden, was sie vor der
Occupation der Regentschaft war. Während der langen Kriege und ans den
vielen formten Märschen, welche die von den Franzosen verfolgten Stämme
machen mußten, war eine Unmasse Schafe vor Hunger, Ermattung, Kälte oder
Durst umgekommen, und die Race hat sich natürlich unter so ungünstigen Um¬
ständen nur verschlechtern können. Dennoch erkennt man uoch bei dieser Vernach¬
lässigung, welch gute Wolle die nordafnkanischen Schase bei einiger Pflege er¬
zeugen könnten. Ans dem Markt in Konstantine kostete die Wolle (ungewaschen)
ans dem Innern im April v. I. im Durchschnitt 30 Fras. die 30 .Kilogramms,
und 1831 wurden 2,742,000 Kilogr. aus Algerien ausgeführt. Den Haupt-
ansfnhrartikel bildet aber bis jetzt das Olivenöl, von dem das Kabylenland jährlich
circa 3^ Mill. Litrcö producirt. Sein Hauptabsatz geht über Bndschiah, wo
die Kabylcn täglich im Durchschnitt 10,000 Litres hereinbringen. Die Gesammt-
ansfuhr belief sich im Jahr 1831 auf 6,330,000 Kilogramme. In der Regent¬
schaft nehmen die Olivenwälder einen Flächenraum von 23,000 Hectaren ein,
und das Oel, das man nach dem Pfropfen der Bäume gewinnt, ist von sehr vor¬
züglicher Qualität.
Von besonderer Wichtigkeit für die Kolonie verspricht der Tabak zu werden.
Seine Production hat sich von 1844 bis 1830 vou 23,469 aus 261,166 Kilogr.,
die die Regie den Colonisten für 204,703 Fras. abgekauft hat, vermehrt. Die
ganze Ernte betrug im Jahre 1830 320,000 Kilogr., und 1831 wird sie mindestens
auf 730,000 Kilogr. angeschlagen. Ein anderes Product ans dem Pflanzen¬
reiche, welches Algerien sehr reichlich liefern kann, ist die Korkrinde, obgleich wir
dasselbe nicht in der Ansfnhrliste angeführt finden. Die Regentschaft besitzt nicht
weniger als 23 blos aus Korkeichen bestehende Wälder, von einem Flächenraum
von 36,700 Hectaren; die Mehrzahl davon liegt in der Provinz Constantine.
Seit dem Zvllgcsetz von 1831, das die Noherzcuguisse Algeriens denen
Frankreichs gleichstellt, finden die Gartenprodncte Algeriens einen lohnenden Markt
in Frankreich. Jedes nach Marseille segelnde Schiff nimmt Ladungen von Ge¬
müse, Orangen und selbst Blumen mit. Ein einziges Paketbovt lud einmal
17,000 Artischocken. Grüne Erbsen hat man schon Ende December, und ver¬
kauft sie an Gourmands in Lyon, Marseille und Paris, und Blumen gehen
lange bevor die Gärten um Paris wieder ihr buntes Kleid anziehen, über das
mittelländische Meer hinüber.
Die Regierung thut sehr viel zur Förderung der Ackerbau- und Garten¬
industrie. Um die Kolonisten mit allen Pflanzen und Sämereien zu billigen
Preisen zu versehen, hat sie -is Mustergärten (!> in jeder Provinz) angelegt, von
denen der zu Algier allein 730,000 Bänme und mehr als 337,000 junge Pflanzen
enthält. Während der Saison von -1830—3-1 vertheilten diese -13 Gärten
62!i,776 Bäumchen, 303,8-13 krautartige Pflanzen, und -14,403 Kilogramms
Sämereien zu ziemlich einem Drittel des Werthes, den sie im Handel haben. Auch
laust sie den Kolonisten die erbaute Baumwolle und Cochenille ab, und versieht
sie gratis mit Sämereien der besten, modernen Baumwvllcusvrtcn, mit CactnSangen
und Cvchenillemütteru. Die weitläufigen von der Regierung angelegten Eut-
wäfscruugs- und Bewässerungsaustalte», die fast 3^ Mill, Fras. gekostet haben,
gehören ebenfalls Hieher.
Die mineralischen Reichthümer der Kolonie sind uicht unbedeutend, und
nur der geringste Theil derselben wird benutzt. In der Provinz Algier war
zu vier Eisen- und Kupfergruben, denen zu Muzaja, Wed-Allalah, Wed-Taffiley
und Cap Teiles Concession ertheilt, und mehrere Schürfscheinc waren ausgegeben.
In der Provinz Konstantine, wo sich mächtige Eiseuvxydlager und reiche Bleierze
vorfinden, waren fünf Gruben concessionirt, aber nur eine bebaut worden. In
der Provinz Constantine kennt man Lager von Eisen, Blei, Kupfer und Stein¬
kohle, aber es ist noch keine Concession ertheilt. Die Exportation von Eisenerzen
war -183-1 -180,000 K., von Kupfererzen -1,0-18,000 von Spießglanz, silberhaltige»
Blei -1,377,000 Kilogr.
Das sind die Hauptausfuhrartikel. Die Einfuhr bestand in den ersten 6 Monaten
-I83-I ans -192,832 K.> gesalzenen Fleisch; 363,000 K. Schmeer; 3-1,000 K.
Käse; 6-10,000 K. Butter; 143,000 K. getrocknete und gesalzene Fische, frisches
oder trocknes Obst 73-1,000 K.; roher Zucker 129,000 K.; Kaffee 393,000 K.;
Blättertabak 29-1,000 K.; Tafelöl 244,000 K.; Lein- und Hanföl 297,000 K.;
Bauholz 476,000 Metres; Steinkohlen 8700 Tonnen; Seife 603,000 K.; Raff.
Zucker, -1,343,000 K.; Wein -17,-1-13,000 Litreö; Branntwein -172,700 Litr.
Spiritus 837,000 Litr.; Stoffe ans Baumwolle, Wolle, Seide, Flachs 8 Mill.
Fras. Zubereitete und bearbeitete Häute für 386,000 Fres. :c. Daß land-
wirthschaftliche Producte, wie Fleisch, Talg, Butter, Spiritus :c. eine so große
Rolle in diesen Einführe» in einer hauptsächlich auf die Agricultur angewiesenen
Kolonie spielen, erklärt sich aus dem merkwürdig geringen Viehstand der Kolo¬
nisten, indem z. B. in der Provinz Oran, die in dieser Hinsicht das günstigste
Verhältniß darbietet, auf 4740 Landbewohner, also etwa -1200 Wirthschaften
nicht mehr als -1-1,268 Stuck Bich kommen, von denen nur -1979 Stück Rindvieh.
Die circa -130,000 Einwohner europäischer Abkunft stehen jeizt größtentheils
unter Civilvcrwaltung, deren Formen den französischen nachgebildet sind. In
den Gegenden aber, wo sich die Civilbevölkeruug nur mit Mißtrauen hinwagt,
mußte man vor der Bebauung des Landes auf die Vertheidigung desselben sehen.
In diesem Nayon, der die äußere Zone bildet, findet man keine Dörfer, sondern
Städte, und anstatt der niedrigen Mauern der Dörfer in Säbel n»d der Metidschah
unischließcu mächtige Fortisicationen die Ansiedelungen. Diese beherrschen die
ganze Umgegend, und sind mehr nach strategischen Rücksichten, als zum Zweck
der Bodeucultur angelegt. So hält Orleauöville die früher so unruhigen Stämme
der Nachbarschaft im Zaume; Anmale n»d Dellys blockiren Großkabylieu, nud
Boghar und Teuict el Haab vertheidigen die vorgeschobenen Posten im Süden.
Die Bevölkerung dieser Orte ist natürlich nicht rein militärisch; denn außer der
mit der Lieferung der Bedürfnisse sür die Armee beschäftigten Industrie folgen
auch Speculanten mancherlei Art den Truppen, aber nur langsam verlassen sie die
Stadt, um sich mit Agricultur zu beschäftigen. Wenn man in der Nähe dieser
Städte bebautes Land erblickt, so ist eS meistens von Soldaten bewirthschaftet
worden. Die Verwaltungsbehörde der Niederlassungen in diesem Gebiet besteht
aus dem Obercommandanten, dem Intendanten oder einem Unterintendanten,
ans Ä Stabsoffizieren oder wenigstens Hauptleuten, von denen einer Ingenieur
sein muß, einem Militärarzt und einem Steucrbcamten. Es läßt sich leicht
denke», daß eine derartige Verwaltung sich nicht viel um die Kolonisation küm¬
mern wird.
Die einheimische Bevölkerung Algeriens zählt etwa 3,000,000 Köpfe, wo¬
runter -I Mill. Kabylen, 1,86ö,6S2 Araber, 100,000 Mauren, 30,000 Juden,
und etwa i000 Neger. Lange hat man herumgctastet, wie man die Beziehungen
der Araber zur französischen Verwaltung regeln sollte, und endlich ein System
gefunden, das eben so einfach wie den Sitten der Bevölkerung angemessen ist.
Der Duar oder die in einem Kreise aufgestellten Zelte bilden die Grundlagen des
Systems. Der Duar ist gewissermaßen die Gemeinde, und mehrere bilden eine
Jerta, eine Art Arrondissement, uuter dem Befehle eines Scheiks. Obgleich
manchmal eine Ferla, wo sie groß ist, für sich allein einen Stamm bildet, so
besteht doch meistens ein Stamm aus mehreren Ferka's und hat einen Kalb über
sich. Mehre unter sich verbundene Stämme bilden eine Groß-Kalb »meer einem
Kalb-el-Kiad oder ein Aghalik unter einem Aga. Endlich können mehrere Aghaliks
uuter einem Oberaga (Bach-agha) oder einem Kaufa, ein den französischen Mi-
litaircommandobezirken ähnliche Gesammtheit, bilden. Die Bureaux arabes bilden
das Verbindungsglied zwischen diesen Körperschaften und der französischen Ver¬
waltung. Neben jeden mit der Regierung eines von Eingebornen bewohnten
Bezirks beauftragten Militaircommandautcn besteht ein arabisches Bureau, das
unter unmittelbarer Leitung der Militairantorität die eingebornen Häuptlinge zu
überwachen hat. Die arabischen Bureaux, aus Officiere», welche die Sprachen
und die Sitten der Stämme kennen, zusammengesetzt, bilden eine einsichtige
Vermittlungsinstanz, welche zugleich die französische Verwaltung aufzuklären und
die einheimische zu leiten hat; sie verhindern Conflicte, die ohne ihr Vorhanden¬
sein gar nicht aufhören würden, und siud ein Verbindungsglied zwischen zwei
Civilisationen, deren Annäherung sie für die Zukunft möglich machen.,
Ende -18?>0 befanden sich in der Provinz Algier 290 Stämme zu 900,000 Seelen.
Von diesen werden 47ö direct von dem Commandanten des Bezirks im Verein mit
den arabischen Bureaus geleitet; 3!i bilden Unterabtheilungen von große» Distric-
ten, deren einheimische Häuptlinge zwar unter den arbischen Bureaus stehen, aber
ziemlich ausgedehnte Rechte haben; l>2 Stämme sind von großen arabischen Häupt¬
lingen befehligt, die zu der französischen Regierung in einer Art Vasallenverhält¬
niß stehen, und sich einer Art administrativer Unabhängigkeit erfreue». Die Pro¬
vinz Orau besitzt 600,000 Eimvvhiier vo» 27ö Stämmen, wovon 202 direct, 43 von
den Bureaus und deu Häuptlingen, und 28 von den Häuptlingen allein regiert
werden. Die Provinz Konstantine mit 1,300,000 Einwohner» besitzt S80 Stämme,
von de»en 2i0 der erste», 200 der zweite», und 80 der letzten Klasse angehöre».
Eine gewisse Anzahl Stämme ist noch uicht unterworfen; mau zählt deren 28
in der Provinz Algier und 60 in Constantine.
Die Verwaltung der Stämme durch die Eingeborenen und die arabischen
Bureaus hat auch noch den Vortheil, daß sie wenig kostspielig ist Die Be¬
soldung der arabischen Häuptlinge kostet ungefähr 300,000 Frs. Die Steuern
der Eingebornen sind in dem Einuahmcbudget vou 1830 mit i,i89,3i7 Frs.
c. angeführt. Die unterworfenen Stämme bilde» außerdem eine nicht zu ver¬
achtende irregnlaire Hilfsmacht im Kriege, und liefern außerdem im Kriegsfall
»och Ü000 Führer.
Loblieder Weise versucht die französische Regierung die arabische Bcvölt'erung
durch die Macht der geistigen Bildung an sich zu fesseln. Seit 18S0 sind fran-
zösisch-muhamedanische Kinderschulcu, und höhere muhamedanische Schule» ein¬
gerichtet. Der letzteren, Mcdressa genannt, giebt es drei in Mcdcah, Tlcmecc» und
Constantine; sic sollen Richter und Lehrer für die einheimische Bevölkerung bilden.
In Algier hat Frau Alex sogar eine Schule für muhamedanische Frauen gestiftet,
die gegenwärtig 12ki Schülerinnen zählt. Aus die muhamedanische Bevölkerung
der Städte hat die Anwesenheit der Franzosen schon längst civilisireud gewirkt,
aber auch die nvmadisirende Bevölkerung des flachen Landes unterliegt allmählich
dem Einfluß der Cultur. Seit der Araber uicht mehr in der Unruhe des be¬
ständigen Krieges lebt, hat er deu Werth festerer Wohnsitze kennen gelernt, und
fängt an, dem Zelte das Haus vorzuziehen. Alles deutet daraus hiu, daß sich
der Uebergang aus dem Nomadenleben in das Ansiedlcrlcben vorbereitet. Euro¬
päische Zimmerleute und Maurer werden von den Arabern gesucht, um Wohnhäuser,
Mühlen, Kalt-, und Ziegelöfen, Wasserleitungen zu bauen, und allein in der Abthei-
l»»g Milianah waren im Juni 18L2 32 Häuser im Bau. Andere Stamme haben
spanische oder französische Gärtner in Dienste genommen, um von ihnen den Obst-
nnd Weinbau zu lernen; auch die Kartoffel, welche die Araber vor einigen Jahren
kaum kannten, wird cultivirt. Der Werth der im Jahre 18!>1 von den Arabern
der Provinz Constantine aufgeführten Bauten belief sich auf nicht weniger als
ans M'it. Fras. wovon l'/s Mill. auf Privatbanken kommen. Diese feste
Ansiedlung ist die beste Bürgschaft für eine dauernde Ruhe der Kolonie».
Eine zuverlässige Zusammenstellung derjenigen Ortschaften, i» denen die
Gemeindeordnung vo» 18ü0 bereits durchgeführt war, als die Ordre, v. 1!>.Juni
18ki2 ihre weitere Ausführung sistirte, würde zu interessanten Betrachtungen über
die Zwecke, welche die Regierung hier dnrch ihr Eilen, dort durch ihr Zögern
bei Ausführung des Gesetzes innerhalb eines zweijährigen Zeitraums verfolgt Hai,
Veranlassung geben. Uns liegen indeß nur die dürftigen Notizen vorj, welche
der Minister des Innern, vier Monate vor der Sistirnngövrdre, der erste»
Kammer mittheilte. Nach ihnen war die Ausführung des Gesetzes damals in
den beiden westlichen Provinzen am weitesten vorgeschritten; im Reg.-Bez. Münster
wurden bereits alle Gemeinde», im Reg.-Bez. Aachen alle mit einer einzigen
Ansnahme nach der Gen.-Ordn. v. -1830 verwaltet. Dagegen hatte sich, was
die östlichen Provinzen betrifft, nur in den Städten eine bemerkbare Thätigkeit
geltend gemacht; hier war das Gesetz in 109 Städten bereits vollständig aus¬
geführt, in 133 anderen war der Gemeinderath gewählt, so daß auch in diesen,
vier Monate später, zur Zeit des Erlasseus der Sistirnngsordrc, die Einführung
des Gesetzes beendet gewesen sein wird. Ganz kläglich muß es aber hier mit
den Landgemeinden gestanden haben, wenn der Herr Minister zum Beweise, wie
viel in zwei Jahren geschehen sei, nur den Kreis Stallnpönen, 16 Gemeinden
im Kreise Wcmzleben und !>7 im Reg.-Bez. Erfurt anführen konnte. Und
die Leistungen der Behörden scheinen in der That auf diese Resultate beschränkt
werden zu müssen; denn unter den jetzt vorgelegten Landgemeinbeordnuugcu für
die 6 östlichen Provinzen ist nnr in die sächsische die Bestimmung aufgenommen,
daß das Gesetz v. 18ö0 da, wo es eingeführt ist, aufgehoben werden soll.
In den anderen Provinzen war eine solche Bestimmung nicht erforderlich,
da das Gesetz in keiner ländlichen Gemeinde als durchgeführt erachtet werde»
konnte.
Mich aus dieser Uebersicht erhellt, daß in den östlichen Provinzen die Ge-
mcindeorganisation gerade da unterblieben war, wo sie am nothwendigsten war,
und daß hier die Ausführung des Gesetzes v. 1860 kein anderes factisches Re¬
sultat gehabt hat, als die gute alte Städteordnung in zahlreichen Orten außer
Kraft zu setzen. Wer es ert'anne hatte, daß der Geist, der dieses große Gesetz
durchweht, sich zu der Gemeindeordnung v. 1860 verhält, wie die frische freie
Bergluft zu der Atmosphäre einer Polizeistube; wer sich daran erinnerte, daß die
Städte überhaupt nur durch deu Wunsch, den zerfallenden Landgemeinden zu
einer Organisation zu verhelfen, sich bestimmen ließen, die großen Hallen der
Städteordnung mit den eingeschränkte» Mumm des neuen Gesetzes zu vertauschen;
wer nun bemerkte, daß, als über das letztere der Stab gebrochen war, die so
überaus restaurativuslustige Partei an alles Mögliche, nur nicht an die Wieder¬
herstellung der alten Städteordnung dachte: der mochte sich wol zu der Meinung
hinneigen, daß das in deu letzten zwei Jahren in Bezug auf die Städteordnung
gewonnene Resultat, wenn nicht gerade ein beabsichtigtes, so doch mindestens ein
der herrschenden Partei sehr erwünschtes war. Und diese Meinung hat in den
Ereignissen nach der Sistirnngsvrdre eine starke Stütze gewonnen. Die Ordre
v. 19. Juni18!>2 sistirt nämlich ohne Ausnahme die Ausführung des Gesetzes
überall, wo sie noch nicht beendigt war. El» Ministerialrescript v. 21. Juni
bezeichnet als das Moment, mit welchem die Ausführung als beendigt anzusehen
ist, die darüber in dem Amtsblatt erfolgte officielle Anzeige, fügt aber auffallender
Weise hinzu, daß eine solche AnttSblattöbekanutmachuug fernerhin nur mit
ministerieller Zustimmung erfolgen dürfe; woraus die Absicht hervorleuch¬
tete, mit Ausführung der Gemeindeordnung, trotz der Sistiruugsordre, dennoch
an einigen Orten vorzugehen. In der That forderte dasselbe Rescript die Re¬
gierungen zu einer Berichterstattung über diejenigen Fälle ans, wo ihrer Meinung
nach die Einführung des Gesetzes v. 18!-0 ,,i» der That bereits beendet worden
und die betreffende Bekanntmachung durch das Amtsblatt noch zulässig sei, oder
w eun sonst . . . »ach Lage einzelner Fälle besondere Anordnungen nothwendig
erscheinen." U»d diese Nichtbcachtinig der Sistirnngordre für gewisse Orte be¬
zeichnet das Rescript, mit der dem Herr» Minister des Innern eigenthümliche»
Logik, als „Ausführung" derselben. Die Folge, daß noch bis in den November
hinein in einzelnen Städten, in denen die Beseitigung der Städteordmmg sich ver¬
zögert hatte, wie in Königsberg, Tilsit, Reiße, trotz der Sistiruugsordre mit
Einführung der auf Grund der Gemeindeordnung gewählten Behörven vorgegangen
wurde. Daß die Einführung der Gemeindeordnung am 19. Juni 1832 da
„in der That bereits beendet worden," wo erst vier Monate später die betreffen¬
den Behörden in Wirksamkeit treten konnten, wird schwerlich Glauben finden.
Indeß hat die Wahl zwischen der Städte- und der Gemeindeordmuig der
Regierung doch einige Qual bereitet, und die Art und Weise, in der sich das
Gouvernement aus dem unangenehmen Dilemma herausgezogen hat, ist für un¬
sren Rechtszustand sehr charakteristisch. Nach der alten Städteordnung, welche
wahre Freiheit schaffen wollte, wurden die Wahlen dnrch das Ballvt vollzogen;
hier war also für gouvernementale Einwirkung, die sich in unsren Tagen zur
üppigsten Blüthe entwickelt hat, bei Weitem nicht der Spielraum vorhanden,
den die Gemeindeordnung mit ihrer öffentlichen Abstimmung gewährte. In Folge
dessen bestanden die alten Stadtverordnetenversammlungen in .Königsberg, Tilsit
u. a. O. fast ausschließlich ans liberalen Elementen, während die Einwirkung,
zu der die in dem neuen Gesetz angeordnete öffentliche Abstimmung herausforderte,
bei den Gemeinderathswahlen ein streng conservativeS, jedem Fortschritt ungünstiges
Ergebniß lieferte, da sich die Liberalen, die nicht vollständig unabhängig von
der Regierung waren, entweder der Wahl enthielten oder sich der vermeintlichen
Nothwendigkeit beugten. Hierin mußte das gegenwärtige Regime, das leider sehr oft
über der Frucht den Boden vergißt, aus welchem sie emporschoß, natürlich einen
großen Borzug der Gemeindeordnung erblicken. Andererseits aber bedurften nach
der Städteordnung sämmtliche Magistratnalen der Bestätigung dnrch die Regierung,
und für die Stelle eines Bürgermeisters hatten die Communen nur ein Präsen¬
tationsrecht, während uach der Gemeindeordnung nnr die Bürgermeisterwahl an
höhere Genehmigung geknüpft war. Bei der großen Selbständigkeit, welche die
Städteordnung den Communen gewährt, konnte jene einschränkende Bestimmung eher
gerechtfertigt werden, und factisch hat damals die Ausübung des Bestätigungsrechts
dnrch die Regierung keinen Anstoß erregt, da die vormärzlichen Regierungen in
anderer Weise, als die jetzige, „über den Parteien standen." Natürlich schaute
das gegenwärtige Gouvernement nach dieser Bestimmung der alte» Städteord-
nung mit besonderer Zärtlichkeit, und war anch nicht in Verlegenheit, sofort aus
dem bureaukratischen Brocken des alten und neuen Gesetzes ein dem eigenen
Geschmack zusagendes Ragout anzurichten. Am !x August, 7 Wochen nach der
Sistirungsordre, wurde die alte liberale Stadtverordnetenversammlung in Königs¬
berg außer Function gesetzt und der bei offener Abstimmung gewählte Gemeinde-
rath eingeführt, nachdem am 2i, Juli ein hierauf bezügliches Ministerialreseript
eingetroffen war, welches die Einführung des Gemcinderaths anordnete und es
nichts desto weniger als selbstverständlich bezeichnete, daß für die eintretenden
Falls zu vollziehenden Wahlen der Magistratnalen nud deren Bestätigung die
Vorschriften der Städteordnung v. 1808 maßgebend blieben, während für
die rechtliche Existenz und formale Geschästsorganisation des Gemeinderaths die
Gen.-Ordn. v. 18so die Grundlage bilde. Ein ähnliches mixtum cour^i-
turn wurde für Liegnitz nud Tilsit beliebt, vielleicht auch »och für andere Städte,
über die keine Nachrichten in die Oeffentlichkeit gedrungen sind. Wer versuche»
wollte zu bestimmen, welche Paragraphen der Gemeindeordnung in diesen Städten
giltig sind und welche nicht, würde sich bald überzeugen, daß diese Untersuchung
den Forschungen über die dunkelsten Partien der römischen Antiquitäten an
Schwierigkeit und Hoffnungslosigkeit durchaus uicht nachsteht.
So war die Lage des Cvmmnnalwesens bei Eröffnung der diesjährigen
Session, der die traurige Ausgabe bestimmt ist, uns nicht nur wieder hinter das
Jahr 1830, sondern hinter das Jahr 18V8 zurückzuwerfen. Das Ministerium
brachte zunächst Gesetzentwürfe el», welche die Gen.-Ordn, v. 18!i0 ansdrücklich
beseitigen und Art. 10!) der Verf., der die Grundzüge der künftigen Commnnal-
ordnnng feststellt, ausmerzen sollten. Nachdem so die Dämme, welche die Re¬
stauration bisher einengten, glücklich durchstochen waren, wurden wir mit einer
wahren Fluch von Entwürfen überschwemmt. Da kam eine besondere Gemeinde-
ordnung für die Rheinprovinz, 7 für die ländlichen Gemeinden in Westphalen
und den sechs östlichen Provinzen, eine für die Städte der östlichen Provinzen
mit Ausschluß Neuvorpvmmerns, eine für die Städte in Neuvorpommern, eine
für die in Westphalen; in Summa -I-I GemeiudcvrdnnngSentwürfe! Hinter diesen
stehen als zweites Treffen 8 Kreiövrdnnngcn, und als Reserve in weiterer Ferne
8 Provinzialordnnngen! Da kann man doch wol mit jenem frommen Pfarrer,
dessen Frau blos mit Drilliugeu niederkam, ausrufen: „Herr, halt ein mit Deinem
Segen!" Aber noch war deö Guten nicht genug. In diesen Entwürfe» erhält
jede Ortschaft das Recht, ihre absonderlichen Observanzen und „Eigenthümlich¬
keiten" als specielle Vervollständigung der Gen.-Ordn. auszuzeichnen, — natür¬
lich „unter Leitung des Landraths," wie ans Empfehlung der pommerschen „her¬
vorragenden Existenzen" hinzugesetzt wurde, und uuter Vorbehalt der Bestätigung
durch die Negierung; so werde» wir Gemeindeordnungen erhalten, unzählbar
wie der Wüstensand; freilich auch eben so unerquicklich und »nfrnchtbar.
Ich kaun mir die Eigenthümlichkeit des Geistes, der diese Entwürfe aussauu,
nur schwer vergegenwärtigen. Wenn dieses Königreich ein Antignitäteucabinet wäre,
wenn.es darauf ankäme, um eiues wissenschaftlichen Zweckes willen verrottete und
schädliche Einrichtungen zu conserviren, wie man noch hier und dort Elennthiere
conservirt, trotz des Schadens, den sie anrichten: so würde ich die neuen Vor¬
lagen begreife». Jetzt aber fragt man sich verwundert: was soll das Alles? was
ist damit gewonnen? was wird dadurch geschafft» oder begründet? In Bezug
ans die Städte und die westlichen Provinzen werden wir weit in die Vergangen¬
heit zurückgewiesen, indem die büreaukratische Maschinerie auf Kosten der Selbst-
ständigkeit der Gemeinden vervollständigt wird; und für das platte Land der
östlichen Provinzen ist anch nicht einmal der Versuch einer Organisation gemacht.
Hier lassen sich sämmtliche Bestimmungen in drei Kategorien zerlegen; sie
bezwecken entweder 1) das Alte zu conserviren; oder 2) die Stellung der Ritter¬
güter als „kleiner Monarchien" möglichst zu sichern; oder 3) der bureaukratischen
Einmischung möglichst freie Bahn zu öffnen. Das sind die Grundsätze, die Leben
gebären sollen!
In erster Beziehung wird ans die alte» landrechtlichen Bestimmungen zurück¬
gegangen, die, aus der Zeit der Erbnnterthänigkcit, des Gewerbczwangcs und
der Starrheit des Grundbesitzes herrührend, auf ganz andere, längst untergegan-
gene Verhältnisse berechnet waren, und die selbst ein Prvvinziallandtag mit
großer Offenherzigkeit als „theils aufgehoben, theils veraltet" bezeichnet. Nichts
desto weniger sollen sie das Fundament des Communallcbens bilden.
Es wird demgemäß die alte Dürftigkeit der Landgemeinden forterhalten, die
Zusammenlegung von Ortschaften möglichst erschwert. Selbst wo es sich nur um
die Vereinigung einzelner Grundstücke, die bisher noch keiner Gemeinde angehör¬
ten, oder solcher Grundstücke, die innerhalb eines Gemeindebezirks liegen, ohne
zu ihm zu gehören, mit einer bestehenden Gemeinde handelt, ist 1) die Ver¬
nehmung der Beteiligten, 2) die Vernehmung des Kreistags, 3) die Genehmi¬
gung des Königs (!) erforderlich. Sogar wenn die Betheiligten sich gütlich aus¬
einander setzen, bedarf ihre Uebereinkunft der Genehmigung der Regierung;
einigen sie sich nicht, so muß der Minister des Innern entscheiden. So ist bei
diesem Act jedem Rabe der großen Verwaltungsmaschine seine Function angewiesen.
In Folge dessen wird voraussichtlich die alte kraftlose Zerrissenheit ohne jede
nennenswerthe Modifikation fortdauern, ein Zustand, über den die eigenen Com-
missarien des Herrn v. Westphalen, in Bezug auf die Provinz Preußen z. B.,
Folgendes bemerkten: „Durch die im Interesse der Landcscnltnr begünstigten
Ausbaue ist die frühere Geschlossenheit der Dörfer zum großen Theil aufgehoben.
Diese örtliche Absonderung und die durch die Gcmeinheitstheilnngcn bewirkte
Aufhebung früher bestandener gemeinsamer Interessen hat die Zusammengehörigkeit
gelähmt und so gut wie vernichtet, überall aber mehr oder weniger in den
einzelnen Mitgliedern das Bestreben hervortreten lassen, M der Theilnahme an
den Commnnallasten zu entziehen, und wo irgend möglich, ans dem Gemeindc-
vcrbande ganz auszuscheiden. Hierdurch und durch die vielen Dismembrationen
ist der Gemeindeverband zerrissen und verkleinert, in Folge dessen
aber sind sowol die materiellen, als die intellectuellen'Kräfte für
eine geregelte Communalverwaltung geschwächt worden. Neben
neu entstandenen kleinen und kraftlosen sogenannten Gemeinden giebt es
eine Menge ans Theilstücken anderer Grundstücke gebildeter, theils größerer, theils
kleinerer ländlicher Besitzungen, die sich entweder anßer allem Communalverbande
befinden, oder deren Commnnalverhältnisse völlig verdunkelt sind." So die
officielle Schilderung. Wo Alles dahin drängte, ans eigenem Antriebe mit
Energie das Zerfallende wieder zusammen zu binden, erschwert man selbst die
freiwillige Uebereinkunft, indem man den ganzen Mechanismus des Bevormundungs¬
systems dazwischen stellt!
Das Leben, welches sich durch die Theilbarkeit des Grundeigenthums und
durch die Gewerbefreiheit auf dem Platten Lande entwickelt hat, wird entweder
ganz ignorirt, oder mit einer sonderbaren Ungunst behandelt. Das Gemeinde-
recht wird an den Besitz eines Wohnhauses — nnr in Preußen schlechtweg an
den eines Grundstücks — geknüpft; i» Pommern und Brandenburg haben selbst
Hausbesitzer, wenn sie nicht schon vorher das Gcmeinderccht besaßen, keinen
rechtlichen Anspruch darauf. Die zahlreichen Handwerker, die sich ans dem platten
Lande angesiedelt haben, werden, wenn sie nicht zugleich Hausbesitzer sind, als
ein Element behandelt, welches der Gesundheit des Gemeindelebens schadet; nur-
dann, wenn sie seit 3 Jahren jährlich mindestens 3 Thaler Klassensteuer — ein
Satz, der deu vorigen Kammern selbst für das städtische Bürgerrecht zu hoch
schien — entrichtet haben, kann ihnen durch den guten Willen der bevorrechteten
Grundbesitzer in dem Ortsstatnt das Gemeinderccht gewährt werden. In Pom¬
mern ist selbst dieses nicht erlaubt. Eben so wenig dürfen in den östlichen Pro¬
vinzen — mit Ausnahme Preußens — die zahlreichen Individuen, welche zwar
kein Haus besitzen, aber einige Morgen Acker- oder Gartenland erworben haben,
wenn sie nicht zugleich jenen Klassensteuersatz erreichen, ans die Gunst hoffen, zu
den Gemeindcbcralhuugen zugelassen zu werden. Wo durch den guten Willen der
bevorrechteten Grundbesitzer den nicht angesessenen, aber 3 Thaler Klassensteuer ent¬
richtenden Personen das Gcmeinderecht gewährt ist, bilden sie doch nnr eine vielfach
zurückgesetzte Klasse; in der Versammlung sämmtlicher Gemeindcberechtigten dürfen
sie nur durch Collectivstimmen vertreten werden, und diese dürfen nur eiuen in den
verschiedenen Provinzen verschiedenen, meist sehr geringen Bruchtheil der Gesammt-
zahl der Stimmen bilden. Hat die Gemeinde eine gewählte Vertretung, so ist
der Einfluß dieser Klasse natürlich noch mehr eingeschränkt. Nur in Schlesien
dürfen „sehr hoch" besteuerte Nichtangesessene in der allgemeine» Gemeinde¬
versammlung auch Virilstimmen erhalten, wie die Hausbesitzer; doch hängt es von
dem Willen der Letzteren ab, ob sie diese Rücksicht nehmen wollen.
Die nicht mit Grundbesitz angesessenen Handwerker werden, wie Sie sehen,
nach ägyptischen Begriffen als eine weniger begnadigte und zu einer traurigen
Stellung prädestinirte Klasse behandelt. Wie groß die Zahl der Handwerker ist,
die schon jetzt ans dem platten Lande wohnen, habe ich neulich hervorgehoben;
und es ist sehr merkwürdig, daß eine Tendenz, die sich ihrer Sorge für die
Eigenthümlichkeiten und realen Verhältnisse so sehr rühmt, ein sehr reales, in
Zahlen greifbares Verhältniß in einer Weise hintansetzt, für die kein besseres
Motiv ausfindig gemacht werden kann, als ein aus ganz anderen Verhältnissen
stammendes Herkommen.
Wie aiidcrs wird dagegen der Rittergutsbesitzer behandelt! Seine Besitzungen
bilden eiuen gesonderten „Gutsbezirk", für dessen Verhältnisse die Entwürfe keine
besonderen Regeln aufstellen. Sollte vielleicht ganz ausnahmsweise der Fall ein¬
treten, daß ein Rittergut oder ein Theil desselben, z. B- ein geschlossenes Wald-
grnndstück mit einer bestehenden Gemeinde vereinigt zu werden wünscht, so ist
ganz besondere Vorsorge getroffen. Da»» »ins; ein Ortsstatnt entworfen werben
- sonst ist dies dein Ermessen der Gemeinde anheim gegeben - und zwar nicht
von der Gemeinde, sondern vom Landrath; anch ist dann nicht die Bestätigung
der Regierung genügend, sondern es ist die des Ministeriums erforderlich. In
diesem Ortsstatnt muß festgesetzt werden, in welchem Verhältniß der Ritterguts¬
besitzer an den Cvmmunallasten participirt, ob ihm eine größere Stimmenzahl
oder der Vorsitz in der Gemeindeversammlung, ein erhöhtes Wahlrecht bei Wahl
der Gemeindevertretung oder eine Virilstünme in derselben beizulegen ist n, s. w.
Umfaßt das Rittergut deu dritte» Theil des gesammten zur Gemeinde gehörigen
Grundeigenthums, so hat der Besitzer i^su das Recht, den dritten Theil der
Gemeindeverordneten zu wählen. Ist es dem Rittergutsbesitzer unangenehm,
persönlich mit den Bauern zu verhandeln, so kann der Landrath sür ihn in den
OrtSstatnteu das Recht ausbedinge», daß er sich durch Pächter, Jnspectoren u. tgi.
vertreten lassen darf. Viel wichtiger aber ist es, daß über allen ländlichen Ge¬
meinden als nächste Aufsichtsbehörde die „Ortspvlizeibehörde" schwebt. Diese ist
vorläufig noch eine mystische Größe; aber wenn dieses nebelhafte Wesen Gestalt
gewinnen wird, dann wird es — das ist ziemlich sicher — wo es nnr irgend
möglich ist, in Gestalt des Rittergutsbesitzers, erscheinen.
Bei den unbedeutenden Geschäften, die in den kraftlosen Landgemeinden
vorkommen, scheint es kaum der Mühe werth, sich in sie zu mengen. Dennoch
existirt fast keine Action, die ganz ohne büreaukratische Einmischung vor sich gehen
konnte. Ortspvlizeibehörde, Landrath, Kreistag, Negierung, Oberpräsident,
Minister, — Alle sind bald hier bald dort berufen, sich in'ö Mittel zu legen.
Schon der Umstand, daß alle sür das Dorf irgend wie nennenswerthen Fragen,
z. B. ob die kleineren Grundbesitzer und die Nichtangesessenen Stimmrecht erhalten
sollen, wie viel Cvllectivstimmen man ihnen in der Gemeindeversammlung und in
der Vertretung gewähren will, in welchem Verhältniß sie an den Lasten Theil
nehmen sollen, wie überhaupt die Gemeindemitglieder in die verschiedenen Klassen
vertheilt werden sollen u. tgi., in dem Ortsstatut entschieden werden müssen,
giebt der Regierung, deren Bestätigung es unterliegt, die Entscheidung über die
Elemente des Gemeindclebens in die Hand. Auch die Frage, ob die Angelegen-
heiten der Gemeinde in der Versammlung sämmtlicher Berechtigten, oder durch
eine gewählte Vertretung berathen werden sollen, entscheidet die Regierung nach
Anhörung des Gutachtens der Kreisvertretung. Der Schulze erhält eine ver-
hältnißmäßig ausgedehnte Befugniß. Er beruht die Versammlungen, präsidire
ihnen mit vollem Stimmrecht, auch wenn er es nach seinen sonstigen Eigen¬
schaften nicht besitzt, und auch dann, wenn die Versammlung aus gewählten Ver¬
tretern besteht; er allem hat die Ausführung der Beschlüsse und kann sie bean¬
standen; er erhält für seine Mühwaltnng eine Entschädigung, die, in Ermangelung
gütlicher Einigung, durch den Landrath unter Beirath der Polizeivbrigkeit fest-
gestellt wird. Aber daß die Gemeinde den Schulzen wählt, ist nirgend
gesagt; mich die in den Entwürfen, welche den Proviuziallaudtagcu vorlagen,
enthaltene Bestimmung, daß der Landrath den Schulzen wie seine Beisitzer (die
Schössen) auf Präsentation der Gemeindeversammlnng ernannt, und
daß er, wenn er die Präscntirtcn nicht für geeignet hält, andere Personen er¬
nennen darf, fehlt in den Entwürfen, die jetzt den Kammern vorgelegt sind: der
Gemeindevorstand wird also wol schlechtweg ohne jedes Zuthun der Gemeinde
ernannt werden. So hat man die Selbständigkeit der Gemeinden gewahrt!
Schließlich mache ich noch darauf aufmerksam, daß Jude» und Dissidenten
in allen Landgemeinden der östlichen Provinzen von Commuualämtern ausgeschlossen
sind. Die Juden haben das Recht, gegen diese Bestimmung bei dem Bundes¬
tage zu reclamiren. Denn 8. 8 des Edicts vom 11. März 1812, welches, wenn
man von der Verfassung absieht, die Verhältnisse der Juden in den östlichen
Provinzen regelt, spricht ihnen die Berechtigung zu, Gemeindeämter zu verwalten,
und dieses Recht ist ihnen durch dz. 16 der deutschen Bundesacte vom 8. Juni
1818 garantirt. Hier heißt es: „Die Bundesversammlung wird in Berathung
ziehen, wie auf eine möglichst übereinstimmende Weise die bürgerlichen Verbesserungen
der Bekenner des jüdischen Glaubens in Deutschland zu bewirten seien und wie
insonderheit denselben der Genuß der bürgerlichen Rechte gegen die Uebernahme
aller Bürgerpflichten in den Bundesstaaten verschafft und gesichert werden könne.
Jedoch werden den Bekennern dieses Glaubens bis dahin die denselben von
den einzelnen Bundesstaaten bereits eingeräumten Rechte er¬
halten." Dazu gehören ohne allen Zweifel die den preußischen Juden in dem
Edict von 1812 beigelegten Rechte. Die rcvidivte Städteordnung vom 17. März
1831, welche die Juden von den Stellen eines Bürgermeisters und Oberbürger¬
meisters ausschloß, verstieß zwar gegen die Bnndcsgesetzgcbnng, war aber für
Preußen factisch ein rechtskräftiges Gesetz; dagegen ist die Ausschließung der
Juden vom Schulzenamte nnr durch ein Miuisterialrescript erfolgt (i. Mai 1833),
welches, wenn es bindend sein sollte, weder gegen den klaren Wortlaut eiues
Bundesgesetzes, noch eines preußischen verstoßen durfte. Zu Magistratsämtern ist
den Juden nie der Zutritt verweigert worden. Die Einschränkungen, welche die
alte Städteordnung bestehen ließ, sind durch den Eingang des Edicts vom
11. März 1812 aufgehoben, welcher lautet: „Wir Friedrich Wilhelm u. s. s.
haben beschlossen, den jüdischen Glaubensgenossen in Unserer Monarchie eine neue,
der allgemeinen Wohlfahrt angemessene Verfassung zu ertheilen, erklären alle
bisherige, durch das gegenwärtige Edict nicht bestätigte Gesetze und Vorschriften
für die Juden für aufgehoben." Daß die Einschränkung, welche die neuen
Gtmcindcvrdnuugöeutwürfe vorschlagen, mit der Verfassung unvereinbar ist, kann
nicht bezweifelt werden; aber sie widerspricht auch, wie bemerkt, der Bundes-
gcsetzgebuug.
Das sind die charakteristischen Bestimmungen der neuen Vorlagen für ein
Gebiet, welches den reichhaltigsten und bildsamsten Stoff für eine großartige
Schöpfung darbot. Statt zu organisiren, hat man nicht nnr die durch eine voll¬
kommene Auflösung hervorgerufene Kraftlosigkeit fortdauern lassen, sondern sogar
in die einzelnen Gemeinden selbst neue Keime der Zwietracht getragen, indem man
die natürliche Verschiedenheit in der materiellen Lage ihrer Bewohner durch ein
Kastensystem zu fixiren suchte und neben einer Minorität von Bevorrechteten eine
von deren guten Willen abhängige Klasse von Minderbercchtigten und Nicht¬
berechtigten stellte. Alles Alte und Unhaltbare hat man mit krankhafter Sorge
zu restauriren gesucht; aber auf die gute alte Städteordnung, auf das Princip
der vollen Selbstverwaltung, ans das Bailot, die sicherste Bürgschaft der Wahl¬
freiheit und den festesten Damm gegen Demoralisation, ist man nicht zurückge¬
gangen. Alles Neue hat man mit tiefem Mißtrauen behandelt; nnr die abhängige,
würdelose Stellung der Beamten, die uns der Scheiuconstitutioualismus geschaffen,
die büreaukratische Vielregiererei, die tausend Mittel zur gouvernementalen Ein¬
wirkung ans die Wahlen hat man als gute Prisen beibehalten.
Die constitutionelle Partei ist dieser Frage gegenüber in einer unangenehmen
Situation. Sie kaun sich für die Gen.-Ordn. v. 18!jg nicht enthusiasmiren;
denn dieses Gesetz, das ein organisches werden sollte, ist unter deu Händen der
Rechten zu einem Reglement geworden, welches der Communalfreiheit nnr einen
begrenzten Spielraum gewährt. Dennoch war bei diesem Gesetz eine gesunde
Entwickelung des Gemcindelebens möglich. Deshalb hat es die Partei gegen
die Reaction vertheidigt, wiederholt seine schleimigere Durchführung gefordert.
Und sie that Recht daran. Jetzt, wo die neuen Vorlagen uns nicht nnr zu
einem kolossalen Rückschritt, sondern zu einem Werk der Zerstörung auffordern,
ist es doppelte Pflicht, an der Gen.-Ordu. festzuhalten.
Die letztere wird indeß dnrch die Majorität beseitigt werden. Dann bietet
sich uns die Wahl zwischen den alten Zustanden und den neuen Vorlagen dar.
Die trügerische Hoffnung, daß diese hier und dort dnrch ein Amendement ver¬
bessert werden könnten, wird Manchem die Wahl erschweren; nach reiflicher Er¬
wägung zweifeln wir uicht, daß es besser ist, schlechtweg zum Alten zurück-
zukehren.
Die Landgemcindcordnnngen sind von einem so falschen Standpunkt ent¬
worfen, daß sie — vielleicht mit Ansnahme der schlesischen — unverbesserlich
sind. Man kann wol einzelne Formen corrigiren; aber man überzeugt sich bald,
daß damit Nichts gewonnen wird, wenn man den Zweck solcher Gesetze in's
Auge faßt.
Ein Gemciudeleben zu entzünden, den Sinn sür ein gemeinsames Streben
nach würdigen Zielen zu beleben, den Geist der Selbstständigkeit, die Freude an
vernünftigem Fortschritt zu stärken, — dazu siud jene Vorlagen nicht geeignet.
Sie werden tels Gegentheil fördern. Während die alte Städteordnung es als
eine Hauptaufgabe bezeichnete, den Zustand zu beseitigen, daß die Interessen der
Bürger „nach Klassen und Zünften" sich theilten, befestigen und erweitern die
neuen Vorlagen die Kluft, welche die Verschiedenartigst der materiellen Lage
zwischen den Landbewohnern gezogen, dnrch eine verletzende, den realen Verhält¬
nissen nicht mehr angemessene Vertheilung einer hohem oder geringern Berechtigung.
Sie beruhen nicht auf der Anerkennung, daß die Bewohner einer Gemeinde
zusammengehören und nach gemeinsamem Ziel zu streben berufen sind,
sondern auf der entgegengesetzten, daß sie dnrch fein d selig e Interessen von ein¬
ander geschieden sind, und gesonderte Ziele zu verfolgen haben; sie fordern
also nicht die Lust zum Zusammenwirken, sonder» sie provociren zum Kampf
für jene Svuderinteressen, die selbst von der Negierung für so durchgreifend und
reell erachtet wurden, daß sie dieselbe» zur Grundlage ihrer Gesetze machte. Die
Gemeinden haben zwar die Befugniß, unter billiger Berücksichtigung der that¬
sächlichen Verhältnisse die gesetzlich hintangcstcllten Klassen durch Gewährung höherer
Berechtigung besser zu stellen; aber diese Befugniß ist in die Hand der Bevor¬
rechteten gelegt; und wenn der Geist der Billigkeit in einer Gemeinde obsiegen
sollte, so würde gerade dieser Umstand vorzüglich dazu beitragen, die Flamme des
Zerwürfnisses in den Nachbargemeinden stärker anzufachen. Und — was das
Schlimmste ist — wenn die Landbewohner sich davon überzeugt haben werden,
daß die Leistungsfähigkeit und der Aufschwung der Gemeinde dnrch diese ver¬
letzende Ordnung der Dinge, dnrch diese zahllosen Verdrießlichkeiten Nichts ge¬
wonnen haben wird, so werden sie gegen jede Neuerung um so mißtrauischer
werden.
Vortheile bringen die neuen Vorlagen nur der Bureaukratie. Diese zu
stärken, haben wir schon seit Decennien keinen Grund, am wenigsten heute, wo
sie ihre Machtmittel in einer Weise anwendet, daß wir wol noch nach einem
Menschenalter die Wirkungen ihrer Taktik spüren werde».
Erklärt man sich entschieden für das Alte, so gelingt es vielleicht, die alte
Städteordnung vor dem modernen Vandalismus zu retten. Die wenige» Punkte
dieses Gesetzes, die de» jetzige» Verhält»lösen nicht mehr angemessen sind, kommen
nicht in Anschlag gegen die großen Vortheile, durch Aufrechthaltung dieser Ord¬
nung wenigstens hier und dort der bürgerlichen Selbstständigkeit ein Asyl gerettet,
dnrch Bewahrung des Ballotö wenigstens die städtischen Commnnalwahlcn vor
der jetzt üblichen Benutzung durch das Gouvernement gesichert, und el» an großen
und fruchtbaren Ideen reiches Erbe »uversehrt einer gesitteten und dankbare»
Nachwelt erhalten zu haben. Auf dem platten Lande bleiben dann freilich die
unglücklichen Zustände; allein daS ist noch immer besser, als wenn man anch Hie¬
her der bureaukratischen Invasion die Wege bahnt. Ein Bedürfniß, das man
seit 5«) Jahren lebhaft empfunden, bleibt dann freilich unbefriedigt; aber das ist
noch immer besser, als wenn man ihm einen Stein statt des Brodes reicht. Die
alte Städteordnung wird dann freilich noch länger auf ihre Ergänzung warten
müssen, allein dieses ist immer noch besser, als wenn man auch diesen Bau zer¬
stört, um das Material zur Errichtung elender Baracken zu verwenden. Wenn
der kleine Sinn, der dürftige Geist und !der niedere Haß unserer Zeitgenossen
gegen die Ideen, denen Preußen seine Wiedergeburt verdankt, es uns unmöglich
macheu, im treuen Anschluß an jene Ideen das Werk Stein's zu vollenden,
so ist es schon ein Gewinn, dieses große Denkmal in seiner jchigcn Gestalt zu er¬
halten, damit eine erleuchtetere Nachwelt an ihm lerne, welche Ideen stark genug
waren, Preußen aus dem Abgrund zu hebe», thatkräftige Liebe zur Heimat!) zu
entzünden, nud „den Nationalgeist positiv zu erwecken und zu beleben."
Die Tuilerien hallten lange wieder von den Klagen
über die Undankbarkeit der geretteten Gesellschaft, deren Vertreter, die gekrönten
Häupter dem junge» Cäsar die Krone so schwer machen. Louis Napoleon hatte die
Brust voll der bittersten Gefühle, daß sein rettender Geniestreich so kurz nach der That
mißkannt und mit dem Lohne gefeilscht wird, den er mit so viel Recht zu bean¬
spruchen scheint. Er, der dem monarchischen Europa deu unbequemen Auswuchs
der französischen Republik mit fester Hand ausgeschnitten, sollte erst »in die
Erlaubniß bitte», ob er sich Napoleon >>. oder til. heißen dürfe, der Mann,
der das allgemeine Stimmrecht so weit zur Kapitulation brachte, daß es verzagt
in deu Händen eines Kaisers seine Erklärung von Fontainebleau oder Se. Cloud
schrieb, sollte nicht einmal soweit für seine Familie sorgen könne», daß er ihr
Frankreich zum unverkürzten Erbgut hinterläßt! — Der Held der römischen Expe¬
dition, der ergebenste Diener des Klerus, der Abschaffer der Preßfreiheit, der
Feind der Ideologen und der hohe Priester der Börsengötter, der Verkünder des
allgemeinen Weltfriedens, der unerbittliche Verfolger der Demagogen, Revolutiouaire
und republikanischen Reformen, sollte erst noch schriftlich verbriefen, daß er nichts
Heiligeres kenne, als die Verträge von Das ist hart, das ist bitter, und
doch ist es wahr; die »udaukbareu Ansprüche der geretteten Fürsten ginge» so
weit! Der stolze eigensinnige Held des zweiten Decembers sah sich zum Nach¬
geben gezwungen. Denn so verhalten sich die Dinge wirklich, und die russische
Anerkennung hat ungefähr diese Bedeutung. Louis Napoleon hat wie Görgei
vorgezogen, sich dem Czaren zu beugen, erst nachträglich sollte Oesterreich n»d
Preuße» die gleiche Ehre widerfahren. Staune» Sie nicht, wenn ich die divlo-
malischen Verhältnisse Frankreichs in so schwarzem Lichte sehe, während der
Moniteur Alles rosig steht; ich glaube im Rechte zu sein, denn so viel mir über
das Anerkennungsschreiben des Czaren bekannt ist, wurde die Phantasie Louis
Napoleon's als Ritter der bonapartischen Dynastie aufzutreten ausdrücklich als
innere Angelegenheit bezeichnet, die Erblichkeitsfrage wird als Nebensache betrachtet,
da der Nachfolger des Kaisers, wenn er kein Sohn desselben, voraussichtlich erst
vom allgemeinen Stimmrechte, also wieder als provisorischer Kaiser anerkannt
werden müßte, und die gehoffte Aufrechterhaltung der Tractate von 18-16 wird
gleichfalls ganz unzweifelhaft ausgedrückt. Wer Louis Napoleon näher kennt,
ist nicht überrascht ob der plötzlichen Gefügigkeit inmitten des grössten Glanzes
seiner Macht. Seine Vergangenheit lehrt, daß er lange Geduld hat
und nur im geeigneten Momente ausbricht. Seine Minister, mit Aus¬
nahme Fould's, scheinen sich noch nicht an diesen eigenthümlichen Charakter
gewöhnt zu haben, denn die meisten, und Herr Drouye de l'Hülf obenan, setzten
als gewiß voraus, Louis Napoleon werde auf die ihm zugemuthete Demüthigung
nicht eingehen. Fould allem, der als Finanzier seinen Herrn vielleicht näher
kennt als seine Kollegen, sah die friedliche Wendung voraus und bestärkte Louis
Napoleon in seiner vvrausgcscißtcu Absicht. Die Diplomaten der nordischen
Großmächte werden sich nnn in stolzem Selbstgefühle wiegen, denn das war ein
prächtiger Coup, das war wieder einmal eine Gelegenheit, die ganze Wichtigkeit
des papiernen Geschützes, diplomatische Noten genannt, darzuthun. Die Diplo¬
maten bilden sich aber zu viel ein, denn das war kein Meisterstück, und die
diplomatische bMIvtü wird durch die politische Ungeschicklichkeit völlig verdunkelt.
Meine Ansichten über den Staatsstreich und das gegenwärtige Regime hier kennen
Ihre Leser, und man wird mich daher, so hoffe ich, in Folgendem nicht mißver¬
stehen. Die Regierungen der drei Großmächte haben Unrecht gehabt, das
Kaiserreich nicht allsogleich, nicht ohne Reserve anzuerkennen. Louis Napoleon hat
der Sache, welche sie repräsentiren, dem Regieruugssysteme, dem sie huldigen,
und das sie gern über ganz Europa verbreitet wüßten, während seiner Regierung
und namentlich durch den Staatsstreich einen so unendlichen Dienst geleistet, daß
die Balgerei um die namentliche Anerkennung der Verträge von 18-U> wirklich
eine Kinderei zu nennen ist. Die Legitimität kann als monarchisches Princip
gerechtfertigt werden, aber wenn es ernst damit gemeint sein soll, dann müßten die
Fürsten leicht erst einen Angriff abwarten und dem Grafen von Chambord ihre
Armeen zur Verfügung stellen. So wie aber die Vvlkssouveraiuctät, dieselbe mag
sich nnn in der Meinung der Republikaner und sonstiger Nichtimpccialisten anch
unfrei bewegt haben, anerkannt wird, ist jede andere Restriktion lächerlich. Abge¬
sehen davon, daß die Territvrialverhältnisse, wie sie in den Verträgen von
festgesetzt worden, längst nicht mehr bestehen, ist schwer zu entnehmen, welche
Bürgschaft in dem Versprechen eines Mannes liegen kann, der diese Bürgschaft
eben nur durch die, gleichviel ob in den Angen der europäischen Fürsten politisch
gerechtfertigte, Zurücknahme einer Reihe von feierlichen Verheißungen zu leisten
im Stande ist. Warum also dem Kaiser zu späteren Repressalien einen Vorwand
geben? Ist der Krieg mit England oder Deutschland in den Augen der franzö¬
sischen Nation gerechtfertigt oder durch innere Nothwendigkeiten geboten, so wird
sich der dritte Napoleon eben so wenig durch ein Versprechen binden lassen, als
es der erste gethan. Die diplomatischen Spitzfindigkeiten reduciren sich demnach
ans kleinliche Neckereien, und wir können für unsren Theil nicht begreisen, daß die
großen Herren, welche die Geschichte machen, doch so wenig ans der Geschichte
lernen. Was wäre zum Beispiele aus den Verträgen von geworden, wenn
Lamartine seine Aufgabe anders aufgefaßt hätte, oder wenn die Italiener
siegreich geblieben wären. — Was hätten die Verbriefnngcn genützt, wenn in
Belgien eine mit der französischen analoge Bewegung das Uebergewicht erhalten hätte.
Die Bürgschaften, die man von Louis Napoleon sucht, muß man daheim finden,
und England hat auch in diesem Falle seine politische Ueberlegenheit bethätigt.
Louis Napoleon wird sich Alles gefallen lassen, so lange e^ muß, aber er ist wahr¬
haftig nicht der Manu, eine Gelegenheit zur Revanche zu verpassen, so wie sich
diese findet. Daß man hier den wirklichen Verlauf der Dinge so sorgsam ver¬
heimlicht, ist mit ein Beweis dafür, daß der Kaiser die ihm zugefügte Demüthi¬
gung fühle, und ohne Englands Einfluß wäre es vielleicht jetzt schon zum Brüche
gekommen. Louis Napoleon, der sich in jede Rolle mit unläugbarem Geschicke
fügt, überfließt fortwährend von friedlichen Versicherunge». Er weiß darum doch,
daß mit einem Regierungssysteme wie das seine ohne Thätigkeit nach außen hin
auf die Dauer kein Heil für ihn sei, und er bereitet sich nach einer andern Seite
zu einem Schlage vor, bis der Augenblick in Europa gekommen ist. Es ist da¬
her nicht unwahrscheinlich, daß sein Plan die Besitzungen in Algier zu vergrößern
und diese Provinz zu einem französischen Indien zu machen, bald zur Ausführung
kommt. Mit den socialen und finanziellen Reformen, die dem Kaiser für seine
Person am Herzen liegen mögen, kann er bei einem Ministerium, das ans den
Reactionairen aller Parteien besteht und Fould zum Atlas hat, uicht schnell vor¬
wärts gehen, das braucht Zeit und kostet selbst einem unumschränkten Herrscher
mehr Kämpfe, als man vielleicht annehmen wollte. Die Haltung der nordischen
Großmächte und ihrer Abgesandten scheint uns aber auch aus dem Grunde eine ver¬
fehlte, weil man nicht Rücksicht nimmt auf die neuen Einflüsse, welche dnrch
Napoleon Bonaparte's Thronfolgcansvrüche sich mit der Zeit geltend machen
müssen. Die Hoffnung auf die zukünftigen Rechte des ehemaligen Bcrgmitgliedes
wird diesem nach und nach selbst in der Regierung einen gewissen Anhang ver¬
schaffen, und in einem gegebenen Momente können diese Einflüsse vorherrschend
und bestimmend wirken. Napoleon Bonaparte aber ist ein fähiger Kops, den man
nicht unterschätzen' darf. Emil Girardin, ein intimer Freund desselben, sucht ihm
schon jetzt eine Partei zu schaffen, und wenn sich das Kaiserthum hält, wird ihm
das auch gelingen. Nun glauben wir zwar nicht, daß Napoleon Bonaparte seine
Krone auf dem Altar der Republik niederlegen würde, aber seine Politik so wie
seine gegenwärtigen Bestrebungen sind den Ansichten der gegenwärtigen Regie¬
rung nichts weniger als günstig.—Das Kaiserthum sucht sich mittlerweile seinem
Hofstaate nach den anderen Höfen zu assimiliren, die Etiquette wird täglich stärker,
und die kurzen Hosen sind eine retrospektive Errungenschaft, welche uur der Vor¬
läufer von Aehnlichem ist. Der Einfluß der Geistlichkeit ist noch im Zunehmen,
der Kaiser scheint sich in dieser Beziehung über seine eigenen Kräfte zu täuschen,
sonst würde er dieses sich immer enger schlingende Netz mehr fürchten. — Mit
betrübender Ahnung erfüllt die Gemüther die außerordentliche Milde der Jahres¬
zeit, welche alle Keime der Natur in Thätigkeit setzt; denn der frühe Ausbruch
muß später mit dem geringsten Frosthauche seinen Tod finden. Eine Hungers-
noth mit ihrem Gefolge von tödtlichen Krankheiten aber führte in diesem finanziell
gedrückten Laude zu schrecklichen Erschütterungen. Doch wer heute das Treiben
in Paris ansieht, der würde solche Befürchtungen als lächerliche Annahme von
sich weisen. Das ist eine Verschwendung und ein Luxus, daß selbst die Leute,
die ihren Vortheil dabei finden, darüber erschrecken. Die Kunst hat bei solchen
Zuständen nichts zu gewinnen, es fehlt die Ruhe, die zu wirklich ästhetischen Ge¬
nüsse» erforderlich ist. Die reichen Leute gefallen sich in der Freude an abgeschmack¬
ter Toilette und Boudoirsächelcheu, an der frivolen Kunstindustrie. Die Zeit des ern¬
sten Interesses ist noch nicht gekommen. Der Kaiser läßt wol hier und da Künstler be¬
schäftigen, aber es fehlt ihm jeder Sinn für die schönen Künste, und mit der Bestellung
scheint ihm seine Aufgabe erfüllt. So führte Heinrich Lehmann im Meet cle
viele ein großartiges Decvrationswerk von ungefähr dreißig bis vierzig Gemälden
in der kurzen Frist von zehn Monaten aus, und als der Kaiser jüngst die neu-
decvrirte Galerie besuchte, gönnte er dem künstlerischen Theile der Ausschmückung
keinen Blick. Seine ganze Aufmerksamkeit wurde von der Tapeziererarbeit in An¬
spruch genommen. Ueber dieses Werk selbst ließe sich Vieles sagen. Der Ge-
sammteindruck ist ein vortheilhafter; viele einzelne Gemälde sind vortrefflich aus¬
geführt, und die Eomposition bethätigt viel Geist und ungewöhnliche Befähigung.
Allein der Künstler beging den Fehler, sich von der Allegorie fesseln zu lassen,
und viele seiner Gemälde — die ganze Reihe solle eine Art von Civilisativus-
geschichte vorstellen — verlieren dadurch die Unmittelbarkeit des menschlichen Inter¬
esses. Auch der officiellen politische» Verwirrung des Momentes sind Zugeständ¬
nisse gemacht, welche uns die Frende an dem Kunstwerke verleite», allein es bleibt
ein bedeutendes Werk, dem man seine Anerkennung nicht versagen kaun. Einzelne
Gemälde sind, wir müssen das wiederholen, wahre Meisterstücke, und in so kurzer
Zeit würde keiner der französischen Meister so viel geleistet haben. Heinrich
Lehmann hat sich durch dieses Werk als Meister der Zeichnung, als geistreicher
Compositeur und als kühner, unternehmender Künstler bewährt. Die nächste Aus-
stellung wird übrigens auch von anderen deutschen Meistern Erhebliches bringen,
und Carl Müller eins Schwaben ist mit Ausführung einer satyrisch-humoristischen
Studie ans der Zeit beschäftigt, welche seinem Carneval von Venedig vielleicht noch
vorzuziehen sein wird. Von letzterem erscheint nächstens ein prachtvoller Kupferstich,
welcher sehr zu empfehlen ist. Unter den Portraitmalern steht der junge Riccard
oben an, das ist ein außerordentlich begabtes und fruchtbares Talent, das spater ein¬
mal in's historische Feld übergehend, bleibende Meisterwerke schassen muß. Das ist
ein Künstler, welcher im Geiste der großen Maler lebt und namentlich der Farbe
nach den großen Meistern der besten Zeit mit Erfolg nachringen wird. Für die
nächste Ausstellung hat er ein Portrait von Wilhelmine Clauß angefertigt, das
leicht die Perle des Salons sein dürfte. Unter den Musikern herrscht ziemliche
Thätigkeit. Theodor Gvury hat unlängst eine Symphonie von sich aufführen
lassen, die ein ganz außerordentliches Talent bethätigt. Inhalt sowol, als Or-
chestirnng verheißen dem jungen Elsässer keine gewöhnliche Zukunft. Ferdinand
Hiller will hier seine neuesten und alten Compositionen in einigen Concerten dem
Pariser Publicum vorführen, und dieser eben so gründliche als thätige Musiker
scheint aus dem Pariser Boden die besten Eingebungen zu schöpfen. Er hat hier
eine Reihe vortrefflicher Arbeiten vollendet. Stephan Keller gefällt sich in
der Abfassung anspruchsloser Kleinigkeiten, die alle musikalische Meisterstücke sind.
Man kann nicht mit mehr Geist, mit mehr Geschmack den augenblicklichen Ein¬
gebungen eines reichen Geistes lieblichen Ausdruck gebe». Der Kreis seiner
Verehrer wird auch nach jeder neue» Composition großer, und die Franzosen
legen gern die abgeschmackten Modeklingeleicn bei Seite, »in sich an dem gediege¬
nen Inhalte dieser genialen Tondichtungen zu erfreuen, Ander's neue Oper
gefällt nicht besonders, unsre musikalische Neugierde ist auf Meucrbeer's Afrika¬
nerinnen gespannt, welche endlich den gierige» Händen des Herrn Roqueplan
überliefert worden sein soll. Meyerbeer sott gegenwärtig an einer komischen
Oper arbeiten. Auch Ferdinand Hiller schreibt an einer Oper. Vom italienischen
Theater spricht man dieses Jahr gar nicht. Fräulein Cruvelli'S Stern ist im Sinken.
Als ich Ihnen neulich über die wahrscheinlichen Folgen der Diplomatie der
nordischen Mächte geschrieben, hatte ich nicht geahnt, daß die Ereignisse mir so bald
Recht geben sollten. Louis Napoleon hat nicht lange gewartet, um der europäischen
Diplomatie neuerdings zu beweisen, daß er nicht der Manu sei, der ungestraft mit sich spielen
lasst. Sein jüngster camp alö töte hat aber in meinen Augen »och mehr historische
Bedeutung als Alles, was er bisher gethan. Die Politik Louis Napoleon's seit der
Julirevolution und namentlich seit der Februarrevolution war nur auf die Erlangung
des Kaiscrtitcls gerichtet. Der Gefangene von Ham sowol, als der Präsident der
Republik waren bloße Prätendenten, kaiserliche Cvnspiratenrs und nichts mehr — so
durften wenigstens seine Gegner annehmen, ohne daß man ihnen irgend eine thatsäch¬
liche Einwendung hätte machen können. Man konnte die These vertheidigen, daß Louis
Napoleon, einmal aus den Thron gelangt, seine Sendung für vollendet betrachten werde.
Seit heute ist das anders geworden, Louis Napoleon hat dargethan, daß sein Ehrgeiz
durch Krone und Scepter noch nicht befriedigt sei, und daß Europa darauf gefaßt sein
müsse, von nun an mit dem Kaiser der Franzosen als mit einem selbstständigen histo¬
rischen FacK'r zu rechten. Die kaiserlichen und königlichen Kabinette wissen nun, daß sie
mit keinem zweiten Louis Philipp zu thun haben, der auch die Demüthigung duldet,
wenn er nur dadurch seine eigene Duldung erkaufen kann. Louis Napoleon schlägt
seine Gegner mit deren eigenen Waffen; man will ihn verächtlich mit dynastischem
Stolze als Emporkömmling behandeln, er proclamirt sich selbst als pai'vein und erklärt,
stolz daraus zu sein. Die heutige Rede ist ein wahres Meisterstück, und der ganze
Charakter Louis Napoleon's spricht sich in ihr aus. Scheinheilige Mäßigung neben
boshafter, obgleich unantastbarer Herausforderung, ganz wie in allen seinen bisherigen
Acten. Der Sache nach unbeugsam und entschlossen, ist er der Form »ach schmiegsam
nach allen Seiten hin. Erst erklärt er, daß er mit der alten Politik brechen wolle,
dann versichert er, daß es im Interesse der eigentlichen und dauerhaften oiüenw eoräislö
Frankreichs mit den anderen Monarchien geschehe. Gleich darauf wendet er sich an die
Vollgefühle, denen eine fremde Prinzessin widerstrebt, und er unterläßt es ja nicht, an
die populaire Josephine zu erinnern. Nun wird wieder Oestreich ein sauersüßes Compli-
ment gemacht, in dem Napoleon'S Heirath mit Marie Louise als großes Ereigniß darge¬
stellt wird, weil Is maison Miyuv ol. illustn! 60 I'^ulriolie, welche Frankreich bis
dahin bekriegt hatte, um dessen Freundschaft eifrig zu suchen sei. Unter solchen Be¬
dingungen könnte sich allenfalls auch Louis Napoleon entschließen, eine fremde Prinzessin
in sein Ehebett zu holen, so liest man zwischen den Zeilen, — aber -- giebt er wieder deut¬
lich zu verstehen, das Land zu demüthige», indem man Jahrelangem die Hand einer
fremden Prinzessin bettelt, wie Louis Philipp (für den Herzog von Orleans), das
würde er nimmer thun. Diese Phrase kaun auch so ausgelegt werden, daß Napoleon III.
dnrch seiue wenigen Versuche, die Hand einer fremden Prinzessin zu erlangen, Alles
gethan, was er mit der Ehre Frankreichs verträglich hatte. Das wäre also auch eine
Art von Entschuldigung seiner selbst und eine Anklage der Orleans. Einen Satz weiter
lesen wir den Kern der Rede, eine Herausforderung Rußlands: „Wenn man dem
alten Europa gegenüber durch die Kraft eines neuen Princips aus die
Höhe der alten Dynastien getragen wird, macht man sich nicht dadurch
annehmbar, daß man sein Wappen altert und um jeden Preis in die
Familien der Könige zu dringen sucht, sondern vielmehr, indem man seinen
eigenen Eharaktcr behält, sich immerfort seines Ursprungs erinnert und Europa gegen¬
über freimüthig die Rolle des Emporkömmlings spielt, ein glorreicher Titel, wenn man
durch die freie Wahl eines großen Volkes emporkommt." Der englische Gesandte konnte
verhindern, daß der Kaiser das Anerkennungsschreiben Rußlands zurückwies, aber
diese öffentliche Genugthuung ließ sich Ludwig Bonaparte nicht nehmen. Nun wendet
sich der Kaiser wieder zu den Privatgcfühlcn der Franzosen, er rühmt die Vorzüge der
von ihm Auserwählten — er habe ihr den Borrang vor einer Unbekannten gegeben, die
dem Lande Opfer auferlegt, wenn sie ihm auch Vortheile gebracht hätte. Die künftige
Kaiserin ist keine Französin und hat daher auch keine Familie aus Kosten des Landes
zu versorgen. Der Kaiser liebt sie, er achtet sie, er ist seine» Neigungen gefolgt, ob¬
gleich er auch seine Vernunft und seine Ueberzeugungen geprüft. Er hofft nun um so
stärker zu sein, indem er das Familieiiglück über dynastische Vorurtheile stelle, weil er
dadurch um so freier sein werde. Dieser Sah richtet sich zugleich an das Gefühl der
Frauen, und dieser romantische Act kann auch nicht verfehlen, dem Kaiser die Sympa¬
thien des weiblichen Geschlechts zu erringen. Den Senatoren aber ruft er schließlich
zu, was er seinen Ministern gesagt: Ihr werdet sehen, daß mir auch diesmal die Bor-
sehung meinen Entschluß eingegeben habe.
Louis Napoleon hat schon viele geschickt gefaßte Proclamationen erlassen, aber
keine ist so tief durchdacht und so vollkommen zweck- und sachgemäß als diese. Aber der
Act selbst scheint mir noch politischer und noch geschickter als diese Schutzrede desselben.
Louis Napoleon hat mit einem Rucke seinen gekrönten College» jede Waffe aus den
Händen genommen. Diese haben ihm keine Gunst mehr zu geben und dürfen sich keine
Drohung mehr erlauben. Ihr wollt mich nicht euer» Bruder nenne», um gut, ich
bin stolz auf meine» Titel eines Parvenu's. — El» Geuse konnte nicht kecker sprechen.
Ihr wollt nur keine Prinzessin geben, wieder gut, ich nehme mir die erste beste Frau,
die mir gefällt, und mache sie zur .Kaiserin! Ludwig Philipp säße noch heute auf
seinein Throne, wenn er nnr ein einziges Mal während seiner achtzehnjährigen Regierung
den Muth einer solchen Entschlossenheit gezeigt hätte. Louis Napoleon hat ganz Recht,
dieser Act macht ihn freier. Er weiß es sehr wohl, der europäische Friede hängt von
ihm »»d nicht von den andere» Moiiarchc» ab, und er benützt die Erfahrung, welche
Ludwig Philipp mit in sein Exil gebracht. Bezeichnend für den Manu, der sich nun
Napoleon III. nennt, ist der Umstand, daß er nach einigem Hin- und Herschwanken
Plötzlich und überraschend zu diesem Entschlüsse gekommen. So geschah es noch jedes Mal,
seit er a» der Spitze der Regierung steht — er schwankt und zaudert eine Zeit lang,
er scheint vo» seinem Wege abzukommen, da macht er plötzlich Volte, und stellt sich un¬
erschütterlich. Sämmtliche Mitglieder seiner Familie, alle Minister, mit Ausnahme
Fould's, alle seine Freunde und Anhänger sprachen sich gegen die schöne Spanierin
ans, und alle diese Einflüsse zusammengenommen blieben ohnmächtig. — Die
Franzose» geberde» sich geradezu lächerlich bei dieser Gelegenheit. Der unbe¬
deutendste Bourgeois schüttelt beständig den Kopf und beklagt sich über die Hintan¬
setzung der Etiquette. Andere Leute sah ich in Wuth gerathen, und alle diese Menschen,
welche den unbeschränktesten Absolutismus über sich ergehen lassen, ohne Etwas daran
aussetzen zu könne», si»d unglücklich über diesen Etiqucttcnvcrstoß. Wie man im
Volke darüber denkt, habe ich »och nicht erfahren können, doch glaube ich, daß die
heutige Rede an den Senat einen sehr guten Eindruck hervorbringen werde. Die
Börse machte ein bittersüßes Gesicht dabei, denn sie fühlt, daß jetzt kein Napo¬
leon des Friedens über Frankreich herrsche. Die arme Marquise wird auch übel
mitgenommen von der tausendzüngige» Fam^i. Die lächerlichsten Gerüchte werden
über sie in Umlauf gesetzt, und so wie die Negierungsjourualc bereits alle
Cardinaltugenden in vollster Ausbildung bei ihr nachweisen, erzählen Legitimsten und
Drlcanisten offenbar erlogene Geschichtchen und Abenteuer von ihr. Darin aber kommt
">an überein, daß sie von unter»ebene»dem Geiste und großer Schönheit sei. Ich selbst
nithalte mich jedes Urtheils, bis ich nicht Gelegenheit gefunden habe, genaue Thatsachen
über die künftige Kaiserin der Franzosen zu erfahren, und das geschieht sicherlich bald
Die Civilehe wurde heute vor dem Staatsminister Fould vollzogen, und die feierliche
Einsegnung findet nächsten Sonntag in der Kathedrale von Notre-Dame statt. Der
Kaiser hat eine entschiedene Vorliebe für den Sonntag — er will, daß die Arbeiter und
die Vorstädter sich den neugierigen Massen anschließen könne». Da die Zeit zu kurz
ist, einen neuen Wagen für die Kaiserin zu Stande zu bringe», so hat man vom Krö-
nungswagen Karl's X. das Wappen abgekratzt u»d siehe der kaiserliche Adler kam z»in
Vorsehet», Es war der Krönungswagen auch Napoleon's! illsbenl sui> lst» — —
Und welches Schicksal steht der jungen Kaiserin bevor, die ans einer bescheidene» un¬
beachteten Stellung sich nun plötzlich auf einen Thron erhoben sieht? Wird er el»
historischer sei», oder wird Louis Napoleon trotz aller Befürchtungen dem Frieden treu
gemig bleibe», »in seiner Gemahlin ungestört die heimliche» Freude» der Familie zu
gönne»? Wenn Fräulein Mvntijo wirklich von so abenteuerlichen Si»»c ist. als mau
vielseitig behauptet hat, so ist ihre Rechnung »ut dem Schicksale gemacht, und sie muß bereit
sei», das berauschende Glück, den Thron eines Kaisers zu theilen, mit ihrem Leben zu
bezahlen. Wir wollen es aber nicht als ein böses Omen anführen, daß Viele eine
außerordentliche Achnlichkeit zwischen der Gräfin oder Herzogin von Tschä und der
Königin Marie Antoinette finde». Man behauptet sogar, die Spanierin liebe es, diese
Aehnlichkeit noch dnrch ihren Kopfputz und ihre Klcidnngswcise zu erhöhen. Neben die¬
sem Ereignisse schwinden natürlich alle übrigen, und man spricht im ganzen Lande von
nichts Anderem. Die Plätze an de» Fenstern, an denen der Hochzeitszug vorüber muß,
werden schon um vieles Geld verkauft, und Sie können keck behaupten, daß der sehnlichste
Wunsch einer jeden Pariserin in diesem Angeiiblicke der sei, die junge Kaiserin gesehen
zu habe». Der morgige Moniteur wird wol die Ernennung ihres Hofstaates bringen,
und wir würde» nicht im geringsten erstannt sein, sehr legitimistische Namen unter ihre»
Hofdame» z» lesen. Es geht de» Höflingen wie dem Krönungswagen, man braucht
sie nur ein wenig abzukratzen, und mau ka»» sie gleich wieder anf's Neue verwende».
Die Minister sind besorgt um ihre Stellung, und vielleicht »icht mit Unrecht. Es muß
sich aber erst zeigen, ob Louis Napoleon nicht anch als Ehemann so energisch und
eigenwillig sein wird, als es der Politiker ist. Die Franzose», welche dem Grundsatz hul¬
digen, daß jeder Mann vor der Macht der weiblichen Schönheit und Anmuth gleich schwach sei,
glauben nicht an die Freiheit, die sich Louis Napoleon verspricht. Wir hageln Hubes»
ver« lin, it i> lrouvö plus im que Im. Wir wollen ruhig abwarte», wir würden es
»ur zu bald merken, wen» die Eotillo»herrschaft wieder begönne. So viel glaube ich
jedenfalls: wenn die englische Presse die Kaiserin so wenig schont, als sie den Kaiser
schont, so werde» die ehrgeizigen Krieger in der kaiserliche» Umgebung die feurige Spa¬
nierin mit als Hebel für ihre Pläne zu benutzen suchen. Ob es zum Gelingen noch
großer Anstrengungen bedarf ist schwer zu sagen, für den Augenblick sucht Louis Na¬
poleon sich England dnrch Handelsverträge z» gewinnen. Wie die übrigen Hose den
neuen Lnup et'stak aufnehme» werde,?, läßt sich leicht denken, aber keine einzige
Macht wird sich dadurch zu einer andern Haltung bestimmen lassen, als sie bisher be¬
obachtet. Mit der Zeit werden sie wol freundlicher sich geberden, denn jetzt muß es
Allen klar geworde» sei», daß es eben keine schlechte Politik wäre, Louis Napoleon z»
schonen. Wenn sie nicht im Interesse der öffentlichen Moral und im Interesse der
legitimistischen Grundsätze gegen de» Ä, December aufgctretc» si»d, müssen sie auch
alles Andere als natürliche Consequenzen desselben annehmen.
— Das Ereignis? des Tages
in Spanien ist die LSeröffentlichnng des Briefes, den der Marschall Narvaez an die
Königin geschrieben, und die daraus erfolgte Antwort. Gleich nach seiner Ankunft in
Bayonne — ein December — hatte der Herzog von Valencia ein Schreiben an
seine Souvcrainin abgeschickt, in welchem er mit gerechten Selbstgefühl und frcimnthigcni
Stolze, aber mit aller der Krone schuldigen Ehrfurcht, seine persönlichen Beschwerden
und die Gefahre», in welche eine verderbliche Politik den Thron und das Land stürze, aus-
einandersetzt. Man habe ihn, sagt er, unter der Form einer Sendung aus Spanien verbannt,
welche sich nicht für den von ihn bekleideten Rang, sondern höchstens für den eines
Obersten schicke, und mir weil er, seiner Pflicht und seinem Recht als Senator des
Reichs nachkommend, sich der Opposition angeschlossen, welche die edelsten Kräfte und
hervorragendsten Männer Spaniens gegen die verfassungswidrigen Projecte des Ministeri¬
ums vereinigte. Er erinnert Jsabella II., wie die Nation mit Strömen Blutes in
einem siebenjährigen Bürgerkrieg ihren Thron und die mit demselben unzertrennlich
verbundenen liberalen Institutionen, gegen den Prätendenten vertheidigt, wie sie selbst
nach ihrer Volljährigkeit den Pact mit ihrem Volke in voller Freiheit erneuert
habe. In der stürmischen Epoche von <8i8 habe die Constitntwn als stärkste Stütze
des Königthums sich bewährt, Ordnung und Achtung vor dem Gesetz im Lande erhalten.
Jetzt drängten anticonstitutioncllc Rathschläge die Nation und die Monarchie an den
Rand des Verderbens. Er beschwört die Königin diesen ihr Ohr zu verschließen und
bittet sie zugleich die wieder ihn verhängte Maßregel aufzuheben.
Es heisst, dieser Brief — der augenscheinlich abgesendet wurde, ehe Narvaez den
Sturz Murillo's erfahren hatte — wäre gleichfalls, bevor ihm dieses Ereignis; bekannt
wurde, auf sein Gchcift in vielen Abzügen in Madrid verbreitet worden. Das Letztere
erscheint unwahrscheinlich, sowol weil die Antwort erst jetzt erfolgt, als weil der Brief
selbst so spät zur allgemeinen Kenntniß gekommen ist. Der Bescheid Jsabella'S ans die
gegründete Beschwerde und den einsichtsvollen Rath des Mannes, ohne dessen starke
Hand ihre Krone, aller menschlichen Berechnung nach, 18i8 in den Staub gerollt wäre,
enthielt die Bezeugung ihrer allerhöchsten Ungnade, des „unehrerbietigem Tones" seiner
Eingabe und deren Veröffentlichung wegen, so wie den geschärften Befehl, sich sofort nach
Wien ans den Posten seiner Sendung (zur Einsicht der dortigen Militairarchivc!) zu
begeben. Er ward auf Befehl der Königin durch den Kriegsminister, General Lara,
jam 9. Januar) an den Marschall erlassen, und in der Gaceta veröffentlichte Diese
unerhörte Behandlung eines so hervorragenden und hochverdienten Mannes veranlaßte
den Finanzminister Aristizabal zum Rücktritt, den wir im vorigen Hefte bereits ankün¬
digten. Der Eintritt von Bcnavidcs in das Ministerium, der statt des mit dem
Finanzportcfeuille betrauten Llorcntc, das Innere übernahm, hat den allerschlcchtesten
Eindruck in Madrid gemacht. Man sieht in der Ernennung dieses grundsatzloser Po¬
litikers die deutlich ausgesprochene Rückkehr des Hofes zu den Plänen Murillo's.
Das Verfahren gegen Narvaez ferner ward von der öffentlichen Meinung auf's
Strengste beurtheilt. Auch der Hcraldo, welcher die Fraktion der Mvdcrados vertritt,
die sich dem Cabinet genähert haben, sprach sich bei diesem Anlaß nachdrücklich für den
Herzog von Valencia aus und ward deshalb, seiner sonstigen Haltung ungeachtet, mit
Beschlag belegt. Was Narvaez thun wird, muß sich bald entscheiden; das Gerücht war
verbreitet, er würde dem Befehl nach Wien zu gehe», nicht gehorchen und dem könig¬
lichen Bescheid einen Protest entgegensetzen, der merkwürdige Enthüllungc» enthalten
solle.
Im schreienden Widerspruch mit seinen bei Veröffentlichung des neuen Preßgcsctzes
gegebenen Verheißungen verfolgt das Ministerium die Presse seit dessen Erscheinen aus
das Maßloseste. Täglich werden alle oder doch die Mehrzahl der Madrider Oppvsi-
tionsblättcr mit Beschlag belegt. Die Directoren derselben — es sind dies die der vier
moderirtcn Organe, Diario Espagnol, Las Novcdadcs, Epoca und Observador
und der zwei progressistischen, Elamvr Publico und nacion — hatten deshalb kürzlich
eine Zusammenkunft mit dem Minister des Innern, die jedoch ziemlich resultatlos endete.
Demungeachtet stellt die Presse diesem Regime der Gewalt ihre bewährte, zähe Uner-
schrockenheit entgegen und, ehe nicht jeder Rest politischer Freiheit in Spanien erstickt
ist, werden ihre Organe die Sache der Nation nicht im Stiche lassen.
Auch in anderen Bczichnngc» nähert sich das Cabinet mehr und mehr der Politik
seiner Vorgänger. Zwei der opponirenden Modcrados, Ealdcro» Collantes und Or¬
lando, Graf v. Romcra, sind ihrer Stellen im Staatsrath entsetzt und anstatt ihrer
ein Brigadier Namens Saluedo und Herr Diaz, der berüchtigte Gouverneur von Ma¬
drid unter Murillo ernannt worden.
Die Wahlen werden unterdeß auf das Eifrigste betrieben und bis jetzt läßt die
Regierung die Wahlversammlungen ziemlich gewähren. Juden sechs Wahlbezirke» Madrids
habe» die vereinigten Oppositionen vier Modcrados, Martinez de la Rosa (dem kein ministeri¬
eller Kandidat gegenübersteht), Mo», Rios Rosas, den Marquis v.Socorro, und zwei Pro-
gressisten, Mendizabal und Lujcm, aufgestellt. Die ministerielle Presse prophezeiht, sich
aus die Berichte der Gouverneure stützend, dem Ministerium eine starke Mehrheit; in
den größeren Städten, sagt sie, habe allerdings die Opposition Chanyen, bei der
zahlreichere» Masse der Bevölkerung der kleinen Städte und des platten Landes dagegen gar
nicht. In wie weit diese Behauptungen gegründet si»d, läßt sich schwer beurtheile»; daß
Korruption und Wahlzwang mehr Aussicht zu reussiren bei zerstrcntwohncnden und weniger
gebildeten Wählerschaften habe», fällt i» die Auge», daß man, bei der mißlichen Lage,
in die sich die Regierung verrannt hat, dieselben nach Möglichkeit anwendet, ist gewiß.
Ob sie hinreicht», im Kampf mit den besten Kräften des Landes dem Wahlkörper eine
Majorität abzupressen, die Spanien dem Despotismus und der Ausbeutung des fran¬
zösischen Einflusses überantwortet, wird eine nahe Zukunft lehren.
Daß Louis Napoleon »in allen Mitteln den spanischen Hof zur Durchführung
des Vcrfassuugsumsturzcs — den» daraus läuft thatsächlich die sogcuamite Revision
hinaus — antreibt, bezweifelt, trotz aller Erklärungen des Moniteur, kein urthcilsfahigcr
Mensch in oder außerhalb Spanien's. Das französische Cabinet verfolgt dabei zwei
Zwecke-, erstens die Vernichtung des Parlamentarismus auf seinen Gränzen, der, weil
er sich in Spanien in größeren Verhältnisse» bewegt, ihm dort fast gefährlicher erscheint,
als in Piemont oder Belgien; zweitens die Fesselung des spanischen Hofes ein die
Politik Frankreichs, die unvermeidlich ist, sobald die Regierung Isabella's mit der Mei¬
nung ihres Volkes sich entzweit hat. Bei der Isolirung, in welcher sich der neue
Kaiser den östliche» Großmächten und England gegenüber befindet, wird ihm die
Sicherung eines Rückhalts durch eine enge Allianz mit Spanien zur Lebensfrage. Als
Instrument des französischen Einflusses in Madrid dient jene Frau, welche die Rolle
der Katharina v. Medicis in unsrem Jahrhundert wiederholt und der böse Genius
dieser hart geprüften Nation ist. Marie Christine hat den Dienst, den sie Spanien
geleistet, indem sie ans egoistischen Motiven Ferdinand VII. zum Umsturz der Erbfolge
bewegte und dadurch dem niedergetretenen Liberalismus Luft machte, längst zehnfach
wieder ausgelöscht durch das Unheil, das ihre felbst- und herrschsüchtigen Ranke über
den Staat brachten. Sie ist es, die, ihre schwache und unerfahrene Tochter watend,
jetzt die Politik betreibt, die, falls sie gelingt, die Nation in alle Art von Erniedrigung
und Elend stürzen ausi. Der Haß gegen Narvaez, der Ehre und Interesse des Staates
ihr zu opfern sich weigerte, feuert außerdem noch die Königin-Mutter an. Aber hof¬
fentlich wird gerade das Bewußtsein, wer seine eigentliche Gegnerin ist, wer ihn im
Angesicht Spaniens und Europa's zu beschimpfen wagt, den stolzen Marschall zur
äußersten Ausdauer im Kampfe für die constitutionellen Rechte seines Landes spornen.
—- Neue Oper zu Paris. In der Opöra comiizue hat Marco
Spada, Oper von Scriba, Musik von Ander, viel Glück gemacht. Die unvergängliche
Lebensfrische des bejahrten Componisten und der mit virtuoser Geschicklichkeit geschnitzelte
Text Scriba's werden vom „Central-Organ" gerühmt. Die Fabel an sich ist nicht
bedeutend. Marco Spada ist der Anführer einer Räuberbande, der sich in den ersten
Acten mit seiner Tochter Angela in den nobclen Kreisen der Hauptstadt bewegt und die
Emissaire der Polizei, die ihn überall verfolgen, glücklich zu täuschen weiß. Er kehrt
zurück in seine Berge, wohin ihm seine Tochter, obwol mit schweren Herzen, folgt,
da ihr dadurch die Hoffnung genommen ist, den schönen Lieutenant Fredcrici zu hei-
rathen. Ju einem Gefechte tödtlich verwundet, erklärt Marco, daß Angela nicht seine
Tochter. Angela heirathet Fredcrici, aber dieses große Glück ist mit der ewigen Ver¬
bannung Spada's erkauft. Ans diesem Stoff ist eine sehr spannende Handlung dnrch
Scribe's Talent herausgebracht worden. — In der großen Oper zu Paris ist Louise
Miller, von Vcrdy, einstudirt. Der Stoff ist nach „Cabale und Liebe" bearbeitet.
Der Komponist hat unsrem Schiller schon früher die zweifelhafte Ehre erwiesen, seine
„Jungfrau von Orleans" (Carlo ^11,) und „die Räuber" in Musik umzusetzen. Louise
ist in der Oper die Tochter eines alten Soldaten in einem Dorfe Tirols, der Lieb¬
haber Rudolf, Sohn des Grasen, der das Dorf vor Kurzem erst erworben hat. Im
Anfange des Stückes heirathet Rudolf das Landmädchen unter falschem Namen. Der
Schluß, die Vergiftung, lehnt sich näher an das deutsche Trauerspiel an.
Aus den Theatern Italiens hat zu Mailand in der Scala die neue Oper von
Mazzncato: „Ludwig der Fünfte" kein Glück gemacht. Man schreibt daS Mißlingen
der Verstimmung des Publicums gegen die Unternehmer zu, und rühmt an der Oper
melodische Schönheiten und künstlerischen Ernst. Die Hauptkünstlcr der Saison sind die
Damm Gazzaniga (28,000 Lire für drei Monate, 9333 Gulden), die Brambilla und
der Tenor Negrini (-18,000 Lire K000 Thlr.). — Zu Neapel im San-Carlo-
Thcatcr ist die neue Oper „Guido Calmar" von de Giosa mit großem Erfolge gegeben.
Die Hauptsänger der Saison sind die Damen de Kiuli und Mirata, und Herr Fcrri.
— Zu Rom ist die Erlaubniß zur Eröffnung der Theater erst in den Weihnachts-
feiertagen gegeben worden. — Die Fodor ist gegenwärtig bei der italienischen Oper
zu Brüssel. —
Am II. Januar ist Dcinhardstciu zu Wien gestorben. — In Berlin (Königstadt) hat das
traurige Schauspiel „die Bettlerin" von Masson, deutsch von I. Meißner, gut gefallen.
„Onkel Tom's Hütte" wird zu London und Paris in zahlreichen Bearbeitungen, so
gut wie in Deutschland, aus die Bühne geschleppt. Auch die Parodien dieses Stoffes
fangen an, sich auf dem Theater zu zeigen. „Die Makkabäer" von Ludwig bewahren
sich als das große Drama dieser Saison; sie sind u. A. in Dresden und Breslau
mit glänzendem Erfolge gegeben worden.
Das Hoftheater zu Weimar beabsichtigt in dieser Saison, wenn wir nicht irren,
im Februar, die drei großen Opern Wagner'S: „Der fliegende Holländer", „Tannhäuser"
und „Lohengrin" in einer Woche zu geben.
Der König von Preußen soll dem Ira Aldridgc die große goldene Medaille für
Kunst und Wissenschaft, im Werth von hundert Ducaten, übersandt haben. Wenn das
wahr wäre — und dieses Blatt ist der Meinung, daß es nicht wahr ist — so würde
diese Summe doch nur eine kleine Entschädigung für die Kosten sein, welche der große
Humbug vom afrikanischen Tragöden seinem Urheber gekostet hat. Der größte Theil
der deutschen Tagespresse hat sich bei dieser Gelegenheit durch die hergebrachte unschöne
Manier der englischen Tragödie und die unküustlcrische, physische Kraft eines Fremden
imponiren lassen.
— Der Kaiser von Oestreich hat dem königl. Landbau-
mcistcr C. W. Hoffmann in Berlin für dessen Werk: „die Wohnungen der Arbeiter
und Armen", durch den k. k. östreichischen Gesandten Grafen von Thun die große
Gelehrten-Denkmünze zu übersenden geruht.
Auf der permanenten Düsseldorfer Ausstellung wird es allmählich lebhafter, der
Wechsel rascher und die ausgestellten Gegenstände bedeutender. Vorzüglich sind eS
Ueberhand'sche Landschaften, welche die Aufmerksamkeit des Publicums fesseln, sowol
von Oswald, als von Andreas Ueberhand. Ersterer hat in einer großen „Italienischen
Landschaft" ans glänzende Weise den geheimen Schauer dargestellt, der die Natur vor
Ausbruch eines Gewitters durchzieht; letzterer in einer „Norwegischen Landschaft", die
Ruhe und Frische, die nach Entladung des Gewitters alles Lebende erquickt. Neben
diesen Bildern macht sich besonders ein „Eichenwald" von Kockkock bemerkbar, von guter
technischer Ausführung. Eine großartige Eompvsitiou führte uns Jordan in seinem
„Seestürme" vor. Beim Anblick dieses Bildes empfindet man es noch schauerlich,
selbst vom sichern Hasen aus Schiffbrüchige zu sehen. Im Portrait ringen zwei junge
Künstler um den Preis, Noeting und Niessen.
Die dem Bremer Kunstverein von dem verstorbenen Herrn Senator Klugkift ver¬
machte reiche, ziemlich vollständige Dürer-Sammlung ist im Lause des letzten Sommers
geordnet worden. Sie enthält fast sämmtliche ans die Persönlichkeit und das Leben
Albrecht Dürer's, so wie ans dessen Werke im Gebiete der Handzeichnung, der Kupfer¬
stecher- und der Holzschneidekunst bezügliche Blätter, und zwar sowol in trefflichen,
theilweise seltenen Originalen, als auch in vielfältigen Cvpicen.
Kaulbach hat eine großartige Zeichnung entworfen: Maebeth, wie er auf der Haide
den Hexen begegnet. Sie ist bestimmt für die neue Shakspeare-Prachtausgabe. Da¬
neben hat der berühmte Künstler ein zartes Bild vollendet: Eine Mutter, die im Korn
sitzend, ihr Kind säugt.
Lessings „Luther" ist bereits in der Untermalung sertig; geringer zwar an Umfang,
doch ein würdiges Gegenstück zum „Huß". Diese beiden bilden in der äußern Erschei¬
nung eine» so vollständigen Gegensatz, daß um eins »eben dem anderen betrachtet, die
volle Wirkung hervorbringt, — Hust, der Held des Leidens, umringt von Widersachern
am Ende seiner Laufbahn, Luther, der Mann der That, inmitten seiner Anhänger.
Die Gestalt Luthers auf dem neuen Bilde ist wahrhaft imposant. Noch in der Fülle
der Jugendkraft, aber im reifsten Bewußtsein seines Unternehmens, scheint seine Brust
aus gleiche Weise geschwellt von der Gluth des eigenen innern Dranges und der Wärme
des göttlichen Geistes.
Ueber eine neue große Cartvnzeichnnug als vierte Folge des KycluS: Die Ver¬
breitung des Christenthums, von G. König in München, bringt die Nugsb. Allgau.
Zeitung einer ausführlichen Artikel; hierin wird das Ganze klar, gesund und tief in
Idee und Auffassung und echt künstlerisch in der Durchführung genannt.
Die Fresken Giotto'S in Santa Croce zu Florenz sollen restaurirt werden. Der
mit dieser Arbeit beauftragte Künstler Biangli ist sehr gewandt, und die Stadt wird
dadurch mit einem wichtigen Kunstwerk bereichert.
A. Menzel's selbst besorgte Steinschabung seines vorjährigen großen Transparent-
bildcs: „Christus als Knabe im Tempel lehrend", ist im Kunsthandel erschienen, und
wird als geistvolle originelle Arbeit bezeichnet.
Der Maler Heinlein aus München hat einen Cyclus tyroler Landschaften in
Hamburg ausgestellt, die von dortigen Kunstkennern sehr gerühmt werden.
Dem Einsiedler Peter von Amiens soll eine Ehrensäule errichtet werden. Die
Gesellschaft der Altertumsforscher der Picardie fordert die ganze Christenheit zu Bei¬
trägen auf.
Lortzing'S Denkmal für den Sophienkirchhof zu Berlin ist fertig, aber das Geld
für die Ausstellung ist leider noch nicht vorhanden.
Der Bildhauer Achtermann ans dem Münsterland, gegenwärtig in Rom, hat vom
Bischöfe zu Münster den Austrag für eine Kreuzesabnahme Christi in Marmor erhalten.
— Die Musikalienhandlung von M. Schloß in Cöln hat eine ncncPreis-
bewerbuug für Componisten ausgeschrieben. Die Ausgabe besteht in einer Fantasie sür
Pianoforte über die beiden im Verlage der genannten Musikalienhand¬
lung erschienenen Preislicder von Th. Kirchner und C. Reinecke. Preis¬
richter sind Prof. Bischofs in Cöln, C. Reinecke, Lehrer am dortigen Conscrva-
torinm und Julius Tausch, Musikdirector in Düsseldorf. Die Fantasie kann über
eins der beiden Preislicder componirt werden; es steht aber auch dem Komponisten frei,
beide Lieder zu benutzen. Als erlaubter Grad der Schwierigkeit ist Hellers Bearbei¬
tung der Schubertschcn Forelle gestattet. An Umfang soll die Komposition 4 Druck¬
bogen nicht übersteigen. Zeit der Einsendung bis zum -I. Juni d. I. Der Preis
beträgt sechs Friedrichsd'or; die Musikalienhandlung erlangt« dasür das Eigen¬
thumsrecht an die Composition
Die bisherige Gesanglehrerin am Leipziger Cvnservatorium der Musik, Frau
Schäfer, hat ihre Stellung gekündigt und beabsichtigt selbstständig eine Operngescmg-
schnle zu gründen, deren Zweck dahin gerichtet ist, junge fähige Herren und Damen für
die Oper auszubilden. Es wird die Sorge des Instituts besonders diese sein, den
Schülern neben einer Anzahl zu erlernender Partien zu gleicher Zeit eine tüchtige
dramatische Vorbildung zu geben, so daß dieselben, wenn sie ihren Cursus vollendet,
den Bühnen möglichst brauchbar übergeben werden können, Frau Schäfer hat sich, um
gute Lehrkräfte zu gewinnen mit dem Musikdirector der Enterpe in Leipzig, A. F. Ric-
cius, und den als tüchtig bekannten, früheren Schauspicldingcnten Schäfer (Vater
der Schauspielerin Lina Schäfer) in Verbindung gesetzt und dieselben haben sich als
Mitnntcniehmcr ihr angeschlossen. Untcrnchtsgcgcnstände sind Gesang, in welchem jeder
Schüler täglich Unterricht genießt, meistentheils durch Frau Schäfer; Harmonielehre
und Clavier dnrch Herrn Niceins. der zu gleicher Zeit das Einstudiren und die
Aufführungen grösserer Stücke leiten wird ; Declamation, Sprachübuugcn und das Uebrige
zur dramatischen Ausbildung Gehörige dnrch Hera Schäfer. Der Cursus dauert 3
Jahre; fähigere und schon vorgerücktere Schüler entläßt die Anstalt nach Ermessen in
kürzerer Zeit. Das Honorar beträgt jährlich "120 Thaler, und ist in vierteljährigen
Raten im Voraus zu bezahlen.
Die in Dessau durch or. Friedrich Schneider begründete Musikschule wird jetzt
von dem Sohne, Theodor Schneider, Kammcnuusikus in Dessau, fortgeführt und
zwar ganz in der Einrichtung und nach den Grundsätzen seines Vaters. Der Cursus
dauert drei Jahre, und in dieser Zeit werden den Schülern Harmonielehre, Modulation,
Rythmus, Stimmenführung Contrapunkt, Mclodicbildung, Formen- und Compvsitivns-
lehre, Nachahmung, doppelter Contrapunkt, Fugcnbau, Partiturstudicn und Dircctions-
kenntniß gelehrt. Das Honorar beträgt jährlich 48 Thaler.
Ricks W. Gabe hat am 1. Jan. seine Thätigkeit als Dirigent der Gewand-
hausconcerte begonnen; Ferd. David ist wieder an das Pult des Conccrtmeistcrs ge¬
treten. Als Novitäten der letzten Gewandhausconcerte sind zu erwähnen, die Jnstru-
mcntalcinleitnng und die Schlußscenen des ersten Actes aus Lohengrin von N.
Wagner; die hier schon genannte Frnhlingsphautasic für 4 Solostimmen, Pianoforte
und Orchester von Gabe, von ihm selbst vorgeführt, ferner eine Sinfonie in 6-moII
von Franz Lachncr unter Direction des Komponisten. Auch Rob. Schumann's
Ouvertüre zu Jul. Caesar, zuerst aufgeführt am großen Düsseldorfer Gcsangfefte, haben
wir hier gehört. — C. Reinecke in Cöln hat eine Ouvertüre zu Shakspeares Hamlet
geschrieben, welche in der dortigen musikalischen Gesellschaft ausgeführt wurde und in
dem nächsten großen Concerte wiederholt werden soll.
Fr. Liszt's französisches Buch über Tannhäuser und Lohengrin von Richard
Wagner ist einer guten und fließenden deutschen Übersetzung in der Verlagshandlung
von Franz Carl Eisen in Cöln erschienen und somit dem großem Publicum der Weg
geöffnet worden, sich mit Liszt's intressantcr Anschauung der Wagner'sehen Musik bekannt
zu machen. Die Grenzboten haben das Werk schon in der Originalausgabe besprochen
und sie haben hier nichts Weiteres hinzuzufügen, als die Erwähnung der Vorrede des
deutschen Uebersetzers. Bekanntlich hatte sendo in der An-vu« ctvs eloux Nonäks Lißt's
Art französisch zu schreiben hart angegriffen. Der Uebersetzer versucht eine Ehren¬
rettung des Autors und bemüht sich nachzuweisen, daß sein Styl dem der besten fran¬
zösischen Schriftsteller an die Seite zu stellen sei. „Die französischen Tadler stehen nicht
auf der Hohe, um Liszt's Styl zu würdigen, betrachten denselben dnrch die längst trüb
angelaufenen Brillen der Vierziger der Akademie, denen noch ein Boileau die höchste
Autorität." ---
— Prosper Mörimee hat ein« historische
Studie über den futschen Demetrius vollendet, vo» der wir das Beste erwarten, wenn
wir seine frühere Leistung in dem Werte „Peter der Grausame" in Anschlag bringen,
Er hat seine Arbeit auch gleich zu einer dramatischen Studie benutzt, die er in der
Kövuo als äcmx Noncles mittheilt. Wenn auch Alles, was er schreibt, sehr sein und
sorgfältig ausgearbeitet ist, so hat doch die völlig »»künstlerische Form, das Durchcin-
andcrwcrfcn vo» genrchaft ausgeführten historischen Scenen, etwas Unerfreuliches.
Es ist dieselbe Methode, die er schon früher beim Beginn seiner poetischen Laufbahn
im Theater der Clara Gazul angewendet hat. Die französischen Kritiker haben voll¬
kommen Recht, auf die individuelle, realistische Sprache der Wahrheit bei ihm im Gegen¬
satz gegen die herrschende Phrase ein großes Gewicht zu legen, aber das Detail kann doch
nicht die künstlerische Totalität ersetzen. — Alexander Dumas arbeitet in Belgien
an einem neue» Roman: Isaac Laqucdcm. Er erklärt denselben für das Hauptwerk
seines Lebens, das seinen Namen aus die Nachwelt bringen soll, und versichert, viel-
jährige Studien zu demselben gemacht zu haben. Den Raum hat er aus das beschei¬
dene Maß von achtzehn Bänden eingeschränkt. Duma« hat am Ende der 20er Jahre
für die Regeneration des Theaters, wenn auch nach einer falschen Richtung hin, sehr
viel gethan, und im Anfang der iOcr Jahre hat er im Roman eine Productivität
entwickelt, die uns zwar keine musterhafte, natürliche und ideale Welt, aber doch eine
ziemlich heitere und buntbewcgte ausschließt. Was er aber in neuester Zeit geschrieben
hat, ist so vollständig abgeschmackt, daß die Kritik nichts mehr damit zu thun hat, und
daß es unsre Erwartung auf dieses neue Kunstwerk nicht zu hoch spannt. Der Consti-
tutionel brachte den Anfang des Romans. Da plötzlich erklärte der Erzbischof von Paris,
er werde in allen Kirchen gegen das Blatt predigen lassen, wenn dasselbe die Publica¬
tion des Romans nicht einstelle. ES hat sofort den weiteren Abdruck eingestellt.-- Eugöue
Pelletan hat in seiner Profession als loi ein XIX. siöole eine Art demokratische Geschichts-
Philvsvphie gegeben, mit so blumenreiche» und überschwenglichen Ausdrücken, wie sie
früher nur in der deutsche» Philosophie üblich wäre», wie sie aber namentlich durch
Michelet und Quinet jetzt zum Schrecken aller Akademiker vollständig in die französische
Sprache eingebürgert sind. Viel Nutzen wird die Wissenschaft daraus nicht ziehen, und
die politische Gesinnung auch nicht, denn dergleichen forcirte Gefühlsäußerungen führen
eher zur Blasirtheit, als zu einer consequenten hingebenden Thätigkeit für die gute
Sache.
Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Vierte
Lieferung. Leipzig, Wcidmamsschc Buchhandlung. 1852. — Dieses Natioualwcrk schreitet
rüstig vorwärts. Mit der vierten Lieferung ist der Buchstabe A so ziemlich beendet,
und die nächsten Abtheilungen werden uns bald tief in die Cousouautc» des Alphabets
hereinführen. Für besonnene Abonnenten nämlich, welche doch wissen wollen, welcher
Anzahl von Lieferungen sie ihre Zukunft verkauft haben, sei bemerkt, daß der Buchstabe
A der mächtigste Herrscher im deutschen Alphal'et ist, denn fast ein Zehntel der deutschen
Wörter trägt sein Zeichen an der Stirn, Die nächstgroßen sind S. und B. Da
nun mit vier Lieferungen dieser große Herr fast ganz beseitigt ist, so wird nach
sicherem Calcul das Ganze etwa i-2—i3 Lieferungen stark werden. Die vortrefflichen
Citate scheinen an Mannichfaltigkeit noch z»ge»omne» zu haben, die ungeheure Baden-
tung dieses Werkes wird die Welt bei aller Theilnahme, welche dem Unternehme» jetzt
entgegenkommt, erst dann erkennen, wenn es vollendet sein wird. Ein Bild unsrer
Sprache und ihrer Entwickelung, ein unerschöpflicher Quell für Erkenntniß und Stu¬
dium derselben und ein Gesetzbuch, welches aus die lebendige Fortbildung unsrer Sprache
vielfach fordernd wirken wird.
Reise nach dem südlichen Frankreich und durch die südlichen Küstenge-
genden von Piemont und Italien von l)r, G. H. von Schubert. Zwei
Theile. Erlangen 18ki3. I. I. Palm und Ernst Ente. — Ist eine neue Auflage der
bekannten Reise, welche der Verfasser im Jahre -I8AK gemacht hat. Vieles in dem Werk
ist doch nicht veraltet. Die streng religiöse Richtung des Verfassers und eine gewisse
Behaglichkeit, welche nicht frei von Manier ist, stören zuweilen den gebildeten Leser,
aber doch sieht man mit Freude» fast auf jeder Seite etwas Interessantes beschrieben
oder erzählt, und man empfindet sehr lebhast den Unterschied, der zwischen den Interessen
eines Gelehrten und eines vergnügnugslustigeu Touristen ist. Für den Naturforscher
Schubert hat die Ratnr ein anderes, imponirendes Leben, als für den nur Genießenden;
jeder Felsblock, jede Tanne, der Fisch ans dem Markte zu Neapel, die Fettblume, bei
welcher der Postwagen vorbeifährt, erscheinen ihm als Bekannte, als nahe Freunde,
deren Familienverhältnisse und Persönlichkeit er genau kennt, und über die er uns
etwas Interessantes zu sagen weiß. Vielleicht bat den Verfasser manchmal eine gesuchte
Glätte der Darstellung, welche an den alten Geheimrath Goethe erinnert, verhindert,
uns Laie» bei den einzelnen Eindrücken, welche ihm die Natur machte, Alles zu sagen,
was uns belehrt und erfreut haben würde, und die Reise hätte wol noch gewonnen,
wenn mehr vom Naturforscher darin zu finden wäre. Doch ist des Interessanten nicht
wenig, und auch da, wo er andere Reiseeindrücke schildert, weiß er sich geschickt und
mit Selbstgefühl in der Fremde zurecht zu finden. —
Wanderungen durch London. Von Max Schlesingcr. Zweiter Band.
Berlin, Franz Duncker. 18!>3. — Dieses Blatt hat bereits den ersten Theil mit dem
warmen Antheil angezeigt, den dieses interessante Buch verdient. Der zweite Theil hat
nicht weniger Recht, die Aufmerksamkeit aus sich zu ziehen. Ein Abschnitt daraus, „die
Times und ihr Geschäft" ist in diesem Blatt selbst vor dem Erscheine» des Buches mit-
getheilt worden. Außer vielem Andern verdienen die Eapitel über die Parlamentshäuser,
die Presse und die Theater zu London besondere Auszeichnung. Die leichte, oft graziöse
Darstellung nud das. große Talent des Verfassers, anschaulich zu schildern, machen die
Lecture nicht nur belehrend, sondern auch unmuthig. Da Schlesingcr selbst ein
Bürger Londons geworden ist, so ist in seinen Beobachtungen eine Ruhe und Sicher¬
heit, welche ein reisender Tourist nicht leicht erreicht. Wer die Grenzbotc» seit längerer
Zeit liest, wird in einzelnen' Personen, welche in dem Buch vorgeführt werden, alte
Freunde dieses Blattes wiedererkennen. Möchten unsre Leser sich ihrer eben so gern
erinnern, als wir die Thätigkeit derselben für unser Blatt ungern vermissen.
Briefwechsel und mündlicher Verkehr zwischen Goethe und dem Rath Grüner. Leipzig,
G, Mayer, 1853.
Der hier angezeigte Beitrag zur Goethe-Literatur hat deshalb el» besonderes
Interesse, weil er uns den Dichter im originellen, geselligen und geschäftliche»
Verkehr mit einem böhmischen Gastfreund zeigt. Goethe's großer Sammet
trieb, seine naturwissenschaftlichen und Kunstsammlungen sind Hintergrund der
freundlichen Beziehungen, welche er auf seinen Badereisen mit einem würdigen
»ut unterrichteten Beamte» des Polizciamtö zu Eger angeknüpft hatte. Im
Jahre 1820 wurde der damalige Magistratsrath Grüner mit Goethe bekannt
»ut, durch deu Zauber der mächtigen Persönlichkeit gefesselt, bald der regelmäßige
Begleiter Goethes ans dessen geognostischen Ausflügen im Egerlande, ein freund-
licher Agent »ut Beförderer deö Miueralieucabuiets, e»dlich ein anhänglicher und
werthgeacbtetcr Gastfreund des Dichters, welcher im Jahre 182S zum övjährigen
RegieruugSjubiläum Karl Angust's nach Weimar kam und dort in Goethe'S Hanse
wohnte. Bis zum Tode Goethe's danerte» die freundschaftliche» Beziehungen;
der letzte Brief des große» Mannes an Grüner ist vom 14. März 1832, sieben
Tage vor seinem Ende, datirt. Herr Grüner hat mit großer Pietät »ut Be¬
scheidenheit in dem vorliegenden Buche die Briefe Goethe's und die kleinen Er¬
eignisse ihres persönlichen Verkehrs mitgetheilt. Das Werk' ist der würdigen
Großherzogin von Weimer gewidmet und eine dankenswerthe Arbeit, für welche
der Herausgeber, um Goethe'S Worte zu gebrauchen, belobt sein soll. Der
Biograph Goethe's wird viele interessante Notizen darin finden^), und für alle
Leser wird es anziehend sein, den alten Herrn in seinem Verkehr mit Sammlern,
im Tauschhandel und in seiner Betrachtung der Natur- und Kunstgegenstände zu
verfolgen. Ueberall wirkt er anregend und belehrend. Den Rath Grüner macht
er zu einem leidenschaftlichen Mineraliensammler, den Grafen Caspar Sternberg
veranlaßt er, einen Schacht von der Soole eines Hügels bei Franzensbad auf
einen vorgeblichen Krater zu treiben, um die Eruptionsspalte aufzufinden, für
alle Erscheinungen des Menschenalters und der Natur zeigt er selbst ein tieferes
Interesse, und die Sitten und Trachten des Egerlandes, ein alter Thurm, ein aus dem
Wasser gezogener Baumstamm, Fabriken und Jndustrieerzeugnisse, das Alles sind Ge¬
genstände, denen er nach seiner Weise „etwas abzugewinnen" sucht. Am merkwürdigsten
aber erscheint sein großer Sammeltrieb. Rath Grüner besaß z.B. einen Mosaikschrank,
ein Familienstück, zum Theil von ausgezeichneter Arbeit. Dieser Schrank zog den großen
Herrn wie mit Zauberkraft an; so oft er seinen Gastfreund in Eger besuchte, blieb er
nachdenkend vor diesem Pretiosnm stehen. Gleich im Anfange der Bekanntschaft machte
er dem Besitzer den Vorschlag, einen Theil des Mosaiks herauszuschreiben und gegen
eine namhafte Summe der Goethe'scheu Sammlung zu überlassen, und als Grüner
darauf nicht recht eingehen wollte, schied er von diesem Mosaik mit einer gewissen
schmerzlichen Resignation, und wir thun dein vortrefflichen Verehrer Goethe's
wol kein Unrecht, wenn wir annehmen, daß die achtungsvolle Freundschaft,
welche Goethe ihm schenkte, zum — sehr kleinen — Theil durch die verehrungs¬
volle Zärtlichkeit genährt wurde, welche der Dichter, so lange er lebte, für dieses
Mvsaitstück fühlte.
Unter den zahlreichen Bekannten, welche Goethe im Egerland bei seinen
wiederholten Badereisen an sich fesselte und für seine Interessen zu verwenden
wußte, war auch eine sehr merkwürdige Person, der damalige Scharfrichter von
Eger, Karl Huß, dessen Lebensschicksale im vorliegenden Buche ausführlich er¬
zählt sind. Seine Bekanntschaft mit Goethe stammte schon aus früherer Zeit.
Grüner erzählt —leider mit wenig Worten—daß Goethe einst im Hause des Nach-
richters in abenteuerlicher Laune ein Frühstück veranstaltet und mit einer berühm¬
ten Opernsaijgerin eingenommen habe. In dem Buche selbst erscheint Herr Huß,
wie ihn Goethe nennt, als einer von den Kuriositäten- und Naturalieusammleru
des Dichters. Goethe läßt ihn gern grüßen, sendet ihm merkwürdige Münzen,
und läßt sich von ihm ungewöhnliche Krystalle und Fossilien zusammensuchen; er
besticht ihn bei seinen Aufenthalten in Eger und wird von ihm hochachtungsvoll
wieder besucht. Wenn der schlaue Scharfrichter den Fundort seltener Mineralien
als Geheimniß auch dem Dichter verbirgt, so lockt ihn Goethe durch übersandte
Beutel mit alten Münzen und das Versprechen seltener Sämereien zum Geständniß.
Karl Huß war im Jahre -1761 zu Brüx in Böhmen geboren, Sohn des
dortigen Scharfrichters, der auf seine Erziehung mehr Sorgfalt verwandte, als
sonst bei Meistern dieses düstern Handwerks üblich ist. Er sandte den 9jährigen
Sohn auf das Gymnasium, dort wurde der Knabe aber von einem unverständigen
Professor aus dem Piaristeuorden in brutaler Weise als unehrliches Kind
mißhandelt, seine Klagen fanden bei dem Vater, der stolz auf die projectirte
Pricstercarrisre seines Sohnes war, kein Gehör, bis der verzweifelnde
Knabe endlich in die Welt lief. Er wurde zurückgebracht und nach großer Fa¬
milienscene und Rührung des Vaters im Hause behalten und durch Privatlehrer
unterrichtet. Kein Handwerk wollte den heranwachsenden Sohn des Scharfrichters
aufnehmen, er half daher dem Vater bei der Feld- und Garteuarbeit, und wurde
von diesem in die uralten Geheimnisse der Zunft eingeweiht, Menschen und Thiere
ans energische Weise ans der Welt zu schaffen, und die übrig bleibenden von
Krankheiten zu heilen. Schon als löjähriger Knabe sccundirte er seinem Vater
bei einer der furchtbaren Amtsverrichtungen, und einige Jahre darauf hatte er
selbst in der Führung des großen Schwertes unheimlichen Ruf erlangt, und wurde
-- mit knapper Besoldung — als Scharfrichter zu Eger angestellt. Er war ein
sehr hübscher, interessanter Junge, hatte ein gewandtes Benehmen, die Gabe, gut
zu sprechen, übte sein schauerliches Amt mit tragischen Auslande, und galt weit
und breit, zumal bei dem Landvolk, für einen der geschicktesten Aerzte, der heimlich
bei Nacht geholt wurde, und durch seine geheimnißvolle Erscheinung deu Tod
vom Bette des Kranken zu verjagen wußte. So hatte er auch ein junges Bürger-
mädchen geheilt, und diese sich leidenschaftlich in die phantastische Person ihres
Retters verliebt. Die Verwandtschaft war entsetzt über seine Bewerbung, er aber
entführt« seine Sophie, verbarg sie bei einem Förster, und ließ sich endlich mit ihr
trauen. Aber Huß war anch sonst kein gewöhnlicher Scharfrichter. Kopfabschlagen und
Beinbrüche heilen befriedigte sein Herz nicht ganz, selbst die Liebe vermochte das
nicht. Er hatte die Wissenschaft ehren gelernt und strebte nach Höherem. In
seinem Interesse für viele Dinge, die nicht zu seinem Handwerk gehörten, verfiel
er zunächst darauf, Münzen zu sammeln. Bei seiner ausgebreiteten Bekanntschaft
unter dem Landvolk wußte er durch Tausch und als Belohnung für glückliche
Curen eine Masse alter Münzsorten an sich zu bringen, welche in dem nördlichen
Böhmen zahlreich vorhanden waren und gern als Pathengeschenke benutzt wurden.
Ein gelehrter Professor des Gymnasiums lieh ihm Bücher über Münzkunde und
lehrte ihn alte Buchstabe», Zeichen und Köpfe der Münzen verstehen und deuten.—
Auch Mineralien sammelte er auf seinen Wanderungen, besonders Erzstufen, und
bemühte sich redlich, dieselben nach einem mineralogischen Lehrbuch zu unterscheiden
und zu ordnen. Freilich begegnete es ihm zuweilen, daß er seltene Stücke mit falschen
Namen und Etiquetten versah, an solchen Irthümern hielt er starrköpfig fest, selbst
wenn er eines Bessern belehrt wurde. Auch Alterthümer sammelte er, als: alte
Gewehre, Schwerter, Lanzen, Gerätschaften, Krüge, Gläser, endlich auch Holz-
gattungen und Sämereien. Der Sammeltrieb wurde bei ihm zur Leidenschaft.
Oft warf er sich schlaflos auf seinem Lager herum und sah im Geiste irgend eine alte
Münze, ein Gewehr, ein Glas, von denen er Kunde erlangt hatte, in glänzen¬
den Farben vor sich stehen. Dann sprang er wol mitten in der Nacht ans, und
der Schwertmann von Eger schritt durch Nacht und Sturmwind über die
Berge nach Sachsen, ja nach Baireuth und Franken, um seine Sehnsucht zu
befriedigen, und glücklichen Tausch oder Kauf zu macheu.
Mit seinen Sammlungen schmückte er seine Wohnung, eine Hausflur und
zwei kleine Zimmmer, recht gemüthlich aus. Ju der Hausflur standen Schränke
mit Mineralien, Muscheln und ausgestopften Vögeln, an der Decke hingen ge¬
spenstige Seefische. In dem Zimmer rechts waren alte Waffen, Harnische,
Helme und der Schrank mit der Münzsammlung aufgestellt. In einem beson¬
dern Schranke daneben glänzten die Schwerter, mit denen Huß selbst ruhmvoll
die Kopfe verschiedener Verbrecher abgeschlagen hatte, und neben diesen Schwertern
hielt eine hölzerne Figur dem Eintretenden eine Schüssel entgegen, mit der In¬
schrift : „Beiträge zu den schönen Wissenschaften."
Aber Huß war anch im Zeichnen und Malen nicht ungeschickt; er copirte
einige alte Oelbilder, welche ihm Rath Grüner geliehen hatte, Ansichten der Stadt
Eger, und malte alle ihm bekannten Wappen der Adels- und Patriciergeschlechter
für seine Sammlung.
Als das Franzensbad emporblühte, wuchsen auch seine Sammlungen, beson¬
ders das Münzcabinet. Häufig besuchten ihn vornehme Curgäste als eine Kurio¬
sität und beschenkten ihn reichlich, Gelehrte von Fach traten mit ihm in
Korrespondenz, er wurde in öffentlichen Blättern öfters ehrenvoll erwähnt, man lobte
seine Ordnungsliebe, seine historischen Kenntnisse, sein in der That bewunderns¬
würdiges Gedächtniß.
Ueber dreißig Jahre hatte er mit unermüdlichem Eifer gesammelt. Da
wurde ihm der Gedanke schmerzlich, daß nach seinem, des kinderlosen Mannes
Tode seine mühevoll zusammengebrachten und kostspieligen Sammlungen zer¬
splittert werden würden. Grüner vermittelte deshalb den Verkauf der Samen- ^
lungen (die Münzsammlung allein hatte einen Metallwerth von circa 12,000
Gulden C. M.) an den Fürsten Metternich von Köuigswarth. Huß erhielt eine
Leibrente vou 300 Gulden, resigniren auf seineu Dienst, wurde Bürger von
Eger, und im Köuigswarther Schloß Custos seiner Sammlungen. Dort hatte
er beträchtliche Einnahmen, lebte und starb zufrieden.
Das war der merkwürdige Mann, der anch in dem Leben Goethe's eine
bescheidene Rolle spielte. Derselbe Sammeltrieb, der dem großen Dichter in
der letzten Hälfte seines Lebens so viele kleine Freuden machte, hatte auch den
armen Huß aus dem Banne eines finstern Schicksals und beschränkter Verhält¬
nisse herausgehoben zu einer bessern Existenz, hatte seine Seele mit ehrenwerthen
Interessen erfüllt und seinem Leben Freunde, Gönner und Verbündete gewonnen.
Und wenn Goethe seinen Geschäftsfreund mit der Achtung und diplomatischen
Klugheit behandelte, welche den geschäftlichen Verkehr leidenschaftlicher Sammler
»meer einander von je ausgezeichnet hat, so mögen wir überzeugt sein, daß der
große Mann auch mit warmer menschlicher Freude empfand, daß hier eine
Menschenseele durch dieselbe Liebhaberei, die er hatte, gebildet und verschönert
worden sei. Gemeinsame Freude an deu Gebilden der Kunst und Natur war
es, was den größten Dichter der deutschen Nation mit dem Nachrichter vo» Eger
in ein gemüthliches Verhältniß brachte, und ein leichtes Band wob zwischen dem
Gönner der Gelehrten, dem Lieblinge der Unsterblichen und dem arme», aben¬
teuerlichen Autodidakten, den alte Münzen »ud Steine dafür trösten mußten,
daß ihn die Menschen in seiner Umgebung nicht als ihres Gleichen achteten.
Dieses Bl> knüpft an die Empfehlung dieses Werkes die Erwähnung eines andern
an, in welchem ebenfalls einiges Bemerkenswerthe über Goethe zu finden ist.
Im Jahre erschien i» Wien die „Biographie des Adelbert Gyrowetz",
von ihm selbst geschrieben. Natürlich hatte das Jahr keine Aufmerksamkeit und Theil¬
nahme für das letzte Lebenszeichen eines Mannes, dessen künstlerische Wirksamkeit lange
schon aufgehört hat. Wenn auch Gyrowetz für die Kunstgeschichte von geringer Bedeutung
ist und seinen Lohn in dem lauten Beifall seiner Zeitgenossen dahin hat, so ist ihm doch
das bescheidene Andenken, das er seinem Streben in dieser kleinen Schrift gestiftet hat,
wol zu gönnen, und die außerordentliche Naivetät, mir der er sein Leben erzählt, ist
in der Literatur selten genug, um einige Aufmerksamkeit zu verdienen. Einen Beleg
dafür mag der Bericht über sein Zusammentreffen mit Goethe in Italien geben, den die
Verehrer des Dichters nicht ohne Lächeln mit dessen Darstellung zusammenhalten werden.
Als Gyrowetz nicht lange in Rom angekommen war, erschien, so heißt es wörtlich,
der schon damals berühmte Dichter und Schriftsteller Goethe, welchen der Großherzog
von Weimar nach Sicilien schickte, um dort die Merkwürdigkeiten der Natur zu besehen
und zu beschreiben, welche nebst viele» anderen bewundernswürdigen Sachen auch darin
bestehe», daß man i» den Fclseuwäiide» ga»z ordentliche Schlachten und Gemälde-
Vorstellungen allein durch die Natur also gezeichnet und ausgebildet antrifft, als hätte
sie der erste Künstler gezeichnet und ausgchciuen, — Einstweilen blieb Goethe für einige
Zeit in Rom, und es bot sich dem Gyrowetz die erwünschte Gelegenheit dar, dessen
nähere Bekanntschaft zu machen; so geschah es, daß Gyrowetz in Goethe's Gesellschaft
die Merkwürdigkeiten Roms besah, manche alte Ruine selbst mit Gefahr bestieg, und
aus diese Art die meiste Zeit in Durchschauung und Durchstreifung verfallener Denk¬
mäler und in Bewunderung so mancher künstlerischer Schätze zubrachte. Die Bäder
des Caracalla wurden durchsucht, wo man aus lauter Mosaik-Bruchstücken herum-
wandelt, und noch die Säle zu sehen sind, worin die Gladiatoren ihre Spiele
übten, und auch sonstige Volks-Unterhaltungen ausgeführt zu werden pflegten. Auch
fand man unter diesen Ruinen zuweilen einige Bruchstücke von alten musikalischen In¬
strumenten, welches dann Gelegenheit gab, über alte und neue Musik und deren Aus¬
übung und Zustand Manches zu sprechen und zu bemerken, worin auch Goethe bewies,
daß er einen richtigen Begriff von gründlicher und wohlgeordneter Musik besaß, und
nicht mit Denjenigen gleicher Meinung war, welche jede Musik, geordnet oder ungeordnet,
für classisch halten, wenn selbe durch bizarre ungeregelte Ideen, durch Getöse und Lärm,
oder durch verwirrte Modulationen dem Ohre fremd klingt, und so Etwas in der Musik
für neu halten, weil es eben durch seine Unregelmäßigkeit und Systemlosigkcit ihrem
Ohr als ungewöhnlich erscheint, und womit sich so manche, selbst verständig scheinende
Musiker gröblich täuschen lassen. Wenn diese Durchsuchungen und Beschauungen so
vieler Alterthümer zum Theil beendet waren, und der Tag sich zu »eigen schien, wurde
eine Abendgesellschaft beschlossen, in der sich mehrere Künstler und Schriftsteller einsenden.
Man bildete einen Kreis in Mitte eines großen Zimmers, in welchem sich ein Kessel
mit glühenden Kohlen befand, der die Anwesenden, weil es damals schon Winter war,
(nach Art der Römer) vor Kälte schützte, und sie in Vertraulichkeit einander näher brachte.
Goethe führte den Vorsitz. Gespräche aller Art wurden nun gewechselt; ein Jeder er¬
zählte die besonderen Ergebnisse seines Lebens. Abenteuer und Zufälligkeiten der Um¬
stände bildeten den Stoff der Erzählungen, bis die spätere Abendzeit einbrach und einige
Erfrischungen aufgetischt wurden, welche in Brod, Käse, Salami und derlei kalten
Speisen bestanden, wozu denn auch Bier, welches ein deutscher Braumeister in Rom
gebraut hatte, gebracht wurde; auf diese Art verging der Abend auf eine sehr angenehme
Weise, und gegen A oder 3 Uhr Morgens trennte sich die Gesellschaft, und Jeder ging
nach seiner Wohnung, um auszuruhen und sich für den künftigen Tag vorzubereiten.
Diese Lebensweise wurde so lange sortgesetzt, bis Goethe Rom verließ und nach Neapel
verreiste.
Später ging dann auch Gyrowetz nach Neapel. Zur nämlichen Zeit war es, so
erzählte er, daß Goethe aus Sicilien nach Neapel zurückkam, und Gyrowetz aus der
Promenade gi ßjgrclino reale traf, wo sie Beide öfters zusammen auf- und abginge»,
und nebst anderen Gegenständen Vieles über Musik und über den Zustand der Musik
in Italien überhaupt sprachen. Goethe bewies dabei, daß er sehr große Kenntniß in
der Musik besitze; er behauptete auch, daß die alten italienischen Meister in ihren Opern
mehr contravunctischc Figuren anzubringen suchten, und mehr für de» Sänger als für
das Orchester in ihrem Satz gesorgt hätten. Auch hätten die alten Meister vermiede»,
die Stimme des Sängers dnrch starke Instrumentirung und besonders durch zu viele
Anwendung der Blasinstrumente zu bedecken. Zu jener Zeit wurden auch bei dem
östreichischen Gesandten, Baron Thugut, mehrere Concerte dnrch den Legationsrath
Hadrale veranstaltet, wozu auch Goethe, so wie Gyrowetz geladen wurden. Als
Gyrowetz dort eingetreten war, fand er Goethe zwischen einer Thürschwelle, die in den
große» Saal führte ganz allem und unbeachtet dastehen. Gyrowetz ging sogleich zu
ihm, »»d sagte ihm, er möchte doch vorwärts in den Saal schreiten, und nicht so
versteckt dastehen. Goethe dankte höflich und bat, man möge ihn da nur ruhig stehen
lassen, er höre Alles, und liebe nicht, in die große Welt zu treten „Ueberhaupt war
zu dieser Zeit das Benehmen Goethe's sehr freundlich, ja sogar etwas schüchtern und
demüthig." Goethe hielt sich nicht lange mehr in Neapel ans, und reiste bald nach seiner
Heimath zurück.
Die Holländer schicken bekanntlich alle Jahre, einem Handelsvertrag mit
dem Kaiser von Japan gemäß, ein Schiff nach Japan, in dem sie den Japanern
Colonialwaaren, besonders Zucker, europäische Stoffe ze. :c., bringen und da¬
für von Japan Kupfer, eine besondere Art Metall, der Bronze ähnlich, und noch
manche andere Gegenstände zurückbringen. Dieses Geschäft hat allein die Re¬
gierung, außerdem aber verpachtet sie noch den Detail-Handel für lackirte Waaren,
Seidenzeuge, Spielereien ze. ze. ze., für eine sehr beträchtliche Summe an
Privatleute. Diese gehen mit demselben Schiff nach Japan über, haben ihre
gewissen Waaren, die sie dort an die Japaner absetzen, und bringen dafür einen
bestimmten Antheil Fracht für sich selber — der aber nicht solche von der Re¬
gierung selber ausgeführte Producte begreifen darf, nach Batavia herüber.
Alle drei Jahre geht dann eine Deputation von zwei von der holländischen
Regierung Abgesandten nach Jeddo, der Residenz des Kaisers, die dort üblichen,
und schon so viel besprochenen und bekrittelten Huldigungen darzubringen. Diese
Deputation wird aber streng bewacht, darf natürlich die ihr vorgeschriebene
Straße unter keiner Bedingung verlassen, und muß, sobald die Huldigung —-
die ganze Reise hat keinen andern Zweck — vorüber ist, augenblicklich wieder
nach Decima, einer kleinen Insel und dem Sitz der holländischen Faktorei, zu¬
rückkehren, wo sie durch eine Zugbrücke, die kein Europäer überschreiten darf,
von dem festen Lande total abgeschnitten und geschieden sind.
Der Kaiser von Japan ist ein strenger und von seiner Stellung nicht wenig
eingenommener Herr. Als ihm der König von Holland vor einiger Zeit einmal
Geschenke, ich glaube ein kostbares Service oder etwas dem Aehnliches überschickte,
wurden Se. kaiserl. Majestät sehr ungnädig darüber, und meinten, was dem
König von Holland wol einfiele, als ob sie gegenseitig in einer Stellung stän¬
den, daß er dem Kaiser von Japan Geschenke anbieten könne — wenn er, der
Kaiser, ihm das thäte, wäre es etwas ganz Anderes. Er hat auch richtig Nichts
angenommen. Als ein Zeichen seiner noch fortdauernden Huld oder Duldung
vielmehr schickt er aber alljährlich dem Gouverneur von Java — es ist eigentlich
boshaft — ein Dutzend seiner eigenen seidenen Schlafrocke. Diese bilde» ein
stereotypes Geschenk und werde», so wie sie nach Batavia komme», uuter der
Firma „kaiserliche Schlafrocke" augenblicklich in die Auction geschickt.
Wenn Se. Majestät der Kaiser von Japan das einmal erführen, oder ob
Sie denken, daß der Gouverneur von Indien jedes Jahr zwölf über einen Zoll
dick wattirte Schlafrocke in einem Klima wie Batavia auftragen soll?
Die Strenge, mit der sich aber bis jetzt noch die Japanesen jeden Fremden
nicht allein, nein Alles, was mit Fremden nnr in die geringste Berührung ge¬
kommen ist, vom Leib zu halten wissen, soll wahrhaft grausam sein. Bekannt
ist, daß, wo ein Schiff an der japanischen Küste strandet, ihm jede nnr mögliche
Hilfe geleistet wird, es dann aber mich so schnell wie möglich, und ohne irgend
mit Jemandem an der Küste verkehren zu dürfen, eilen muß, daß es wieder
fortkomme. Solcher Fälle sind, besonders in letzterer Zeit, verschiedene vorge¬
kommen. Wenn aber z. B. ein japanischer Fischer je mit einem fremden Schiff
draußen im See verkehren sollte, hätte er sicher den Tod zu gewärtigen, ja
Fischerboote selbst, die bei stürmischem Wetter weit hinaus verschlagen und von
europäischen oder amerikanischen Schiffen gerettet und an ihre Küsten wieder zu¬
rückgebracht wurden, haben die genaueste Untersuchung zu bestehen, ob sie wirklich
gar keine Möglichkeit mehr vor sich hatten, irgend einen Theil der japanischen
Küste zu erreichen, ehe sie die Hilfe der Fremden in Anspruch »ahmen. Stellt
sich das endlich heraus (und solche arme Teufel bitten gewöhnlich die ssapitaiue
der Schiffe, die sie aufnehmen, vor allen Dingen ihr Boot zu zerstören,
damit dies nicht als Beweis gegen sie gelten könnte, wenn es noch in einem
einigermaßen seefähigen Zustand gefunden würde), so wird ihnen allerdings das
Leben geschenkt, aber ihre Familien sehen sie nicht wieder — sie sind abgeschlossen
von dem Verkehr mit ihren LandölcMen ans Lebenszeit.
Manche Leser d. Bl. haben vielleicht anderswo gelesen, daß ich, von den
Sandwichs-Jnseln ans, eines Wallfischbootes erwähnte, mit dem damals gerade,
als ich in Honolulu war, drei Menschen ausgerüstet wurden, von denen einer
oder zwei japanische Fischer waren, die früher, von ihrer Küste verschlagen, von"
einem Amerikaner auf. und mit nach Amerika genommen wurden. Diese wollten
damals nach längerem Aufenthalt nnter Fremden, in ihr Vaterland zurückkehren,
und ihnen hatte sich, glaube ich, ein Amerikaner angeschlossen. Die Amerikaner
interessirten sich damals auf Honolulu ungemein für diese kleine Expedition
und es wurde eifrig gesammelt, sie mit allem Nöthigen, wie Instrumenten,
Compaß, Kleidern und Provisionen zu versehen, das Boot war, wenn ich nicht
irre, ebenfalls durch Beiträge für sie angekauft, und ein amerikanisches Schiff,
das in der Nähe Japans vorbeisegelte, erbot sich, sie mitzunehmen, die Haupt-
insel in Sicht anzukaufen, und sie dann mit ihrem Wallfischbovt auszusetzen,
mit dem sie nach Japan hinnberscgeln sollten. Man war damals ungemein ge- '
spannt ans das Resultat.
Mit dem letzten Schiffe, das im December nach Batavia kam, hörte ich
Folgendes, weil ich mich besonders darnach erkundigte; und Nachricht darüber zu be-
kommen, wird die Bewohner von Honolulu besonders interessiren: Vor einiger
Zeit war ein Wallfischboot mit drei Männern, die zur Seefahrt mit allem Mög¬
lichen versehen wäre», aber, wenn ich nicht irre, wenig oder gar keine Provisionen
mehr am Bord hatten, an die japanische Küste gekommen und dort von den Be¬
hörden sogleich in Beschlag genommen. Von den Männern sprach einer sehr
gut, der andere weniger gut, der dritte nur sehr wenig Japanisch. Sie hatten
Geld, einige Gold- und verschiedene Silbermünzen bei sich, und sagten ans, daß sie
vor langen Jahren mit ihrem Boot an einem gewissen Theil der Küste verun¬
glückt, von einem amerikanischen Schiffe aufgenommen und nach Amerika mit
hinübergenommen wären. Die Sehnsucht nach der Heimath hätte aber zuletzt so
die Ueberhand bei ihnen gewonnen, daß sie den Entschluß gefaßt, sei ihr Loos
auch, welches es wolle, nach Japan zurückzukehren. Zu diesem Zweck hätten sie
sich ein Wallfischboot ausgerüstet, seien damit von Amerika herübergekommen, und
riefen nun den Schutz und die Gnade des Kaisers von Japan an.
Den Japanesen übrigens, die mehr Kenntniß von der anßer ihnen liegenden
Welt haben, als Manche wol denken, war dieses von Amerika in einem offenen
Boot Herüberkommen etwas unwahrscheinlich erschienen. Zu gleicher Zeit wurden
überall an der Küste, von wo aus die Männer einst verschlagen zu sein vor¬
gaben, die genausten Nachforschungen angestellt, ob ihre Aussage begründet wäre.
Erweist sich das unbegründet, so ist kaum ein anderer Fall denkbar, als daß
sie den Versuch, in Japan gegen die Gesetze zu landen, mit dem Leben büßen
müssen; aber anch im günstigsten Fall, wie Japanesen selbst versichert haben,
steht ihnen kein besseres Loos als lebenslängliches Gefängniß, sei dies auch so
milde, wie es wolle, bevor — mit der übrigen Welt kommen die Unglücklichen in
keine Berührung wieder.
Furchtbare Strenge herrscht auch gegen die der eigenen Unterthanen, die
sich selbst mit den, uuter dem Schutz ihres Kaisers stehenden Holländern nur im
geringsten weiter einlassen, als es ihnen, und wahrscheinlich ziemlich genau, vor¬
geschrieben ist. Viele Gegenstände sind dabei noch verpönt und dürfen bei Todes¬
strafe von den Japanesen, die sich damit befassen, nicht in die Hände der
Europäer fallen. Zu diesen gehören Abbildungen des innern Landes oder ge¬
heiligter Personen, z. B. des Kaisers — Waffen — selbst nicht die Abbildung
eines Schwertes, irgend Etwas, das mit ihren Göttern in Beziehung steht, Bücher,
Schriften oder Geld.
Der ganze holländische Handel mit ihnen bericht einzig und allein auf Um¬
tausch. Alles, was die Holländer von ihnen kaufen, zahlen sie in Waaren, und
für Alles, was sie bringen, bekommen sie nnr wieder Waaren, nicht die kleinste
Münze zurück.
In dem holländischen Quartier ans Decima sind japanesische Beamte, die
den dort wohnenden Holländern alle erlaubten Artikel liefern, die sie verlangen;
diese führen darüber, auch über die kleinsten und unbedeutendsten Gegen¬
stände, Buch, und beim Abschluß der Rechnung wird Alles, was sie gebraucht
haben, von der Regierung (denn sämmtliche dort wohnende Holländer sind ja
Beamte, von denen sogar nnr eine gewisse Zahl sich dort aufhalten darf) in
Waaren bezahlt.
Auf ihr Verlangen bekommen sämmtliche Beamte oder Seeleute, so lange
sie in Decima wohnen oder im Hafen liegen jeder auch eine Fran geliefert,
für die sie dem Kaiser eine gewisse Abgabe entrichten. Diese müssen aber, wenn
sie Japan verlassen, wie etwa mit ihnen erzeugte Kinder, zurückbleiben.
Während ich mich in Batavia befand, kam gerade das jährliche Schiff von
Japan, mit all den Producten jenes wunderlichen Landes, auf der Rhede von
Batavia an. Das Löschen des Schiffs wie das Auspacken der Waaren dauerte
doch noch einige Zeit, obgleich sich dieses Mal die Eigenthümer gewiß beeilten, noch
vor Weihnachten damit zu Staude zu kommen.
Am 23. December wurde denn auch wirklich der Japanische Toko eröffnet,
und es versteht sich vou selbst, daß ich uicht versäumte, mich an dem Tag dort
einzufinden.
Was das Wort Toko betrifft, so ist es Malayisch »ut bedeutet einfach Laden
oder Verkanfslocal; es wird aber von den Holländern im gewöhnlichen Leben
fortwährend in ihrer eigenen Sprache gerade so gebraucht, wie das gleichbedeutende
englische Wort störe von den Deutschen in englischen oder amerikanischen
Kolonien.
Die Eröffnung des Japanischen Todvs war übrigens Etwas, was besonders
die Damenwelt Batavias interessirte, und wol manchem armen Ehemann einen
Seufzer auspreßte — denn eine« Hauptartikel dieser Ausstellung bildeten seidene
Kleider und Shawle, bei deren aller erstem Auspacken sie natürlich sein mußten,
um auch die „erste Auswahl" zu haben. Zu diesem Zweck war fast die ganze
schone Welt Batavias — weiße und schattirte Farben natürlich, denn die braune
wird nicht dazu gerechnet — im Japanischen Toko versammelt. Die Straße,
worin er sich befand, stand gedrängt voll Equipagen und Miethwagen, und an
den Tisch, auf welchem die Seidenwaaren auölagen, .hätte man nicht mit einer
zehn Fuß langen Stange hinanreichen können.
Der Laden selber bestand aus drei Abtheilungen, von denen zwei, anßer
den Seidenwaaren und einigem Spielzeug, fast einzig und allein durch lackirre
Waaren gefüllt wurden, während die dritte Porzellan-, Steingut- und Bronze-
Waaren enthielt.
Der wichtigste Artikel unter all' den Japanische» Waaren, und der, in
welchem der Pachter dieses Handels anch die meisten Geschäfte macht, sind die
lackirten Waaren, in deren Anfertigung die Japanesen eine bis jetzt noch unüber¬
troffene Geschicklichkeit und Kunstfertigkeit beweisen. Der Lack hat den schönsten
und gleichmäßigsten Glanz, den man sich nur denken kann, und ist so fest und
dauerhaft gearbeitet, daß selbst darüber gegossenes heißes Wasser nicht den mindesten
nachtheiligen Einfluß auf ihn ausübt. Ja sie fertigen selbst mit diesem Lack über¬
zogene hölzerne Tassen an, ans denen sie fortwährend den heißen Thee trinken,
ohne daß es dem Lack auch nur im geringsten schädlich wäre.
Besonders kunstreich und allerliebst gemacht sind dabei die Figuren, die sie
von Perlmutter dem Lack einzulegen wissen, so daß sie mit diesem nnr eine ein¬
zige spiegelglatte Fläche bilden. Vögel, unter diesen Fasanen und Reiher, und
Blumen und Blätter bilden die Hauptgegenstände dieser Perlmuttcransschmücknngen,
die so zart und zierlich gefertigt sind, daß man manchmal darauf schworen möchte,
es sei gar keine wirkliche Perlmutter, sondern nur mit einer, vielleicht künstlich
hergerichteten Auflösung dieses Stoffes gemalt. Die Farbe des Lankh ist meist
schwarz, aber viele Gegenstände sind auch in Roth, Grün und Bronzefarbe, und
die Goldmalerei ist fast durchschnittlich geschmackvoll angebracht.
Besonders sprachen mich einige Tische an, worauf sie, in durch einander ge¬
schobenen Mustern, aber auf höchst geschmackvolle, und keineswegs überladene
Art, ihre fünf verschiedenen Hauptgattungen des Lackirens — die Art mit Schwarz
und Perlmutter, dick aufgetragener Goldlackirung, Roth und Gold und uoch zwei
andere Farben, zusammengestellt hatten. Schwarz, Roth und Gold scheint eine
ihrer Lieblingssarben zu sein, denn sie kommt sehr häufig vor.
Außer der Lackarbeit sind sie uoch ungemein geschickt in Stickereien
und oben aufgelegten Figuren, besonders von Vögeln mit ihren natürlichen
Federn. Einzelne Sachen mit Enten und Fasanen darauf habe ich gesehen, die
wirklich unübertroffen waren. Hier und da haben sie auch Figuren in diesen
Stickereien mit Porzellan-Gesichtern, nach chinesischer Art, und die Hauptstücke
der ganzen Ausstellung waren einige große Ofen- oder Bettschirme mit herrlich
lackirter und Perlmutter verzierter Einfassung und solcher Stickerei zur Ausfüllung.
In der Malerei leiden sie aber, wenigstens was die Perspective betrifft, an
einem Fehler — sie haben allerdings eine Idee davon, und in all' ihren Male¬
reien habe ich keine so grobe Schnitzerei entdeckt, wie das bei den Chinesen noch
oft der Fall ist — sie wissen, daß die Perspective die Gegenstände verkleinert,
aber es kommen doch manchmal noch wunderliche Sachen dabei vor, da sie eben
diese Verkleinerung oft nicht richtig anzuwenden oder zu mäßigen verstehen.
Kraniche scheine» beim Abbilde» und Lackiren ihre Lieblingsvogel zu sei»,
und sehr viele Stücke kommen vor, die mit einer Unmasse goldener und silberner,
nach allen Richtungen dnrch einander fliegender Kraniche förmlich bedeckt sind.
Zu deu großen und prachtvollen Stücken des japanischen Toko gehörten auch
noch einige lackirte und in ihrer Form echt japanische Meubles, ein Mittelding
zwischen Commode und Schrank, mit Schiebladen, Thüren und Gefächern wild und
unordentlich dnrch einander geworfen. I» all' diese» »»regelmäßige» Theile»
herrscht aber doch auch wieder ein gewisses System, und sie scheinen darin einer
bestimmten, stets wiederkehrenden Anordnung zu folgen. Alles, was sie aber
liefern, ist im vollsten Sinne des Wortes fertig — das Innere und der untere
Theil einer jeden Schublade, ja selbst das innere Gefach und die innerste Wand,
in der und gegen die die Schublade liegt, selbst der Nücktheil der Meubles wird
eben so sorgfältig fest lackirt als die Außenseite, kein Theil, wäre er auch dem
Auge noch so viel entzogen, wird vernachlässigt, kein Flecken übersehen.
Mit diesem harmonirt vollkommen selbst die Verpackung, die größten und
schwersten Kisten von dem ordinairsten Holz sind sauber gehobelt und passen auf
das Sorgfältigste in einander. Zu den kleinsten Gegenständen haben sie dabei
niedlich gearbeitete und auf das Geschickteste eingefalzte Kistchen, die eine Ver¬
packung und Verschickung der Gegenstände nachher ungemein erleichtern. Die
lackirten Sachen werden in dieser Art besonders genau behandelt, jedes Kistchen
hat zuerst einen besondern, es genan umschließenden Papiersack von dem dauer¬
haften zähen und schwer zu zerreißenden Reispapier, von dem sie selbst Bind¬
faden drehen, um die Schlüssel daran zu befestigen; der lockere Raum wird dann mit
etwas zusammengedrehter Baumwolle oder einem kleinen Papierkissen fest ausgefüllt,
und der platte Deckel schließt genau und dicht darüber.
Außer ihren japanischen Modellen haben sie aber auch sehr viele, und wol
die meisten, von den Holländern ihnen aufgegebenen Formen, wie Nah- und
Schreibkasten, Nähtische, Cigarrenbechcr und Büchsen, Schnupftabaksdosen:c.?c.:c.
Außerordentlich genau wissen sie dabei alles ihnen Aufgegebene nachzuahmen. So
geschieht es sehr hänfig hier von Batavia aus, daß sie Unterschriften hinüber
bekommen mit dem Auftrag, sie in dem innern Deckel irgend eines bestellten
Kästchens oder sonst an einem andern Gegenstand anzubringen, und sie führen
das mit einer solchen Genauigkeit ans, daß selbst das Spritzen der Feder in ihren
kleinsten Pünktchen nicht vergessen und auf das Getreuste nachgeahmt wird. Ich
habe mehrere dieser in Goldlack nachgemachten Handschriften gesehen, sie sind
wirklich vortrefflich.
Neben den lackirten Waaren nimmt das Porzellan eine sehr bedeutende
Stelle ein; dabei sind es aber hauptsächlich die Tassen, in denen sie Ausgezeich¬
netes liefern. Ich habe Tassen gesehen, von denen ich überzeugt bin, daß das
ganze Dutzend zusammen, mit Untertasse und Deckel, keine sechs Loth wog. Sie
sind förmlich durchsichtig und so dünn und zart, daß mau glauben sollte, das
Hineinwerfen eines Stückchens Zuckers müßte sie zerbrechen, und doch giebt
ihnen gerade diese Dünne eine Elasticität, die ich ihnen nie zugetraut hätte. Das
Zierlichste, was ich darin sah, waren sehr kleine niedliche Täßchen, so dünn wie
Papier und auch so leicht wie dieses, außen aber noch mit einer dichten, aus das
Feinste ausgearbeiteten Strohlage überflochten, die so sest um das Porzellan bir-
scht, als ob sie darum gegossen wäre. Man begreift in der That nicht, wie es
möglich war, dieses Strohgcflecht so fest um das seine, papierdünnc Porzellan
zu legen, ohne das letztere förmlich in einander zu drucken. Alle diese Sachen
sind übrigens enorm theuer, und man kann die einfachsten Tassen kaum unter
fünf Gulden das Stück bekommen.
Sonst haben sie an Porzellan wenig Hübsches und noch weniger Eigenthüm¬
liches, doch fand ich besonders eine Theekanne, die mir sehr gefiel und die einen,
in einer Art Korb liegenden Fisch aus sehr geschickt benutzte Weise darstellte.
Ihre Eßmenagcn und Schüsseln, in ihren Formen vielleicht sogar von den Hol¬
ländern aufgegeben, sind ungemein einfach.
Mehrere Tische waren mit Bronzcwaarcn, meist Räuchergefäße und Aufsätze
in den wunderlichsten und sehr phantastischen Formen, bedeckt. An diesen ist aber
die Arbei das Kostbarste, und wer da ein uicht wirklicher Kenner ist, wird sie nach
ihrem Preis wenig zu schätzen wissen. Sie sollen alle einzeln aufgedämmert sein,
und das würde manche davon wirklich zum Kunstwerk erheben, was aber das Aeußere
angeht, so werden sie von den französischen Bronzearbeiten bei weitem übertroffen.
Sie stellen meist Elephanten, Büffel, Kraniche und auf diesen reitende Menschen
vor, die daun zum Abheben sind, um irgend einem Zweck, wahrscheinlich dem des
Raucherns, zu entsprechen. Ich konnte mich für diese Sachen nicht interessiren und
sie schienen auch wenig gekauft zu werden.
An diesem ersten Tage mußte ich mich denn auch richtig mit den lackirten
und Porzellanwaaren begnügen, so dicht umlagerte das schöne Geschlecht den
Theil der Tische, wo die Seidenwaaren ausgebreitet lagen, und damit das ganze
übrige Viertel; denn ihr rechter Flügel lehnte sich an den Tisch mit Spielsachen
und der linke an eine andere Tafel lackirter Waaren, alles Uebrige ohne Erbarmen
mit zum Centrum nehmend. Was ich von sonstigen Sachen sehen wollte, mußte
ich auf eine günstigere Zeit verschieben.
Am nächsten Morgen war schon etwas mehr Luft — die Damen mußten
übrigeus doch sehr früh aufgestanden sein, an Hinankommen war aber noch immer
nicht zu denken, und erst am dritten Morgen gelang es mir einmal, einen flüch¬
tigen Blick auf das „Übriggebliebene" zu werfen. Zu einzelnen Kleidern, nach
Aufgabe, abgepaßte Stücke Seidenzeug, meistens mit klein carrirten Muster, fünf
und zwanzig Gulden das Kleid, bildeten das schwere Geschütz dieser sonst keineswegs
reichhaltigen Waare». Außerdem waren nur noch dreierlei Crepeschürzeu, die
einen himmelblau, die anderen wühlcrroth, und die dritten ebenfalls roth, aber auf
eine eigenthümliche Weise gearbeitet, daß das Zeug in einzelnen erhabenen
Punkten wie gepreßt aussah. Diese Arbeit, die ich aber ebenfalls nicht zu wür¬
digen verstand, 'soll ungemein mühsam sein, da alle die einzelnen kleinen Erhaben¬
heiten auch einzeln umwickelt uno daun gefärbt werden müssen. Ich verstand
aber zu wenig davon, mich dafür besonders zu interessiren, den Damen schienen sie aber
desto mehr zu gefallen, und am dritten Abend war auch nicht eine einzige mehr übrig.
Die japanischen Korbwaaren, von denen auch eine ziemliche Auswahl aufge¬
stellt stand, sind allerdings recht nett und zierlich, jedoch haben wir die besser,
oder doch wenigstens eben so gut, in Deutschland. Etwas besonders Neues war
auch nicht darunter.
Allerliebste Sachen fanden sich aber unter dem Spielwerk für Kinder — alle
nur möglichen kleinen Figuren von papisr maoks, und kleine hölzerne Haus-
geräthschaften mit einem höchst frappanten japanesische» Geruch. Dann niedliche
Kästchen mit Glas, die einen kleinen Teich verstellen sollten, in dem eine Schild¬
kröte und ein Paar Goldfischchen herumschwämme». Die Fischchen saßen auf feder¬
artig gerolltem dünnen Draht, der ihnen eine Bewegung gab, als ob sie sich
im Wasser bewegten, uno an den Schildkröten hingen Kopf, Füße und Schwanz
in kleine« losen Hacken, so daß es das Schwimmen dieser Thiere auf das
Täuschendste nachahmte.
Außerdem war eine ganze Auswahl von Puppen hier, aber so zierlich und
sauber gearbeitet, wie es ihnen selbst Nürnberg wol nicht nachmachen kann.
Jedes Gelenk daran beweglich, aber nicht wie unsre deutscheu hölzernen Gelenk-
puppen, (ich meine hier wirklich die hölzernen) sonder» mit in einander gefügten
Gliedern, seidenem Kragen und Glasaugen.
Außer diesen kamen noch eine Menge anderer kleinerer Spielereien und
Nippcssachen vor, kleine Porzellanfiguren mit beweglichem Kops und heraussahreuder
Zunge, elfenbeinerne Figuren und vergoldete, drei bis vier Zoll hohe Statuen,
Fächer, Bambusbüchsen, die verschiedensten Arte» Cigarre»böse» :c. :c.
Unter deu letztere» befand sich eine Art, die man jetzt für Papier hält, ob¬
gleich früher behauptet wurde, der Stoff, a»S dem sie gemacht würden, sei gegerbte
Menschenhand — jedenfalls sehen sie eher ans wie Haut, als Papier. Sie siud
dunkelbraun, von einer etwas durchscheinenden, zähe», dünnen Masse, und haben
einen höchst merkwürdigen, keineswegs angenehmen, starken Geruch.
Eine bedeutende Quantität Regenschirme kommt hier ebenfalls auf den
Markt, alle vou geölten Papier und sehr sauber und nett, viel besser als die
chinesischen gearbeitet ^ sonst aber ganz in der chinesischen Form. Die Regen¬
schirme sind dran», mit einem breiten, ringsum laufenden dunkelgelben Streifen
in der Mitte, die Sonnenschirme mit vier bunten großen Bildern ausgeschmückt,
die ihnen allerdings ein etwas wunderliches Ansehen geben.
Allerliebste Fußmatten, von Stroh geflochten, mit höchst geschmackvollen
Farben in Gran, Roth und Gelb, Kehrbesen, Suppeusaucen, Agger Agger ?c.
bilden dann gewöhnlich das schwere Geschütz und werden, die Matten ausgenom¬
men, die rasch im Einzelnen weggingen, gewöhnlich dutzend-'und kistenweise
verkauft.
Der Agger Agger ist übrigeus noch Etwas, das einer besondern Erwähnung
verdient. Er kommt in Kisten, in denen er in einzelnen Packetcn gepackt ist,
und hat, wenn man ihn roh kostet, etwa den Geschmack und das Gefühl ans
der Zunge wie die Seele eines Federkiels; gekocht oder auf seine bestimmte Art
zubereitet, liefert er aber ein vortreffliches Gelee, das besonders mit Rheinwein
oder Früchten angekocht, ausgezeichnet schmeckt. Es soll eine Art Seegewächs
sein, das sich an den japanischen Küsten findet, n»d es kommt dasselbe, nur in
mvosartiger Form, auch ans Java vor, wo es besonders viel von Chinesen, aber
sonst anch in allen europäischen Haushaltungen zu Gelees benutzt wird. Das
Japanische hat vor dem Japanischen nur das Sonderbare, daß es einen Zusatz
von Citronensaft haben muß, ehe es zu Gelse erstarrt.
Der Japanische Todo bleibt hier jedesmal drei Monate eröffnet, und was
bis zu der Zeit nicht davon verkauft ist, wird eingepackt und nach Holland ge¬
schickt, wovon anch wol einzelne Sachen dann und wann ihren Weg nach Deutsch¬
land finden, im Ganzen habe ich übrigens sehr wenig Derartiges im alten Vater¬
lande gesehen, und das Meiste war mir vollkommen neu.
Wie vortrefflich übrigens die Lackwaaren sein müssen, beweist, daß selbst die
Chinesen Derartiges, obgleich sie selber ungeiuein viel lackirte Waaren liefern,
ankaufen. Es sind schon solche Sachen hier aufgekauft und nach China geliefert
worden, und haben dort nachher, also aus vierter Hand, noch einen sehr guten Preis
gebracht.
So hat jede Nation ihr Eigenthümliches, denn während die Chinesen von
der Schönheit des Japanischen Lankh entzückt sind, wäre es den Japanesen wieder
nicht möglich, jene in ihren Elfenbeinschnitzereien, in denen sie wirklich Außer¬
ordentliches liefern, zu erreichen.
Eine höchst interessante Bekanntschaft machte ich auch in dieser Zeit an dem
Dr. Mohnike, welcher sich die letzten drei Jahre, natürlich im Dienste der holl.
Regierung, ans Decima aufgehalten und die Gesandtschaftsreise nach Jeddo mit¬
gemacht hat. l>i', Mohnike könnte manches Interessante über das Leben dieses
wunderlichen Volkes mittheilen, wenn nur die indische Regierung nicht so
ungemein streng darauf hielte, daß ihre Beamten auch nur für sie selber denken
und arbeiten sollen. Die Verhältnisse Japans sind aber, besonders in jetziger
Zeit, viel zu kitzlicher Natur, als daß sie einem ihrer Beamten gestatten sollte,
darüber zu schreiben, oder sich nur auch ausführlich darüber mündlich auszusprechen.
Er war als Arzt hinübergegangen, durch seinen langen Aufenthalt dort
und seine Stellung aber auch mit sehr vielen Japanern zusammengekommen.
Seine Stellung als königl. Beamter verbot ihm dabei allerdings, irgend eine
Zahlung für den Javanesen in ärztlicher Hinsicht geleistete Dienste anzunehmen,
konnte aber nicht verhindern, daß ihm diese, besonders bei seinem Abschied, aus
Dankbarkeit manche kleine, dem Lande eigenen Geschenke brachten, und mit dem,
was er selber angekauft, hat er eine zwar nicht sehr bedeutende, aber allerliebste
Sammluug hergestellt, nnter der sich besonders sehr viele Sachen und Gegen-
stände befinden, die es dem Pachter des Regicrnugshaudels gar nicht möglich
gewesen war zu bekommen.
Hierzu gehörten vor allen Dingen zwei Modelle, das eine eines japanischen
Hauses mit vollkommener innerer Einrichtung, Matten, Meubles, Geschirren und
Beigebäuden, und das andere das der sanfte», in welchen die jedesmalige
dreijährliche Gesandtschaft von Decima nach Ieddo, der Hauptstadt des Reichs,
geschafft wird. Fabel ist dabei, was man früher von dieser Gesandtschaft erzählte,
daß sie in einer festverschlossenen Sänfte mit niedergelassenen Jalousien eingepackt
und Hunderte von Meilen weit transportirt würde, ohne daß es dem Inliegenden
gestattet wäre, anch nur das Geringste von der umliegenden Landschaft zu sehen.
Die Sänfte ist im Gegentheil nicht allein mit vollkommen offenen Jalousien,
sondern dem Europäer auch gestattet, wenn ihm das Spaß macht, nebenher zu
gehn — also an ein Einschließe gar nicht zu denken. seidene Polster und
Decken liegen darin, und das Dach ist, was nur Vornehme tragen dürfen, mit
Sammet belegt.
Was mich aber besonders interessirte, war eine Sammlung von Bildern, die
sich Dr. Mohnike gewußt hatte zu verschaffen, wie anßer diesen einzelne japanische
Bücher. Unter den letzteren ein botanisches Werk mit vortrefflichen Zeichnungen. Die
Bücher sind übrigens vollkommen ans die chinesische Act hergestellt — ans sehr
dünnem, seidenartigem Papier, und nnr auf eiuer Seite gedruckt, während zwei
Seiten immer unaufgeschuitten zusauuneuhäugen. Natürlich gehen sie auch, wie
die chinesischen, von rechts nach links.
Die anderen schienen kleinere Volksbücher zu sein, mit Illustrationen und
Beschreibungen dazu, wie ich sie auch ganz ähnlich, nur uicht so sauber gedruckt,
von Chinesen gekauft habe. — Es ist jammerschade, daß die Schrift für uns
aus unauflöslichen Hieroglyphen besteht.
Die Bilder dagegen waren faßlicher, und stellten meist Landschaften und
Straßenscenen, Arbeiter in ihren verschiedenen Beschäftigungen, Hafenplätze?c.
vor. Hierbei kommen aber auch ihr Kaiser und eine Masse geschichtlicher Bilder,
manche wirklich von vortrefflicher Zeichnung nud lebendiger Färbung, vor. Die
Perspective war übrigens selten vollkommen richtig, und manchmal zeigten sich
sogar, vielleicht von ungeübteren Händen gemacht, sehr grobe Fehler. Darin sind
übrigens die Chinesen groß; ich habe ein kleines Buch, auf dem eine Anzahl
Reiter hinter einem Fichtenwald vorgesprengt kommen. Die Fichten stehen zu
den vorn befindlichen Figuren in ziemlich richtigem Verhältniß, die hinten vor¬
kommenden Reiter müßten aber dennoch jeder wenigstens zweihundert Fuß hoch
sein. Jeder einzelne Kopf tritt wie eine Mondscheibe hinter der Waldung vor.
Eine andere Art von Spielerei in Bildern haben die Japaner mit ein¬
geklebten Jalousien, Klappen, Treppen, Coulissen ze., so daß mau das ganze
Bild flach zusammenlegen kaun, und dann die erste Zeichnung vor sich hat, die
sich aber, je nachdem man rechts oder links, oder oben oder unten eine» darauf¬
geklebten Streifen in die Höhe oder zur Seite schlagt, verändert und ver¬
wandelt.
In ihrer Tracht kommen sie den Chinesen ziemlich gleich — es ist derselbe
Schnitt fast, derselbe Charakter, die Frauen sind aber in ihren Moden wenigstens
so viel vernünftiger, daß sie sich die Füße nicht verkrüppeln lassen, wie es ihre
chinesischen Nachbarinnen thun. Nein, den Bildern und Figuren nach haben die
Damen dort sogar höchst ansehnliche Füße, ans denen sie sich gewiß mit vieler
Leichtigkeit im Gleichgewicht halten tonnen. Sonderbar ist übrigens, daß sie an
den Füßen Handschuhe tragen. Ihre Strümpfe haben ordentliche Daumen,
in denen die große Zehe steckt, welche der Sandalen wegen von den übrigen
abgesondert bleiben muß.
Auch breite enorme Gürtelbänder, oder vielmehr Binden, tragen sie, von
schwerem, steifem Seidenzeug, und das Haar auf die wunderlichste Weise in ein¬
ander gelegt und mit Nadeln und Pfeilen festgesteckt; ich bin aber leider
zu wenig Schneider und Friseur, meinen schonen Leserinnen davon einen klaren
Begriff geben zu können. So viel habe ich jedoch erfahren, daß sie Nachts ganz
besondere, wol sechs bis acht Zoll hohe hölzerne, aber mit einem kleinen runden
Polster versehene, und wahrhaft halsbrechende Kopfkissen gebrauchen, um die
wahrscheinlich sehr künstlich und mühselig ausgesteckte und hergerichtete Frisur nicht
in Unordnung zu bringen oder zu beschädigen.
8ir ^gach K»8s' Vovsge to the Loutbern Less I^oiulon, ^. Murrsv. 2 vol.
Entdeckungsreise nach dem Südpolarmeere, von Sir James C. Roß. Leipzig, Lenk.
Bei Gelegenheit der Berichte über die Versuche, den unerschrockener See¬
fahrer, Sir John Franklin, aus seinem Eisgefängniß zu erlösen, oder vielleicht
mich nur seine Gebeine zu entdecken, habe» wir so oft der Nordpolargegenden
Erwähnung gethan, daß es dem Leser wol nicht uninteressant sein wird, wenn
wir ihn anch einmal nach dem entgegengesetzte» Ende der Erde, nach dem Süd-
Pol, führen. Seine Meere find bei weitem weniger befahren als die nordischen,
wo zuerst die Aussicht aus die Entdeckung der Nvrdwestdurchfahrt, und neuerdings
ein menschliches Interesse die Seefahrer hinlvckte, während im Süden kein weit
vorragender Kontinent die Schiffe i» ihrem Laufe aushält, und nur kecke Wall-
fischfahrer und zum Zwecke der Wissenschaft ausgerüstete Expeditionen Veran¬
lassung finden, diese hohen Breiten zu besuchen. Deshalb ist uns von der antarkti¬
schen Region viel weniger bekannt, als von der arktischen, aber selbst dieses Wenige
giebt einen sehr wesentlichen Beitrag zu der Losung einiger der wichtigsten physi¬
kalischen und naturhistorischen Fragen, und genügt uns, den Südpol mit einem
von dem Nordpol ganz verschiedenen Charakter zu bekleiden. Während letzteren, wie
man aus der Richtung der Strömungen und verschiedenen anderen Erscheinungen
fast mit absoluter Gewißheit schließen kann, ein großes Bassin von 2i00 geogr.
Meilen im Durchmesser umgiebt, dessen Grenzen den nördlichen Rand der drei
Continente, Amerika, Asien und Europa bilden, steigt im Süden schon unter
dem L7. Breitengrade eine unübersteigliche Mauer vulkanischer Massen empor, die
allem Anschein nach der Rand eines den ganzen Südpol umgebenden Kon¬
tinents ist.
Schon im vorigen Jahrhundert glaubte man diesen neuen Kontinent gesunden
zu haben, als im Jahre 1772 ein französischer Schiffslieutenant Kerguelen die nach
ihm benannte Insel entdeckte, doch Cook klärte den Irrthum auf. Aber
obgleich diese Insel noch weit von dem Südpolarkreis liegt, und nicht ein¬
mal den 8V. Breitengrad erreicht, sind ihr doch schon die beiden hervorstehen¬
den Charakterzüge des antarktischen Continents aufgeprägt: die rein vulkanische
Bildung und die ausnehmend dürftige Entwickelung alles organischen Lebens.
Während man ans der Melvilleinsel unter dem 78." n. Br. und ans Spitzbergen
unter dem 80." resp. 67 und is Arten Phanerogamen findet, kann Kergueleuiusel
nur 18 ausweisen, die mehr als zur Hälfte der niedern Form der Gräser ange¬
hören. Bänme oder Sträucher fehlen ganz, und die größte vorkommende Pflanze
ist eine autiscvrbutische Umbellifere. Größere Landthiere sind ebenfalls nicht vor¬
handen, nnr das Meer wimmelt von Walisischen, Seeelephauten und verschiede¬
nen Arten Fischen, und die Strandfelsen von Möven, Pinguinen, Sturmvögeln
n. s. w. Auch hier hat die nördliche Hemisphäre den Vorzug, denn das Renn-
thier und der Bisamochse kommen bis zum 78. Breitengrade vor, ans der Melville¬
insel wächst noch die Zwergweide, und auf Spitzbergen findet noch das Nennthier
üppige Weide.
Auf derselben Fahrt (1778), wo Cook die Entdeckung Kergnelens berichtigte,
fand er selbst 10 Breitengrade südlicher, aber unter dem 28. Grad w. L. das
Sandwichland, eine Inselgruppe. Erst 1819 machte man in dieser Region neue
Fortschritte, indem Capit. Smith von der Brig William die Gruppe Nensüdschetland
entdeckte. Damit schien der Eifer der Seefahrer neu belebt zu werden. Der Russe
Bellinghausen entdeckte 1821 die PcterSinscl unter dem 89." w. L. und «9."
s. B., ferner etwas nördlicher die Küste Alexander I,, die sich später als eine
Insel herausgestellt hat, hinter der jedoch Biseoe 1832 etwas weiter nach Osten
einen Küstenstrich erblickte, welche» er Grahamöland nannte, und der sich ununter-
brochcn bis in die Nähe von Nensüdschetland zu erstrecken scheint. Derselbe
Seefahrer entdeckte auch zwischen dem i7. und 33. Grad söll. Länge eine Küsten-
strecke, deren Znsanunenhang mit den späteren Entdeckungen, ans die wir gleich
kommen werden, »och uicht nachgewiesen ist.
Zwanzig Jahre lang blieben der russischen Marine und dem Capitain Belling-
hausen die Ehre, das südlichste bekannte Land der Erde in der Petersinsel erreicht
zu haben, als in den Jahren -1839—ne fast gleichzeitig drei Expeditionen, eine
englische, eine französische und eine amerikanische ausgerüstet wurde», von denen es
der erstgenannten beschieden war, viel weiter uach Süden als eine ihrer Vorgänger
vorzudringen, den antarktischen Continent zu entdecken und den magnetischen Süd¬
pol festzustellen. Der glückliche Seefahrer war Sir James C. Roß, der Neffe des
bekannten Sir I. Roß und bereits berühmt durch fünf Nordpolrciscn, auf deren
einer er den magnetischen Nordpol entdeckt, und auf der Stelle gestanden hatte,
wo die Magnetnadel senkrecht steht. Er und sein Begleiter, Capitain Crozier,
wurden mit den Schiffen Erebus und Terror ausgeschickt, um zur weiteren Aus¬
führung des von Humboldt und Ganß entworfenen Planes zusammenstimmender
magnetische Beobachtungen über die ganze Erde, in verschiedenen englischen Be-
sihungen der südlichen Hemisphäre magnetische Observatorien einzurichten, und in
den antarktischen Breiten eine Reihe von Beobachtungen anzustellen. Die beiden
Schiffe, die am 30. Sept. -1839 von England abgesegelt waren, erreichten daher,
nach einigem Aufenthalt ans Se. Helena, am Cap, und verschiedenen Punkten
von Australien, erst am -I. Januar 18-is den Südpolarkrciö, und zugleich deu
Rand des Packeises, einen drei Grad breiten Gürtel von schwimmenden vielfach
zerbrochenen, zusammengedrängten und über einander gehäuften Eisschollen,
der nnr durch schmale Eanäle und Durchbrechen der schwächeren Schollen
zu durchdringen ist. Diesmal brauchten sie zwar nnr einige Tage, um dieses
Hinderniß zu überwinden, aber selten stellen sich in diesen Polargegenden die
Verhältnisse so günstig, und eher gilt das, was die Reisenden bei ihrem zweiten
Versuch, nach Süden vorzudringen, erfuhren, als ein Beispiel der Gefahren,
welche der Schiffer in diese» Regionen läuft. Obgleich sie bei dieser zweiten
Reise (in derselben Jahreszeit) sieben Breitengrade nördlicher und 3S Grade weiter
östlich an das Packeis kamen, fanden sie doch dasselbe so breit, daß sie ö6 Tage
in demselben eingeschlossen blieben, und trotz der starke« nördlichen Strömung, welche
die Schiffe sammt den ringsherum festsitzenden Eisschollen oft zurücktrieb, sieben
Breitengrade gegen Süden zurücklegten. Einmal traf sie in dieser Lage Abends
um 9 Uhr ein heftiger Sturm ans Norden. Die See ging furchtbar hoch, und
brach sich über die höchsten Eisberge; bald nach Mitternacht befanden sich die
Schiffe in einem Meere rollender Eismassen, hart, wie schwimmende Granitfelsen,
welche von den Wellen getrieben mit. solcher Gewalt gegen die Fahrzeuge an¬
prallten, daß die Masten zitterten, als wollten sie bei jedem neuen Schlage herab-
stürzen; der Untergang der Schiffe schien unvermeidlich. Lassen wir Sir James
Roß selbst sprechen: „Der Sturm erreichte seinen Höhepunkt um 2 Uhr Nachts.
Obgleich wir viele Meilen tiefer in das Packeis gedrängt worden waren, ließ
sich doch kein Abnehmen der Deining bemerken, und unsre Schiffe rollte» und
trachten mitten unter den schweren Massen zermalmender Berge, über welche das
Meer mit seineu gigantischen Wellen tosete, eine große Masse über die andere
thürmten und sie dann wieder tief unter seine schäumenden Wogen begrub,
mit fürchterlicher Gewalt sie an einander schmetternd und zermalmend.
Die schauerliche Erhabenheit einer solchen Scene kann weder gedacht noch be¬
schrieben werden, noch viel weniger lassen sich die Empfindungen der Zuschauenden
nachfühlen. Jeder hielt sich auf dem Verdecke fest, und erwartete sein Schicksal
mit Ergebung in den Willen des Höchsten, der allein uns erhalten und aus
dieser Gesahr retten konnte. Mit athemloser, angstvoller Erwartung beobachteten
wir die Wirkung jedes neuen Stoßes, und die zitternden Bewegungen der
schwankenden Maste, jeden Augenblick erwartend, sie niederfallen zu sehen. Ob¬
gleich um vier Uhr Nachmittags die Gewalt des Sturmes etwas nachgelassen
hatte, so bliesen doch die Boer mit unverminderter Heftigkeit, legten das Schiff
ganz auf die Seite, und drohten die Sturmsegel in Fetzen zu zerreißen; zum
Glück waren sie ganz neu, sonst hätten sie so schrecklichen Stößen nicht wider¬
stehen könne». Um diese Zeit war uns der Terror so nahe, daß, wenn er sich
ans dem Gipfel der einen Welle erhob, der Erebus sich auf der Spitze der
nächsten unter seinem Lee befand; der Abgrund zwischen ihnen war mit rollenden
Eismassen angefüllt, und wenn die Schiffe in die Tiefe zwischen den Wellen
Hinabschossen, war von dem Deck des einen die große Marsraa des andern über
dem Kamm der sich dazwischen erhebenden Woge gerade noch sichtbar; daraus
kann man sich eine Vorstellung von der Höhe der Wellen und der Gefährlichkeit
unsrer Lage macheu." Erst nach 28stiindiger Dauer legte sich der Sturm, in
dem beide Schiffe ihr Steuerruder verloren. Nach ausgebesserte» Schäden
drangen sie weiter »ach dem Rande des Eises vor, wo die Eisschollen noch dichter
zusa»»»e»gehä»se wäre», »»d eine fürchterliche Braudung die Gefahr noch ver¬
mehrte. — Erst »ach solche» A»fere»g»ngen läßt sich in diesen Regionen das freie
Meer erreichen, welches ungehindertes und rasches Vordringen.nach Süden ge¬
stattet; aber sehr oft schließt sich auch das Packeis ,so dicht zusammen, daß an
keine Weiterfahrt zu denken ist, während die chaotisch über einander gethürmten Eis-
massen jeden Versuch, z» Fuß weiter vorzudringen, unmöglich machen. Bei ihrer
erste» Fahrt gegen Süden durchbrachen jedoch der Erebus und der Terror den
Eisgürtel in wenigen Tagen, und sie befanden sich um» i» einem vollkommen eis¬
freien Meere, ans dem sie unbehindert nach Süden steuern konnten. Schon jetzt
glaubten die Neulinge i» diese» Regionen La»d zu sehe», »änlich eine zackige
mit Schuee bedeckte Gebirgsreihe, die aber weiter Nichts war, als der obere
Theil einer Wolke, die durch ihre scharfe, aber unregelmäßige Contour die Grenze
bezeichnet, bis zu welcher in diese» Breiten die atmosphärischen Dünste sich er¬
heben können; unten ist der Dmist in jedem Grade der Condensation, oben der
klare kalte Raum, in den er nie eindringen kann. Der Aublick ist so täuschend,
daß nur die durch laugen Aufenthalt in den Pvlargegende» geübten Angen die
Wahrheit erkennen. Erst am 11. Januar zeigte sich wirklich Land, dessen allge-
gemcine Umrisse sogleich seinen vulkanischen Eharakicr verriethen. Eine ungeheure
Bergkette erhob sich, Gipfel über Gipfel, mit ewigem Schnee bedeckt, steil aus
dem Ocean, und drängte sich in zahllose» Gruppen wie eine gigantisch krystallisirte
Masse zusammen, welche Von den Sonnenstrahle» beleuchtet, el» Schauspiel un¬
vergleichlicher Pracht abgab. Die Kette war 7—-10,000 Fuß hoch, und die
Gletscher, welche die Zwischeitthäler ausfüllte» und schon in der Nähe der Gipfel
entsprangen, reichten an mehrere» Stelle» mehrere Meilen in die See hinein und,
gingen i» hohe senkrecht abstürzende Klippen aus. Blos hier, wo weder Eis
noch Schnee haften konnte, zeigte sich der tiefschwarze Basalt oder die Lava,
welche unter dieser Hülle ewige» Eises ruhte». Die »ach Nordwest steigende
Bergkette erhielt den Namen Admiralirätsgebirge, und seine höchste» Spitze» den
Name» Berg Minto nud Berg Sabine, letzterer 9096 Fuß hoch, und dreißig englische
Meile» von der Küste entfernt. Auf einer kleine» Insel, die den Namen Pos-
sessiousiusel bekam, wurde eine Landung bewerkstelligt. Die vermuthete vulkanische
Formation des Landes bestätigte sich hier durch deu nächste» A»ge»schei», denn
das ganze Eiland bestand aus einem vnita»löcher Konglomerat blasiger Lava und
Basalt, n»d war ungefähr 300 Fuß hoch. Nicht die geringste Spur von Vege¬
tation war zu erblicken, dagegen bedeckte» zahllose Schaarc» Pinguinen in
dichtgedrängten Massen die ganze Jusel, die Räuder der Klippe» und selbst
die Spitzen der Felsen, die mit ihren scharfen Schnäbeln nach den sich
durch ihre Reihen Bah» brechenden Lauberde» hackten und durch diesen schlechten
Empfang, durch ihr rauhes und mißtönendes Geschrei, durch den Gestank, de»
ihr als el»e dicke Guanvschicht die Oberfläche bedeckender Dünger verbreitete,
jene zur baldigen Räumung der kaum in Besitz genommene» Insel veranlaßte».
Rede» Wallfischen, Robben, Möven, verschiedene» Sturmvögeln, und deu diesen
Geschöpfen zur Nahrung dienenden Mollusken n»d wenigen Fischen si»d diese
Pinguinen die einzigen Bewohner dieser einsamen und für gewöhnlich todteustillen
Gegenden. Diese großen Vögel, die 60 — 73 Pfd. schwer sind, kommen außer¬
ordentlich zahlreich vor. Sie siud sehr einfältig, und lassen de» Jäger so nahe
heraickommcn, daß er sie mit einem Knittel auf de» Kopf schlage» kann; manch¬
mal, wenn sie schon ins Wasser gefallen sind, klettern sie wieder herauf und
macheu Miene, auf ihren Verfolger loszustürze», dem sie jedoch nie gefährlich werden
könne». Ihr watschelnder Gang ist sehr laiigsam, aber auf dem Bauche rutschend
wissen sie sehr schnell über den tiefen Schnee wegzukommen, wobei sie sich mit
den großen weit hinten angesetzten Füßen fortstoßen. So zäh ist ihr Leben, daß
die Reisenden ans dem Erebus vorzogen, sie mit Hydrvcyausäure zu todten, wovon
ein Eßlöffel voll ihrem Leben in einer Minute el» Ende machte. Die Wallfische
sind i» dieser entlegenen Breite so wenig scheu, daß sie nicht einmal den Schiffen
ans dem Wege gehen, und so hänstg, daß man vom Erebus zu gleicher Zeit dreißig
in verschiedenen Richtungen erblickte.
Die Küste des neuentdeckten, Victorialand genannten Südpolarcoutincnts er¬
streckt sich von seiner nördlichsten Spitze Cap North unter 70" 31' s. Br. und
165" 28' v. L. in vstsüdöstlicher Richtung bis Cap Adare unter 71" 18' s. L.
und 170" 43' ö. L., nud dann südlich bis zur MMnrdobucht unter 77" 20'
s. B. »ud 163" ö. L. Auf der südlichen Hälfte dieser Strecke scheint das Land,
so viel das weit in's Meer vorgeschobene Packeis zu urtheilen erlaubt, beträchtlich
nach Westen zurückzutreten, und zeigte dem Vorüberfahreudeu eine ziemlich tief
im Hintergründe liegende hohe Bergkette, die den Namen des Albert-Gebirgs
erhielt, und in deren Mitte allen Berechnungen nach der magnetische Südpol
liegen muß. Leider zeigte sich die Küste überall gänzlich unzugänglich, indem alle
Einbnchtcn mit deu von den Berge» hcruutersteigeudeu Gletschern angefüllt war,
die jedem La»dn»gövers»es eine senkrechte Eismauer von 100 Fuß entgegensetzten.
Wäre dieses Hinderniß nicht gewesen, so hätte Sir I. Roß hier überwintert, um
während des StillliegenS der Schiffe seine Entdeckungen zu Lande fortzusetzen.
Bon der MMurdobucht an wendet sich das Land östlich, und hier, unter
77" 33' s. B. und 166" 38' v. L. erhebt sich 12,367 Fuß' hoch ein noch
thätiger Vulkan, der Erebus, und etwas weiter östlich fast 11,000 hoch, ein
erloschener, der den Namen Terror erhielt. Ans der Ferne gesehen, nahm sich
der dem Krater des Erebus entsteigende Rauch wie eine vom Wind empvrgewir-
bclte Schuecwehe aus, aber als die Schiffe näher kamen, konnte mau Rauch
und Flammen deutlich erkenne». Am Tage uach der Entdeckung (am 28. Jan.)
war der V»ita» ganz besonders thätig, und bot ein wahrhaft großartiges Schau¬
spiel dar. Eine dicke Rauchsäule wurde mit großer Gewalt von Zeit zu Zeit
wol 1300 — 2000 Fuß über die Kratermünduug hinausgestoßen, bis sich der ober
Theil in der kalten Luft zu condensiren anfing, und als Dunst oder Schnee wieder
herabsank und sich allmählich zerstreute, um ungefähr eine halbe Stunde später von
einem neuen gleich großartigen Schauspiel ersetzt zu werde». Der Durchmesser
dieser Rauchsäule mochte zwischen 2 und 300 Fuß sein, und so oft sich der Rauch
verzog, erblickte mau ganz deutlich die rothe, die Mündung des Kraters aus¬
füllende Flamme; einige Officiere glaubten sogar Lavaströme sich den Abhang
henmterwälzen zu sehen, bis sie sich uuter dem Schnee verloren, der einige
hundert Fuß unter dem Krater anfing, und seine senkrecht abstürzende Eisklippe
mehrere (englische) Meilen weit in das Meer hinausstreckte. Mount Terror war viel
'
freier von Schnee, vorzüglich an der östliche» Seite, wo man zahlreiche kleine
kegelförmige Krater erblickte.
Alles bestätigte den rein vulkanischen Charakter des Landes, obgleich die
Reisenden nur noch einmal Gelegenheit hatten zu landen, und zwar ans einem
kleinen, ziemlich weit vom festen Lande entlegenen Eilande unter 76" 8' s. Br,
und 168« 12' ö, L., das den Namen Franklininsel erhielt, und dem Ange Nichts
als steile, !i-.....600 Fuß hohe schwarze Klippen zeigte, ans denen sich anch nicht
die leiseste Spur von Vegetation vorfand, nicht einmal eine Flechte oder ein Stück
Seegras, und ihre gänzliche Abwesenheit sowol hier, wie auf der Possesstvnöiusel,
berechtigen zu dem Schluß, daß unter diese» Breiten das vegetabilische Leben
ganz aufhört. Als die äußerste Grenze desselben stellte sich die Cockburuinsel
heraus (6i" -12' s, B. 56" 49' w. L>), deren Flora aus 19 Species besteht,
von denen 7 der Insel eigenthümlich sind. Es si»d lauter Kryptogamen aus
den Ordnungen der Moose, Algen und Lichenen; am häusigsten darunter finde»
sich die anch in der nördlichen Erdhälfte bis in die gemäßigtere Breite vorkom¬
menden Zryum urKMiteum, Ulvi» enspa, l^Mer, uti'u - uldu und I^cmivru
uuinlU,-,,, Diese für die Botaniker merkwürdige Localität erhebt sich kraterförmig
aus dem Meer bis zu einer Höhe von 2760 Fuß; der obere Theil ragt über
den untern hervor, welcher mit Gerüll bis zum Strande bedeckt ist. In der wenigen
Erde, die sich zwischen diesen Blöcke» sammelt, »ud die selbst im Sommer nur
nnter dein unmittelbare» Einfluß der Sonnenstrahlen ans die Oberfläche thaut,
findet die kümmerliche Vegetation ihre Nahrung.
In östlicher Richtung von den beiden Vulkanen Erebus und Terror erstreckt
sich unter 78" l.'i' s. B., ^0 englische Meilen weit ein senkrechter ununter-
brochener Eiswall von 100 — 200 Fuß Höhe. Eine solider aussehende Eismasse
kaun man sich nicht denken; nicht der leiseste Anschein von einer Spalte oder einem Riß
war an der glatten Wand zu entdecke», und n»r riesenhafte Eiszapfe», die von
jedem Vorspnmg der senkrechten Klippen herabhingen, verriethen, daß sie manch¬
mal thaut, was die Reisenden nach der bei ihrem Dortsein herrschende» Temperatur
sonst nicht geglaubt hätten, denn i» dem dem August in Europa entsprechenden Februar
stand der Thermometer auf 12" Fahrenheit, und stieg zu Mittag nicht über 14"
(— 9 und 8" R.) — eine Kälte, die viel bedeuteuder ist, als sie in den Nord-
Polargcgenden vorkommt, wo während des Sommers von jedem Eisberge Ströme
Wasser herunterfließen. Vor der Eismauer lagen zahllose Trümmer derselben,
welche die gegen dieselbe beständig anstürmenden und zu Schaum zerschellenden
Meereswogen losgebrochen hatten. Natürlich hinderte diese undurchdringliche
Eismauer jedes weitere Vordringen nach Süden, und ihre große Höbe erlaubte
nicht einmal zu erkennen, ob hinter derselben Land liege; nur ein einziges Mal
konnte man von der Mastspil^e aus die obere Fläche überblicken, die ganz glatt
erschien, und sich wie eine unermeßliche Ebene vo» mattem Silber darstellte.
Am östlichsten Punkte, den Sir I. Noß erst auf seiner zweiten Expedition südwärts
im folgenden Sommer erreichte, unter dem 16t." w. L., wo sich die Mauer
etwas gegen Norden wendet und nur noch etwa 80 Fuß hoch war, schien sie sich
allmählich nach Süden zu erheben, als ob das Hinterland ans sehr hohen ganz
mit Schnee bedeckten Berggipfeln bestände. Sir I. Roß glaubt jedoch nicht mit
Bestimmtheit behaupten zu dürfen, daß hier wirklich Land sei, da die Erscheinung
der hügelartigeu Erhöhungen und die verschiedenen Schattirungen, wie sie die sich
hebenden und senkenden Umrisse einer unter dem Schnee verborgenen Gebirgsmasse
auf dem einförmigen Weiß der Decke hervorbringen tonnen, sein einziger Grund
für die Vermuthung ist, und eine kahle Felsspitze oder Wand ans der ganzen
Strecke von dreißig Grad, welche der Eiswall einnimmt, nirgend z» erblicken
war. Auf dieser Reise drang anch Roß bis zum südlichsten Punkte vor, den bis
jetzt ein Seefahrer erreicht hat, nämlich bis 78" 9^ nnter -161" 27' w. L.
Als Noß alle weiteren Versuche, im Osten des Eismeers vorzudringen, aus¬
geben mußte, kehrte er uoch einmal nach Cap Adare zurück, um etwas über die
westliche Ausdehnung des Victorialandcs zu erfahren, und wo möglich von hier
aus nach dem magnetischen Südpol zu gelangen. Aber auch hier waren alle Ein¬
buchtungen der Küste mit festem, einige hundert Fuß dickem Eis vollständig ausgefüllt,
die ganze Küstenlinie stellte sich als eine Reihe senkrechter, von A—Ü00 Fuß hoher
Eisklippen dar, vor denen sich einige Meilen in die See hinaus eine Reihe auf dem
Meeresboden festsitzender Eisberge hinstreckte. Dafür hatten sie eines Nachmittags
von den Schiffen aus eine sehr schöne Ansicht über die nördliche Spitze des
Victorialandes bei Cap North. DaS Wetter war vollkommen hell, und eine hohe
Bergkette zeichnete sich in scharfen Umrissen von dem wolkenlosen Himmel ab; und
obgleich von fleckenlosen Weiß, ohne die kleinste Stelle am blosgelegten Fels,
brachten doch die Unregelmäßigkeiten der Oberfläche, die zahlreichen kegelförmigen
Spitzen und kleinen Höhen, und die lief eingeschnittenen Thäler eine schöne
Abwechselung von Licht und Schallen in dem sonst eintönigen Schimmer der
blendendweißen^ Schneedecke hervor, die sich nicht wohl beschreiben läßt. Weiter
im Westen sah mau uoch einzelne Spitzen, die eben so gut Inseln, wie Gebirgs-
gipfel anf festem Lande sein konnte», aber das bei der schon weit vorgerückten
Jahreszeit immer fester werdende Packeis verbot in dieser Richtung weitere Fort¬
schritte zu machen, was erst drei Grad weiter nördlich gelang. Hier ist das Terrain
der von der amerikanischen und der französischen Expedition nnter Lieutenant
Wildes und d'Urville gemachten Entdeckungen. Lieutenant Wilkes sah hier zwischen dem
160. und dem 90. Grade v. L. an verschiedenen Stellen hohes bergiges Land,
und d'Urville entdeckte zwischen dem 130.u.-I/.0. Längen-, und dem 65. ». 66.
Breitengrade das Adelaidenland und die Clarietüste. Beide konnten jedoch wegen
einer eben solchen Eismauer, wie sie weiter im Süden alles weitere Vordringen sperrt,
nicht lande». Wenn diese verschiedenen Höhenzüge jedoch wirklich zusammenhänge!.
sollten, so gebührt die Priorität der Entdeckung dieses Kontinents dem Wallsisch-
sahrer Ballens, der im Februar 1839 unter K0" /..^ s. B. und -163" ö.L.
fünf ziemlich große Juseln entdeckte, welche Si'vß für Bergspitzen halt, nud von
deren bis zu -12,000 Fuß hohen Gipfeln deutlicher Rauch in die Höhe stieg.
Weiter westlich »utar dem -I3-I. Längengrade erblickte Balleny ebenfalls Land, so
wie unter dem -I-I8. Längengrad eine Küstenstvecke, die er Sabriualaud taufte.
Vielleicht hängt mit diesem Continent anch noch die zwischen dem 58,—K0. Län¬
gengrad von Biseoe entdeckte Küstenstrecke Kemp- und Cuderbylaud zusammen.
Roß kam in diesen Regionen nicht weit genug südlich, um diese Entdeckungen
näher untersuche» zu können.
Auch in den dem Cap Horn gegenüberliegenden Polargegenden suchte Sir
I. Roß unsre geographischen Kenntnisse zu erweitern, und namentlich das Vom
Capitain Dnrmvnt d'Urville entdeckte Ludwig Philippsland südlich von Südschett-
land zu explvrire», welches möglicher Weise die östliche Spitze des von Biseoe
entdeckten GrahamSland ist. Es ist ebenfalls von vulkanischer Formation, wie
Alles, was man bisher am Südpol an Land entdeckt, zeigt aber bei weitem nicht
so kühne Umrisse und so hohe Bergspitzen wie Victorialand; der höchste Berg,
Mount Haddiuglom, ist etwas über 7000 Fuß hoch. Hier liegt auch die früher
erwähnte Cvckburmnsel, der südlichste Fleck auf dem man Spuren von Vegetation
entdeckte.
In dem verschiedenen geologischen Charakter der Nord- und der Süd¬
polargegenden prägt sich ihr Unterschied am schroffsten aus. Mit Ausnahme des
Vulkans ans der Jan Mähen Insel' östlich von Grönland findet sich inner¬
halb des Nvrdpvlarkreises keine Spur neuerer vulkanischer Thätigkeit vor, und
vo» ältere» vulkanischen Gestein kommt nnr die sccnudaire Trappsvrmatiou vor.
neptunische Bildungen sind entschieden vorherrschend. In den Südpolart'reisen
hat man dagegen von letzteren noch keine Spur gefunden. Allerdings find die
Gelegenheiten für die Geologen, sich uumittelbnr vou den Felsen Proben zu holen,
sehr selten, dafür sind aber die großen Pinguine sehr fleißige geologische Saunn
ter, und in ihren Magen kann mau stets sicher sein, eiuen reichlichen Vorrath,
oft über ein Pfund an Steinen zu finden. Diese bestanden stets aus Basalt,
Grünstein, Porphyr, Granit, blasiger Lava, Quarz, Büustein, aber niemals
ans neptunischen Gestein, so daß also in diesen Bruchstücken wie in den allge¬
meinen Umrissen des Landes sich sein vulkanischer Charakter deuilich ausprägt.
— Will um? erkennen, was die neue napoleonische Aera
ans Frankreich gemacht hat, was sie ans ihm zu machen droht, so werfe man einen
Blick auf die Interesse», welche heute in Paris das öffentliche Leben —wen» dieser
Ausdruck »och erlaubt ist— bewegen. Dieses französische Volk, dessen mächtiger Jnia-
tive el» großer Theil Europas seine politische Emaucipatio» verdankt, das seit langer
als einem Menschenalter Institutionen und eine Tribune besaß, deren geistige
Kämpfe die Welt bewegten, ist theils zu eine»? Spiel mit Nichtigkeiten herab-
gesunke», wie man sie in den >Caricatnren der kläglichste» Kleinstaaterei darzustellen
gewohnt ist, theils in den Schwindel einer Speculalionswnth gerissen, die nicht
minder die materielle», als die moralischen Verhältnisse zerrütten muß. Die
Masse», hoher» sie nicht in stumpfer Abhängigkeit von den Beamten »ut der
Geistlichkeit sich befinden, folgen dem Impuls, der von den gebildeteren Klassen
gegeben wird; die edleren Geister, die bessere» Charaktere habe» sich einem
Treibe» entzöge», dessen Ekel man höchstens dadurch überwinden kann, daß man
seine lächerlichen Seiten in's Auge faßt.
Die politische Arena, die früher so viele glänzende Talente zur Entwickelung
brachte, ist geschlossen; die Presse steht unter einem Zwange, der selbst über aus¬
ländische Fragen, wenn sie auch nur in der entferntesten Beziehung zu den fran¬
zösischen Zuständen stehen, keine einigermaßen freie Besprechung gestattet. Die
Hof- und Regierungsblätter führen ohne Entgegnung das große Wort, geriren
sich als Ausdruck der nationalen Meinung, und schmähen die niedergetretene»
Parteien; sie sind der Tummelplatz eines politischen Renegatenthnms, dessen
Cynismus jede Spur von Scham längst überwunden hat. Eine Presse ohne
ernsthafte und redliche Discussio» kann jedoch dem Publicum keine geistige Nah¬
rung bieten; die Staatskörper vollends sind zu einer Bedeutungslosigkeit herab-
gebracht, die keinem Manne von unabhängigem Charakter gestattet, darin Platz
zu nehmen. Ihre Zusammensetzung schon würde ihren Verhandlungen alles In¬
teresse, ihren Beschlüssen jede Wichtigkeit benehmen, wäre ihnen nicht die
Öffentlichkeit ganz oder zum großen Theile abgeschnitten.
Es bleibt daher, um die Neuigkeitssnckt der Franzosen, namentlich der Pariser,
zu befriedigen, nur noch der Hof übrig. Hier in der nächsten Umgebung des
Mannes, der mit unbeschränkter Macht über Frankreichs Wohl und Wehe ver¬
fügt, drängt sich alles Interesse zusammen. Die nichtigen Vorgänge des Hof-
lebens, der Klatsch der Couloirs des Palastes sind für das Publicum jetzt, was
früher die großen Staatsactionen. Die Ernennung eines neuen Kammerherrn
ist ein Ereignis;; die Frage, ob ein Pageninstitnt eingerichtet werden soll, nicht
minder; ein Ball in den, Tuilerien ist mindestens so viel, wie früher eine große
Debatte im Parlament. Wann Se. Majestät erschienen ist, mit wein Sie ge¬
sprochen hat, welchen Orden Sie getragen hat, mit welcher Dame Sie den
Tanz eröffnet, welche Personen die kaiserliche Quadrille bildeten, welche am
Souper Sr. Majestät Theil nahmen, wann Se. Majestät sich zurückgezogen hat,
wird mit derselben Wichtigkeit behandelt, wie zu den Zeiten deö in^inen ,vgun<z.
So war es vor Kurzem die Frage der kurze» Beinkleider, welche die politische
Welt in Aufregung versetzte. Se. Majestät war auf dem ersten Tnilericnball
in Kniehosen und weißen Strümpfen erschienen. Einige der Großwürdenträger
deö Reichs hatten das Beispiel ihres Souverains nachgeahmt, und man sah daher
voraus, daß dieses Costum für die nächsten Hofbälle alö rissrumr werden würde.
Die Agitation für »ud wider wurde sehr lebhaft. Nicht Jedermann, sagten die
Höflinge, hat ein so schon geformtes Bein wie Se. Majestät; verschiedene, etwas
abgemagerte Senatoren oder Staatsräthe waren, so hieß es, in Verzweiflung.
Böse Zungen serner wollten behaupten, der Marschall Magnam habe Wattons
getragen; dem widersprachen andere; der Marschall sei von der kräftigste» Körper¬
beschaffenheit und erfreue sich des schönsten Beines in Frankreich ...... natürlich
mit Ausnahme Sr. Majestät. Die Kunde von den Kniehosen drang bis in die
bürgerlichen Kreise und regte hier die industriellen Leidenschaften auf. Die
Strumpfwirker beriethen eine Petition an ihren allergnädigsten Monarchen, um
Einführung der kurzen Beinkleider in alle officiellen Uuifvrmiruugen.
Die Frage gewann an Umfang, indem sie eine constitutionelle Kontroverse
hervorrief. Bekanntlich beabsichtigt der Senat, dem Kaiser einen großen Ball
zu geben. Die zu diesem Zweck niedergesetzte Commission fühlte sich veranlaßt,
in Berathung darüber zu treten, ob die pati-W Mri-u? nicht dem Vorgänge Sr.
Majestät folge» und in Kniehosen und Strümpfen erscheine» müßte». <5in wich¬
tiger Einwand ward dem entgegengestellt. Das vom Kaiser erlassene Reglement,
welches die Uniforme» der Se»atoreu festsetzt, schreibt lange Beinkleider vor.
Welch' bedenkliches Dilemma. Entweder mußte man in tiefer Ehrerbietung gegen
Se. Majestät es unterlassen, dem von ihr gegebene» Beispiel zu solgen,
oder die vom Kaiser ertheilten Borschriften ----- und sie sind in der
That fo wichtig, wie die übrigen Paragraphen der Verfassung ...... ver¬
letzen. Nach ernsten Debatte» beschloß die Commission das Gesetz schlafen
zu lasse» und der kaiserlichen Perso» i» Strümpfe» und Kniehose»
ihre Hnldignna.er darzubringen. Dieser folgenreiche Beschluß ward mit 17 Se.
gegen -I Se. gefaßt, und die Medisance behauptete sofort, das dissentirende Mit¬
glied hätte nicht mit Rücksicht auf das Reglement, sondern mit Rücksicht auf seine
osteologische Körperbildung gestimmt.
Dieses höfische Getreide steht in enger Verbindung mit dem der Börse. Be¬
kanntlich sind zum Theil gerade die hervorragendsten und begünstigtsten Anhänger
Napoleon's tief in Börsenspeculatione» verwickelt. Niemand zweifelt z. B.
daran, obwol der Moniteur dem Gerücht ein bestimmtes Dementi gab, daß der
Maischall Se, Armand wirtlich ungeheure Summen im Börsenspiel verloren hat,
und nnr dnrch die kaiserliche Munificenz ans seiner üblen Lage herausgerissen
ist. Der Herzog von Bassano steht an der Spitze einer algierischen Minengcsell-
schaft, welche Bankerott gemacht hat und das Verhältniß des Staatsministers
Foulo's zur 8o0lo>.«; eivili! moKMkr ist sogar ein officielles. Hat man unter
dein Regime der „Bourgeoisie" zu Louis Philipp's Zeit über den Scandal des
Börsenspiels großes Geschrei erhoben, so ist, was damals geschah, außer allem
Vergleich mit dem heutigen Treibe». Erstens hatte die Juliregieruug zu keiner
Zeit mit der Unvorsichtigkeit der jetzigen durch maßlose Ertheilung von Conces¬
sionen zu Slctieugescllschaftcu und Bildung schlecht fnndirter Creditinstitute
eine so fieberhafte Ausdehnung der Speculation hervorgerufen, die schon dnrch ihr
eigenes Uebermaß selbst solidere Unternehmungen in schwere Krisen hineinziehen
muß, da sie die Kräfte der französischen Capitalien weit übersteigt. Ferner boten
die damaligen Zustände Garantien gegen den plötzlichen Ausbruch gewisser Even¬
tualitäten dar, welche in den heutigen fehlen, und die daher der Speculation
weniger abenteuerliche Aussichten und weniger gefährliche Rückschläge eröffneten.
Zu Louis Philipp's Zeit war eS nicht möglich, daß das dem plai^ir des Königs
Frankreich in einen Krieg verwickeln, beliebige Handelsverträge abschließen, oder
dnrch eigenmächtige Verfügung über die Staatsgelder schwere Belastungen des
öffentlichen Credits herbeiführen konnte. Die parlamentarischen Rechte waren
ernsthaft, während von den gegenwärtigen Staatskörpern nicht zu erwarten ist,
daß sie anch den allerärgsten Zumuthungen sich widersetzen sollten. Das leiseste
Lüftchen somit, das in der Sphäre des Hofes sich regt, wirkt auf die Börse; dem
Treiben der Speculanten steht ein größerer Spielraum offen, durch Verbreitung
von Gerüchten auf die Fonds zu wirke», als je zuvor. Nun kommt noch dazu, daß
die Spccnlationswnth viel weiter und tiefer in die gesellschaftlichen und bürger¬
lichen Kreise gegriffen hat, als unier der vorige» Regierung. Die Frauen der
höheren Klassen betheiligen sich am Börsenspiel dnrch ihre Agenten mehr, als es
früher je geschehen; die ärmeren Leute legen ihre Ersparnisse zusammen und ver¬
trauen sie, vou dem Durst nach übermäßigem und schnellem Gewinn, der alle Welt
ergriffen hat, fortgerissen, dieser trügerischen Chance an. Schon ist die Krisis
des ganzen Fond- und Geldmarktes in drohendem Anzüge, und wird nur noch
dnrch ungeheure Anstrengungen der Negierung, die zu spät ihren Fehler einge¬
sehen hat, abgehalten. Kommt sie zum Ausbruch, so werden ihre Folge» in
einem bis dahin ungekannten Maße sich offenbare».
Paris lebt in diesen, Augenblicke wie in einem Traume
- es sieht, spricht und hört Nichts als HvchzeitSvorbereituuge», u»d jedes andere
Ereignis! tritt bescheiden i» den Hintergrund, um den gekrönten Majestäten im
Interesse der öffentlichen Meinung den Vortritt zu lassen. Selbst die Börse, die
sonst keineswegs romantischer Natur ist, wiegt sich i» süßen Illusionen, nud das
diplomatische Nasenrümpfen Oestreichs, der keineswegs hoffnungsvolle Zustand
Spaniens, die Rüstungen Englands, die Vorbereitungen Deutschlands und gewisse
Motionen in Amerika, die unter allem andere» Verhältnissen Sensation gemacht
haben würden, wie eine Schnldfordenmg an einen Schuldner, der im Rausche so
glücklich war, einigen Trost zu finden. Dem Erwachen wirb ohnehin früh genug
seine Zeit werden, und darum wollen wir es den guten Franzosen nicht übel
»ebenen, wenn sie sich in diesem Augenblick mehr darum kümmern, ob die Kaiserin
ein weißes Sammetkleid oder ein weißes Spitzenkleid tragen werde, ob der Kaiser
die Krone aus dem Kopfe erscheinen will, oder ob er sich blos mit den Lorbeeren
des zweiten Decembers schmücken werde. ES ist bemerkenswerth genug und ver¬
dient unser Lob, daß im Grunde verhältnißmäßig n»r wenig Zudrang aus deu
Provinzen bemerkbar, daß also, wenn man nach diesem Factum sich einen Schluß
zu ziehen erlauben kaun, denn doch etwas Ernst in die Franzosen gekommen.
Zu früh wäre das auch in der That nicht. Die Meinung über die Heirath hat
sich noch immer nicht geändert, wo man hinhört, überall dieselbe tadelnde Stimme,
wenn auch nicht dieselben Motive. Die Rede hat gleichfalls keinen' günstigem
Eindruck gemacht, und obgleich Alles übereinstimmt, daß sie meisterhaft abgefaßt
sei, brachte sie selbst bei den Massen keine rechte Wirkung hervor, weil man diesem
Herr», wie sich das Volt von Paris ausdrückt, nicht trauen kann. Es wird
Louis Napoleon lange nicht gelinge», rechten Enthusiasmus zu erwecke» , er mag
thu», was er will. Das moralische Gefühl ist auch trotz »»srer politischen Spal-
tungen »och stark geung, als daß die Franzosen Alles vergessen hätten, was man
ihrem Lande zugemuthet. Ich muß gestehen, daß ich erwartet hatte, das Manifest
werde sein Glück macheu, die geniale Phrase des parvenu schien mir so ganz im
Geiste des französischen Volkes gefunden, daß ich um so mehr einige Hingebung
vorausgesetzt hätte, weil sich die Bourgeoisie und Haudelsaristokratie gleich so un-
vortheilhaft dadurch berührt erklärte. Bisher hat sich aber Nichts dergleichen kund
gegeben, und das einzige Gefühl, das sich geltend macht, ist jenes einer großen
Neugierde. Die Pariserinnen »vollen die glückliche Kaiserin sehen, die Geld genug
hat, sich ^ Kleider ans einmal macheu zu lassen. Das Volk will sich über¬
zeugen, ob sie wirklich rothes Haar habe cainin; miiz /Xngtm«» — aber von eigent¬
lichen Volksmanifestationen, wie sie bei einem so beweglichen Naturell wie dem
französischen so leicht zu Stande kommen, ist nirgend eine Spur zu finden.
Mau ist neugierig, wie auf ein Spectakel, es ist eine ^'emuwo wM^MtÄtion,
zu welcher ganz Paris zu Gaste geladen ist. Der Kaiser thut mittlerweile Alles
was er kann, um unter der Hand die Meinung zu verbreiten, daß er nur in
demokratischer Absicht und zum Frommen der Unabhängigkeit Frankreichs eine so
wenig traditionelle Ehe schließe. Die Polizei hat ausdrücklich Auftrag erhalten, sich
dnrch ihre geheimen Agenten in diesem Sinne über den überraschenden Schritt
seiner Majestät auszusprechen. Den Journalen ist der pÄrvvnu anch in die
Nase gestiegen, und obgleich sie es noch immer nicht wagen dürfen, zu sprechen,
so erlaubt man ihnen doch laut zu niesen, und das ist immerhin eine
willkounneue Abwechselung in der lautlosen Stille, die uns bisher umgeben.
Die realistischen Journale sage»: — Ah da seht ihr's, der Kaiser sagt
selbst, daß er nicht die eigentliche, traditionelle Monarchie wieder hergestellt,
während die Journale der ehemaligen Republik replicircn: Ihr Neaetionaire
müßt nun selber zugestehen, daß die Revolution nicht so leicht zu besiegen und
daß das lmiM-iz nun eiugestauduer Maßen nur ein revolutivuaircs Factum sei.
Der Constitutivucl, der gegenwärtig die bonapartistische Legitimität vertreten will
— kümmert sich um den parvenu nicht und beweist, daß das Kaiserreich der Re¬
volution blos folge, aber nicht ans ihr entspringe. Wer sich unterfängt zu zwei¬
feln, dem streckt Cassaignac seine kurze» Hosen aus weißem Atlas entgegen und
fragt ironisch: Ist das ein demokratisches, el» revolutivuaires Kaiserreich, tuis
Niemand bei sich empfängt, als »ach dem stcifesten Hofceremouiel? Das iuexpressible
Argument macht die Widersacher verstumme», und der Gascviiier wirft sich in
die Brust, schlägt deu Schlapphut unter den Arm und kehrt der demokratischen
Canaille vornehm den Rucke». Aber das ist ganz gleich, die Hauptsache ist, daß
der i>!>,rv<zun el» Loch i» die chinesische Mauer der Censur gestoßen »ut daß seit
der Rede vom vergangenen Samstag eine Art von Discussion sich entsponnen
hat. Durfte doch der 5ion,l<z sogar heute berichte», daß der Münster der aus¬
wärtige» Augelegeuhcite» el»e sehr energische Note an die Vertreter der franzö-
sische» Regierilng bei den auswärtigen Hofe» geschickt habe. Die Heirath scheint
also nicht so ganz ein coup rlg I,et,k oder el» <x,up cle e»gen' gewesen zu sein,
als mau dies hier ziemlich allgemein angenommen. Der Kaiser hat durch seinen
Minister Rußland, Oestreich und Preußen es wissen lassen, daß er dem europäi¬
sche» Friede» kein größeres Opfer bringe» konnte, als indem er seinen Gefühlen
ans eine so energische Weise Zwang anthue, gegenüber den Demüthigungen,
welche ihm Rußland zugefügt. Der Minister des Kaisers sagt nicht, daß ohne
Lord Cooley es vielleicht noch früher zu einem cxmp ac lötiz gekommen wäre.
Dieses Circnlarschreiben an die französischen Missionen im Auslande war die vor¬
läufige Drohung die Heirath war blos eine Venvirklichnng derselben. Abge¬
sehen von alle» Nebenrücksichten und von der Art und Weise, wie die Heirath in
Frankreich gegenwärtig aufgenommen wird, hat Louis Napoleon seine Stellung
dnrch selbe keineswegs erschwert. Politisch hat er nnr gewonnen dadurch, und es
ist leine bloße Phrase, wenn er ölige, daß er unabhängiger durch diesen Act ge¬
worden. Die europäischen Kabinette beiden nur in der That jetzt nichts mehr
zu geben, sie können ihn durch keinerlei hoffnungsvolle Vorspiegelungen mehr
ködern. Louis Napoleon hat jetzt allem zu geben, und dies ist so wahr, daß
Oestreich außer durch eine diplomatische Note durch Nichts den Ausfall aufnehmen
wird, den sich der Kaiser der Franzosen ans so ansuchte Weise erlaubte. Man
weis;, daß der Friede Europas einzig und allein in den Händen Louis Napoleon's
sei, nud darum wird man thu auch uicht weiter reizen, »in so weniger, als der
letzte Act wieder zu beweisen scheint, daß Louis Napoleon schnell zu Handel» ge-
wohnt sei und nicht lange drohe. Ob aber Napoleon til. wirklich in seinem
Interesse die Stellung ausbeuten werde, die er sich nur geschaffen, das ist eine
andere Frage und wird sich erst später zeige», obgleich Gründe vorhanden, dies
schon jetzt zu bezweifeln. Louis Napoleon's Interesse wäre nämlich der Friede,
und er thut Alles, was ihn früher oder später zum Kriege drängen muß, er
bereitet siel/ auch mit zu viel Wohlgefallen darauf vor; er zählt unter seinen
Freunden zu viel abenteuerliche Kopfe; er schuldet der Armee zu viel, ohne irgend¬
wie zu trachten ihr ein bedeutendes Gegenwinde zu verschaffen; er liebt zu sehr
die capitelweise Nachahmung seines Onkels, er ist selbst zu sehr für die französi¬
sche ^loire- eingenommen, und endlich ist seine Finanzpolitik eine zu gewagte, als
daß ihm ein anderer Ausweg offen bleiben sollte als der perikleische. Ans der an¬
dern Seite kann seine fortgesetzte drohende Haltung die Vorbereitungen seiner
eventuellen Gegner zu einem Punkte gedeihen lasse», wo es diesen selbst schwer
oder 'unmöglich werden mag, den Friede» länger zu erhalte». Der Krieg aber
ist nicht i» Lo»is Napoleon'S Interesse, weil er als Sieger oder Be¬
siegter seine Krone gleich leicht verliere» kaun. Vom Uebenvuudeueu ver.
steht sich das vo» selbst nud vom Sieger läßt sich das auch ohne Para¬
doxe behaupten, weil Louis Napoleon nicht ohne Bundesgenosse» siegen
kann, und weil die Bundesgenossen, die er finden wird, später seine Feinde
werden müsse». Daß der Ausgang eines Krieges für de» neue» Kaiser
eben so unheilvoll sei» werde wie für de» alte», scheint mir um so gewisser, als
ein europäischer Krieg unter den gegenwärtigen Verhältnissen nnr ein revvllttiv
»airer werden kann. Er mag unter was immer für einer Fahne geführt werde»,
sein Inhalt muß früher oder später i» den der Revolution einschlage». Schon
Napoleon'S Krieg hat trotz seiner persönliche» Zwecke uicht wenig zur Verbreitung
der revolutionairen Idee» .beigetragen,, !und darum wurde anch Napoleon immer
als Held der Revolution betrachtet, obgleich er nichts weniger als ein Freund der
selben gewesen. Der Krieg Louis Napoleon's aber müßte durch die Lage der
Dinge eine noch weit revolutiouairerc Bete»tu»g erhalte». Auch darf ma» uicht
vergesse», daß der nächste europäische Krieg auch das junge Amerika in die
Schranke» rufen dürfte, das wol schwer die Gelegenheit, sich die ersten Ritter-
spvren zu- verdienen, vorübergehen lassen wird.
Vorläufig verstummen alle trübe» Prophezeiungen. Wir sind Alle festlich
gekleidet, um das kaiserliche Ehepaar morgen ans ihrem Hochzeitsznge an uns
vorüber ziehen zu sehen — was die nächsten Monate bringen werden, kümmert uns
wenig, wir wollen hoffen, der Kaiser werde galant genug sei», wenigstens die
Flittenvvchen seiner schönen Spanierin nicht dnrch kriegerische Wollen auf seiner
Stirn zu trüben. Die künftige Kaiserin wird immer noch von den Berlcnmdnngen
ihrer Gegner und Neider stark mitgenommen. Bisher habe ich blos über folgende
Pnnkte Gewißheit erlangt: Frau Eugenie Bonaparte ist schön, die künftige Kai¬
serin ist voll abenteuerlichen Sinns, sie hat Geist, und ist dabei, was mau eine
gute Haut neunt. Darin stimmt man ziemlich allgemein überein. Ob ihr Geist
stark genug sein werde, ihrem unternehmenden Temperamente zu gebieten, dies
wagt Niemand zu prophezeien. Die Hofatmvsphäre ist eine so gefährliche, daß
sich hierüber nnr aus Erfahrung urtheilen läßt. Aber schou jetzt kann man
voraussehen, daß die Kaiserin große» Einfluß auf ihren Mann üben werde;
dieser Mann war inmitten seiner Freunde und vorübergehenden Verbindungen so
vereinzelt, daß el» Wesen, das in so intime Beziehungen zu ihm tritt, schon ans
diesem Grnnde Zugang zu seinem Vertvanen finden muß.
So wie die Politik durch die Heirath deö Kaisers absorbirt wird, so sind
die Theater von einer ganzen Schaar vo» Oncle Tom'S erobert worden — es
wird einem ganz schwarz vor den Augen. Zu sagen ist über diese dunklen Dra¬
men nichts. — Alle Welt kennt den Roman, und alle Welt weiß, wie die fran¬
zösischen Nühnensabrikanten a»S einem Romane ein Drama oder Melodrama
machen. Ich will Ihre deutsche» Leser a»f den zweite», demnächst erscheinenden
Band vo» Moritz Hartmann's Tagebuch aus dem Süden Frankreichs a»fmerksam
machen. Dieser zweite Band soll noch interessanter werden als der erste, und
dieser ist doch gewiß eine anziehende »ut belehrende Lectüre. Hartmann's Buch
gehört zu dem Besten, was bisher über Süd-Frankreich geschrieben, und selbst die
Franzose» habe» nicht viel über diesen Gegenstand, was diesem Buche an die
Seite gestellt werden könnte. Hartmann sieht mit poetischem, künstlerischem Ange,
und seine Erzählnngsweise hat etwas Gewinnendes, das dem Buche nur um so
größer» Reiz verleiht. Was die poetische Beigabe betrifft, erlauben Sie> mir
wol, »icht Ihrer Meinung z» sein. — Das Gedicht, Morgen am Meere, ist ein
kleines lyrisches Meisterstück.
— Aus die Auflegung deö Parteieukampfes um de» Besitz
der Miuisterportefeuilles in der mit Anfang des Jahres Vertagte» Pailameutssession ist eine
Periode politischer Windstille gefolgt, welche selbst die Agitation für und gegen die
Wiederwahl der neuen Minister hat nicht unterbreche» könne», Nur bei zwei Wahlen zeigte
sich eine erhebliche Opposition, und zwar in Oxford gegen Hr», Gladstone, der aber
nun endlich, nachdem die Poll et Tage offen behalten worden, mit eiuer Majorität
von Stimmen für denselben entschiede» ist, worauf nun hoffentlich sei» Mitbewerber
in das seinen Eigenschaften am besten geziemende Dunkel zurücktreten wird — und in
Carlow in Irland, gegen Mr, Sadleir, einen der neue» Lords des Schatzes. Letzterer
ist jedoch mit einer Minorität von 6 Stimme» einem Gegencandidaten Alexander unter-
legen, den seltsamer Weise sowol die Derbyiteu, die conseanenten und fanatischen Geg¬
ner selbst der gerechten Ansprüche der Katholiken, und die Ultramontanen unterstützte».
Diese widernatürliche Allianz trägt nicht dazu bei, den Derbyite» größere Achtung zu
erwerben, oder den Ansprüchen der Katholiken wehr Berücksichtigung zu Verschaffen,
obgleich man in diesem Falle den letzteren nachsagen muß, daß ihr gemäßigterer Theil
den Kandidaten des Ministeriums bereitwillig unterstützt hat, da die bekannten
toleranten Gesinnungen Lord Aberdeen'S und der Whigs ihnen genügende Bürgschaft
für die Gewährung aller vernünftigen Freiheit für ihre Kirche sind. Freilich, die
Freiheit, welche die katholische Kirche gegenwärtig auf einem großen Theile des Con-
tinents verlangt, und die sie zwar Gleichberechtigung nennt, die aber eigentlich darin be¬
steht, daß sie selbst das Recht verlangt, vollkommen ungehindert jede andere Confession
angreifen zu können, während sie zu ihrem eigenen Schutz die ganze Macht der welt¬
lichen Waffen beansprucht, wird ihr in England nicht werden. DaS Märtyrerthum
der Madiais hat die Augen allen Denen geöffnet, die sich noch von den Toleranz-
und Glaubensfreihcitspredigtcu der römischen Missionaire täuschen ließen. Der Ausfall
der Wahl in Carlvw wird übrigens wesentlich zu dem schon begonnenen Zerfall der
irischen Partei im Unterhause beitragen. Täglich sagen sich mehr der gemäßigteren und
respektableren Mitglieder von den ultramontanen Fanatikern der irischen Brigade los,
die von der Regierung »»bedingte Unterwerfung nnter die Gebote ihrer Priester als
Preis für ihre Unterstützung verlangt.'
Die andere Wochennenigkeit ist die Ernennung Lord Clarendons zum Staats-
sceretcnr des Auswärtigen, die wir schon bei unsrem ersten Briefe über die Zusammen-
setzung des neuen Ministeriums als die wahrscheinlichste für diese Stelle bezeichneten.
Lord I, Russell's Ernennung für dieses Amt war von Hans aus nnr eine provi¬
sorische, die nur bis zur Wiedereröffnung des Parlaments dauern sollte; er behält einen
Sitz im Cabinet ohne Portefeuille, und bleibt parlamentarischer Führer der ministeriellen
Partei im Unterhause — ein wichtiges und mühevolles Amt, welches seiner geistigen
Begabung und seinen Antecedentien angemessen ist, und das mit dem Amt als Staats-
secretair des Auswärtigen das für ihn wegen des Mangels an Routine doppelt
beschwerlich war ^ nicht gut vereinbar war. Lord Clarendon war längst als Lord
Palmerston's Nachfolger bezeichnet, dem er übrigens in der Richtung seiner Politik näher
steht, als jedes andere Mitglied des Cabinets, An Liberalismus wird eS daher dem neuen
Minister des Auswärtigen nicht fehlen, wenn er es sich anch nicht zur besondern Aus¬
gabe machen wird, zur Erheiterung bei seinen mühseligen Amtspflichten die Galle der
absolutistischen Höhe durch seine Manöver zu errege», Lord Clarendon war unter dem
Ministerium, Russell Lvrdstatthalter von Irland, und früher als Mr. Untiers Gesandter
i» Madrid, ^Jn beiden Aemtern hat er Ausgezeichnetes geleistet, und namentlich hat
er in letzterem mit Geschick und Energie Lord Palmerston's Politik geltend und Eng¬
lands Einfluß in Spanien sast alleinherrschend gemacht.
Eines gewandten und energischen Ministers des Auswärtigen bedarf England
doppelt in der gegenwärtigen Zeit, wo die politischen Verhältnisse des Continents durch
die unerwartete Wendung der Dinge in Frankreich immer bedrohlicher Conflicte in
Aussicht stellen. Daß Napoleon durch seine Heirat!) mit der Gräfin Montijo seine
Stellung in Frankreich verschlimmert hat, glaubt man in England im Allgemeinen nicht.
Eine Heirath mit einer Französin würde durch den Neid, den ihre Erhebung bei ihren
Landsmänninnen verursacht hätte, die ganze cinflnßreicherc Hälfte der modernen franzö¬
sischen Gesellschaft gegen den neuen Kaiser in's Feld geführt haben, während die Ver-
bindung mit einer Spanierin, die, obgleich hochadeligen Blutes, doch im Vergleich mit
den Töchter» der souveraine Europas eine Plebejer'in ist, dem demokratischen Sinn der
Franzosen schmeicheln muß, da ihre Eitelkeit ihnen vergessen machen wird, daß ihr
Kaiser vorher vergeblich bei einer ganzen Reihe Prinzessinnen bis zu der kleinsten
du'ab nachgefragt hat. Verletzt die Heirath wirklich die höheren Kreise der französischen
Gesellschaft so, wie die ersten Berichte aus Paris sagten, so wird sich Louis Napoleon
an so mehr veranlaßt sehen, eine Stütze in den Sympathien des Volkes zu suchen,
und dann wird man sehen, ob es noch heißt: „I'smpire e'est, Is Mx!" Ein fernerer
Grund zur Besorgnis! ist der Beweis, den Napoleon bei dieser Hcirathsangelegcuheit
abermals abgelegt hat, daß er außer dem Gebot seines absoluten Willens keine Rück¬
sicht kennt, und daß er seine Pläne mit einer Verschlossenheit zur Reife und einer
Hartnäckigkeit zur Ausführung bringt, die ihn zu einem um so gefährlichern Gegner
machen, als die Abenteuerlichkeit seines Geistes jede Berechnung über die Richtung seiner
zukünftigen Schritte ausschließt.
Eine finanzielle Krisis, die man hier als nahe bevorstehend für Frankreich bezeich'
net, werde, behauptet man, eine neue politische Erschütterung herbeiführen, die sich
wahrscheinlich nach dem Auslande Lust machen werde. Da Napoleon's Despotie dem
lebhaften französischen Geiste jede andere Gelegenheit zur Aufregung abschneidet, glaubte
er für ein Sicherheitsventil sorgen zu müssen und hoffte es in der Beförderung des
Börsenspiels zu finden, dem er durch die Schwindcluntcrnehmungen der Banane
mobilikre u, f. w. einen raschen Impuls gab. So lange die Kräfte der Bank vorhal¬
ten konnte», ging die Sache, aber bald waren ihre Portvfcuilles so mit Papieren
überfüllt, daß man versuchen mußte, englisches Capital herbeizulocken. Als Gegenmanöver
hat jedoch die englische Bank ihr Disconto auf 3"/» erhöht, und die französischen
Papiere sind aus ihren eigenen überfüllten Markt zurückgeworfen, der die Wirkung des
Rückschlages schon zu fühlen anfängt. Bereits haben mehrere der vor Kurzem erst
mit fabelhaften Versprechungen begonnene Unternehmungen ihr ephemeres Dasein beschlossen,
und unter den an die Börse als Zahlnngsunfäbige Angeschlagenen befinden sich Namen
wie der Herzog v. Bassano u. A. Auch der Kriegsminister Se. Armand soll in diesem
Falle gewesen sein, bis ihm Napoleon's unerschöpfliche weil unverantwortliche Börse her¬
aushalf. Daß die Krisis erst im ersten Stadium ist, ist augenscheinlich, und auch wenn die
Regierung sie durch kolossale Anstrengungen noch aufhält, so wird sie zuletzt nur noch hef¬
tiger in ihrem Anlauf werden. Das ist die allgemeine Meinung des Londoner
Geldmarktes.
Die Befürchtungen, welche
man an die Ernennung von Beuavides zum Minister des Innern knüpfte, haben sich
bestätigt. Seine ersten Maßregeln schon waren ein Eingriff in die Wahlfreiheit, der
stark an die Gewaltschritte Murillo's erinnert. Ein Circular an die Gouverneure er¬
theilt diesen die Vorschrift, gegen alle Wablcomitv's einzuschreiten, die stärker als zwanzig
Personen seien (auch dann, wenn sie durch Theilung in Untercomitv's das Gesetz
„umgehen" wollten), sich mit den Comites anderer Provinzen in Verbindung setzen,
und sich periodisch versammeln. Herr Benavides nimmt dabei Bezug auf ein Gesetz
gegen Associationen, während der durch den gemeinen Menschenverstand vorgeschriebene
Usus in Spanien, wie in allen Staaten, wo das parlamentarische Wesen etwas mehr
als Comödie ist, bei den Wahloperationen eine größere Freiheit gestattet. Ein zweites
Circular fordert die Gouverneure auf, die Verbreiter falscher Gerüchte, »daß nämlich
die Regierung verfassungsfcindlichc Bestrebungen hege" gerichtlich zu verfolgen. Neben
diesen Maßregeln dauert die Verfolgung der Oppositionspresse in ungeschwächter
Weise fort.
Nach den neuesten Nachrichten hat das moderirre Wahlcomitö, gegen welches die
Chicane des Ministcrums hauptsächlich gerichtet ist, nach fruchtlosen Remonstrationcn
dagegen, beschlossen sich aufzulösen, indem es ein letztes Manifest an die Wühler erläßt
und zugleich denselben ankündigt, daß die von ihm früher designirter Personen nach
wie vor bereit seien, jede zu ihrer Kenntniß kommende Gewaltthätigkeit der Behörden
bei den Wahlen zur gerichtlichen Verfolgung zu bringen. Ueber den Ausgang der
Wahlen läßt sich noch kein sicheres Urtheil fälle». Nach den ministerielle» Organen,
und den Berichten der Gouverneure hätte das Cabinet auf einen sichern Sieg zu rech¬
nen, unabhängige und bisher stets zuverlässige Berichterstatter auswärtiger Zeitungen
jedoch prophezeihen dem Ministerium eine entscheidende Niederlage. So viel ist gewiß,
daß, siegt die Regierung, offenkundige Gewalt genug geübt ist, um die Wahlen als
unfreie erscheinen zu lassen, wird sie geschlagen, ihre, trotz aller von ihr angestrengten
Mittel erlittene Niederlage doppelt in's Gewicht sällt. Der i. Februar wird die
Entscheidung bringen.
In den Politischen Kreise» Madrids hieß es, im Fall die Wahlen gegen das
Cabinet ausfalle» sollten, werde Sartorius, der an der Spitze derjenigen Moderados
steht, die eine Mittelstellung zwischen der Regierung und dem Gros der Modcrado-
Partei einnehme», mit der Bildung eines neuen Ministeriums beauftragt werden. Unter
den gegenwärtige» Verhältnissen wäre dies trotz mancher Ausstellungen, die mau gegen
diesen Staatsmann machen kann, eine bedeutende Besserung, besonders wegen seiner,
»och immer nahen Beziehungen zu Narvaez, der seine Reise nach Wien bis jetzt nicht
angetreten hat, sondern noch in seinem Aufenthalt bei Bayonne verweilt. Jedenfalls
muß das Ministerium Noucali daraus gefaßt sein, nach Eröffnung der Cortes an Sar¬
torius und desse» Freunde» mir eine sehr unsichere Stütze zu finden, die sich leicht in
jedem Augenblicke in directe Gegnerschaft verkehren könnte. Der „livr-nein", das Organ
dieser Fraction, greift verschiedene Maßregel» des Cabinets, so z. B. die Ernennung
des abgesetzte» Gouverneurs von Granada del Ney zu dem gleichen Posten in Valencia,
die in unverhohlener Absicht einer schärfern Beherrschung der Wahlen daselbst geschah,
heftig an.
Herr Llorcnte, der das Departement des Innern mit dem der Finanzen vertauscht
hat. begegnet daselbst gleichfalls bedeutenden Schwierigkeiten. Sein Project, die von
Murillo verworfenen Coupons der active» Schuld anzuerkennen, hat bei der Finanzwelt
starke Opposition erregt und die Fonds an der Madrider Börse in lebhafte Schwan¬
kungen gebracht. Ans der ander» Seite ist es ihm gelungen, ein Anlehn von >Ist>
Millionen Reale» gegen Verpfändung von bis zum Jahre 186i fälligen Schuldscheinen,
welche die Käufer von Nationalgnteru der Regierung ausgestellt haben, durch mehrere
Bankhäuser, unter denen namciitlich das englische der Gebrüder Baring, zu erträglichen
Bcdingunge» z» erhalte». Es soll hauptsächlich zur Vermi»dernng der schwebenden
Schuld <sic beträgt nahe an 350 Millionen Realen) verwandt werden. Die precaire
Fi»a»zlage der Regierung ist kein unwichtiges Hinderniß gegen eine gewaltsame Ab¬
schaffung der Constitutio».
Es scheint außerdem unbestreitbar, daß das englische Cabinet sehr ernstliche
Schritte gethan hat, um die Regierung der Königin Jsabella von ihre» verfassungs-
fcindlichcn Projecten abzubringen. Es soll ihr angedeutet haben, daß England in
diesem Falle von der Garantie, die es in der Quadrupelallianz von 1834 für den
Thron Jsabella's II. gegen die Ansprüche des Prätendenten geleistet, zurücktreten werde.
Ein politisches Bankett, das den neuesten telegraphische» Depesche» zufolge der englische
Gesandte in Madrid, Lord Howden, den Notabilitäte» der Opposition gegebn
hat, beweist wenigstens, daß die englische Politik sich offen in diesem Kampfe aus die
Seite der Verfassung stellt, welche die von französischen Intriguen angefeuerte Herrsch¬
sucht des Hofes bedroht,
^ Professor Jahr in Leipzig hat von einer Reise, die er nach Wien
unternahm, um dort Materialien für eine Lebensbeschreibung von Mozart und Beethoven
zu sammeln, das echte und vollständige Manuscript Beethoven's zur zweiten Lconoren-
Ouverturc in ODur mitgebracht, »ut ist die Ouvertüre nach diesem Manuscripte schon
im Gcwandhause aufgeführt worden. Die Vergleichung mit der jetzt bekannte» zweiten
Ouvertüre, deren lückenhaften Schluß bekanntlich Mendelssohn-Bartholdy nach der gleich¬
lautenden Stelle der dritten geordnet un.d ergänzt hatte, so wie mit der letzten und
grössten, bietet eine Menge interessanter Momente da. Wir werden darüber in der näch¬
sten Zeit ausführlichere Mittheilungen machen.
Eine kleine Schrift von Friedrich Chrysaudcr: Ueber die Moll-Tonart
in den Voll'sgesäuge» und über das Oratorium, Schwerin 1833, bietet,
besonders in dein letzter» Aussatze, viele gut durchdachte Ansichten und manche behcr-
zigcuswerthc Winke. Der eigciitlichc Inhalt ist polemischer Natur; der Verfasser sucht
den Angriffen vieler neuen Aesthetiker zu entgegnen, welche die Form und deu Inhalt
des Oratoriums für abgethan erklären. Diese Ansicht widerlegt er nicht allein mit
historische» und künstlerischen Gründe», sondern vor alle» Dinge» ist es der christliche
Standpunkt, von welchem aus er die Vertheidigung dieser Kunstform führt. So achtcns-
werth uns auch die daraus, entspringenden Ansichten erscheinen, so wenig erscheine» sie
uns geeignet, die in den übrigen Theilen sonst sehr scharf und erschöpfend geführte
Vertheidigung zu unterstütze». Auch in dem Aufsätze über die Molltonarten geht der
Verfasser von diesen, Standpunkte aus und weist nach, wie aus der alten Kirchenmusik,
die sich aus die alten den Griechen entlehnten Kirchcntone stützte, deren Charakter aller¬
dings unsrem Mollgeschlccht am meisten entspricht, sich der Volksgesang mit seinen Moll¬
klänge» entwickelte. Dies ist jcdeiisallö eine Behauptung, deren Wahrheit nur aus der
einen Seite nachgewiesen werden kann. Woher die Molltonarten der Völker, die keine
christliche Musikgeschichte aufzuweisen vermögen? Diese kleinen Bedenken abgerechnet,
empfehlen wir das Büchlein, und wir glauben besonders, daß der Aufsatz über das
Oratorium manchem unklaren Kopfe ersprießliche Dienste leisten werde.
Deutsches Liederbuch für Schulen, vo» F. L, Schubert, mit einer Vor¬
rede von >>>'. Karl Namshor». Leipzig, Reclam. Die musikalische Literatur dieses
Faches ist eine der reichhaltigsten; sast jede größere Bürgerschule in Deutschland hat vou
ihm» Siugclehrer ein solches Büchlein auszuweisen. Ein Uebelstand, der sich im Lause
der Zeiten bei diesen Büchern herausgestellt hatte, war der, daß alle diese Sammlungen
die gleiche» Lieder und Tax.te boten. Der Verfasser des vorliegenden Buches hat sich
nu» bemüht, viel Neue« und bisher Ungebrauchtes zu bringen, und hat zu diesem
Zwecke viele neuere Componisten benutzt, nicht blos aus dem lieben Vaterlande, sondern
auch französische und italienische. Das ist gewiß lobenswerth, doch mögen wir die
Wahl nicht überall lobe», noch weniger aber die Entstellung des ursprünglichen musika¬
lischen Sinnes dnrch nicht passende Texte. Die Lieder sind einstimmig, el» großer Theil
aber zweistimmig gesetzt. Die Führung der zweite» Stimme könnte in viele» Fälle»
leichter und natürlicher gehalten sein; es finden sich an vielen Orten Intervalle, welche,
genau und rein zu treffe», auch geübteren Sängern Schwierigkeiten bereiten dürste.
Vorausgehen den Lieder» kleine Treffübnngcu in den verschiedenen Intervallen bis zur
Octave. Am Schluß sind die gebräuchlichsten Choräle beigefügt.
Am 1. Februar wurde in Leipzig Tann Häuser von Richard Wagner
aufgeführt. Dieses musikalische Drama bat, wie überall, wo es nach den Intentionen des
Autors einstudirt und in Scene gesetzt wurde, auch in Leipzig großen Erfolg gehabt.
Und in der That enthält dieses Bühnenwerk eine Reihenfolge von poetisch empfundenen
und geistvoll für die Bühne arrangirten Situationen, wie sie kaum wirksamer gedacht
werden könne». In glänzender Einleitung das mittelalterliche Zauberreich der Venus
im Hörselberg mit dem allreichcn Apparat, dnrch welchen die Bühne ein sinnliches Liebes-
leben anzudeuten pflegt, ein Zanbertreiben, welches unheimlich contrastirt mit den Fel-
senwänden, dnrch die es umschlossen wird. Gleich daraus in schneller Verwandlung im
Sonnenlicht das Thal der Wartburg, mit den idyllischen Klängen der Landschaft und
des christlichen Ritlerlebens, der Hirtenknabe mit seiner Schalmei, die Glocken der
Heerde, ein schöner Pilgcrchvr, kurz darauf die Hörner der adligen Jäger. Und im
zweiten Act der berühmte Säugerkamps auf der Wartburg, in einer Ausführung, wie
sie die Bühne bei ähnlichen Actioncn noch nicht gewagt hat, der Empfang der Gäste
nud der Epigrammen-Kampf der Sänger selbst, und der ltcbergang vom Lied zum
Schwcrtkampf in meisterhafter dramatischer Anordnung. Daraus ein höchst wirksamer
Schluß, die Bändigung der entfesselten Leidenschaft dnrch das Dazwischentreten einer
edlen Fran, und die Hinweisung auf eine Versöhnung durch' die Pilgerfahrt des sündigen
Helden nach Rom, der ans der Ferne klingende Pilgerchor und die kurzen Schlußworte.
Endlich im dritten Act die Stimmung banger Erwartung, vortrefflich durch die betende
Elisabeth und Wolfram erregt, darauf die starke Wirkung des Chors der zurück-
kehrende» Pilger und die heilige Resignation der liebenden Fran. Und wieder im Gegen¬
satz dazu die verzweifelte Stimmung des zurückkehrenden Tannhäusers, der dunkle Abend,
der auf der Landschaft liegt, die Erzählung des Verzweifelten, wie der Papst ihn allein
nicht losgesprochen habe, — das Alles sind geschickte, zum großen Theil schöne Situa-
tionen. Nur der Schluß ist nicht befriedigend
Auch wird die bedeutende Wirkung, welche diese Situationen in ihrer Verbindung
aus die Seele des Zuschauers ausüben, nicht dnrch gemeine Kunststücke oder unwürdige
Behandlung des Stoffes errungen, im Gegentheil, überall ist ein dichterisches Gemüth
sichtbar, welches die edelste» Wirkungen hervorzubringen strebt. Die Sprache der
handelnden Personen ist viel poetischer, als bei einem Scribcschen Text, in der Handlung
ist Nichts von schwächlicher Sentimentalität bemerkbar, die Musik zeigt überall die
Formen eines großen Styls, und das secnischc und dramatische Arrangement ist be¬
wundernswürdig und geistreich. Ja alle diese Factoren: Poetische Sprache, Handlung,
Musik und Dekoration wirken in einer Weise einheitlich zusammen, wie das bis jetzt auf
der Bühne noch nicht da war. Und nicht blos deshalb, weil derselbe Mann Text,
Musik und Arrangement vorgeschrieben hat.
In der That stehen Coulissen, Costume, samische Einrichtung und die Worte,
welche gesungen werden, bei Wagner in einem ganz andern Verhältniß zu einander,
als in dem, was man sonst Oper nennt. Und unsre Musiker haben nicht vollständig
Recht, wenn sie ihre Angriffe aus das Genre von dramatischem Styl, dem der Tann¬
häuser angehört, nnr nach der Theorie unsrer Oper bemessen. In dem bisherigen
Sinn ist der Tannhäuser gar keine Oper, das heißt, er enthalt keine Handlung, welche
die lyrischen Stimmungen der Personen in dramatischer Bewegung darstellen will; denn
es ist im Gegentheil der epische Inhalt des Stoffes, welchen Wagner in einer
Handlung zu schildern unternimmt. Er empfindet die Handlung nicht zumeist so, daß
die Gefühle der Personen in den Vordergrund treten, sondern in ihrer Idee, in dem
Verlauf, den sie über die Personen wegnimmt; es sind die Situationen, die ganze
Umgebung der Personen, die Reflexionen der Personen über die Situation, in welcher
sie sich befinden, überall epische Seiten der Handlung, welche ihm imponirend aufgehen,
und die er musikalisch zu schildern unternimmt. Daher kommt zuerst die Sorgfalt,
welche er aus die Staffage verwendet, sie spielt bei ihm mit. Die Landschaft, die Be¬
leuchtung, das Costum siud sür seiue Wirkungen ganz unentbehrlich; er möchte sogar
den Abendstern transparent in die Coulisse schneiden lassen. Daher kommen auch die
Formen seiner musikalischen Sprache, wie man den Gesang der handelnden Personen
am schvnendsten nennen möchte. Sie ist eine Art Recitation, bei welcher die ein¬
zelne Note und die einzelne Wortsylbe einander decken, als Gesang. Ihre Ausführung
ist schwierig, nicht nur wegen ungewöhnlicher Intervalle und wegen zu starker Belegung
der Menschenstimme durch die Instrumente, souderu zumeist deswegen, weil sie von
unsre» Säugern eine Fähigkeit, die Worte deutlich auszusprechen, verlangt, welche die
deutschen Sänger in der großen Mehrzahl leider nicht besitzen. — An der Musik wird
der gebildete Musiker mit Leichtigkeit in der Instrumentirung viel Künstelei, in der
Erfindung Schwäche und neben glänzenden Effecten Mangel an Gewandtheit, vielleicht
sogar an musikalischer Bildung tadeln können. Aber mit diesen Borwürfen, denen er
wahrscheinlich bei gerechtem Urtheil manche ungewöhnliche Schönheiten gegenüberstellen
wird, wäre das Urtheil über Wagner's Schöpfungen »och nicht abgeschlossen.
Denn Manches, was nach Styl und Gewohnheit unsrer Opern unerhört ist, wird
Wagner mit Recht als die berechtigte Consequenz einer neuen Methode zu schaffen und
darzustellen auffassen. Es frägt sich eben, ob seine ganze Art der Bühnenwirkung be¬
rechtigt ist, d.h. ob es erlaubt ist, in solcher Weise die epische Seite eines Stoffes auf der
Bühne in Vordergrund z» stellen. — Und diese Frage muß dieses Blatt verneinen, oder,
bescheidener gesagt, es muß bezweifeln. daß dergleichen aus die Länge versucht werde»
kaun, ohne die zusammenwirkenden Künste: Musik, poetische Kraft der Handlung und
Dccorativnswcsen in ein schiefes Verhältniß zu einander zu bringe» und dadurch zu
verderbe».
Was zunächst die poetische Darstellung epischer Momente und musikalische Situations-
Zeichnung auf der Bühne betrifft, so unterliegt diese sehr der Gefahr, zu langweile».
Im Ta»»hä»ser zerstört diese epische Behandlung allerdings nicht die Bühnenwirkung,
aber mir deshalb nicht, weil Wagner die inneren Schwächen der Handlung durch das
allergeschickteste Arrangement und durch eine geistreiche, obgleich nicht immer mäßige
Benutzung von Contraste» und kleinen Ncbenactione» zu überkleiden weiß. Deshalb
ist er genöthigt, ans Seenerie, Dccoratione», Regie einen sehr großen Nachdruck zu
legen, und er wird verursachen, daß Auszüge, Evolutionen, Gefechte, Staatsactionen,
all der Plunder, welcher die alten Opern des achtzehnten Jahrhunderts belastete, in
neuen Formen n»d mit größeren Ansprüchen wieder die Herrschaft gewinnt. Ferner
aber wird bei dieser Methode des Schaffens die Musik in einer Weise zur Dienerin
der Handlung gemacht, welche mit dem Grundwesen dieser Kunst in »nvereinbarem
Widerspruch steht, und durch Aufwendung der größten Mittel, der stärksten Jnstrumen¬
tation, der geistreichsten Toncombinatio» wird sie zuletzt nichts Anderes werden, als
eine malende und beschreibende Schlachteumusik in höherem Style und mit den höchsten
Prätensionen. Wagnern selbst wird hoffentlich sein Geschmack und seine Bildung vor
den letzten Konsequenzen, zu denen seine Richtung führen muß, bewahre», aber es scheint
»ach mciischlicher Bercchiumg, anch für ihn unmöglich, daß er aus die Dauer bei dieser
Bemitzuug der Mittel, respektable Wirkungen hervorbringen wird, welche ein feinfühlendes
Gemüth fesseln. Auch er ist in der dringenden Gefahr, dnrch zu starke Benutzung der
Contraste ermüdend, durch gesuchte Originalität des samische» Arrangements abenteuer¬
lich, dnrch die Wahl seltsamer Stoffe barock und, was die Hauptsache ist, durch »»rich¬
tige Verwendung der musikalischen Mittel lächerlich zu werde». Was ihn aber stets
auszeichne» und sür das deutsche Theater zu einer interessanten Persönlichkeit mache»
wird, ist sein großes Talent für Regie und Arrangement, die geschickte und kunstvolle
Verwendung äußerlicher technischer Mittel, durch welche Wirkungen hervorgebracht werden.
Und so halten wir den Tannhäuser sür ein geistreiches Experiment einer begehrlichen
suchende» Zeit, aber nicht für einen Fortschritt in der Bildung der Oper; wir glauben
auch »icht ein eine gesährliche Schule Wagner's, de»», so scheint uns, jeder Andere wird
schnell untergehe», wenn er versucht, was seine veflectirende Persönlichkeit unternommen
hat. — Die Ausführung des Stückes in Leipzig gehörte zu den besten, welche seit langer
Zeit hier stattgefunden haben. Die Hanptpartien (Wiedemann, Brassin. Fräulein
Meyer) und auch Nebenrollen, z. B. die Tenorpartie Walter's von der Bogelweide
(Schneider) wurden gut ausgeführt, Musikdirektor Rietz hat sein großes Talent wieder
glänzend bewährt und der Operregisseur Behr das Detail vortrefflich in die Scene
gesetzt. Decorcitioncn und Costume waren nach den Verhältnissen der hiesigen Bühne
glänzend/)
Thomas Babington Macaulay's ausgewählte Schriften
geschichtlichen und literarischen Inhalts. Deutsch von Fr. Steger. Erster Band.
Braunschweig, G> Westerman». 1883. Diese neue Uebersetzung der Lssg)'« des
berühmten Geschichtschreiber« enthält bis jetzt! Warren Hastings, Lord Clive, Lord
Burleigh, Maechiavelli. Sie ist auf fünf bis sechs Bände berechnet, welche »ach dem
Versprechen der Buchhandlung schnell auf einander folgen sollen. Ueber den hohen
Werth dieser Charakteristiken des großen englischen Geschichtschreibers ist in d. Bl. bereits
mehrfach gesprochen, sie sind sämmtlich Meisterstücke, in denen eine profunde Gelehrsam¬
keit, klare und schöne Darstellung, und vor Allem die sittliche Hoheit des Urtheils den
Leser stets von Neuem fortreißt. Die vorliegende Uebersetzung ist gut, die Ausstattung
angemessen, der Preis nicht hoch. -
Geschichte der Freimaurerei in Frankreich, von Georg Kloß. Erster
Band. Darmstadt 1852. G. Junghaus. — El» starker Band von 583 Seiten,
dem noch ein zweiter folgen soll. Mit allem Respect, welche» ein Nichtcingeweihter
vor de» Mysterien der Freimaurerei und ihre Geschichte haben kann, betrachten d. Gzb.
dieses Werk. Es ist gewiß sehr gründlich, sehr genan und für Maurer sehr belehrend;
für uns Laien ist es nicht leicht, das Werk in seinem vollen Werthe zu würdigen, und
wir wage» den Lesern nur einige kurze Notizen über die Entstehung des Freimaurer»
ordens nach der Darstellung des Verfassers mitzutheilen. Um -171 (i trat die Freimaurerei
zuerst in London in die Welt. Sie entwickelte sich aus der Zunft der englischen Stein¬
metzen, in welche seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts viele wohlhabende bau-
lnstige Engländer anfge»omne» worden waren, welche zu den Zu»stgcbränche» der
alte» Londoner Gilden zugezogen und als Patrone, Großmeister n. s. w. ausgezeichnet
wurden. Diese gemischte Corporation führte seit etwa 1630 die unterscheidende Be¬
zeichnung Masonen. Bei der damals in England herrschenden Baulust bildete sie eine
große Körperschaft. „Als Wren den Ban der Paulskirche zu London 1708 vollendet
hatte, und somit den Werkleuten kein großartiger Centralpunkt mehr übrig blieb, wären
ihre Zunftgebräuehe, gleich denen anderer Zünfte, im Laufe der Zeiten verwischt worden,
wenn nicht der seitherige Zusatz zu den Masonen, nicht Handwerksgenossen aus
den verschiedensten Ständen der bürgerlichen Gesellschaft, die Verbrüderung als solche
aufrecht erhalten hätte. Die seit zwei Jahrhunderten obwaltenden NcligivnSstreitigkeiten
hatten endlich der Toleranz gegen religiöse Anschauungen weichen müssen; das Bedürfniß,
Orte der Ruhe zu besitze», in welchen Erörterungen über Politik nicht stattfinden dürsten,
waren die nächsten Anlässe und Gnmdlagc der gegenwärtigen Freimaurerei. In dank¬
barer Erinnerung an den Ursprung der Verbrüderung wurden die Werkzeuge mit
symbolischer Auffassung und allegorischer Da»tung den Nachkommen überliefert." Im
Jahre 4 728 wurde die erste Loge zu Frankreich gestiftet. Im Jahre I7i0 eröffnete
der König Friedrich II. von Preußen in eigener Person z» Charlottenburci, eine Loge
und stiftete die Loge zu de» drei Weltkugel»' i» Berlin. — Der vorliegende erste Band
des Wertes geht bis zum Jahre 1813.' ES ist charakteristisch für den'tscheu Fleiß, daß
ein deutscher Manier eine so detaillirte Geschichte der französischen Loge schreibt. Wen»
ähnlicher Fleiß Aeh»liebes unternimmt, so könne» wir es erleben, in einer kleinen
Bibliothek vo» 10 bis 12 achtnnggebietendcn Octavbänden eine Geschichte der gesammten
Maurerei zu erhalten.
Almanach für Freunde der Schauspielkunst v. A. Heinrich, 17. Jhrg.
Dies bekannte, »schliche Handbuch bringt wieder ein möglichst vollständiges
Verzeichniß sämmtlicher deutscher Bühnen, ihrer Vorstände und Mitglieder nach
eingesandten Mittheilungen. Das Durchblättern dieses Verzeichnisses ist interessant
genng, auch für solche, welche dem Theater leine übermäßige Theilnahme gönnen.
Welcher Reichthum an Buhnen, welche Menge von darstellenden Künstler», welch'
ungeheures Hilfspersonal für die Ausübung einer einzigen Kunst in unserm Vater-
lande. Von den großen Herrn, welche hier und da die Leitung der Hoftheater
haben, bis zum Lampenzünder »»d Zettelträger, welch' eine bunte, rührige »ut
schaffende Well ! Wahrhaftig, sie ist zahlreich genng, um daraus eine stattliche
Armee zu bilden, die Infanterie des Schauspiels, die Cavallerie der Oper, die
luftige» Truppen des Ballets und daneben das Geniecorps der Maschinisten und
die Orchester als Artillerie, das alles zusammen bildet einen ungeheuren Truppen-
körper im Dienste der Musen. Leider steht die künstlerische Tüchtigkeit dieser
Armee in keinem billigen Verhältniß zu ihrer numerischen Stärke.— Von Aachen
bis Zürich sind in dem Almanach 159 deutsche Bühnen aufgezählt, darunter
freilich viele, aber bei weitem nicht alle Wandertruppen. Bei diesen Theatern
wird ein Personal von beiläufig !ii00 Dirigenten, Künstler» »ut Soufflenreu
mit Namen aufgezählt; zu diesen muß mau uoch ein großes Heer vou uicht ge¬
nannte» Kuustgröße» bei wandernde» Truppen zurechnen, und dazu noch vielleicht
die dreifache Zahl von Orchcstermitgliederu, Choristen, Figuranten und Hilfs¬
arbeitern; so daß die Stärke des gesammten Corps auf -in—20,000 Mann an
geschlagen werde» kau». Die Bühne» selbst repräsentiren jede Höhe des Etats
»ut jede» Grad der Vortrefflichkeit, vo» der Wiener B»rg, deren Etat fast un¬
begrenzt scheint, bis zur kleinen wandernden Truppe, deren Mitglieder sich kümmer¬
lich vou Opscrduft und Weihrauch nähren. Die Bühueukünstler selbst repräseu
tireu jeden Grad der Bildung und jede Höhe der Gage, vou vielleicht 12000 Thlr.
jährlicher Einnahmen bis zu dem Zustand herab, wo die Einnahmen mit Noth¬
wendigkeit kleiner sind, als die Ausgaben.
An 160 organisirte Theater deutscher Sprache! Alle begierig nach neuen
Stücken, alle mit Entschlossenheit bereit aufzuführen, was ihnen brauchbar scheint!
Es muß ein schönes Gefühl für den deutschen Dichter sein, diese Welt in Be¬
wegung zu setzen. Und in der That, wenn die Birch oder Benedix mit einem
neuen Stück das gemacht haben, was mau einen guten Wurf nennt, so bewegen
sie die Lachmuskeln und Thränenqnellen des gesammten gebildeten Publicums,
welches Deutsch spricht, mit Hilfe eines collossalen Apparats. Zahlreiche In¬
tendanten und Direktoren schreibe» artige Briefe, dunkle Theatercopisten schlendern
beim Nolleuschreiben große Buchstaben mit unmäßiger Heftigkeit aus ihren ge¬
sträubten Federn, ernste Regisseure sitzen in tiefer Ueberlegung über die Berthei-
lung der Rollen nud das Arrangement der Scene», 160 erste Liebhaberinnen
rauschen durch ihre Zimmer und memoriren, 160 Souffleure malen mit Bleistift
geheimnißvolle Zeichen in die Manuscripte, 160 Theaterschneider nähe» neue
Schleppen und 160 Theaterseeretaire senden an den glücklichen Dichter kleine
Haufen von Goldstücken. —
Allerdings hat diese Bühnenherrlichkeit ihre Schattenseite, indeß soll diese
hier nicht beklagt werden. Die Uebelstände des deutsche» Theaters siud oft genug
besprochen, es sind im Grnnde dieselben Leide», welche wir in unserem politi¬
schen Leben zu ertragen haben. Dagegen sei die gegenwärtige Gelegenheit zu
einigen Bemerkungen über das geschäftliche Verhältniß des dramatischen Schrift¬
stellers zum deutscheu Theater benützt, sie möge» zugleich als bescheidene Rath¬
schläge für jüngere Schriftsteller, welche auf der Bühne noch nicht fest stehen,
betrachtet werden.
Die Vieltheiligkeit Deutschlands hat verhindert, daß bei uns, wie in Frank
reich und England, die Erfolge eines Theaterstücks an einer große» Bühne der
Hauptstadt maßgebend werden für die Erfolge ans den übrigen Theatern des
Landes. Ein deutsches Drama must das Glück haben, bei 8 bis 10 größere»
Theater» i» de» verschiede»e» Theile» Deutschlands große Erfolge zu erlange»,
bevor sei» Lauf über die übrige» gesichert betrachtet werde» kau». Während
das Renomee eines Theaterstücks, welches von der Wiener Burg ausgeht, so
ziemlich die übrigen Theater des Kaiserstaates bestimmt, hat schon das Berliner
Hoftheater einen viel kleineren Kreis, in dem es de» Ton angiebt; was in Dres¬
den gefällt, mißfällt vielleicht schon in Leipzig, und el» Erfolg in Hannover sichert
noch keinesweges eine» i» Braunschweig. Indeß so weit reicht doch der Zu¬
sammenhang der deutschen Bühne», daß der gute Erfolg eines Bnhnenwerkes ans
einem oder zwei gut reuomirten Theater» die übrigen darauf aufmerksam macht.
Ueberhaupt ist Mangel an Aufmerksamkeit ans das etwa Brauchbare im Allge-
meinen nicht der größte Vorwurf, welcher gegenwärtig den deutschen Theatern
zu machen ist. - Diese Unabhängigkeit der einzelnen Bühnen verursacht dem Schrift¬
steller einige Arbeit.
Das erste Bestreben desselben muß sein, zu erfahre», ob sein Drama für die Auf¬
führung geeignet, ob in seinem Inhalt nichts Bedenkliches, und ob die Ausführung
den Gesetzen der Darstellung gemäß, d. h. bühnengerecht sei. Zu diesem
Zweck thut er gut, die Verbindung mit einer respectablen Bühne zu suchen, nicht
nur, damit sie sein Stück aufführe, sondern zunächst, damit die leitenden Kräfte
derselben ihn ehrlich und im Detail ihr Urtheil über Brauchbarkeit und Werth
seiner Arbeit mittheilen. Für den Oestreicher wird das Burgtheater wohl immer
die erste und letzte Instanz bilden, und die Persönlichkeit seines Dirigenten ist
vorzüglich geeignet, ihn zum Rathgeber und Förderer jüngerer Talente zu machen.
Sonst freilich sind die größte» Bühnen nicht gerade am willigste», diese erste
stille Arbeit dem Verfasser z» Gefälle» z» thun. Ihre Vorstände sind entweder
als Geschäftsleute zu viel beschäftigt, oder als repräsentirendc Hofchargen zu
wenig geneigt in Einzelnheiten einzugehen, auch ist das Einstudiren »euer Stücke
bei ihnen nicht so häufig, als bei Bühnen, welche el» kleineres Publicum haben.
Wir genießen gegenwärtig das Glück, einige mittlere Bühnen zu besitzen, deren
Directoren intelligente und warme Freunde der Kunst sind, z. B. Karlsruhe,
Weimar u. s. w. Der Dichter sende das Manuscript seines Dramas an diese,
und bitte um ihr Urtheil. Sie werde» ihm im günstigste» Fall wahrscheinlich
manche Aeiidernngen, fast sicher hier und da Kürznngeu vorschlagen. Die Kür¬
zungen und etwaige Aenderungen in Scenerie, Arrangement möge er möglichst
widerstandslos und willig acceptiren, es ist zehn gegen eins zu wetten, daß die
erfahrenen Rathgeber ihm gegenüber Recht haben. Aenderungen im Inhalt
möge er reiflich überlegen. Dies erste Eindringen der Kritik in den behaglichen
Frieden eines DichtergemütheS, welches sich gerade der Vollendung eines Werkes
freut, ist für eine weiche Orgauisativ» vielleicht schmerzlich, aber es ist gesund
wie el» frischer Luftzug in lauer Sommerl»se. Der Dichter soll sein Werk hoch¬
achte» und liebe», so lange er es als Ideal in sich trägt »ut tara» arbeitet;
das fertige Werk muß auch für ihn abgethan sein, es muß ihm fremd werden,
und damit er sich davon befreie, höre er aufmerksam auf die Kritik der Urteils¬
fähigen und fordere die strengste.
Hat der Dichter die zweckmäßigen Aenderungen vorgenommen, so wird sein
Werk bei dem Theater, mit dem er sich vertrauensvoll in Verbindung gesetzt hat,
wahrscheinlich bald aufgeführt werde». Ist es ihm möglich, dieser Aufführung
beizuwohnen, so wird das ihm sehr nützlich sein, weniger deshalb, weil er selbst
die Uebelstände und Mängel seiner Arbeit erkennen wird, denn bei jungen Schrift¬
stellern kommt die Selbsterkenntnis? nicht so schnell, sondern weil auch dem
erfahrenen Leiter einer Bühne manche Schwächen und Längen der Stücke erst
durch die Aufführn»«, selbst deutlich werden.
Hat ein Theaterstück auf solche Weise die Lampcnprobe durchgemacht, so giebt
es zwei Wege, dasselbe an den Bühnen zu verbreiten. Der eine ist, das Stück
als Manuscript drucken zu lassen und an die einzelnen Theater zu versenden, der
andere, das Manuscript einem Theatergeschäftsburcan zum Vertrieb zu übergeben.
Solcher Geschäftsbureanx giebt es mehrere, eine ausgebreitete Praxis haben z. B.
Sturm und Koppe in Leipzig, A. Heinrich in Berlin, F. Holting in Wien,
H. Michelson in Berlin. Diese Kommissionäre, welche in der Regel ein eigenes Blatt
redigiren, durch welches sie ihre Interessen vertreten, besorgen auch den Druck der
Manuscripte aus Kosten des Verfassers, versenden dieselben, ziehen die Honorare
el» u. s. w. und berechnen sich dafür etwa 10—10 Proc. der Einnahmen. Einem
jungen Schriftsteller muß vor Allem wünschenswerth sein, mit deu Theatern selbst, ihren
Vorständen, ausgezeichneten Mitgliedern u. s. w. in directe Beziehungen zu treten.
Er lernt dadurch das Thcaterleben, seine Forderungen und Bedürfnisse am Besten
kennen. Deshalb schlägt er am Besten einen Mittelweg ein. Er läßt sein Stück
selbst drucken, — in 130—200 Exemplaren, falls es auch für kleinere Bühnen
geeignet ist, in einer geringer» Auflage, wenn es höhere Ansprüche an die Kunst¬
bildung der Darsteller macht; er wählt uicht zu kleine Lettern, damit die Augen
der Souffleure nicht über ihn weinen — und besorgt die Versendung an etwa
20 größere Bühnen selbst, für jedes dieser Institute in je 2 Exemplaren.
Außerdem ist es vorteilhaft, daß er bedeutenden Darstellern der betreffenden
Theater eigene Exemplare sendet. Er bedarf der warmen Hingebung und des
liebevollen Antheils der Schauspieler, es ist freundlich, daß anch er ihnen das
Studium ihrer Rollen erleichtert. Aber die durch solche Sendungen eingeleitete
Verbindung mit achtungswerthen Talenten der Bühne wird dem Schriftsteller
nicht nur nützlich sein, sie kann ihm auch interessante Meuscheu, warme Bewunderer
des Schönen, vielleicht fördernde und treue Freunde gewinnen. Dem deutschen
Dramatiker thut der frische, anregende Umgang mit gebildeten Darstellern mehr
Noth, als irgend etwas Anderes, denn am leichtesten erwirbt er durch ihn, was
ihm in der Regel fehlt, genane Kenntniß des Wirksamen ans der Bühne. Schon
Lessing hat das erfahren. Der Dichter entbehrt viel, der solchen Umgang
missen muß.
Bei der Versendung hat der Schriftsteller natürlich auch den zarten Punkt
der Honorare vor Augen. Bei den meisten Hvftheatern ist uicht gerade nöthig,
daß er eine Forderung stellt. Wien, Berlin und München zahlen Tantieme; für
Stücke, welche den ganzen Abend füllen, 10 pro C. der Bruttoeinnahme jeder
Vorstellung, für kleinere uach Verhältniß. Diese Tantieme wird auf Lebenszeit,
unter Umständen auch nach dem Tode des Dichters gezahlt, ihr Ertrag ist bei
den beiden ersten Theatern Deutschlands sehr bedeutend, denn wenn ein Stück
gut gefällt, und deshalb häufig wiederholt wird, beträgt sie von Wien und
Berlin wohl mehr als das, was alle übrige» Theater zusammen zahlen. Die
übrigen Hoftheater und größeren Stadttheater haben meist feste Sätze, welche
hier aufzuzählen doch gar zu indiscret wäre, der Dichter muß sie von einem
erfahrenen Kollegen zu erhalten suchen, sie werdeu häufig in Gold gezahlt und
betragen jede Summe zwischen etwa 1ö bis etwa 3 Friedrichsd'or. Die kleinen
festen Stadttheater zahlen in der Regel noch weniger und die halbsesteu Wander¬
truppen am liebsten gar nichts.
Wenn der junge Dramatiker gut thut, sein Stück an etwa 13 bis 20 grö¬
ßere oder gut renvmirte Theater selbst zu versenden, so ist doch vortheilhaft,
daß er die große Masse der kleinen Theater einem Geschästöbureau, welches weite
Verbindungen hat, übergiebt. Mit diesem macht er einen Contract, durch den
er sich den Verkehr mit jenen bestimmten größeren Bühnen vorbehält u. s. w.
Dagegen übergiebt er dem Commissionair eine bestimmte Anzahl Exemplare und
stipulirt bestimmte Termine der Abrechnung. Hat er dies Alles gethan, so wird
er bei günstigem Erfolge seines Stückes bald durch eine ziemlich umfangreiche
Correspondenz in die Geheimnisse des Theaterlcbens eingeweiht werden. Es
wird vortheilhaft sein, wenn er geschäftsmäßig Buch führt über seine Korrespon¬
denz und seine Theaterrevennen. Ueber letztere mache er sich keine Illusionen.
Es ist in Deutschland möglich, von einzelnen Stücken, welche ausgezeichneten Er¬
folg haben, eine Einnahme zu erhalte», welche über das zweite Tausend hinaus¬
geht, das aber sind sehr seltene Fälle. Wer in seinen Stücken große Ansprüche
an die Kunst der Darsteller macht, der wird nur bescheidene Ansprüche an die
Geldmassen der Erde machen dürfen.
Und zuletzt, wenn der junge Bühnendichter in solcher Art das Kind seiner
Träume in die Welt geschickt hat, wird er hinreichend Gelegenheit haben, noch
etwas Anderes an sich herauszubilden als Bühnenkenntuiß. Es wird seine Pflicht
sein,' glänzende Erfolge zu ertragen, ohne übermüthig und eingebildet zu werden,
und melancholische Niederlagen, ohne den Muth zu verlieren. Er wird viele Ge¬
legenheit haben, sein Selbstgefühl zu prüfen und zu bilden, und wird auch in dem
luftigen Reich der Bühne, gegenüber den Darstellern, den Tagesschriftstellern und
dem Publicum noch etwas aus sich macheu können, was nach der Meinung eini¬
ger alter Souffleure mehr werth ist, als ein gewandter und geistreicher Büh¬
nenschriftsteller, einen festen Mann, der das Edle nicht nur in seinen Träumen
empfindet, sondern anch dnrch sein eigenes Leben darzustellen redlich und unab-
läßig bemüht sein soll.
In diesen Tage» war das Modell zu dem Denkmal für Goethe und Schiller
von Prof. Rietschel in Dresden hier ausgestellt, zugleich das frühere, von Prof. Rauch in
Berlin gefertigte. In beiden stehen die zwei Figuren neben einander, Goethe links
dem Beschauer gegenüber, Schiller rechts; in beiden Gruppen sieht man nur
eine» Kranz; bei Rietschel ist Goethe im Hvffrack mit Stern und in kurzen
Beinkleidern, Schiller im offnen etwas zurückgeschlagenen Ueberrock, ebenfalls
in kurze» Beinkleidern; Rauch hat beide mit antiker Tunica und Toga, die Füße
nur mit Sandalen bekleidet; bei ihm hat Goethe die rechte Hand auf Schiller's
rechten etwas vorgestreckte» Vorderarm gelegt, in der linken, auf Schiller's rechte
Schulter gelegte» Hand hält er einen Kranz, wovon mau nur wenig oder gar
nichts sehen würde, wenn mau sich »icht sehr fer» vou der Gruppe stellt. Bei
Rietschel hält Goethe den Kranz i» der rechten etwas vorgestreckte» Hand, und
Schiller faßt gleichfalls in denselben. Dabei legt Ersterer vertraulich die linke
Hand auf Schiller'S rechte Schulter. Beide sehe» gerade aus, Schiller mehr nach
oben mit etwas zurückgelegtem Kopf; bei Rauch ist Schiller um Weniges nach Goethe
zugewendet, ebenfalls aber deu Blick nach oben gerichtet; durch Bewegung der
Arme und durch die ganze Haltung macht er den Eindruck der Darstellung einer
dramatischen Rolle. Bei Rietschel hält Schiller eine Rolle in der herabhängen¬
den Linke», welche Rauch in dessen vorgestreckte Rechte gegeben hat.
Die Ausstellung beider Modelle neben einander forderte von selbst zum Ver¬
gleich ans, und es kamen deshalb anch alle die verschiedenen Meinungen über
Gedanke und Anordnung, besonders aber über Costume, Kranz n. s. w., die
schon im Allgemeinen vielfach verhandelt waren, von Neuem zur Sprache.
Oefter geschieht es nnn wol in dergleichen Fällen, daß man sich aus all¬
gemeinen Gründen über einen Grundsatz einigt, in der Anwendung desselben im
bestimmten Fall aber wieder auseinander geht; hier fand bis zu einem gewissen
Grad das Gegentheil statt: Vor Dazwischenkunft des Rietschel'sehen Modelles
waren die Stimme» für und wider das antike und moderne Costume ziemlich
gleich; beim Nebeneinander beider Modelle entschied sich bei weitem die Mehrzahl
für die moderne Bekleidung.
Wenn man nun auch annehmen muß, daß mancherlei zu dieser Begünstigung
beiträgt, daß namentlich noch viele Leute hier leben, die Schiller, weit mehr
aber noch die Goethe persönlich gekannt haben, und die sich gar uicht hineinfinden
können, diese ernsten Männer in einer so wunderbar reichen Drappinmg zu sehen,
die ihnen wie el» A»z»g aus einer Oper vorkommt, was sie mit der allgemeinen
Verehrung dieser Männer gar nicht zusammen bringen können; wenn man auch
ferner zugeben muß, daß zu der Begünstigung des Rietschel'sehen Modelles aller-
dings viel beiträgt, daß es in etwas größerem Maßstabes und mehr ausgeführt
ist, als das Rauch'sche, so muß man doch auch zugestehen, daß der Sinn unsrer
Zeit sich dem uns im Leben Fremden immer mehr abwendet und der Beachtuug
und Würdigung der Gegenwart in Dingen, die das Volksleben berühren, mehr
zukehrt.
Sieht mau aber von allen individuellen Ansichten und speciellen Gründen
ab und fragt nnr nach der größern oder geringern Berechtigung dieser beiden
verschiedenen Bekleidnngsarten für die Plastik, so scheint mir folgendes
der einfache natürliche Hergang: — Das eigentliche Gebiet der Plastik und
ihre höchste und schönste Aufgabe ist die menschliche Gestalt, wie sie aus der
Hand der Natur hervorgegangen ist, und die Griechen bildeten auch, ohne Ge¬
fahr für Sittlichkeit, die meisten ihrer Götter und Heroen in diesem Costume,
wenn nicht der Mythus etwas anderes forderte. Sobald man aber den Körper
ganz oder theilweis verhüllte, wenn mau bestimmte Personen bekleidet vorstellte,
so thaten das alle alten Völker in ihrem Costume und die Deutschen thaten dasselbe
bis zum Verfall der neuer« Kunst. Als sich diese zu Ende des vorigen Jahr¬
hunderts nach langem Traume vou Neuem wieder zu regen begann, waren es
Winckelmann und seine Anhänger, welche ans die große Schönheit der alten
Kunst aufmerksam machten, waren es Carstens, Thorvaldsen, Canova n. A.
welche die Schönheit der antiken Ueberreste erkannte«, sie als Muster nahmen
und größteutheils antike Gegenstände darstellten. Aber anch für Darstellungen
aus neuerer Zeit, für Portraitstatueu verwendete man das antike Costume, und
wenn man auch nach und nach davon abging, so glaubte man doch zum mindesten
einen Mantel nicht entbehren zu können, theils um der Dravpirung willen, theils
aber um die moderne Kleidung so viel als möglich zu verstecke». Es wird die
Zeit nicht lange ausbleiben, wo man das Unangenehme dieser Mautelstatne»
fühlen wird.
Die antike Bekleidung mit Toga und Tunica, wie sie die Magistratspersoneu
bei den Römern trugen, läßt nnr Kops, Hände, gewöhnlich einen Arm und die
Unterbeine mehr oder weniger sehen, also die Theile, welche die vorzüglichsten
Mittel sind zum Ausdruck des Individuellen einer Person; der übrige Theil des
Körpers ist wenig sichtbar in seineu einzelnen Theilen, bildet eine größere Masse.
Die engere moderne Kleidung gestattet, die freie Haltung, Bewegung, Propor¬
tion der einzelnen Theile der ganzen Gestalt sehen zu lasse», und kauu deshalb
die ganze individuelle Erscheinung einer Person vollständiger geben. Und In
dividnalitäten will und soll der Künstler doch darstellen, mag er nun die Mittel
dazu aus dem Leben oder ans vorhandenen Portraits oder aus seiner Phantasie
durch Studium der Werke und Thaten eines zu Statnirenden nehmen.
Aber, sagt man, die moderne Kleidung ist nicht so edel, würdig, geschmack¬
voll u. s. w. u. s. w. Wenn sie schlecht behandelt wird, allerdings. Aber eine
Parthie Tuch in noch so schönen Falten um die Figur gelegt, kann ich darum
noch nicht ohne Weiteres für absolut schön finden, nun gar, wenn mau es
ebenfalls als schlecht gemacht annimmt. Läßt man aber das Alles bei Seite, so
finde ich das antike Costume in gegenwärtigem Falle weder charakteristisch, noch
am Platz, ja ich finde es im höchsten Grade unpassend; es kommt mir nicht viel
anders vor, als die französische Sprache im Munde eines Deutschen, der recht
kernige deutsche Gemüthlichkeiten aussprechen will. Ich kann Goethe und Schiller
in antikem Costume uur als etwas Fremdartiges betrachten, was die befriedigen
mag, welche dem Leben vor ihre» Augen das Gute, das Schöne nicht abzuge¬
winnen vermögen.
In den modernen Röcken haben sie gesteckt und sich der Welt gezeigt, d er Welt, auf
die sie wirken wollten und gewirkt haben, und welche in gleichen Röcken steckte.
Warum wollen wir das unsren Nachkommen verhehlen, warum wollen wir diese
Kleider, n»fre Eigenthümlichkeiten selbst verachten. Die Meinung aber, daß
dieser moderne Rock für die Plastik nicht brauchbar, nicht schön sei, hat Prof.
Rietschel, wenn es nicht schon geschehen war, durch sei» Lcssingdenkmal widerlegt,
und auch die Goethe- und Schillergruppe wird nicht Anlaß zu einem Rückfall
geben, vielmehr den lebten Nest des BeHängens der modernen Statuen mit
Mänteln überwinden helfen.
Wenn man sich aber auch in Weimar in der großen Mehrzahl sür die
moderne Kleidung entschied, so war Vielen doch der Hofsrack an Goethe nicht
recht. Nicht dem Minister, sondern dem Dichter gilt das Standbild! — Ob
es ein Hoffrack oder el» gewöhnlicher Frack sei, ist wol nicht die Hauptsache, ge¬
wiß ist es die Form, der Schnitt, was den Künstler bei der Wahl bestimmte.
Daß er überhaupt eiuer der beiden Figuren einen Frack anzog, dazu nöthigte
ihn das Bedürfniß, eine Abwechselung in die Gruppe zu bringen und derselben
etwas an Schwerfälligkeit zu nehmen. Wenn aber darum ein Frack zugestanden
werden muß, so möchte es wol Niemand einfallen, die Röcke wechseln zu lasse»,
da der Frack an Schiller noch ungewohnter erscheinen würde. Sieht man aber,
des Sternes wegen, durchaus einen Hoffrack, so frage ich! Ist es denn ein so capitales
Verbrechen, wenn der Künstler damit aussprechen wollte, daß Goethe nach Ver¬
dienst, und bevor die Welt es that, von seinem Fürsten seinem Verdienst nach
erkannt und auch äußerlich ausgezeichnet worden sei? Am allerwenigsten sollten
die Weimaraner sich darüber auslassen, vielmehr von den großen Verdiensten,
die Goethe als Staatsdieurr sich erworben hat, einige Kenntniß zu erlangen
suchen.,
Fast noch wehr als über das i^ferne waren aber die Meinungen über die
Kränze verschieden. Soll jede der beiden Figuren einen Kranz erhalten; oder
soll für beide nur ein Kreuz gelten; oder soll der Kranz ganz und gar
wegbleiben?
Jeder muß einen Kranz erhalten! meinte der Eine. Wohin? Ans den
Kopf! — Es ließe sich dem Gedanken mich wol nichts dagegen sagen, da man
nun einmal den Lorbeerkranz als ein Attribut der Dichter anzusehen gewohnt ist,
und da der Eifersucht der Parteien für Goethe und Schiller dadurch zugleich
einige Nahrung entzogen würde; wenn es nur nicht wieder zwei monotone Kopf¬
zierden wären, und wenn ein Kranz in der Plastik nicht gar zu schwer erschiene.--
Nun da braucht man die Kränze nicht ans den Kopf zu setzen, man giebt sie
ihnen in die Hände. Das ist wahr. Aber schwierig ist dann zu bestimmen,
was jeder mit dem Kranze vornehmen soll. Sollen sie Bedeutung haben, so
müßte der Antheil der Dargestellten und dann die besondere Aufmerksamkeit des
Künstlers darauf gewendet sein, was letzterem viel zu schaffe» machen würde.
Ja, wenn sich das Alles so handhaben ließe, wie hübsche, sogenannte geistreiche
Redensarten, so konnte einer dem andern, den Kranz aufsetzen, oder sie könnten
sie dem Publicum als ihre gleiche Errungenschaft freudig entgegenhalten n. s. w.,
wie dergleichen behaglich geäußert wurde. Der Künstler hat aber andere For¬
derungen zu erfüllen, die das Erz, die Plastik an ihn stellt.
Nun so nehme man für beide nur einen Kranz! Das ist denn auch in
den beiden Modellen geschehen, dem Rauch'schen sowol als dem Rietschel'schen,
in beiden jedoch aus verschiedene Weise. Bei Rauch hält Goethe den Kranz in
der Linken hinter Schiller's rechte Schulter, während er die Rechte vertraulich
auf Schiller's vorgestreckten Vorderarm legt. Schiller ist etwas weniger nach
Goethe zugewendet. Bei dem Rietschel'sehen Modell greife» Beide mit den vor¬
gestreckten rechten Händen in den Kranz, während Goethe die linke Hand auf
Schiller'S rechte Schulter legt. Beide sehen gerade ans, Schiller mehr nach oben;
in beiden Gruppe» giebt der eine vorgesetzte Fuß von jeder Figur, so wie die
ganze Haltung das Gefühl des Vorschreitens nach einer Richtung, nach einem Ziel,
In der Hauptsache scheint mir die Rauch'sche Gruppe hier besser, weil durch
das Auflegen der rechten Hand Goethe's auf Schiller's Arm, dnrch die kleine
Wendung Schiller's nach Goethe zu, der Gedanke an das innige Freundschafts-
verhältniß zwischen Beiden hervorgehoben ist, und wol mit Recht. Warum er.
richtet man denn Beiden ein gemeinschaftliches Denkmal, wenn man nicht ein
Gewicht legt auf dieses innig zarte Verhältniß zweier so bedentender Menschen
im gemeinsamen, neidlosen Streben nach demselben Ziel, wodurch ihre Wirksam¬
keit gegenseitig so mächtig gesteigert wurde? Die Gruppe ist dadurch innerlich ab
geschlossener. Der Kranz mußte diese» Ausdruck theilweis stören, weshalb ihn
Rauch weislich fast versteckt hat, ih» als el» bloßes Attribut in der Hand Goethe's
hängen, nicht halten läßt.
Diesen Kranz hat um Rietschel als Hauptverbindnngsmittel beider Figuren
behandelt, das ganze Gewicht dahin gelegt. Gegen den Gedanken an das
genieinsame Ringen nach demselben Kranz, an gleiche Berechtigung dazu, welcher
dem Künstler vorgeschwebt haben mag, läßt sich wol Nichts sage»; aber der
Gedanke des Freu»dschaftsverhält»ifses, welcher durch das vertrauliche Haud-
auflegeu Goethe's zugleich ausgesprochen wird, erscheint in der Ausführung zu
absichtlich, wie ein äußerer Kuustbehelf zur Verbindung beider Figuren; dieses
und das gemeinsame Anfassen des Kranzes geben das Gefühl, als geschähe daS
Alles, um gleichen Schritt zu halten, es erscheint das Anmuthige ans der Gruppe
dadurch verdrängt.
Wenn aber der Kranz so sehr genirt. mußte es deun ein Kranz sein? macht
er denn die Dargestellten kenntlicher? ist denn das Denkmal selbst nicht der eigent-
liche Kranz, den ihnen Deutschland beut? Mir scheint es, als würde die Sache
dadurch für den Künstler einfacher, er bekäme Freiheit, seine Kraft auf die innere
Beziehung des Kunstwerkes zu wenden. Hinweg also mit dem Kranz!
Läßt man zuletzt das Alles einen Augenblick ruhen und fragt nach der Auf'
fassung und Darstellung der einzelnen Figuren, so wird Jedermann gern zu^
gestehen, daß in dem Rietschel'schen Modell jede derselben eine gut aufgefaßte
und fein durchgebildete Individualität ist: Schiller, eine lebendig bewegte, etwas
zartere schlanke Figur mit etwas zurückgelegtem Kopf nach oben blickend, wodurch
wohl die mehr ideale Richtung desselben angedeutet werden soll, die Bekleidung
so leicht und frei, als sie es überhaupt gestattet; Goethe eine zusammengefaßtere
kräftige, auf sich ruhende Gestalt mit ruhigem, festem Blick, gerade vor sich in
die Gegenwart, in das Leben schauend, seine Kleidung enger anschließend.
Bei Rauch findet man denselben Unterschied der Individualitäten mit flüch¬
tigen geistreichen Zügen nud in Bewegung angedeutet, uur daß die gleiche, zu
sehr einhüllende Bekleidung denselben theilweis wieder vermischt.
Ihre Leser werde» wissen, wie die Gruppe ausgeführt werde» soll. König
Ludwig v. Bayern schenkt die Bronze; unser Hof das Modell; die Kosten der
Ausführung, Piedestal, u. s. w. werden durch das Comite« ans Beiträgen des
dentschen Publicums beschafft. Zu lejzerem Zweck fehlen noch einige Tausend
Thaler, doch steht zu hoffe», daß diese zusammen kommen werde».
Die Wahl des Rietschel'schen Modelles zur Ausführung ist durch König
Ludwig veranlaßt. Der kunstliebende Fürst erklärte, uur zu einer Gruppe in
modernem Costume beisteuern zu wolle». Ich würde die Grundsäjze meines gguze»
Lebens Lügen strafe», wenn ich anders handelte, sprach der König; ich habe
stets für meine Aufgabe gehalten, deutsche Art und deutsches Wesen im Lebe»
und Kunst z» vertreten."
— König Karneval regiert diesmal
nicht lang. Zienilich ans alle» größere» Städten Nagt man über die Flausen des
gesellschaftlichen Lebens, Paris ausgenommen, »ut Frankfurt steht darin nicht nach.
Wir sind Kaufleute und wissen warum. Doch ernsthaft gesprochen, jener Begriff
des Karnavals, wie ihn N'orddeulschland gewöhnlich am Rhein und in Süddentsch-
land denkt, gehört schon lang zu den überwundenen Standpunkten der Naivetät. Es
geht damit, wie mit der vielgerühmten Gemüthlichkeit, welche gewisse Blätter
noch immer als süddeutschen Erbpacht beanspruchen, während sich darüber unter
den Unbefangenen, welche in Süd-, wie in Norddeutschland gleichermaßen ver-
kehren, auch einigermaßen andere Erfahrungen als die traditionellen festgestellt
haben. Frankfurt hat sie niemals recht gekannt —nämlich die eigentliche Faschings¬
feier. Es war überhaupt von jeher arm an selbstständigen Volksfesten. Der
Kaiserpvmp hatte sie als Gnade gegeben, ehe die Stadt groß genng dazu wurde,
sie selbstständig zu entwickeln; nachher war's schon eine aristokratische Republik,
welche nicht mehr sür die ciroki>so8 des Volkes, desto eifriger dagegen für
?arten sorgte. Noch heute mag's auch schwerlich eine Stadt im heil. ron. Reiche
deutscher Nation geben — etwa München ausgenommen wo Zünfte und In¬
nungen so ausgiebig geschützt sind, wie hier. Das hat, da der Staat klein blieb
und die Stadt zum Sammelpunkt so weiter Umgebungen wurde, in der That
ein sehr wohlhabendes Gcwcrbs-Bürgerthum geschaffen. Da »um nach seiner
Weise die andern Erwerbsarten sich ebenfalls zünftig zusammen thaten, giebts in
der That kein Proletariat. — -
Gewöhnlich glaubt man, dieses wohne in Sachsenhauser. Auch darin bewahrt
man eine Tradition jener Zeit, wo die „gemoinc Lent" und die „Borger" am
Zopf zu unterscheiden waren. Die olympische Formlosigkeit des Stammes der
Sachsenhauser mochte das Ihrige ebenfalls dazu beitragen. Allein dahinter ver.
birgt sich ein sehr solider und wohlgeschätzter Erwerb, der eben so zünstisch, ja
beinah samilienhast festsitzt, wie der der eigentlichen Handwerker. Nur fünf
Sippschaften haben z. B. den höchst gewinnreichen Mainfischfang nebst den
Ueberfahrten über den Fluß. Eine andere Reihe von Familien betreibt das Mo¬
nopol des Einzlergeschäfts in Frankfurt, wieder eine andre die Handelsgärtnerei;
selbst die weltberühmten Holzhacker stehen in innungöartigem Gesammtverband.
Da drängt sich 'sehr schwer ein Fremder ein, und er käme auch nicht fort.
Er müßte denn äußerst mäßig leben, was nnr zu den untergeordneten Bestrebungen
des echten Sachsenhäusers gehört. Trotzdem kommt derselbe selten so weit zurück,
um z. B. als Eckensteher ans zufälligen Gewinn zu warten oder als Svnnen-
bruder ein prekäres Leben hinzubringen. Außer den Messen, wozu derartige
Leute zureisen, sucht man umsonst auf den Straßen nach solchen Gestalten. Das
hiesige Proletariat wohnt höher, trägt einen schwarzen Rock und eine verschämt
zugeknöpfte Weste, ist selten Fraukfurterischen Blutes und wird nicht bemerkt oder
fortgeschickt, wenn es sich unbequem macht. Dagegen hat der Frankfurter Arme,
wenn er gar nicht in eine kleine Stelle untergebracht werden kann, mit großer
Sicherheit auf reichliche Unterstützung zu rechnen. Wohlthätigkeit gehört zu den
liebenswürdigsten der reichsstädtischen Charaktereigenschaften, und die Verpfle¬
gung derer, welche in Armuth noch vom Siechthum heimgesucht werden, ist durch
Stiftungen und Anstalten von jeher in wahrhaft großartiger Weise gesichert,
während die Rechnungen des Armenpflcgeraths alljährlich von Neuem beweisen,
daß der heutige Frankfurter im Sinne für die Noth der verschämten Armen seinen
Voreltern nicht nachsteht.
Den entschieden Gesinnnngstüchtigen des Jahres 1848 war und ist jedoch
der Bürgerverein politisch viel zu tolerant, in seinen Ordnungsformcn vielleicht
zu „aristokratisch". Sie gründeten den „neuen Bürgerverein" mit ö Fi. Jahres¬
beitrag, in dessen mit dem Verwelken der demokratischen Journalblüthen sehr ent¬
blätterten Lesezimmer die Tabakswolke frei umherkreist. Seinen Ableger fand er
im „Bürgerverein zu Sachsenhauser".
Von allen diesen Vereinen veranstaltet nnr das Casino allwinters einige
Bälle, welche unter den öffentlichen sogar die einzigen sind, denen auch die diplo¬
matische und finanzielle Kautv volve ihre Gegenwart nicht entzieht. Doch sind
diese Elemente weder vorherrschend, noch die Bälle selbst schwer zugänglich. Der
Grundstock einer Gesellschaft aber, welche sich nicht blos zu den Ballabenden ver¬
sammelt, giebt ihnen einen angenehmen Halt, um welchen sich die übrigen Ball¬
gäste in wohlthuender Ungezwungenheit bewegen. Ungefähr dieselben Verhältnisse
herrschen auch auf den Bällen, welche die Verwandten und Bekannten der Logen
Sokrates und Carl bisweilen vereinigen; und hier, wie auf deu Bällen der Ball¬
gesellschaft Harmonie schlüpft schon mitunter el» weißseidenes Handschuhpaar
zwischen den gards xlacvs bivn ^kmtkL umher. Mit dem Wolsseck endlich he-
mme n die Gasthausbälle, zu denen Zeitungsannoncen einladen. Ein Paar
Maskenbälle des Theaters sind eben Theatermaskenbälle; Homburg aber bietet
außerdem alle möglichen Arten Bälle in seinem Marmorsaale, bei denen ports-
liwimmv und voswme stets co rixeur verlangt werden — sonst nichts.
Neben diesen, dem Tanz und conversativnellcr Unterhaltung gewidmeten Ge¬
sellschaften, vereinen sich natürlich eine Menge anderer zu Gesang, Musik und
Theater. Oftmals, um dadurch wohlthätigen Zwecken zu genügen. Unter ihnen
stehen obenan der Cäcilienverein und das Museum. Ersterer widmet sich fast
ausschließlich der sogenannten classischen Musik, während die trefflichen Museums-
cvncerte auch die Vorführung neuerer und neuester Meister nicht verschmähen.
Die theils populair wissenschaftlichen, theils* belletristischen Vorlesungen sind da-
gegen in den letzten Jahren beinahe gänzlich eingeschlafen, wie denn überhaupt
dem literarischen Interesse ein socialer Mittel- und Sammelpunkt gänzlich fehlt.
Ungehört verhallen die oft erneuter Anregungen dazu; und wie die Dinge hier
bestellt sind, ist auch noch sehr darau zu zweifeln , daß mit der Verwirklichung
ein gedeihliches Verhältniß herzustellen wäre. Es leben hier zu wenig selbst¬
ständige Schriftsteller, der Journalismus auf der einen, literarischer Dilettantismus
ans der andern Seite ist zu vorherrschend. Und ob die Männer der Kunst aus
ihrem abgeschlossenen Reiche heranzuziehen wäre», ist sehr fraglich. Ueberdies
sind die heutigen Welt- und Preßverhältnisse wahrlich nicht danach angethan, um
die Vertreter der Literatur und Kunst für gesellige Vereinigungen aufzuheitern.
IrimsLall
Doch wir sprechen von Lichtern in den Nachtseiten des Lebens, da wir vom
Lichterglanz und Tvngewirr des Faschings erzählen wollten. Ein Straßenmasken-
leben gab und giebt es freilich nicht. Bei so eingefriedeten Erwcrbsverhältnissen
konnte auch der Drang nach wahrhaft offe»elichen Festlichkeiten niemals groß sein.
Schon in den alltäglichen Freistunden liebt der Frankfurter das blanke Gasthaus¬
leben keineswegs in gleicher Weise, wie der Baier, Oesterreicher oder Würten-
berger. Es ist schon nicht im gleichen Maße stereotyp, daß die Männer der
Mittelklasse ihre Abende im Wein- oder Bierhaus zubringen, wenn auch nicht so
selten, als früher in Norddeutschland. Jedenfalls aber suchen sie sich dort wieder
in sogenannte „College" absondernd zusammen zu thun. Ihre Zahl war ehedem
Legion und zerfällt noch hente sehr streng in die der christlichen und jüdischen
College. Außerdem bilden vorzüglich einige geschlossene Maurergesellschaften die
halböffentlichen Sammelpunkte und gleichzeitig die Uebergänge zu den Privat¬
gesellschaften. Unter ihnen ist das Casino im eigenen Hanse am Roßplatz der
älteste und insofern charakteristischste Verein der Reichshandelsstadt, als dem Kauf¬
manne vor Allem der Nachweis eines ziemlich großen Jahreseinkommens die Be¬
werbung um die Mitgliedschaft gestattet; Gelehrte und Künstler brauchen diesen
Nachweis nicht, sondern nur den Jahresbeitrag von 33 Fi. zu zahlen. Vorzugs¬
weise einigen Mitgliedern der Diplomatie zu Liebe sonderte sich daraus vor einigen
Jahren eine Gesellschaft ab, deren Jahresbeitrag in 100 Fi. besteht, und welche
den Namen des „Fürstencollegs" annahm, nachdem zwei oder drei der benach¬
barten souveraine als Mitglieder eingetreten waren. Diesen aristokratisch-finan¬
ziellen Vereinigungen gegenüber entstand erst I8i8 eine Gesellschaft des großen
Mittelstandes, der (alte) „Bürgerverein", welcher jetzt bereits an 1600 Mitglieder
zählt. Seine eben so bequeme, geräumige als prachtvolle Einrichtung im käuflich
erworbenen ehemaligen Rcichsverweserpalaste bildete jüngsthin einen stehenden Ar¬
tikel so ziemlich aller Zeitungen, kann also einer erneueten Schilderung füglich
entbehren. Der Bürgerverein umfaßt alle Klassen der Frankfurter Gesellschaft,
vom millionenreichcn Borsenfürsten bis zu dem Handwerker, welcher 10 Fi. Jahres-
beitrag für die größten gesellschaftliche» Annehmlichkeiten nicht zu theuer findet.
Ohne Unterschied des politische», religiöse» »ut finanzielle» Bekenntnisses sind
Großjährigkeit und Ehrenhaftigkeit die einzigen Vorbedingungen des Eintritts, wel¬
chen erst neuerdings eine Ballotage controlirt. Daß dieselbe zufällig einmal gegen
eine Persönlichkeit entschied, welche allerdings die Großjährigkeit bis zum Pensions-
alter überschritten hat, mag vielleicht die Veranlassung zu einem empörend calnm-
uiatorischeu Artikel über diese Gesellschaft im ultramontane» „Mainzer Journal"
gegeben haben, dessen Vaterstadt mit ihrer ttluxiliuim; ^mxllrlcm!^', freilich keines¬
wegs ohne Einfluß auf die ehrenhaften Beweggründe der Abstimmung geblieben
war, welche dem Aspiranten die Aufnahme versagte.
Die Weltverhältnisse, wie sie in unser Frankfurter Leben hereinrage», Habens
denn auch gemacht, daß der Fasching gesellschaftlich so flau verfloß. Zu den alten
Gegensätzen sind immer neue getreten, haben sich ausgeglichene wieder erhoben,
und Jeder fühlt die tausend feinen Fesseln, welche nicht klirrend, aber zerrend
und umspinnend, ein freies Ausschreibe» für die eigene Partei, Idee, Sache eben
so »»möglich machen, wie einen offnen Kampf gegen die Feinde. Es ist wahr-
haft schmerzlich, wie seit den Iesnitenmissione» und dem Erstehen eines katholischen
Kirchenblattes nnter Herrn Beda Weber's Leitung, namentlich der confessionelle
Friede oder die confessionelle Neutralität getrübt ist. Die Stadt hatte sich den
Iesuitcumissioueu gegeuüber musterhaft, wenn auch natürlich kritisch verhalten.
Wir haben aber im Ganze» »»r etwa 7000 Katholiken gegen mehr als ii,000
Protestanten. Bloß den zelotischer Ausschreitungen der Herren Jesuiten, welche
gegen das Ende ihres missionarischen Wirkens hervortraten, antwortete evange¬
lische Wissenschaft und Ueberzeugung der Stadtgeistlichen. Schon hatte sich die
diesfällsige Aufregung gelegt, als Herr B. Weber von der Aufforderung zu Gaben
für den Bau einer besondern katholische» Kirche in Bockenheim (die Katholiken
haben in Frankfurt ehe» so viel Kirche», nämliche, wie die Protestanten, und
darunter den Dom) in seinein Kirchenblatte zu allerlei Angriffen gegen die evan¬
gelische Kirche und endlich zu einer gehässigen Denunziation gegen dieselben un-
glückliche» Madiai'sche» Eheleute vorschritt, sür welche das ganze protestantische Eu¬
ropa seine Stimme erhebt. Null wogt, a» diese Thatsachen gebunden, der con-
fessionelle Sturm von Neuem, und die confessionellen Gegensätze treten aber¬
mals schroffer in das Leben"). Sie sind von den politischen untrennbar, wie
diese von den handelspolitischen. Die osterr. Demonstration dnrch Ernennung
des Hrn. v. Prokesch-Osten, die bedenkliche Wendung der österreichisch-preuß.
Zollverhandlungen, die berufenen Prvgrammartikel der N. Münchener Ztg. —
Alles deutet darauf hin, daß wir in Gefahr stehen, wieder in die tiefsten Wirbel
jener Unsicherheit und Verwirrung zurückgestoßen zu werde», deren alllähmende
Kraft just am Jahreswechsel gebrochen schien. Die gesellschaftlichen Einflüsse der
offiziellen Vertreter aller gegensätzlichen Systeme und Prinzipien im und beim
Bundestage empfinden sich aber in so engen Verhältnissen, wie die unserigen,
wenn man auch im größer» Publicum ihrer Quellen sich nickt genau bewußt
wird. Es liegt ein Reisbaues über Allem, was sich Gesellschaft nennt, und wenn
auch die Feusier glänzend in die Nacht hinauöleuchten, die Equipagen rollen, die
Stickereien der Galauniformen blitzen und z» dem Diamantenschmuck der Damen
sogar noch Goldflittern im Haar und an den Roben verstreut sind - die Cere¬
monien machen kein Gesellschaftsleben. Da hatte nun wohl die Allg. Zeitung
Recht, wenn sie die Salons des prcnß. Gesandten v. Bismark-Schönhausen als
den „Glanzpunkt" der diesjährigen Saison bekennen mußte. Doch sind sie es
nicht nur wegen des Glanzes und eleganten Arrangements, Ueberflnßcs und feiner
Auswahl der Erfrischungen, prächtiger Toiletten und guter Musik. Deal dies Alles
ist der Frankfurter Reichthum gewohnt. Weniger gewohnt war man dagegen bis¬
her, Wissenschaft und Kunst als eben so gute Zntrittsberechtignngen in die Kreise
der „hohen Gesellschaft" anzusehen, wie Geld, Ahnen und Rang. Vorderhand
stehen in dieser Beziehung die Soireen im preuß. Gesaudtschaftshotel in jenen
Kreisen noch ohne Milbewerbung da. Auch der französische Gesandte hat seinem
ersten Auftreten ans gänzlicher gesellschaftlichen Zurückgezogenheit diesen zwar
nicht schimmernden, aber wohlthuenden und belebenden Glanz beizufügen nicht
für nöthig erachtet. Unterdessen hat sich aber das Publikum des „Tannhäusers"
bemächtigt, um ein Interesse zu gewinnen. Doch davon ein anderes Mal.
Eine geheimnißvolle Erscheinung auf dem euro¬
päischen Geldmarkt. Zu einer Zeit, wo in Europa und Amerika allgemeine
Besorgnis! herrscht, daß der Ueberfluß der neuentdeckten Goldmassen den Werth der
edlen Metalle drücken und folglich den Werth anderer Gegenstände heben wird, in
einer Zeit, wo nach Schätzung der englische» Geldmänner an fünfzig Millionen
Pf. Se. nen entdecktes Gold auf den Markt und in die Münze» geworfen sind,
nach einem Jahre allgemeine» Friedens und großer Blüthe des Handels auf der
ganzen <?rde, ist plötzlich eine Erscheinung eingetreten, so widersprechend allen
Erfahrungen des Handels »»d so merkwürdig, daß sie den erfahrensten Ban¬
quiers außerordentlich und »».erklärlich dünkt. Es zeigt sich plötzlich statt des
vorausgesetzten Ueberflusses a» Gelo el» nngewöhnlicker und drohender Mangel
a» edlem Metall. Seit dem August vorigen Jahres sind ans der Bank von
England drei und aus der Bank von Frankreich fünf Millionen Pf. Se. gezogen
und nach verschiedenen Theilen des Auslandes versandt worden, ja außer diesen
circa Se Millionen Thalern ist noch alles das Gold und Silber aus dem Ver¬
kehr verschwunden, welches während derselben Zeit in England und Frankreich
eingeführt worden ist. Diese verschwundenen importirten Gvldmassen betragen
nach der Schätzung erfahrener englischer Geschäftsleute viel mehr, als 10 Mil¬
lionen Pf. Se., über 68 Millionen Thaler. So enthalten die beiden große»
Depots der edlen Metalle zu London und Paris jetzt ucche an 20 Millionen
Pf. Se., 136 Millionen Thaler weniger, als sie besitzen würden, im Fall kein
besonderer Abfluß nach andern Theilen der Welt stattgefunden hätte.
Diese bedenkliche Abnahme des baaren Geldes in einer Zeit, wo Alles vazn
berechtigte, einen Ueberfluß an edle» Metallen auf dem Geldmarkt zu erwarten,
bestimmte die Bank von England, ihre Zinsraten von Ä auf 3"/» z» erhöhen,
eine Maßregel, von welcher sie selten und nnr in außerordentlichen Fällen Ge¬
brauch macht, und welche entschieden das Symptom einer Geldkrisis ist. Um so
auffallender erscheint diese Krisis, weil über diesem ungeheuern Abfluß der edlen
Metalle aus England wie ans Frankreich ein Dunkel schwebt, welches anch die
größten Autoritäten der Handelswelt — vielleicht eine oder wenige ausgenommen
- - aufzuklären bisher nicht im Stande waren.
Man hat im Publicum angenommen, daß die gewagten und zum Theil un¬
sinnigen Speculationen des gegenwärtigen Frankreichs den Abzug des Geldes von
England nach Frankreich verursacht hätten; gegen diese Annahme aber spricht,
baß nicht nur die Baarvorräthe der Bank von Frankreich in noch höherem Maße
abgenommen haben, sondern daß in ganz Frankreich der Mangel an Gold und
Silber auf den Börsen eben so sichtbar ist, als in England.
Auch die große Ausfuhr englischer Goldmünzen nach Australien, welche aller¬
dings während der letzten sechs bis zwölf Monate etwa 6,300,000 Pfd. Se. b>
tragen hat, erklärt diese Abnahme bei weitem nicht vollständig. Diese Aus¬
fuhr gemünzten Goldes nach Australien war nämlich ein vortheilhaftes Geschäft,
weil es dort an geprägten Gold sehr mangelt, während der tägliche Verkehr bei
einer massenhaften Einwanderung, die sich in dem Suchen nach Gold über ge¬
waltige Flächenräume vertheilt, große Summen erforderte.
Immer aber, wenn man anch alle bekannten und zu lärmenden Abflüsse
der edlen Metalle nach Europa und Australien abzieht, bleibt »och eine große
Gvldmasse, die hier annäherungsweise auf etwa zehn Millionen Pfd, Se.,
68 Millionen Thlr., angenommen werden soll, übrig, deren Verschwinden vom
Geldmarkt das Geheimniß ausmacht.
Diese Masse scheint, wenigstens z»in Theil, durch außerordentlich geschickte
und verschwiegene Operationen irgendwo gesammelt, da sich in keiner anderen
Gegend des Weltmarktes der entsprechende Ueberfluß an edlem Metall gezeigt
hat. Jedenfalls sind diese Operationen mit einer Ruhe und Sicherheit vor sich
gegangen, welche ans einen großen Plan schließen läßt.
ES ist an der Londoner Börse bekannt genug, daß viel Gold und Silber in
dem letzten Jahre nach dem Osten von Europa gegangen ist, doch hat sich die
Summe dieser exportirten Metalle jeder Berechnung entzogen. Und so ist es nnr
eine Muthmaßung, welche hier aufgestellt wird, daß Rußland in aller Stille eine
von den großen Geldoperationen vorgenommen habe, durch welche eS bedeutende
Kriegönnternehmnngcn vorzubereiten pflegt. Wenigstens erscheint diese Annahme
wahrscheinlicher als eine andere, daß eine ähnliche Operation dnrch Louis Na¬
poleon veranlaßt worden sei. Es ist kaum anzunehmen, daß eine solche massen¬
hafte Anhäufung edler Metalle von Frankreich ans hätte dirigirt werden können,
ohne zur Kenntniß der Börsen zu kommen.
Wenn aber diese Annahme einer so großen Anhäufung edlen Metalls in
Rußland sich bestätigen sollte, so haben wir dies Ausziehen der Gold- und Silber¬
barren aus den Banken von Frankreich und England zu betrachten, wie das Aus¬
stiege» vou Sturmvögeln, welche eine große europäische Katastrophe prophezeien. —
Ist es das neue Frankreich, oder ist es die Türkei, oder sind es beide, für welche
der Schlag vorbereitet wird?
Die Ungewißheit darüber und das Mißtrauen gegen die commerziellen Ver-'
Hältnisse Frankreichs liegt wie eine Gewitterschwüle über dem Fonds- und Golb-
markt. Doch ist die Thätigkeit der Fabriken und die Energie der Waarengeschäfte
dadurch uoch nicht wesentlich berührt.
' Aber abgesehen von der gegenwärtigen Geldkrisis und ihrer unerklärten Ur¬
sache, haben die letzten Monate unsres Geldmarktes einige große und tröstliche
Lehren von höchster Wichtigkeit gegeben. In einem unglaublich kurzen Zeitraum
haben sich große Masse» von Gold ans den europäischen Märkten angehäuft und
eben so schnell siud sie wieder davon verschwunden. Das bisher erschienene neue
Gold hat weder den Werth des Geldes erniedrigt, noch den anderer Gegenstände
erhöht, und noch viel weniger hat es den gebräuchlichen Zinsfuß ans den großen
Handelsplätzen in Europa herabgedrückt. Wenn man also in der letzten Zeit in
wohldurchdachten Büchern und Artikeln Befürchtungen aller Art über die Abnahme
des Geldwerthes liest, so möge man dagegen anch nicht übersehen, daß selbst
bei ununterbrochenem massenhaftem Goldgewinn noch ans lange Zeit hinaus das
Gold die Industrie der Menschen heben und ausdehnen werde, und daß die
weite Erde noch einen unglaublich großen Raum für Expansion des Menschen¬
geschlechts hat. Die entfernten Fundorte des Goldes verursachen eine sehr große
räumliche Ausdehnung und wieder erhöhten Schwung und gesteigerte Thatkraft
der Menschen. Die vergrößerte räumliche Ausdehnung des Menschengeschlechts
sowol, welche in der That eine moderne Völkerwanderung zu werden scheint, als
die gesteigerte Energie, welche in dem Kampf um ein neues Leben in neuen
Verhältnissen sich bei jedem Einzelnen entwickelt, führen nothwendig zu weit
größerer Production, zu vermehrtem Handel und zu stärkerem Verbrauch, sie wer¬
den folglich Geld in immer größerer Masse nöthig machen, und lohnender Zins
wird da, wo es mit Nutzen angewendet werden kauu, bereitwillig dafür bezahlt
werden. So scheint die Gefahr einer Entwerthung der edlen Metalle noch auf
lange hinaus nicht vorhanden.
Die englische Regierung scheint nicht die Absicht zu haben, eine Münzstätte
in Australien zu errichte». Es giebt im brüischcu Reich uur eine Münzstätte,
die in London, sie steht unter der Leitung erprobter Beamten und eines Münz-
wardcius Master »k dero Mut), der zu dem Personal der höchsten Regierungsbe-
amten gehört. Es erscheint zweifelhaft, ob eine eben so strenge Controlle auel
bei einer Kolonie, die bei den Antipoden lieg't, stattfinden könnte, der geringste
Zweisel aber an der allerstrengsten Controlle würde das Vertrauen zu der aus¬
geprägten Landesmünze, welches jetzt felsenfest ist, erschüttern. Man wird daher
wahrscheinlich keine Münze in Australien errichten, souderu von dort Gold in
Barren als Waare versende» und als Zahlungsmittel benutze».
In den V. Staaten von Nordamerika wird dieselbe Politik verfolgt. Das
Gold von Kalifornien wird als Waare nach der Münze von Philadelphia gesandt,
denn es darf nur dort ausgeprägt werden, und von der Filialmünze, welche zu
San Franciöko errichtet werden sollte, ist jetzt Alles still.
— Es ist auffallend, daß das Publicum den
diesjährigen Kammerverhandlungen eine viel größere Theilnahme zuwendet, als
während der vorigen Session der Fall war. Bei der romanhaften und pikanten
Entwickelung der Dinge in Frankreich, die mehr als eine ernste politische Krisis
das Interesse der großen Menge zu absorbiren im Stande war, durfte mau kaum
erwarte», daß unser» innern politischen Kämpfen, je mehr sie sich von den große»
allgemeinen Grundsätzen in das Detail entfernte», »och einige Aufmerksamkeit
geschenkt werde» würde. Und doch haben wir das seltene Schauspiel gehabt, daß
bis jetzt bei allen wichtigern Kammerverhandlungen in dieser Session die Znhörer-
ränme gefüllt waren. Ich bin nicht sanguinisch genng, ans diese Erscheinung,
die doch immer erst seit wenigen Wochen zu Tage getreten ist, besondere Hoff¬
nungen zu bauen; aber ich bin auch nicht blind genng, sie zu ignoriren und schon
jetzt die Möglichkeit in Abrede zu stellen, daß wir es hier mit den ersten Sympto¬
men eines Wechsels in der öffentlichen Stimmung zu thun haben könnte». Ich
muß ausdrücklich hervorheben, daß die bloße Neugierde, oder die bloße Theilnahme
am geistigen Kampf, die sich nach längerer Indolenz naturgemäß wieder regen
muß, uicht genügen, die größere Aufmerksamkeit des Publicums zu erklären;
denn die Kammer bat bei den letzten Wahlen gerade eine große Anzahl solcher
Kräfte eingebüßt, die in der parlamentarischen Debatte glänzten. Wenn
Ma eine Fraction — die Linke — auf einmal ans ihren Reihen Redner, wie
L. Camphausen, Simson, A. v.Auerswald, Claesse», Beckerath, von Rönne, Dyhrn,
Beseler n. A. verliert, ohne in rhetorischer Beziehung irgend einen Ersah gewon¬
nen zu haben, so kann ein solcher Verlust auf die Anziehungskraft, welche die
parlamentarischen Kämpfe auf das größere Publicum a-nSüben, nicht ohne
Einfluß bleiben. Außer v. Vincke, Wentzel und Riedel sind jetzt in
der Linken nur Wenige, die ihren Auseinandersetzungen den gehörigen
rednerischen Nachdruck zu geben wissen; und welchen Werth hat die scharf¬
sinnigste Rede für die Tribünen, wenn das Ohr nur mühsam hier und dort
ein paar zusammenhangslose Worte erhasche» kann? Ganz trostlos ist die
Dürre ans der rechten Seite des Hauses; hier sind die Abg. v. Gerlach und
v. Kleist-Retzow nicht nur die beste» Redner, sonder» anch die geistreichsten Män¬
ner; hier müssen wir jetzt täglich mit kläglichen Debüts rhetorischer und schrift¬
stellerischer Schülcrarbeiten vorlieb nehmen. Der Mangel an Referenten ist nnter
der Majorität so fühlbar, daß sie einige Referate Personen übertragen hat, die
offenbar der dentschen Sprache nicht mächtig sind und durch ihre seltsamen Con-
structionen zu mannichfachen Mißverständnissen Veranlassung geben. In den gouverne-
mentalen Gefühlsergüssen, die wir von der Tribüne zu hören bekommen, herrscht
eine wahrhaft schreckenerregende Gedankenarmuth, die um so lächerlicher und wider¬
licher wird, je größer das junkerliche Selbstgefühl ist, mit dem sie zur Schau
gestellt wird. So hörten wir neulich einen Herrn v. Bycrn eine Unzahl thörichter
und trivialer Dinge mit einer suffisance sagen, die einem Hasenclever ein köst¬
liches Motiv für ein sehr ergötzliches Genrebild gewährt haben würde; und heute
sagte ein junger Manu, ein Landrath v. Grävenitz, eine Rede ans, die nach einer
regelrechten Disposition ausgearbeitet und mit den solennen UebergangsflvSkeln
und gangbarste» Redewendungen so vollständig verziert war, daß sie In u«um
älZlplimi edirt oder in die nächste patriotisch pnrificirte Ausgabe vou „Wilmsen's
Kinderfreund" aufgenommen zu werden verdiente. Wenn trotz alledem das Publi¬
cum geduldig bei deu Verhandlungen ausharrt, so bleibt uur die Vermuthung
übrig, daß auch die bisher indolenten Gemüther eine Ahnung vou der Bedeutung
des politischen Kampfes überkommt, der jetzt seinem traurigen Ende zu nahen
scheint. Es ist sehr möglich, daß anch solchen Personen, die in der Fluth der
Reaction, so lange sie ihnen »ur die Füße umspülte, ganz vergnügt plätscherten,
jetzt bange wird, wo die Wogen über ihren Schultern zusammen zu schlagen
drohen.
Vor gefüllten Tribünen hat die zweite Kammer am Sonnabend die Debatte
über den Gesetzentwurf, der die Cvmmnnalgesetzgcbnng des Jahres 185V besei¬
tigen soll, eröffnet und heute fortgesetzt. Die rechte Seite, nicht zufrieden damit,
daß jene Gesetze innerhalb zweijähriger Frist in dem größten Theile des Landes
noch nicht ausgeführt sind, und daß zahlreiche neue Entwürfe sie demnächst auch
rechtlich beseitigen sollen, kann die Zeit nicht mehr erwarten und will schon vor
Feststellung des neuen Gesetzes dem bereits zu Tode gehetzten Gegner fallstaffartig, wie
Herr v. Bethmann-Hollweg richtig bemerkte, einen letzten Gnadenstoß beibringen.
Sie will sich die absonderliche Freude uicht versagen, die „revolutionairen" Gesetze
von 1830 in einem besondern feierlichen Autodafü zu verbrennen, damit sie nicht
klanglos, sondern nnter dem Hohngelächter der Sieger zu den Todten entwichen;
und Herr v> Gerlach hat schon erklärt, daß er, obschon sonst kein Freund poli¬
tischer Gedenktage, diesen Tag der Freude einer Erinnerungsfeier für werth
erachten würde. Solcher Stimmung gegenüber war es vergebens, daß v. Vincke,
Graf v. d. Goltz und Riedel mit aller Kraft der Beredsamkeit aus die heillosen
Folgen des Unterfangens hinwiesen, eine rechtskräftige Gesetzgebung vor Fest¬
stellung des Neuen mit einem Schlage zu beseitigen: die rechte Seite wollte ihr
Opfer haben. Durch eine Majorität von 13 Stimmen wurde der Antrag, die
Beseitigung der Gesetzgebung vou 18ö0 bis zur Feststellung der neuen Entwürfe
auszusetzen, abgelehnt.
Die Majorität wurde durch die Polen verstärkt, welche den jetzt im Mini¬
sterium maßgebenden Tendenzen, die provinziellen ^Gegensätze zu schärfen, mit
unverhohlener Freude zuschauen, weil sie von ihnen die Forderung eines polni¬
schen Sonderlebens im Großherzogthum Posen erwarten. Graf Cieskowski hatte
diese Ansichten offen ausgesprochen, in einer Weise, die unserer Meinung nach
geeignet war, jeden Preußen gegen die Beseitigung der Gesetze von 18ö0
bedenklich zu macheu. In der That wies Graf v. d. Goltz, mit Bezugnahme
ans jene Rede, auf die Gefahren hin, die ans einer Forderung des provinziellen
Particularismus z. B. in der Provinz Posen hervorgehen konnten; aber der
Herr Minister des Innern schüttelte diese bedeutende Hinweisung kurzweg durch
die uicht sehr trostreiche Bemerkung ab, daß die Provinziallandtage schon seit
iA Jahren rcactivirt wären, ohne die Provinz Posen zum Aufruhr verleitet zu
haben. Das war nun freilich die Meinung des Grafen Goltz nicht, daß un¬
mittelbar nach der ständischen Neactivirung Mord und Todschlag eintreten müßten.
Die Minorität bestand aus den Fractionen Helgoland und Bethmann-
Hollweg, und dem größern Theil der katholischen Fraction. Zu ihnen hatten
sich mehrere Mitglieder der Rechten gesellt, wie die Abg. Asch, Blömer, Breit-
haupt, v. Bouin (Wolmirstädt), Burdach (Mitglied der Fraction Keller-Nöldechen),
Gellern, Gcras, Holzapfel, Jacobs, Rost, v. Nichthofeu und — Nyno Quedl.
Daß dieser Name bei dieser Angelegenheit aus der Stimmliste der Opposition
erscheint, giebt zu sehr interessanten Betrachtungen Veranlassung. Sie bleiben
ndeß besser ungedruckt.
Nachdem so die Debatte über die einzelnen Paragraphen der Regie¬
rungsvorlage eröffnet ist, bricht in der Kammer ein wahres «auve qui peut ein.
Jeder sucht von der Gesetzgebung v. 18ü0 durch Amendements zu retten, und
für sich in Sicherheit zu bringen, was nnr gerettet werden kann; die Rheinländer
wollen sie ganz für ihre Provinz behalten; desgleichen die Westphalen; desgleichen
ein kleines Häuflein todesmnthiger Sachsen. Die Fraction Helgoland will die
Gemeindeordnung wenigstens für die Städte der östlichen Provinzen erhalten
wissen. Selbst in dem conservativen Lager zeigen sich Spuren einer bedenklichen
Meuterei. Während Herr v. Westphalen jede Provinz mit einer besondern
Landgemciudevrdnuug bedacht hat, kommt ein sehr conservativer Schriftsteller,
der Freiherr von Haxthausen, der sich schon seit Decennien mit dem Communal-
wesen beschäftigt hat, und findet, daß eine besondere Laudgemeindeordnuug für
Westphalen nicht genüge; diese Provinz müßte wenigstens zwei haben, wenn den
realen Verhältnissen Rechnung getragen werden solle. Erwägen Sie nun noch die
besondere Stellung der Polen, so werden Sie die Ueberzeugung gewinnen, daß
schow jetzt das System der „provinziellen Gliederung" seinen reichsten Segen über
uns ausgießt. Es ist eine Saat von Drachenzähnen, die durch die Tendenz,
„Eigenthümlichkeiten zu pflegen," ausgestreut wird: Provinz steht aus gegen
Provinz, um ohne Rücksicht auf das Gemeinwohl für sich so viel zu erHaschen,
als möglich ist, und auch damit hat die Zwietracht noch kein Ende. Der Kampf
ur große politische Zwecke löst sich in ein kleinliches Jutrigueuspiel auf,
in welchem Jeder seinen beschränkten Vortheil sucht, ohne sich um
den andern zu kümmern. Denn es fehlt viel, daß die Abgeordneten der Pro¬
vinzen, welche die Gesetzgebung ». 18ö0 beizubehalten wünschen, sich gegenseitig
unterstützen, es stimmen vielmehr Rheinländer gegen Westphalen, und umgekehrt,
in der Meinung, daß die Regierung die Gemeindeordnung eher einer als meh¬
re rü Provinzen zu belassen geneigt sein wird. Auch hier zeigt sich, daß die
Rheinländer im Allgemeinen weit von der politischen Einsicht und der Selbst¬
verleugnung entfernt sind, welche die ostpreußischen Deputaten auf dem Ver¬
einigten Landtage auszeichnete. Diese mochten den Vortheil ihrer lange vernach¬
lässigten Provinz nicht durch die Bewilligung eiuer zum Bau der Ostbahn be¬
stimmten Anleihe erkaufen, und so den großen Rechtssatz umstoßen, daß nur
Reichsstände zur Bewilligung von Anleihen befugt wären. Jetzt, wo es sich
um die Aufrechterhaltung einer gemeinsamen Commuualgesetzgcbnug handelt, giebt
ein liberales Organ, die Kölnische Zeitung, schon vor dem Tage der Schlacht
den Seinigen die Anweisung, statt an den gemeinsamen Kampf bei Zeiten an
sich selbst zu denken, die östlichen Provinzen allein für sich sorgen zu lassen,
und der Rheinprovinz die Gemeindeordnung zu retten. Wie sehr diese Taktik
die liberalen Abgeordneten der östlichen Provinzen, deren Kampf gegen die ritter¬
schaftlichen Tendenzen ohnehin viel schwieriger ist, verstimmen muß, brauche ich
kaum zu bemerken; sie erblicken darin eine Aufkündigung der alten politischen
Waffenbrüderschaft, die beklagenswerthe Neigung, durch einen neuen Basler
Frieden sich selbst zu sichern und die frühern Freunde im Osten ihren ritterschast-
lieben Bedrängern zu überlassen. Es regt sich der launenhafte Wunsch, dieses
Spiel zu durchkreuzen, den Rheinländern zu zeigen, daß sie ohne den Succurs
der liberale» Abgeordneten aus dem Osten ebenfalls ohnmächtig sind, und es
wird nicht leicht sein, dein Umsichgreifen der Pest ^ des Particularismus und
Egoismus zu wehren, und den launenhaften Unmuth dnrch die vernünftigen Grund¬
sätze einer weiter schauenden Politik zu besänftigen.
Die ersten Paragraphen des Gesetzentwurfs, welcher
die Aushebung der Gesetzgebung von 1830 ausspricht, sind von der zweiten
Kammer angenommen. Doch ist die Wiederherstellung der alten Einrichtungen
nnr so weit gestattet, als sie der Verfassung nicht widersprechen. Dieses Amende-
ment wurde gegen den Willen der Minister mit einer Majorität von i Stimmen
in den Gesetzentwurf aufgenommen. Seine Bedeutung würde dann, wenn das
Ministerium überhaupt die Verfassung ihrem Geiste nach zu handhaben gewohnt
wäre, so weitgreifend sei», daß es die Wiederherstellung der alten Zustände über-
haupt unmöglich macheu, d. h. daß es den ganzen Gesetzentwurf, der jetzt be¬
rathen wird, zerstören würde. Denn die alte ländliche Communalversassuug ist
verfassungswidrig, da sie die Polizeigewalt gewissen privilegirten Personen, den
Besitzern gewisser privilegirter Grundstücke überträgt, da sie ferner Erb- und
Lehnschulzen kennt ». s> f. Die Zusammensetzung der früheren Kreis- nud Land¬
tage, mit deu Virilstimmen bevorrechteter Klassen und Individuen, ist ebenfalls
mit der Verfassung unvereinbar. Ja selbst ohne alle Rücksicht aus die Zusammen¬
setzung ist die Existenz von Landtage» mit der Berechtigung, vor dem Erlasse
gewisser Gesetze »lit einem Gutachten gehört zu werde», insofern nicht verfassungs-
mäßig, als sie in die Gesetzgebung einen »enen Factor einführt, den die Ver¬
fassung nicht ke»»t. Indeß pflegt sich das jetzige Ministerium an dergleichen
Bedenke» nicht zu stoße», und deshalb sind bei uns gerade die weitgreifendsten
Beschlüsse auch die »»fruchtbarste». Bemerkenswerth ist es, daß die Polen sich
der Abstimmung über dieses Amendement enthielten.
Der Kampf um die Gesetze von -1850 ist übrigens vo» der Linken mit
seltener Kraft »»d Ausdauer geführt worden. Um dem Einbruch der zersetzenden.
Principien, die vor 1806 maßgebend waren, sich entgegen zu stemmen, erhob sich
die Opposition mit außergewöhnlichen Nachdruck, und selbst milde Naturen, wie
Riedel, sprachen mit wahrem Fe»ereifer, oft mit schneidender Schärfe die bittersten
Wahrheiten aus. Viucie »ahn zweimal zu ausführlicher Rede das Wort; seine
zweite, die mit einer glänzenden Apostrophe zu Gunsten der Provinz Westphalen
schloß, hatte eine demvstheuische Kraft und gehört zu den hervorragendsten
Mister» politischer Beredsamkeit. Außer ihm hat Wentzel mit der ihm eigne»
Klarheit und Präcision des Ausdrucks die Bedeutung des vorliegenden Gesetz¬
entwurfs in seinem Verhältniß zur Verfassung sehr nachdrücklich auseinandergesetzt
und diese sehr wichtige Frage in ihrer ganzen Tiefe erschöpft. Nicht minder
wirkungsvoll war Auerswald's Rede; er zeichnete zunächst, nach einer vortrefflichen
Kritik der Gen.-Ordn. von 18L0, die Art und Weise, wie sie zum Vortheil des
Landes hätte ausgeführt werden müssen, ging dann auf die Zustände der Rhein-
provinz über, schilderte den raschen Wechsel der Gesetzgebung, dem diese Provinz
unterlege» hätte, wie hier das Communalwcsen 18is neu geordnet, dann 18!>0
wieder umgestaltet wäre, und schloß mit der Erklärung, daß er nach diesen Vor¬
gängen eine abermalige Beseitigung der jetzt seit 3 Jahren in Kraft stehenden
Gemeindeordnung für eine durchaus subversive Maßregel, für eine wahre Landes-
calamität halten müsse. Unter den anderen Rednern verdienen namentlich Riedel,
v. Patow und Graf v. d. Goltz ausgezeichnet zu werden; der letztere führte
sich durch einen glänzenden und geistreichen Vortrag in die parlamentarische
Debatte ein.
Morgen wird es sich entscheiden, ob die Gen.-Ordn. v. 18ö0 wenigstens für
einzelne Landestheile zu retten sein wird. Ich glaube nicht, daß selbst für die Rhein-
provinz Aussicht vorhanden ist, obgleich einige Mitglieder der Rechten, selbst solche^
die nicht den westlichen Provinzen angehören, durch den übereinstimmenden Wunsch
der Rheinländer, dnrch die zahllosen ans jener Provinz eingelaufenen Petitionen
zu tut Ueberzeugung geführt sind, daß es nicht rathsam sei, den Rhein¬
ländern ein ihnen werthes Gesetz zu rauben. Es ist überhaupt eine bemerkens-
werthe Thatsache, daß, wo das Gesetz wirklich eingeführt ist, die Betheiligten es
zu behalten wünschen. Ans dem platten Lande der östlichen Provinzen ist es nur
in zwei Kreisen, Stallupönen und Zeitz, die unter der Leitung liberaler Landräthe
standen (Gamradt und Jacobi v. Wangelin), rasch und ohne Widerstreben der
Einfassen durchgeführt. Herr v. Gerlach versicherte frischweg, daß hier die Be¬
seitigung des Gesetzes heiß ersehnt werde, und gab dadurch dem anch in dieser
Session anwesenden Abg. Gamradt Veranlassung zu der sehr bestimmten Ent¬
gegnung, daß ihm aus dem seiner Leitung anvertrauten Kreise dergleichen Wünsche
nicht bekannt geworden wären. Angesichts solcher Thatsachen und gegenüber den
ritterschaftlichen Theorien konnte der Abg. Riedel, nachdem er die wirkliche Sach¬
lage resumirt, mit vollem Recht die Frage auswerfen, welche Seite des Hauses
denn aus Grund praktischer Erfahrungen, und welche ans Grund kahler Prin¬
cipien kämpfe.
Ein uuheilschwaugrcs Ereigniß der letzten Woche kann ich unmöglich mit
Stillschweigen übergehen. Der Abg. Aldcnhoven, jetzt Mitglied der katholischen
Fraction, ließ sich in seinem Unmuth zu leidenschaftlichen Aeußerungen fortreißen,
die gegen die parlamentarische Ordnung sehr verstießen und auf beiden Seiten
des Hauses mit gleich starkem Mißfallen aufgenommen wurden. Aus einer Aeu¬
ßerung des Ministerpräsidenten geht hervor, daß das Ministerium in diesem
Vorfall eine geeignete Veranlassung erblickt, durch einen Gesetzentwurf die Rede-
freiheit in der Kammer etwa auf ähnliche Weise zu reguliren, wie es mit der
Preßfreiheit durch das Prcßgcsctz geschehen ist. Es ist sehr begreiflich, daß das
Ministerium, nachdem es die Augriffe der Presse zum Schweigen gebracht hat,
die Freiheit auf der Tribune um so verdrießlicher empfindet und jeden geeigneten
Anlaß mit Begierde ergreift, um dem Preßgesetz die erwünschte Ergänzung zu
geben, und dafür zu sorgen, daß da, wo der Ministertisch steht, überhaupt „spitze
Worte" nicht mehr fliegen dürfen. Vermuthungen über den möglichen Inhalt eines
solchen Gesetzentwurfs aufzustellen, ist natürlich nicht angemessen; doch wird er
unzweifelhaft einen neuen Beleg dafür liefern, daß auch in Bezug auf die par¬
lamentarische Redefreiheit nach der Meinung des Ministeriums für Preußen ein
ganz „eigenthümlicher" Entwickelungsgang vonnöthen ist.
— Seit einigen Wochen haben die
Operationen Omer-Pascha's gegen Montenegro begonnen, und so viel man aus
den nicht immer klaren und übereinstimmenden Berichten, die nus durch die öster¬
reichischen Zeitungen zukommen, entnehmen kann, ist die militärische Lage des
tapferen Volkes von Czernagora eine bereits ziemlich bedrängte geworden. Der
Seraskier hatte von verschiedenen Seiten her seine Kolonnen 'gegen die kleine
Berglandschaft in Marsch gesetzt. Das Gebiet von Montenegro, etwa 80 bis
100 ^Meilen groß, schiebt sich von der dalmatischen Küste aus wie ein Keil
zwischen die beiden türkischen Provinzen Bosnien und Albanien. Nach der kecken
Provocation, die der Fürst Dauilo durch deu Ueberfall vou Zalbliak der Pforte
hinwarf, wurden sofort in beiden Provinzen umfassende Rüstungen in's Werk
gesetzt und neben deu regulairen Truppen ein zahlreiches irregulaires Aufgebot
unter die Waffen gerufen. Verstärkungen ans Macedonien und Rumelien strömten
Omer-Pascha zu, und ein in Constantinopel ausgerüstetes Geschwader setzte die
albanesische Küste in Blokadezustaud. Der Scraskicr näherte sich mit der türkischen
Hauptmacht der Südgreuze der schwarzen Berge, während die böhmische» Pascha's
ihre Streitkräfte in der Montenegro nördlich begrenzenden Herzegowina concen-
trirten. Verschiedene Vorgefechte, welche die Moutenegriuer, namentlich mit
Osman-Pascha von Siutari, hatten, fielen, wenn man selbst die Uebertreibungen
der sehr parteiisch für sie gestimmten österreichischen Blätter abzieht, augenschein¬
lich zu ihren Gunsten aus. Omer-Pascha's OpcrationSplan besteht darin, gleich¬
zeitig auf fünf Punkten Montenegro anzugreifen. Während Osman-Pascha von
Skutari ans die Straße bedroht, welche nach Cettinje, der Residenz des Vladit'a
führt, und der Oberfeldherr selbst etwas weiter östlich von Spusz und Podgo-
rizza aus, wo das türkische Gebiet einen schmalen und tiefen Einschnitt längs dem
Flusse Mvradscha in das montenegrinische macht, mit dem Hauptcorps vordringt,
operiren Neis-Pascha vom Norden gegen Grahowo, einen Bezirk der Herzegowina,
der sich für die Montenegriner erklärt hatte, und ein viertes türkisches Corps
sucht auf der östlichen Seite der Nordgrenze die Bergpässe zu formen, um sich
mit dem Scraskier in Verbindung zu setzen. Ein fünftes, kleineres Corps
unter dem Bei v. Antivari endlich manövrirt von der Küste aus gegen
die Westgrenze der Czernagora, wol mehr um den Feind zur Zersplitte¬
rung seiner Kräfte zu zwingen, als in der Absicht eines ernstlichen Angriffes.
Die sämmtlichen türkischen Streitkräfte dürften ohne Uebertreibung auf mehr,
als 40,000 Mann ^ur Hälfte etwa regulaire Truppen) geschätzt werden,
von denen 46 bis 18,000 vom Norte», über 20,000 unter Omer- und Osmau-
Pascha vom Süden, 4000 etwa von Autivari ans operiren. Schwerlich dürfte
die Gesammtmacht, die Montenegro aufbringen kann, 12 bis 16,000 Mann
übersteigen, die allerdings durch die Oertlichkeit ausnehmend begünstigt und, obwol
ohne regulaire Disciplin und Taktik, durch hohen natürlichen Muth und das
Bewußtsein, für Haus, Heerd und Existenz zu fechten, angefeuert werden.
Eine Reihe zum Theil, wie es scheint, sehr blutiger Vorgefechte haben den
Türken starke Verluste beigebracht; demungeachtet haben die Montenegriner sehr
wichtige Positionen eingebüßt. Grahowo ist nach verzweifeltem Widerstande deö
Wojwodeu Wujatich, der selbst gefangen wurde, durch die Uebermacht der türkischen
Artillerie gefallen und, was das Gefährlichste für die Montenegriner ist, Onier-
Pascha ist von Spusz aus in das Thal der Zeta, eines kleinen Nebenflusses der
Mvradscha, eingedrungen und scheint sich mit dem vom Norden her angreifenden
Corps, das von den Quellen der Zeta aus flußabwärts operirt, bereits so weit
in Verbindung gesetzt zu haben, um die östliche Hälfte Montenegros, dessen Ge¬
biet hier an seiner schmalsten Stelle von der Zeta durchschnitten wird, von dem
westlichen Theil, in welchem die Hauptstadt Cettiuje liegt, abzuschneiden. Schon
wird gemeldet, daß die vier östlichen Radien (Bezirke), die weniger zuverlässig
der mouteuegriuischeu Sache anhängen, sich dem Seraskier unterworfen hätten,
und die letzten Nachrichten wollen sogar wissen, daß Omer-Pascha bis nahe vor
Cettinje vorgedrungen sei und dem Fürsten Danilv für seine Unterwerfung eine
Bedenkzeit von wenigen Tagen (bis zum 31. Januar) gestellt hätte. Bei deu
unvermutheten Zwischenfällen eiues Gebirgökrieges und der verwegenen Tapferkeit
der Montenegriner kann indeß ein plötzlicher Unfall den nahen Sieg deö türkischen
Feldherrn vereiteln.
Der Feldzug der Türken gegen d'.e Czcrnagora scheint indeß politische Even-
tualitäten heraufzubeschwören, die weit über die Wichtigkeit der dortigen lokalen
Vorgänge hinausrage». Oestreich zieht in deu Grenzprovinzcu bedeutende Streit-
kräfte zusammen, und hat in der Person des Grafen v. Leiningen einen Unter¬
händler nach Constantinopel geschickt, mit, wie es heißt, ziemlich gebieterische» For¬
derungen an den Diva», theils einer Einstellung des Angriffs gegen Montenegro,
theils seiner übrigen Beschwerden wegen in Betreff der Verfolgung der Christe»
i" Bosnien »»d Albanien, und der Plackereien gegen österreichische Unterthanen
in der Türkei Die Haltung der beiden nordischen Kaiserhofe gegen die Pforte
ist seit einiger Zeit eine so zweideutige, daß man den Argwohn kaum zurück¬
drängen kann, das barsche Auftreten Oesterreichs, das übrigens gänzlich seiner
früher so lange befolgten Politik widerspricht, verberge weitergehende Projecte,
die eine sehr beschleunigte Lösung der orientalischen Frage herbeiführen konnten.
Die Dinge in Constantinopel sind in der That geeignet, falls die Kabinette von
Wien und Se. Petersburg eine Katastrophe bewirken wollen, das Vor¬
haben zu begünstigen. Der Sultan ist in den Händen der alttürkischen Partei,
die mit jedem Tage ihre Reaction gegen die Neformpolitik des gestürzten Groß-
veziers Neschid Pascha steigert, und die Leidenschaften derselben stehen den
österreichischen Forderungen so sehr entgegen, daß der Divan möglicherweise zwi¬
schen die furchtbare Alternative eines Krieges gegen seine übermächtigen Nachbarn
und eines schrecklichen Ausbruchs des Fanatismus daheim gestellt wird. Hierzu
komme» die tief verwickelten Finanzverhältnisse des Reichs und die ziemlich ge¬
spannte Stellung der Pforte zu den westlichen Großmächten, in Folge der un¬
glücklichen Anleihegcschichte und, was speciell Frankreich betrifft, der noch immer
ungelösten Frage über die Protection der heiligen Orte. Der Angriff gegen
Montenegro, der mit aus gegenseitiger Erbitterung, fanatischem Religionshaß und
Zuchtlosigkeit der türkischen Soldateska hervorgehenden Grausamkeiten gegen die
Christen und Zerstörung der Heiligthümer ihres Glaubens verbunden ist, findet
gleichfalls in der öffentlichen Meinung Englands und Frankreichs eine starke Mi߬
billigung, und selbst die englische Presse, die sonst stets die Partei der Pforte
gegen Rußland und Oesterreich zu nehmen pflegt, spricht sich diesmal fast feind¬
selig gegen die erstere ans. Ist es demnach anch noch keineswegs gewiß, daß
wir am Vorabend entscheidender Ereignisse im Orient stehen, so darf man sich
doch nicht verhehlen, daß die Möglichkeit dafür sehr nahe liegt.
Alles Interesse concentrirt
sich gegenwärtig in Spanien ans die nahe bevorstehenden Wahlen, ans denen
allerdings verhängnißvolle Entscheidungen für das Land hervorgehn dürften.
Das Ministerium arbeitet mit einer Anstrengung an seinem Erfolg, die mit den
Mitteln dazu eben nicht gewissenhaft verfährt. Die Wahlcvmit<"s der Opposition
sind, wie wir bereits berichteten, durch eine chicanvse Auslegung des Assvziations-
gesetzes zur Auflösung gezwungen worden, und die Preßrazzia's, denen täglich der
größere Theil der unabhängigen Zeitungen Madrid's zum Opfer fällt, dauern
unausgesetzt fort. In den Provinzen wird, wie man nach dem Verfahren in der
Hauptstadt schließen kauu, sicherlich in eiuer Weise gemaßregelt, die noch weit
über jenes hinausgeht. Es liegt daher nicht außerhalb der Wahrscheinlichkeit, daß
das Ministerium über die vereinigte moderirt-progrcssistische Opposition trium-
phirt, und das fortwährende Steigen der Fonds an der Madrider Börse beweist,
daß die Spekulanten an ein derartiges Resultat glauben.
Etwas Anderes ist es freilich, ob eine Mehrheit, welche die Amtsführung der
Herren Noucali, Llorente, Benavidcs n. f. w. begünstigt, die denselben vom vorigen
Cabinet überkommenen Nevisionöpläne auszuführen geneigt sein dürste. Bis jetzt hat
sich die Regierung noch nicht darüber ausgesprochen, was sie davon zu adoptiren, was
aufzugeben entschlossen sei. Augenscheinlich will sie erst das Ergebniß der Wahlen
abwarten, um danach den Umfang ihrer Ncvisionsfvrdcrungen zu bemessen. Sehr
viel wird es bei der Entscheidung darüber, falls die stritte Oppositionspartei die
Mehrheit nicht gewinnt, ans das Verhalten und die Stärke jener Mittelfraction
der ModcradoS ankommen, die unter Sartorius, Grafen v. San Luis, von dem
moderirten WahlconM zurücktrat, und zu der anch Martinez de la Rosa ge¬
rechnet werden muß. Der Letztere, der seinen Posten als Vicepräfident des
königlichen Rathes, den er in den letzten Tagen der Verwaltung Murillo'S
niederlegte, von dem gegenwärtigen Cabinet wieder erhalten und angenommen
hat, hielt vor kurzem in seinem Madrider Wahlbezirk vor einer Versammlung
von Wählern eine Rede, in der er sein treues Beharren an der Constitution,
seinen unbeugsamen Widerstand gegen den Absolutismus versicherte und
außerdem erklärte, keinerlei Verflichtnngen gegen das Ministerium eingegangen zu
sein. Gleichwol brachte auch er die Phrase aus dem Circnlar Llorente's vor,
„mau müsse deu Glanz des Thrones erhöhen, ohne die nationalen Freiheiten
herabzudrücken," eine Formel, nnter der sich entweder Nichts, oder bedenkliche
Angriffe auf die Verfassung verbergen. Die Versammlung nahm ihn mit Accla-
mation zu ihrem Candidaten an (er hat den Bezirk schon in den drei letzten Le¬
gislaturen vertreten), die progressistische Presse indeß greift die Unklarheit seiner
Rede scharf an, und fügt hinzu, er werde sicherlich die Stimmen ihrer Partei¬
genossen nicht erhalten. Man kann bei alledem nicht annehmen, daß Männer wie
Martinez de la Rosa und Sartorius sich an Attentaten gegen die Konsti¬
tution betheiligen werden, die ihr jüngstes Verhalten völlig Lügen strafen würden.
Narvaez hat dem ungnädigen Befehl Jsabella's, nach Wien zu gehen, den
Vorwand entgegengesetzt, daß seine Gesundheit vorläufig die Reise nicht gestatte,
und ist auf seinem Beobachtungsposten bei Bayonne geblieben. Der Telegraph
brachte die kaum glaublich klingende Nachricht, die Königin habe ihren Befehl
erneuert mit der Drohung, im fortgesetzten Weigerungsfalle den Herzog von
Valencia als „Rebellen" zu betrachten. Directe Nachrichten aus Madrid vom
Datum der telegraphischen Depesche haben nichts Näheres hierüber gebracht,
weshalb es erlaubt ist, einen Act zu bezweifeln, für den man, als ausgegangen
von einer Svnveraiuin gegen einen Unterthan, dem sie die Erhaltung ihrer
Krone verdankt, schwer einen passenden Namen finden dürfte.
Die neue Kaiserin ist mit ihrem Gemahl von
Se. Elond hereingekommen, und während der Kaiser seinen Ministern vorsaß,
zeigte sich die zweite Josephine auf den Boulevards. Die Pariser, die nicht
aufhören, die Büste des Grafen Newkierk vor einigen Anslcgekasten zu umstehen
und zu beschaue», zeigten dem schönen Originale gegenüber viel weniger Neu¬
gierde. Kaum wurde hie und da ein Hut gerückt. Kein Ruf war zu vernehmen,
und Alles beweist,' daß der üble Eindruck, den die Heirath bei den höheren
Klassen hervorgerufen, auch von den Arbeitern und Kleinbürgern getheilt werde.
Für den Augenblick unterliegt diese merkwürdige Thatsache keinem Zmeisel mehr,
sie ist augenfällig, obgleich es nicht leicht ist, sie zu erkläre». Was man der
Spanierin vorwirft, ist in allen Klassen dasselbe: wenn sie schon keine Prinzessin
ist, so sollte sie doch wenigstens eine Französin sein. Ein Kutscher des Hofes
sagte seinem ehemaligen Herrn ganz traurig: „Wir hatten wenigstens gehofft,
eine Prinzessin zu fahren." In meinen Angen hat diese Erscheinung nur die
Bedeutung, daß eben die Zeit der Opposition wieder gekommen, und daß man
der Kaiserin entgelten läßt, was man den Kaiser fühlen lassen möchte. Für den
Anfang wäre jede andere Heirath eben so aufgenommen worden. Einer Prin¬
zessin hätte man Marie Antvuiette und Marie Louise vorgeworfen, eine Französin
hätte deu Neid und die Eifersucht aller verschmähten heiratsfähigen Töchter des
Adels erregt, und der Erfolg wäre wahrscheinlich derselbe gewesen. Die Kaiserin,
welche tief gekränkt ist über die Aufnahme, die sie beim Publikum gefunden,
sollte sich vielmehr Glück zu diesem Debüt wünschen, denn wenn sie so viel Tact
hat als sie Geist besitzen soll, wird es ihr nicht schwer fallen, die Stimmung für
sich zu mildern. Was ich über diese so interessant gewordene Persönlichkeit
erfahren habe, läßt vermuthen, daß sie keine geringe, wenn auch vielleicht keine
allzulange Rolle in der neuesten Geschichte Frankreichs spielen werde. Sie hat
schon sehr glücklich begonnen, denn ihr kaiserlicher Gemahl ist sehr verliebt und
strahlt vor Freude. Er vergißt darüber die politischen Schwierigkeiten des Augen-
blicks, er Übersicht das Schmollen Oestreichs, er ignorirt die finstere Miene
Rußlands, die endliche Zolleinignng Preußens und Oestreichs läßt ihn unberührt,
er lebt seinem nicht gehofften Glücke. Wenn dem Zeugnisse seiner Juliner
zu trauen ist, sind die Erwartungen Louis Napoleon's von der Wirklichkeit über-
troffen worden, und hätte dieser den Beweis, daß die emsige Verläumdung der
sogenannten guten Gesellschaft ohne jeden Grund gewesen. Er hat das Be¬
wußtsein — und das ist doch Alles — nicht überall in Frankreich Napoleon der
Dritte zu sein.
Ich habe sehr interessante Mittheilungen über den Charakter der Kaiserin
Kugcnic. Diese sind aufrichtig gemeint, die Person, von der ich sie erhalten, ist
in der Lage, gut zu urtheilen, und ich habe keinen Grund, irgendwie an deren
innerer Genauigkeit zu zweifeln. Die Gräfin von Tschä soll ein unabhängiges
leicht erregbares, gutmüthiges Naturel haben. Sie ist nicht blos an Jahren
jung, sie ist es anch innerlich, liebt das Vergnügen, ist ihren Freunden ergeben
und betet ihr Vaterland an. Sie ist Enthusiastin für eine gefaßte Idee und hält
mit Ausdauer daran fest. Sie handelt, wenn einmal entschlossen, mit Feuer und
in naiver Rücksichtslosigkeit auf das Urtheil ihrer Umgebung. Sie hat alle
Eigenschaften, die man in einer so hohen Stellung voraussetzt; sie ist uneigen¬
nützig, einfach und bescheiden, hält viel auf ihre Würde. Sie ist nicht frei von
Excentricitäten, aber sie ist gut u»d bei näherer Bekanntschaft gewinnend. Dabei
ziemlich aufwallend und nicht immer ohne energische Ausbrüche ihres südlichen
Temperaments. In Spanien hat sie im Allgemeinen ein gutes Andenken zurück¬
gelassen, man liebt ihren romanteöken Charakter. Sie hat sich dnrch alterte Züge
vortheilhaft bekannt gemacht. So beschämte sie eines Tages eine ganze Schaar junger
Männer, welche unthätig zusahen, wie zwei Pferde mit einem Wagen, in welchem
Frauen saßen, durchrannten, indem sie ihrem Pferde die Sporen gab, der Kalesche
voreilte, vom Sattel sprang und die erschreckten Pferde zum Stehen brachte.
Ich muß bemerken, daß diese Details aus dem Munde eines heftigen Geg¬
ners der gegenwärtigen Negierung kommen und daher nicht höfische Schmeichelei
eines Beteiligten sind. Sie begreifen, daß mit solchen Eigenschaften ans ein
Volk, wie das französische, leicht guter Eindruck erzielt werden kann, wenn sich
nur anch eine gute Gelegenheit findet. Bisher ist die junge Kaiserin noch unter
dem Einflüsse dessen, was über sie ausgesprengt wird, Niemand kennt sie, und
man ist nach den früheren Verbindungen der allerhöchsten Coterie allerdings be¬
rechtigt, Manches zu glauben, was man sonst schon aus Zartgefühl für das weib¬
liche Geschlecht von vornherein zurückweisen möchte. Ihre äußerliche Erscheinung
ist sehr einnehmend. Eine schöne üppige Gestalt von würdiger Haltung, ge¬
schaffen für majestätische Bewegungen, während das Gesicht eher einen gutmüthigen,
geistreichen weiblichen Charakter verräth, als jene männliche Entschlossenheit, die
man ihr zumuthet. Nur die dunklen Brauen über den dunkelblauen Angen deuten
etwas Energie an. Ihre Stirn ist weiß, glatt und' von angenehmer Form. Die
Nase schön gebant, aber ohne große Bedeutung. Der Mund nicht zu klein, um
schone weiße Zähne häufig sehen zu lassen. Die Lippen reizend, aber nicht
sinnlich. Wangen und Kinn rund, voll, aber von vieler Feinheit. Das schone,
etwas in's Röthliche spielende, blonde Haar erhöht die Schönheit der einzelnen
Züge und giebt dem Gesichte eine anmuthige, aber seltsame Fassung. Gut¬
müthige, naive Heiterkeit mag wol die Stimmung sein, die am häufigsten über
dieses schöne Antlitz gefahren sein mochte, ehe eine Krone anf diesem Köpfchen
lag, das eher gemacht schien, von Blumen bekränzt zu sein. Die kleine Hand
und der kleine Fuß siud Vorzüge, welche bei einer Spanierin nicht erst erwähnt
werden müssen, das sind Schönheiten, welche in den Signalements der spanischen
Polizei stets gedruckt stehen mögen.
Wenn also der Kaiser wirklich im Ernste sprach, als er Frankreich versicherte,
daß er seine Heirath blos als Privatangelegenheit betrachte, muß zugegeben wer¬
ben, daß er allerdings kein schlechtes Privatgeschäft gemacht habe. Der heftige
und thatenliebende Charakter seiner Gemahlin kann ihm nicht unangenehm sein,
denn er ist nicht der Mann, der auf diesem Wege leicht zu besiegen ist. Ihre
Liebenswürdigkeit und freimüthige Mitteilsamkeit aber muß von großem Werthe
für ihn sein und ein Trost für das traurige Bewußtsein, das er mit sich herum¬
tragen mag. Ein wahrer Freund oder eine ganz aufrichtige Freundin muß für
Louis Napoleon, der vielleicht mit Recht so wenig Gewicht ans die Freundschaft
legt, die er bisher eingeflößt oder zu erfahre» Gelegenheit hatte, ein Schal) sein,
den er nicht eifersüchtig genug bewachen kaun, und seine freigcmüthliche Glück¬
seligkeit ist uur um so begreiflicher. Die Heldinnen der hohen Phantasie sind,
wie sich denken läßt, ganz unglücklich über den plötzlichen Fall ihres Sterns. Die
Damen Howard, Contades, die schöne Manara und die reizende N—in sind
geschworene Feindinnen der neuen Kaiserin, die Prinzessin Mathilde wol auch
aus andern Rücksichten. Es steht Miß Howard auch gar nicht übel an, sich als
die eigentliche Josephine zu proclamiren und die Gräfin Tschä blos als Maria
Louise Napoleon'S III. gelten zu lassen; das ist eine verzeihliche Rache gekränkter
weiblicher Eitelkeit. Auch die zurückgesetzte Engländerin hatte, wie jener Kutscher,
gewünscht, wenigstens einer königlichen Prinzessin weichen zu müssen. Die Spa¬
nierin hat sich jedenfalls diplomatischer benommen, als ihre Nebenbuhlerinnen,
oder hat sie ihre Tugend vor Schlingen bewahrt, die ihr ans die perfideste Weise
gelegt waren. In Compiegne war, so zu sage», eine ganze weibliche Verschwö¬
rung los, um die Gräfin Tschä in den Fall zu setzen, uuter gleichen Bedingun¬
gen mit ihren Nebenbuhlerinnen um die Krone zu ringen. Diese Intriguen,
welche den Kaiser und seine jetzige Gemahlin umsponnen hielten, beweisen übri¬
gens, daß die Heirath schon lange gefürchtet war, und daß diese denn doch nicht
so ganz Folge eines plötzlich gefaßten Entschlusses gewesen. Louis Napoleon
mag seine jetzige Lebensgefährtin schon lange geprüft und zu würdigen gelernt
haben, und es ist nur ein -> i>mi>v5 der frivolen Pariser Gesellschaft, in
dem w>» iiwi, einer Schauspielerin, von der in diesen Blättern schon die Rede
gewesen, in dem „H.j'avtüg su,!<; Iiü aurai« rvsisl.»" von Fräulein Constance
die richtige Auffassung dieses Ereignisses sehen zu wollen. Eine Spanierin, die
eine intime Freundin der Herzogin von Alba -— der Schwester der Kaiserin —
ist, schrieb sogar hierher, daß man sich in Madrid sage, Madame Montijo, Mutter,
habe schon im November erzählt, der Präsident hätte ihrer Tochter vom
Staatsstreiche geschrieben und ihr deu Antrag gemacht, sein gutes oder böses
Geschick zu theilen. Fräulein Montijo soll geantwortet haben, daß sie sich nicht
gewachsen fühle, eine Kaiserkrone zu tragen, und daß sie zu wenig Vermögen be¬
sitze, Louis Napoleon im Falle des Mißlingens zu entschädigen. Dies mag nun
die Wahrheit sein oder nicht, so viel kann als gewiß angenommen werden, der
Kaiser hatte schon längst Absichten auf das Herz von Fräulein Moutijo, und es
mag wol mehr die Schuld seiner Umgebung sein, als die eigene, wenn er nicht
immer dieselben Absichten gehegt.
Bisher hat sich die Kaiserin mit Takt benommen; sie hat für die allgemeine
Amnestie gearbeitet und auch im Interesse einer Modification der Decrete über
die Orleans'schen Familiengüter Fürbitte eingelegt, und obgleich sich ihr Einfluß
noch nicht als wirksam erwiesen, weiß man doch ihre Bemühungen, und das
kann ihr eben nicht geschadet haben. Oeffentlich in der Gesellschaft hat sie sich
seit ihrer Hochzeit noch nicht gezeigt, und sie wird erst übermorgen auf dem Balle
des Senats ihren feierlichen Einzug in die Hofwelt machen. Wir wollen sehen,
wie man ihr Auftreten beurtheilen wird, denn, wenn es ihr auch nicht an Höf¬
lingen und officiellen Anbetern fehlen kann, wird auch die boshafte Kritik und
der Argus weiblicher Eisersucht uicht daheim bleiben. Bisher haben sich die Hul¬
digungen, welche die junge Kaiserin empfangen, blos auf die Ergebenheits-
bezeigungen des engeren Hofzirkels beschränkt und auf die bezahlten poetischen
Schmeicheleien des Dampsversificators Möry; auch sein poetischer Zwillingsbruder
Barthelemy hat einige Reime dargebracht, und die „Nemesis", welche Ludwig
Philipp so viel trübe Stunden gemacht, liegt also der neuen Negierung ganz zu
Füßen. Die republikanische Poesie dieser Herren ist gut kaiserlich geworden, hinkt
den ekelhaften Machwerken von Ludwig XIV. Hof- und Leibpoeten — wir sollten
sagen Leibbedienten — nach. Herr M6ry hat sür seine Begeisterung fünftausend
Franken vom Kaiser und eine mit Diamanten besetzte Uhr erhalten, und Barthe-
lemy vielleicht ein Paar kurze Hosen, um bei Hofe erscheinen zu können. Auch
Erard hat der .Kaiserin seine Aufwartung gemacht und ihr das prachtvolle Piano
dargebracht, das in London so viel Aufsehen gemacht. Der Kaiser hat ihm huld¬
reichst erklärt, daß er es behalten wolle, und diese musikalische Aufmerksamkeit
wird mit 40,000 Franken wol kaum zu schlecht bezahlt sein. Nun werden auch
die anderen Fabrikanten an die Reihe kommen, denn so wie die Tuilerien ein¬
mal offen siud, richtet die Speculation aller Erfinder und Verbesserer ihr Auge
nach diesem Punkte. Dem Balle des Senats wird ein kleiner intimer Hofball
folgen, um den boeuk zu feiern, und diesem mehre Hoffeste und Concerte.
Auch die Armee wird nicht vergessen bleiben, und man erzählt sich bereits, die
Kaiserin werde zur Revue an der Seite ihres Gemahls zu» Pferde erscheinen.
Wenn das keine bloße Erfindung müßiger Hofschwätzer ist, folgt die junge Mo¬
narchin Frankreichs keiner guten Eingebung, denn man würde ihr diese Phantasie
allgemein übel nehmen. Daß sie mit dem Großkreuze der Ehrenlegion geschmückt
erscheinen werde, kann ich noch weniger glauben; das sind eben Canard's, wie
man sie nnr in Paris zu fabriciren versteht.
Der Fasching geht ans die Neige, und ziemlich unzufrieden mit seinen sonst
so ergebenen Parisern. Die armen Pariser haben den öffentlichen Bällen und
ihren Concerten dies Jahr wenig Ehre angethan, vielleicht ist das schon eine
Wirkung des moralischen Beispiels unseres Staatsoberhauptes. In der großen
Gesellschaft gab es auch verhältnißmäßig wenig Tagesunterhaltuugeu, obgleich noch
immer genug, um den heiratsfähigen Töchtern der Finanz und der Aristokratie zur
Brautauöstellung zu dienen, und sie unter die Haube zu bringen.
Die Theater treten mit drei Neuigkeiten zugleich hervor — und zwar
a I'i'äresst; der jungen Kaiserin, welche Künste und Wissenschaften unterstützen
muß. Das Gymnase mit Angler's Philiberte, das Odeon mit Pvusard'S Lust-'
spiel und das Theatre frau^ais mit Madame Girardin's Lady Tartüffe, die
Fräulein Rache! zur Darstellerin bekommen hatte. Letzteres verspricht einen unge¬
wöhnlichen Erfolg, und doch sagt die eirrcwuiucz malieieuso, Frau Girardin
habe Unrecht gehabt, diesen Titel zu wählen, weil man leicht von einem lartulk«
ont-riäi I.aä^) sprechen könnte. Die Kaiserin wird wahrscheinlich der
ersten Vorstellung beiwohnen, da sie in den Salons der geistreichen Ver¬
fasserin der Pariser Gesellschaft zuerst ausgeführt worden. Daniel Stern's (Gräfin
d'Agonie) dritter und letzter Band der Geschichte der Februarrevolution verläßt
nächstens die Presse. Das Buch ist ein verdienstliches Werk, und jedenfalls das
beste geschichtliche, was bisher über diese Epoche geschrieben. Ich werde Ihnen
für die nächste Nummer ein Fragment daraus mittheilen,
— Der „Wohlbekannte" ist plötzlich wieder aus der musikalischen Schau¬
bühne aufgetreten und diesmal mit einem Journal: „Fliegende Blätter für
Musik, Wahrheit über Tonkunst und Tonkünstler". Erstes Heft. Leipzig, bei
Baumgärtner. Der Inhalt des Hefts giebt außer dem Programm folgende Artikel:
Technische Construction der Justrumcutalwcrke, die Marseillaise, Gespräch mit Carl M.
von Weber, GaSparo Spontini, Für die Opernouverturc, El» Vertheidiger Richard
Wagner's, Friedrich Wieck, W. von Lenz. Feuilleton: Liszt und Berlioz in Weimar,
Marco Spada, Märtyrer und Vergessene, Aus Paris. — Als des Wohlbekannten musi¬
kalische Briefe erschiene», protestirten diese Blätter gegen so manche der darin ausgestell¬
ten Ansichten. Es war nicht schwer, einzelne Widersprüche darin nachzuweisen; ver¬
derbenbringend schienen sogar so manche dem Dilettantismus zu Gefallen geschriebene
Behauptungen, die um so gefährlicher wirken mußten, als der in vielen anderen Fällen
gediegene Inhalt das Vertrauen zu dem Verfasser bei nicht recht sattelfeste» Leuten
zu einem felsenfesten, gemacht hatte. Einen Fehler hatten besonders diese Blätter hervor¬
gehoben: Die mangelhafte Beurtheilung Wagner's, mit dessen Werke», sowol i» Musik
als Literatur, sich der Verfasser damals noch nicht genügend vertraut gemacht hatte,
mit welchem Umstände überhaupt die falsche Beurtheilung anderer neuerer Componisten,
wie z. B. Schumann's, i» Z»Saume»sang zu bringe» ist.
Es ka»» jetzt kaum ein Zweifel über die Person des Autors mehr stattfinden, denn
die einzelne» Audcutuugc», die schon in den Briefen gegeben waren, gestalten sich
durch die klar entwickelte« und bekannte» Theorien dieser fliegenden Blätter zur Gewiß-
heit. Und wenn wir uns früher über einige Fehlgriffe des Autors wunderten, da sie nicht
in Einklang mit seiner eigenen Theorie zu bringen waren, so ergreifen wir in diesen
Blättern ebenso gern die Gelegenheit, seiner neuesten Schrift das Lob zu geben,
das ihr gebührt. Die meiste Beachtung verdient die Abhandlung über die tech¬
nische Constructio» der Justrumentalwcrke, von welcher in diesem Heft
erst vier Capitel in Briefform gegeben sind, und deren Fortsetzung in dem folgende»
Hefte bevorsteht. In dem ersten einleitenden Briefe bemüht sich der Verfasser, den Nach'
weis zu geben, daß das wirkliche Verständniß der Musik Niemandem eher gelingen l'sure,
bevor er nicht die Gesetze der technischen Construction der Musikwerke verstanden. Des¬
halb ist eine Kunstthätigkeit des Hörers nothwendig, die nicht ohne gewisse Vor-
kenntnisse ausgeübt werden kann; das beste Gehör und die tiefste ästhetische Bildung
reichten somit nicht aus, ächte Musikstücke gehörig zu erkennen, es gehöre dazu noth¬
wendig eine gewisse musikalische Hvrkunst. Die drei folgenden Briefe der Ab¬
handlung geben uns eine Analyse eines größeren Jnstrumcntalwcrks (Sinfonie von Havdn,
Finale der Sins. Ur. 2., Partitur bei Breitkopf und Härte!) und zwar in der
Art und Weise der thematischen Zergliederung, wie wir dieselbe ans des Verfassers
größeren theoretisch-musikalischen Werken kennen. Die Darstellungsweise ist klar und
für den einigermaßen kunstgebildctcu Dilettanten vollkommen verständlich. Vielleicht
geht die Analyse über das Maaß in's Detail, denn der hier gepredigte Schematismus
ist recht wohl geeignet zum Erkennen, aber er macht das künstlerische Schaffe» allzu
leicht zur leeren Form, und es ist nicht recht, einen solchen Ausgangspunkt der musika¬
lischen Production überhaupt anzunehmen. — Der Aufsatz über Spontini ist eine gute
Arbeit, er enthält viel JutcrcssaiiteS und Gntdurchdachtes über Spontini's Talent
im Allgemeinen, über seine Stellung zu den gleichzeitigen Komponisten und giebt eine
gute musikalische Beschreibung der Bestalln. — Unter den übrigen Aufsätzen zeichnet
sich noch aus eine Besprechung eines in Petersburg in zwei Bänden heraus¬
gegebenen französischen Buchs von W. v. Lenz- IZ«;ol.Jove!i> <;l hos ki'M8 stxlös.
^ngl^Lo« (Zlis sonslös ,Ik piunn, suiviös at I'vssgi ä'u-l OiMozuo Ol'iliMö, vlirono-
loMne et Mvecloticiue cle I'ovuvre cle Kvollioven. Ans der Borrede leuchtet ein,
daß der Verfasser den seltsamen Ansichten vieler Dilettanten huldigt, daß der Maugel
an tiefer musikalischer Kenntniß vorzugsweise zur Beurtheilung musikalischer Werke be¬
fähige. Die in dem Buche versprochene Analyse der Sonaten enthält nur eine»
Galimathias vo» allerhand schöngeistigen, nichtssagenden Reden. Z. B. diese Compo-
sition lM-dur, op. 7) ist bereits tausend Meilen weit von den drei ersten Sonaten entfernt.
Der Löwe rüttelt darin an den Stäbe» deö Käfigs, in welchem ihn die unbarmherzige
Schule noch eingeschlossen hält u. s. f. — Der Inhalt des zwei Bände umfassenden
Buchs ist folgender: Introäuotian: I)g ig voltiM trgnsevilä-mit als?imo (eine scharfe
Kritik der moderne» Clavierritter); Hayd», Mozart, Beethoven, Weber, Mendelö-
svh"; I«s trois si^It-s ä«z Lvi-tu.; Jos Longtvs et; I>igiw av w ein» «In son
?lini8l,o; Ij8<lui88ö moZinpIiilzuö.
Die Verlagshandlung von Schott in Mainz beginnt eine neue Ausgabe der So¬
naten von M. Clementi zu veröffentlichen; es sind davon jetzt erschienen: c>»!>l>e Lnnule»,
12. Jede ^ki Kr. Die Anzeige befindet sich in dem musikal. Monatsberichte
dieser Handlung. Die große Menge der übrigen darin angezeigten Werke läßt
sich in ihrem Werthe nicht gerade als hoch anschlagen, denn abgesehen von dem
Clavierausznge des ewigen Juden von Halevy und einigen modernen Virtuvscnstücken
von Vicuxtcmps und Beroe finden sich darin nur Rippcssachen der leichtesten Arbeit,
die kein anderes Musikalieugeschäst in gleicher Menge aus den Markt sendet.
In Paris ist eine neue Concert - Gesellschaft unter dem Namen: Locit^ü ^in-
>>Joule>»e von A. Favrcnc gegründet worden. Dieser Mann soll zu dem Unternehmen
berechtigt sein, denn abgesehen von seinem eigenen sittlichen und künstlerischen Kruste
ist seine Frau als Componistin großer Jnstrumcntalwcrke ein in ihrer Art einziges
Phänomen. In dem Hause dieses Paars herrscht ein wirklicher Cultus sür die Kunst;
die Fran componirt, unterrichtet am Conservatorinm und spielt Abends Bach und
Beethoven; der Mann ist Bibliophil und Kenner der alten musikalischen Litteratur. In
dem Programm der Concerte zeigt er Werke von Haydn, Mozart und den übrigen besten
deutschen Componisten, von Viotti, Kreutzer, Rode u. A. an. Man hofft auch Werke
seiner Frau zu höre».
In Berlin erregte Therese Milanollv großes Furore; sie hat schon vier Con¬
certe gegeben und noch in dem letzten war das Opernhaus bis aus deu letzten Platz
besetzt. Unter den von ihr vorgetragenen Compositionen gefiel besonders die Fantasie
5M' >'n-l!,'. Je 8mu<-it aus der Stumme von Portici, eine Composition von
Gaumaun. - Auch Carl Formes wird von der Berliner Kritik sehr günstig be¬
sprochen.
^ Gallait's berühmtes Bild: die Brüsseler Schützengilde,
den Grasen Horn und Egmont die letzte Ehre erweisend, ist gegenwärtig in Berlin
ausgestellt. Während es im Publicum große Sensation erregt, sind doch auch schon
darüber die schärfsten Urtheile der Kritik laut geworden.
Kaiser Napoleon läßt durch den Maler Favas in Genf den bekannten Schweizer-
General Dufour portraitire», der sich seiner besondern Zuneigung zu erfreuen hat.
Louis Philipp's große Gemäldegalerie wurde zwei Tage hindurch in Paris öffentlich
versteigert. Der Andrang war groß, es sollen jedoch viele werthvolle Gemälde ganz
unter dem Preise verkauft, und einige sogar Völlig ruinirt worden sein. — H. Robert's
Neapolitanern, aus den Ruinen ihres Hauses sitzend, wurde vom Prinzen d'Anmale
sür den hohen Preis von 26,000 Fr. angekauft.
Professor Magnus aus Berlin hat seine Kunstreise nach Spanien bereits angetreten.
Er hat die besten Empfehlungen ein den Hof von Madrid und wird die königl. Familie
Portraitiren.
Eine große Kunstausstellung im Haag wird von dortigen Blättern für die Zeit
vom 23. Mai bis A. Juli angekündigt. Zum Empfang der portofrei einzusendenden
Gemälde ist der Termin vom 1I>. bis !!0. April bestimmt.
Die grast. Kaunitz'sehe Bildergalerie zu Prag ist zum größten Leidwesen der
Künstler und Kunstfreunde dort öffentlich versteigert worden. Wie man hört, sind diese
Schätze in ganz Dentschland zersplittert. Man dachte zu spät daran, sie für die Stadt
als bleibendes Eigenthum zu erwerben.
Vierhundert Blätter zu der Cotta-Göschen'sehen billigen Ausgabe, der Klassiker
veranstaltet die Georg Wigand'sche Buchhandlung in Leipzig. Acht Blätter derselben
sind erschienen von H. Richter, Th. v. Oer und Plüddcmann, — zu Gedichten von
Goethe.
Unter den zahlreichen Erscheinungen der neuesten Kunstliteratur mache» wir auf¬
merksam auf das große, nun endlich vollendete Werk: „Neues allgemeines Künstler-
Lexikon von Dr. G. K, Nagler 1833--I8S2. 22 Bde. Fi. 78 oder Thlr. i9'/2 in
der E. A. Fleischmann'schen Buchhandlung. Ein Werk, das in keiner Bibliothek
fehlen sollte.
Die Räume der Bilder- und Kunstgalleric in Karlsruhe sollen in großartiger Weise
erweitert werden. Man spricht sogar von einer neuen Malerakademie, die der kunstsinnige
Prinz-Regent dort zu gründen die Absicht hat.
Bernhard Afingcr's vortreffliches Medaillen-Portrait von Kaulbach ist bereits voll¬
endet, und von Aug. Mertens in Berlin sowol in Bronze, als auch i» Elfenbeinmasse
ausgeführt.
Erzherzog Carl von Oestreich wird ans kais. Befehl ein Denkmal erhalte», das,
in einer kolossalen Reiterstatue aus Bronze bestehend, von dem Bildhauer Ferukorn
unter der Leitung des Grafen F. Thun, des Directors Rüben und des Prof. von
der Null ausgeführt werden soll.
Der Herzog von Dessau läßt seinem Großvater, Herzog Franz, in der Stadt
Dessau ein großes ehernes Standbild setzen. Der Künstler Fühmig in Wien ist mit
dem Entwürfe, der Professor Kiß in Berlin mit der Ausführung desselben beauftragt.
Der Wiener Bildhauer Gaffer hat den Entwurf zu der ihm übertragenen Statue
Wieland'S für Weimar dem Hofe eingesendet und dafür großes Lob eingeerntet.
Das den heldenmüthigen Vertheidigern von Temcswar vom Kaiser gewidmete,
ans dem Atelier des Bildhauers Kranner in Wien hervorgegangene Denkmal ist am
17. Januar mit großen militärischen Feierlichkeiten enthüllt worden. Aus einem vier¬
eckigen Sockel steht eine Rotunde, auf der sich die Bildsäule der Treue erhebt. Die
vier Seiten zieren die Figuren der Tapferkeit, Wachsamkeit, Aufopferung und des Ge¬
horsams, darunter ist die Revolution durch wilde Thiere versinnlicht. Die Inschrift
lautet: Franz Joseph I.; den heldenmüthigen Vertheidigern der Festung gewidmet. 18S2.
Bei der Versteigerung der Knnstsammlung des Herzogs von Orleans machte ein
großer Tafelaufsatz außerordentliches Aussehen. Der Werth desselben wurde zu 1
Million Fras. angeschlagen: Alle große Künstler Frankreichs haben daran gearbeitet,
und das Ganze wurde ausgeführt nach Zeichnungen von Bargcs.
Die Stadt Brüssel hat 800,000 Fras. bestimmt für die Erbauung eines Nus-
stellttngspalastcs der schönen Künste. Man beabsichtigt, darin Alles zu vereinigen, was
die Stadt an alten und neuen öffentlichen Kunstschätzen besitzt.
Das Monument, welches die Stadt Ostende in ihrem Dome der verstorbenen
Königin von Belgien errichten will, ist von dem Brüsseler Bildhauer Fraikin in voll¬
endet künstlerischer Weise ausgeführt.
Auf dem jährlich gefeierten Weihnachtsfeste des jungem Künstlervcreins in Berlin
ging es diesmal ganz besonders lebhaft zu, da das Fest durch das Beisein von Damen
verherrlicht wurde. El» Programm von Ludwig Löffler gezeichnet gab die Reihenfolge
der zu erwartenden Genüsse. Gegen 8 Uhr Abends öffnete sich der Vorhang der im
Saale erbauten Bühne, und eine Reihe von lebenden Bildern, aus dem Leben großer
Künstler, ging an den Zuschauern vorüber; von dem ernsten „Tintoretto an dem
Todtenbette seiner Tochter" bis zu dem heitern „Ostade." Sie waren größtentheils
eigens zu diesem Zwecke componirt von Wisniewsky, Löffler und Staffcck. Der dazu
gehörige Prolog, die Erklärung und Epilog waren von dem Dichter Rudolph Löwen¬
stein, der selbst Alles im schwarzen spanischen Costum vortrug und großes Lob erntete.
Daraus folgte eine cinactige Posse: „Mein Sohn der Maler" von dem Stücke schrei¬
benden Maler Mödingcr. Daß keine geübten Schauspieler das Stück vorführten, stei¬
gerte noch die Lachlust. Bei dem mitternächtigen Mahle fehlte es nicht an passenden
Scherzen. Ein Ball beschloß das Fest. Aber anch hier noch Ueberraschungen. Jeder
Tanz wurde durch ein entsprechendes lebensgroßes Transparent eingeführt, vortreffliche
Arbeiten von Staffcck, Hoscmann, Löffler, Wisniewsky und Hellwig. Erst gegen ü Uhr
wurde» die Räume leer, und die allgemeinste Anerkennung lohnte Ferdinand Weiß, der
unermüdlich die Sache geleitet.
An den Ausbau der fehlenden Giebel der großen Stcphanst'irche zu Wien dürfte
bald, wenigstens an die Ausführung eines derselben, geschritten werden. Der jüngere
östreichische Kunstverein, dem der König von Preußen zwei Cartons Kaulbach's (den
Thurmbau und die Sage) behuf der Ausstellung überließ, hat den von allen Seiten
gleichmäßig anerkannten Beschluß gefaßt, diese Cartons in einem eigenen Locale zum
Besten des Ausbaues der Giebel auszustellen. Uebrigens wird für die Herbeischaffung
eines Fonds für die andern Giebel von Seite des Gcmcinderathes eine Subscription
eröffnet werden. —
Der Catalog zu der am 31. Januar und folgende Tage im Weigel'schen Kunst-
auetionslocalc zu Leipzig stattfindenden Versteigerung der Friedländer'sehen Sammlung,
welcher die des verstorbenen Buchhändlers und Stadtrathcs G. Reimer in Berlin und die
des Malers und Dichters R. Ncinick in Dresden beigefügt ist, enthält 2090 Nummer».
Die Liebliugsmcistcr des verstorbenen Prof. Friedländer — Rafael und Overbeck -—
haben an ihm einen sehr eifrigen Sammler gehabt. Auch ist von Cornelius Vieles vor¬
handen, nebst einer Handzeichnung dieses Meisters. Daran schließt sich eine große
Sammlung voll Kupferstichen biblischen oder religiösen Inhalts u. s. w. — In dem
Rcinick'scheu sehr bedeutenden Nachlaß befindet sich eine chronologisch geordnete Samm¬
lung der Arbeiten von Josef Longhi, die sich durch ihren Reichthum, durch die Güte
und Verschiedenheit der Abdrücke und ihre vorzügliche Erhaltung auszeichnet. Über¬
haupt zeigt sich diese Sammlung als eine mit feinem Sinne und vieler Sorgfalt aus den
Hauptwerken deutscher, niederländischer und italienischer Meister zusammengetragene.
Auch die Reimer'sche Sammlung enthält viel Schönes und Beachtenswerthes. —
An der Atademi der bildenden Künste zu Wien liest in diesem Jahre der durch
seine akademische» Vorträge- über Tyroler Geschichte rühmlichst bekannte Or.R. Kuck.—
Für das k. k. Antiken-Ccibinct ist ein herrlicher Sarkophag aus EgYPtm angekommen.
Zu Berlin in der Königstadt: „Münchhausen",
Posse in drei Acte» M Musik von Theodor Hauptner Misch) mit großem Erfolg;
im Friedrich-Wilhelmstädt'schen Theater ein fünfactiges Lustspiel: „So rann man es weit
bringen", von Heinrich Schmidt, ebenfalls mit Erfolg. — In Hamburg: „Maria
Douglas", Drama von Gottschall. — Ein hinterlassenes Trauerspiel von Raupach:
„Der Dolch" soll zuerst in der Burg zu Wien, und ebendaselbst „Gabriele v. Percy"
von Mvscnthal gegeben werden. Das letzte Stück soll i» der Vcndäe im Jahre 1830
spielen.
In der Saison des Jahres 1862 sind in Italien sechzig neue Opern geschrieben
worden, von denen vier im Ausland, die übrigen im Lande selbst zur Aufführung
kamen. —
In der italienischen Oper wird einstudirt von Neuigkeiten zu Neapel im 'l'ostio
nuovo: „Paauita", von Valcnzo; „Violctta", von Mcrcandante und „vn merito iuor
<Il monts", von Colanca; in Padua: „Bianca die Belmonte", von Joseph Derafini;
in Palermo: „Litla", von Pacini. In Turin hat Meyerbeer's „Robert", freilich
sehr verstümmelt, Fiasco gemacht.
In Frankreich ist Moliöre's „Tartüffe" im ganzen Lande, wie die deutsche Theater-
zcitung mit großen Lettern berichtet, als unsittlich verboten worden. Dieser kleine
Zug des kaiserlichen Regiments ist charakteristischer, als irgend etwas Anderes, was wir
i» den letzten Monaten mit Verwunderung aus den Zeitungen erfahren haben. Dagegen
hat die Rachel eine Gagezulagc von 30,0l)t> Francs jährlich erhalten, und wie man
sagt, will der Kaiser diese Summe aus seiner Privatchatouillc verdoppeln. In den
Pariser Theatern erscheinen jetzt die Damen des ersten Ranges zuweilen mit Gold- und
Silbcrstaub gepudert, die Blondinen mit Silbcrftaub, die Brünetten mit Goldstaub.
Im Allgemeinen haben die Pariser Theater für das dortige Publicum etwas an In¬
teresse verloren, da sich jetzt das allcrmcrkwürdigstc Schauspiel aus den Straßen und in
den Palästen abspielt.
Die Nachricht von dem Tode Deinhardstcins, welche im letzten Hast nach den Zei¬
tungen mitgetheilt wurde, hat sich als unwahr erwiesen.
Li. cuxicl, oder voroUiy's poilune heißt ein neues Stück von Douglas
Jerrold, dem geistreichen Humoristen, Verfasser der Gardinenpredigten der Mrs.
Caudle und Hauptmitarbeiter am ?ni>oll, welches am 22. Jan. in London auf die
Bühne 'kam, und nicht geringe Erwartungen erregte.die es zum großen Theil befriedigte.
Das Stück hatte auch die seit Menschengedenken beispiellose Ehre gehabt, den Tag
vorher vor der Königin privatim mit großem Beifall in Windsor aufgeführt zu
werden, was natürlich die Neugier nicht wenig steigerte.
Die Zeit der Handlung fällt in die ersten Jahre der Regierung des ersten Han¬
noveraners in England, rüttelt in die Vorbereitungen zu einem jacobitischcn Aufstand, wo
die Minister Georg'S I. jeden Winkel nach Verschwörern durchstöbern. Der Eifrigste von
Allen ist Unterstaatssceretair Zcro (Null), der in Allem, was ihm unter die Augen
kommt, ein Complot wittert, und in einem auf die allergewöhnüchsten Lebensverhältnisse
bezüglichen Brief eine hochverräterische Korrespondenz ficht. Bei der Durchsicht einer
Masse Briefe, die ihn vom Postamt übergeben werden, findet er einen an eine gewisse
„Dorothy" wohnhaft in den LilacS. Ein gewöhnlicher Verstand würde glaube», der
Brief spreche nur von einer glücklichen Prophezeihung, das erfahrene Auge des Staats-
secretairs glaubt aber sogleich zu erkenne», daß darin Hochverrat!) verborgen ist, und er be¬
schließt daher, selbst die Lilacs zu besuche». Auf denselben Einfall kommt sei» Neffe
Sir Valentine May, obgleich aus einem ganz ander» Grunde. Der Name Dorothy,
gefällt ihm, und der romantische Name ihres Wohnorts „LilacS" scheint ihm ein Aben¬
teuer zu versprechen. Er macht sich auf den Weg, kommt in den Lilacs an, und findet,
daß es ein Privatgymuasium eines Dr. Butt ist Der pedantische Doctor und seine
Magd Juno amusiren ihn höchlichst, sein Herz wird aber ganz und gar gefangen von
Dorothy Butt, der reizende» Tochter des Schullehrers, und er beschließt, sich dem
Doctor als Unterlehrer a»z»biete». Der Doctor, welcher in dem fremden Reisenden,
der in Sammet einhergeht und einen feinen Degen trägt, eine» vornehmen Schüler zu
bekommen gehofft hat, wundert steh sehr, das, er mit der bescheidenen Stelle eines
UntcrlchrcrS, der für -10 Pfd. jährlich alle möglichen Wissenschaften sammt Violine
und Hicbfechtcn lehren soll, verlieh nehmen will; aber er beruhigt sich bei Valentine'S
Versicherung, daß seine schönen Kleider nicht bezahlt sind, und das Zureden seiner
Tochter, der der hübsche junge Mann gefällt, bestimmt ih» zuletzt, auf den Vorschlag
einzugehen. Bald wird das i» einer bloßen flüchtigen Laune begonnene Abenteuer
ernster, Valentine fühlt, daß er ohne Dorothy nicht glücklich sein kann, Dorothy er¬
widert seine Leidenschaft, und der Doctor freut sich schon im Voraus, welch' schönes.
Pärchen die Beiden sein werden. Aber Dorothy wird noch von einem Andern geliebt,
von ihrem Vetter, dem Fähnrich Bclleflcur, der Valentine alle möglichen Hindernisse in
den Weg legt. Valentine ist jedoch ein edler Gegner, er weiß, daß der Fähnrich sich
tief in die jacobitischcn Umtriebe eingelassen hat, und daß die Regierung bereits ein Auge
auf ihn hat, und bcschlieftt ihn zu retten. Als Werkzeug benutzt er eine alte Zigeu¬
nerin, die durch ihre Wahrsagungen ganz das Vertrauen Dorothy's und der Magd
gewonnen hat, und läßt von ihr durch dunkle Winke Dorothy auf ihres Vetters
Gefahr aufmerksam machen. Durch eine Reihe von Mißverständnissen kommt Valentine,
der einmal auf der Violine jakobitischc Melodien spielt, um Bclleflcur einen Wink zu
geben, daß er seine Beziehungen zu dem Prätendenten kenne, in Verdacht, erst el» han¬
noverischer Spion, und da»» el» jaeobitischer Verschwörer zu sein, u»d unterwirft dadurch
der armen Dorothy Herz, die in dem ersten Fall ihren Geliebten verabscheuen muß, und
in dem zweiten für sein Leben fürchtet, den schmerzlichsten Prüfungen. Zuletzt endet
aber Alles glücklich. Der jacobitische Fähnrich entkommt durch Valentine's u»d der
Zigeunerin Bemühungen, Valentine legt seine Maske ab, und erbittet sich von dem
erfreuten Vater Dorothy's Hand, gerade als Onkel Zcrv, der ebenfalls die LilacS
besucht hat, erscheint und seiner Bewunderung der Talente seines Neffen als Verschwörer
Ausdruck giebt. Der Anfang des Stückes ist sehr gut, aber im weiter» Verlauf der
Handlung erlahmt etwas daS dramatische Interesse, u»d der große Beifall, de» es sich
errang, galt hauptsächlich dem witzsprudclnden Dialog und der gute» Charakterzeichnung.
S e es sBorle su n g e u n ber Astr o n o »I i e, von George Biddcll
Airy. A. d. Engl. von !'r. H. S ab alt. Berlin, Franz Duncker, 18.'»2.— Eine sachkundige
Bearbeitung des berühmte» englischen Werkes. Die Ausgabe des Buches ist, den Ge¬
bildeten einfache Methoden anzugeben, nach denen die wichtigsten Erscheinungen der
Astronomie durch Selbststudium beobachtet und verstanden werden können; ferner einige
auf Sternwarten gebräuchliche Methoden der Beobachtung zu beschreibe», die Instrumente
darzustellen, die Arten der Beweise und den Grad ihrer Beweiskraft anzugeben, und den
Weg zu erklären, auf welchem die vorzüglichsten Größenverhältnisse der Sonnen- »ud
Sternensysteme gemessen werden. Sie sind berechnet für Solche, welche Lust und Aus¬
dauer haben, durch Selbstthätigkeit ihre Kenntnisse zu erweitern. Ausgeschlossen sind
alle höheren mathematischen Rechnungen. Von diesem Standpunkt aus sind die Vor¬
lesungen des Engländers als musterhaft zu loben. Er geht langsam und gründlich Schritt
vor Schritt weiter, verlangt von seinen Lesern viel Aufmerksamkeit und einige Ausdauer,
versteht dafür aber auch in bewunderungswürdiger Weise schwierige Operationen und
Untersuchungen deutlich und prägnant darzustellen. Möge das Buch auch in Deutsch¬
land die Anerkennung finden, welche es in so hohem Grade verdient. —
Beiträge zu einer Aesthetik der Pflanzenwelt, von F. Th. Bratranek.
Leipzig, Brockhaus. 1833. — Seit Humboldt's schone Abhandlungen über die Auf¬
fassung der Natur- und Landschaftsbilder durch die Menschen erschienen sind, hat man
von mehreren Seiten versucht, in der von ihm angeregten Weise die Einwirkungen des
Naturlebens auf die verschiedenen Richtungen der idealen Thätigkeit des Menschen klar
zu machen. Auch das vorliegende Buch stellt sich diese Aufgabe. Es behandelt die
Einflüsse, welche die Bilder und Formen der Pflanzenwelt auf die Religion der Volker,
ihre Märchen, Volkslieder und nationale Eigenthümlichkeiten gehabt haben, serner wie
die Veränderungen der Jahreszeiten, die Pflanzcnfarben, die Gestalten der Pflanzen,
ihre Gruppen, die Vcgetativnsvhysioguomie der Landschaft ans die Seelen der Volker
wirken, wie der Mensch die Pflanzenwelt zum Gegenstand idealer Thätigkeit macht,
spielend in der Pflanzensprache mit den Cvnvcnienzvslanzen, männlicher in der Verschönerung
der Landschaft durch Parkanlage». Das Buch ist mit unendlicher Liebe gemacht. Der
Verfasser hat über sein Thema viel gedacht und viel gelesen, wie die zahlreichen dichte¬
rischen Citate zeigen, welche er auch da verwendet, wo er nicht die Absicht hat, origi¬
nelle und charakteristische Anschauungen einzelner Dichter oder Volkspoesien zu erklären,
und es ist sehr viel schätzenswerthes Material in dem Werke, sein Beobachtetes und
gut Gesammeltes; doch ist es dem Verfasser nicht gelungen, dasselbe bequem zugäng¬
lich zu machen. Er ist sehr weitläufig in seiner Darstellung, oft unbequem in seinem
Styl, und trotz der großen Anzahl von Beobachtungen und Citaten sehlt zuweilen doch
die wissenschaftliche Gründlichkeit. So ist z. B. in der Abhandlung über das Volkslied
die Aufzählung der bei den Deutsche» vorkommenden Dichterpflanzen nichts weniger als
vollständig, u»d so genau seine Kenntniß der slavischen Lieder, Sagen und Volksge-
bräuche zu sein scheint, möchten wir doch bei diesen dieselbe Unvollständigkeit behaupten.
Herr Bratranek erwähnt auch die charakteristischen Unterschiede in der Ausfassung einzelner
Pflanzen bei Slaven und Deutschen, aber gerade dieser interessante Unterschied hätte
ein genaues Eingehen in die Einzelheiten wünschenswerth gemacht. Es wäre wol
möglich gewesen, aus kleinerem Raum eine ausführlichere Darstellung zu gebe». Als
ein Muster für solche Untersuchungen find Jacob Grimm's kleine Abhandlungen und
C'Uurse zu betrachten; i» seiner Mythologie, scweu Rechtsalterthümer», seiner kleinen
Abhandlung über Blumen als Franennameu u. s. w. Möge das Werk des Herrn
Bratranek in zahlreichen Lesern das Interesse an diesen höchst interessanten Untersuchungen
anregen und unsre Gelehrten veranlassen, die ergänzenden Detailforschungen anzustellen.
Eine Abhandlung, „die Betrachtung der Natur und ihrer Bildungen in der deutsche»
Poesie" wäre el»c Arbeit, des höchste» Dankes werth, vorausgesetzt, daß ihr Verfasser
verstände, aus genauen Untersuchungen schlagende Resultate von allgemeinem Interesse
zu ziehen. .....-
Ein dreibändiges Ncisenmk von nahe an -I000 Seiten über eine „Tour nach
London und Paris" schreiben ist heut zu Tage eine bedenkliche Sache. Die Damps-
verbindung hat uns beide Städte so nahe gerückt, die Zeitungen und die belletristische
Litteratur haben uns mit ihrem Leben und Treiben so bekannt gemacht, daß kaum Je¬
mand sich versucht suhlen möchte, nach einem solchen Werke zu greifen, der Name des
Verfassers müßte denn eine ungewöhnlich geistreiche Behandlung des Stoffes, eine tiefe
Kenntniß der politischen und socialen Zustände, Mittheilungen aus den interessantesten
Kreisen der Gesellschaft in Aussicht stellen. Ob ein Leser unter dieser Voraussetzung
an das Buch des Herrn Ghillany gegangen ist, lassen wir dahingestellt, jedenfalls
glauben wir, würde sich derselbe tief enttäuscht gefunden haben. Die sehr trockenen
und ausführlichen Beschreibungen, die uns selbst die Rheinreise nicht schenken — denn
der Verfasser beginnt mit unbarmherziger Gewissenhaftigkeit seinen Reisebericht mit dem
Nürnberger Bahnhof — gewinnen selbst nicht an Reiz durch den Gegensatz unend¬
licher Betrachtungen, die sich über alle möglichen politischen, socialen und nationalen
Fragen verbreiten, ohne ein anderes Interesse zu geben, als hie und da das Curiosum
eines gar zu naiven Einfalls; die Tendenz des Buches ist eine lichtsrenudlich-
demokratische, jedoch von sehr sauftmüthigcr Art, und oft von seltsamen Widersprüchen
ganz subjectiver, übrigens harmloser Anschauungen durchkreuzt. So sieht Herr Ghillany
in London an den Schanfcsteru höchst billige Kleidungsstücke, unter andern schwarze
Trauerkleider zu 2—i Shillingen. Diese Wohlfeilheit nothwendiger Lebensbedürfnisse
erregt in ihm das größte Mitleid mit wem? — mit den arbeitenden Klassen. Nur
durch die äußerste Herabdrückung des Arbeitslohnes könne das ermöglicht werden, meint
er. I» wie weit der Arbeitslohn überhaupt bei den Kosten der Fabrikation figurirt,
scheint ihm völlig unbekannt, und eben so, daß die Billigkeit des Capitals dabei eine
viel wichtigere Rolle einnimmt. Aus sehr theuren Preisen gcmeinütziger Gegenstände
würde der Herr Verfasser aus das höchste Wohlbefinden der Arbeiter schließen, die sich
dieselben doch von ihrem Lohne kaufen müssen. Seine Betrachtungen im Oberhause,
im Unterhause war Herr Ghillany nicht, sind höchst erbaulich; er hörte darin einen
Lord oder Herrn, wie er ihn anch nennt, Claricarde sprechen, nicht ahnend, wie es
scheint, daß derselbe der Marquis v. Clanricarde, Gcneralpostmcister und bekanntes
Mitglied des Wighministcrums war.
Die Geschichten und Charakterzüge aus der deutschen Kaiserzeit
von Klopp", eine Fortsetzung der „Geschichten ans der Völkerwanderung" desselben
Verfassers, behandeln den Zeitraum vom Abschluß des Vertrages von Verdun bis zum
Erlöschen des salischen Kaiserhauses, also fast 30«) Jahre. Ohne Anspruch auf ein
„wissenschaftlich vollständiges Geschichtswerk" zu machen, wie er selber sagt, hat der
Verfasser doch ein sehr lesens - und cmpsehlcnswcrthcs Buch geliefert. Dasselbe ist
geschöpft aus den ursprünglichen Quellen, deren schlichte Darstellung es glücklich wieder-
giebt, und mit vielen interessanten und charakteristische!! Züge» jener Zeiten aus¬
gestattet. Die Geschichte Heinrich's IV. ist mit besonderer Ausführlichkeit behandelt.
Corinna, oder Italien. Ans dem Französischen der Frau v. StaiN über
setzt und herausgegeben von Friedrich Schlegel. Dritter und vierter Theil. Miniatur¬
ausgabe. Berlin, F. A. Hnbig. — Das Erscheinen der beiden ersten Theile haben wir
bereits angezeigt; mit den beiden vorliegenden ist der Roman abgeschlossen. Die Vor¬
trefflichkeit des Werks und der Uebersetzung ist allgemein bekannt, die Ausgabe ist sehr
bequem und elegant ausgestattet.
Windstille, klare sonnige Tage und kalte, aber helle Wintermorgen mit ihrer
herrlichen, jeden Nerv kräftig spannenden Luft verschönern mir den Aufenthalt
und strafen den so schlechte» Ruf des hiesigen Klimas für jetzt auf freundliche
Weise Lügen. — S'ist was Heiteres, Herzhaftes in diesem Wetter, und so finde
ich auch das hiesige Lebe», das mich diesmal mehr als je anspricht, mit seinen
mannichfciltigen Richtungen, die fast alle denselben rauhen, herben, aber kernge¬
sunden Charakter an sich tragen, wie die Atmosphäre; schwächliche sentimentale
Tendenzen kommen da so wenig fort, als kränkliche, heldische Menschen. Das
Volksleben im nahen Gebirge ist noch naiv und malerisch, wie in wenigen Ge¬
genden Deutschlands, und hier genießt wenigstens Jedermann ohne zu kutisiren,
anstatt zu kritisiren ohne die Fähigkeit zu genießen. Außerdem ist München auch
die wohlfeilste deutsche Stadt, und die Künstler habe» hier, als eine große
Corporation fast uur unter sich lebend, keinerlei Repräsentation nöthig, so daß sie
viel wohlfeiler produciren können, als alle ihre Kollegen in den übrigen Metro-
Polen, die so oft einen Schein von Wohlhabeiihcit zu affectircu veranlaßt sind,
die mit ihren wirklichen Verhältnissen sich schlecht geung vereint. —
Es ist daher nicht ganz zufällig, wie mau manchmal annimmt, wenn hier
noch immer el» kräftigeres Kunstleben blüht, als überall sonst im Vaterland, ob-
wol der hohen Unterstützung, die es anfänglich hervorgerufen, schon länger engere
Grenzen gezogen werden mußten. — Zuerst freilich, wen» man etwa von der
Naturwüchsigst italienischer Städte herkommt, deren öffentliche Gebäude und
Denkmale sich an die bedeutendsten Periode» »ut Ereignisse einer dreitausendjäh-
ngen Geschichte knüpfen, und den Wellenschlag derselben aufs Schärfste und
Bestimmteste in ihren Formen ausprägen, daß schier jeder Stein ein selbstständiges
Interesse hat, da mich einem das neue München mit seinen eklektischen Versuchen
in der Architektur, die selten sehr gelungen genannt werden können, überflüßig
und unberechtigt vorkommen. So gestehe ich gern, daß z.B. die Ludwigsstraße für
mich zu den langweiligsten gehört, die unsre moderne Baukunst in's Leben rief.
Indeß waren bei dem traurigen Zustande der Architektur am Anfange dieses
Jahrhunderts viele mißglückte Experimente unvermeidlich, ehe man es wieder zu
guten Kunstwerken bringen, den Punkt erkennen konnte, wo etwa beim Alten
am Zweckmäßigsten anzuknüpfen sein möchte, um einen unsrer Technik, unserm
Material und unsren Bedürfnissen entsprechenden Styl zu finden, oder nur über¬
haupt erst Auge und Geschmack zu bilden, — die selbst zu Anfang des vorigen
Jahrhunderts noch viel besser beschaffe» waren, als bei Beginn des gegen¬
wärtigen. — ,
Man wird dieselbe Erfahrung, wie in München, so ziemlich in allen übrigen
Städten machen, weder Berlin noch Paris, am allerwenigste!! Wien, London
und Petersburg haben in dieser Beziehung etwas voraus, — wenn ich also die
hiesigen Productionen nicht mir Lob überschütte, so geschieht dies wenigstens gewiß
nicht aus zu großer Eingenommenheit für anderwärts Entstandenes. —
Einer der in die Angen springendsten Fehler dieser modernen Münchner Ge¬
bäude der ersten Epoche scheint mir ihre übermäßige Größe, die manchmal dem
Zweck geradezu widerspricht, wie z. B. bei der Bibliothek, eine übergroße
Menge Unterhaltungskosten verlangt, Heizung n. s. w. enorm verthenert, zunächst aber
verhinderte den Fanden jene Feinheit der Verhältnisse, jene energische Profilirung,
an der es ihnen vorzugsweise fehlt, den Reichthum von Verzierungen, die Liebe und
Sorgfalt in der Ausführung des künstlerischen Details zu geben, die für jedes
Bauwerk unerläßlich sind, wenn eS erwärmen soll, da alle Mittel durch die ungc-
gchencru Massen des Mauerwerks verschlungen wurden. Dieses System ver¬
hinderte auch überdies lange Zeit die Ausbildung geschickter Arbeiter, die man
erst jcjzt nach und nach mühsam bekommt. — Gewisse Architekten wollen ihre
Concurrenten wo möglich dnrch die großen Proportionen ihrer Arbeit todtschla-
gen, weil ihnen das unstreitig leichter wird, als sich dnrch Neuheit oder Voll¬
endung und Durchbildung hervorzuthun. — Als die gelungensten Gebäude der
erwähnten ersten Perioden in München wird man wol Klenze's Glyptothek und
Pinakothek ansehen müssen, besonders die erstere, die auch jei.;t uoch immer den
angenehmsten Eindruck macht, während bei der andern die augenscheinliche Be-
nichnng des Bramante öfters blos zur Magerkeit dieses Meisters führt, ohne
die Feinheit seiner Verhältnisse zu erreichen, — so wie anch bei ihr über Nanm-
verschwendnng zu klagen ist. Immerhin gehört sie doch in ihrer innern Einrich¬
tung zu den zweckmäßigsten Galerien, die ich kenne, und ist z. B. dem Schinkel-
schen Museum in Berlin in dieser Beziehung allerdings vorzuziehen, obwol sie
nirgends die echte Genialität des letztem Meisters und sein kühnes schwungvolles
Wesen an sich trägt, dessen glücklicher Inspiration man überall selbst bedeutende
Fehler verzeiht. Daß die Glyptothek im griechischen, die Pinakothek im neu-
römischen Style gebant ist, kann als ihrem Inhalt angemessen bezeichnet werden.
Ein weiterer Umstand, der ihnen vor vielen andern Münchner Gebäuden zu
Gunsten kommt, ist der, daß sie ihr Material offen zeigen, anstatt es durch einen
Kalküberwnrf zu entstellen, was als etwas Unechtes immer mangelhaft aussieht.—
Viel weniger glücklich sind der Königsbau und die Festsaalgcbäude desselben
Meisters; der erste eine Copie des Palazzo Pitti ohne deu geringsten ersichtlichen
Grund zur Nachahmung eines finstern, festungsartigcn Gebäudes, wie es in
einer so unruhigen Zeit, als die damalige Florcutinische allerdings motivirt war,
dabei von nichts weniger als einer glücklichen Construction im Innern; das zweite
in der Fac/.abe schwerfällig und plump statt großartig, ohne eine besonders neue
oder glückliche architektonische Idee, feine oder reizende Erfindung zu zeigen.
Man müßte denn die Loggia in der Mitte dafür nehmen wollen, die weder für
unsern Schnee, noch für unser Regenwetter wohl passen will. Das Innere ist
entsprechender, obwol man bei diesen Sälen anch weder an die des Dogenpalastes,
noch an die von Versailles z. B. denken darf, wenn sie einem noch irgend ge¬
fallen sollen. Gegen jene sehen sie aus wie grobe Fabrikarbeit. —
Den neurömische» Styl hatte man nnn satt, man sehnte sich nach Abwechse¬
lung, und Gärtner verfiel ans den byzantinischen, indem er die Hofcapelle und
die Ludwigskirche baute, erstere nach dem Muster der innern Markuskirche in
Venedig, deren Schönheit bekanntlich sogroß ist, daß anch eine matte Nachbil¬
dung nie ganz unglücklich werden kann; bei der zweiten, die mehr dem Meister
allein angehört, gelang dies um so besser, ihre seltene Langweiligkeit wird blos
von der Unzweckmäßigst übertroffen, in der sie ihren Hauptschatz, die herrlichen
Compositionen des Cornelius, mit möglichst unpassenden Verzierungen umgiebt und
möglichst unruhig beleuchtet.
Die übrige» zahlreichen Werke dieses Künstlers, alle im byzantinischen oder
florentinischen Styl, sind nicht viel glücklicher, selbst die Universität, die gewöhn¬
lich für die Krone seiner Leistungen ausgegeben wird, macht einen so mönchisch-
finstern einförmigen Eindruck, ist so ungeschlacht groß, daß durch einige
schöne Details, ein gutes Treppenhaus n. s. w, der Ton finsterer Langweiligkeit, der
auf diesem, wie ans allen andern seiner Gebäude lastet, nicht gehoben werden
kann. Diese ist am ärgsten bei dem Wittelsbacher Palast, angeblich im
Tudor-Gothischen Geschmack, wie Vielen aber scheint in gar keinem. Die von
ihm der b'Im'gntin^ ,>-oMA alvi I.un?.i genau nachgebildete Feldherreirhalle zeigt
am Auffallendsten, wohin man mit der unmäßigen Vergrößerung der Proportio¬
nen kommt, wenn man dies nicht schon von der römischen Peterskirche her wüßte.
Sie wurde etwa um die Hälfte großer gemacht als das Original und wurde
dadurch um die Hälfte schlechter, so daß die leere Halle jetzt aussieht, als könnte
und wollte die ganze dahinterliegende Stadt durch dies unschöne Thor, in dem
die zwei magern Feldherren Schildwache stehn, davon laufen. —
München war schon voll von Gebäuden, eine bedeutende Masse mit wahrhaft
edlem Enthusiasmus vom König gebotener Mittel verwendet und verschwendet,
ohne daß man Resultate erhalten hätte, die zur Größe der Mittel in irgend
einem Verhältnisse gestanden wären. — Man wußte uun erst, was nicht ging.
Mittlerweile war auch die von Ohlmüller angefangene gothische Kirche in derAu fertig
geworden, der mau die Gerechtigkeit widerfahren lassen muß, daß sie einen an¬
genehmen und fesselnden Eindruck macht, wenn es dem Schiff auch an Tiefe
gebricht und die Art, wie der Thurm sich an die Kirche schließt, schwerlich glücklich
genannt werden kann. Sie war aber doch ein entschiedener Fortschritt gegen das
Bisherige; ja in ihrer Anwendung der Glasmalerei sogar einer gegen die alte
Kunst; denn obwol mau in der Schönheit der Gesammr-Farbenwirkung noch
weit hinter der letztern zurückblieb, so übertraf man sie doch in der Feststellung
großer historischer Kompositionen, die hier, v. Fischer, Rüben u. A. gezeichnet
und in der königl. Anstalt gemalt, der letzter» einen wohlbegründeten Nus ver¬
schafften. —
Auf die Aukirche folgte die Vollendung der byzantinischen Basilica von Zieh«
land; in ihrer Art vielleicht das am meisten Harmonische und Bcfriedigcilde, was
die Münchner Architekten bisher geleistet, wenn man von der wenig bedeutenden
Fa<,',abe absieht. Diese beiden verhältnismäßig glücklichen Erfolge reizten zu vielen neuen
Versuchen, und führten auf die Vereinigung der gothischen mit den byzantinischen
Formen, wie man sie etwa im lombardischen und theilweise auch im florentini-
schen Styl wieder findet, besonders in der Backstein-Architektur, wie sie ersterer
verwendet, wovon man in Bologna, Florenz und Verona so herrliche Muster
trifft; man hat dadurch recht glückliche, verheißende Resultate auch in München
gewonnen, zu welchen ich speciell mehrere Privathäuser, den Augsburger Bahn¬
hof u. f. w. vou Mezgcr, Bnrklein u. A. in. rechne. — Es ist darin bereits dem ersten
Erfordernis) jedes Kunstwerks genügt — nicht langweilig zu sein, und man kann
muthig auf dem betretenen Wege zur Bildung eines modernen Baustyls vorwärts
gehen. -
Viele audere Unternehmungen des Königs Ludwig, die Walhalla, das AnS-
stellungsgebäude, das Siegeöthvr, die bayerische Nuhmöhallc u. s. w. sind seither auch
fertig geworden, machen aber das Mißliche und Unnatürliche in der Wahl beliebiger
fremder Formen bei Gebäuden von so bestimmter nationaler Bedeutung nur um
so auffälliger. Was soll uus eine Walhalla in Form eines griechischen Tempels?
Der bloße Name und die Sache stehen schon im schreienden Widerspruch. Oder
eine bayerische Rnhmcshalle nach Art derer von Pästum? Haben das bayerische
Bier und die Nosen von Pästum irgend etwas mit einander gemein? — Was
bei Glyptothek und Pinakothek zu rechtfertige» war, da sie einen entsprechenden
Inhalt verkünden, ist es hier gewiß am wenigste». Widerspricht nicht eine
Architektur, die aus reine Lüste und farbige Schatten berechnet ist, unserm Him¬
mel mit seinen Nebeln und Regen wie unserm Charakter anf's schreiendste? —
Nicht viel günstigere Ergebnisse hat bis jetzt die Bildhauerkunst in München
geliefert, was verschiedenen Umstünden zuzuschreiben ist, die ich hier nur der
Kürze nach berühren will. Lange Zeit knüpfte sich dieselbe fast ausschließlich und
sehr zu ihrem Nachtheil blos an die Werkstätte Schwauthaler's, eines obwol ur¬
sprünglich reich begabten, doch hauptsächlich einer liebenswürdigen Persönlichkeit
halber i» seinen Productionen sehr überschatten Künstlers. Zur Zeit als König
Ludwig seine großen Bauten anfing und alle Kräfte um sich versammelte, deren
er irgend habhaft werden konnte, oder die zu seiner Kenntniß zu gelangen wußten,
war Schwanthaler ein junger, bildschöner, von wilder Genialität anscheinend
sprudelnder Künstler, dessen Auffassung besonders mittelalterlicher Gegenstände so
viel Geist, die antiken Stoffe so viel Sinn für gutes Arrangement und zweck¬
mäßigen Styl verriethen, der mit solcher Raschheit den vielfachen Anforderungen
des hohen Gönners zu genügen wußte, daß man über dem Blendenden seiner
Erscheinung, das alle ihm irgendwie Nahetrctenden unwiderstehlich bezauberte, ganz
übersah, welcher Mangel der Vollendung der Form in seinen Arbeiten lag, ja
wie sie meist so flüchtig componirt waren, daß sie nie vollendet werden konnten,
ohne die Mängel ihrer Anlage immer schreiender zur Erscheinung zu bringen. —
Es fiel dies um so weniger aus, als der gleiche Fehler ja auch den damaligen
malerischen Productionen anklebte, die freilich dann oft durch andere Eigenschaften
für denselben entschädigten, die dem allgemein beliebten Bildhauer abgingen.
Die Beliebtheit führte eine Ueberhäufung Schwanthaler's mit Bestellungen
herbei. Diese schlug er niemals aus, ja im Gegentheil suchte er Aufträge mög¬
lichst an sich zu ziehen, so daß es unstreitig lange Jahre jedem jüngern Talente
geradezu unmöglich wurde, in München auszukommen; dabei wurde seine Gesund¬
heit immer schlechter, so daß er nur noch wenig selbst arbeiten, die Thätigkeit
seiner zahlreichen Gehilfen nur sehr unzulänglich controliren konnte. Die Folgen
dieses Verhältnisses liegen und stehen in ganz Deutschland zu Tage, den» da
der mit Recht als Autorität geltende König ihm so Vieles und Großes übertragen,
da er eine Werkstätte hatte, wie sie selbst Thorwaldsen nicht gleich groß besaß,
so strömten nun auch die Aufträge von außen zu, die gewöhnlich billiger über¬
nommen wurden, als alle andern concurrirenden Künstler bei ihrer größern Ge¬
wissenhaftigkeit in der Ausführung zu thun im Stande waren; der Ruhm des
Meisters verbreitete sich noch lange weiter und weiter, als das Urtheil der Künstler
und Kunstverständigen schon längst aufgehört hatte, ein günstiges zu sein. -
Und wirklich ist auch die Flüchtigkeit dieser Arbeiten so groß, nicht nur bei dem
mehr dekorativen Figuren, die er für hohe Stellen an vielen Gebänden gemacht,
sondern mich bei seine» zahlreichen Standbildern u. s. w., daß man manchmal ganz
erstaunt sein mußte, wie solche geschleuderte Fabrikarbeit jemals für große Kunst¬
werke ausgegeben werden konnte, zu einer Zeit, wo denn doch Thorwaldsen und
Rauch schon vollendete Meisterwerke schufen, wenn man nicht bei den meisten doch
jenen großen dekorativen Sinn, jene Fähigkeit leichter und glänzender Auffassung
bemerkte, der sie meist von weitem immer noch nach etwas Großem und Schönem
aussehen läßt, während man erst bei näherem Hinzutreten die obberührten Fehler be¬
merkt.— Wirklich verdienstvoll fand ich anch diesmal seine 1 i Standbilder bayerischer
Fürsten im Thrvnsaal der Residenz und einige andere Bearbeitungen mittelalter¬
licher Stoffe, — wie z. B. die czechischen Fürsten, die eine große Lebendigkeit
haben. Auch die kolossale Bavaria, obwohl etwas plump von Formen, zeugt
doch von Geist und Geschmack. Eigentlich Vollendetes aber, was man neben die
Werke eines Rauch, Rietschel, Hähnel u. A. oder gar gegen die mittelalterlichen
eines Ghiberti, Luca della Rvbbia u> A. halten konnte, hat er nie gemacht. Bernini,
mit dem er nicht im Styl, aber im Charakter des Producirens viel Aehnlichkeit
hat, ist ihm in technischer Meisterschaft unendlich überlegen, das Nackte an seineu
Figuren ist meist stumpf und todt, von Naturstudien, von Individualisirung kaum
eine Spur, wie denn auch der Gebrauch eines Modells im große» Schwanthaler-
schen Atelier fast unter die Seltenheiten gehörte, die Gewänder sind meist roh,
es fehlt selbst das Verdienst der Mamerirtheit, die doch scho» eine mehr oder
minder geistreiche Bewältigung des Stoffes voraussehe. — Begreiflich ist, daß
eine solche Schule keine sonderlich günstige» Wirkungen äußern konnte, um so
mehr als die Münchner Architekten von Anwendung der Sculptur zur Hebung
und Bildung der Architektur keineswegs einen sehr glücklichen Gebrauch zu machen
wußten, selten oder nie das Wirksamste, Figuren in freier Luft auf der Höhe
der Gebäude anbrachte», sondern meist mit Verdauung derselben in Nischen
oder an Portale als Thürsteher u. tgi. sich begnügten, damit die Monotonie
ihrer Linien ja nicht etwa unterbrochen werde. —
Man tan» daher auch de» Arbeite» von Halbig, Bnigger, Widema»» ». s. w.
die jetzt die Bildhauerei Münchens repräsentiren, noch immer mehr oder weniger
jene Gewöhnung eines nicht hinlänglich feinen Naturstudiums, einer zu wenig
sorgfältigen Durchführung ansehen, die das Kennzeichen der Schule ist; indessen
das Bestreben, sich von diese» Fehlern loszumachen, tritt doch unverkennbar hervor,
und dürfen in dieser Beziehung viele ihrer Arbeite» als el» unverkennbarer Fort¬
schritt gegen die Schwanthalcr'schen bezeichnet werden. Eine wohlthuende Er¬
scheinung »eben der Lieblosigkeit der letzteren machen anch die Arbeiten Eberhard's,
jenes herrlichen, zu wenig gewürdigten Künstlers, dem man Werke verdankt, die
an liebenswürdiger Naivetät, an seelenvoller Frömmigkeit des Ausdrucks, an Ernst
und Tiefe mit Luca della Robbia und Verochiv wetteifern können; ich kenne eine
kleine Madonna von ihn,, die zu dem Schönsten gehört, was mir in dieser Art
überhaupt vorkam. Nur die gränzenlose Bescheidenheit und Zurückhaltung dieses
Künstlers tragen die Schuld, wenn ihm bei seinen Lebzeiten niemals die Aner¬
kennung und Aufmunterung ward, die er in so hohem Grade, sowohl durch
seine Bildwerke, als seine zum Theil außerordentlich schöne» historisch-religiösen
Kompositionen verdiente. —
Bei dem Interesse, welches man gegenwärtig hier an Wagner's Tannhäuser
nimmt, oder, wie Einige wollen, bei der kunsthistorischen Bedeutung des Ereignisses,
daß diese Oper in kurzer Zeit nun bereits dreimal bei mäßig gefülltem Hause
aufgeführt worden ist, gestatten Sie wol auch einer Ansicht Gehör, die mit dem
in den Grenzboten gegebenen Bericht keineswegs ganz übereinstimmt und mit deu
in unserm Tagesblättern gepredigten Evangelien in starkem Widerspruch steht.
Verübeln Sie mir es nicht, wenn ich schon an dem Titel der Oper Anstoß
nehmen muß: „Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg." und? sind
denn das zwei Gegenstände, die nur so zufällig mit einander in Berührung
gebracht find? hat der Sängerkrieg nicht eine Bedeutung dadurch, daß er
der Wendepunkt in Tannhäuser's Geschick ist? Kurz, wir begegne» schon hier an
der Schwelle der Unklarheit, an der Wagner der Kritiker, der Dichter und
Musiker gleichmäßig leidet. Betrachten wir zuerst deu Dichter etwas näher.
Wollen Sie das Zugeständniß ausgesprochen haben, das ich bereitwillig
mache, sein Text sei um Vieles besser, als die gewöhnlichen Opcrntcxtc? Ich
meine, dieses würde Wagner selbst am Entschiedeudsten sich verbitte». Er giebt
seine Oper»dichtnngen für Erzeugnisse eines selbstständig schaffende» Dichtergeistes,
die zwar so geartet sind, daß sie erst in der organischen Durchdringung mit der
Musik ihre Vollendung erreichen, allein um dazu fähig zu sei», an und für sich
poetisch aufgefaßt, motivirt und durchgebildet sein müssen. Ist es nun Wagner
gelungen, die Sage vom Tannhäuser so zu gestalte», daß die tragische Idee,
welche er i» dieselbe hineingelegt oder a»S derselbe» herausgezogen hat, als eine
Poetisch wahre sich uns klar ausgeprägt darstellt, daß die handelnden Personen, die
Träger dieser, in der durch sie bedingte» Charakteristik als lebensvolle In¬
dividuen, die e»tscheide»de» Momente der Handlung als mit einer innern Noth¬
wendigkeit ans jenen Voransschuugeu hervorgehend erscheinen? Wir müssen dies
aufs Bestimmteste verneinen.
Die Frage, in deren Beantwortung sich Alles concentrirt, ist die, wie weit
dem Dichter die Auffassung und Gestaltung des Tannhäusers selbst gelungen sei.
Ein überreich begabter Dichter, stolz im Gefühle seiner Kraft bis zur Ueberhe-
bung und eben seiner poetischen Begabung wegen sinnlich stark erregbar ergiebt
sich dem sinnlichen Genuß und wird von der dämonisch fesselnden Gewalt dessel¬
ben dergestalt bestrickt, daß er vergebens dieselbe zu bekämpfen sucht. Zwar
rafft er sich auf im Gefühl sittlicher Kraft und religiösen Glaubens, die beseligende
Zuversicht einer reinen Liebe giebt ihm Muth, tiefe Neue ergreift ihn —umsonst;
in jedem entscheidenden Moment erfaßt ihn der unheimliche Dämon, er stirbt
endlich ohne die Gewißheit der Entführung. Gewiß liegen hierin die Elemente
einer poetischen, wahrhaft tragischen Darstellung, allein Wagner hat in seinem
Tannhäuser uur das Moment der Sinnlichkeit entschieden charakterisirt, die dem¬
selben gegenüberstehenden der sittlichen Natur siud ungewiß und schwankend be¬
handelt, daher ist Tannhäuser zu keiner lebendigen Individualität geworden, der
Kampf der widerstrebenden Elemente, ans dem das tragische Interesse beruht,
kann sich nicht entwickeln und dem gemäß eine Lösung und Sühnung anch nicht
eintreten.
Wir finden Tannhäuser im Reich der Venus, welche diesen dämonisch fesseln¬
den Reiz alles rein Sinnlichen — natürlich nicht im gemeinen Sinn aufgefaßt —
repräsentirt. Aber schon hat ihn Ueberdruß am Einerlei gefaßt, das in
der menschlichen Natur begründete Bedürfniß nach Abwechselung, dem dann
neben der Freude auch das Leiden zum Genuß wird, welchem als etwas Ver¬
wandtes dann die Sehnsucht nach Freiheit, die hier keineswegs als eine sittliche
erscheint, zugeordnet wird — diese Motive treiben ihn von der Venus wieder
in die Menschenwelt. Daß er schließlich der Frau Venus zuruft: „Mein Heil
ruht in Maria!" ist durch die bis dahin gegebene Charakteristik Tannhäuser's
eben so wenig psychologisch motivirt, als es später gerechtfertigt wird, und daß
ihn dieser Ausruf von ihr befreit, ist ein theatralischer Effect, aber kein drama¬
tischer. Daß nicht ein religiöser Glaube, der tief in ihm geschlummert und nun
neu erwacht sei, den innern Wendepunkt bilde, zeigt sich im Folgenden, wo freilich
anfangs der Gesang der nach Rom wallfahrtenden Pilger die religiöse Stimmung in
ihm wach erhält; allein sobald die ritterlichen Sänger erscheinen und ihn zum Bleiben
auffordern, tritt ein ganz anderes Motiv entscheidend ein, das aber vom Dichter
eben so willkürlich eingeführt und eben so unsicher behandelt ist, als das erste.
Alle seine Bußgedankcn sind verschwunden, als ihm Wolfram von Eschenbach
mittheilt, daß Elisabeth ihm in jungfräulicher Liebe zugethan sei, er bleibt, naht
sich ihr, empfängt mit Entzücken das Geständnis! ihrer Neigung und fühlt sich
in dieser reinen Liebe beseligt. Tannhäuser's Liebe zu Elisabeth fällt hier ganz
umnotivirt hinein; nach der Weise, wie schon ihr Name ans ihn wirkt, muß
man doch annehmen, daß sie ihn nicht jetzt erst überkommt, und der Dichter
hat uicht uur ein psychologisches Moment außer Acht gelassen, das, richtig benutzt,
den Abfall Tannhäuser's zu Frau Venus motivirt hätte, sondern es ist geradezu
unnatürlich, daß er, wahrend er sich im Venusberg nach allen möglichen Dingen
sehnt, an Elisabeth allein nicht denkt. Indessen ist in der reinigenden Kraft einer
wahren Liebe, in der Hingebung einer reinen weiblichen Seele min ein neues
Motiv gegeben, deu Zauber des rein sinnlich fesselnden VennSbergeS zu bannen;
die Aufgabe des Dichters ist es, dasselbe mit dem schon eingeführten religiösen
in Einklang zu bringen, beide zu erhöhter Wirksamkeit zu verschmelzen und als
aus einem und demselben tiefen Quell herstammend, in ihrer wesentlichen Einheit
darzustellen. Statt dessen aber kommt keins derselben zu vollkommen klarer Ent¬
wickelung, und schließlich bleiben beide unwirksam.
Der Kampf der Sänger, bei welchem Tannhäuser durch el» Lied zum
Preis der wahren Liebe Elisabeth gewinnen soll, wird sein Verderben. Denn
kaum ist diese Saite berührt, so faßt ihn der dämonische Zauber, der ihn die
Liebe nnr als Genuß, als sinnlichen Genuß begreifen läßt, und die Erinnerung
an Fran Venus bemächtigt sich seiner mit unwiderstehlicher Gewalt. Hierin liegt
unverkennbar eine psychologische Wahrheit, ein tragisches Motiv, das aber den
Untergang Tannhäuser's mit Nothwendigkeit bedingt. Wenn er, nachdem er
sich aus den Armen der Frau Venus losgerissen hat durch seinen Glaube» an
Maria, wie wir Wagner glauben sollen, nachdem er in Elisabeth das Wesen der
wahre» und reinen Liebe erkannt hüt, doch in seinem Jniierste» nnr von der
Frau Venus beherrscht wird, so ist eben der Kampf der i» ihm streitenden Ele¬
mente seiner sinnlichen und sittlichen Natur damit entschiede». Daß in Wahrheit
dieser Kampf i» jedem Menschen sich stets wieder erneuert und durchzuringen ist,
gilt natürlich nicht für den dramatischen Dichter, dessen Aufgabe es ist, diesen
Kampf zu einem entscheidenden Moment zu concentriren. Nach der antiken Auf-
fassung mußte Tannhäuser uach dieser sittlichen Niederlage anch physisch unter¬
gehen, uach mittelalterlicher brennt ewig in der Hölle, wer im Venusberg ge¬
weilt hat; wem »ach jetziger Auffassungsweise Beides zu herbe ist, der muß der
sittliche» Kraft im Menschen freien Spielraum geben zum Kämpfen und Siegen.
Was Wagner weiter für Tannhäuser's Sühnung geschehen läßt, ist rein äußerlich
und ohne psychologische Motivirung, auch stehen sich dabei beide von ihm ange¬
schlagenen Motive im Wege. Er zieht halb auf Befehl, halb aus eigenem An¬
trieb mit den Pilgern »ach Rom, um vom Papst Absolution zu erlange». Und
nun wird es erst recht klar, wie übel berechnet es war, dieses Motiv schon früher
zu benutzen, dann fallen zu lassen, wie ein ungeschickter Arzt nach einem neue»
Mittel greift, ehe das erste wirken konnte, und später ganz in derselbe» Weise
wieder aufzunehmen. Daß Tannhäuser von Rom »»verrichteter Sache heimkehrt,
weiß man vorher; aus der Beschreibung, die er Wolfram von seiner Pilgerfahrt
macht, geht klar hervor, daß seine fanatische Neue nur eine andere Aeußerung
derselben sinnlichen Natur ist, wie seine Liebe. Als ihm der Papst keine Ab¬
solution giebt, ist es auch mit seiner Reue vorbei, und er weiß anch jetzt keine
andere Zuflucht, als zur Frau Venus, — und dahin gehört er auch. Daß nach
diesem aber doch noch die Liebe sühnend eintreten soll, ist gänzlich vergriffen.
Elisabeth, bei der von Liebe auch nicht mehr die Rede sein kann, betet, leidet
und stirbt seinetwegen; allein daß dieser Tod eine sühnende Kraft habe, nachdem
die Liebe der Lebenden sie nicht bewähren konnte, das hat eben so wenig poetische
Wahrheit, als die nachträgliche Erzählung von dem Wunder, an das der Papst
die Möglichkeit der Erlösung gebunden hatte. Ohne Zweifel kann der Dichter
seinem Publicum zumuthen, sich in die Anschauungsweise einer vergangenen
Zeit oder eines fremden Volkes zu versetzen, wenn er dieselbe rein und scharf
darzustellen vermag, allein ein Maun, der so entschieden der Gegenwart an¬
gehören will, wie Wagner, wird selbst nicht in Abrede stellen, daß, um eine Sage
poetisch neu zu beleben und zu gestalten, der Dichter ihre Motivirung durchaus
nur auf die allgemein giltigen Gesetzen der Kunst begründen muß und nicht im
Nothfall anch das benutzen darf, was nur einer vergangenen Zeit angehört und
keine allgemeine poetische Wahrheit hat.
Wenn es Wagner nicht gelungen ist, die tragische Idee seines Stoffes klar
aufzufassen und in ihren Motiven durchzubilden, so kann nothwendig auch weder
die Entwickelung der Handlung, noch die Charakteristik der Personen gerechten
Anforderungen entsprechen. Vom Tannhäuser leuchtet das schon aus dem Obigen
ein, es tritt aber bei seiner Charakteristik noch ein anderer Mangel hervor, der
sein Verhältniß zu den beiden weiblichen Wesen ganz im Unklaren läßt. Als der
begeisterte Dichter der Liebe soll er uns erscheinen, denn durch seine Liebesgedichte
hat er sich die Gunst der Venus und die Liebe der Elisabeth gewonnen. Wie
ist das möglich? fragt man erstaunt. Wie konnte der Ausdruck sinnlicher Gluth
das Herz der keuschen Jungfrau fesseln, wie konnten reine Minnelieder ihm die Huld
der Venus zuwenden? Wir sollen die Ursache glauben, weil wir die Wirkung auf
der Bühne sehen, allein zur poetischen Rechtfertigung genügt dieser Augenschein denn
doch noch uicht, und wenn das Dilemma etwa dadurch gelöst sein soll, daß Tannhäuser,
indem er vor Frau Venus die Liebe besingt, ihr selbst absagt, vor Elisabeth aber
Frau Venus preist, so genügt dies ganz und gar nicht. Abgesehen davon, daß
Wagner kein Dichter ist, der einen Dichter in seiner siegreichen Macht über alle
Herzen darstellen könnte, so tritt anch hier der bereits bemerkte Mangel hervor.
Es ist ganz unbegreiflich, wie der Tannhäuser, den uns Wagner zeigt, ein über¬
müthiger und glühend sinnlicher Maun, die Liebe der Elisabeth gewinnen konnte,
und die nothwendige Folge ist, daß auch die Charakteristik dieser unbedeutend
wird, da die wesentliche Grundbedingung ihrer poetischen Existenz, ihre Liebe zu
Tannhäuser, nicht klar gemacht ist.
Ju das Verhältniß der Frau Venus zu Tannhäuser hat nun Wagner ein eignes
Motiv hineingebracht, das man aber nicht glücklich nennen kann. Ursprünglich ist sie
nichts, als der zum Dämon verkörperte sinnliche Liebesreiz in seiner den Menschen
verderbenden Natur aufgefaßt, die Motive, welche ihr als handelnden Person geliehen
werden, können nur ans diesem ihrem Wesen abgeleitet werden, Alles, was diesem
fremd ist, wirkt störend. Daß sie für Tannhäuser eine persönliche Liebe empfindet,
daß diese auf seine Dichtergaben gegründet ist, daß sie aus Zorn und Trauer
über sein Weggehen dem Menschengeschlecht Haß schwört, das Alles ist gegen das
Wesen der Frau Venus, welche die ewig gleiche, stets reizende und bezaubernde ist,
die nnr verführt, um zu verführen, — wie es auch dem Teufel nur ums Holen zu
thun ist, ohne daß er für das Individuum ein besonderes Interesse hätte. Wagner
kam es auf einen theatralisch wirksamen Gegensatz, auf eine leidenschaftliche
Scene an; diesen ist die wahrhaft poetische Auffassung, wie sie in der Sage liegt,
geopfert.
Unter den übrigen Personen kann höchstens bei Wolfram von Eschenbach
von einer individuellen Charakteristik die Rede sein, und auch bei diesem kaum.
Daß er als tugendsamer, resignirender Liebhaber, Freund und Dichter das Gegen¬
stück zu Tannhäuser bilden soll, das sieht man freilich, aber er ist viel zu bescheiden,
um recht in die Handlung einzugreifen, und seine lobenswerthen Eigenschaften sind
so passiver Natur, daß er es zu einer lebendigen Gestalt, die einiges Interesse dar¬
bieten könnte, uicht bringt. Eine interessante Aufgabe individueller Charakteristik
bietet allerdings der Wettstreit der Sänger, wenn jeder derselben als ein Dichter
von eigenthümlicher Begabung und Richtung, die im Geist und in der Form der
von jedem vorgetragenen Lieder scharf ausgeprägt hervortreten müßte, geschildert
werden sollte — aber freilich diese Aufgabe zu lösen, erforderte einen wahrhaften
Dichter. Und daß Wagner dieses nicht ist, das bedarf wohl keines weiteren Nach¬
weises mehr, der aus der nicht selten ungeschickten, noch öfter trivialen Behand¬
lung des Einzelnen leicht, aber für Niemand unterhaltend zu geben wäre.
Nicht selten hat schon das Talent des Komponisten die Schwächen seines Textes
zu verdecken gewußt, und dnrch die musikalische Behandlung die Lücken desselben
ergänzt. Wo Dichter und Componist in einer Person vereinigt sind, ist das nicht
zu erwarte», sondern daß die Schwächen der dichterischen Conception sich in der
musikalischen wiederfinden werden. Es ist überhaupt eine mißliche Sache, wenn der
Componist sich seinen Text selbst macht. Denn es ist auf keine Weise zu läugnen,
daß dnrch die poetische Gestaltung und detaillirte Durchbildung des Stoffes die
Productionskraft des Musikers bereits im Voraus geschwächt sei, er tritt nicht
mehr frisch einem ihm fremden Object gegenüber, das er aus sich heraus zu durch-
dringen und so neu zu gestalten hat, sondern er hat einen guten, vielleicht
den besten Theil seiner Kraft schon an dasselbe gesetzt, seine musikalische Begeisterung
für den Stoff ist nur der zweite Aufguß seiner poetischen. Je mehr diese eine
wahre und innige gewesen ist, um so mehr wird sie das musikalische Element in
den Hintergrund drängen, und es ist auch ans diesem Grunde begreiflich, daß
Wagner principiell der Musik eine secundäre Stellung anweist, wie z. B. Göthe
die Compositionen Zelter's allen übrigen vorzog, gewiß, weil sie zu seinen Ge¬
dichten wenig Musik als möglich hinzubrachten. Es nützt nichts, an den Künst-
ler der Ankunft das Postulat einer Universalität genialer Schöpfungskraft zu stelle»,
welche die Beschränktheit der menschlichen Natur überhaupt nicht zuläßt. Denn man
verwechsle doch um Gotteswillen die schaffende Kraft des Genies, welche allein
wahrhafte Kunstwerke hervorzubringen im Stande ist, nicht mit Bildung, die aller¬
dings einer an Universalität gränzenden Vielseitigkeit fähig ist. In einer Zeit,
wie die unsrige, deren geistige Atmosphäre mit Bildungselementen allerArt ge¬
sättigt ist, kann auch ein mäßiges Talent, wenn es mit einiger Beweglichkeit und
Geschicklichkeit verbunden ist, sich leicht so viel ästhetische Bildung erwerben, daß es
einem Stoffe poetische Motive ansieht und in der gebildeten Sprache, „die für
ihn dichtet und denkt" ihn in leidlichen Versen behandelt. Auch die Musik ist
durch die Leistungen der großen Meister, welche sie mit staunenswerther Energie
und Fülle nach allen Seiten geistig und technisch ausgebildet haben, in einem Grade
Eigenthum der gebildeten Welt geworden, daß die Fähigkeit, seiner Empfindung
einen musikalischen Ausdruck zu geben und technische Effecte hervorzubringen, nicht
viel weniger verbreitet ist als die Neigung, Musik zu hören und zu kritisiren.
Mit einigen der bildenden Künste ist es ziemlich ebenso weit gekommen, und mau
betrachte nur die gebildeten Einwohner der größeren Städte, worin setzen sie ihre
Bildung anders als in die universelle Fähigkeit, Poesie, Musik und bildende Kunst
zu genießen, zu verstehen, und wenigstens in einigen auch selbst zu produciren?
Dieser Dilettantismus, das Product der Bildung, ist in seinem Grund und We¬
sen von der Kunst verschiede», die nur aus dem schöpferischen Genie hervorgeht,
und wie beachtenswerth auch die quantitativen Unterschiede dilettantischer Werke
unter sich sein mögen, die wesentliche Verschiedenheit vom wahren Kunstwerk bleibt
unverrückt.
Wagner mit seinem vielseitigen Talent für Poesie, Musik, bildende Kunst, soweit
sie bei dem scenischen Arrangement in Betracht kommt, und dialektisirende Kritik
ist ein Repräsentant des auf unserer heutigen Bildung ruhenden Dilettantismus,
wenn man diesen Ausdruck in dem oben angedeuteten allgemeineren Sinne nimmt.
Daß er in diese universelle Bildung das wahre Wesen der Kunst setzt, ist die na¬
türliche Folge seiner Meinung, daß er ein großer Künstler sei; da es zur Zeit
noch durch nichts geboten ist, dieses Postulat zuzugeben, so wird man vorläufig
auch nicht genöthigt sein, den Begriff der Kunst von ihm zu abstrahiren.
Wagner stellt an die Opernmusik die erste Forderung, daß sie dramatisch d. h.
in jedem Momente charakteristisch sei. So allgemein ist der Satz richtig, es
kommt Alles darauf an, wie er künstlerisch ausgeführt und lebendig geworden ist.
Nun ist bekannt genug, wie häufig in den meisten Opern diese Forderung außer
Augen gesetzt ist, und mau begreift, wie Jemand, der gegen diesen Mißbrauch eifert,
in seinem Eifer zu weit geht und auch das Erlaubte, selbst das Treffliche hinausweist.
Und in der That ist tels sehr bedenklich, das! Wagner gar keine andere Forderung
stellt und ganz zu vergessen scheint, daß dramatische Musik doch zuerst und vor allen
Musik ist und bleibt, daß die Musik wie jede Kunst ihre eigenen und innersten
Gesetze nud Bedingungen hat, die sie, wo sie mit andern in Verbindung tritt,
also auch im dramatischen Interesse wohl modificiren, aber nie aufgeben kann, weil
auf ihnen ihre Existenz beruht. Von einer Ausgleichung verschiedener Interessen
und Einflüsse hören wir aber nichts, sondern es heißt nur: dramatisch! Und wie
gewöhnlich verfehlt das Stich- und Schlagwort seine Wirkung nicht, und das
8frönen pecus haudthiert damit fort. Indessen da wir uns hier an den Tann-
häuser halten, in dem die Konsequenzen dieser Forderung uoch nicht vollständig
bis ins Absurde getrieben sind, so wollen wir die Principienfrage auf sich beru¬
hen lassen.
Im Tannhäuser sind freilich keine Arien, Duetts u. s. w. ganz in der sonst
üblichen Form, allein es finden sich doch Musikstücke, ein- und mehrstimmige, denen
eine bleibende Stimmung zu Grunde liegt, und die eine in Melodie und Rhythmus
bestimmt ausgeprägte und in sich abgeschlossene Form anstreben. In diesen Sätzen,
die der Dichter hervorgehoben hat, müßte also auch der Musiker sich hervorragend
bewähren. Allein es zeigt sich in ihnen, daß es Wagner an wahrer Erfindungs¬
kraft fehlt, weil ihm die tiefe, ursprünglich musikalische Empfindung mangelt; seine
musikalische Auffassung ist nicht die primitive, sondern durch etwas Anderes ver¬
mittelt, und zwar ist dies nicht nur die poetische Anregung, vielmehr häufiger noch
eine von außen eindringende Reflexion. Daher schafft er nur im Einzelnen; hier
hat er überraschende, treffende Einfälle, allein wo ein Gedanke erfordert wird,
tief und bedeutend genug, um aus ihm ein Ganzes zu gestalten, da fehlt es.
Er versteht, wie die meisten heutigen Komponisten, vorzubereiten, zu spannen,
weil dies durch formale Geschicklichkeit zu erreichen ist, allein anstatt die erregten
Erwartungen in der That durch große Ideen zu befriedigen, müssen musikalische
Redensarten herhalten, die freilich einem ungebildeten Publicum gerade wie in der
Poesie oft noch besser als Gedanken gefallen. Nicht einmal das Element der
Leidenschaft drückt er mit nachhaltiger Kraft und Energie aus," weil es ihm auch
hier an Tiefe fehlt; statt Feuer und Wärme macht sich vielmehr ein aufgeregtes,
bis zur Fieberhaftigkeit exaltirtes Wesen geltend, das in entsprechender Weise
wirkt: seine Musik irritirt, aber sie ergreift nicht. In der äußern Form längerer
Sätze, im Zuschnitt der Melodie, in der Behandlung des Rhythmus, namentlich
in gewissen Mitteln, ihm eine frischere Hebung zu geben — wobei die Sänger
eine elegant-heroische Positur anzunehmen pflegen — ist der Einfluß Meyerbeer's
unverkennbar, mitunter wird man sogar an italienische Manier erinnert.
Indessen den Hauptwerth legt Wagner auf die specifisch-dramatische Musik,
die mit ihrer Charakteristik den Dialog Wort für Wort und die Handlung Schritt
für Schritt begleitet. Den Impuls gab hier wol Weber, der in seiner Euryanthe
das Beispiel dieser überladenen Detailmalerei gab. Den großen Vorzug Weber's,
der in glücklichen Momenten durch wahre Begeisterung und frische Erfindung
hinzureißen vermochte, vermissen wir bei Wagner, aber seine Fehler sind sorg¬
fältig cultivirt. Dahin rechnen wir vor Allem die peinliche, übertriebene Charakteri-
sirung jedes einzelnen Zuges, die keinen Eindruck des Ganzen aufkommen läßt
und den Zuhörer, indem fortwährend an ihm gezerrt wird, Anfangs spannt, aber
bald ermüdet. Man versuche diese Art der Charakteristik auf ein anderes Gebiet
zu übertragen; wir wollen von den bildenden Künsten nicht reden, allein man denke
sich eine Declamation in diesem, Sinne ausgeführt — kein Mensch würde das
aushalte». In der Musik aber, wo man noch verhältnißmäßig am Wenigsten Sinn
für das eigentlich Künstlerische findet, ist diese Weise nicht uur für den Komponisten
bequem, der mit lauter einzelnen Einfällen ausreicht, und nnr zu sorgen hat, wie
er deu letzten Effect dnrch den nächsten überbiete, sondern auch für das Publicum.
Die schwierige Aufgabe, ein Ganzes als solches aufzufassen und vom Mittelpunkte
desselben ans die einzelnen Theile zu begreifen, bleibt ihm erspart; eben so wenig
wird eine fortdauernde, gleichmäßig angestrengte Aufmerksamkeit erfordert, deun da
kein organischer Zusammenhang da ist, kann man ihn anch nicht verlieren, das
Einzelne steht für sich, und der Komponist hat dasür gesorgt, daß es als solches
deutlich sei. Ein Hauptmittel dafür ist das Wiederholen, Recapituliren und An¬
denken früherer Motive, wodurch auf das Publicum um so sicherer gewirkt wird,
als es nach Allem begierig greift, das beim Anhören der Musik seineu Verstand
in Anspruch nimmt und ihm die Beruhigung giebt, daß es die Musik verstehe,
deun darauf, und nicht auf das künstlerische Genießen kommt es ja heutzutage
den Meisten an. Uebrigens ist diese Art der Charakteristik im Tannhäuser uoch
nicht zur völligen Alleinherrschaft gelangt, und nur mitunter wird es dem auf¬
merksamen Zuhörer etwas langweilig, durch eine Marginalnote im Orchester aus¬
drücklich daran erinnert zu werden, warum es sich deun eigentlich handle.
Unter deu rein musikalischen Mitteln der Charakteristik steht die Jnstru¬
mentation weit voran, und das Verdienst Wagner's neue und zum Theil sehr
schöne Justrumentaleffccte gefunden zu haben, ist unbestritten, obgleich auch
nicht wenig erzwungene und unschöne uus begegnen. So wird z. B. der häufige
Gebrauch der hohen Vivlintöne in lauger Folge leicht peinlich, nud wirkt mit dazu,
daß der allgemeine Grundton des Orchesters, auf dem die einzelnen Erscheinungen
der Jnstrumentation erst hervortreten können, verwischt werde, wo denn anch hier
Alles sich in Einzelnheiten auflöst. Gestehen wir ihm aber auch bereitwillig Talent
und Erfindsamkeit auf diesem Gebiete zu, so nehmen doch, in höherem Sinne be¬
trachtet, die nur auf deu Klang der Instrumente gegründeten Wirkungen uuter den
Mitteln der künstlerischen Darstellung den letzten Platz ein, weil sie rein materieller
Natur siud; wodurch ihnen nichts an ihrem Werth genommen wird, wo sie am
rechten Platze stehen, wol aber dem Künstler, der sie vor den höheren und edleren
oder anstatt derselben gebraucht. Die vorwiegende Richtung ans Instrumental-
effecte, welche gegenwärtig die Musik beherrscht, ist übrigens kein gutes Symptom,
denn sie ist nichts Anderes, als die bei den einzelnen Virtuosen jetzt ziemlich gering
geschätzte Virtuosität auf ein anderes Gebiet angewandt und ebenso gehandhabt.
Denn wodurch unterscheiden sich diese ausgekünstelten, mit sorgsamer Berechnung ver¬
theilten einzelnen Effecte des Orchesters, die durch die Neuheit des Klanges meistens
die Armuth der Erfindung verdecken sollen, von den Bravonrpassagen, mit denen der
Virtuose seinen gedankenlosen Kompositionen einen Firniß giebt? Wie gesund und frei
bewegt sich dagegen der instrumentale Leib, mit dem die wahren Meister ihre schonen
und großen Gedanken bekleideten. Und dann, wie es in jeder Zeit mit Lieblings-
richtungcn geht, die Kunst gut zu instrumentiren liegt jetzt wie in der Luft, das
Ohr ist daraus gerichtet, dergleichen herauszuhören, und die Meisten haben ihre
Jnstrumentation längst fertig, ehe sie uoch Gedanken dafür haben. Es wäre ein
wahres Glück, wenn jetzt ein Musiker käme, der nicht instrumentiren könnte, aber
Musik machte.
Ein Fehler Weber's, der sich bei Wagner in ungleich höherer Potenz zeigt,
ist das, was man als Mangel an Logik in der Combination der melodiösen wie
harmonischen Elemente bezeichnen kann. Der Mangel an Zusammenhang bei der
Aufeinanderfolge von Accorden, die nicht zu einander passen, wird ungleich härter
auch von einem weniger gebildeten Ohr vernommen, und gar Vielen wird es beim
Anhören Wagner'scher Musik peinlich gewesen sein, daß, wie Jemand sich treffend
äußerte, immer nur zwei, selten auch nur drei Accorde zusammenhängen.
Aber auch die Zusammenreihung der einzelnen Töne zu einer Melodie steht unter
Gesetzen der Harmonie und Symmetrie, die zwar selten ausdrücklich anerkannt
und ausgesprochen worden sind, die aber der richtig und sein empfindende Künstler
stillschweigend anwendet. Diese scheint Wagner geflissentlich zu ignoriren, und,
um etwas Neues, Frappantes zu gewinnen, das dadurch den Anschein einer treffen¬
deren Charakteristik erhält, das Grundwesen der musikalischen Darstellung zu ver¬
letzen. Etwas mehr Aeußerliches, aber doch Bezeichnendes ist es, daß Wagner die
gewöhnliche hergebrachte Form des Schlusses vermeidet; indessen zeigt sich auch
in seiner Weise, ganz oder vorläufig abzuschließen, große Einförmigkeit, es sind
wenige und zum Theil schon recht abgenutzte Formeln, die fast immer wiederkehren,
und deren mau noch eher müde wird als der alten ehrlichen Schlnßcadenz.
Uebrigens soll keineswegs geleugnet werden, daß in dieser Partie der Oper
auch außer Justrumeutalesfecteu gelungene Züge wirksamer Charakteristik, frappante
Einfälle und Wendungen uns begegnen, allein es sind eben nur einzelne Züge
und Wendungen. Die Charakteristik im Großen hat natürlich unter dieser Einzeln-
malerci gelitten, und eine durchgeführte Charakterzeichnung der einzelnen Individuen
ist darüber nicht zu Stande gekommen. Als Beispiel mag Frau Venus dienen.
Während ein großer Aufwand gemacht ist, um das phantastisch-dämonische Treiben
im Benusbcrg mich musikalisch zu charakterisiren, ist davon auf Venus selbst, die doch
der Mittelpunkt ist, in dem sich Alles concentrirt, gar nichts übergegangen; sie singt
wie jedes leidenschaftliche Weib, wie alle anderen Personen der Oper, »ut weder
innere noch änßere Charakteristik individualisirt sie. Eben so deutlich tritt dies
Unvermögen einer wahren Charakteristik auch in der musikalischen Gestaltung des
Sängerkampfes hervor, wie wir es schon bei der poetischen wahrnahmen. Hier
war eine bedeutende Ausgabe auch für den Musiker gestellt, die recht eigentlich im
Bereich seiner Kunst liegt, und an der Erfindungskraft, Eigenthümlichkeit und
Gewandtheit in der Formgebung und Charakteristik eines Meisters sich bewähren
konnten. Allein die Säuger siud trocken und monoton dargestellt, und wenn dies
etwa geschehen ist, um das Interesse auf Tannhäuser zu concentriren, so verräth
das eben eine Schwäche des Productiousvermögens.
Wenn man an den Tannhäuser, wie im Obigen geschehen ist, den Maßstab
anlegt, den Wagner selbst gebraucht wissen will, mit dem man große Künstler
und wahre Kunstwerke mißt, so kann derselbe, wie wir sahen, nicht bestehen.
Am Wenigsten kann man diese Oper als den AuLgaugspuukt eiuer neuen, refor¬
matorischen Richtung in der Musik gelten lassen; diese zu begründen, erfordert
vor Allem schöpferisches Genie, und dieses mußten wir Wagner absprechen. Auch
ist keineswegs bei dieser Oper Alles neu, was sich dafür ausgeben möchte, bei
Weitem das Meiste gewinnt diesen Anschein nur durch die einseitigste Uebertrei¬
bung mancher theils wahrer, aber längst bekannter Beobachtungen, die aus diese
Weise nur verzerrt werden, theils sehr problematischer Principien, die dnrch Ueber¬
treibung noch nicht wahr werden; Anderes ist untergeordneter Natur, wenn mau
das Ganze im Ange hat. Dabei kann die Oper immerhin ein Beweis für das
ernste Streben des Componisten nach Wahrheit sein, und wir glauben seiner
Versicherung gern; allein ob er ans dem rechte» Wege sei, ob er sei» Ziel er¬
reicht habe, darüber ist er nicht Richter, — jeder Künstler hat diese Meinung
von sich, wenn anch nicht alle sie gleich unbefangen aussprechen, — und wenn er
uns auch noch so oft nud uoch so laut versichert, daß dem wirklich so sei, so fragen
wir doch darnach nicht ihn — noch weniger freilich die Herolde, die in Leipzig
für ihn in die Kindertrompete stoßen — sondern seine Werte.
Sehen wir also ab von diesen großartigen Vorstellungen, betrachten die
Oper wie eine andere, und lassen sie in ihren Eiuzel»selten an uns vorüber¬
gehe».
Tannhäuser hat noch eine Ouvertüre, und es ist uns mit großer Emphase
versichert worden, eS sei die letzte, die Wagner geschrieben habe. In der That
ist Wagner bei allem Geschick, Jnstrnmentaleffecte aufzufinden und anzuwenden,
dennoch kein Justrumentalcomponist, wie sich dies in der Ouvertüre »ud allen kam-'
gereu Orchestersätzcu deutlich kund giebt. Die Instrumentalmusik, die sich nicht
an einen Text anranken und dessen einzelnen Gedanken und Worten folgen kann,
muß, wenn von wirklich künstlerischer Leistung die Rede ist, aus einem inneren
Keim ihre Ideen entwickeln, die durch ihren nothwendigen organischen Zusammen¬
hang ein wohlgegliedertes Ganze bilden. Dies setzt nicht allein die erlernte
Geschicklichkeit voraus, die Formen zu handhaben, in denen musikalische Gedanken
entwickelt werden, sondern ungleich wichtiger ist die Kraft der Erfindung, musika¬
lische Ideen hervorzurufen, die einer allseitigen Entwickelung und Durchbildung
würdig und fähig sind. Beides aber geht Wagner ab. Seine Motive sagen
Alles, was sie ausdrücken sollen, gleich und auf einmal ganz, sie enthalten daher
nicht den Keim einer Fortbildung in sich, und sind keiner Entwickelung fähig,
sondern nur der Wiederholung, in welcher sie durch Verschiedenheit des materiellen
Klanges und ähnliche Mittel, deren sich Wagner mit Geschick bedient, gesteigert,
aber nicht ausgebildet werden. Wir haben keine Hehl daraus, daß wir in diesem
Maugel der künstlerischen Organisation Wagner's den wesentlichen Grund seiner
prinzipiellen Abneigung gegen eine Behandlung der dramatischen Gcsaugsmusik,
welche ans Entwicklung musikalischer Motive beruht, finden, obgleich wir wohl wissen,
daß hier der Nothuagel der dramatischen Charakteristik wird herhalten müssen.
Bei der Instrumentalmusik kommt man damit nicht weit, das gleichsam historische
Aneinanderreihen einzelner Motive und Effecte bringt keinen Eindruck hervor:
Musik an sich erzählt nicht und handelt nicht. Später hat Wagner bekanntlich
die reine Instrumentalmusik gänzlich negirt, und es ist jedenfalls bemerkenswerth,
daß allemal, wo er ein neues Princip aufstellt, der entsprechende Mangel seiner
individuellen Natur unverkennbar ist. Daß Wagner in der Handhabung der mu¬
sikalischen Technik, namentlich der contrapnnktischen, sich nicht gewandt zeigt, sieht
jeder Musiker leicht ein. „Er will es nicht," sagt man uns. Darauf kommt aber
gar Nichts an, wenn er diese Formen doch gelegentlich anwendet, aber wie ein
ungeübter Handwerker nach dem Nächsten, Trivialstem greift und dies ungeschickt
behandelt. Oder wird ein Musiker in der Verbindung des chromatischen, wim¬
mernden Motivs in den Geigen mit dem Pilgergesang originelle Erfindung oder
geschickte Durchführung erkennen? Sind nicht die Schalmeienpassagen zu demselben
Pilgcrgesang eben so dürftig erfunden, als mühsam eingepaßt? Und vollends die
contrapunktische Baßfignr, mit der später dieser Gesang begleitet wird, ist
so schülerhaft trivial, daß man an Wagner's Geschmack irre wird, der nicht fühlte,
wie sehr das nach dem Exercitium klingt. Dergleichen aber macht jeder Mensch,
wenn er es macht, so gut als er kann. Ein ähnlicher Mangel technischer
Durchbildung zeigt sich auch in deu Gesaugstücken, namentlich den mehrstimmigen,
allein ohne Zweifel verbietet die dramatische Charakteristik Erfindung bildsamer
Motive, geschickte Anlage polyphoner Sätze, gute Stimmführnng und ähnliche Phi-
listereien. Indessen ganz abgesehen von diesen allgemeinen Mängeln, ist die Ouver¬
türe nicht an ihrem Platz. Sie enthält nur zwei Motive, den Pilgergesang und den
Venusberg,-die in der Oper sehr ost vorkommen, in großer Ausführlichkeit wieder-
holt, ohne daß ihnen neue Seiten abgewonnen werden, und namentlich das ist nicht
geschickt arrangirt, daß das phantastische Treiben im Venusberg dem Zuhörer
unmittelbar hinter einander zweimal in ganzer Breite vorgeführt wird.
Mit dem Ausgehen des Vorhanges sehen wir das Innere des Venusberges
in rosenrother Beleuchtung, Nymphen, Sirenen, Bacchanten treiben ihr üppiges
Wesen, meistens in Pantomime und Ballet, während das Orchester den musika¬
lischen Ausdruck übernimmt. Daß dabei samisch das nicht ganz zum Vorschein
kommt, was Wagner sich gedacht hat, und was sich recht hübsch bei ihm liest,
liegt wohl zum großen Theil an der herrschenden Bühneutradilion, die durchaus
abhängig vom Pariser Ballet ist, und zu einer künstlerischen, oder auch nur ori¬
ginellen, phantastereicheu Lösung einer solchen Aufgabe sich nicht erheben kann:
hoffen wir auf die Bühne der Zukunft! Aber auch die Musik erfüllt ihre Auf¬
gabe nicht vollständig, und wenn sie auch von gewöhnlicher Balletmusik sehr ver¬
schieden scheint, kann sie ihren Ursprung doch nicht ganz verleugnen und klingt
immer noch etwas nach Tricots und Entrechats. Denn was sie vor Allem aus¬
drücken sollte, die leidenschaftliche Gluth, die zauberisch hinreißende Süßigkeit sinn¬
licher Liebe, das ist in ihr nicht zu finden, sie ist wohl lebhaft und seltsam,
aber kalt, ohne eigentlichen Reiz und charakterisiert nur den phantastischen Spuk.
Nach dieser Seite treten gelungene, pikante Züge hervor in Melodie und Harmonie,
wie in der Jnstrumentation, die natürlich den von Mendelssohn angeschlagenen
Ton für derartige Phantastereien im Allgemeinen festhält, im Einzelnen überbietet.
Da aber denn doch das eigentlich Zündende fehlt, so geht es dein Zuhörer bald
wie Tannhäuser, er wird dieser rosenfarbenen Wirthschaft schnell überdrüssig. Die
folgende Scene zwischen Venus und Tannhäuser tritt, wie schon bemerkt, in ihrer Fär¬
bung ganz aus dem Venusberg heraus, Tannhäuser's Lied in drei Strophen ist in
Anlage und Behandlung echter Meyerbeer, Venus ist als solche nicht charakterisirt;
die Situation ist so, daß man kein rechtes Ende absieht, und man dankt Gott,
wie Tannhäuser endlich an die Jungfrau Maria denkt, daß man nur wieder das
gewöhnliche Lampenlicht sieht.
Um den Gegensatz der freien Natur gegen das unnatürliche rothe Feuer
des Venusberges recht fühlbar zu machen, hat Wagner einen jungen Hirten ein¬
geführt, der auf der Schalmei bläst und sich ein Lied singt und zwar, um es
recht natürlich zu machen, ganz ohne Orchesterbegleitung. Diese Einfachheit aber
wird in der Oper immer gesucht erscheinen, und in der Regel peinlich wirken;
zumal wenn, wie hier, das Lied nicht wirklich den einfachen Naturlaut eines Volks¬
liedes wiedergiebt, sondern durch die Absichtlichkeit complicirr und affectirt gewor¬
den ist. Noch nicht zufrieden damit, läßt aber Wagner, um die Natur uoch natür-
licher zu machen, zu diesem Lied fortwährend hinter der Scene mit Kuhglocken
klingeln. Das ist ein Einfall, um den ihn Meyerbeer beneiden wird: Sopran¬
solo mit Kuhglocken! Was ist Bratsche oder Bassethorn gegen Kuhglocken! Man
erwartet nun, daß die Kühe, nachdem sie sich so lange hinter der Scene bemerk¬
bar gemacht haben, auch wirklick) auf der Bühne erscheinen, statt dessen aber kün¬
digt ferner Gesang die herannahenden Pilger an. Der Chor derselben, der dann
oft wiederholt wird, ist zwar nicht tief und warm empfunden, aber mit Ausnahme
einiger sehr widerharigcr Härten wohlklingend, bestimmt ausgeprägt und besonders
für den Effect des Herankommens aus der Ferne und des Verkliugens gut be-
rechnet, daher auch von guter Wirkung. Es ist Schade, daß Wagner diese
durch ungehörige Zuthäte» mehrmals schwächt, so im Anfang durch die Kuhglocken
nebst Schalmei, die sich auf eine Weise hineinmischen, die musikalisch und ästhe¬
tisch gleich unbefriedigend ist, später durch die unglückliche Baßbeglcitnug, zuletzt
durch die anhaltenden Paukenwirbel, als sollte die Rückkehr der Pilger mit Böller¬
schüssen gefeiert werden. Die Pilger verlassen endlich, vom Geläute der Kirchenglocken
begleitet, die Bühne, Jagdfanfaren ertönen, der Landgraf mit den ritterlichen
Sängern tritt ans, sie erkennen Tannhäuser, dringen in ihn, zu bleiben, was er,
von Elisabeth's Liebe in Kenntniß gesetzt, zusagt; die allgemeine Befriedigung
spricht sich im Schlußsextett aus, während die Bühne sich mit Jäger» füllt. Diese
ganze Scene gehört zu denen, die die frischeste und entsprechendste Wirkung
machen, die Hörner sind geschickt verwendet und der Schlußsatz, ohne sehr bedeu¬
tend und originell zu sein, ist so angelegt, daß man das Gefühl einer bestimmten
Form behält, und klingt recht schön.
Man sieht also, dieser erste Act bietet eine Reihe von Effecten, die zwar
meist materieller Natur, aber von unzweifelhafter Wirkung sind, mit geschickter Hand
so zusammengestellt, daß sie neben und durch einander um so kräftiger wirken.
Zuerst der feenhafte, phantastische Venusberg mit Rosenlicht und Ballet, dann im
Contrast dazu die Wartburg im hellen Sonnenschein, der Hirtenknabe mit Schal¬
mei und Glocken, der Pilgerchor, endlich die Jäger — über der reichen Abwechs¬
lung kau» man wohl die Mängel und Lücke» der poetischen Gestaltung übersehen,
und überhören, daß der wesentliche Charakter der Musik doch nur dem der De-
corationsmalerei entspricht, die auch ihre Effecte hat, uur daß es nicht die höchsten,
nicht die eigentlich künstlerischen sind. Indessen macht dieser Reichthum des ersten
Actes einigermaßen für die folgenden besorgt: werden diese Mittel ausreichen?
sind andere zu erwarten?
Der folgende Act stellt zunächst das Liebesverhältniß zwischen Elisabeth und
Tannhäuser dar, und hier sind einfache Situationen gegeben, die dem lyrischen
Charakter der Musik ganz entsprechen und dem Komponisten Gelegenheit gegeben
hätten zu zeigen, was er mit den in der Musik selbst liegeudeu Kräften zu erreichen
vermag. Er hat sie nicht benutzt. Eine Seelenstimmung einfach und wahr aufzufassen
und wiederzugeben vermag er nicht, weil ihm die Tiefe und Ursprünglichkeit der
Empfindung abgeht; wo er nicht einzelne Momente stark betonen und dadurch
charakterisiren kann, wird er unbedeutend. Daher ist ihm der Charakter der Elisa-
hets ganz mißglückt und nur an einzelnen mehr leidenschaftlich bewegten Stellen
bekommt sie etwas Leben, Das Duett mit Tannhäuser ist ganz ohne Inhalt und
der Form nach mit seinen banalen Terzcnfigurcn und den kümmerlichen JmitationZ-
ausätzeu so trivial, daß man sich doch wundern muß, wie Wagner dies Musikstück
seiue eigene Kritik hat passiren lassen tonnen. Daß er, damit man es kein Duett
in gewöhnlicher Weise nennen könne, Wolfram auch mit einigen Worten daran
Theil nehmen läßt, alterirt den Charakter nicht, aber es ist dramatisch nicht wohl
eingerichtet, daß diese Aeußerung Wolfram's, die für seine Charakteristik bedeu¬
tend ist, so untergesteckl wird, daß sie so gut wie verloren ist, Nun folgt die
Vorbereitung zum Säugerkampf, und hier bewährt sich Wagner wieder als ge¬
schickter Decorateur. Die thüringischen Großen erscheinen von Herolden und
Pagen eingeführt, Trompeter auf der Bühne, Trompeter im Orchester, zwischen
ihnen ein starker Chor, — es müßte einer schon sehr ungeschickt sein, der damit
nicht einigen Eindruck hervorbrächte. Während eines lang ausgesponnenen marsch¬
artigen Satzes werden die edlen Herren und Franc» pantomimisch mit der
feierlichen Ausführlichkeit des Ceremoniels empfangen und zu ihren Sitzen gelei¬
tet, das Wagner am Hofe des Landgrafen Hermann voranszusejzeu berechtigt ist,
wobei ich jedoch bemerken muß, daß ich die feineren Unterschiede der Verwandt¬
schaft und Freundschaft, welche der Referent der Grenzboten hervorgehoben
wünscht, in Wagner's sonst so scharf charakterisirender Musik nicht habe auffin-
den können. Nachdem die Sänger, ebenfalls von den Pagen geleitet, ausge¬
treten sind, jeder mir seiner Harfe, singt der Landgraf eine Festrede, die, wie
billig, etwas langweilig ist, worauf die Pagen die Sänger losen lassen — in
der That, diese artigen Knaben macheu sich so oft bemerkbar, daß sie es wohl
verdienen auf dem Theaterzettel namentlich aufgeführt zu werden, wenn sie auch
nur vier Worte zu singen haben. Ueber den Sängerkampf ist schon bemerkt,
daß er weder dichterisch noch musikalisch genüge, er hält durchaus nicht, was die
pomphafte Einleitung verspricht, fällt vielmehr entschieden gegen dieselbe ab. Am
Besten ist, wie sich erwarten läßt, die zunehmende fieberhafte Aufregung Tann-
häuser'ö ausgedrückt, aber innere Wärme fehlt ihm auch hier und die Charakte¬
ristik ist wesentlich eine äußerliche. In dem Sturme, der über ihn losbricht, als er
verrathen, daß er im Venusberg gewesen sei, tritt Elisabeth, die wie eine umge¬
kehrte Euryauthe allein unter den Männern bleibt, vortheilhaft hervor und na¬
mentlich einige Stellen sind declamatvrisch wohl gelungen, im Ganzen aber ist
dieser Ensemblcsatz nicht so klar und zusammenklingend wie der Schlußsatz des
ersten Finale. Nachdem Tannhäuser die Weisung erhalten hat zum Pabst zu
wallfahrten, ertönt zur rechten Zeit der wohlbekannte Gesang der vorbeiziehenden
Pilger. Warum hat Wagner durch deu Schrei „nach Rom!" der grell, fast roh
hineinfährt, seiue wohlthätige Wirkung gestört? — Beiläufig gesagt, hätte der
Unterschied der älteren Pilger, die früher abgehen und früher wieder kommen,
von den jüngeren, die später nachziehen und erst zuletzt wieder eintreffen, bei der
Wichtigkeit für die Handlung, schon früher, wenn auch nicht motivirt, doch ent¬
schieden hervorgehoben werden müssen; der Zuhörer, der kein Textbuch bei sich
hat, bekommt so gar zu sehr den Eindruck eines blüh ex MireliMÄ.
Im letzten Act, der ungleich dürftiger und monotoner ist, als die ersten,
finden wir Elisabeth im Gebet für Tannhäuser; Wolfram, der mit seiner Harfe
im Walde spazieren gegangen ist, — wie die Könige im Märchen mit der
Krone zu Bett gehen, — tritt zu ihr, da kommen die älteren Pilger ohne
Tannhäuser zurück. Nun fleht Elisabeth, die sein Schicksal entschieden glaubt,
in brünstigem Gebet zur Jungfrau Maria, daß sie sie als Fürbitterin für Tann¬
häuser aufnehmen möge, und entfernt sich, indem sie, wie Ottilie in den Wahl¬
verwandtschaften, ans die Sprache verzichtend, von Wolfram durch Geberden
Abschied nimmt. Es thut uns wahrhaft leid, daß diese echt musikalische Situa¬
tion, die eine tiefe und schone Empfindung ausspricht, ihren entsprechenden Aus¬
druck nicht gefunden hat; wir müssen uns mit dem Eindruck begnügen, den der
Wohllaut geschickt cvmbinirter Blasinstrumente hervorbringt. Noch weniger leistet
die folgende Scene. , Es ist schön gedacht, daß der Eindruck, deu das eben Er¬
lebte und der hereinbrechende Abend ans Wolfram den Dichter und Säuger
macheu, sich in ihm zu einem Liede gestaltet, aber leider müssen wir mit dieser
Intention vorlieb nehmen: das Gedicht ist schwach, und die Composition mit obli¬
gatem Violoncell so trivial sentimental, daß man sie ohne Bedenken Proch zuschrei¬
ben könnte. Daß aber zu diesem Liede an den Abendster» der obligate Abend-
stern, natürlich solo, am Theaterhimmel erscheinen muß, das ist eine Plattitüde,
die mau dem Geschmack Wagner's nicht zutrauen sollte. Mit dem Auftreten
Tannhäuser's beginnt wieder die Darstellungsweise, die Wagner's Natur am ge¬
mäßsten ist, und in dem Bericht über seine Pilgerfahrt, in welchem auch mehr
musikalische Motivirung hervortritt, sind gelungene und drastische Momente. End¬
lich ruft er Frau Venus, sie erscheint, aber nur nebelhaft hinter einem Flor, und
indem sie ihn zu sich ruft, Wolfram ihn warnend zurückhält, bildet sich eine dem
Schluß von Robert dem Teufel analoge Scene, die allerdings musikalisch sehr
verschieden, aber nicht sehr wirksam behandelt ist. Elisabeth'S Tod verscheucht
die Frau Venus; im offenen Sarg wird sie von einem Trauerzuge auf die Bühne
geleitet, Tannhäuser stirbt mit dem Ausrufe: „Heilige Elisabeth, bitte für mich!"
indem die jüngeren Pilger heimkehren und seine Entführung verkündigen. So
schließt die Oper glänzend, aber unbefriedigend.
Fassen wir das Gesammturtheil über dieselbe zusammen, so erscheint sie in
ihrem Grundwesen der aus Paris stammenden Decorationsoper, wie sie von
Meyerbeer zwar nicht erfunden - denn was hätte der erfunden? — aber doch
hauptsächlich ausgebildet und bei uns in Cours gebracht ist, völlig verwandt, in
denen die Wirkung ans das Publicum hauptsächlich durch änßere, materielle
Mittel erreicht wird, so zwar, daß in Zweifelsfällen das künstlerische, namentlich
musikalische Interesse zurücksteht. Daß Wagner selbst heftig gegen den Meyer¬
beerismus polcmisirt, beweist an sich Nichts dawider, daß er selbst demselben ver¬
fallen sei; es ist eine bekannte Erfahrung, daß man an Fremden die eigenen
Schwachen am Unangenehmsten empfindet und am schärfsten tadelt. Ohne alle
Frage hat Wagner mehr Sinn für das Poetische und mehr Feinheit des Ge¬
schmacks als Meyerbeer, er wählt daher seine Stoffe besser und die einzelnen
Effecte, die bei jenem wie aufgenagelt auf eine gleichgiltige Unterlage erscheinen,
weiß er geschickter aus seinem Stoffe herzuleiten; auch in der Jnstrumentation ist
er ihm dadurch überlegen, daß er kühner und freier in's Volle greift und nicht
so gar ängstlich wie Meyerbeer mosaicirt. Aber alles dieses, und was man hier
noch Verwandtes hervorheben möchte, find doch nur Verschiedenheiten dem Grade
nach, und geben wir bereitwillig zu, daß im Einzelnen in drastischer Charakteristik
Vieles gewagt und Einiges gelungen sei, so ist aus diesen Elementen nimmer¬
mehr ein Kunstwerk zu gestalten, das den Anforderungen anch nur der Gegen¬
wart genüge.^
— Die Aushebung aller derjenigen Gesetze,
durch welche im Jahre die Verfassung der Gemeinden, Kreise, Bezirke und
Provinzen geordnet wurde, versetzt uus in einen völlig chaotischen Zustand, dessen
endliche Regelung selbst in den Zeiten des tiefsten Friedens und der ruhigsten
Entwickelung höchst zweifelhaft, und jetzt bei der unsichern Lage der europäischen
Verhältnisse durchaus unwahrscheinlich ist. Möglich freilich ist es, daß uns Zeit
vergönnt wird, an Stelle des Beseitigten ein Neues zu setzen; aber ans diese
entfernte Möglichkeit zu speculiren, und in einer Zeit, in der nicht einmal die
Ereignisse der nächsten Woche mit einiger Sicherheit berechnet werden können,
die Hauptgrundlage des Staatsorganismus mit einem Schlage zu beseitigen, ohne
dieselbe durch ein anderes, bestimmtes Fundament zu ersetzen, ist ein verwegenes
Unterfangen, welches schwerlich durch politische Erwägungen, wol aber durch den
bittern und unklaren Haß gegen die Gesetzgebung von -1850 erklärt werden kann.
In Revolutionszeiten ist es wol vorgekommen, daß man nicht nnr einzelne Ge¬
setze, sondern ein ganzes System von Gesetzen schlechtweg aufhob, ehe man das
Bessere festgestellt hatte; und wenn dasselbe heute geschieht, will man uns einreden,
daß wir es mit dem „Gegentheil der Revolution", nicht mit der leibhaftigen
Contrerevolution zu thun haben? Dieses „Gegentheil der Revolution" gleicht
der Revolution in den Motiven, Wirkungen und sonstigen Kriterien so vollkommen,
daß wir in der Behauptung, es sei 18S0 der Bruch mit der Revolution erfolgt,
nur eine leere Phrase erkennen können.
Es ist zwar zugleich mit der Aufhebung der Gesetze von 1830 die Reacti-
virung der frühern ständischen Gesetzgebung erfolgt, aber nur in so weit, als
diese der Verfassung nicht widerspricht. Soll diese Bedingung irgend eine Be¬
deutung haben, so hat man eine klare Rechtsgrundlage durch ein Unmögliches
und Undenkbares ersetzt. Denn die ständische Gesetzgebung widerspricht gerade
in ihren wesentlichsten Bestimmungen der Verfassung; natürlich, denn die Be-
strebungen, denen die Verfassung ihren Ursprung verdankt, waren hauptsächlich
gegen das System der ständischen Gliederung gerichtet, und sowol die positiven,
wie die negativen Grundsätze der Verfassung bezwecken naturgemäß direct oder
indirect die Beseitigung des Zustandes, dessen Gegner in der Sanction der Ver-
fassungsurkunde ihren Sieg.feierten. Es liegt in der Natur der Sache, daß
eine Urkunde, welche zur Beseitigung eines alten und zur Begründung eines
neuen Rechtszustandes festgestellt wird, gerade an solchen Bestimmungen reich ist,
welche die Umgestaltung des bisher Bestehenden betreffen, welche die bisher
leitenden Principien ausdrücklich negiren, oder durch abweichende ersetzen. So
ist auch unsere Verfassung hauptsächlich gegen das System der ständischen Glie¬
derung gerichtet; und dieses herstellen, so weit es der Verfassung nicht wider¬
spricht, ist ein vollkommener Widerspruch, der für den Weisen, wie für den
Thoren gleich unlösbar ist. Beseitigung des ständischen Systems war eben der
Zweck der Verfassung; deshalb sind die Verfassung und das Ständewcse» un¬
vereinbare Gegensätze.
Der Widerspruch wird auch dann nicht gehoben, wenn Artikel 105 der Ver¬
fassung, der die Grundzüge für eine Gemeinde-, Kreis- und Provinzialverfafsuug
feststellt, beseitigt wird, wie es die Kammer in der vergangenen Woche beschlossen
hat. Wenn dieser Artikel der einzige wäre, der sich im Widerspruch mit der
ständischen Gesetzgebung befände, so würde man diese durch die Beseitigung jenes
Artikels allerdings möglich gemacht haben. Allein die Verfassung hebt in andern
Artikeln Standesvorrechte, erbliche Berechtigungen, mögen sie an der Familie
oder am Grundbesitz haften, die Hintansetzung gewisser Religionsbekenntnisse n.s.s.
auf; und gerade diese Bestimmungen bilden den Kern und das Charakteristische
unserer vormärzlichen Gemeinde-, Kreis- und Prvvinzialversassung. Auch nach
Beseitigung des Art. l0l> bleiben in der Verfassung zahlreiche Bestimmungen, mit
denen die Reactivirung der vormärzlichen Organe in directen Widerspruch stehen
würde. Die ganze Zusammensetzung der vormärzlichen Kreis- und Landtage ist
verfassungsmäßig nicht zulässig, d. h. die ständische Gesetzgebung kann ohne vor¬
herige durchgreifende Umänderung der Verfassung nicht in's Leben treten.
Die thatsächliche Folge der Beschlüsse, welche die zweite Kammer in der
vergangenen Woche gesaßt hat, wird darin bestehen, daß das Vormärzliche in
Kraft tritt, als wäre es durch keine Rücksicht auf die Verfassung modificirt worden.
Die in das Gesetz aufgenommene Clausel, durch welche die zweite Kammer den
Widerspruch zwischen dem ständischen System und dem durch die Verfassung be¬
gründeten Rechtszustand zu beseitigen suchte, wird für die realen Verhältnisse
wirkungslos sei»; sie wird lediglich dazu beitragen, den schreienden Gegensatz
zwischen unsern factischen und rechtlichen Zuständen »och mehr bloß zu legen, und
in künftigen Sessionen Veranlassung zu Kontroversen geben, bei denen das Recht
auf Seite» der Linken, der durch die Abstimmung erfochtene Sieg auf Seiten
derjenigen Partei sein wird, welche um der Autorität willen die Majorität so
sehr verachtet.
Und diese Controversen werden zu eiuer neuen und unerhörten Verfassnngs-
iuterprctation, von der wir schon in den jetzigen Verhandlungen Spuren finden,
Veranlassung geben. Wenn die Verfassung „Standesvorrechte" aufhebt, so ist es
für Jeden, der sich die Verhältnisse vergegenwärtigt, denen gegenüber die Ver¬
fassung neue Zustände begründen wollte, unzweifelhaft, das» darunter in erster
Linie die politischen Vorrechte der vormärzlichen Rittergutsbesitzer gemeint find.
Vor zwei Jahren würde man es demgemäß bei einer Wiedereinführung der
alten Krcisordnuug für unvermeidlich gehalten haben, die erwähnte Verfassungs-
bestimmung zu beseitigen. Aber in einer Zeit, i» welcher der Wechsel der politi¬
schen Ansichten als el» Kriterium echter Staatsweisheit betrachtet wird, hat auch
die Meinung von dem Wesen der Verfassung eine andere Gestalt gewonnen.
Man hat sich von dem Willen, die Versass»»g nach ihrem Geist auszulegen,
bereits entfernt, daß man sich mit jeder, nur irgend möglichen Auslegung zufrie¬
den stellt. Nun ist es zwar »icht zu läugne», daß das Virilstimmenrecht-der
Rittergutsbesitzer auf de» Kreistagen zu den „StandeSvvrrcchteu" gehört, welche
die Verfassung aufheben wollte; allein— so wirb der Minister des Innern »ach Jahr
und Tag spreche» — es ist eine andre Denttmg zulässig; Rittergüter können zur
Zeit anch von Bürgerliche» acg»irirt werden; das aus ihnen haftende Virilstim-
mcnrecht ist also kein Standesvorrecht, ist also nicht durch die Verfassung auf¬
gehoben. So wird, trotz der Klausel, daß die ständische Gesetzgebung nur so
weit, als sie nicht der Verfassung widerspricht, wieder hergestellt werde» soll,
Alles bleiben, wie es war, als hätte i» Preuße» »le eine Verfassung existirt.
Die Gewissen der Abgeordnete», welche jetzt die Majorität bilde», fühle» sich
vollkommen beruhigt, wen» die Verfassung zwar nicht »ach ihrem wirklichen, aber
doch nach einem möglichen Sinn interpretirt wird. Die nächste Entwickelung^
Phase brauche ich nicht zu bezeichne».
El»an wirklichen Sieg hat dagegen die Linke durch Ablehnung der zwei¬
jährigen Einberufung der Kammern errungen. Trotz der geräuschvolle» Thätig¬
keit der Landtage, und obgleich der Minister des Innern in jeder sei»er Reden
sich mehrmals auf das Gutachte» der Landtage berief, ist es doch nicht gelungen,
im Volke einige Theilnahme für diese abgelebte Institution zu erregen. Nicht
^ wie früher — durch königlichen Befehl auf Grund der anerkannten Verfassung
des Landes einberufen, sondern durch ein Ministerialrescript ans mehrjähriger Grabes¬
ruhe aufgestört und keck in die lebendige Welt hineinversetzt, gleich bei der Neactivirung
vielfach in ihrer rechtlichen Existenz angefochten und nur von einer winzigen Minorität
beschickt, haben die Landtage eigentlich ein klägliches Dasein geführt; eS hastete
an ihnen ein Makel der Lächerlichkeit, den die Anhänger des ständischen Systems
mit Verdruß empfanden. Es genügte deshalb nicht, ihnen eine rechtliche Grund¬
lage wiederzugeben; es bedürfte noch anderer künstlicher Mittel, die Aufmerk¬
samkeit ans eine Institution zu lenken, die man mit Fug und Neckt als für
immer abgethan betrachtet hatte. Ein solches Mittel hätte die zweijährige Ein-
berufung der Kammern gewährt. Nicht bloß, weil die Landtage, sobald sie jähr¬
lich mit den Kammern alternirt hätten, ein gewisses Maaß von Beachtung
gefunden haben würden, sondern hauptsächlich, weil dann die Octroyirnngen
noch häufiger geworden und die Wirksamkeit der Kammern auf die traurige
Aufgabe beschränkt worden wäre, die auf Grund deö Gutachtens der Landtage
octroyirteu Gesetze nachträglich zu genehmigen, d. h. zu thun, was zu unter-
lassen immer mißlich ist. Wenn die Kammern sich selbst dazu verurtheilt hätten,
rrwrttaräe apres cliusr zu sein, so hätte vielleicht der Weizen der Landtage
geblüht. Das Ministerium that Alle«, die Bedeutung dieser Frage zu verwischen;
nur Zweckmäßigkeitsgründe, der Wunsch, die Abgeordneten nicht zu häufig ihrem
Berufe zu entziehen, hätten die Vorlage veranlaßt. Vielleicht hat gerade diese
Art der Motivirung, ans der man schließen konnte, daß das Ministerium ans
die Annahme deS Gesetzeutwnrss keinen besondern Werth legte, eine Majorität
gegen die Vorlage zu Staude gebracht. Doch haben anch einige Mitglieder der
äußersten Rechten durch lehre Abstimmung gegen die Vorlage die Hoffnung erregt,
daß bei mehreren Mitgliedern dieser äußersten Fraction mehr qesnnder Sinn
für Recht und Freiheit vorhanden sein dürste, als bei den faulen Centrums-
natnren. Namentlich hat Graf v. Limburg-Styrum, der sich der Versammlung
als einen Erz-Reactionair präsentirte, so viel gefunden Sinn und vernünftige
historische Auffassung an den Tag gelegt, daß man seine Freude daran haben
konnte. Die Männer der äußersten Rechten zeichnen sich noch dadurch aus, daß
sie voll festen Vertrauens darauf, die nächste Sündfluth werde erst nach ihnen
kommen, auf die Zukunft nicht die mindeste Rücksicht nehmen, daß sie jede Hin-
weisung darauf alö eine verdrießliche Störung ihrer gegenwärtigen Behaglichkeit
oder gar als eine Thorheit mit Murren und Spektakel aufnehmen; Graf v. Lim-
burg erhob sich weit über diesen beschränkten und selbstsüchtigen Standpunkt.
Er hat aus den Ereignissen des Jahres 18i8 die Ueberzeugung gewonnen und
sprach sie bestimmt aus, daß die Berliner Märzunruhe» nur deshalb den Cha¬
rakter einer Revolution annahmen, weil in allen Klassen der Gesellschaft Un-
zufriedene vorhanden waren, die, ganz abgesehen davon, ob sie die Märzereignisse
in ihren Einzelnheiten billigten oder nicht, doch ihre Frucht, den Wechsel der
Zustände, oder die Hoffnung darauf, freudig acceptirten. Er hat aus dieser
richtigen Wahrnehmung die praktische Lehre gezogen, daß es nicht rathsam sei,
durch fortwährende Beschränkung der dem Volke gewährten Rechte die Zahl der
Unzufriedenen wieder ins Unendliche zu vermehren, und ans solche Weise an
und für sich unbedeutende Eventualitäten zu verhängnißvollen zu machen. So
motivirte er unter dem Beifall der Linken und dem Zischen der Rechten seine
Abstimmung gegen die Regierungsvorlage. Ihm folgten von Mitgliedern der
Rechten der Graf v. Ziethen, der schon mehrmals seine Neigung, eine unab¬
hängige Stellung einzunehmen, an den Tag gelegt hat, ferner v. Arnim-Krvchclu-
dors, v. Bärensprnng n. A. Diesem Umstände ist es zu zuschreiben, daß sich
gegen die Regierungsvorlage eine Majorität von L2 Stimmen vereinigte, —
ein Beweis, daß die Anwesenheit der constitutionellen Partei in den Kammern,
wenn auch meistentheils, so doch uicht immer fruchtlos ist.
— Es ist mir lieb, daß ich meinen Wochenbericht,
chronologisch mit dem Seuatsball beginnen kann, denn ich müßte jeden Humor
dazu verlieren, nachdem ich einmal von dem gesprochen, was gegenwärtig alle
Welt beschäftigt und mit Angst und Entrüstung erfüllt. Da alles öffentliche Leben
jetzt im Hofe aufgeht und ein Ball zu einem wichtigen Ereigniß geworden ist,
so können Sie sich denken, wie viel das luxuriöse Fest, welches der Senat dem
kaiserlichen Ehepaar gab, den Parisern schon im Voraus zu sprechen machte. Die
Senatscommissiou, welcher die Vorbereitungen des Balles oblagen, wurde mit
Gesuchen und Einladungskarten für Fremde und Einheimische bestürmt; die Mo¬
distinnen und Putzmacherinnen, ans welche das bonapartistische Regime seine reich¬
sten Segnungen niederströmen läßt, hatten alle Hände voll mit Besorgung der
Dameutoiletten zu thun, und jene Unglücklichen, welche ohne Berechtigung zu einer
Uniform sind, marterten, da das schwarze Kleid aus der Gegenwart Sr. kaiser¬
lichen Majestät ein für allemal verbannt ist, ihre eigene Erfindungskraft und die
ihrer Schneider mit der Anfertigung von Phautasiecostümen. Endlich erschien der
große Tag, und unabsehbare Wageuzüge bedeckten Abends die Straßen, welche zum
Palais Luxembourg fuhren, dessen innere Räume in feenhaftem Glänze strahlten.
Mancher einzelne Ballgast, der in einem bescheidenen Fiaker in der unendlichen
Kette der Wagen Schritt für Schritt einherfuhr und die Geduld verlor, verließ
sein Fuhrwerk, um sich vermittelst seiner weiß oder rosa bestrumpfteu Füße auf den
Trottoirs schneller zu seinem Ziele durchzuschlagen und verfiel dem unbarmherzigen
Spott unserer Gamins, die sehr wenig Ehrerbietung sür die durch allerhöchstes
Beispiel eingeführte Mode der kurzen Hosen und Strümpfe zeigten. Auf den Treppen
und Couloirs des Luxembourg war das Gedränge ungeheuer; eine Postenkette
von Huissier's übte die unerbittlichste Prüfung der Balltracht an den Herren. —
Die Einladungskarten zeigten die vorschriftmäßige Uniform oder das Costüman; —
eine Anzahl rebellischer schwarzer Kleider wurde ohne Gnade und Barmherzigkeit zu¬
rückgewiesen, manche, nachdem sie sich schon glücklich im Gedränge bei mehreren Posten
vvrbeigeschlichen hatten, verfielen am Eingange des Heiligthums den unbeugsamen
Wächtern des Gesetzes. Ja die Kritik dehnte sich auch auf Diejenigen aus, die
durch eine heuchlerische Manipulation ihrem Ballfrack das schlecht verstellte Ausehn
eines Costnmkleides zu geben versucht hatten, und umsonst strebten Einige dieser
letztern durch zum Theil ziemlich heftige Beweisführungen sich den Einlaß zu er¬
streiten. Im Innern wogte bald eine unzählbare Menge, trotz der sehr großen
Räumlichkeiten waren K000 Gäste doch zu viel, und nicht wenig zerquetschte Toiletten
und einige wenigstens gequetschte Damen fielen dem Feste zum Opfer. Um 10
Uhr erschienen die Majestäten, die zuvor die der Kaiserin gemachte Aufwartung
des diplomatischen Corps in den Tuilerien entgegengenommen hatten; die Kaise¬
rin in glänzender und geschmackvoller Toilette sah auffallend bleich aus, das Ge¬
ficht ihres Gemahls war belebter, als gewöhnlich, und bekundete die heiterste
Stimmung. Nach dem Souper um 1 Uhr zog sich das hohe Ehepaar zurück;
der Ausgang des Festes war uicht weniger drangvoll, wie sein Beginnen. Stun¬
denlang mußten Viele im Ballschmuck im Hofe auf ihre Wagen warten, falls sie
sich nicht entschlossen, dieselben zu Fuß aus der Wagcmnasse herauszusuchen. Kurz
dieser Ball, welcher den Herrn Senatoren 300,000 Franks kostet — durchschnittlich
jedem fast einen vollen Monatsgehalt — hat gewiß unendlich mehr Aerger, Ent¬
täuschung und Verdruß, als Vergnügen unter seinen Theilnehmern verbreitet.
Dieser rosenfarbige Hochzeitshumor unserer Regierung ist aber schnell ver¬
schwunden, und vergangenen Sonntag wurden im Interesse des Gleichgewichts
zwischen Gnade und Strenge zur Neutralisirung der Amnestien ziemlich zahlreiche
Verhaftungen vorgenommen. Diesmal galt es den Legitimsten und den Korre¬
spondenten aller Farben, aber nicht aller Nationen, denn die Engländer sind selbst
unserer allmächtigen Polizei nicht leicht erreichbar. Herr Manpas kennt die ver¬
alteten, aber nichts destoweniger tiefwurzelnden Vorurtheile unserer Nachbarn
jenseits des Canals in Betreff der individuellen Freiheit, und mit jener Leichtig¬
keit, mit welcher die Franzosen sich in fremde Sitten fügen, ließ man die englischen
Berichterstatter ungeschoren, obgleich man weiß, daß sie an Heftigkeit und Rück¬
sichtslosigkeit allen andern Journalisten bei Weitem voraus sind. Die Legitimisten,
welche einer fortwährenden Verschwörung gegen die Regierung beschuldigt werden
sollten, wurden schon am nächsten Tage in Freiheit gesetzt, und man behielt blos
einige junge Schriftsteller zurück, welche durch ihre ehemalige Mitarbeiterschaft
am Corsaire in den Verdacht gekommen waren, die Verfasser der vielen Quatrains
und schlechten Witzworte zu sein, welche man in letzter Zeit gegen unsere Kaiserin
in Umlauf gebracht. Wir glauben kaum, daß die Regierung irgend Etwas heraus-
bringen werde, wir glauben auch nicht, daß die Eingezogenen die Väter dieser
unsauberen Mnsenkinder seien. Die Quatrainmacherei ist eine nationale Krank¬
heit, und ich kenne Familien, welche dem gegenwärtigen Regime mit vielem Eiser
anhängen, deren Söhne sich das Vergnügen eines vicrreimigen Spottgedichtes
darum doch nicht versagen. Es ist unklug, daß die Polizei irgend ein Gewicht
ans diese unschädliche» Dingelchen legt — sie haben nur insofern Bedeutung,
als sie die Stimmung einer gewissen Klasse der Gesellschaft bekunden. Wollte
man also wirklich helfen, müßte man auf die Stimmung selbst zu wirken suchen:
Verhaftungen und sonstiger Bureaukraten-Terrorismus sind aber wahrlich nicht
der Weg, die Gemüther zu versöhnen. Die Korrespondenten der fremden Jour¬
nale, oder doch jene, welche des Correspondenzverbrechens beschuldigt werden,
sollten wahrscheinlich als Warnung für die übrigen, deren Zahl Legion ist, Be¬
kanntschaft mit der Vortrefflichkeit des Zellensystemes von Mazas machen. Von
auch in Deutschland bekannten Persönlichkeiten ist der Dichter Moritz Hartmann,
von dessen Schilderung Südfrankreichs ich in einem meiner letzten Briefe ge¬
sprochen habe, zu nennen. Der Pfaffe Mauritius ist diesmal wahrscheinlich
blos durch die menschenfreundliche Intervention eines deutschen oder östreichischen
Spizel zur Ehre des politischen Märtyrerthums gekommen. Der Mann hat
der Politik längst Ade gesagt und beschäftigt sich ausschließlich mit seinen poeti¬
schen Schöpfungen. Er wird anch wahrscheinlich schon heute oder morgen in
Freiheit gesetzt werden, nach Anderen ist er es schon. Gegen den ehemaligen
Secretair der ungarischen Legation in Paris, gegen Friedrich Szarvady war auch
ein Verhaftbefehl ausgestellt. Die Polizei erschien in dessen Wohnung, fand
aber das Nest leer, da Szarvady schon einige Tage vorher Paris verlassen
hatte. Die Polizei machte sich selbst die Honneurs in der verlassenen Wohnung,
ließ die Kasten erbrechen und nahm sämmtliche vorgefundene Papiere und
Schriften mit sich. Nun wird er wohl in Contumaz verurtheilt werden, wenn
man staatsgefährliche Acten oder Correspondenzverbindungen nachweisende Pa¬
piere bei ihm entdeckt. Bei dieser Gelegenheit will ich Ihnen von einer Ge¬
wohnheit der hiesigen Polizei sprechen, die ich, wenn auch nicht aus eigner Er¬
fahrung, als stätig beobachtet habe. Die Polizei nimmt ihre Nazzien, nament¬
lich der Schriftsteller, immer an einem Sonntage vor. Die Psychologen sind,
wie sich erwarten läßt, sehr uneinig in der Erklärung dieses Factums. Einige
behaupten, daß dies die Art und Weise der hiesigen Polizei sei, ihre Andacht
zu verrickteu; da aber nicht jeden Sonntag Verhaftungen stattfinden, und die
Polizei viel zu gottesfürchtig ist, um nicht jeden Sonntag gute Werke zu ver¬
richten, kann ich für meine Person mich nicht zu dieser Ansicht verstehen. An¬
dere glauben, die Polizei habe die Beobachtung gemacht, daß Schriftsteller wie
Handwerker am Sonntage länger schlafen, und man sie daher um so sicherer
im Bette finde. Noch Andere sind der Meinung, daß, weil Sonntag am wenigsten
zu thun, die Herren von der Polizei, um nicht die Uebung zu verlieren, zuweilen
auch einige Persa für den Sonntag sich aufbewahren wollen. Ich weiß nicht,
für welche Hypothese sich Ihre Leser entscheiden werden.
Lady Tartüffe von Me. Girardin hat nicht sehr gefallen. Mich interessirte
das Stück, obgleich ich bis jetzt noch nicht zu sagen im Stande wäre, ob das
Publicum Unrecht habe. Die Rachel wußte sich's noch nicht recht bequem zu
machen im einfachen Hansgewande der Prosa, aber sie hatte Momente, die zeigen,
sie könne anch auf diesem Gebiete Bemerkenswerthes leisten. Eine junge Naive,
welche zum ersten Male die Bühne betrat und Fräulein Dubois heißt, hat mit
Recht sehr gefallen. ________
Die von unserem Korrespondenten besprochenen Verhaftungen lassen die fran¬
zösischen Zustände in sehr trübem Lichte erscheinen. Wer nicht mit seinen persön¬
lichen Interessen an dem herrschenden System betheiligt ist, sieht mit Schrecken
alle Konsequenzen der Gewaltherrschaft über dieses unglückliche Volk hereinbrechen.
Aber anch Diejenigen, welche den S. December als die Niederlage des öffent¬
lichen Rechts nicht nur, sondern auch der öffentlichen Moral in Frankreich an¬
sahen, müssen sich erstaunt fragen, wo die Regierung mit diesen Maßregeln hinaus¬
will. Es ist möglich mit 300,000 Mann, mit einer alle Sphären des gesellschaftlichen
Lebens durchdringenden Polizei und einer halben Million Beamter diese erschöpfte
und in sich zerfallene Nation niederzuhalten, es ist möglich, die einheimische Presse
zum Schweigen einzuschüchtern und in erkauften Blättern durch die feilen Federn
der Graner de Cassagnac, La Gucrroniere, Cascna u. A. täglich die Aera des
Glückes, der wahren Freiheit und des Ruhmes anpreisen zu lassen, welche über
Frankreich aufgefangen sei, aber ein mehr als vermessener Versuch ist es, selbst
bis in die Familienkreise hinein die Freiheit des Sprechens zu verfolgen, die
Privatcorrespondenz der ganzen Nation unter dem Schrecken der polizeilichen
Durchsicht zu halten und zu verhindern, daß über die Grenzen des Landes hin¬
aus in auswärtige Blätter unabhängige Stimmen und unverfälschte Nachrichten
dringen. Mögen die zahllosen Couplets und Calembourgs, welche die kaiserliche
Vermählung hervorgerufen hat, immerhin als Grund zu diesem Polizeiact an¬
geführt werden, mögen die Gerüchte, welche hier und in der auswärtigen Presse
über die Verwickelungen hochgestellter Männer in die Scandale des Börsen¬
schwindels circuliren, viel dazu beigetragen haben, die Namen Derjenigen, die
man verhaftet hat, beweisen, daß man Weiteres beabsichtigt. Wenn ferner sämmt¬
liche Briefe der Jndepedance Belge auf der Post angehalten sind, eines Blattes,
dessen Pariser Correspondenzen Zustände wie Personen in der maß- und rücksichts¬
vollsten Weise besprechen, so geht daraus unwidersprechlich hervor, daß man nicht
etwa der Verläumdung, sondern der Wahrheit den Krieg macht.
Die Pariser Zeitungen, so geknebelt sie sind, haben einen Angstruf der
Verzweiflung über dieses unerhörte Verfahren ausgestoßen. Herr v. Girardin,
dessen politische Laufbahn wir weit entfernt sind zu billigen, erhob mit nicht ge¬
ung anzuerkennenden Muth hierauf in der „Presse" seine Stimme gegen die
Maßregel und gegen das Gebahren Graner de Cassagnac's im Constitutioncl.
Dieser Mensch, welcher ein neues Gebiet der Schamlosigkeit entdeckt hat, ruft
über die Verhafteten die ganze Strenge des Richterspruchs herab und schwelgt
im Genusse der Denunciationen. Das Beispiel der „Presse" hat andere Blätter,
wie die ^ssemblve Nationale, den Aeels, die Union ermuthigt, und selbst die
Debats wagen einige Worte für ihren verhafteten Mitarbeiter von Tanski. Es
ist kaum glaublich, daß sich Richter finden könnten, welche gegen die Verhafteten,
deren angebliches Vergeh» unter keine Bestimmung des französischen Code fällt,
eine Strafe erkennen sollten.
Der Mailänder Aufstand hat in Frankreich, wie anderswo, im Ganzen ge¬
ringe Sensation gemacht, selbst nicht an den Börsen. Seine völlige Hoffnungs¬
losigkeit fällt zu klar in die Augen, und man muß die Unseligen verdammen, die
ans die Anschürung verblendeter und gewissenloser Parteiführer sich dem sichern
Verderben überliefert haben.
Nach einer in politischer Hinsicht ungewöhnlich stillen
Ferienzeit, hat am zehnten Februar das englische Parlament seine Sitzungen be¬
gonnen, und zwar mit einer Geräuschlosigkeit, die man nach der Bedeutung und
der Stellung, welche die dabei beteiligten Factoren gegenwärtig einnehmen,
fast für wunderbar halten könnte. Der Sturz eines Ministeriums, der den to¬
talen Zerfall der eigenen Partei nach sich zieht, und das Auftreten eines neuen,
in welchem sich, alle Parteitraditionen bei Seite setzend, Staatsmänner vereinigen,
die sich Jahrelang als Gegner bitter bekämpft haben, sind Erscheinungen, die weit genug
aus dem gewöhnlichen Gleise des parlamentarischen Lebens heraustreten, um zu der
Erwartung zu berechtige», daß sich das neue Verhältniß dem Publicum zum
erstenmal nicht ohne einen dramatischen Effect darstellen werde, zumal da die
handelnden Personen zu den glänzendsten Talenten der parlamentarischen Schau¬
bühne Europas gehöre». Aber diese Erwartung ist gänzlich getäuscht worden.
Die Eröffuuugssitzuug war in beide» Häusern ungewöhnlich einfach. Im Ober¬
hause sprach Lord Aberdeen sehr zurückhaltend über die von dem neuen Ministerium
zu befolgende Politik, da die vorbereitete» Gesetze ihrer Natur nach zu¬
nächst dem Unterhause vorgelegt werden müssen, und die parlamentarische Etiquette
in England nicht erlaubt, in dem einen Hanse Fragen zur Sprache zu bringe»,
über die in dem andern noch die Verhandlung schwebt. Lord Derby's Drange»
auf nähere Erklärungen setzte er ein absolutes Schweigen entgcge». Im Unterhause
war Lord John Russell allerdings ausführlicher, aber wenn sein parlamentarischer
Speisezettel auch eine recht anständige Auswahl guter und brauchbarer Gerichte
enthält, so haben sich doch die vielfachen Talente seiner College» nicht auf eines
jener Schanessen concentriren lassen, welche weniger durch ihren innern Werth,
als durch ihre großartigen Dimensionen und durch ihre auffällige Gestalt die Be¬
geisterung des großen Haufens erregen. Die Reformvorschläge, die er macht,
sind geeignet, manchem schreienden Mißbrauch abzuhelfen, und manche drückende
Ungleichheit in der Gesetzgebung aufzuheben, aber keines hat den weitgreifenden, die
Phantasie der Massen packenden Charakter, den man von den Maßregeln eines aus
den hervorragendsten staatsmännischen Talenten Englands zusammengesetzten Cabinets
erwarte» sollte. Das liegt zum Theil an dem Coalitionscharakter deS Ministeri¬
ums, dessen einzelne Mitglieder alle eine so ausgeprägte politische Persönlichkeit
haben, daß jeder Einzelne von seinen individuellen Ansichten Viel aufgebe» muß,
um sich mit den übrigen nur zu einer allgemeinen Maßregel vereinigen zu können.
Das lenkt die Thätigkeit des Ministeriums von Hans aus von den großen Prin-
cipienfragen ab, und auf die Bahn der praktischen Reformen - eine bescheidene,
aber gewiß nicht weniger fruchtbare Thätigkeit.
Ein Gesetz über die Reform und Ausdehnung des Wahlrechts wird das
Ministerium in dieser Session nicht vorlegen, und wenn es dasselbe — wie Lord
I. Russell sich ausdrücklich verpflichtet — zu Anfang der nächsten Session vorlegt,
so wird es sich nicht sehr von der von Lord I. Russell in der letzten Zeit seines
Ministeriums eingebrachten Bill unterscheiden, d. l). es wird weder geheime Ab¬
stimmung, noch eine Vertheiluug der Repräsentanten nach der Einwohnerzahl der
verschiedene» Wahldistricte vorschlagen, obgleich die radicale Partei diese beiden
Principien zu ihren Schiboleths gemacht hat, und nur das Ministerium unter¬
stützen will, welches sich für ihre Annahme erklärt. Es ist hier nicht der Ort,
über die Borzüge zu sprechen, welche die bestehende Wahleiurichtung über die von
den Radicalen vorgeschlagene hat, aber eine Thatsache müssen wir anführen,
welche die Tendenz der Manchesterreformcr ans das Klarste bezeichnet. Nach der
gegenwärtigen Einrichtung sind, mit einigen, allerdings dringender Abhilfe be¬
dürfenden Ausnahmen, die Vertreter ziemlich gleichmäßig über das ganze Land
vertheilt, und selbst die Ansprüche der dichter bevölkerten Grafschaften auf eine
zahlreichere Vertretung sind nicht ganz unberücksichtigt geblieben. Würde aber die
Einwohnerzahl der einzelnen Districte als alleiniger Maßstab für die Vertheilnng
der Mitglieder genommen, so würden tO Proc. der städtischen und 20 Proc. der
Grafschaftsmitglieder auf die Grafschaften Middlessex, Lancashire »»d Yorkshire
kommen, und diese Mittelpunkte der Fabrikindustrie würden 4S7 Mitglieder von
den 46ü, welche ganz England wählt, in das Parlament schicken. Die
Forderung allgemeiner Gleichheit ist hier nur das Schild der Ansprüche eines
nach Alleinherrschaft strebenden Standesinteresses.
Natürlich wird das Ministerium, von Cobden und dessen Freunden arge An¬
griffe über diese Unterlassungssünde zu erdulden haben, zumal da Cobden ein
anderes Agitationsmittel durch Lord Russell's Erklärung abgeht, daß er keine wesentliche
Erhöhung des Credits für Armee und Marine verlangen werde. Die Agitation
der Friedensfreunde, die gern die eiserne Ruthe jedes Eroberes küssen möchten,
wenn sie nur ihren Callao ungehindert verkaufen können, hat, beiläufig gesagt,
jetzt wirklich die Höhe der Lächerlichkeit und Widerlichkeit erreicht; populär ist sie
so wenig, daß in ihren Versammlungen, wie noch neulich in Bristol, nicht selten die
respectabeln Bürger als Opponenten auftreten, obgleich man sonst in England
jede Clique von Agitatoren ungehindert ihr Steckenpferd reiten läßt. Da daher
Cobden das Ministerium nicht verschwenderischer Rüstungen gegen den friedlieben¬
den Kaiser der Franzosen anklagen kann, so wird er wahrscheinlich das Aufschieben
der Reformbill als Waffe gegen das Ministerium benutzen; ob mit Erfolg, läßt
sich sehr bei einem Parlament bezweifeln, das seine Arbeiten eben erst beginnen
will und schwerlich geneigt sein dürfte, schon jetzt, ohne Etwas gethan zu haben,
wieder nach Hanse zu gehen.
Eine ernstlichere Gefahr für das Ministerium könnte entstehen, wenn es wahr
ist, daß in der erst nach Ostern versprochenen Vorlage über die Einkommensteuer
Mr. Gladstone, wie behauptet wird, nicht den Unterschied zwischen Einkommen
von Arbeit und Einkommen von Capital anerkennen werde. Daß Disraeli diesen
Unterschied in seinem Budgetplan mit aufstellte, hat ihm viele Anerkennung in
allen Klassen der Bevölkerung gewonnen, und er würde selbst in den Reihen der
Liberalen zahlreiche Anhänger finden, wenn ihm das Ministerium eine solche Op¬
positionswaffe in die Hände gäbe.
Die anderen von Lord I. Russell in Aussicht gestellten Vorlagen sind: ein
Gesetz über das Lotsenwesen als weitere Entschädigung der Nhederei für die Auf¬
hebung der Navigationsacte, Vorschläge über eine Reform des Erziehungs- und
Unterrichtswesens, die Niebersetznng einer Commission, um über bei den Universi¬
täten Oxford und Cambridge vorzunehmende Reformen zu berathen; ein Gesetz
zur Abschaffung der Deportation und zur Umgestaltung des Pönitentiarshstems,
endlich abermals eine Bill, um den Jsraeliten die Annahme eines Sitzes im
Unterhause möglich zu macheu. Im Oberhause setzen sowol der vorige Lordkanzler,
Lord Se. Leonards, wie der gegenwärtige, Lord Cranworth, ihre Bemühung zur
Reform der Civilrechtspflcge mit großer Thätigkeit fort; auch eine Codificirnng
des strafrechtlichen Gesetzbuchs ist in Aussicht gestellt. Es wird dem Parlament
daher keineswegs am Stoff zur Thätigkeit fehlen, obgleich keiner der für die Be¬
rathung in Aussicht gestellten Gegenstände geeignet ist, die politischen Leidenschaf¬
ten zu erregen und den Verhandlungen ein lebhaftes Kolorit zu geben.
Zu der Shakespearclitcratnr ist ein höchst wichtiger Beitrag in „Kotes auel
CmenÄaUous w etre text, ok Shakespeares ?la>s, trou Karlx N-wnseript Cor-
reetwns in a Cop^ ok edle ssolio 1632, in etre possession ok l. ?azme Lollier"
erschienen. Die Geschichte des wichtigen Fundes, welcher das eben genannte Wert
veranlaßt hat, wird fleißigen Lesern des Athcnänms nicht unbekannt sein, Anfang
1849 kaufte Mr. Collier in einer Bücheranction ein beschmntztcs Exemplar der
zweiten Folioausgabe Shakespeares v. 10^2. Sie war mir vielen handschrift¬
lichen Bcnicrknngen versehen, aber er berücksichtigte diese nicht weiter. Er hatte
das Buch gekauft in der Hoffnung, die Lücken eines besseren Exemplars dnrch
dasselbe ausfüllen zu können. Darin sah er sich getäuscht, und er legte das Buch
Mißvergnügt als einen schlechten Kauf bei Seite. Nach ungefähr drei Jahren
nahm Collier das lauge vernachlässigte Buch wieder einmal zufällig zur Hand
und entdeckte nnn zum ersten Mal den ans den Deckel geschriebenen Namen deö
früheren Eigenthümers: „Ibwmas ?erkms, dis boots". Da es zu Shakespeare's
Zeit eiuen bekannten Schauspieler dieses Namens gegeben, so forschte man wei¬
ter, dieser aber hatte Richard geheißen. Jedoch die Aufmerksamkeit Collier's war
einmal rege geworden, und bei näherer Besichtigung faud er, daß das verachtete,
zerrissene, mit Wein, Unschlitt und Tabakasche befleckte Buch nicht weniger als
20,000 handschriftliche Correcturen enthielt, die sich manchmal auf die Juterpuuctiou
beschränkten, manchmal sich zu ganzen Verteilen ausdehnen. Weber das kost¬
bare Buch stammt, wird sich schwerlich mehr feststelle» lassen, aber selbst ein vor>
sichtiger Kritiker muß in dem Schluß kommen, daß das Buch ein bei der Dar¬
stellung Shakespeare'scher Stücke benutztes Exemplar ist, aus einer Zeit, wo die
Tradition deS richtigen Textes in den Schauspielern noch frisch war. Daß es ein
zur Darstellung benutztes Bühnenexemplar gewesen ist, geht daraus hervor, daß
es mit sehr in's Einzelne gehenden Regiebcmeiknngcn versehen ist; zweitens, daß
die früher nicht in Acte und Scenen eingetheilten Stücke von dem Eommentator
cibgetheilt siud, und endlich, daß in allen Stücken, mit Ausnahme von AinoninS
und Cleopatra, vorwiegend rhetorische Stellen, wenn sie den dramatischen Zusammen-
hang nicht stören, gestrichen sind, offenbar, um das Stück zur Darstellung zu
kürzen. Die Negiebcmerkungen gehen oft sehr in's Einzelne, und tragen zuweilen
viel zum besseren Verständniß des Textes bei. So soll Hamlet nach den Wor-
ten: „Hvxvls ana ivlmislews ok xraos clekenck us!" eine Pause machen, lind
Nosencrantz nach Hamlet's Worten: „Jot-in clLli^Kts not ins" lächeln. In
der zweiten Scene des Sturmes legt Presperv zu Anfang seiner Erzählung den
Zaubermantel ab. Unmittelbar vor dem Schluß, wo Prvspero sagt: „r>c»v l
arise", fügt der Corrector am Rande bei: „Legt den Mantel wieder an". Mit
dem Zanberkleide wieder ausgestattet, das er, während er Miranda seine Ge¬
schichte erzählt, uicht gebraucht hat, versetzt jetzt Prvspero seine Tochter in einen
magischen Schlummer, um sich mit Ariel bespreche» zu könne». So verliert die
Plötzliche Schläfrigkeit Mira»da's während einer Erzählung von so fesselnden
Interesse das Sonderbare, das die Kritik, welche die Regiebemerknng nicht
kannte, mit Recht darin gefunden hat. Was die den Correcturen zu Grnnde
liegende Autorität betrifft, so scheint uns ihre große Anzahl, die Angemessenheit,
mit der sie oft nur durch die Veränderung weniger Buchstaben das hellste Licht
über die dunkelsten Stellen verbreiten, und vor Allem der Umstand, daß nicht
weniger als neun einzelne und zur Situation stets trefflich passende Verszeilen
eingefügt sind, zu beweisen, daß sie uicht blos das Product kühner und glücklicher
Conjectur, sondern von einem Zeitgenossen Shakespeare's überliefert siud. Lei¬
der gestattet uns der Raum dieses Blattes nicht, eine solche Anzahl von Kor¬
rekturen hier mitzutheilen, welche dem Leser gestatten würde, sich selbst ein Urtheil
über ihre Wichtigkeit zu bilden, und wir müssen den sich für Shakespeare's
reinen Text Juteressirenden aus das oben genannte Werk verweisen.
Die Zeichnung der Wieland-
statue von Gaffer. — El» Ausschreiben des zu Weimar eingesetzten Comites giebt
Bericht über Anregung, Beginn und Sachlage der projectirten Standbilder von Göthe,
Schiller und Wieland: Das großherzogl, Haus, unter specieller Theilnahme und
Anregung S. k. H. des Erbgroßhcrzvgs von Sachsen, läßt die Modelle für den Guß
fertigen*); S. M. der König Ludwig von Bayern hat das Erz zu den drei Stand¬
bildern bewilligt, und die übrigen auf -12000 Thaler veranschlagten Kosten für den
Guß, für Postament und Ausstellung sollen durch Beiträge der Verehrer der drei großen
Dichter in allen Theilen Deutschlands aufgebracht werden. Dieses Ausschreiben ist bereits
ausgesendet und darin der Wunsch ausgesprochen, daß die Empfänger die Sammlung
der Beiträge entweder selbst übernehmen oder Männer namhaft machen, welche sich der
Sache unterziehen mögen. Zu erwarten ist, daß mancher der vielen Verehrer des einen
oder aller dieser drei bedeutenden Männer, auch ohne die Aufforderung direct zu er¬
halten, im Kreise seiner Bekannten diese Notizen verbreiten und seine Theilnahme
bethätigen werde.
Ueber die ausgestellten Modelle zu dem gemeinsamen Denkmal für Goethe und
Schiller haben die Grenzboten in Ur. 8. bereits berichtet. Gleichzeitig damit war aber
auch ein mit der Feder gezeichneter Entwurf zu der Wielandstatne von Herrn Bildhauer
Gaffer in Wien eingesendet, die Figur ohngefähr -I' 6" rhein.**) Sie stellt Wieland
in mittleren Jahren dar, mit leichtem bequemen Frack, wie er in dem letzten Viertel
des vorigen Jahrhunderts getragen wurde, und mit kurzen Hosen bekleidet. Die Figur
ruht aus dem rechten Beine, mit der rechten, halb erhobenen Hand macht sie die Be¬
wegung eines Erzählende», womit auch der gutmüthig heitere Ausdruck des Gesichtes
harmonirt. In der Linken, die bis zu dem Baumsturz herabreicht, welcher der
Figur zur Stütze dient, hält er den Oberon, wie die Aufschrift angiebt; an dem
Banmsturz selbst hangt eine Lyra.
Wenn ein bestimmter individueller Charakterzug durch das Leben und die Werke
eines Dichters geht, ist es ein großer Vortheil sür den Künstler, wenn dieser sich für
die Darstellung eignet, wenn er ihm den Vortheil einer lebendig bewegten Stellung
und Anordnung bittet. Sonst möchte eine bestimmte Situation, ein einzelner Moment
nur dann günstig sein, wenn er von großer, allgemein bekannter Bedeutung ist. Für
Wieland scheint nun das gewählte Motiv günstig, da es die heitere, leichte Unter¬
haltung, die gutmüthig satyrische Laune seiner Werke ausspricht, die sich auch nach
Versicherung Derjenigen, welche ihn persönlich gekannt haben, in seiner Erscheinung aus¬
gedrückt haben soll, und die auch die vorhandenen Bildnisse errathen lassen. Die zu diesem
Motiv passende, etwas vorgebeugte Haltung des Kopfes erinnert nebenbei an den Aus¬
druck dieser Bildnisse aus spätern Jahren. Aus der zwar sorgfältigen, aber doch nicht
sehr ausgeführten Zeichnung kann man abnehmen, daß Herr Gaffer diese Aehnlichkeit
i» den verjüngten Zügen wird festzuhalten wissen.
Am Meisten sprach man sich, und wohl mit Recht, gegen die übcrkrästige Figur
aus, die mit den vorhandenen Bildnissen, mit der noch von Vielen gekannten person«
lichen Erscheinung und mit dem feinen, zierlichen Sinn und Eindruck seiner Werke
contrastirt. Die etwas zu geschwungene Stellung, wobei die rechte Hüfte ungewöhnlich
hervortritt, wird in der Ausführung gewiß gemildert werde». Zuletzt ist noch die
etwas kleinliche Lyra zu tadeln, die an dem stützenden Baumsturz aufgehängt war.
Mit dieser hat es fast dieselbe Bewandtniß, wie mit dem Kranz bei Schiller und
Goethe: Will man sie nicht, als Hauptbczeichnnng sür den Sänger, in die Hand geben,
wofür wol wenig Stimmen sein dürsten, so ist sie nur als ein Attribut, mehr als
schmückendes Beiwerk zu behandeln, vielleicht am schicklichsten an den Stamm zu stellen
oder zu lehnen. Ob Herr Gaffer, bevor er an die Ausführung geht, erst ein kleines
Modell machen wird, woraus man allerdings eine deutlichere Anschauung erhalten
würde, oder ob die Ausführung des sür den Guß zu fertigenden großen Modells nach
dieser Zeichnung genehmigt wird, darüber ist im Publicum nichts verlautet.
Kunstvereine und Ausstellungen in Thüringischen
Städten: Der Erfurter Kunstverein, welcher bisher sehr thätig gewesen ist, größere
und kleinere Werke jetzt lebender Künstler sür größere und Sonder-Ausstellungen, öfter
aus Privatbesitz, herbeizuschaffen, und sich dadurch das kunstliebende Publicum Erfurts
und der benachbarten Städte zu Dank verpflichtet hat, beabsichtigt jetzt eiuen Turnus von
Ausstellungen in denjenigen thüringischen Städten.die nicht schon einem andern dergleichen
Turnus angeschlossen sind, einzurichten, und hat dazu bereits Aufforderung und Vorschläge
nach Weimar, Eisenach, Naumburg u. c>. O. ergehen lassen, von mehreren auch schon die
Zusage des Beitrittes erhalten.
Der Gedanke und das Bemühen, durch dergleichen Anstalten Sinn und Liebe für
die Kunst allgemeiner zu verbreiten, ist unter allen Umständen lobenswerth, und es wäre
zu wünschen, daß dies der Weg zum Ziele sei, weil damit den Künstlern zugleich er¬
weiterte Aussicht aus wachsende materielle Vortheile, die eben nicht zu entbehren sind,
in Aussicht gestellt würde. Die günstige Wirkung eines solchen Unternehmens würde
aber voraussetzen, daß der Verein durch Zusendung von Werken unterstützt würde,
welche den Stand der jetzigen Kunst in ihren verschiedenen Zweigen auf der Höhe
zeigen, und zwar von Seiten, die den Ankauf derselben nicht als Zweck der Ausstel¬
lung ansehen. Durch das Ansammeln einer Masse mittelmäßiger und geringer Malereien
wird mehr geschadet und der Kunstbildung im Publicum mehr entgegengearbeitet, als
gewitzt. Auch Mangel an passenden gcränniigen Localen, Kostenaufwand u. s. w.
werden sich der guten Absicht an manchem der Orte hindernd entgegenstellen.
Horace Vernet, wcleZirr nach Algier auswandern wollte, wurde kürzlich nach den
Tuilerien gerufen. Der Kaiser forderte ihn auf, die VcrmähluugSfeicrlichkcit in Notre-
Damc zu malen, damit auch diese Scene in der großen Gallerte von Versailles ihren
Platz finde. Der berühmte Maler soll sich entschlossen haben, den Wunsch des Kaisers
zu erfülle» und seine Reise einstweilen zu vertagen. Warum soll auch dem Ä>!anne,
der Alles malt, dieser Auftrag nicht recht sein? —
In München ist beim Hofiheatcr Sakontala, das
Buch vom Maler Telchinin, die Musik von einem Dilettanten, einem Freiherrn von
Perfall, zur Aufführung angenommen worden. Zu Berlin sind beim Hoftheater die
Nibelungen, Oper von Dorn, und in Kroll's Theater Geborgt, eine Operette von
Marschner, in Vorbereitung; in Breslau die schöne Gascognerin von Schäffer. —
Vcrdii hat eine neue Oper Traviia für das Ferien-Theater zu Venedig componirt,
das Buch ist nach der Dame mit den Camelien von Dumas gemacht.
Von neuen Dramen werden angezeigt eine Tragödie Nero vou M. Schleich, am
Hoftheater zu Berlin angenommen: eine Tragödie Zenobia von Dr. May, Assessor
am Stadtgericht zu München, zu München angenommen. Uffo Horn hat ein Drama
„die Prätendentin" beim Theater in Prag eingereicht.
, In Müuche» ist eine kleine Place „der Fehlschuß", Alpcnscene in 1 Act vom
Herzog Maximilian von Bayern am Hoftheater aufgeführt.
Im Anfange des nächsten Monats soll der Ausbau des königlichen Schauspiel-
hauses in Berlin beendet sein, und am 13. März die Eröffnnngsvorstcllnng stattfinden.
Man hört, daß bei dem Umbau das Parterre ganz weggefallen sein soll. Dies ist
doch "'ohl so zu verstehen, daß der ganze Partcrrcraum durch Sitzplätze eingenommen
wird. — In Bukarest ist ein neues Theater am letzten Tage des vergangenen JahreS
eröffnet' worden; es wird, wie neuen Theatern gewöhnlich geschieht, als eins der
schönsten Theater in Europa gerühmt, und ist vou dem Wiener Architekten Heft erbaut.
Es hat drei reich verzierte Logenreihen, eine Gallerie und im Parterre 338 Sperrsitze.
Dem tiefgefühlten Bedürfniß eines neue» Theatcrgebändes in der Capitale der Wallachei
wäre jetzt abgeholfen; in welcher Sprache man darin sprechen wird, scheint noch nicht
recht entschieden. Die Oper wird natürlich italienisch sein. Aber das Schauspiel? Wird
man dem Kaiser von Rußland zur Liebe russische Vorstellungen geben, oder den Bo-
jarcufiauen zur Liebe französische, odcr für die reichen Kaufleute halb griechische und
halb deutsche, oder für das Volk rumainischc? Die dramatische Literatur in der letzteren
Sprache ist zur Zeit noch nicht bedeutend, und kann schwerlich auch das einfachste
Repertoir bilden. Indeß, da das Haus vorhanden ist, wird sich doch auch die Literatur
finde». Vorläufig ist bei der Eröffnungsvorstellung ein Singspiel in wallachischcr
Sprache „Zoö" und einzelne Scenen aus italienischen Opern dargestellt worden.
--schreibt der Corresp. o. Bl.: Hute wird Therese
Milanollo die Reihe ihrer hiesigen Concerte beendigen. Sie haben die Theilnahme
deS Publicums in ganz ungewöhnlicher Weise erregt. Es ist nicht der Reiz der Vir¬
tuosität allein, der das Opernhaus stets bis ans den letzten Platz füllte; ein eigner
Zauber umsieht dieses Mädchen. Wen» sie, scheinbar eiskalt, vor die dichtgedrängte
Versammlung tritt, nnr einmal den ernsten Blick ihres Anges ans die lauschende Menge
richtet, und dann ihr Spiel voll tiefer Melancholie beginnt, wenn sie die wehmüthigsten
Melodien, die den Hörern das Herz zusammenschnüren, und die lustigsten Passagen
scheinbar mit demselben Gleichmuth vorträgt, und wenn sie dem unendlichen Beifall
mit demselben Ernst, ohne Lächeln dankt, so fühlen mir mit Behagen über uns die
Macht einer räthselhaften, aber anziehenden Persönlichkeit. Nur wenn sie ihrer Geige
die Töne einer Hirtenflöte entlockt, schwebt ein Lächeln über ihre Züge, als freute sie
sich dieser anmuthigen Spielerei; anch die Variationen zur Melodie des alten Rbcin-
weinlicdes „Am Rhein, am Rhein, da wachsen unsere Reben," scheint sie mit besondern!
Vergnügen vorzutragen. Jedenfalls ein schöner Zug von Uneigennützigkeit, der ihr die
Herzen aller ältlichen und jüngeren Herren gewonnen hat. Und kurz, sie hat Berlin
und auch Ihren Corrcsp. entzückt.
Robert Schumann wird im Monat März mit seiner Gattin Clara nach Leipzig
kommen, um aus dem Theater seine Musik zu Byron's Manfred zur Aufführung zu
bringen. Die große Ballade „der Königssohn" sür Chor und Orchester erscheint hier
bei Whistling und ist im Stich fast vollendet; auch sie wird noch im Lause dieser
Saison hier aufgeführt werden.
Der Anhalt-Dessauische Staatsanzeiger veröffentlicht bei der Gelegenheit des 67.
Geburtstags von Friedrich Schneider ein RcsuiM seiner Thätigkeit. Erstens
leitete er seit 1821 außerhalb Dessau 66 Musikfeste und Aufführungen. Zweitens
schrieb er die bedeutende» Werke „Elementarbuch der Tonsetzkunst", „Elcmcntarübungen
im Gesänge und Pianofortespiel". „Vorschule der Musik", „Handbuch des Organisten".
Gedruckte Werke im Ganzen 103. Drittens componirte er 23 Sinfonien, 60 So¬
naten, 20 Ouvertüren, 16 Oratorien (Weltgericht, Sündfluth. das Verlorne Paradies,
Pharao, Absalon, Gideon. Gethsemane und Golgatha ze.) 15 Messen, 28 Hymnen,
Kantaten und Psalmen, 609 Lieder. Wenig bekannt sind seine 7 Opern, darunter:
„Claudine von Villa Bella" und „Atom's Entzauberung" (gegeben 1808 in Leipzig).
Die Grenzboten
haben kürzlich den naiven Bericht von Gyrvwctz über sein Zusammensein mit Goethe
mitgetheilt, es dürfte in mehr als einer Beziehung Interesse haben, damit zusammen-
zustellen, wie Mozart sich über sein persönliches Zusammentreffen mit Wieland äußert.
Wieland's Oper Rosamunde, von Schweißer, wie er glaubte, ganz vortrefflich
gesetzt Mozart's Urtheil lautet etwas anders —, sollte im Januar 1778 in Mann¬
heim auf dem churfürstlichcn Hoftheater aufgeführt werden, und der Dichter war ein¬
geladen, persönlich dabei gegenwärtig zu sein. Er entschloß sich zu dieser Reise: „Denn
ich will und muß," schreibt er an Merck, „einmal in meinem Leben mich recht an Musik
crsättigcn, und wann oder wo werd' ich jemals dazu bessere Gelegenheit finden?"
Den 21. December kam er in Mannheim an und schrieb wenige Tage darauf an
denselben Freund: „Ich kann Euch jetzt noch nichts Weiteres sagen, als daß ich mich
zu Leib und Seele wohl befinde, und eben dadurch, daß ich keine andere Rolle spiele
als meine eigene, meine Sachen, wie mich däucht, und wie es wenigstens scheint, recht
gut mache. Vierzehn Tage, längstens 3 Wochen, wird's herrlich gehen, und mehr
verlangen wir ja nicht. Eure Weissagungen oder Ahnungen von dem Eindruck, den
meine Epiphania unter diesen Menschenkindern machen würde, scheinen völlig in Er¬
füllung zu gehen. Bis jetzt habe ich mich gut gehalten: Gott gebe nur, daß mir nicht
zu wohl unter diesem Volke werde! Doch dafür ist auch gesorgt." Und in demselben
Sinne äußerte er sich in einem Briefe an Sophie La Noche: „Mein hiesiger Aufenthalt
wird immer interessanter. Der Churfürst hat mich mit seiner ihm eigenen Leutseligkeit
empfangen. Man empressirt sich, mich zu haben, und jeder Tag ist mit Etwas be¬
zeichnet, daS mir die Wiedereriunerung desselben angenehm macht." Der Tod des
Churfürsten von Bayern verhinderte die Aufführung der Rosamunde; so fatal dieser
Strich durch seine Rechnung Wieland auch sein mochte, der sich mit Recht großen
Erfolg von der Oper versprach, so ließ er sich den günstigen Eindruck, den Mannheim
ihm machte, dadurch nicht störe». „Ich reise nun," schreibt er an den Freiherr» v.
Gehler, „übrigens mit meinem hiesigen Aufenthalt höchst vergnügt, wieder nach meinem
lieben Weimar. Ich habe hier viel Merkwürdiges gesehen und gehört, und besonders
unter den Tonkünstlern und Malern verschiedene Subjecte kennen gelernt, die ich für
einzig in ihrer Art halte, und um derentwillen Mannheim mir immer interessant
bleiben wird."
Zu diesen Subjecten gehörte auch Mozart, der zu derselbe» Zeit sich in Mannheim
aufhielt. Er hatte die seiner unwürdige Stellung in Salzburg aufgegeben, um in
Paris, da in Deutschland für ihn kein Platz sich zu finden schien, sich einen Namen
und eine unabhänge Stellung zu erwerben. In Mannheim fesselte ihn eine leidenschaft¬
liche Neigung für Aloisia Weber, die später berühmte Sängerin Lange, und er bot
Alles aus, um eine Anstellung oder doch einen Vorwand für sein längeres Bleiben in
Mannheim zu finden. In den Briefen an seinen Vater, die nur zum Theil bei Nisse»
gedruckt sind, äußert er sich auch über Wieland, und es ist ungemein charakteristisch,
mir wie vorurtheilsfreier Schärfe der cinnndzwanzigjährige junge Mann den allgefeicrten
Dichter beobachtet und eine Schilderung macht, die gewiß nicht geschmeichelt ist und zu
den obigen Andeutungen eine gar hübsche Ergänzung bietet.
„Nun bin ich," schreibt er, „mit Herr» Wieland anch bekannt; er kennt mich aber
nicht so, wie ich ihn, denn er hat noch nichts von mir gehört. Ich hätte mir ihn
nicht so vorgestellt, wie ich ihn gefunden. Er kommt mir im Reden ein wenig ge¬
zwungen vor, eine ziemlich kindische Stimme, ein beständiges Gläsclgucke», eine gewisse
gelehrte Grobheit und doch zuweilen eine dumme Herablassung. Mich wundert aber
nicht, daß er (wenn anch nicht zu Weimar oder sonst nicht) sich hier so zu betragen
geruhet, denn die Leute sehen ihn hier an, als wenn er vom Himmel hcrabgcfahren
wäre. Man genirt sich ordentlich wegen ihm, man redet nichts, man ist still, man
giebt auf jedes Wort Acht, daS er spricht — — nur Schade, daß die Leute oft lange
in der Erwartung sein müsse», den» er hat einen Defect in der Zunge, vermöge dessen er
ganz sachte redet und nicht sechs Worte sagen kann, ohne einzuhalten. Sonst ist er,
wie wir ihn Alle kennen, ein vortrefflicher Kops. Das Gesicht ist von Herzen häßlich,
mit Blattern angefüllt, und eine ziemlich lauge Nase. Die Statur wird sei» — bei¬
läufig etwas größer als der Papa." Indessen war er gegen den Beifall des berühmten
Mannes doch nicht gleichgiltig; denn nach einiger Zeit schreibt er weiter: „Der Herr
Wieland ist, nachdem er mich nur zweimal gehört hat, ganz bezaubert. Er sagte das
letzte Mal nach allen möglichen Lobsprüchen zu mir: Es ist ein rechtes Glück für mich,
daß ich Sie hier angetroffen habe; und drückte mich bei der Hand. Heut' ist die No-
samund im Theater probirt worden. Sie ist — — gut, aber sonst nichts; denn wenn
sie schlecht wäre, — so könnte man sie ja nicht aufführen?--"
Die französische Armee in ihrem Verhältniß zu dem Kaiser Louis
Napoleon und den deutschen Hecrcstheilen, von einem deutschen Of-
ficier a. D. Leipzig, Fricdr. Ludw. Hcrbig. Diese kleine, sehr beachtungs-
werthe und mit vielen ebenso interessanten, als nützlichen Angaben versehene Schrift
erörtert in ihrer ersten Hälfte die Ursachen, aus welchen die Anhänglichkeit des franzö¬
sischen Heeres an den jetzigen Herrscher Frankreichs hervorgegangen ist, und die Be¬
dingungen, auf welchen diese Anhänglichkeit fußt. So sehr wir die Nichtigkeit der
meisten Anführungen, die darüber gemacht werden, anerkennen, so weichen wir doch von
einzelnen hier ausgesprochenen Ansichten des Verfassers ab. So von dem unbedingt
wegwerfenden Urtheil, das er über Louis Philipp fällt, wie auch von der auf¬
gestellten Meinung, daß eine militairische Dictatur allein die öffentlichen Sitten Frank¬
reichs, wenn überhaupt irgend ein Mittel dazu vorhanden sei, reformiren könne. Auch
können wir keineswegs dem beipflichten, was über die Stellung des Heeres und Officier-
corps im Staat und in der Gesellschaft gegenüber den „Bourgeois und den Gcldmännern"
gesagt wird; wir glauben, daß ein gesundes Gemcingesctz eine solche Stellung der bewaff¬
neten Macht nicht vertragen kann. Der Verfasser macht sich übrigens kein Hehl daraus,
daß in Louis Napoleon nichts weniger als ein moralischer Reformator Frankreichs aus¬
gestanden sei, und Alles, was er über dessen Verhältniß zum Heere und über die daraus sür
Europa entspringenden Gefahren sagt, stimmt ganz mit unserer Anschauung überein; mir so
unrettbar tief gefallen, wie die Schrift es thut, halten wir das französische Volk noch
nicht, wenn wir uns auch nicht verhehlen, daß es schreckhaft tief gefallen ist. Die
Partie des kleinen Werkes, welche die Stärke des französischen Heeres, seine Kriegs¬
bereitschaft, die Beschaffenheit der einzelnen Waffengattungen mit unleugbarer Sach¬
kenntnis) bespricht, möchten wir allen in süßen Fricdensträumeu Befangenen auf's Drin¬
gendste empfohlen haben. Mit Zahlen und überzeugenden Darlegungen zeigt der Ver¬
fasser, daß ohne große Anstrengung Frankreich eine Armee von mehr als 400,000
Mann, worunter über 60,000 Reiter, nebst 1200 Geschützen in kurzer Frist activ
in's Feld stellen kann, wobei zum Schutz Algeriens noch 38,000 Mann und für die
Besetzung des Landes 80,000 Mann, außer 2i,000 Mann Gendarmerie und der
Nationalgarde bleiben. Die sehr schalen Friedensdemonstrationen der neuerdings mit so
vieler Ostentation vollbrachten Reduction pro 30,000 Mann Jnfanterie können darnach
zu ihrem wahren Werth zurückgeführt werden. Am Beherzigenswcrthcstcn sind die den
Schluß der Schrift bildenden Betrachtungen über die deutschen Heerestheile, worunter
die ans den Kontingenten der mittleren und kleineren Bundesstaaten gebildeten drei
Armeecorps (das achte, neunte und zehnte) verstanden sind. Die großen Uebelstände,
welche aus der Verschiedenartigkeit der Organisation, Bewaffnung und Unisormirung
derselben einem so einheitlich organisirten Gegner, wie die Franzosen, gegenüber, hervor¬
gehen müssen, sind schlagend nachgewiesen, und die Nachtheile und Schwierigkeiten, die
sich sür das Obcrcommando aus der buntscheckigen Zusammensetzung einer so vielen ver¬
schiedenen Fürsten und Staaten angehörigen Truppe ergeben dürften, zum Theil wirklich
ergötzlich aufgedeckt. Als bestes Mittel der Abhilfe erklärt der Verfasser die durch
Militairconventionen zu vollziehende Einverleibung der mittleren (mit Ausnahme der i
Königreiche) und kleineren Kontingente in das preußische Heer; gleichwol verbirgt er
es sich nicht, daß unter den obschwebenden Verhältnissen dem nicht zu überwindende
Politische Schwierigkeiten entgegenstehen. Er schlägt daher eine Reihe von Maßregeln
vor, die zur durchgreifenden und einheitlichen Organisation der gemischten deutschen
Heerestheile von Bundes wegen zu treffen sein würden. Wir bedauern, daß uns der
Raum nicht gestattet, auf diese Vorschläge, die wir durchgehends für ebenso trefflich als
ausführbar halten, näher einzugehen; gestehen müssen wir aber, daß wir mehr wünschen
als hoffen, der Bund möge sich Willens und im Stande zeigen, denselben nachzukommen.
Unter dem Titel „Atlantische Studien" erscheint in der neuen Verlagsbuchhand¬
lung von Georg Heinrich Wigand in Göttingen eine neue Monatsschrift, die sich
mit den Bereinigten Staaten vo» Nord-Amerika und deren Interessen beschäftigt, und
erklärt, Beiträge für die Monatsschrift nnr aus Amerika selber anzunehmen. Wohl das
erste in Deutschland redigirte, aber ganz im Ausland geschriebene Blatt. Der Verleger
will dem Publicum eine Art Garantie geben, daß es echte, unverfälschte Nachrichten
von jenem Theile der Welt bekommt, der für Tausende in Deutschland jetzt mehr ge¬
worden ist, als ein fremdes Land, über das man nnr gelegentlich gern Etwas liest —
ein Theil will ihm die eigene Zukunft anvertrauen, ein anderer hat dort theure Ver¬
wandte und Freunde, da will man sich gern Alles so genau beschreiben lassen wie möglich.
Nichts desto weniger wird die Redaction sehr vorsichtig, selbst mit Berichten von dort
umgehen müssen, denn nicht Alles, was von dort herkommt, ist echt. Amerika ist in
den letzten Jahren in den Bereich unserer VcrgnüguugStouren gelegt worden, und nur
zu häufig kommt es vor, daß Menschen, die in diesem Monat hinübergehen nud mit
dem nächsten Dampfer zurückkommen, sich gedrungen fühlen, ihre transatlantischen Er¬
fahrungen zu veröffentlichen. Uebrigens ist der Verleger der Atlantischen Studien selbst
eine längere Reihe von Jahren in Amerika gewesen, und hat offenbar dort die besten
Verbindungen. Dies erste Heft bringt zunächst einzelne gelungene Artikel über die Ver¬
einigten Staaten odcr einzelne Theile derselben; vernünftiger Weise werden in ihnen
besonders die Illusionen der Auswanderer angegriffen, mit denen sie sich ihre Wände
tapcziren, ehe die Mauern ausgerichtet sind; der eine Nrtitcl „Humbug und Barnum"
schildert in vortrefflicher und zugleich humoristischer Weise das Wesen der amerikanischen
Aufschneidereien. Die zweite Hälfte bringt Miscellen, welche in flüchtigen, aber scharfen
Strichen das amerikanische Leben schildern, wobei besonders das jetzt wieder neu auf¬
tauchende Geisterwcscu von Interesse ist.
Phantasus. Eine Auswahl ans erzählenden Dichtungen der Romantiker, mit
einleitenden Vcmcrknngcn über die romantische Schule (Hannover, Nümvler.) — Die
Sammlung enthält Novellen von Tieck, Novalis, Arnim, Brentano, Kleist, Schlegel,
Foucm6, Chamisso, Eichendorff, Hoffmann, Äcrucr und Steffens. Ob es recht ist, Ro¬
delten, die schon andenvcit gedruckt sind, und die zum Theil sich auch in den Gesammt-
werkcn der Dichter finden, noch einmal abdrucken zu lassen, darüber habe» nicht wir,
sondern die bürgerliche Gesetzgebung zu entscheiden. Unbillig scheint es uns jedenfalls,
denn es wird dadurch jenen Werken Concurrenz gemacht. Der Herausgeber scheint diesen
Uebelstand dadurch einigermaßen haben ausgleichen zu wollen, daß er nnr kleine, weniger
bedeutende Novellen ausgewählt hat; aber dann entspricht seine Sammlung gewiß nicht
dem Zweck, ein charakteristisches Bild von dem Talent der Verfasser zu geben. — Die
literarhistorische Einleitung ist höchst unbedeutend.
Es liegt uns in der Tauchnitzer Ausgabe wieder eine ganze Reihe neuer
Romane vor, die in England mehr oder minder Anklang gefunden haben, und
deren Verbreitung wir in Deutschland uur bevorworten können, weil sie uicht nur
in Beziehung auf die sittlichen Grundbegriffe, sondern anch ans die gewöhnlichen
Vorstellungen des Lebens uns näher stehe», als die französischen Novellen, die
eine Zeitlang die ausschließliche Nahrung unseres Lcsepublicnms waren. Sie
bewegen sich sämmtlich in der modernen Gesellschaft, und rühren zum größeren
Theil von Frauen her. Ueberhaupt ist es charakteristisch, daß seit beinahe einem
Jahrhundert die weiblichen Schriftsteller in England uicht nur an Znhl, sondern
anch an Werth die der übrige» Nationen bei weitem überragen. In Frankreich
geben die Damen von Geist und Bildung ihre Kräfte meistens in den Leiden¬
schaften des wirtlichen Lebens, oder in der Conversation ans. Die aristokratischen
und puritanischen Formen der englischen Gesellschaft gewähren in dieser Beziehung
einen geringen Spielraum, daher flüchtet sich alles Talent in das Gebiet der
Phantasie.
Der erste Roman, den wir anzuführen haben, ist Billette von Currcr
Bell. Die Schriftstellerin, die sich unter diesem Namen nicht blos in England
bekannt gemacht hat, heißt eigentlich Miß Bronte. Sie hat ihr Jncognito im
vorigen Jahre abgeworfen, als sie die Novellen ihrer beiden früh verstorbenen
Schwestern herausgab. Ihre beiden frühern Romane sind bekanntlich „Jane Eyre"
(1848) und „Shirley" (18Ü0). Die allgemeine Tendenz ihrer Schriften spricht
sich schon in der Widmung des zuletzt genannten Romans an Thackeray ans,
den sie einen Propheten der Zukunft nennt. Unter allen möglichen Bezeichnungen
dürfte wol die eines Propheten für diesen Dichter die am wenigsten angemessene
sein. Sein Scepticismus zerreißt die Empfindungen und Handlungen der Menschen
mit einer so unerbittlichen Virtuosität, daß alles Ideal zu Grunde geht, uicht
mit dem Leichtsinn eines Voltaire, der mit Behagen die Tollheiten der Welt genießt,
sondern mit dem kneten Schmerz eines gefühlvollen Menschen, der an seinen
eigenen Gefühlen irre geworden ist. Allein ein gewisser Sinn liegt doch in jener
Bezeichnung. Die früheren Romanschreiber stellten uns gewöhnlich ideale Bilder
von schonen, guten, erhabenen und starken Menschen ans, die entweder mit den
Ränken der Bösen, oder mit den Zufälligkeiten des Wcltlanfö zu kämpfen hatten,
für deren Persönlichkeit wir also ein unmittelbares lebendiges Interesse mitbrachten,
ohne daß sie sich erst die Mühe geben durften, uns dieses Interesse abzugewinnen.
Die demokratische Richtung unserer Zeit hat sich um auch auf die Poesie geworfen,
und diesen Idealismus zurückgedrängt. Der neue Roman geht darauf aus, auch
scheinbar unbedeutenden, von der Natur nicht begünstigten Menschen die interes¬
sante Seite abzugewinnen, und ihnen ein Bürgerrecht in der Kunst zu geben.
Früher waren namentlich die Frauen in sämmtlichen Romanen vollkommene Engel
an Schönheit und Liebreiz, sie konnten ohne Umstände in jedes Modejournal auf¬
genommen werden. Heut zu Tage wird der Leser genöthigt, an anscheinend hä߬
lichen Gesichtern allmählich tiefe Spuren geistiger Schönheit aufzuspüren — in
dieser Kunst ist namentlich Balzac Meister, — oder sich mich mit einem gewissen
christlichen Mitleiden solcher Gesichter anzunehmen, die in der That häßlich und
unbedeutend sind. Mit dieser Jdealisirung des Unbedeutenden hängt ganz noth¬
wendig das Bestreben zusammen, das Bedeutende auf eine Weise zu analysiren,
daß der Unterschied nicht so übertrieben groß ist.' Allein es kommt allerdings
darauf an, welche von diesen beiden Seiten vorzugsweise hervorgehoben wird.
Thackeray ist bereits ein Mann in den reiferen Jahren, er hat seine Jugendzeit
in dem Strudel der üppigen seinen Welt zugebracht, und nicht der innere poeti¬
sche Drang, sondern die Noth hat ihn in die Reihe der Schriftsteller geführt.
Als er seinen ersten Roman schrieb, war er bereits im Leben von den Illusionen
seiner Jugend zurückgekommen, und darum liegt in seinem Realismus eine gewisse
Bitterkeit. Bei Miß Bronte ist das Umgekehrte der Fall. Wir wissen zwar
von ihrem Leben nichts weiter, wir werden aber wol kaum Unrecht thun, wenn
wir annehmen, daß sie in ihrer immer wieder austretenden Lieblingsfigur wenigstens
theilweise Reminiscenzen ans ihrem eignen Leben dargestellt hat. Ein weibliches
Wesen, dem das Schicksal von Anfang an nicht sehr günstig entgegen trat, die
aber allmählich durch geistige Energie und durch unverdrossene Anstrengung einen
ehrenvollen Platz im Leben zu erringen wußte, sieht zwar die Welt nicht mit den
Augen einer Ideal-Dichterin an, aber doch mit einem gewissen Behagen n»d
Selbstgefühl. Wenn wir daher auch in diesem Roman öfter Spuren von jener
melancholischen Färbung antreffen, die ihr an Thackeray so reizend erschien, s»
durchschaue» wir leicht die künstliche Nachbildung; eigentlich hat die Dichterin
immer Freude am Leben, Glauben an das Gute, und Kraft, mit den Wider¬
wärtigkeiten, wie mit den Schwächen und Irrthümern zu ringen, ohne darin
unterzugehen.
Die weibliche Feder ist in einem Roman leicht herauszuerkennen; die eigent¬
lichen Helden der Franenromanc find Männer, wo möglich mit schwarzen Haaren,
blassem Gesicht »ut bedeutender Stirn; aber sie werden mir episch geschildert, sie
sind nur der Gegenstand, die Tiefe der Empfindungswelt geht uns erst in den
weiblichen Charakteren aus. — Cnrrer Bell hat ein gutes Auge für Originale,
ihre Empfindungsweise ist so wenig sentimental, daß sie ans Scheu vor der Sen¬
timentalität zuweilen barock wird. Ihre männlichen Helden sind hart, rauh, schwer
zu behandeln, zuweilen geradezu bärenhaft, und hegen ihren Vorrat!) von Ge¬
fühlen tief im Herzen verborgen. Sie zeichnen sich vor den gewöhnlichen Helden
der Frauenromanc dadurch aus, daß Jeder von ihnen eine bestimmte Beschäftigung,
eine productive Stellung in der Gesellschaft hat, daß sie nicht in Poesie, Liebe,
Mondschein und schwarzen Haaren aufgehen. — Die Frauen gehen mit ihren Em¬
pfindungen freier heraus, sie öffnen sich sogar viel leichter, als die Sitte in Eng¬
land es sonst mit sich bringt, aber es ist in dieser Hingebung bei aller Innigkeit
ein gesundes und lebhaftes Gefühl, das der Sehnsucht Widerstand leistet. Wo
möglich wollen sie lieben und geliebt werden, wenn das ihnen aber vom Schicksal
versagt wird, so springen sie nicht ins Wasser, gehen nicht ins Kloster, werden
nicht verrückt, sondern sie suchen eine Beschäftigung, die ihr Leben wenigstens
theilweise auszufüllen im Staude ist, und wenn sie darüber sterben, so geschieht
es wenigstens nicht ohne Kampf und Widerstand. In der Regel sterben sie aber
nicht, denn Currer Bell ist nicht unnöthig grausam; eine Eigenschaft, die in
unserer Zeit sehr anzuerkennen ist. — Diese Resignation ist keineswegs Mangel
an Temperament, wie in der Agnes im Copperfield, die so engelhast passiv ist,
daß man vermuthen muß, sie habe weder Fleisch noch Blut, sondern das Fieber
verschmähter Liebe wüthet sehr hart und gewaltig, und es gehört eine nicht ge¬
meine Kraft der Seele dazu, darüber Herr zu werden.
Der Kreis der Anschauungen ist bei unsrer Dichterin nicht groß, darin hat
sie mit Friederike Bremer Achnlichkeit, an die sie auch durch die Wahl ihrer Ge¬
genstände erinnert, die sie aber an Sicherheit und Feinheit der Zeichnung bei
weitem übertrifft. Die Heldin des gegenwärtigen Romans, Lucy Snvwe, ist in
den Grundzügen ihres Charakters das getreue Ebenbild von Jane Eyre, sie ist
sogar eigentlich noch stiefmütterlicher behandelt, denn nicht blos ihre äußere Per¬
sönlichkeit wird als höchst unbedeutend geschildert, sondern in ihrem Wesen ist
auch fast keine Spur jener Liebenswürdigkeit, die uns immer einnimmt, auch wo
sie uns nicht fesselt. Auch in ihren äußern Schicksalen ist eine große Achn¬
lichkeit: sie fängt mit dem Stand einer Gouvernante an, und ist nach der Reihe
.in zwei Männer verliebt, die äußerst bärenhaft mit ihr umgehen. Aber es ist
n der Darstellung ihrer Empfindungen und ihrer einzelnen Schicksale eine Vir¬
tuosität und zugleich eine Wahrheit, die uns Bewunderung almöthigt. Die
Dichterin empfindet so lebhaft die Details der Seele, und ihre Auffassung ist
so scharf und sicher, daß selbst die springende Form ihrer Erzählung uns nie¬
mals verwirrt. Fast alle Nebenfiguren find auf das Vortrefflichste abgerundet, und
namentlich die Zustände des Pensionats, in welchem Lucy Lehrerin ist, und welches
in Billette liegt, der Hauptstadt von Labassecour (Belgien), meisterhaft versinn-
licht. Unter den männlichen Charakteren sind mit Ausnahme einer höchst ori¬
ginellen Figur, deö französischen Lehrers Emanuel Paul, der sehr drollig nud
dabei sehr wahr geschildert ist, die meisten uns schon aus Currer Bell's frühern
Romanen bekannt. Um in diese einfachen Verhältnisse etwas buntere Farben
zu bringen, sind zwei brillante Frauengestalten mit in die Erzählung verwebt,
Ginevra Fanshawe und Pauline Home. Die erste ist vortrefflich gemalt, und
außerordentlich belustigend, die letztere dagegen, der romantische Charakter des
Romans, der sehr stark an Mignon erinnert, bleibt fast ganz Arabeske, und in-
teressirt uns nur durch einige glücklich erfundene Züge. Ferner werden wir zum
Schluß noch in einige romantische Geschichten verwickelt, die aber im höchsten
Grade mißlungen sind, und fast an das Lächerliche streifen, und als am Ende
gar, um mit der pessimistischen Stimmung TlMkerays zu schließen, in uns die
Muthmaßung hervorgerufen wird, das Schiff, welches endlich der Heldin den
langersehnten Bräutigam zuführen soll, sei in einem beliebigen Sturme verun¬
glückt, wird uns ganz albern zu Muthe. Diese einzelnen verkehrten Züge könnten
leicht weggewischt werden, denn sie gehören eigentlich gar nicht zur Handlung,
aber sie stören uns sehr. -—
Wir wenden uns jetzt zu einem zweiten Roman: Lady-Bird (Johannis¬
würmchen) von Lady Georgicma Fullerton. Er ist in jeder Weise das Ge¬
gentheil deö vorigen. Wir bewegen uns im reinsten Idealismus, der um so
zarter und ätherischer ist, da er eine katholische Färbung hat. Lady Fnllcrtvn
hat sich durch zwei frühere Romane: Mwir IMlcllulmr und ^rüI^-NMor,
der vornehmen Welt bekannt gemacht; namentlich der erstere war längere Zeit
hindurch ein LieblingSbnch der höhern Stände. Was das Johanniswürmchen
betrifft, so ist es eine junge Dame von sehr lebhaftem Temperament, poetischer
Anlage, und einer ziemlichen Neigung zur Coquetterie, die das Herz sämmtlicher
Künstler und junger Aristokraten zerreißt, durch ihre Launenhaftigkeit in ein
ziemlich unpassendes Eheverhältniß verstrickt wird, und später als gute Katholikin
durch Werke der Liebe ihren Frieden mit dem Himmel schließt. Als Gegenbild
zu dieser glänzenden Erscheinung ist ein frommes Mädchen aus den niedern
Ständen hingestellt, die mit einer hingebenden Liebe anfängt, und als barmher¬
zige Schwester endigt; ein gcfühl- und talentvoller, aber charakterloser Künstler
und die ideale Figur eines katholischen Aristokraten vollenden die Gruppe. Die
übrigen Personen, wie bunt sie auch ausgeführt sind, dienen doch mehr zur
Staffage. Die Handlung, namentlich aber die Costümirnng hat in der That
eine poetische Färbung, man merkt überall, daß man es mit einer Dame von
Bildung und Gefühl zu thun hat; aber ihre eigentliche schöpferische Kraft kommt
dieser Bildung nicht gleich, sie empfindet zwar mit Geist die richtigen Motive
und Situationen, sie versteht sie aber nicht lebendig und plastisch wiederzugeben;
was sie ihre Personen reden läßt, ist mehr Reflexion der Dichterin über diese
Personen, als Naturausdruck. Sie geht von deu Problemen aus, die sie in
den Charakteren versinnlichen will, nicht von den Charakteren, ans denen sie
Probleme entwickelt. Außerdem kommt durch die vorherrschend katholische Stim¬
mung eine gewisse Mattigkeit in die Erzählung. —
Auch die Verfasserin der nächstfolgenden Novelle (^röte .^von hat sich schon
durch mehrere frühere Romane, namentlich Emilie Wyndham und Navcnseliffe dem
Lesepublicum empfohlen. Sie schreibt anonym, aber ihr wirklicher Name Mstrs.
Marsh ist den englischen Journalen bekannt. Hier befinden wir uns mitten in
der hergebrachten Romantik im alten Styl: ein düstres Schloß, in dem wir
zuerst einem traurigen Todesfall begegnen, eine Criminalgeschichte, ein Verlorner
oder geraubter Sohn, der sich unter sehr verwickelten Umständen wieder
findet, u. s. w. Die Verfasserin erzählt lebhaft, in gutem fließendem Styl, für
das eifrige Lesepublicum auch wol recht, spannend, aber die geistige Ausbeute,
die wir davou tragen, ist gering. Weder in Reflexionen noch in der Darstellung
wird uns etwas wesentlich Neues geboten.
Ein ernsteres Streben zeigt sich indem nächstfolgenden Roman: „Ruth".
Die Verfasserin, Mstrs. Gaskill, hat durch einen früheren Roman: „Mary
Barton", der nicht blos mit Leidenschaft, sondern auch mit einiger Sachkenntniß
die Noth der Fabrikarbeiter besprach, im englischen Publicum einen nicht geringen
Anklang gefunden. Auch bei dem gegenwärtigen Roman erwartet man nach dem
Anfang eine ähnliche Tendenz. Wir werde» in die Werkstätte einer Putzmacherin
eingeführt, und die Noth der armen Mädchen, die in derselben beschäftigt werden,
scheint den Vorwurf des Gemäldes bilden zu wollen, allein im weitern Verlauf
entwickelt sich eine rein individuelle Begebenheit. Ein armes junges Mädchen
wird dnrch einen jungen Mann ans den höheren Ständen, der an sich durchaus
nicht böse ist, der aber solche Verhältnisse ganz mit dem Leichtsinn seiner Klasse
behandelt, verführt; wohlwollende Leute suchen sich ihrer anzunehmen, um sie dem
Verderben zu entreißen, allein sie kann den Makel ihrer Schande nicht wegwischen
und stirbt endlich am gebrochenen Herzen. Es ist in diesem Roman eine große
Natnrwcchrheit. Die Charaktere sind mit sicherer Hand entworfen, und die sitt¬
lichen Zustände uur zu treffend geschildert. Die Verfasserin besitzt ein sehr starkes
sittliches Gefühl, das sich durch keine Sophismen des Verstandes oder des Herzens
irre machen läßt. Allein wir müssen doch gestehen, daß das Buch vom ästhe¬
tischen Gesichtspunkt aus betrachtet, einen nicht sehr angenehmen Eindruck macht.
Es ist eine fortgesetzte Quälerei, die zwar unser Mitleid in Anspruch nimmt, die
uns aber doch zuletzt peinlich wird. Dagegen ist es sehr erfreulich, den Ernst.'zu
beobachten, mit dem die Engländer, nachdem ^sie einmal so weit aus ihrem
Puritaucrthum herausgetreten sind, um dergleichen Probleme überhaupt in's Auge
zu fassen, an die Lösung derselben gehen, namentlich wenn mau sie darin mit den
Franzosen vergleicht. — Wir haben vor einiger Zeit einen Roman des Ameri¬
kaners Hawthorne, „der Scharlachbuchstabc", besprochen, welcher das nämliche
Problem behandelt. In diesem war der Frage eine mehr phantastische Wendung
gegeben. Mrs. Gaskill dagegen hält sich ganz auf realem Boden; sie vermeidet
selbst einen naheliegenden Idealismus, weil es ihr mehr um die ernste Darstellung
des Gegenstandes zu thun ist, als um deu sonst gewöhnlichen Zweck des Romans,
den romantischen Reiz der Geschichte.
Da uns dieser Roman in die Literatur eingeführt hat, welche jetzt in Eng-
land ziemlich stark um sich greift, in jene kühne, strebsame Philanthropie, die sich
in der Untersuchung ihrer Probleme dnrch die Glaubenssätze der englischen Or¬
thodoxie nicht mehr irren läßt, so führen wir bei dieser Gelegenheit einen andern
Roman an (gleichfalls in der Tauchuitzcr Ausgabe enthalten), der zwar schon etwas
älter ist, den wir aber noch nicht besprochen habe», und der schon um seines Ver¬
fassers willen eine kurze Besprechung verdient. Er heißt: Veast: a pioblvm.
Veast bedeutet auf Deutsch die Hefe, oder eigentlich den GähruugSproceß über¬
haupt, und der Roman bemüht sich, an einzelnen Figuren aus der höheren Ge¬
sellschaft wie aus dem Handwerkerstande jene Zersetzung aller sittlichen Begriffe
anzudeuten, die nach seiner Ansicht zur vollständigen Auflösung aller Verhältnisse,
oder zu einem neuen Glauben führen muß. Wir finden in demselben nur ge¬
brochene Charaktere, problematische Naturen, die so lange alle Ideen und Em¬
pfindungen analysiren, bis sich ihnen zuletzt die Realität selbst in eine Schatten¬
welt verflüchtigt. Die Handlung ist sehr einfach und dürftig; man kann eigentlich
kaum davon reden. Auch den Charakteren fehlt jene feste, reale Basis, ohne
welche auch die besten psychologischen Studien immer nnr zu einer Mosaikarbeit
führen; aber in den Reflexionen ist ein großer Reichthum an Gedanken und ein
eminenter Scharfsinn entwickelt, und es blickt eine Natur durch, die nicht an dem
Zweifel ein leeres Behagen findet, sondern die sich mit großem Ernst bemüht,
über den Zweifel hinauszukommen. Dieser Ernst unterscheidet das Buch vortheil¬
haft von den jungdeutschen Versuchen derselbe» Gattung, und auf der andern
Seite von Thackeray, der bei den trüben Resultaten seiner Philosophie ohne
weitere Anstrengung stehen bleibt. Am Auffallendsten ist uns die Sprache und
die ganze Darstellungsweise, die durchaus von der gewöhnlichen englischen Me¬
thode abweicht und mehr an das Deutsche erinnert. Es ist vorzugsweise der
Einfluß Carlyle's, der sich darin ausspricht. — Der Verfasser dieses Romans ist
ein Geistlicher, Charles Killgsley. Rector vou Everslcy. Er hat sich früher
vorzugsweise durch zwei Schriften, durch den Roman: Akkon Locke, und durch
das Drama: Uw fällt^ traf^ bekannt gemacht. Der Held des ersten war
ein Schneider, der zu gleicher Zeit dichterische Versuche machte, und sich in die
chartistischen Bewegungen verlocken ließ, um die Leiden des Volks, die er an
sich selbst empfand, zu heilen; der Gegenstand des zweiten die heilige Elisabeth
von Ungarn, die aber nicht in dem alten christlichen Sinn aufgefaßt wird, souderu
als ein Opfer der finstern katholischen Weltanschauung, die um einer Abstraction
willen alle Natur und alle Menschlichkeit mit Füßen tritt. — Alle diese Schriften
zeigen uns deutlich, daß auch die Festigkeit der englischen Hochkirche dem modernen
Scepticismus keinen entschiedenen Widerstand mehr entgegenzusetzen vermag, um
so mehr, da Kingsley in seinen Bestrebungen keineswegs allein steht. Gerade
nnter den kleinen Pfarrern finden sich jetzt eine ganze Reihe selbstständiger
Naturen, die den religiösen Trieb, aus welchem früher die zahlreichen Secten
hervorgingen, auf das praktische Leben werfen. Sie unterscheiden sich von den
französischen Aposteln des neuen Evangeliums dadurch, daß sie nicht von allge¬
meinen Abstractionen ausgehen, sondern die wirtlichen Verhältnisse analysiren, und
wie scharf sie mich in ihrer Opposition sind, dennoch sich aus der Realität nie
ganz verlieren. Diese Kritik der socialen Zustande tritt allmählich über die rein
politischen Fragen hinaus, und jede der großen politischen Parteien sucht sie auf
irgeud eine Weise an sich z» ziehe», um damit zu ihren Zwecken zu operiren.
Während der französische Radicalismus sich beständig in apvdictischcn Ideen be¬
wegt und den wirklichen Verhältnissen eine einfache Verneinung entgegensetzt,
stürzt sich der englische unerschrocken in das Chaos der Thatsachen, und ist daher
fruchtbar auch selbst in seinen Verirrungen, denn jede Analyse der Wirklichkeit
fördert die politische Erkenntniß. Der Hanptverbündete Kingölcy'S ist der Pro¬
fessor Frederik Maurice, der mit ihm gemeinschaftlich eine Zeitschrift „Politik
für das Volk", herausgiebt. Diese Zeitschrift hat durchaus uicht einen chartisti¬
schen Anstrich; eher könnte man sie mit den Socialisten in Verbindung bringen,
obgleich sie zu positiv ist, als daß man sie ganz in diese Kategorie werfen könnte.
— Ein anderer höchst geistvoller Schriftsteller dieser Richtung ist Henry Mayhew,
aus dessen Werk über die Armen und Handwerker von London wir seiner Zeit einzelne
Mittheilungen gemacht haben. Zu derselben Richtung gehören noch zwei Romane,
die im Jahre erschienen: IIu; ^c>rke,r mrcl tlrv ärsamer (der Arbeiter
und der Träumer von dem Pfarrer Horne, viel pathetischer und abstracter
gehalten, als die Schriften von Kingsley, und John Drayton vom Professor
Mitchell, der zwar etwas einförmig und trocken ist, aber im Ganzen eine sehr
verständige Auffassung von den Zuständen der arbeitenden Klassen giebt. — Von
Kingsley selbst erscheint gegenwärtig in Imxer's Na^wo'ein großer historischer
Roman: II^Mlüii, eine Darstellung des Christenthums in den Zeiten des römischen
Kaiserreichs, der bei vielen vortrefflichen Einzelheiten im Ganzen den historischen
Ton nicht sehr glücklich getroffen hat.
Wir schließen mit einem neuen großen Roman Bulwer's: nvvol, »r,
on'is>,iLs in Knxlisl^ Ille. Z,v I'isiLt>'A>.u8 (>irxwn. Wir haben schon bei der
Besprechung seines vorletzten Romans auszuführen gesucht, daß die neue Richtung,
die Bulwer seinem Talent gegeben hat, mehr ans der herrschenden Stimmung
des Publicums, alö aus eineni innern Trieb entspringt. Diese Manier ist in
dem neuen Roman »och übertrieben. Bulwer bemüht sich unausgesetzt, humoristisch
zu sein, er macht eine Reihe «»nöthiger Exciirsc, und läßt sich in diesen gerade
so gehen, wie Dickens und Thackeray; aber um in dieser bequemen und nach¬
lässigen Weise zu schreiben, muß man eine unerschöpfliche Ader von guter Laune
und vou phantastischen Einfällen haben. Diese besitzt Bulwer keineswegs. Seine
Excnrse sind daher nicht unterhaltend, sondern nnr langweilig und störend. Es
ist das eigentlich sehr schade, den» wenn der Roman etwa ans ein Drittel seines
gegenwärtigen Umfangs eingeschränkt wäre, so bliebe sehr vieles Gute darin. In
den Sarkasmen gegen das heuchlerische Wesen weltlich gesinnter Menschen, so
wie in der Nachbildung wirklicher Züge ans dem Leben überhaupt ist Bulwer
noch immer zuweilen sehr glücklich; an Scharfsinn und Beobachtungsgabe fehlt es
ihm uicht im Mindesten; und wenn das auch noch nicht ausreichen würde, ein
wirkliches Kunstwerk hervorzubringen, so könnte doch bei seiner in der That sehr
umfassenden Bildung immer ein sehr interessantes Buch daraus hervorgehen, wenn
er es verstände, sich einzuschränken und sich einer bestimmten Form zu unterwerfen.
Die ewigen leeren Dialoge, mit denen das Buch gegenwärtig überfüllt ist, macheu
es dem Leser schwer, sich durch die starken vier Bände durchzuarbeiten, obgleich
man häufig durch einen sehr treffenden Zug überrascht wird. Die Darstellung
der politischen Verhältnisse, die Bulwer auch diesmal, wie er es sonst zu thun
pflegte, in den Roman verwebt hat, leidet zwar an einer ziemlich starken Ein¬
seitigkeit, allein es ist damit doch uicht so schlimm, als man es nach den Mani¬
festen, die er nach seinem Uebertritt zur Torypartei schrieb, erwarten sollte.
Das Herz geht mir weit auf, wenn ich von beiden Schwesterkünsten endlich
ans mein Juwel, die kostbarste culturhistorische Errungenschaft komme, die dem
geliebten Vaterland nach seiner großen Literaturperiode geworden, die deutsche
Malerei. — Haben wir uns in der Architektur uur erst des Ansatzes z» be¬
deutende» Ergebnisse» zu rühmen, sind die misgczeichuetste» Resultate unsrer
Sculptur, ans die ich später zurückkomme» werde, nicht i» Mimche» z» suche»,
so findet man dort dagegen noch immer fast alle großem Erzeugnisse unsrer
monumentalen Malerei vereinigt, wenigstens alles Material beisammen, um die
Entwickelung derselben ans das Genaueste zu studiren. —
ES ist billig, zuerst des Maunes dankbar zu gedenken, dessen beharrlicher,
vom seltensten Verständniß getragener Liebe und Aufopferung das deutsche Volk
so kostbaren Besitz verdankt; denn ohne die großmüthige, und läugnen wir es
nicht, damals höchst gewagt erscheinende Förderung König Ludwig's, wären die
fast unbekannten jungen Männer, die Zufall und dunkle Ahnung in Rom zu¬
sammengeführt: die Cornelius, Overbeck, Schmorr, Heß schwerlich sobald zur
angemessenen Aeußerung ihrer Kräfte gekommen, wenn ihnen der freigebige Fürst
nicht Raum und Mittel verschafft hätte, die Schwingen ihres Genies zu ent¬
falten. — So lange man daher Pericles, Mäcen und Carl August von Weimar
mit Hochachtung nennt, so lange wird man auch mit Verehrung König Ludwig
zu den mächtigsten Förderern deutscher Cultur und deutschen Ruhmes zählen müssen.
Phidias, Horaz, Goethe und Schiller befanden sich wohl schon auf der Höhe
ihres Talents und Rufes, als es ihren Beschützern einfiel, sich für sie zu interessiren,
die letztgenannten Künstler aber waren junge, ziemlich unbekannte, und noch
mehr unverstandene Leute, als der damalige Kronprinz v. Bayern mit scharfen
Blicken ihre Begabung und die Fvlgewichtigkeit derselben für ein ganzes Zeit¬
alter erkennend, sie mit seiner Macht und allen seinen Mitteln anf's Freigebigste
unterstützte, um ihnen den so kostspieligen Raum zur Aeußerung ihres Talents
zu verschaffen. —
Wie alles Menschliche, so sind auch die von diesem Fürsten hervorgerufenen
Schöpfungen vielfach unvollkommen geblieben, Manches ist ganz mißglückt; doch
was ihm in der Architektur nur erst spät, in der Sculptur uur mittelbar hervor¬
zurufen gelang, das hatten seine Maler gleich von Haus ans: selbstständige Ge¬
danken in selbstständiger künstlerischer Sprache, eine keiner andern Nation und
Schule entlehnte hochpoetische Weltanschauung und einen eigenthümlichen durch
und durch deutschen Styl.
Er ist das Erste, was Einem bei Betrachtung der Münchner Werke in die
Augen springt; sucht man nun die einzelnen Charakterzüge desselben zusammen,
so findet sich zunächst eine entschiedene Accentnirung der Zeichnung gegen die
Farbe, eine außerordentliche Sorgfalt und Liebe für das schöne rhythmische Ver¬
hältniß der Linien, eine oft etwas zu kleinliche Durcharbeitung des Contours,
die ihn zwar sehr lebendig macht, aber der Schönheit und Jugendlichkeit der
Form Eintrag thut. — Die Modellirung sowol als der Zusammenhang der
Figuren sind nicht selten der Schönheit der Linie aufgeopfert, besonders ist erstere
gewöhnlich sehr vernachlässigt, dagegen die Erhöhung, Vereinfachung und Reini¬
gung der Form von allem Zufälligen consequent durchgearbeitet. Bei keinem
Münchner Werke wird es daher vorkommen, daß ein Bündel Lumpen für eine
Draperie gelten soll, wie bei den besten französischen und belgischen Meistern
so häufig der Fall. Ich habe schon gesagt, daß die Farbe untergeordnet, zum
Theil sehr schlecht ist, der Größe und dem edeln Charakter der Formen
ost noch mehr Einrrag thut, als die schwache Mvdellirnug, indeß hat sich dieser
Fehler später bedeutend verbessert, und manche Werke lassen in dieser Beziehung
Wenig zu wünschen übrig. —
Die totale Verbannung des wahlloser Naturalismus, welcher die Stärke und
Schwäche der französischen und belgischen Schule ausmacht, hatte öfters noch eine
andere Folge, die der Popularisirung der Schule bedeutend geschadet hat, die
Vernachlässigung der Individualisirung, die man besonders den weniger bedeuten-
den Meistern und Schülern der Richtung mit Recht vorwirft. Man begnügte
sich, Gattuugsiuenscheu zu schaffen, die schwer aus einen bestimmten Boden zu
stellen sind, und denen daher auch ein guter Theil Interesse und Lebenskraft fehlt;
indeß ist dies keineswegs immer der Fall, sondern man trifft anch oft die
glückliche Auffassung des Individuellen mit der Fähigkeit vereint, es zu seinem
eigenen Ideal zu erhöhen, wie sie sich bei Ghirlandajo oder Leonardo in glänzen¬
der Vollendung zeigt. —
Die Lust am Didaktischen, an oft frostigen Allegorien, bei dem tendenziösen
Charakter der Deutschen überhaupt natürlich, ist anch bei der Malerschule hervor¬
getreten, als Folge jenes Idealismus, der den Styl schuf und Alles, auch das
Gemeinste zu vergeistigen, zu beherrsche» strebt, und deshalb immer sucht, das
unmittelbar Vorgestellte aus einem höher», oft ganz abstracten Gedanken herzu¬
leiten oder diesen in der Seele des Beschauers hervorzurufen. — Wir wolle»
überall deuten, wir begnügen uns mir selten mit dem Fühlen, es führte dies
allerdings bisweilen zu Darstellungen, bei denen absolut gar nichts mehr zu
empfinden war. —
Ein weiterer Charakterzug wie der Nation, so der Schule ist der, bei allem
Streben nach dem Großen doch wieder auch das Kleinste mit Sorgfalt zu er¬
fassen und eine daraus entspringende, oft dem Bedeutendsten schädliche Aufmerk¬
samkeit für die Ausführung des Geringen, wie sie schon bei den alten deutsche»
Künstlern hervortritt, auch ihnen oft die Totalwirkuug zerstört und den Charakter
der Kleinlichkeit ausdrückt, zugleich aber durch den Anblick der großen Liebe
immer wohlthätig erwärmt. — Eine eigentlich breite Behandlung, eine befriedigen¬
de, ruhige Totalwirkuug ist deshalb besonders im Anfang seltner errunge» wor¬
den. — Immer aber bleiben selbst den schwächern Werken der Schule noch Ernst, Liebe,
Idealität, ja selbst oft schwungvolle Auffassung und großartiges Streben eigen, wie
oft auch die Ausführung diese Tendenzen nur uuvollkvimueu zur Erscheinung zu
bringen vermag; so daß die Schule in letzterer bis jetzt weder ihre eigene» Vor¬
gänger Van Eyk, Dürer und Holbein, noch viel weniger die großen italienische»
erreicht hat. An Beide finden sich allerlei Anknüpfungspunkte, die ich aber besser
bei den einzelnen Meistern berühren werde, zu deren Charakterisirung ich daher
übergehe. —
Als weitaus der Bedeutendste derselben erscheint mir jetzt erst recht wieder
Cornelius, dessen mächtige Begabung die ganze Schule eigentlich geschaffen,
mindestens beseelt, zu ihrem höchsten Ausdruck gebracht, ihr Ziel und Richtung
angewiesen hat. —
Daß sein Maß mit einer größern Elle gemessen wurde als das aller Andern,
ist wohl deutlich zu fühlen, aber nicht so leicht im Einzelnen darzuthun, — indeß
will ich doch versuchen, die Bestandtheile der großen Macht, die er über uns
Alle ausgeübt hat und noch ausübt, zu erklären.
Ein mächtiger Ernst weht uns zunächst aus seinen Productionen an, die
Gluth dieser Seele verzehrt alles Unbedeutende oder Triviale, Größe und Erhaben¬
heit der Anschauung sprechen aus Allein, was er macht. Dabei empfinden seine
Figuren immer wahr; trotzdem daß er in seinen Conceptionen vorzugsweise pa¬
thetisch ist, so wird man doch lange suchen tonnen, bis man eine Gestalt findet,
der man Schuld geben könnte, sie spiele Comödie. Daß wir, ihm so unbedingt
glauben müssen, ist das Geheimniß seiner Macht, des Packenden, das in ihm
liegt. Dies hängt aber auch noch mit einer weitem Eigenschaft zusammen, der
dramatischen Kraft seiner Darstellungen. Ueberall versetzt er uns in den Schwer¬
punkt der Handlung, die er mit einer unglaublichen Oekonomie der Mittel in
Scene setzt. Wo ein Anderer sechs Figuren braucht, da reicht er mit zweien,
und ist doch am deutlichsten; in der Klarheit der Exposition wird er schwerlich
von irgend einem Meister übertroffen; Sehen und Verstehen ist bei allen seinen
Werken Eins, wo eS ihm nicht beliebt hat, seinem Hange zur Symbolik und zu
Allegorien nachzugeben. Eine weitere Eigenschaft ist, daß er nicht nur versteht,
große Leidenschaften darzustellen, das Welthistorische in den Handlungen richtig
hervortreten zu lassen, sondern auch große, mächtige Charaktere zu schaffen, denen
man die Fähigkeit zutraut, die Welt zu erschüttern oder zu erfüllen. — Die
Bibel, Homer und Dante find die Werke, denen seine Kraft am verwandtesten
ist, die er daher mit dem meisten Glück bearbeitet hat. Doch auch hier zeigt sich
überall die Originalität seines Geistes, die ihm jeden gegebenen Stoss neu um¬
zubilden und zu bereichern erlaubt. Seine dichterische Schöpferkraft ist hinter der
keines irgend existirenden Künstlers zurückgeblieben, und neben dem großartigen,
hochpoetischen Zusammenhang, in dem er hier in der Glyptothek den Stoff der
Jliade erschöpft, deu ganzen griechischen Göttermythuö zu einem wunderbaren
Gedichte zusammenfaßt, die Hanptangelpnnkte in der Geschichte, so wie die Haupt¬
figuren des alten und neuen Bundes in der Ludwigskirche und im Campo Santo
zur Erscheinung bringt, können nur noch die ähnlichen Arbeiten Michel A»ge!o'S
und Raphael's bestehen, denen er in Fülle der Ideen, großartiger Anschauung,
Herrschaft in Darstellung des Erhabenen und wunderbarer Gestaltungskraft in
der Komposition und Zeichnung meines Trachtens unmittelbar sich anreiht, da
weder Giulio Romano, noch die Caracci oder Tintoretto hier mit ihm wetteifern
könnten, so weit sie ihm in Technik überlegen gewesen sein mögen. — Die Er¬
findung und Zeichnung seiner acht Seligkeiten zum Berliner Campo Santo z. B.
dürste der der Propheten und Sibyllen des Michel Angelo vollkommen ebenbürtig
sein, so weit diese auch in der Ausführung überlegen sind. — Eben so ist die
Erfindung im Brande von Troja, seine Unterwelt und eine Menge kleinerer
Compositionen in der Glyptothek wol dnrch nichts Aehnliches überboten worden.
Daß seine Kunst in einem großen und starken Herzen wurzelt, fühlt man überall
heraus, es ist etwas Dämonisches in dieser mächtigen Organisation, das an das
Naturell Michel Angelo's und Tintoretto'S erinnert, seine Anschauung hat, wie
die ihre, etwas Urwcllliches, während Overbeck die Welt als .Kloster oder Feg-
feuer anschaut, Schwind als Jahrmarkt, Kaulbach als Schaubühne, so betrachtet
sie Cornelius wie ein Darüberstehender, als Schöpfer und Richter. — Eben so
verschieden ist seine Art des Schaffens von der anderer Künstler, während z. B.
Kaulbach sagt, was er kann, Overbeck, was er glaubt, Schwind, was ihm einfällt,
sagt Cornelius genau, was er will.
Seine Productivität ist unermeßlich und der jedes Künstlers des Mittelalters an
die Seite zu stellen; man wird einst erstaunen, wenn Alles, was er erfunden und
gezeichnet hat in Glyptothek, Pinakothek und Ludwigskirche, die Zeichnungen zu Faust,
zum Nibelungenlied, zu Dante n. s. w., und endlich das Meisterwerk seines Lebens,
die Kompositionen zum Campo Santo, die meines Erachtens alle seine früheren
Arbeiten hinter sich zurücklassen, obwol er sie erst als hoher Fünfziger begonnen,
gesammelt vor uns liegen werden. -— Diese Schöpferkraft ist um so bewunderungs¬
würdiger, als er eigentlich keine geschickte Hand hat, wie man ans Vergleichung
seiner Entwürfe mit denen Overbeck's, Kaulbach's oder Schwind's sehr leicht scheu
kann, neben denen sein Strich schier zagend aussieht, während sie die Formen
nur niederzuschreiben schienen, aber freilich viel abhängiger von dem einmal Ge¬
schriebenen sind. Unstreitig ist bei ihm der Gedanke das Mächtigste, und je weiter
die Production sich dessen Wirksamkeit entzieht, um so schwächer wird sie, man
wird bei allen seinen Bildern leicht erkennen, daß die Conception ihr stärkster
Theil war, in dem sie unübertrefflich sind; zunächst an sie reiht sich die Zeichnung
des Cvutours, wo er den herrlichsten Sinn sür das Rhythmische der Linien zeigt,
für jene wohlthuende musikalische Harmonie der Theile, die uns an der Antike,
an den Compositionen des Raphael und Michel Angelo, Ghibcrti und Leonardo
so wohl thut, und deren Mangel die naturalistischen Venetianer oder modernen
Franzosen zu monumentaler Kunst oder Darstellung vollendeter Schönheit unfähig
macht. —
Viel schwächer crschciur die Modellirung, die schon nicht mehr im Stande ist,
mit der Energie des Conwurs Schritt zu halten, sondern ihn regelmäßig etwas
abschwächt, ihm Leben benimmt anstatt giebt, so daß er in diesem Stück bereits
hinter gar vielen Künstlern zurücksteht, die ihm sonst nicht die Schuhriemen auf¬
zulösen würdig wären, von den besseren Cinqneccntisten oder manchen modernen
Franzosen gar nicht zu sprechen. Besonders störend und die Schönheit vernichtend
wirkt hier die zu starke Accentuirung der kleinen Formen, der Mitteltönc, die oft
Körper und Gesichter krampfhaft verzogen oder alt erscheinen läßt. — Immerhin
ist aber auch noch hier der große Künstler, der überall selbstständig arbeitet, nie¬
mals von den Zufälligkeiten des Modells abhängig ist, bei dem uicht nur die
ganze Komposition ein Gedicht, sondern noch jedes Detail eine Art von melo.
bischen Vers desselben ist, nirgend zu verkennen. — Leider sind viele seiner Com-
positionen von seinen Schülern auf eine solch' schülerhaste Weise ausgeführt
worden, daß dem Laien, der ja bei allen ästhetischen Gegenständen die Totalität
der Erscheinung bedarf, um zum Genuß kommen zu können, derselbe fast unmöglich
gemacht wird. Die Arbeiten der Raphael'schen Schule in den Stanzen und der
Loggia des Vaticans, die doch auch oft liederlich genug sind, können bisweilen
noch als leuchtende Muster daneben gelten. — Vielleicht noch weniger Gutes
kann man der Farbe seiner Bilder nachsagen; bei dem, was er selber gemalt hat,
zeigt sie zwar einen herben und unharmonischen, aber doch immer noch großartigen
Charakter; auch die abgesagtesten Feinde des Meisters werden doch immer noch
gestehen müssen, daß ein Pfuscher niemals so zu malen im Stande wäre, so sehr
auch oft der physiognomische Eindruck der Farbe dem der Composition wider¬
spricht, ja ihn geradezu aufhebt. Bei den von den Schülern gemalten Bildern
aber, und dies ist die große Mehrzahl, offenbart sich oft das Schlimmste von
Allem, nämlich gar kein System; so sind z. B. der Brand von Troja, der Kampf
um den Leichnam des Patroklus und der größere Theil der Deckenbilder in der
Glyptothek in wahrhaft haarsträubender Weise gemalt, die leicht erklärlich macht,
wie unser Meister so erbitterte Gegner selbst unter Künstlern in München finden
kann, denen leicht nachzuweisen wäre, daß sie das Verdienstlichste an ihren eigenen
Werken ihm und seiner Schule allein verdanken. —
Ein tieferer Grund des Mangels an Verständnis; oder Antheil, den man
bei einem großen Theile des Publicums für den Meister findet, ist der Mangel
an Individualisirung, den man bisweilen ihm vorwerfen muß. Nicht als ob er
nicht eine große Mannichfaltigkeit an vortrefflichen und ausdrucksvollen Charakteren
zeigte, er ist daran so reich als irgend ein anderer, eben so zeigt er die genauste
Kenntniß der Gesetze, der Gestalt und der Bedeutung aller Naturformen für die
künstlerische Sprache, er weiß auf's Beste, wie jede Regung des menschlichen
Herzens sich in den Mienen wiederspiegelt, wie jede Anlage und jeder Charakter
sich in Körper und Kopf auspräge», aber er erhöht jeden zu seinem eigenen
Ideal, und eben diese Herrschaft über sich und den Stoss, die ihn wie Michel
Angelo niemals etwas Anderes sagen läßt als eben nur, was er will, diese an-
scheinende Härte, der Mangel am laissa' tutor, der Lust an der bloßen Schönheit
der Fülle der individuellen Züge, die uns bei Raphael so entzücken, bei Paul
Veronese noch erfreuen, dieser Mangel erweckt uns eine gewisse Scheu oder
Kälte, man fürchtet, man verehrt auch eine Natur, die so weit über irdische
Schwächen erhaben scheint, man beugt sich vor ihr, aber man liebt sie selten.
Nur das Besondere, ja selbst daS Unvollkommene tritt uns so recht nahe. —
Obwohl man die Grundeigenschaften dieser Individualität schon in den
frühesten Werken herausfindet, so ist doch in seinem Styl eine gar bedeutende
Verwandlung sichtbar. Bei den Nibelungen »ut dem Faust ist noch überall der
Einfluß der Altdeutschen, speciell Dürer, mit ihrer Härte und Eckigkeit, aber auch
ihrer ungeheuer nachhaltige» Tüchtigkeit sichtbar. — Das Titelblatt zu den Nibe¬
lungen kaun man als Zeichnung jedem Werke des letztgenannten Meisters an die
Seite stellen, in poetischer Auffassung und Wiedergabe des Stoffs den meisten
desselben bei Weitem vorziehen. — Ebenso wird sein Faust trotz der Herbigkeit
wol immer die beste Bearbeitung des Stückes bleiben, so wenig er auch dem
alten verwöhnten Göthe geschmeckt haben soll, dem die süßlichen Kompositionen
des Retzsch, die eher für Clauren als das Meisterwerk deutscher Poesie passen
besser gefielen. — Während seines Aufenthalts in Italien machte Cornelius die
Zeichnungen zu Dante »ut theilweise zum Nibelungenlied, wenn ich nicht irre, da im
letztem anch. der Einfluß antiker Reliefs schon mit dem Dürer scheu um die Herr¬
schaft streitet, malte die Bilder in Casa Bartholdy, sowie er die Compositionc» zur
Glyptothek vorbereitete. — In beiden Letztern zeigt er sich schon ga»z selbststä»dig,
der Einfluß der Antike, noch mehr aber Raphael's und Michel Angelo's machen
sich nun allein noch geltend, bei der Glyptothek vorzugsweise der antike und viel¬
leicht auch der des Giulio Romano, bei den spätern Arbeiten gleichmäßig der der
beiden letztgenannten Meister, ohne daß aber irgendwo von etwas Anderem die
Rede sein könnte, als von der Benutzung der Formen und Fortschritte, die die
Kunst diesen Meistern im Allgemeinen verdankt, und die in einem so verwandten
Geiste immer ähnlich sich gestalten mußten, ohne deswegen irgend der Originali¬
tät zu entbehren. — Die Erzeugnisse sind sich verwandt, wie alle großen Kunst¬
werke eine gewisse Verwandtschaft mit einander haben, mehr nicht, denn Cornelius
ist überall deutsch, er hat uicht die Weichheit, die Grazie und Formenschönheit
des Raphael; weder die feine Naturbetrachtung noch die liebevolle Detailvoll-,
eudung desselben, noch weniger die wundervolle, unerschöpflich mannichfaltige An¬
muth seiner Launen, — sondern geistige Tiefe der Weltanschauung, poetische Gedanken¬
fülle, Ernst und Größe der Empfindung sind es, die ihn zum großen Künstler
stempeln, — da er für diese überall die entsprechenden Formen in der Natur zu
finden und mit einer Energie und Größe wiederzugeben weiß, in der ihn kein
Lebender erreicht.
Es liegt nun der dritte Band von Daniel Stern's Geschichte der Februar¬
revolution vor uns. Derselbe führt uns vom fünfzehnte» Mai bis über die Ju¬
nitage, mit welcher Epoche diese Geschichte abschließt. Der Verfasser fügt baun
noch in einem kurzen Resumv deu übersichtlichen Verlauf der Begebenheiten bis
ans unsere Tage hinzu. Das Buch darf ein ernstes Interesse beanspruchen,
denn die so verhängnißvollen und lehrreichen Ereignisse des Jahres -I8i8 sind
noch nicht gehörig gewürdigt, und von den Stimmführer», die bisher allein die
Feder führte», um ihre eigene Politik zu rechtfertigen, nicht immer im wahrheit¬
lichen Lichte dargestellt worden. Daniel Stern hat das unverkennbare Bestreben,
nicht als Parteimann, sondern historisch zu Werke zu gehen. Es standen dem
Verfasser auch manche bisher unbenutzte Quellen zu Gebote, und namentlich die
Schilderung der Jnniereignisse wirst ein neues Licht über die Ursachen dieser
furchtbaren Katastrophe. ES hatte sich gleich von vorn herein ein Zwiespalt
Zwischen dem Socialismus und den Anhänger» der gemäßigten Republik heraus¬
gestellt, der den Anhängern der Monarchie zu Gute kam. Im Juni war die
Kluft so breit geworden, daß sie nnr noch dnrch Tausende von Schlachtopfern
ausgefüllt werden konnte. Der Verfasser führt uus durch die verschiedenen
Phasen des republikanischen Hin- und Herschwankens, die man Geschichte der
Februarrevolution nennt. Das Werk ist reich an Charakteristiken, und enthält
Schilderungen, die vortrefflich ausgeführt sind. Namentlich dieser dritte Band
mit seiner Darstellung der Jnniereignisse würde vor dem zweiten Dezember einen
wahren Sturm unter den Parteien geweckt haben, aber seither haben wir
mancherlei Erfahrungen gemacht, und der Verfasser hat nur deu Groll der ge¬
genwärtigen Machthaber zu fürchten. Wir wollen den Lesern der Grenzboten
ein Bruchstück ans dem neusten, in seinen Aushängebogen vor uns liegenden
Bande geben, und wir haben das Capitel über Louis Bonaparte gewählt. Wir
halten diesen Abschnitt für einen der schwächsten des Buches, allein es scheint
uns interessant, wieder einmal einen Blick ans die Theilnahme dieses Mannes
an den Ereignissen von 18i8 werfen zu können. Solche Rückblicke in Zeiten
wie die unsrigen, wo die eigenthümliche Politik des napoleoniden wieder auf
einem neuen Wendepunkte angelangt zu sein scheint, sind lehrreich und von großem
Interesse zugleich. Unsere Leser werden erkennen, daß der Standpunkt des Werkes
weit von dem der Grenzboten abweicht; nichtsdestoweniger glauben wir, wird
ihnen diese Mittheilung einer geistreichen und bedeutenden Feder willkommen sein,
Wir übergehe» die gedrängte Erzählung der Lebensgeschichte Louis Napo¬
leon's, womit der Verfasser dieses Capitel beginnt, und wir folgen ihm erst
vom Ausbruche der Februarrevolution.
„Mit dem 2i. Februar vervielfältigte sich die freier gewordene Propaganda,
aber sie änderte ihren Charakter. Der aufgeklärtere Bruchtheil der bonapartistischen
Partei, die Männer, welche nicht durch Jugenderinnerungen geblendet waren,
noch durch das Bedauern des kaiserlichen Ruhmes, begriffen, daß das Laud
ohne Rückhalt der republikanischen Bewegung sich angeschlossen habe, und daß
es verwegen wäre, der Volksthümlichkeit der provisorischen Regierung geradezu
die Stiru zu bieten; Alles was man thun konnte, dachten sie, war, deren Fehler
und später jene der Nationalversammlung zu belauschen, um nach Umstände»
Nutzen daraus zu schöpfen.
Man verhielt daher die Ungeduld der Eiferer, es war nicht mehr von einem
Kaiser die Rede, sondern blos von einem volkstümlichen Führer der Republik.
Man sprach nicht mehr von den Ansprüchen auf den Thron, die Louis Bona-
parte aus seiner Geburt herleitete, aber wohl von den Pflichten gegen das Volk,
die ihm sein Name auferlegte; man pries seine ritterliche Biederkeit, seine an¬
tike Ehrlichkeit; man sagte, daß er seit zwanzig Jahren die Hoffnung Frankreichs
gewesen; er allein, so versicherte man, könne daselbst eine Demokratie ohne
Anarchie gründen, und man trachtete dieser Idee alle Republikaner zu ge¬
winnen, welche mit der Politik der provisorischen Regierung nicht zufrieden
gewesen. Der General Piat, nnn. Obrist einer Vorstadtlegion geworden, Herr
Aladenise, Bataillonschef der Garde mobile, Herr Bataille, Redacteur am
National, die H. H. Abatucci, Vieillarde, Volksvertreter, und noch Andere
theilten Briefe Louis Bonaparte's mit, welche alle von den demokratischsten
Gefühlen durchdrungen waren. Herr Edgar Ney bearbeitete die entlassenen
Municipalgardcu; man wußte ergebene Männer in die National-Ateliers, und sogar
in die Konferenzen des Luxembourg zu schmuggeln. Frauen von brennendem
Eifer 'beseelt, gingen in die Vorstädte, wo sie im Namen Louis Bonaparte's
Almosen spendeten und besonders an Versprechungen freigebig waren.
Bei Annäherung der Wahlen wurden die vereinzelten Anstrengungen ver¬
doppelt und concentrirt; man gründete billige Journale, welche nicht blos in
Paris verbreitet wurden, sondern in den entferntesten Landgegenden, die Mauern
bedeckten sich mit Anschlägen, welche Louis Bonaparte's Namen in enorme» Lettern
trugen; man verschenkte zu Tausenden die Portraits, die Medaillen, die Litho¬
graphien, welche den Kaiser Frankreich seinen Neffe» vorstellend abbildeten; man
bezahlte Leicrkastenträger, Nachtwandlerinnen, um des Kaisers Rückkehr zu singen*)
Mpvlllon rentre! alas Il>> puero
Mpolvon v'Sö bon repudliviu».
und zu prophezeihen. Es gab Straßenredner, welche ihn als ein Opfer Ludwig
Philipp'S und der Bourgeoisie darstellten.
Herr Emil Thomas, welcher dnrch seine Mutter ununterbrochene Verbin-
dungen mit der bonapartistischen Partei unterhielt, begünstigte in den National-
atelicrS die Candidatur deö Prinzen, und er ließ einen Anschlag anheften, welcher
den Wählern auf ein Mal Louis Bonaparte, Emil Thomas und Emil Girardin
vorschlug.
Während man ans die armen Klassen in dieser Weise wirkte, vernachlässigte
man nicht, die Feinde der Republik durch andere Mittel für den Erfolg Louis
Napoleon's zu gewinnen. Herr Persigny knüpfte mit Herrn Falloux alte Verbin¬
dungen an; man besuchte Herrn Girardin, man umgab Herrn Carlier, man
machte bei allen politischen Malcontenten Louis Bonaparte'S Candidatur als den
geschicktesten und wirksamsten Act der Opposition geltend.
Der Erfolg übertraf die Erwartung: eine dreifache Wahl in den Departement»!:
Nonne, Charente-Infcricnr und Korsika schickte den Volksvertreter Louis Napoleon
Bonaparte in die constitnirende Versammlung.
Diese Wahl war ohne Widerrede das wichtigste Ereignis) seit dem 4. Mai,
und doch sieht man nicht, daß die Nationalversammlung besonders dadurch berührt
worden wäre. Die republikanische Majorität ivar ganz von ihren Streitigkeiten
mit dem VollziehnngSanöschnsse und von den Kabalen der vrlcanistischen Partei
in Anspruch genommen. Die Wahl des Herrn Thiers däuchte ihr eine weit
größere Gefahr, als jene Louis Napoleon's.
Als während der Verhandlung über das VcrbannnngSgcsch der Orleanisten
die Rede gewesen, diese Maßregel auch auf die Familie Bonaparte auszudehnen,
widersetzten sich sast alle Republikaner dieser Ausdehnung mit Lebhaftigkeit. Von
den beiden Linien der Bourbons redend, rief der Volksvertreter Vignette ans:
„Sie sind beide in den Packwagen der Kosaken gekommen, so mögen sie auch
mit einander fortziehen; was die Familie Bonaparte betrifft, so adoptiren wir selbe
vorläufig, weil sie nicht gefährlich ist." Herr Dumas, später Pvlizeipräfcct unter
der Regierung des Generals Cavaignac bekämpfte gleichfalls die Assimilation,
welche man zwischen den beiden königlichen Linien und den Bonapartes machen
wollte. „Die Familie Bonaparte" sagte er, „hat nunmehr einen innern Werth,
sie ist nichts weiter, als die ruhmreiche Tradition einer Epoche, welche Niemand
Narr genug sein kann wieder anfangen zu wollen." Mehrere republikanische
Volksvertreter sprachen in demselben Sinne. Als sich endlich die Verhandlung
am 10. Juni wieder erneute, bei Gelegenheit eines Antrags von Pietri, den
«. Artikel des Gesetzes vom 10. April 1832 abzuschaffen, bestieg Herr Cremieux,
Minister der Justiz, die Tribune und erklärte, daß jenes Gesetz durch die Februar¬
revolution rechtskräftig abgeschafft worden.
Die Aufregung in Paris war indessen nicht unbedeutend, zahlreiche Gruppen
bildeten sich in den Straßen, und man sprach daselbst mit lauter Stimme davon,
Louis Bonaparte an die Spitze der Republik zu stellen. Eine Bittschrift der
Arbeiter von Billette verlangte von der Nationalversammlung, daß er zum
Konsul proklamirt werde ; in der zwölften Legion der Nationalgarde war die Rede
davon, ihn an Barbss' Stelle zum Obersten zu wählen. Die polnische Emigration,
einige der einflußreicheren Schüler des illuminirten Towianski arbeiteten und
sprachen für ihn in den Clubs nud in den geheimen Gesellschaften. Auch die
Presse fing an sich zu rühren. Das Journal Le Napoleonicn sagte bei Gelegen¬
heit der Wahl: „Wir haben in dieser Thatsache etwas Anderes als die Wahl
eines einfachen Vertreters gefunden, wir haben darin den Wunsch gesehen, daß
dem Lande eine andere Kandidatur vorgelegt werde."
Die Stimmenanzahl für Pierre Lcroux, Proudhon und Louis Bonaparte zu¬
sammenhaltend, dennueirte der Constitutiouel diese Wahl als Folge einer Allianz
der Republikaner mit den Bonapartisten. „I.o rvxrvsvvtaut <Zu xeuplv" läugnete
den Bund, allein er zeigte sich erschrocken: „Das Volk", sagte Proudhon mit
seiner kaustische» Verve, „wollte sich diesen fürstlichen Jux macheu, welcher auch
nichr der erste dieser Galtung ist, und wollte Gott, es sei der letzte! Noch vor acht
Tagen," fügte er hinzu, „war der Bürger Bonaparte nur ein schwarzer Punkt
in einem flammenrothen Himmel; vorgestern war er blos ein von Rauch ge¬
schwellter Ballon, heute ist er eine Wolke, welche den Blitz und den Donner in
ihrem Schooße birgt."
Im Vollziehungsausschusse war man viel unruhiger als in der National¬
versammlung, weil mau daselbst über den immer feindlicher werdenden Charakter,
den die Volksbewegung nahm, besser unterrichtet war. Die Volkshaufen,
welche sich in den ersten Tagen unter dem Rufe: vivo klärte-s, vivo l^ouis ^-.rpoleon
am Thore Se. Denis versammelt hatten, rücken näher und finden sich in der Nähe
des Palais Bourbon zusammen; man erwartet daselbst, so sagen sie, den Einzug
des Prinzen Louis. Der Ruf: Es lebe Barbös, wird seltner, um bald ganz zu ver¬
stummen, der Ruf: Es lebe Louis Napoleon accentuirt sich. Die Agenten der
bonapartistischen Partei wiederholen in den Gruppen, daß die Negierung den
Verbannten verhindern wollte nach Frankreich zurückzukehren; die Arbeiter sind
empört! Die Verkündigung des Gesetzes über die Znsammcnläufe, welche der
Vvllziehungsansschnß vorschlägt und die Nationalversammlung verordnet, bringt
die Volksunznfriedenheit aus den Gipfel.
Von allen Mitgliedern der Regierung war Lamartine am Meisten durch diese
Symptome beunruhigt. Bis zu jenem Tage hatte er keine ernstlichem Befürchtungen
für das Geschick der Republik gehegt. In den Kundgebungen des Volkes, welche
der Eröffnung der Nationalversammlung vorhergegangen waren, hatte er bald den
Einfluß einiger Unruhestifter, bald die wachsende Volksthümlichkeit Ledrn Nollin's
an die Stelle seiner eigenen treten sehen; diese unfruchtbaren Strömungen der
Meinung betrübten ihn zwar, aber nichts in denselben schien ihm bedenklich sür
die Freiheit zu sein. Die vrlcauistischcn, legitimistischen und klerikalen Tendenzen,
welche sich in der Nationalversammlung zeigten, konnten in seinen Augen auch
nur eine oberflächliche Bewegung hervorbringen, aber so wie er den Namen Bonaparte
«euren gehört, warnte ihn sein großer politischer Instinkt; er fühlte, daß die
Republik, so wie er sie verstanden, bedroht sei. ') Er hatte übrigens uicht erst
die Revolution von 1848 abgewartet, um mit erstaunlichem Scharfsinn deu Zauber
vorherzusehen und vorherzusagen, welchen der Schatten Napoleon's aus der Tiefe
seines Grabes eines Tages ans Frankreich ausüben müsse. Im Jahre 18i0 bei
der Verhandlung über Nückbringnng der sterblichen Ueberreste Napoleon's sehen
wir Lamartine mit Kraft sich gegen das ministerielle Project erheben. Er wagt
es, der UnvolkSthümlichkeit zu trotzen, indem er einen Vorschlag bekämpft, welchen
Odilon Barrot vertheidigt, und welchen die öffentliche Gunst unterstützt. In einer
Rede, welche, was Erhabenheit philosophischer Ansichten betrifft, vielleicht die
schönste ist, die ans seinem beredten Munde kam, zeigt er die Gefahr dieses
Cultus der Gewalt, welchen man im Geiste der Nation dem erusten
Cultus der Freiheit unterschieden will. Er protestirt gegen diese,
von der Negierung selbst veranlaßte Bewegung der Gefühle der
Massen, gegen diese volkstümlichen Schauspiele, Erzählungen
und Publicationen, gegen diese Indemnitätsbill für den glücklichen
Despotiöm us.
Er fügt hinzu, daß hierin eine große Gefahr liege, uicht blos
für deu öffentlichen Geist, sondern auch für die konstitutionelle Mon¬
archie. Indem er später die verschiedenen Plätze prüfte, welche man zur Errich¬
tung eines Monumentes vorgeschlagen, spricht er sich für das Marsfeld ans, um
ja genau festzusetzen, daß man das Denkmal dem großen Feldherrn und uicht
dem Fürsten stelle. Er beantragt als Inschrift, welche zugleich der Begeisterung
und der Klugheit entspricht: Napoleon — allein.
„Dieses Epitaph" sagt er „wird den künftigem und gegenwärtigen Genera¬
tionen beweisen, daß Frankreich aus der Asche Napoleon's weder den Krieg noch
die Tyrannei, noch Legitimitäten und Prätendenten, noch auch Nachahmer auf¬
erstehen sehen will."
Als Herr von Lamartine, kaum acht Jahre uach diesen prophetischen Worte«,
dieselben der Verwirklichung nahe gesehen; als er diese von ihm prophezeite
Macht eines Namens, die ihm so fatal dünkte, vor seinen Augen plötzlich ans
dem Schoße einer kannt gebildeten Demokratie emporschießen sah, beschloß er sie
ohne Verlust eines Augenblicks zuerst in der gesetzgebenden Versammlung und
dann, .wenn es sein muß, in deu Straßen zu bekämpfen.
Sollte die Demokratie einen Augenblick schwanken können zwischen einer
Volkstümlichkeit, welche eine Folge der schönsten Gaben des Genies ist, großer
der Sache der Freiheit so eben geleisteter Dienste und zwischen den Erinnerungen
eiuer schou in die Ferne gerückte» Zeit/ zwischen einem geliebten Bürger geehrt
von Allen, und einem dem Lande ganz unbekannten Präreudeutcn, zwischen dem
Manne, den Alles den Washington Frankreichs nannte und dem Neffen des
Kaisers? Der Geist, das Herz des Volkes konnten sie »»schlüssig sein? Herr
von Lamartine hoffte wenigstens mit gleichen Waffen zu kämpfe».
Er hatte sich getäuscht. Diese begeisterte Volkstümlichkeit, die ihm eine
fast unumschränkte Souverainetät der öffentlichen Meinung am 25. Februar in
so gerechter und vollkommener Weise zuerkannte, war bereits von ihm gewichen,
er ließ sie zu Gründe gehen, indem er es nicht verstand, sie zu seinen Zwecken
zu benutzen. Seine Eigenschaften so gut wie seine Fehler, die Natur seines
Genies eben so wie die Beschaffenheit seines Charakters machten ihn gleich un-
fähig z»in Beherrscher der Meinung. Allmächtig sie zu verführen, wußte er es nicht
ihr Nahrung zu geben. Er, der Alles errieth, war nicht im Stande, irgend
Etwas auszuführen. Er besaß nicht das Talent der Anwendung, nicht den Geist
der Folgerichtigkeit, welcher deu gestrigen Tag mit dem heutigen und diesen mit dem
morgigen verbindend die öffentlichen Angelegenheiten ohne auffallenden Glanz, aber
mit sicherer Hand leitet; dieses Talent, er würde es verschmäht haben. Die
Menschen studiren und kenne», um sie sür seine Zwecke zu gebrauchen, wäre ihm
als kleinliche Sache erschiene». Seine politische» Co»ceptioue» wäre» übrigens
zu groß, seine Ausleben» zu ideal, um gehörig unter einander combinirt wer¬
den, sich auf einen bestimmten Plan beschränken zu können. So erkannte er zum
Beispiel sehr wohl, und war einer der Ersten es auszusprechen, daß es Aufgabe
des neunzehnten Jahrhunderts sei, die Demokratie zu organisiren; aber was
dringend zu thun gewesen wäre, um den wirtlichen Bedürfnissen des Volkes
Genüge zu leisten, das wußte er nicht, das suchte er auch nicht einmal.
Eben so betrachtete er es als eine leichte Pflicht für die französische Republik,
den unterdrückten Nationen Europas ohne angreifende» Krieg ihre U»abhä»gig-
keit z» verschaffen; allein von dem Maße, welches man den Regierungen gegen¬
über beobachten mußte, um zum Ziele zu gelangen, von jenem Geschick in
Handhabung des moralischen Einflusses, der um so nothwendiger gewesen wäre,
als man nicht zur materiellen Kraft Zuflucht nehmen wollte, schien er nicht die
kleinste Idee zu besitzen.
Sein nachlässiger Optimismus, seine durch unerhörte Triumphe bestrickte
Ueberzeugung, daß seiue Beredsamkeit Allem steuern, Allem genügen werde, in
Frankreich und in Europa, in der Nationalversammlung und auf offenem Markte,
haben seinen jähen Sturz veranlaßt, so wie sie früher seine schnelle Erhebung
begünstigten. Da sein Stern in unvergleichlichen Glänze am Himmel strahlte,
da er dem Sturme zu gebieten schien, welcher seine Segel schwellte, den wüthenden
Wogen zu befehlen, welche zu seinen Füßen starben, ließ er seine zerstreute Hand
auf dem Nuder ruhen, ohne es zu lenken. Sein Genie und sein gutes Glück
bewahrten ihn vor Klippen, aber statt an dem Ufer, an dem er landen wollte, er¬
wachte er eines Morgens auf einer Oede aus dem schönsten der Träume, allem,
verlassen und fast vergessen.
Es ist traurig, aber noch interessanter und lehrreicher zu scheu, durch welche
übelberatheue Mittel Herr von Lamartine es versuchte, die öffentliche Meinung
wieder zurück zu erobern und jenen abwesenden, stummen, räthselhaften Feind zu
besiegen, welchen ihm die Revolution durch eines ihrer nncrwartestcn Spiele ent¬
gegenstellte.
So dachte er zunächst, es wäre von unfehlbarer Wirkung, im Schooße des
Volkes selbst eine der bonapartistischen entgegengesetzte Bewegung zu veranlassen.
In dieser Absicht ließ er mehrere Abgeordnete des Luxembourg und andere Cor-
poratiouöchefS zu sich kommeu. Er suchte sie durch das Gemälde der Gefahren
zu erschüttern, welche die Republik bedrohen, er bot ihnen Capitalien, die Arbeiter-
associationcn zu unterstüjzen, und forderte sie endlich ans, eine Kundgebung
gegen die Rückkehr deö neuerwählten zu veranstalten.
Aber Herr von Lamartine sah sich mit außerordentlicher Kälte aufgenommen.
Ans den Fall Louis Blanc's hatten die Delegirten des Luxembourg für Louis
Bonaparte gestimmt. Sie waren übrigens voll Mißtrauen gegen die Worte und
Versprechungen, die sie seit dem 2i. Februar hörten. Herr von Lamartine konnte
sich überzeugen, daß er keinen Einfluß mehr ans die Männer des Volkes übte,
und er beschloß, ohne länger zu zaudern, seine Gewalt über die Nationalversamm¬
lung zu versuchen.
Die Bewegung, welche Louis Napoleon's Name in Paris hervorgerufen,
hatte auch schon auf der Rednerbühne ihren Wiederhall gefunden. Am 10. Juni
interpellitte der Volksvertreter Heckeren, wahrscheinlich um die Beschaffenheit der
Gemüther zu prüfen, den Kriegsminister über ein Gerücht, das sich verbreitet
hatte. Diesem Gerüchte zufolge hätte ein Regiment, das nach Troyes geschickt
und von.der Nationalversammlung mit dem Rufe: Es lebe die Republik! em¬
pfangen worden, durch den Ruf: Es lebe der Kaiser! geantwortet. Auf diese
Jnterpellation, die ihm eine Schmähung der Armee däucht, antwortet General
Cavaignac, daß er nichts Dergleichen erfahren habe, und den Gefühlen, die ihn
bestürmen, freien Lauf lassend, fügt er in einem Anlaufe von Beredsamkeit, die
seltsam mit seiner gewöhnlichen Zurückhaltung contrastirte, hinzu: „fern sei es von
mir, eine so fürchterliche Anklage gegen einen meiner Mitbürger zu erheben. Ja
ich will, ich muß den Mann für unschuldig halten, dessen Name ans eine so un¬
selige Weise vorgeschoben wird. Aber ich erkläre zugleich, daß ich Jeden,
welcher eine g ottcslästerische Hand an die Freiheit des Vaterlandes
legt, der öffentlichen Schmach Preis gebe! Ja, Bürger, wiederholt er
mit Kraft, ich gebe ihn der öffentlichen Schmach preis!"
Von diesen Worten hingerissen, erhob sich die ganze Versammlung, und
lange ertönte der Ruf: Es lebe die Republik!
Dieser Augenblick hatte seine von Einigen, wenn gleich nicht von Allen tief¬
gefühlte Wichtigkeit.
Herr von Lamartine, in dem sich die Republik bis dahin personificirt hatte,
sah sich urplötzlich ans der Debatte beseitigt. Die öffentliche Aufmerksamkeit
wandte sich von ihm ab. Ein Anderer hatte sich erhoben im Namen des Landes,
den Prätendenten des Kaiserthrons zurückzuweisen. Einige unerwarteter Weise
auf der Tribune gesprochene Worte erzeugten eine Nebenbuhlerschaft in den Regionen
der Gewalt selbst. (Schluß folgt.)
Die von der preußischen Regierung beabsichtigte Umbildung der ersten
Kammer, welche zuerst ein aus dem Schoße der Bethmann-Hvllwegischen Fraction
ausgegangener Antrag in der vorjährigen Sitzung anregte, und die nach dem
Scheitern desselben, durch die Initiative des Ministeriums wieder ausgenommen
wurde, und keinen bessern Erfolg hatte, fand, wie man sich erinnern wird, in der
überwiegenden Mehrheit der constitutionellen Partei einen entschiedenen Wider¬
stand. Die Regierung ist gleich im Beginn' der jetzigen Session mit ihrer Vor¬
lage wieder hervorgetreten und hat, wie im vergangenen Jahre, die Zustimmung
der ersten Kammer dafür erhalten, welche die bei Verfassungsabändernngen er¬
forderliche zweite Abstimmung in Kurzem ohne Zweifel bekräftigen wird; in der
zweiten Kammer, deren Zusammensetzung den verschiedenen Parteien des preußischen
Staatslebens eine bei weitem genügendere Vertretung gewährt, wird- der Entwurf
erst die eigentliche Feuerprobe zu bestehn haben. Bevor wir auf die Chancen
eingehen, die sich ihm daselbst eröffnen, wollen wir das Für und Wider erörtern,
welches über das Verhalten der Constitutionellen im bisherigen Verlauf dieser
Frage, so wie über ihr voraussichtliches Votum darin für die bevorstehende Ent¬
scheidung vorgebracht ist.
Die Bethmann-Hollwegische Partei befürwortete ihren Vorschlag, statt der
durch die §K. 65—68 der Verfassung festgestellten ersten Kammer eine solche zu
setzen, die nnr ans erblichen »ut lebenslängliche» Mitgliedern auf Grund könig¬
licher Ernennung bestehen solle, aus dem doppelten Gesichtspunkt, daß erstens
der obere Zweig der Gesetzgebung dadurch dem Bereich wechselvoller politischer
Kämpfe entrückt, und mit jener Stetigkeit und Unabhängigkeit ausgestattet werde,
die zur Ausübung des ihm zustehenden Berufes nothwendig sei, daß ferner der
Krone damit ein Recht ertheilt werde, das ihr gebühre, und dessen Vorenthaltung
eine Verstimmung der Dynastie gegen die Verfassung erzeugen müsse. Die Urheber
des Antrags machten privatim kein Hehl daraus, daß die persönliche Ansicht des
Königs die Ausmärzung aller Wahlelcmente aus der ersten Kammer nud ihre
alleinige Bildung dnrch die königliche Ernennung als einen unentbehrlichen Damm
der Monarchie betrachte, nud daß die Konstitutionellen daher weise handeln
würden, die Neigung des Monarchen sür die Verfassung durch ein dahin zielendes
Zugeständnis; zu gewinnen und zu befestigen, Mittheilungen, welche ihre volle
Bestätigung durch bekannte Vorgänge erhielten, die im Verlauf der Verhandlungen
der ersten Kammer über den Pairie-Antrag stattfanden. Die von den Bethmauu-
Hollwegiaueru angeführten Gründe gewannen in einigen einflußreichen Mitgliedern
der constitutionellen Fraction der ersten Kanuner eifrige Befürworter, namentlich
i" L. Camphause»; und indem nur eine kleine Zahl der Abgeordnete» dieser
Farbe mit der äußersten Rechten gegen den Antrag stimmte, wurde ihm die Majorität
zu Theil. In der zweiten Kammer, welche das Gros der constitutionellen Partei
in sich schloß, war das Verhältniß gerade umgekehrt; die hervorragendsten Führer,
wie Vinke, Simson, Beseler, und die große Mehrzahl der Linken erklärte sich
gegen den Vorschlag — wie später gegen die Forderung der Regierung ihr eine
elr-Mk dllmedv für die Einrichtung einer neuen ersten Kammer zu gebe» — und
die Umbildung mußte vorläufig vertagt werde».
Der Dissens, der sich im Schooße der constitutionellen Partei offenbart hatte,
trug sich ans die sie in der Presse vertretenden Organe über; ein Theil unter¬
stützte eifrig das Aendernngsproject, ein anderer vertheidigte die Beibehaltung
der Bestimmungen der Verfassung. Wenn ich mich recht entsinne, sahe» die
Greuzbote» damals das von den Bethmann-Hollwegiaueru eingeschlagene Ver¬
fahren nicht ungünstig an, jedenfalls hegten sie bei weite», nicht die Bedenken
dagegen, die den Verfasser diesen Zeilen jetzt nicht weniger als damals erfüllen.
Trotzdem glaube ich, daß eine Zeitschrift, die im Ganzen stets milder Politik
der constitutionellen Partei gegangen ist, einer Ansicht Raum geben wird, die
dem großem Theil der letztem zur Richtschnur diente und wahrscheinlich auch
fernerhin dienen wird, und die von den gewichtigsten Gründen unterstützt wird. '
Die Umbildung der ersten Kammer kann man nicht abgesondert von der
allgemeinen politischen Situation Preußens entscheide». Es genügt nicht auf
dem Felde der Theorie den Vorzug eines solchen Oberhauses vor einem andern
bewiesen zu haben, es genügt auch nicht der Nachweis, daß die Elemente dieser
theoretisch angeblich vortrefflichen Kammer in Preußen genügend vorhanden seien,
es müssen vor Allem die anderweitigen Folgen erwogen werden welche die be¬
absichtigte Umänderung nach sich ziehen würde. Obwol der Theil der Con-
stitutionellen, der seine Zustimmung dazu versagte, keineswegs in den beiden
ersten Punkten mit den Aufstellungen derer, welche das sogenannte Pairieproject
vertheidigten, einverstanden war, so war es doch hauptsächlich die letzte Rücksicht,
welche sein Votum bestimmte.
Die zum Ueberdruß erörterte Frage, ob ein erbliches Oberhaus eine in der
constitutionellen Monarchie nicht zu entbehrende Institution sei, darf um so eher
hier Übergängen werden, als es sich gar nicht darum handelt, eine nur erbliche
Kammer an Stelle einer wählbaren oder doch nnr zum Theil erblichen zu setzen,
sondern wenn man daS Abänderungsprvject mit den jetzt geltenden Bestimmungen
der Verfassung vergleicht, darum, den schon vorhandenen erbliche» Mitgliedern statt
der gewählten lebenslängliche beizufügen. Die in Folge der königl. Botschaft
vom 7. Januar 18!i0 beschlossenen K§. 63—ö8 setzen eine Kammer ein, die ans
90 Abgeordneten, gewählt von den je 30 höchst Besteuerten jedes Wahlkreises,
30 Abgeordneten der größeren Städte, den königlichen Prinzen, erblichen vom
Könige ernannten Pairs und lebenslänglichen vom Könige ernannten Mitgliedern
besteht, mit der Bedingung, daß die Zahl der 120 Gewählten von der Gesammt-
zahl der Neblige» nicht überschritten werden, und daß die Zahl der lebensläng¬
lichen Mitglieder nicht mehr als den zehnten Theil der königlichen Prinzen und
der erblichen bilden dürfe. Es geht hieraus hervor, daß die Krone 80 — 90
erbliche Pairs (die Neichsuumittclbareu eingeschlossen, die es ipso Mro sind)
ernenne» kauu, und wer mit den preußischen Verhältnissen einigermaßen bekannt
ist, wird zugebe», daß sich schwerlich mehr große Grundbesitzer finden möchten,
die eines so großen Vermögens sich erfreuen, als zur standesmäßigen Aufrecht-
haltung der Pairie erforderlich ist, falls die Institution nicht zur völligen Spie¬
lerei herabsinken soll. Denn das Hauptargument, das für sie angeführt wird,
die Unabhängigkeit eines erblichen Gesetzgebers, kann doch höchstens dann Platz
greifen, wenn die Privatverhältnisse dieses Gesetzgebers der Art sind, um ihn
über die Gunst oder Ungunst der Regierenden zu erheben. Macht man aber
Grundbesitzer mit mittelmäßigen Einkünften zu erblichen Pairs, deren Sohne
ihre Versorgung im Staatsdienst suchen müssen, so würden die die Kräfte des
Inhabers übersteigenden Anforderungen seiner Stellung ihn abhängiger machen,
als er es früher war. Hält man selbst die Doctrin einer erblichen erste»
Kammer für unfehlbar, so macht man doch einen Mann nicht unabhängig, indem
man ihn zum erblichen Gesetzgeber ernennt, sondern man macht einen unabhängige»
Gesetzgeber, wenn man eine» Mann, der Eigenthümer eines großen feste» Be¬
sitzes ist, mit dieser erbliche» Function bekleidet. Die Herrenkurie des vereinig-
ten Landtags, auf der mehrere Korporationen, sowie deutsche Bundesfürsten für
ihre preußischen Gntcrcvmplexe dnrch Stellvertretung eine Stimme führten,
was in der neu beabsichtigten Kammer nicht thunlich erscheint — in der
außerdem nicht Alle das Vermögen besaßen, das mit der Pairie verbunden sein
sollte, zählte nur 80 Mitglieder, und die Regierung hatte damals möglichst
Alles herbeigezogen, um dieser Versammlung das erforderliche Gewicht der untern
Curie gegenüber zu geben. Man mag daraus entnehmen, daß Preußen in der
That nicht mehr zu erblichen Pairs geeignete Grundbesitzer zählt, als die gegen¬
wärtigen Bestimmungen der Verfassung der Krone gestatten zu berufen.
Hiernach reducirt sich die Frage darauf, ob eine, ebenso von den Parlciströ-
mungen, wie von dem Einfluß des Gouvernements unabhängige erste Kammer
dadurch gebildet wird, daß mau statt der jetzigen, allerdings etwas complicirten
Einrichtung, einfach der Krone die Befugniß ertheilt, erbliche und lebenslängliche
Mitglieder, ohne jede andere Beschränkung der Zahl, als die sie selbst auferlegt, zu
ernennen. Die Vertheidiger dieses Vorschlags heben hauptsächlich hervor, daß die
90 Abgeordneten der Höchstbestenerten fast nur Vertreter des ritterschaftlichen Grund¬
besitzes, mit einem Wort des Jnnkerthnms, sein würden. Zugegeben, daß dies
richtig sein mag, so werden die lebenslänglichen fast ausschließlich Vertreter der
Bureaukratie sein, aus deren Reihen sie die Regierung größtentheils entnehmen
wird. Dabei liegt die Gefahr nahe, daß bei der Leichtigkeit der Creirung lebens¬
länglicher Mitglieder und bei der Versuchung, augenblickliche Schwierigkeiten in
der ersten Kammer durch deren Ernennung zu überwinden, bald die Institution
mehr den Charakter eines bürokratischen Senats, als einer aristokratisch-erblichen
Pairie erhalten dürfte. Unabhängigkeit nach oben würde man gewiß vergebens
in einer solchen Versammlung suchen; denn die erblichen Pairs — mau weiß ja,
wer es schon einmal war, und wer es wieder sein würde — unterscheiden sich in ihrer
politischen Gesinnung zu vier Fünfteln in Nichts von der Masse des Junkerthums,
außer vielleicht durch eine größere Hofmäßigkeit, und der preußische Beamtenstand
hat durch die Ereignisse der letzten Jahre, so wie durch die neuen Diöciplinar-
gesetze jene unabhängige Stellung, die ihn früher auszeichnete, eingebüßt. Sicherlich
hat die constitutionelle Entwickelung Preußens von der jetzigen ersten Kammer
nur Hindernisse zu erwarten, sicherlich aber hätte sie von der beabsichtigten nicht
geringere Hindernisse zu fürchten. Der einzige Unterschied wäre, daß die jetzige
hie und da geneigt sein würde, ein specielles Standesinteresse anch gegen die
Regierung geltend zu machen, daß die beabsichtigte der Regierung aber unbedingt
zur Verfügung stände. Da scheint es denn doch, daß die constitutionelle Sache
in Preußen noch eher Nutzen von einem solchen Zwiespalt ziehen könnte, als
von einem 'Jactor der Gesetzgebung, der nicht blos reactionär, sondern auch der
stets getreue Ausdruck des gouvernementalen Willens ist.
Käme jedoch nichts Weiteres in Betracht, als ob die jetzige Kammer —
nämlich die, welche die Verfassung festsetzt, nicht die, welche die Regierung mit
Unterlassung der ihr zustehenden Ernennungen und Fernhaltung der an und für
sich berechtigten Mitglieder provisorisch zusammenberufen hat — oder die von der
Bethmann-Hollwcgischen Fraction und von dem Ministerium proponirte besser ist,
so wäre es in der That von geringer Erheblichkeit, ob die erstem bliebe oder
die letztere sie ersetzte. Von keiner hätte das constitutionelle System Etwas zu
hoffen und von jeder hätte es viel zu fürchten. Bei weitem wichtiger, als die
Untersuchung hierüber ist es indeß, ob die constitutionelle Partei, indem sie der
gouvernementalen Vorlage ihre Stimmen giebt, nicht selbst die Bresche der Ver-
fassungsrevision erweitert und alle Vortheile der Stellung aufgiebt, die sie gegen¬
wärtig noch besitzt, und mit deren Benutzung sie die völlige Niederlage der Ne-
präsentativregieruug in Preußen abwenden oder wenigstens doch aufhalten kann.
Als die constitutionelle Partei uach der Eidesleistung ans die Verfassung den
Grundsatz proclamirte, daß dem eben erst geschaffenen Grundgesetz eine ange¬
messene Frist, sich zu bewähren, gegeben werden müsse, und daß sie deshalb jeder
neuen Verfassungsänderung sich widersetzen werde, that sie dies sicherlich nicht
aus einer pedantischen Vorliebe für eine bestimmte Doctrin, von der um so weniger
die Rede sein konnte, als sie im Verlauf der Revision in wichtigen Punkten unter¬
legen war. Die constitutionelle Partei folgte hierbei der Ueberzeugung, daß das
unaufhörliche Aendern und Rütteln an den Institutionen des Staates zuletzt die
unabweisliche Grundlage derselben, den schon so tief erschütterten Glauben des
Volkes an das Recht und sei» Interesse am öffentlichen Leben vollends zerstören
müsse, und sie folgte noch mehr der richtige» Erkenntniß, daß in eiuer Zeit der
reißendsten, politischen Rückströmuug ihre Ausgabe nicht sein könne, die Verfassung
nach irgend welchem, noch so richtigen System zu verbessern, sondern vielmehr
sie nach Kräften zu vertheidigen und für glücklichere Constellatione» aufzubewah¬
ren, was in ihr von entwickelungsfähigen Keimen enthalten sei.
Hätte dieser Standpunkt, in seiner Allgemeinheit aufgefaßt, schon genügt,
um die Constitutionellen vou jeder Zustimmung zu einer Veränderung der noch
gar nicht einmal ausgeführten Bestimmungen, nach welchen die eine der legisla¬
tiven Staatsgewalten gebildet werden sollte, abhalten zu müssen, so kam noch
dazu, daß gerade in dieser Frage die Beschaffenheit der politischen Situation
die Revision nichts weniger, als anräthlich machte. Je weiter die Bewegung
von und 59 in den Hintergrund trat, je mehr es sich für die reaktionäre
Politik nicht mehr darum handelte, ihre Gegner niederzuwerfen, sondern durch
dauernde Schöpfungen ihren Sieg zu befestige», desto mehr trat der Zwiespalt der
beiden Factoren hervor, ans denen in Preußen ihre Kraft beruhte, des Innker-
thnms und der Bureaukratie, d. h. der von bureaukratischen Geist erfüllten und
auf büreaukratische Einrichtungen sich stützenden Regierung. Beide waren darin
einig, das Repräsentativsystem aus der Verfassung auSzumärzcn, und sie theils
auf, wenn nicht der Form, so doch dem Wesen mich ständische Grundlagen zu¬
rückzuführen, theils mit bureaukratischen Elementen zu versetzen. Ueber das
Mehr oder Minder des Antheils konnte man sich nicht vereinigen, und der
größte Stein des Anstoßes war die Beschaffenheit der ersten Kammer, die mit
dem 7. Ang. 18!iÄ. „ach der Verfassung in Kraft treten sollte. Die Regierung
wollte sie abändern, und i» ihr einen gouvernementalen Conservatismus repräsen-
tirt, das Junkerthum den ritterschaftlichen, der in ihr vorhanden, erhalten wissen.
Die ritterschaftlichc Partei tauschte sich darüber nicht, daß, brächte man selbst die
Ständeeintheilnng in die zweite Kammer zurück, sie darin unmöglich ein solches
Uebergewicht erlangen könne, als in der ersten, wo sie wahrscheinlich "/^ der erb¬
lichen »ut mindestens der neunzig Vertreter der Höchstbestenertcn für sich
haben würde. Sie war deshalb der Umänderung im Allgemeinen sehr abgeneigt,
vor Allem aber, ehe sie einen sichern Ersatz in der zweiten Kammer dafür hätte.
Die Negierung, vielleicht überhaupt außer Stande, ihr diesen Ersatz in dem bean¬
spruchten Maße zu bieten, wollte keinenfalls die Jnnkerpartei anch »och in der
zweiten Kammer ansehnlich verstärken, ehe dieselbe ihren Platz in der ersten abge¬
treten hatte. Mit einem Wort, trotz aller Complimente »ut Zärtlichkeiten, mit
denen die ritterschaftlichen Chefs und das Ministerium sich in den Kammern über¬
schütteten, traute man sich nicht ganz, und dieser Zustand ist noch hente vorhanden.
Die Regierung will, — das hat sich deutlich herausgestellt — nicht eher an die
Revision des Wahlgesetzes der zweiten Kammer gehen, als bis die erste in ihrem
Sinne revidirt ist, und die Jnnkerpartei will nicht eher in eine Revision der
ersten Kammer willigen, als bis sie die Garantie hat, genügenden Ersatz für das,
was sie damit verliert, in der Abänderung der zweiten zu finden. Dieses sehr
heikelige Dilemma machte der constitutionellen Partei eine sehr günstige Lage.
Die vereinten Kräfte der Gegner waren ihr zu stark, sie konnte nur in bereu
Spaltung die Aussicht eines erfolgreichen Widerstandes erblicken.
Es wäre müssig darüber zu streiten, ob die Regierung, ob das Junker¬
thum dem konstitutionellen System mehr entgegen ist. Ließe sich dies im
Allgemeinen entscheide», so wäre diese Entscheidung trotzdem unnütz. Ob, bricht
ein Zwiespalt zwischen beiden aus, die constitutionelle Partei sich ans diese oder
jene Seite werfen soll, kann nnr die Beschaffenheit des jedesmaligen Falles be¬
stimmen. In dem vorliegenden aber liegen die Dinge so, daß, leihen die Con-
stitutionellen ihre Stimmen der Regierung, sie das einzige Hinderniß, das der
Umbildung der zweiten Kammer im Wege steht, hinwegräumen, verbinden sie sich
mit der ritterschaftlichen Rechten, sie die Situation aufrecht erhalten, welche die
Neste der Repräsentativverfassung schützt. Darüber scheint es doch kaum möglich,
sich zu täuschen, daß die Regierung, hat sie die Aenderung der ersten Kammer
durchgesetzt, ohne Säumen an die der zweiten gehen wird, die ihr sell'se erwünscht
ist, und die sie dann um so mehr beschleunigen muß, als sie nnr dadurch ihren
Frieden mit der Ritterschaft wieder schlichen kann, die dann allerdings in der Lage
ist, daS nehmen zu müssen, was die Regierung ihr bietet. Die Constitutionellen
werden dabei das natürliche Opfer sein. Ich kann in Betreff dessen nnr auf
die Erklärungen verweisen, die der Minister von Westphalen bei Gelegenheit des
Stahl-Arnim'sehen Antrags in der ersten Kammer gegeben hat. Wer darnach
noch Illusionen hegen kann, dem ist nicht zu helfen.
Die Bethmann-Hollweg'sche Fraction, deren redliches Wollen und sonstige
große Verdienste ich nicht verkleinern will, beging deshalb einen großen Mißgriff, als
sie die Initiative eines Antrags nahm, der, ging er durch, dieser Situation ein
Ende machte, und der später eine gezwungene Versöhnung der Junkerpartei und
des Gouvernements herbeiführen würde, deren Kosten auf die Constitutionellen
fallen müssen. Vor Allem durften die Freunde und Vertheidiger der Verfassung
mit keinem Schritt ihre starke Defensivstellung verlassen und selbst das Signal zu
einer Umformung der Staatsgewalten geben, deren Schlußcrgebniß stets nnr eine
Niederlage des Constitutionalismus sei» kann; kam aber ohne ihr Zuthun die
Frage zur Entscheidung, so war die gebotene Taktik der Cvnstitntioncllc» mit der
Jnnkerpartci gegen die Vorlage der Regierung zu stimmen. Sie blieben damit
dem Prinzip, das sie feierlich proclamirt, getreu, und hielten, was mit das We¬
sentlichste jetzt in Preuße» ist, die Revision der zweiten Kammer aus. Das jetzige
Wahlgesetz derselben mag schlecht sein, aber ein ständisches würde noch zehnmal
schlechter sein, schlechter vor Allem, weil damit jede Aussicht verloren ginge, die
Theilnahme und Thätigkeit deS Volkes sür die Verfassung, die jetzt so tief dar¬
niederliegen, wieder zu erwecken. Die zweite Kammer ständisch machen, heißt das
constitutionelle Lebe» in Preußen begraben. Was die Zukunft daun bringen wird,
kauu freilich Niemand wissen, verzichten müßte mau aber daraus, auf dem Felde
der bestehende» Institutionen für sie zu arbeiten. Und eine andere Bedeutung,
als diese, kau» die Verfassung für die cvnstitutioiielle Partei nicht haben.
Ich muß schließlich das Geständniß aussprechen, daß mir die Chancen der
Sache, für die ich hier plaidirt habe, in der zweiten Kammer schlecht zu stehen
scheinen. Die Stimmen der Bethmann-Hollwegiancr, die beharrlich dabei einer
Rücksicht folgen, deren ich vorher schou erwähnt habe, und in der ich, weil nicht
die geringste Hoffnung, keinen Grund erblicken kann, für die Regierung zu po-
liren, werden ohne Zweifel dem ministeriellen Project bleiben, unter den Katho¬
liken wird es Unterstützung finden, und in der constitutionellen Partei werden
wie im vorigen Jahr verschiedene Abgeordnete gleichfalls dieser Seite beitreten.
Selbst die Mehrzahl der Constitutionellen mit der selbstständigen Fraction der äußer¬
sten Rechten und dem sonstigen Zuwachs, den sie etwa noch unter den Katholiken
finden dürfte, wird die Majorität der Regierungsvorlage nicht entwinden
können. Sollte aber dies uur zu wahrscheinliche Resultat auch eintreten, so wird
es mich doch mit Befriedigung erfüllen, den Kern der constitutionellen Opposition
seinem einmal aufgesteckten Banner tren bleiben und die Verantwortlichkeit eines
legislativen Actes ablehnen zu sehen, dessen unausbleibliche Folgen man ihm
wenigstens nicht wird zur Last legen können.
Das muhamedanische
Reich war seit langer als sechs Monaten in einer als entscheidend anzusehen¬
den Krisis, die dreifacher Natur ist: finanziell, gouvernemental und im engeren
Sinne politisch. Nachdem das Ministerium Neschid Paschas aus Anlässen ge¬
stürzt worden war, deren Ausgangspunkte in der Sphäre deS Serails liegen,
und die bis anf den heutige» Tag nicht völlig klar und unzweifelhaft enthüllt
worden sind, »ahn ein anderes, den Personen nach, aus denen es bestand,
von dem vorhergehenden wenig verschiedenes Cabinet, unter der Leitung des
seitherigen auswärtigen Ministers, Ali Pascha, als Großvezier, seine Stelle ein,
um am 7. October v. I. durch die gegenwärtigen Gewalthaber aufs Neue zu
Fall gebracht zu werdeu. Man weiß allgemein, daß die vielbesprochene, dnrch
den Fürsten Kallimachi, damaligen ottomanischen Gesandten zu Paris, auf Neschid
Paschas Autorisation hin, contrahirte Anleihe im Belaufe von fünfzig Millionen
Franken die Veranlassung dieses MiuisterwechselS war. Das Vezierat Moham¬
med Ali Pascha, welches nachfolgte, übernahm damals die bereits bestehenden
Finanzwirren als Hauptschwierigkeit; die Besiegung der aus der Nichtratification
des Urlebens erwachsenden Schwierigkeiten bildete also gleich anfangs eine
Hauptaufgabe sür dasselbe, von der gesagt werden kann, daß sie bis zur
Stunde ungelöst geblieben ist. Aber die Verlegenheiten mehrten sich mit den
Tagen der Amtsdauer. Man hatte im neuen Cabinet das System Neschid
Paschas laut und offen als den Verderb des Staates, als ein Regime, welches
nothwendig das Land zum Ruine hinführen müsse, bezeichnet, und cousequenter
Weise durfte man nicht säumen, ihm ein anderes, der eigenen Meinung nach
besseres, entgegenzustellen. Dieses neue System ist in vielen Blättern als der Jubegriff
der Maximen der sogenannten alttürkischen Partei, von der man viel im Aus¬
lande und wenig in Stambul selber hört, bezeichnet worden, doch, wie ich
glaube, mit großem Unrecht. Das Wahre ist, daß dieses System, wenn man
es so nennen will, aus dem Kopfe Mohammed Ali Paschas, des gegenwärtige»
Großvezicrs, selber entsprang. Dieser Staatsmann — auf die fragliche Person,
die ihrer Herkunft nach ein georgischer Sclave ist, angewendet, mag der Aus¬
druck etwas hyperbolisch sein, aber er entspricht mindestens seiner amtlichen
Stellung - besitzt einen unbeugsamen, der kaiserlichen Schwägerschaft cutstauinic»-
deu Hochmuth als erste Eigenschaft. Im nebligen ist er ohne Kenntnisse, die
elementarsten politischen nicht ausgenommen, und am mindesten befähigt, die
Stellung des Reiches, seine Lage im Innern und namentlich nach Außen hin
nur annähernd richtig zu erwägen und aufzufassen. Ein solcher Manu, der
die abenteuerlichsten Begriffe über die Ausdehnung und Intensivität der türkischen
Macht in sich trägt, vermochte am wenigsten der Vertreter einer nachgiebigen und
versöhnlichen Politik zu werden, welche gleichwol unter deu bestehenden Ver¬
hältnissen die einzig zulässige zu sein scheint. Im Gegentheil kounte sei»
„System" von keinem andern Princip getragen sein, als von dem der rücksichts¬
losen Gewalt. Er hat dieselbe in Syrien zur Anwendung gebracht, und die
Folge ist gewesen, daß der vorige Chef der türkischen Armee von Ardestau
letztlich den insnrgirten Drüsen das Feld räumen mußte. I» Montenegro ist er
noch weit strenger, mit einer ganz besonderen und exemplarischer Nichtberücksich-
tigung auswärtigen Interesses eingeschritten, und dieser letztere Act hat gleich¬
zeitig nicht nnr die zwischen der Pforte und Oestreich bestehenden Differenzen
vergrößert, sondern anch Nußland zum Einnehmen einer drohenden Position
veranlaßt.
Der Unfriede mit Oestreich ist alt und schreibt sich vom Ende des Jahres
1859 her, wie Jedermann weiß. Aber er hat mehrere Phase», und die, in
welche er jüngst eingetreten, ist von der allcrbedentimgSvollsten Natur. Eine
völlige Aufklärung der Entwickelung, welche die Angelegenheit bis dahin genom¬
men, kann erst von der Zukunft erwartet werden; indeß ist so viel gewiß, daß
Seitens des Wiener Cabinets die Ansprüche nach und nach gesteigert wurden,
und gegen deu Schluß des letztverflossenen Jahres in der allerpositivste»
Form auf die Hanptfvrdcrnngöpuukte hinauslaufen, vou denen andere Plätter
(Erklärung des albanesischen Seeplatzes Durazzo zum Freihafen, Beanspruchung
ausgedehnterer Garantien für die Christen in Bosnien, Einwandcrnugsrecht
für östreichische Unterthanen) bereits berichteten, unter denen aber der eine,
welcher das Einwandcrnngsrccht östreichischer Unterthanen und die Erwerbung
von Grundbesitz auf türkischem Gebiet in Anspruch nimmt, von ganz außerordent¬
licher Tragweite ist. Gelingt es Oestreich, in dieser letztem Frage seine» Willen
durchzusetzen, »ut wie die Dinge liegen, so darf man erwarte», daß es zu
diesem Zwecke vor keiner Consequenz znrückbcbe» werde, so ist damit die orien¬
talische Frage für die fernere Zukunft gelöst, die abendländische Cultur er¬
greift Besitz vom türkischen Reiche, und das Haus Habsburg erringt an Ein¬
fluß um das Zehnfache im Orient, was andere Mächte im Laufe des Jahr¬
hunderts sich angeeignet.
Wie drohend sich indeß die Differenz immerhin um Neujahr bereits gestaltete,
so ist sie, in Folge der Vorgänge am Fuße der „schwarzen Berge" dennoch
seitdem noch „in Vieles kritischer geworden. Die Angelegenheit Montenegros
tritt als ein neuer Komplex noch weit brennenderer Fragepuukte und zwar nicht
nur zwischen Oestreich und der Pforte, sondern auch zwischen Rußland und dieser
hin. Die beiden Großmächte haben sich nämlich wunderbar schnell zu einer
Politik geeinigt, von der jetzt erst geahnet werden kann, was ihre letzten Ziel¬
punkte sind, die aber bereits seit einem Monat mit gewichtvoller Einstimmigkeit
sich hierorts geltend macht.
Am vorletzten Sonntag (30. Januar) langte Graf Leiningen als k. k. außer¬
ordentlicher östreichischer Gesandterund bevollmächtigter Minister ans einem besonders
von Trieft abgefertigten Dampfschiff hier an. Wie man glaubt, überbrachte er nichts
Anderes als ein Ultimatum mit Frist bis zum März. Dieser Zeitraum war
bereits um Neujahr mit Bezug auf die vorerwähnten Fragen gestellt und ist
beibehalten worden. Indeß scheinen die Aufträge des Grafen Leiningen auch noch
darauf hinauszulaufen, für den Augenblick die Einstellung der Feindseligkeiten gegen
Montenegro und zwar kategorisch zu verlangen; — die Pforte wird sich nicht fügen.
. Dazwischen rüstet die Pforte zu Wasser und zu Lande. Mau hat im Divan
die Ueberzeugung nicht aufgegeben, daß England und Frankreich ein gemein¬
sames Agiren Oestreichs und Rußlands nimmer gestatte» würden, und die Ver¬
treter jener Mächte scheinen dieser Meinung bedingungsweise beigepflichtet zu
haben. Die nächsten Wochen müssen eine Entscheidung bringen.
- Der Ausfall der Wahlen
in ganz Spanien liegt jetzt vor, und hat dem Ministerium eine Majorität ge¬
geben, die die sanguinischsten Erwartungen seiner Anhänger noch übersteigt. Nach
den Berechnungen der Oppositionszcitnngcn selbst habe» die vereinigten Parteien
der oppositionellen Moderadvö und Progressisten nur etwa 80 Abgeordnete durch¬
gesetzt, vou denen zwei Drittel etwa moderirt, ein Drittel progressivst!) ist. Die
Progressisten namentlich haben starke Verluste erlitten, und mehrere ihrer hervor¬
ragendsten Leiter, worunter z. B. Olozaga, sehen sich von den Cortes ausgeschlossen.
Die gewaltige Phalanx von 230 Al'geordneten (die Wahlen der Balearen und
Canarischen Juselu sind noch nicht bekannt) wird als ministeriell bezeichnet. In
Madrid, das eine große Menge abhängiger Beamten und Peusiouaire unter seinen
Wählern zählt, unterlagen sämmtliche Oppositionöcandidateu, in deu Provinzen
siegten sie dagegen in den meisten größeren Städte», wie z. B. Barcelona,
Valencia, Sevilla ?c. N»r Saragossa, sonst eifrig progresflstisch, wurde seiner
alten Fahne ungetreu, und wählte sogar Bravo Murillo, der durch den ganzen
Einfluß der Negierung unterstützt wurde. Ueberhaupt haben nach allen Nach¬
richten die gouvernementalen Wahlumtriebe und Willkürlichkeiten jedes Maß über¬
schritten, und die ärgsten Vorgänge, an denen Spanien wahrlich nicht arm ist,
überboten. Auf dem platten Lande und in deu kleine» Städten, deren Bevölkerung
in Summa die der großen Städte weit übersteigt, hatten diese Manöver den
im Voraus befürchteten Erfolg.
In Betreff der Cardmalfrage, die jetzt Spanien bewegt, der Verfassungs-
revision, bleibt es gleichwol ungewiß, wie sich die Parteiverhältnisse im neuen
Kongreß gestalten werden. Unter die Ministeriellen werden Männer wie Martinez
de la Rosa, Sartorius, Bennudez de Castro, Esteban Collantes gerechnet, bisher
stets eifrige Vertreter des parlamentarischen Princips und entschiedene Widersacher
der Nevistonsprojecte Murillo's. Es ist keinen denkbar, daß diese sich zu ernst¬
haften Verfassungsänderungen herbeilassen sollten. Nicht zu berechnen dagegen ist
es, ob sie unter der Loi-äisant ministeriellen Partei Anhang genng finden werden,
um einen Tiers-parti zu bilden, der dem Cabinet, falls es die Vorlagen seiner
Vorgänger wieder aufnimmt, die Majorität zu entziehen im Stande ist. Sollte
es sich bestätigen, daß das Ministerium Martinez de la Rosa zum ministeriellen Kan¬
didaten für die Präsidentschaft des Kongresses aufstellt, so müßte man daraus
folgern, daß es dieser constitutionellen Mittelfraction sehr bedeutende Zugeständ¬
nisse gemacht hätte, »in jenen Staatsmann zur Annahme der Candidatur zu beweg/n.
Jedenfalls haben diese Wahlen den erneuten Beweis geliefert, welchen großen
politischen Fehler im Jahre 1846 die Moderadopartei beging, als sie, um die
Macht der Progrcssistcn zu brechen, deu Census unbillig erhöhte. Die Progrcs-
sisten sind im Wahlkörper zur Ohnmacht verurtheilt, aber auch die Moderados
selber sehen sich in der ärgsten Gefahr, mit der ganzen Verfassung der Ausbeutung
der unverhältnißmäßig kleinen Wählerzahl durch das Gouvernement zum Opfer zu
fallen. Die Aussaat einer parteiischen Politik trägt jetzt ihre verhängnißvollen
Früchte.
Da das Ministerium immer noch mit seinen Entschlüssen über die Ver-
fassungsrevision hinter dem Berge hält, so ist die Besorgnis) in Madrid groß.
Die Opposition denkt aber keineswegs den Kampf aufzugeben, und da die
80 ihr angehörenden Abgeordneten eine viel zahlreichere Schaar großer parla¬
mentarischer Talente zählen, als das Cabinet sie unter seiner Mehrheit aus¬
weisen kauu, so wird die Session voraussichtlich sehr stürmisch werden. Vor¬
läufig fällt die ganze Last des Kampfes ans die Oppvsitivnspresse, die, wie bis¬
her, ohne Aufhören confiscire wird, und mit gleicher Beharrlichkeit den Platz
behauptet. Um die Mehrheit des Senates, die ihr bis jetzt nichts weniger,
.als gewiß war, sich zu verschaffen, hat die Regierung 37 neue Senatoren, zum
größten Theil wenig bekannte Namen, creirt. Ein königliches Decret ernennt zum
Präsidenten des Senates Don Joaquin Espeleta einen ziemlich abgenutzten abso¬
lutistisch gesinnten General. Sonst hatte man diese Function stets an politische
Notabilitäten des hohen Adels, wie Miraflores oder Viluma übertragen. Die
Vicepräsidenten sind entsprechend gewählt.
Nimmt das Cabinet die Pläne Murillo's wieder auf, so läßt sich, selbst wenn
die Mehrheit der Cortes ihm zur Seite steht, nicht berechnen, was daraus folgen
konnte. Unter seinen Gegnern sind Männer, die aufs Aeußerste getrieben zum
Aeußerste» greifen könnten, und deren Einfluß und Bedeutung groß genug sind,
um vielleicht eine furchtbare Katastrophe herbeizuführen. Narvaez ist noch immer
in Biariz bei Bayonne und soll an seine Freunde geschrieben haben, mir die Ge¬
walt werde ihn von dort weichen machen. ES verlautet nichts darüber, ob er
nach Eröffnung der Cortes (sie findet am 1. März statt) nach Madrid komme»
wird, um seinen Platz im Senat einzunehmen, und dem Hose offen Trotz zu bieten.
— Der neue Lordkanzler Lord Crcunvorth scheint in
Hinficht der wichtigen Frage der Jnstizreform nicht den von ihm gehegten Er¬
wartungen entsprechen zu wolle». Seine Reformen will er gegenwärtig ans Ein¬
richtung einer Registratur der Besitzerwerbuugsurkuudcu vou Grundeigenthum, und
die Einsetzung einer Commission, um die Statutengesctzc zu consolidiren, be¬
schränke». Erstere Maßregel ist für den Grundbesitz, letztere für den praktischen
Juristen von uicht geringer Wichtigkeit. !l,'echtliche Verhältnisse werden nämlich
in England entweder durch Common lap oder durch 8l.al.alö l-rv geregelt. Ersteres
ist das seit unvordenklichen Zeiten überlieferte landesübliche Recht, fortgebildet
dnrch die Entscheidungen der Gerichtshöfe, das 8tatutg laxv dagegen begreift
alle Erlasse deS Parlaments über rechtliche Verhältnisse von Edward lit. bis auf
den heutigen Tag in sich. Diese letztem sind der Zahl nach (die speciell irischen
und schottischen Statuten abgerechnet) bis Ende 1844 nicht weniger, als 1t,i08,
und find gesammelt in 40 cnggedrnckten Qnartbänden, ohne alle Classification und in
einem wahrhaft -barbarischen Style abgefaßt, indem manchmal einzelne Perioden
ganze Quartbogen i» Anspruch nehmen, ohne vo» einem Paragraphen oder einem
Absatz »»terbrochen zu sein. Daß kein menschlicher Kopf eine solche Masse von
Gesetze» verdauen kann, versteht sich von selbst, aber eS ist auch gar nicht nöthig,
da bei weite!» die Mehrzahl derselben, mindestens drei Viertel, sich nur auf vorüber¬
gehende Verhältnisse bezieht, und gegenwärtig keine Amvendung mehr findet.
Die Sichtung und Ordnung der noch brauchbaren würde jedenfalls eine große
Wohlthat sein, und Lord Cranworth schmeichelt sich sogar mit der Hoffnung, daß
es nur ein vorbereitender Schritt zur Herstellung eines ciuü« Victoria sein werde.
Der Entschluß der ostindischen Regierung, Pegu von dem Birma»cnreich
loszutrennen »»d den britischen Besitzungen im Osten einzuverleiben, findet in der
englischen Presse wenig Billigung. Die beiden in der Proclamation angegebenen
Beweggründe: die Nothwendigkeit einer Entschädigung für frühere erlittene Be¬
nachteiligungen und eiues Sicherheitspfandes für die Zukunft findet man nicht
stichhaltig und die ganze in dieser Angelegenheit befolgte Politik unbegreiflich.
Man kann nicht einsehe», wie eine Provinz von so geringen Hilfsquellen, wie
Pegu, deren Behauptung immer sehr schwierig sein wird, eine Entschädigung ge-
währen soll, da die früher von Birma abgerissenen und weit wohlhabenderen
Provinzen jetzt noch nicht einmal durch ihre Einkünfte die Besetzungskostcn decken.
Wie die neue Eroberung zu größerer Sicherheit verhelfen kann, ist ebenfalls
schwer zu entdecken. Pegu ist weder von Birma förmlich abgetreten, noch über¬
haupt schon im vollständigen Besitz der Engländer, denn der Gouverneur spricht
in seiner Proclamation von der Nothwendigkeit, die noch darin befindlichen birma¬
nischen Truppen zu vertreibe», was bei der energielosen Kriegführung Geueral
Godwin's einige Zeit kosten wird. Anstatt den Krieg abzukürzen, kann die Ein¬
verleibung von Pegu ihn nur verlängern, denn die äußerst langsamen Fortschritte
der Engländer in dem nun schon zwölf Monate dauernden Feldzug haben den
ohnedies schon sehr übermüthigen birmanischen Hof gewiß nicht nachgiebiger ge¬
macht, und die gewaltsame Abreißung einer Provinz kann die Collisionspunkte
mit einer Regierung nnr vermehren, welche durch die Unfähigkeit des comman-
direnden Generals und die Saumseligkeit seiner Kriegführung nnr einen sehr
unvollkommenen Begriff von der Macht Englands bekommen hat. ES ist dies
nicht das erste Mal, daß sich die gewichtigsten Stimmen der Presse gegen jede
fernere Vergrößerung des Kolonialreiches erheben; schon bei der Erwerbung
Seindiah und des Pendschabs vernahm man ähnliche Aeußerungen, denn der Eng¬
länder ist ein zu guter Kaufmann, um über dem nichtigen Ruhm nutzloser Er¬
oberungen die Kosten, die der Krieg verursacht, zu vergessen.
Auf diese Neigung des Engländers hat auch die Friedensgesellschaft haupt¬
sächlich gerechnet, als sie ihre Operationen anfing, sie hat aber ihr Ziel weit
Überschossen, und durch ihre Uebertreibungen in der letzten Zeit nur dazu bei¬
getragen, ihr Streben lächerlich zu machen, und den politischen Einfluß ihrer
Führer zu untergraben, wie sich jeden Tag mehr zeigt. Selbst in der radicalen
Presse erheben sich Stimmen gegen Cobden's hyperchristlichen FricdeuSsanatismnö,
und er muß sich diese Woche von der befreundeten Weekly Deöpatch eine Straf¬
predigt gefallen lassen, M bei aller Anerkennung seiner sonstigen Verdienste die
großen Einseitigkeiten seines agitatorischen Strebens stark hervorhebt. „Mr. Cobden,"
heißt es in diesem Artikel, „leidet an gewissen Mängeln der Erziehung, deren
Abgewöhnung seinen Geist sicher gesünder macheu würde. Er verachtet Alles,
was er nicht weiß. Er kaun sich nicht zu dem Glauben bewegen, daß Etwas,
das er nicht besitzt, des Habens werth ist. Er macht die klassische Bildung
lächerlich, von der er nichts weiß, und nur weil er weder ihren Geist noch ihren
Nutzen versteht. Seine Verachtung vor dem Studium der Metaphysik hat er oft
an den Tag gelegt, während die Verständigen ihn bedauerten, daß er nicht mehr
davon weiß. Ein wenig von der Schärfe im Denken, welche die Uebung in dieser
Disciplin hervorbringt, hätte ihm viele seiner kleinlichen Verstoße gegen gesunde
Vernunft erspart. Seine Begriffe vom militairischen Ruhm sind geradezu pueril.
Wir stehen gar nicht an zu behaupten, daß die größten Eigenschaften des mensch-
lichen Charakters im Kriege in einer Weise zur Aeußerung kommen, die sich unter
keinen andern Verhältnissen entwickeln können, und zwar ganz abgesehen von der
Kriegsnrsache. Die absurde Theorie Mr. Cobden's ist, daß, weil große Eigen¬
schaften im Kriege, den er ans Prinzip mißbilligt, entwickelt werden, dieselben
nicht groß sind. Nach ihm sind Muth, Beständigkeit, Selbstverläugnung, Unbe¬
stechlichkeit, Fassung und Selbstbeherrschung im Unglück, Mäßigung, Menschlichkeit
und Ehrlichkeit im Sieg, unerschütterliche Treue gegen die, welche sich ans den
Führer verlassen und von ihm abhängen, große administrative Begabung, fast all¬
wissende Voraussicht, unerschöpfliche Fruchtbarkeit der Hilfsmittel, und göttliche
Geistesgegenwart keine großen Eigenschaften, wenn sie im .Kriege zur Anwendung
kommen. Sonach müßte also die Sache, in welcher Eigenschaften sich äußern,
ihre Vortrefflichkeit bestimmen. Alltäglich geht Mr. Cobden, wenn er das
Unterhaus besucht, zwischen den Bildsäulen Haupten'S, und Falkland's, hin¬
durch. Diese Männer fochten aus entgegengesetzten Seiten; aber wir wüßten
wahrhaftig nicht zu sagen, welcher von beiden der größere Engländer, oder der
aufrichtigere Patriot gewesen ist. War nicht Washington's Ruhm ein militairischer?
War er nicht aus dieselben Eigenschaften gegründet, die Mr. Cobden an dem
Herzog v. Wellington tadelt — auf freudige Zuversicht und Beständigkeit im Un¬
glück — auf Treue gegen die, welche ihm den Befehl gegeben — auf Selbstver-
läugnung — auf Entsagung von leiblichen Genüssen — auf ein hohes Pflicht¬
gefühl als das erste und größte Erforderniß? Die Sache der französischen Re¬
publikaner war gerecht; — aber ihre Werkzeuge, ihre Führer, ihre Thaten waren
schändlich und verrucht. Die Sache des Prätendenten war schlecht, wer aber
kann seine Geschichte lesen, den begeisternden Heroismus, die unerschütterliche
Treue, die fleckenlose Ehre, die hochherzige Hingebung vieler Anhänger dieser ver¬
lorenen Sache sehen, ohne besser von dem menschlichen Charakter zu denken?
Wir läugnen, daß die Sache die That heilige oder verdamme. Der Diener des
Staats soll nicht sein Herr sein. Individuen sind nicht aus eigenem Rechte be¬
fugt, über die Klugheit oder Gerechtigkeit einer von der großen Allgemeinheit
durch die legitimen Rcgiernngsorgane beschlossenen Maßregel zu entscheiden. Die
Verantwortlichkeit für einen Beschloß trifft nicht das Individuum, souderu die Ge¬
sammtheit. Der Einzelne hat weiter nichts zu thun, als die Pflicht, die ihm die
ganze Gesellschaft aufgetragen hat, mit Aufrichtigkeit und getreuer Selbstverläug-
nung zu erfüllen, und je eifriger und ehrlicher er dies thut, desto höher ist er zu
schätzen. Das vergißt Mr. Cobden in seiner Würdigung militärischen Verdienstes
ganz und gar."
— Die Börse schöpft neuen Muth, der Friede
ist gesichert, die Armee wird reducirt, die Finanzen sind so glänzend, daß wir
in unserer Verlegenheit, den Ueberfluß zu verwenden, den Sold der Unteroffiziere
jeglicher Waffe erhöhen. Das Capital Frankreichs hat sich »in zwei Millionen,
vermehrt seit dem zweiten Dezember! Das sind Thatsachen, denen gegenüber
jede Verläumdung und alle Angriffe der abscheulichen Times verschwinden werden.
Wir wollen weder England erobern, noch Belgien verspeisen, noch auch die
Savoyarden in Beschlag legen, und den Rhein haben wir längst vergessen.
Die Verfasser der kriegerischen Broschüren: I^s Umtto» ein; 1» ssi^meo und der
I^ttros ü-anqnvK sind Unruhestifter, verkappte Legitimsten, welche durch trüge¬
rische Schmeicheleien unserer Nationalvorurtheile den Kaiser zu einem dummen
Streiche verleiten mochten. Doch die Herren haben ohne die Weisheit unseres
Monarchen gerechnet, der Moniteur hat dieses Gewebe von Trug und Falschheit
aufgedeckt. Er hat gezeigt, daß nnr die Revolutionäre und die legitimistischen
Ränkeschmiede von Krieg träumen, und zum Kriege treiben. Wenn England
so viele Rüstungen für nöthig erachtet, so geschieht dies nnr, weil die gesammte
'englische Presse in den Händen der zahllosen Flüchtlinge und Revolutionäre
ist, die im Dunkel des Londoner Kohlendampfes ihr heilloses Wesen treiben.
Daß .auch Preußen von solchen falschen Ideen sich umgarnen läßt, das haben
die Legitimsten und ihr Organ, die Preußische Zeitung, zu verantworten. Oest¬
reich muß seiner Natur nach vor jedem Kriegsgedanken erschrecken, und seine
Sorge läßt sich allenfalls noch begreifen. Rußland fürchtet, wie von jeder frei¬
sinnigen Regierung, die Ideen der französischen Demokratie — wie Herr Tro-
plong, der Präsident des Senats, den gegenwärtigen Zustand Frankreichs nennt —
könnten Se. Petersburg me der Cholera um die Wette incommodireu. Die Rus¬
sen konnten auf telegraphischem Wege, oder durch Eiseubahuverschwvrungcu Lust
uach unserer Preßfreiheit, nach unserem constitutionell-demokratischen Negiernngs-
systeme bekommen. Der Kriegsglaube des Osten hat daher seine innren, von
unserer internationalen Politik ganz unabhängigen Gründe, nud ohne diese
würde ganz Europa den süßesten FriedenShvffnungen cutgegcuschlumnern, und
dem thätigen Ritter des allgemeinen Weltfriedens aus Dankbarkeit eine Sere¬
nade schnarchen. Fraukreich, das heißt Napoleon III. verspricht den Friede»,
und was Frankreich, das heißt Napoleon in. verspricht, war nie etwas Anderes
als die reinste Wahrheit, denn Frankreich, das heißt Napoleon III. ist stark ge¬
ring, und fürchtet zu wenig, um betrügen zu müssen. Man kann nicht klarer, nicht
überzeugender sprechen, und wir hoffen John Rüssel, Palmerston und Aberdeen
werden sich das gesagt sein lassen. Fraukreich hat so viel Eroberungen und
Reformen im Innern zu machen, daß selbst der Ehrgeiz eines Mannes, wie der
Neffe und Erbe Napoleon I. dadurch erfüllt werden kann. Die revolutionären
Ideen sind noch nicht ganz erstickt, und mau wird nicht so viel Anstrengungen
und Blut darauf verwendet haben wollen, sie im Innern wenigstens zeitweilig
zu unterdrücke», um sie nach außen hin durch einen Krieg wieder zu erwecken.
So spricht der weise Präsident des kaiserlichen Senats, derselbe Troplong, der
nach einem solchen Ausspruche auf natürlichem Wege das Recht erlangt, das
politische Axiom anzusprechen: Für Frankreich gäbe es für alle Ewigkeit keine
andere Regierung mehr, als das Kaiserreich und deu Bonapartismus. Heißt
das nicht ans glänzende Weise die Verirrungen eines Momentes gut macheu,
die deu ehemaligen Präsidenten des Cassatiouöhvfes so weit verblenden konnten,
die Dcchance Louis Napoleon's mit derselben Salbung zu proclamiren, mit
welcher jetzt die Unfehlbarkeit des alleinseligmachenden Kaiserthums verkündet
wird? Der Kaiser also wird keinen Krieg machen, weder dem Westen noch
dem Osten, der Kaiser wird das staatliche Gebäude Frankreichs erst vollenden, um
ihm dann die Krone der Freiheit auf'S strahlende Haupt zu drücke». Bis dahin
mag die müde Freiheit sanft schlummern, diese Ruhe wird ihrer angegriffenen Konsti¬
tution nur zuträglich sein. Die Freiheit hat nach der Staatstheorie unsrer Monarchen
beim Aufbau eines Staatsgebäudes gar nichts zu schaffen, sie ist wie ein neu¬
gieriges Kind, das dem Architekten fortwährend zwischen den Beinen herumläuft
und nur selbst Schaden nehmen kann, ohne zu helfen. Erst wenn das Werk
vollendet und befestigt ist, dann mag sie erwachen und ihre Stimme erheben.
Die Amerikaner, welche mit Hilfe der Freiheit ihre Constitution und ihre Re-
pikblik aufgebaut haben, wissen nicht, was sie gethan, oder vielmehr, sie wissen es
nnr zu gut, sie leben nnn in drückender und langweiliger Monotonie bald ein
Jahrhundert unter denselben Gesehen, in derselben Weise, ohne Abwechselung
und ohne Fortschritt. Wie anders Frankreich! Es hat in derselbe» Zeit das
erste Eude der Bourbonen, den ersten Anfang und das erste Ende der Republik,
den ersten Anfang und das erste Ende Napoleon's des Ersten, den zweiten An¬
fang und das zweite Ende der Bourbonen, den ersten Anfang und das erste Ende
der Orleanisten, den zweiten Anfang und das zweite Ende der Republik, und den
zweiten Anfang der napoleoniden in bunten, interessanten und raschen Bildern
an sich vorüberziehen gesehen. Wie unterhaltend! Und wem danken sie diesen
reichen Wechsel an Schauspielen, wein anders, als dem weisen Grundsatze, daß
jede Regierung immer zuerst an sich und daun an die Freiheit, das heißt an das
Volk und das Land zu denken hat. Nur die zweite Republik hat eine Ausnahme
gemacht, da hat die Regierung weder an sich, uoch an die Freiheit, sie hat gar
nichts gedacht. Auf die Freiheit müssen wir noch eine Weile verzichte», das geht
aus dem feierlichen Versprechen der Thronrede klar genug hervor, unsre Regie¬
rung wird ihr heilsames Werk mit Hilfe anderer Handlanger zu Stande bringen.
Sie hat sich andere Bundesgenossen auserkoren, als die Freiheit mit ihrem un¬
bequemen Gefolge von Journalen, Rennivue», Debatten und Kritiken. Wir haben
verständigere, gefälligere, umsichtigere und ausdauerndere Unterbaumeister. Da
haben Sie zum Beispiel den Clerus — mit welcher Aufopferung, mit welchem
Eifer nimmt er sich nicht der neue» Zustände an! Kaum trägt mau ihm eine
Arbeit, eine Sendung auf, und er strebt in seiner rastlosen Thätigkeit bereits
nach einer andern. In diesem Augenblicke ist er im Begriffe, die Regierung von
der schweren Pflicht des öffentlichen Unterrichts zu befreien. Und wie zart, klug
und rücksichtsvoll benehmen sich die Herren in den schwarzen Röcken nicht! Sie
sagen den verschiedenen Privatlycecn und Privatpensionen durch das Organ der
Regierung: Ihr laßt Euch nicht genug zahlen, Eure Professoren haben zu viel
Nahrungssorgen und können nicht gut unterrichten, wir befehlen Euch daher,
Euch jährlich zweihundert Franken statt hundert Franken Univcrsitätökosten
(Schulsteuer) bezahlen zu lassen. Die Vorsteher der Lyceen bemerken freilich da¬
gegen, daß sie dieses Plus an Kosten selbst tragen oder von den Familien ver¬
langen müssen, und im ersten Falle gingen sie ans directe Weise zu Grnnde, im zwei¬
ten auf indirecte, weil die Familien sich weigern würden, die beträchtlichen Kosten
noch erhöhen zu lassen. Die Herren Priester zucken mitleidig mit den Achseln
und meinen nun, dann wird man in unsre großen und kleinen Seminarien
kommen, denn wir haben Geld und brauchen dem Staate nichts zu bezahlen, wir
können also billiger unterrichten. Den Gemeinden nehmen sie ebenfalls die Last
des Unterrichts von den Schultern und lassen sich blos die Gebäude modeln und
die etwaigen Staatöznschüfse statt jeder Art von Entgelt geben. Die Regierung
will, daß unsre Professoren besser bezahlt werden, und sie wendet sich an die
ohnehin genug in Anspruch genommenen Familien, sie selbst hat kein Geld, dem
öffentlichen Unterrichte zu Hilfe zu kommen, denn was uns trotz des glänzenden
Zustandes unsrer Finanzen übrig bleibt, das brauchen wir für unsre Unterofficiere.
Wenn erst die Unterofficiere zufrieden gestellt, der öffentliche Unterricht ge¬
regelt, die Jury ein Wenig — der neuen Staatstheorie angemessen — reformirt
sein und Frankreich religiöser gestimmt, die Ideen Voltaire's und Rousseau's
von der ganzen Generation aufgefaßt sein werde», wie von Herrn Granier ans
Cassaiguac, dann mögen wir wieder an die Freiheit zu denken wagen. Bis
dahin müssen wir unsre Entschädigung bei Monseigneur Sibour und bei Herrn
von Maupas suchen.
Friedrich Kühmstcdt in Eisenach hat eine vierte Sammlung Lieder
mit Pianoforte bei Körner in Erfurt herausgegeben. Das Talent des Komponisten neigt
sich zu dem Sentimentalen und Elegischen, und auch in diesem Licderhcfte sind diese
Stimmungen vorherrschend und mit dem meisten Glücke behandelt. Die melodische Er¬
findungskraft kann nicht hervorragend genannt werden, doch weiß der verständige Künstler
immer die richtige Stimmung anzudeuten und auf edle Weise zu zeichnen, so daß ein
ernster Mensch einen ungetrübten Genuß erwarten darf. , Besser belohnt wird sich beim
Durchspielen des Hefts der Musiker finden, da eine Menge seiner und interessanter Züge
seine Aufmerksamkeit bald fesseln. Die Gewohnheit des Orgelspiels und die große
Uebung des Komponisten im Schreiben von Tonstücke» für dieses Instrument verleiten
ihn an einzelnen Stellen zu polyphonischen Schwerfälligkeiten, welche dem Wesen des
begleitenden Pianoforte nicht angemessen sind, und den Charakter des Liedes zu dem
des rccitirenden und declamirten Gesanges umschaffen. Das erste Lied von Oscar von
Redwitz ist ans den geringen Raum, von drei Systemen beschränkt. Man hat in der
letzten Zeit oft Lieder in diesem Miniaturrahmeu gegeben, doch scheint es nicht der
Mühe werth, die Musik zu solchen sentenzenartigen Gedichten zu verwenden, denn jede
derartige kurze musikalische Ausführung hinterläßt den Eindruck des Unfertigen und
Fragmentarischen.
Von Friedrich Marschncr sind bei Hofmeister in Leipzig Vier Duette sür
Sopran und Alt top. 1t>7.) erschienen. Sie sind in ihrem Inhalte und Werthe den
letzten Kesangöwcrken Marschner'S ziemlich gleich: Das Streben, Gefallen zu erregni,
überwindet das Eingehen in die Tiefe. Das erste Duett, „Abend am Meere", ist am
sorgfältigsten ausgeführt, es treten in ihm zwei selbstständige Stimmen aus; die andern
darf man eher zweistimmige Lieder nennen. Unter ihnen wird das dritte, „der Schalk",
sich bald Freunde erwerben durch seiue lieblichen und freundlichen Klänge. Auch Ur. i.,
„das Kindcsange", verdient Anerkennung.
Wenn von diesem trefflichen Künstler an anderen Orte gesagt worden, daß jedes neue
Bild von ihm einen neuen Schritt zu größerer Vollendung zeigt, daß er in seinen
Wirkungen nicht auf neue noch nicht dargestellte seltene Gegenstände, aus Farbeneffecte,
überhaupt nicht auf bestechliche Aeußerlichkeiten geht, sondern aus eine meist ernstere
Stimmung, aus Durchdenkcn und Durchbildung der Komposition, ans charakteristische
Darstellung des Ganzen und Einzelnen, besonders aber auf Klarheit im Licht hinstrebn
so findet man das in seinem zuletzt, sür Herrn Fr. Eichel in Eisenach gemalten grö¬
ßer» Bilde von Neuem bestätigt. Auf demselben sieht man links eine» sausten bewal¬
deten Abhang, mit drei Eichen im Vordergrund, fast in der Mitte; rechts Wasser mit
bewachsenen Ufern und etwas Meeresferne, der Himmel mit zerrissenem Gewölk, wie
nach eben vorüber gezogenem Unwetter, das man noch in der Ferne sieht. Das Alles,
besonders aber die Lust, ist von einer Klarheit, einem Leuchten, wie man es kaum sür
erreichbar hält. Daß dieses Leuchtende der Farbe durch ein in neuerer Zeit in Mün¬
chen geübtes und Professor Preller dort ungetheiltes Verfahren, mit Tempera auf
Krcidcgrnnd zu untermalen, in Höheren Grade ermöglicht wird, ist nicht zu bezweifeln.—
Augenblicklich ist Herr Preller mit der Beendigung eines kleineren Bildes für die Frau
Großherzogin von Weimar beschäftigt, wozu das Motiv aus der gebirgigen Umgebung
von Eisenach genommen ist: Durch mehrere Gruppen schlanker Buchen öffnet sich die
Aussicht auf eine Felsspitze, Mönch und Nonne genannt; zu beiden Seiten bewachsene
Berge. Die herbstliche Färbung der Bänme, in morgendlicher Beleuchtung mit leicht
bewölktem blauen Himmel, macht einen höchst anmuthigen Eindruck, man möchte den
sich unter den Baumgruppen hinziehenden Pfad wandeln, um des heitern Morgens zu
genießen, es erweckt die volle Stimmung davon in dem Beschauer. — Ein anderes Bild
von mittlerer Größe, eine Gebirgshöhe im heitern Zillerthal mit Tannen und Berg-
wasser, das zwischen Felsstücken braust, sür Herrn Hofmarschall von Boilieu, sieht man
in einem sorgfältig gezeichneten Carton und in der Untcrmalung in Tempera. Aus sei¬
ner letzten Studienreise hatte Herr Preller jene Gegend zu seinem Ziele genommen.
Der Landschaftsmaler Raabe in Berlin hat de» königlichen Prinzen persönlich
seine Pläne zur Verschönerung Berlins vorgelegt und sich damit die vollste Anerkennung
und Hoffnung aus spätere Ausführung dieser Pläne gewonnen.
Seit geraumer Zeit mit einer Arbeit beschäftigt, welche eine möglichst umfassende
Darstellung der drei großen Meister Haydn, Mozart und Beethoven sowol in
ihren Lebensverhältnissen, als ihrer künstlerischen Entwickelung und Bedeutung zum
Ziel hat, habe ich im verflossenen Jahr aus einer zu diesem Zweck unternommenen
Reise hauptsächlich einen längeren Aufenthalt in Wien benutzt, um an dem Ort, wo
sie zumeist gelebt und gewirkt haben, Materialien aller Art zu sammeln. Durch
die dankenswerthe Liberalität und Bereitwilligkeit, mit welcher mir die dortigen Kunst-
freunde und Sammler ohne Ausnahme ihre reichen Schätze zur freiesten Benutzung mit¬
getheilt haben, ist es mir möglich geworden, mit sorgfältiger Beobachtung theils der
noch erhaltenen Tradition, theils ungedrucltcr Kompositionen, sowie zahlreicher Briefe
und verwandter Documente ein Material zu beschaffen, das durch neue und wichtige
Aufschlüsse eine neue Bearbeitung auch nach den bereits vorhandenen Schriften über
jene Männer wünschenswerth, ja nothwendig macht. So ergab die Durchforschung der
im Mozarteum in Salzburg befindlichen Briefe Mozart's das unerwartete Resultat,
daß in dem bekannten Buch von Nissen dieselben weder vollständig noch treu heraus¬
gegeben sind, und daß bei der Auswahl des dort Mitgetheilten verschiedene Umstände
außer dem Ungeschick des Redacteurs sehr ungünstig gewirkt haben. Wie reich indessen
auch die Ausbeute meiner bisherigen Nachforschungen ist, so fehlt doch viel, daß sie
erschöpfend sei. Ohne Zweifel ist ein eben so wichtiges als reiches Material in den
vielen Autographensammlungcu vorhanden, aber der wissenschaftlichen Benutzung unzu¬
gänglich ohne besondere Begünstigung durch die Besitzer. Ju der Ueberzeugung, daß
die von uns unternommene Arbeit aus eine allgemeinere Theilnahme Anspruch habe, er¬
laube ich mir die Bitte auszusprechen, daß Diejenigen, welche im Besitz von
ungedruckten Kompositionen, von Briefen und Documenten sind,
die für das Lebe», oder die künstlerische Bedeutung Haydn's, Mozart's
und Beethoven's von Bedeutung sind, mir dieselben, wo sie Bedenken
tragen sollten, das Original außer Händen zu geben, in vollständigen
und getreuen Abschriften mittheilen, entweder direct, oder durch
die Musikalienhandlung von Breitkopf und Härtel, welche auch in
den erforderlichen Fällen jede wünschenswerth c Sicherheit zu geben
bereit ist. Ich bemerke dabei, daß ich keineswegs beabsichtige, eine Briefsammlung
jener Musiker bekannt zu machen, sondern Briefe und Documente nur als Quelle meiner
Darstellung ansehe, daß aber für diese jeder selbst scheinbar geringfügige Umstand
wichtig werden, und im Zusammenhang mit anderen oft überraschenden Ausschluß ge¬
währen kann, und daß dem Biographen selbst das zu wissen nöthig ist, was er zu ver¬
schweigen Ursache hat, und in manchen Fällen den richtigen Ton bestimmt. Ich werde
daher jede Mittheilung dieser Art mit Dank entgegen nehmen und benutzen. Aus einen
Punkt erlaube ich mir noch besonders die Aufmerksamkeit zu lenken. Die drei Meister
hatten alle die fast constante Gewohnheit, auf die von ihnen selbst geschriebene» Com-
positionen Jahr und Datum der Vollendung zusetzen, und sür die Herstellung
der so wichtige» chronologischen Verzeichnisse ihrer Werke ist (mit Ausnahme des bekann¬
ten Mozart'schen Katalogs sür einen Theil seiner Werke) die Beachtung dieser einzelnen
Data das einzige Hilfsmittel. Ich bitte daher die Besitzer autographischer Compositionen,
mir diese und ihnen verwandte Bemerkungen, welche sich denselben bcigeschricbe» finde»,
gefälligst mitzutheilen.
Als ich in meinem Coursbnch der Eisenbahnen und Posten vergeblich nach
irgend welchen Angaben, die Luxemburg betrafen, suchte, schrieb ich diesen Mangel
einer argen Nachlässigkeit der Herausgeber zu; ich war jedoch genöthigt, im
Stillen einigermaßen diesen Vorwurf wieder abzubitten, als man mir auf dem
Postamt in Trier auf meine Frage, wann die Post nach L. abginge, zur Antwort
gab, es gäbe keine Persvnenpost nach dieser Stadt, die sich an preußische Posten
anschlösse; ans dem ,,Trierschen Hofe" fahre dagegen ein Personenwagen täglich
dorthin und hätte ich daher mich daselbst des Nähern zu erkundigen.
In dem besagten Hotel — beiläufig gesagt, das beste in Trier und eines
der bessern in der ganzen Rheingegend — erfuhr ich, daß in Luxemburg die
Post uicht vom Staat, sondern von Privaten besorgt werde, und daß der
Wagen, der zweimal des Tages vom Trier'schen Hof nach der Hauptstadt des
kleinen Nachbarstaates abgebe, dort seinen Rnhpunkt im Hotel de Cologne
nehme. Dieser Postdienst zwischen zwei Gasthöfen, obwol er für deren Besitzer,
denen er die Reisenden gewissermaßen in's Haus setzt, seine unbestreitbaren Vor?
theile hat, war mir in der That etwas Neues und drängte mir die Vermuthung
auf, in diesem vou den großen Bahnen des Weltverkehrs entlegenen und wenig
beachtete» Läudchc» uoch völlig altvaterische Zustände vorzufinden. Ein patriar¬
chalisches Mittelding zwischen Omnibus und Postwagen von einem so unerbittlich
maulfanlen Cvnducteur geleitet, wie ich aus meiner Erfahrung mich nicht erinnern
kann, ihn je gefunden haben, trat dann auch wirklich Nachmittags 3 Uhr seinen
Weg an, der etwa 6 deutsche Meilen beträgt und in eben so viel Stunden zurückgelegt
wird. Da ich mehrere Tage in L. bleiben wollte und nicht ganz ohne Besorg-
niß über den Gasthof war, dem ich so zu sage» ausgeliefert werden sollte, so
wagte ich einige vorsichtige Fragen an den Conducteur über diesen Punkt, aus
die ich jedoch nichts Weiteres herausbekam, als ein dumpfes, mürrisches Brum¬
men, das möglicher Weise im Landesdialekt artiknlirte Laute bedeutete, meinen
Ohren dagegen eben so unlieblich, als unverständlich erklang. Der Würdige war
offenbar gut gewählt, um wenn auch keine Empfehlungen, so doch auch keine
für den Vortheil seiner Herrschaft nachtheilige Angaben zu machen.
Das erste Drittel des Weges führt noch dnrch preußisches Gebiet und durch
eine anmuthige Gegend; zur Linken die Mosel in mannigfachen Krümmungen,
rechts ein Höhenzug, der theils in schroffen Abhängen unmittelbar die Straße
begrenzt, theils malerische Thalschluchten eröffnet. Die erste Station liegt auf
der Grenze des Großherzogthums, und während die Pferde gewechselt wurden,
examinirte mich ein übrigens sehr höflicher Gensdarm über meine Legitimation
und allerlei andre Umstände, wie z. B. Zweck der Reise ze. Auch derartige In¬
quisitionen ans der Landesgrenze ist man nicht mehr gewohnt in den deutschen
Bundesstaaten, wo die Nachfrage nach deu Pässen erst in den Gasthöfen anfängt,
mit Ausnahme Berlins, wo man die Reisenden ans den Bahnhöfen abfängt
und die Unglücklichen, welche zu leicht befunden werden, nach dem Pvlizciamt dirigirt.
Von nun an begann der Weg zu steigen und das Land einen andern
Charakter anzunehmen, indem die Straße das Mosclthal verließ. Das luxem¬
burgische Gebiet ist ein Hochplateau von mäßiger Höhe und zum großen Theil
bewaldet. Es bietet nicht diese weiten und schönen Thalgründe, welche die Mosel-
gegend um Trier herum auszeichnen. Schmale und tiefe Einsenkungen, durch
welche kleine Flüsse der Mosel zueilen, unterbrechen zuweilen die im Uebrigen zwar
nicht unschöne, aber doch etwas einförmige Landschaft. Da wir uns schon im
Anfange deö September befanden, siel der letzte Theil der Reise in die zunehmende
Dämmerung, und die Nacht war vollständig eingebrochen, als wir in Luxemburg
anlangten.
Das Erste, was ich von der Stadt wahrnahm, waren die gewaltigen, zum
Theil in die Felsen gehauenen Festungswerke, deren Dimensionen die Dunkelheit
noch vergrößerte. Als wir über den gemauerten Viadukt fuhren, der über das von
der Alsette gebildete Thal hinweg die Außenwerke mit der innern Stadt verbindet,
gewährten zahllose Lichter, die nach beiden Seiten hin aus der Tiefe herauf¬
schimmerten, sie blinkten aus den Fenstern der dort liegenden Vorstädte —
einen phantastisch schönen Eindruck. Sobald wir die Thorwache erreichten, trat
ein preußischer Soldat hervor und richtete an die Mitreisenden nacheinander die
Fragen: „Woher kommen Sie?" „Wo werden Sie wohnen?" „Wie lange
denken Sie hier zu bleiben und zu welchem Zwecke?" die endlich mit der Ab-
forderung des Passes, sofern man einen besaß, und der Mittheilung schlössen,
man werde ihn dnrch die Polizei zurückerhalten. Ich war beinahe geneigt zu
glauben, ich befände mich, einmal in Luxemburg, im Zustande einer halben Ge¬
fangenschaft, statt daß in der Wirklichkeit vielleicht in keinem deutschen Staate die
Polizei dem Fremde» so wenig lästig fällt, als gerade hier. Dies ganze Cere-
moniell, womit man die Reisenden empfängt, ist nichts als eine Seitens des
Garnisonscommando eingeführte Etiquette, welche der Bnndesfestnng zu Ehren
besteht, und man kann darauf antworten, was Einem gerade beliebt, da Niemand
auf die so feierlich eingezogenen Erkundigungen einen Werth legt.
Nach einem ziemlich kurzen Wege durch die innere Stadt fuhren wir in den
Hof des Hotels ein, welcher der Zielpunkt der Fahrt unseres Personenwagens
war, und da ich keinen Grund hatte, einen andern Gasthof für besser zu hallen,
so bestellte ich mir in diesem ein Logis. Beinahe hätte ich meinen Entschluß
wieder zurückgenommen, als ich das Zimmer oder vielmehr die Zelle betrat, welche
mir angewiesen wurde. Das äußerst kleine Gemach wurde fast zur Hälfte durch
ein unvernünftig großes Bett eingenommen, auf dessen oberem Ende sich ein so
winziges Kopfkissen befand, daß es sicher keine leichte Aufgabe war, dasselbe die
Nacht hindurch unter dem Kopfe zu behalten. Eben so sparsam war das Bettlaken
zugemessen, das sich in Folge dessen, sobald man sich niederlegte, zusammenrollte und
verschwand. Das ganze Meublement des Zimmers bestand sonst nur ans einer
schweren Nußbaumcvmmode, zwei Strohstühlen und einem roh gezimmerten, mit
Oelfarbe angestrichene,? Tisch, der zugleich als Waschtisch diente. Ich gestehe, daß
diese spartanische Einrichtung meinem Geschmacke nicht im Geringsten entsprach.
Bei den bescheidensten Ansprüchen verlangt man denn doch zum Mindesten ein
Sopha. Ich glaubte anfangs, man hätte mir die schlechteste Kammer im ganzen
Hause gegeben, sah jedoch in der Folge, daß die Einrichtung des Hotels über¬
haupt nicht darauf berechnet war, den Gästen Bequemlichkeiten auf ihren Zimmern
darzubieten. Mau erwartete, daß dieselbe» sich zu ihrem Ausenthalt des großen
Gastzimmers bedienen würden. Hier versammelt sich schon des Morgens Alles
zum Kaffee, und auch im Laufe des Tages verweilt man größtentheils daselbst,
insofern man nicht außerhalb des Hauses ist. In allem Uebrigen war der Gast¬
hof — der beste in Luxemburg, wie man mir sagte — zwar einfach, aber gut und
ausnehmend billig; in Betreff der Zimmer jedoch sind die Fortschritte der modernen
Hvtclwirthschaft noch nicht bis nach Luxemburg gedrungen.
Luxemburg ist für den, welcher die Moselgegenden bereist, eines kleinen
Abstechers uicht unwerth. Die gewaltigen und auch durch ihr Aeußeres impo-
nirenden Festungswerke, wie die eigenthümliche, pittoreske Lage der Stadt, hinter¬
lassen dem Besucher einen dauernden Eindruck. Der innere Theil der Letzteren,
welcher zugleich die eigentliche Festung bildet, liegt aus einem Felsen, der ans drei
Seiten durch den tiefen Thalgrund der Alsctte, eines kleinen Flusses, umgeben
wird und nnr nach Westen hin mit dem übrigen Lande in ebener Verbindung
steht. Schroffe Felsenvorsprunge fallen von allen Seiten in das Thal hinab, in
welchem sich um den halben Umfang der Stadt etwa die Vorstädte herumziehen.
Auch diese sind uoch in dem Bereich der mächtigen Außenwerke, die sich bis ans
den querüberliegcnden Rand der Schlucht erstrecken. Die neuere Befestigungs-
kunst mit ihren einförmigen Wällen gewährt meistens nichts Anziehendes für
das Auge; nicht so in Luxemburg. Die zum Theil in die Felsen gehauenen und
mit Mauern und Bastionen, die noch früheren Jahrhunderten angehören, ver¬
sehenen Werke bieten einen bei weitem großartigeren Anblick, als irgend eine der
mir bekannten Festungen. Nach der Westseite hin, wo die natürliche Festigkeit
dem Platze fehlt, und welche die einzige ist, gegen die eine regelmäßige Belage¬
rung unternommen werden konnte, hat man dnrch verdoppelte Stärke der Be¬
festigungen den Mangel ziemlich erfolgreich ersetzt. Trotz alledem hat Luxemburg
im Fall eines Krieges mit Frankreich gegenwärtig nicht die Wichtigkeit einer
Festung ersten Ranges. Theils liegt es zu entfernt von den großen Linien, die
besonders jetzt, nach dem Bau der Eisenbahnen, die strategischen Operationen
verfolgen werden, theils ist es nicht im Stande, eine mehr als mäßige Besatzung
in seinen Wällen aufzunehmen, deren Casemattiruug, weil sie zum großen Theil
aus den Felsen selbst bestehen, schwierig und deshalb mangelhaft ist. Der Feind
könnte sich, ohne deshalb gefahrvolle Eventualitäten zu laufen, mit einer schwachen
Blokade des Platzes begnügen; denn selbst im Fall eines Unglücks würde weder
die Zahl der Besatzung, noch ihre von der großen OperativnSlinie zu entfernte
Lage ihn mit einer ernstlichen Behinderung seines Rückzuges bedrohen.
Was zu dem gebildeteren Theil der Einwohnerschaft gehört, wohnt fast aus¬
schließlich in der inneren Stadt, während die Vorstädte die arbeitenden Classen
und den kleinen Handwerkerstand in sich schließen. Die Bevölkerung, welche ohne
die zur Zeit meines Aufenthaltes bis auf 6000 Mann verstärkte preußische Gar¬
nison etwa 13000 Seelen beträgt, ist zu fast gleichen Hälften zwischen der Stadt
und den Vorstädten vertheilt; doch waltet in anderer Beziehung ein merkbarer
Unterschied ob. Der Firniß des Franzoseuthums, der dem Verkehr der Gebil¬
deteren anklebt, herrscht in der Stadt ausschließlich vor; man sieht nirgends ein
deutsches Schild an den Kauf- und Waarenläden, obwol der Mehrzahl nach
deutsche Namen, die dem französischen Wesen zum Trotz auf den deutschen Ur¬
sprung hinweisen. Zuweilen figuriren sie allerdings in komischen französischen
Zusammenstellungen, z. B. Nizschke-Namur, Schutze-Masson :c. In den Vor¬
städten dagegen finden sich viele deutsche Aufschriften. Die Bevölkerung des
Theils von Luxemburg, der nach der belgischen Revolution von dem früheren
Großherzogthum abgetrennt wurde, und das bis auf weniger als die Hälfte ver¬
kleinerte jetzige bildet, ist unstreitig überwiegend deutschen Stammes; die Lage
des Landes jedoch auf einer Sprachschcide und seine wechselnden politischen Schick¬
sale, die es seit Jahrhunderten unter die Botmäßigkeit verschiedener fremder
Nationen brachten, haben einen Dialekt erzeugt, der für einen Deutschen, mag
er immerhin unserer gewöhnlichen plattdeutschen Mundarten völlig kundig sein,
fast gänzlich unverständlich ist. Die Stadtbewohner und auch selbst die unteren
Staude sprechen nun zwar hochdeutsch, wenn auch erträglich nur die Gebildeten,
welche Letzteren es übrigens nur im Verkehr mit Deutschen thun, während sie
in ihren geselligen Cirkel» des Französischen und im engeren ungenirter Kreis
der Häuslichkeit zuweilen deö Luxemburgischen sich bedienen; das Landvolk da¬
gegen beschränkt sich ganz auf das Landesidiom, welches Verwandtschaft sowol
mit dem Flämischen, wie dem Wallonischen hat, vou Beiden aber schon durch
diese entgegengesetzte Mischung, wie durch seine eigenthümlichen Bestandtheile
wesentlich verschieden ist.
Meine Ankunft fiel gerade in die letzten Tage der sogenannten Schobermesse,
die, obwohl sie nur ein großer Jahrmarkt ist, für Luxemburg und die Umgegend
dennoch ihre Wichtigkeit hat. Sie findet einmal jährlich statt und die 14 Tage,
welche sie währt, bilden den Glanzpunkt der Berguüguugeu, welche das ganze
Jahr der kleineren Bürgerschaft und deu untern Klassen gewährt. Die eigent¬
lichen Kaufbuden waren bereits weggeräumt; auf einem freie» Platz jedoch, einige
hundert Schritte vor deu Festungswerken auf der Westseite der Stadt, waren
noch zwei Reihen vou improvisirten Verguügnngsbudeu, wandernden Komödianten,
Seiltänzern, Knnstreitern, Jongleuren und Athlethen, Panoramen und WachSfiguren-
cabiuetlen zurückgeblieben, die den ganzen Tag über einen zahlreichen Schwarm von
Beschauern und Gaffern anzogen, unter denen man auch die Honoratioren in den
spätern Nachmittagsstunden antraf. Die einzelnen Gesellschaften hatten zum Theil
eigene Musikbanden, die wetteifernd eine schreckliche Concurrenz von allerhand
Tänzen und Märschen zum Besten gaben, während die Bajazzos auf den Gerüsten
vor den Buden herumsprangen, durch Sprachröhre, Lobpreisungen ihrer Truppen
hinausschrien, ja zuweilen auch die letzteren selbst im Costum erschienen und
Tänze aufführten, welche das Publicum begierig nach den eigentlichen Vorstellungen
machen sollten. Es schien mir jedoch, daß die unbemitteltere und größere Masse
es gerade deshalb vorzog, sich umsonst an dem zu ergötzen, was sie außerhalb
der Bude sah und auf deu Eintritt in das Innere, der Euere kostete, verzichtete.
Diese Wahrnehmung brachte die unglücklichen Bajazzos mitunter zu possenhaften
Wuthausbrüchen, die sie über die gaffende Menge ergossen, ja Einige aus dieser,
welche sich zu nahe an den Eingang wagten, wurde» von dem Hanswurst mit
Gewalt gepackt, und an die Kasse abgeliefert, obwol es zweifelhaft blieb, ob
ihr aus einer derartigen Operation irgend welche Vortheile erwuchsen. Ich
erinnere mich bei der Knustreitergesellschaft el» junges Mädchen gesehen zu haben,
deren anmuthige Gestalt und interessante Gesichtszüge von einer tief brünetten,
südlichen Färbung — wahrscheinlich mochte sie aus zigeunerischem Blute stam¬
me,, _ nix ausfielen. Sie wurde Marietta genannt und gewiß würde mancher
der jüngeren Officiere oder der Luxemburger „Dandys" sich der Kleinen zu
nähern versucht haben, hätte sie nicht die Furcht vor der Klatschsucht einer pro¬
vinziellen, ganz auf sich selbst angewiesenen Gesellschaft und das unausbleiblich
daraus erfolgende Verdikt davon abgehalten. Am letzten Tage der Messe zogen
die gastirenden Seiltänzertrnppen zu Pferde, im theatralischen Costüm und mit
Musik durch die Straßen der Stadt und diejenige Marietta's gab noch auf dem
Hauptplatze eine Vorstellung auf einem Seile, das von einem hohen Gerüst nach
dem Dachfenster eines Hauses gezogen war. Zwei Leinen an dem Gürtel des¬
jenigen befestigt, der diese schmale und schwindelnde Straße betrat, und von
Nebenstehenden gehalten, entfernten allerdings die sonst halsbrechenden Gefahren
dieser Künste, denen, da die hübsche Marietta nach zuvor glücklich vollführter
Beschreidung des Seiles selbst unter dein Publicum sammeln ging, und sehr ge¬
schickt ihre Auswahl zu treffen wußte, eine ziemlich reichliche Belohnung ward.
Luxemburg zeichnet sich durch keine merkwürdigen Bauten aus — wenn man
nicht die Festungswerke darunter begreifen will — und auch seine allgemeine
Banart ist ohne prägnanten Charakter. Die innere Stadt ist jedoch von ge¬
fälligem Anblick und ohne schöner Straßen oder imposanter Plätze sich rühmen
zu können, fehlt es ihr nicht ganz an einem gewissen hauptstädtischen Aussehn.
Jedenfalls verspricht sie, wenn man sich ihr von der Tner'schen Straße her nähert
bei weitem mehr, als man späterhin vorfindet. Die landschaftliche Partie, welche
das schon erwähnte Thal der Alsette, die darin liegenden Vorstädte, die Festungs¬
werke und die schroffen Felseubildungen darbieten, ist in hohem Grade anziehend;
hat man aber das Innere betreten, so Hort jede interessantere Eigenthümlich¬
keit auf.
Der französische Firniß, der hier gewissermaßen die Cultur repräsentirt, offen¬
bart sich auch in dem officiellen Staatswesen. Die Erlasse der Behörde» und
öffentliche Anschläge sind durchgängig in ihrem Hanpttext französisch, und nicht
immer ist eine deutsche Uebersetzung beigefügt. Das cvursircnde Geld ist nicht
nur zum großen Theil französisch oder belgisch, sondern auch die Berechnung
wird uach französischem Münzfuß gemacht. Da in Folge der zahlreichen preu¬
ßischen Garnison auch viel preußisches Geld circulirt, so verliert man in den
kleineren Stücken desselben stets Etwas dnrch ihre Uebertragung in Franks und
Sons. Eigne Münze schlägt Luxemburg gar nicht und könnte man diese Ent¬
haltsamkeit unseren kleineren deutscheu Staaten nnr sehr empfehlen.
Ich hatte während meiner ersten Anwesenheit in Luxemburg keine Gelegen¬
heit, mit der eigentlichen Gesellschaft zusammenzukommen. Mein Umgang be¬
schränkte sich auf einige mir bekannte Officiere der dortstehenden preußische»
Artillerie, die mich in den Kreis ihrer Kameraden einführte», bei denen ich,
wie es bei dem Officiercorps dieser Waffe vorwiegend der Fall ist, eine eben
so liebenswürdige, als gebildete Geselligkeit traf. Obwol zwischen dem preußischen
Officiercorps und den gebildeten Ständen der Einwohnerschaft natürlich vielfache
Berührungen stattfinden, so herrscht doch eine merkbare Scheidung zwischen diesen
beide» Theilen der Gesellschaft. Man sieht sich dritten Ortes in Concerten
oder auf Bällen, im engern Familienkreise sind jedoch mit wenigen Ausnahmen
nähere Beziehungen selten.
Fast zwei Monate später, nach meinem im Vorgehenden berichteten Aufent¬
halt, mußte ich noch einmal nach Luxemburg reisen. Wieder nahm ich meinen
Weg über Trier, und wieder kam ich aus der Privatpost mit dem schweigsamen
Condnctcur zusammen. Da ich diesmal der einzige Passagier war, so saßen
wir zusammen im Cabriolet und fuhren, ohne während der sechsstündigen Reise
eine einzige Silbe mit einander zu wechseln, an einem nebeligen Nvvembermvrgen
unseres Wegs. Das Hotel de Cologne nahm mich abermals auf, und ich erhielt
ein Zimmer, genau von der Größe und Ausstattung meines vorigen; hatte ich
das erste Mal dieses prolctariermäßige Logis mit Ergebung ertragen, so lehnte
ich mich jetzt jedoch energisch dagegen ans, da es trotz der rauhen Jahres¬
zeit nicht heizbar war. Man wies mir hierauf ein anderes an, das bei sonst ent¬
sprechenden Bequemlichkeiten sich durch den Besitz eines eisernen Ofens, der un¬
gefähr den Umfang eines großen Topfes hatte, vor jenem hervorthat. Wenn
ich die Zeit, welche ich darin zubrachte, beharrlich darauf verwandte, die drei
mageren Scheite Holz, welche gleichzeitig im Ofen Platz fanden, zu erneuern, so ge¬
lang es mir nach und nach eine Temperatur zu erzeuge», in der wenigstens mein
Bart uicht durch allerlei zarte Figuren gefrorenen Hauches arabcskenhaft ver¬
ziert wurde.
L. befand sich gerade im glänzendsten Strom seiner politischen und gesell¬
schaftlichen Saison. Die Kammer war seit ein paar Wochen zusammengetreten,
und der Prinz Heinrich der Niederlande, Bruder des Königs und Statthalter
des Großherzogthums, welcher sie eröffnet hatte, verweilte noch daselbst und gab
durch seiue Anwesenheit Veranlassung zu verschiedenen Festlichkeiten. Es ist hier
vielleicht um so mehr der Ort, Etwas über die politischen Zustände L.'ö zu be¬
merken, als dieselben eine in mancher Hinsicht erfreuliche Anomalie unter den jetzt
in Deutschland herrschenden bilden.
Die jetzige Verfassung L.'ö datirt aus dem Jahre 18i8. Sie ersetzte ein
an öffentlichen Freiheiten ziemlich karges Statut, welches dem Lande nach seiner
Abtrennung vou Belgien, dem es gewissermaßen provisorisch nach der Septembcr-
revolntion zugefallen war, vom König der Niederlande octroyirt wurde. Ans
dieser früheren Zeit mag nnr bemerkt werden, daß Anfangs der vierziger Jahre
Herr Hassenpflug auf seinen ministeriellen Kreuz- und Querzügen auch hier eine
Zeitlang Minister war, und daß, wenn er keine Gelegenheit fand, Spuren seiner
Anwesenheit zu hinterlassen, wie sie Kurhessen wol noch ans Generationen em¬
pfinden wird, doch die Rückerinnerung an diesen Vertreter christlich-germanischer
Staatskunst den Gefühlen entspricht, die er überall anderswo hervorgerufen hat.
Die Märzrevolution verhalf Luxemburg, wie vielen andern deutschen Staaten, zu
einer neuen, höchst liberalen Verfassung, die bis jetzt vor ihren ehemaligen Kol¬
legen den erfreulichem Vorzug hat, sich behauptet zu haben. Das Großherzog-
thum ist gegenwärtig der einzige Staat in Deutschland, der eine „parlamentarische"
Negierung, d. h. eine solche besitzt, die aus der Majorität der Landesvertretung
hervorgeht. Diese letztere besteht nur aus einer Kammer, was bei sehr kleinen
Staaten jedenfalls dem complicirteren constitutionellen Mechanismus vorzuziehen ist,
dessen größere Staaten nicht entbehren können. Das Wahlrecht dieser Kammer
ist, wenn nicht unbeschränkt, was ich nicht genan weiß und nicht eben geneigt
wäre, vortrefflich zu finden, so doch ans sehr breiter Grundlage. Die Preß-
freiheit, die auf Geschworncneinrichtungen basirte Justiz, die Garantien der Bürger
gegen polizeiliche Willkür — sind Alles noch jene Märzerrungenschaften, die sonst
in ganz Deutschland der Strom der Reaction völlig hinweggeschwemmt hat.
Haussuchungen, Answcisnngen und andere polizeiliche Maßregelnngen trifft man
in dieser kleinen unglücklichen Oase politischer Freiheit nicht an. Allerdings hat
der hohe Bundestag oder wenigstens der letzte Präsident desselben, Graf Thun,
bereits seiner Zeit über dergleichen „revolutionaire Zustände" dem Luxemburgi¬
schen Gesandten am deutschen Bunde sein entschiedenes Mißfallen ausgesprochen
und die Ermahnung hinzugefügt, die nöthige» „Reformen" selbst vorzunehmen,
um dem Einschreiten des Bundes zuvorzukommen. Wir zweifeln auch nicht, daß
Herr v. Prokesch-Osten, sollte er sich einmal an L. erinnern, dieselben freundschaft¬
lichen Wünsche, wie sein Vorgänger, für dessen Rettung aus der Anarchie docu-
mentiren wird; da das Ländchen aber geographisch so entlegen ist, um die An¬
steckung weniger gefährlich zu machen und auch sein fast französisch zu nennendes
Staatswesen die Schmach so unsittlich revolutionairer Institutionell weniger em¬
pfindlich für Deutschland macht, so hat es Aussicht, falls sein Herrscher, wie man
hoffen darf, uicht die Initiative am Bunde ergreift, im Besitz seiner glücklichen
Anarchie zu bleiben.
Die Parteien spiegeln hier, im Kleinen, das getreue Bild des benachbarten
Belgiens ab, wie denn überhaupt Luxemburg wie ein Bruchstück desselben erscheint,
das durch eine politische Revolution von seinem größeren Ganzen abgesplittert
worden ist. Die Katholischen und Liberalen fechten ans dem beschränkten Theater
des Großherzogthums ihre Kämpfe, die dem Sturme in einer Kaffeetasse freilich
nicht ganz unähnlich sind, mit nicht geringerer Erbitterung ans, als in dem flä¬
misch-wallonischen Königreiche. Die liberale Partei, deren zwei Hanptführer die
Gebrüder Metz sind, ist seit einigen Jahren im Besitz der Herrschaft; der eine der
Metz ist Präsident der Kammer, der andere das wichtigste Mitglied der Ver¬
waltung, deren Mitglieder den Titel Generaladministratoren führen, und deren
Vorsitzender Herr Vilmar ist.
L. besitzt auch eine ziemlich zahlreiche Localpresse, wenn gleich, wie es bei
einem kleinen, und von allen Communicationen mit dem großen Welttheater ab¬
geschnittenen Lande nicht anders sein kann, die Leistungen derselben weder von
großem Talent noch höhern politischen Anschauungen Zeugniß geben. Das Haupt-
blatt der Courier av I.ouxomdourA ist nur französisch geschrieben. Er giebt die
Referate der Kammer gleichfalls nur französisch, wobei ich nicht weist, da ich, wie
ich beschämt eingestehe, die Sitzungen der hohen Versammlung nie besucht habe,
ob bei den Debatten nicht auch audere Dialekte gebraucht werden. Die übrigen
Blätter sind gemischt aus französischen und deutschen Artikeln, nicht etwa, wie
z. B. der Lourior ä'^lsircv in Straßburg mit doppeltem Text in beiden
Sprachen, sondern, wahrscheinlich nach Berechnung des Leserkreises für ihre Nach¬
richten und Artikel, die einen deutsch!, die andern französisch. Doch wiegt die
Masse der Letztern vor. Von deutschen Blättern ist an öffentlichen Orten fast
nur die „Kölnische Zeitung" zu finden; dagegen sieht man mehrere Pariser
Blätter und vor Allem die „InÜLponclanLe de-Ig-iz", die den Luxemburger Zu-
ständen eine Aufmerksamkeit widmet, welche beweist, daß die Belgier sie noch immer
wie nur gewaltsam ihnen cntrissue Cvmpatrioten betrachten. In Luxemburg
wird diese Gesinnung völlig erwiedert, und gewiß würde das Großherzogthum,
stände ihm die Wahl frei, mit Acclamation für den Anschluß an Belgien sich
erklären. Nächstdem sind unleugbare Sympathien für Frankreich vorhanden, die
allerdings, wie ich vermuthe, seitdem das Kaiserthum dort die militairische Des¬
potie errichtet hat, bedeutend gewichen sein werden. Für Holland hegt man in
L. keine Neigung, obwol die Dynastie gewiß viel beliebter ist, als das nieder¬
ländische Volk. Es kommt dazu, um das Verhältniß zwischen dem Königreich
und dem Großherzogthum zu trüben, ldaß das Erstere an dieses die Forderung
der Uebernahme von 7 Millionen Gulden der holländischen Staatsschuld stellt,
welches die luxemburgische Kammer, die einem wahren Fanatismus von Spar¬
samkeit huldigt, hartnäckig verweigert. L. macht den Niederlanden eine Gegen-
rcchuuug, wobei es, glaube ich, nicht nnr die 7 Millionen tilgt, sondern auch
noch seinerseits Forderungen herauscalculirt. Die Erbitterung hierüber ist so
groß zwischen den zwei Regierungen, daß, obwol beide Länder einen
Herrscher haben, es gut scheint, daß ihre geographische Lage ihnen keinen andern
Krieg, als höchstens in Luftballons zu führen gestattet, worauf sie, in Betracht
der mangelhaften Entwickelung dieser zwar höchst schäizeuswerthcn, aber un-
sichern Fahrzeuge hoffentlich verzichten werden. Um Deutschland bekümmern sich
die Luxemburger gar nicht, außer daß sie mit mißtrauischer Angst eine Schmäle-
rung ihrer Freiheiten von dort aus befürchte», und leider kaun man sich nicht ver¬
hehlen, daß, wie es gegenwärtig in unsrem Vaterlande aussieht, diese Furcht sehr
gegründet ist »ut die Verbindung mit dem deutschen Bund Luxemburg andere
Vortheile nicht bietet.
Ich lernte diesmal die Luxemburgische Gesellschaft, wenigstens ihrer äußern
Erscheinung nach, auf zwei Bällen kennen, welche zu Ehren deö Prinzen Heinrich
gegeben wurden. Der erste ging von dem Bürgerschützenvercin aus, und sowol
die eigentliche „Kante volee", als die mittleren Bürgerklasseu nahmen daran Theil.
Die Localität und äußere Ausstattung des Festes waren sehr einfach; desto vor-
theilhafter jedoch präsentirte sich der vornehme Theil der Damengesellschaft, die
Lnxembnrgerinnen nämlich, denn ohne sonst der Liebenswürdigkeit meiner Lands¬
männinnen zu nahe treten zu wollen, muß ich doch gestehen, daß man in der Regel
an dem Glanz und ausgesuchten Geschmack der Toilette erkennen konnte, daß ihre
Trägerin eine Luxemburgern! und nicht eine Dame der preußischen Officicrkreise war.
Die wohlhabende Damenwelt bezieht hier alle Gegenstände ihrer Garderobe und
ihres Putzes aus Paris und besitzt jene feine Gabe der Französinnen, die ans
diesem Felde den Frauen aller anderen Länder entschieden überlegen sind.
Der Ball begann, sobald der Prinz, mit seinem Gefolge erschien; der Chef
der Regierung, Herr Villmar, führte ihn ein, und gab zugleich mit dem Rufe:
„Vivo 1s xrmce lieutöNÄnl-xLnvi'al 6v sa N^vstö" das Signal zu einem allge¬
mein ausgebrachten Lebehoch, dem das Orchester den Orauienmarsch folgen
ließ. Der Prinz-Statthalter, etwa 30 Jahre alt und von gewinnendem
Aeußern — namentlich erweckte der milde Ernst seines gedankenvollen Auges un-
willkürlich die Erinnerung an seine großen Vorfahren —- trug das gewöhnliche
schwarze Ballkleid, mit einem Ordenssterne auf der Brust. Sein gesellschaftliches
Benehmen zeigte einige Befangenheit, jedoch tanzte er ziemlich fleißig und vor¬
nehmlich Walzer, deren, als seines Liebliugötanzes, die Tanzordnung auch vor¬
zugsweise viele enthielt. Die Mischung der Gesellschaft war übrigens mehr
scheinbar, als wirklich. Die feinere Damenwelt hielt sich abgeschlossen an einem
Theile des Saales, und wenn auch die Tänzer des ersten Cirkels verschiedentlich
die hübschen Tänzerinnen des zweiten sich aufsuchten, so dürften doch die Tänzer
des letztem schwer von einer Danieder „erewL alö 1-r se>Li(>l6" ein Engagement
erhalte» haben.
Einige Tage darauf gab das preußische Officiercorps in dem Locale seines
Casino dem Prinzen ein Concert nebst Ball, dem diesmal nur die vornehme
Gesellschaft beiwohnte. Der Prinz erschien in der Uniform eines holländischen
Admirals, die ihm ungleich besser stand, als der einfache Civilauzug. Da das
Luxemburgische Contingent in Diekirch und Echternach garnisonirt, so haben auf
den Bällen der Hauptstadt die preußischen Officiere, denen man nicht absprechen
kann, daß sie hier, wie fast durchgängig, sehr gute Tänzer sind, einen unbestrittenen
Vorrang. In dieser Beziehung würden gewiß die Luxemburgeriuueu den Verlust
der preußischen Besatzung sehr bedauern. '
Der Aufenthalt des Prinzen schloß nicht auf befriedigende Weise ab, da die
Kammer, ihrem Sparsamkeitspriucip getreu, die geringe Dotation von 48,000 Franks,
welche die Regierung für ihn forderte, verwarf, worauf der Statthalter ziemlich
verstimmt das Großherzogthum verließ. Diese unter den obschwcbendcn Ver¬
hältnissen keineswegs einsichtsvolle Kuickerci ist jedoch bald darauf reparirt worden.
Die Lebensfrage für Luxemburg ist gegenwärtig der Ban der Eisenbahn,
welche von Namur über Luxemburg und Trier die große belgische Bahn mit der
pfälzischen Lndwigsbahn und dadurch mit den süddeutschen Bahnen in Verbindung
sehen soll. Die materiellen, wie socialen Verhältnisse des Landes würden hiermit
einen außerordentlichen Aufschwung nehmen, Luxemburg auch als Festung —
woran der Einwohnerschaft weniger gelegen sein dürfte — wieder eine erhöhte
strategische Bedeutung gewinnen. Da die Nachbarstaaten, Belgien und Preußen,
namentlich das Erstere, den besten Willen zu diesem wichtigen Unternehmen zeigen
und die Luxemburgische Vertretung in löblichster Selbstüberwindung mit Beseitigung
aller Sparsamkeitörückstchtcn ihrerseits alle erforderlichen Bewilligungen gemacht
hat, so wird hoffentlich in wenig mehr als fünf Jahren — insofern der europäische
Friede erhalten bleibt — das Großherzogthum in die große Kette der continentalen
Schienenwege mit eingereiht sein. Glücklichere Touristen werden dann wohl nicht
mehr meine Leiden in spartanischen Zimmereinrichtungen und kopfartigen Oefen
durchzumachen haben und auch der schwereren Qualen überhoben sein, die mir
ans meinem Rückwege, den ich ans der Straße nach Aachen antrat, ein Luxem¬
burgischer Privat-Postwagen während einer unendlichen Nacht bereitete, in der
ich ans einem abschüssigen Rücksitze, im Rücken eine große Glasscheibe, eine gefähr¬
liche Krisis zwischen Schlafen und Wachen verbrachte.
(S es l n ß.)
Es entstand in der Assemblee ein noch verborgener Antagonismus, der sich
aber von Tag zu Tage deutlicher aussprechen sollte, um bald zum völligen Aus¬
drucke zu kommen. Man konnte es bereits sehen, daß das Land nickt mehr
zwischen der Freiheit und Lizenz, sondern zwischen der Autorität und der Dictatur
herumschlagen werde, zwischen dem General Engen Cavaignac und dem Prinzen
Louis Napoleon Bonaparte.
Allem Anscheine nach fühlte Lamartine dies, aber er beharrte bei seinem
Entschlüsse. Nachdem er von seinen Kollegen die Einwilligung zu einem Ver-
bannnngödecrete gegen Ludwig Napoleon erhalten, beschloß er, dasselbe in der
Sitzung vom 12. Juni vorzuschlagen, und wo möglich noch am nämlichen Tage
ein günstiges Votum durchzusetzen.
Da trotz des Gesetzes gegc» die Zusammenrottungen das Volk fortfuhr, das
Palais Bourbon zu umgeben und fast während der ganzen Dauer der Sitzungen
daselbst zu verbleiben, beschloß man, die Versammlung an jenem Tage durch eine
größere Militärmacht beschützen zu lassen. Der Platz de la Concorde ist von
Truppen bedeckt, man laßt Kanonen vorfahren, und die Generale Cavaignac,
Negrier und Tcmpoure erscheinen in voller Uniform, um die Verfügungen zu leiten:
mau bläst die Trompete, mau rührt die Trommel. Die Volksvertreter müssen
dnrch zwei Reihen der Soldaten, um zu ihren Plätzen zu gelangen, starke Patrouillen
von Nationalgarten durchziehen die Straßen, die Gitter deö Tuilericugartens
schließen sich.
Diese großen Vorbereitungen zogen von allen Seiten Massen von Prole¬
tariern herbei. Mau hatte ihnen ein Ereigniß versprochen. Napoleon wird, ge¬
folgt von einer glänzenden Escorte, in die Nationalversammlung einziehen, sagten
die Einen; alle Truppen seien vereinigt, damit er sie die Revue passiren lasse,
sagten Andere; so leicht verband sich die Idee der Souverainetät mit dem Namen
Napoleon's.
Napoleon, der Sohn Jerome's, Exkönigs von Westphalen, welchen Korsika
in die constituircnde Versammlung schickte, glaubte im Namen seines Vetters gegen
die Gerüchte des Marktes, gegen das, was er die Einflüsterungen der Journale
nannte, von der Tribüne herab protestiren zu müssen.
„Sie wissen Alle", sagte er am Beginne der Sitzung vom 12. Juni, „daß
es in Frankreich Parteien gebe, welche die Republik von sich weisen. Sie recrutiren
ihre Anhänger nnr im Schooße einer kleinen Minorität. Sie sind zusammengesetzt
aus den schlechtesten und unedelsten Elementen der Nation, aber sie existiren.
Der Name Bonaparte ist ein Hebel, eine Macht, wenn man will. Was ist
natürlicher, als daß Leute, welche die Republik angreifen wollen, sich mit diesem
Namen waffnen, unter welchem sie ihre sträflichen Intriguen verbergen."
Von denselben Gefühlen beseelt protestirt General Bcdean seinerseits mit den¬
selben Worten wie General Cavaignac im Namen der Armee gegen die Zumuthungen,
deren Gegenstand sie geworden: „die bewaffnete Gewalt in Frankreich",
sagte er, „ist vor Allem eine intelligente; sie ist passiv in der Erfül¬
lung eines Befehls, dessen Gesetzlichkeit sie verstanden, aber sie
wird niemals verblendet werden durch das Prisma irgend eines
Thronprätendenten. Ein Führer, der sich einbildete, in einem se-
cundai ren Einflusse die Möglichkeit zu finden, die Armee zu täuschen,
würde am Tage, wo er sträfliche Versuchungen wagen wollte, von
der Armee selbst in Anklagezustand versetzt werden."") Diese Worte
werden von allgemeinem Beifalle begrüßt, aber ehe man sich'S versah, kehrte
Bcdean seinen Ausfall gegen den VollziehuugSansschuß. Er spricht von dessen
Uneinigkeiten, welche die gouvernementale Thätigkeit lahmen und er verweilt bei
der Unwirksamkeit der gegenwärtigen Form, Indem er die Notwendigkeit einer
baldigen Veränderung behauptet, sagt er zugleich ans ziemlich unverhüllte Weise,
daß nur ein alleinstehender Chef eine starke Gewalt auszuüben im Stande
sei, zur Niederhaltung der Parteien. Ein einziger Chef in jenem Augenblicke
aber, das konnte nur der General Cavaignac sein.
Dies war der Moment, den Lamartine wählte, um die Rednerbühne zu
besteigen. Er zeigt nicht seine gewöhnliche Heiterkeit; sein Gesicht ist bleich, ent¬
stellt. Er und gezwungen sich vor der Versammlung zu rechtfertigen! welche
Neuigkeit in seiner politischen Laufbahn und wie ihn das sichtlich stört! Er be¬
ginnt eine lange Rechtfertigung der Handlungen der provisorischen Negierung, er
geht bis zur Proclamation der Republik hinauf und erinnert an die Beseitigung
der rothen Fahne. Man hört ihn mit Kälte an, man findet ihn emphatisch,
weitläufig. Er selbst erstarrt in seinem Nedefluge; er sieht seine Hörerschaft zer-
strent, unaufmerksam und verlangt endlich unter dem Vorwande, der Ruhe zu
bedürfen, die Unterbrechung der Sitzung. Während dieser Unterbrechung ver¬
breitet sich eine verhaltene Aufregung über die Versammlung. Man ist unruhig,
man fragt sich: was ist gegründet von all diesen Beuurnhignugcn, von diesen
gegenseitigen Anklagen? wozu dieser militärische Apparat? was geht draußen vor?
Man spricht von einem Zusammenstoße der Truppen mit den Volksrotteu, von
einem Schusse, der gefallen. Herr von Lamartine steigt wieder ans die Tribune.
„Bürger, Volksvertreter," sagt er, „ein verhängnißvoller Umstand unterbrach die
Rede, welche ich die Ehre hatte an die Versammlung zu richten. Man hat einige
Schüsse gewagt: den einen auf den Befehlshaber der Natioualgaroe von Paris,
den andern auf einen Officier der Armee und einen dritten nach der Brust eines
Officiers der Nutionalgarde."
„Die Schusse sind unter dem Rufe: „„Es lebe der Kaiser!"" gefallen,"
fährt er fort. „Es ist der erste Tropfen Blut, welcher die ewig reine und glor¬
reiche Revolution vom 24. Februar befleckte. Ruhm der Bevölkerung, Ruhm
den verschiedenen Parteien der Republik, dieses Blut ist wenigstens nicht durch ihre
Hände vergossen worden: es ist nicht im Namen der Freiheit geflossen, sondern
im Namen des Fanatismus der militärischen Erinnerungen, im Namen einer
Meinung, welche natürlicher, wenn auch vielleicht unwillkürlicher, Weise die unerbitt¬
liche Feindin einer jeden Republik ist."
„Bürger! Indem die Negierung dieses Unglück mit Ihnen beweint, hat sie
doch nicht das Unrecht begangen, sich, so weit es von ihr abhängt, nicht gegen
diese Möglichkeiten gewaffnet zu haben. Wir haben heute Morgen, eine
Stunde vor der Eröffnung der Sitzung, einstimmig eine Erklärung unterzeichnet,
welche wir Ihnen am Schlüsse der Sitzung vorlesen wollten, und welche der gegen¬
wärtige Vorfall mich zwingt, Ihnen augenblicklich bekannt zu geben. Wenn die
Frechheit der Unruhestifter auf der That ertappt ist, die Hand im französischen
Blute, muß das Gesetz durch Zuruf augenommen werden.
Und hierauf liest Herr vou Lamartine, trotz der völligen Abwesenheit jeder
Sympathie, die er auf den Gesichtern lesen kann, trotz der Unterbrechungen und
Protestationen, die von allen Bänken her gemacht werden, den Text des folgen--
den Decrets:
„Der VollzichnugSausschuß erklärt, daß er in Betrachtucchme des Artikels
3 des Gesetzes vom 13. Januar -I81K, Louis Bonaparte betreffend das Gesetz
von 1832 in Vollzug bringen werde, bis zum Tage, wo die Nationalversammlung
ein anderes befiehlt."
Diese Mittheilung ruft allgemeine Mißbilligung hervor. Während der langen
Rede des Herrn von Lamartine hat man umständliche Erkundigungen eingezogen:
man weiß, daß nichts in seiner Erzählung genau sei; daß keine drei Schüsse ge¬
fallen waren, sondern ein einziger; und daß anstatt der Factionen deren Hand im
französischen Blute ertappt ist es sich blos um einen ungeschickten Nationalgardisten
handle, der sich selbst verwundet.
Durch das allgemeine Murren gezwungen, Erklärungen zu geben, verliert
Herr von Lamartine seine Fassung; er beschränkt sich nicht davon zu sprechen,
was in diesem Augenblicke Gegenstand aller Befürchtungen ist, er kommt neuer¬
dings ans die Vergangenheit zurück; er beschwört das verdrießliche Andenken des
-Is. Mai herauf; er glaubt, auf tausend Einzelnheiten eingehen zu müssen, um
sich vou jeder Theilnahme an jenem unglücklichen Tage loszusprechen; er sagt
endlich jenes berühmt gebliebene Wort: „Ich habe mich mit Blanaui, Sobricr,
Cabet, Barbös und Naispail verschworen! ich habe mich verschworen, ja, aber ich
habe es gethan, wie der Blitzableiter sich mit der Wolke verschwört, die den Blitz
in ihrem Schooße trägt."
Lachen und Murren sind die Autwort auf diese Metapher. Herr v. Lamar¬
tine begegnet nnn seinerseits den vorgefaßten Meinungen, die einst Louis Blanc
daselbst gefunden. Majorität und Minorität sind gegen ihn einverstanden. Die
Rechte zieht in ihrer kleinlichen rachsüchtige» Politik den Prätendenten Louis Bo¬
naparte dem Bürger Lamartine vor, und die Volksvertreter des Berges theilen
dieses Gefühl. Die Partei des Generals Cavaignac, die endlich sich zu zeigen
beginnt, will sich vor Allem des VollziehnngsauSschnsses entledigen.
Inmitten dieser allgemeinen Stimmung verräth die Nationalversammlung doch
noch einige menschliche Achtung, indem sie dem Ausschüsse ein Vertrauensvotum
giebt. Sie votirt die monatlichen Hunderttausend Franken, die man zur Deckung
der Bureanauslcigcn und für die geheimen Fonds verlangt. Allein man fühlt,
daß dieses das letzte einer Art von Mitleiden entrissene Zugeständniß sei, das
dem VollzichungöauSschussc keinerlei Kraft verleiht. Diese Sitzung ist von be¬
dauerlicher Wirkung für die Commission, sie versetzt dieselbe in einen Zustand
gänzlicher Verlassenheit zwischen der Nationalversammlung, wo sie sich im
Name» Louis Bonaparte's und Cavaignac's verstoßen sieht, und zwischen dem
Volke, das aufgebracht ist über ihren Eigensinn, einen dreimal gewählten Candi-
daten zurückzuweisen, indem es einen Angriff auf seine eigene Souverainetät
darin sieht.
Die Sitzung vom 13. sollte noch ärger werden. Die Berichterstattungen
der Bureaux über die Gültigkeit von Louis Bonaparte's Wahl waren an der
Tagesordnung. Die Gültigkeit aussprechen oder läugnen hieß in diesem Augen-
blicke die Vollziehnngscommission stürzen oder aufrechterhalten.
Herr Jules Favre, Berichterstatter des siebenten Bureau, hat das Wort.
Seit dem Processe von 18i0, in welchem Jules Favre den Lieutenant Alldenize
vertheidigte, war er stets in Verbindung mit den Bonapartisten geblieben, seine
neuerlichen Mißverständnisse mit Ledru Nollin tragen noch mehr dazu bei, ihn dem
Prinzen Louis Bonaparte gewogen zu machen, und sein Bericht wird eine Ver¬
teidigungsrede: „der neuerwählte," sagt er, „hat hier bisher weder sein Alter
noch seine Nationalität gerechtfertigt, dies ist wahr; allein sich über solche Kleinig¬
keiten aufzuhalten, wäre einer großen Versammlung unwürdig. Die Regierung
war übrigens nicht der Meinung, daß Louis Bonaparte nicht wählbar sei, weil
sie vor der Wahl weder die Wähler noch den Bürger Bonaparte in Kenntniß
gesetzt hat. Sie hat im Gegentheile durch das Organ ihres Ministers der Justiz
erklärt, daß das Gesetz vom Jahre 1832 dnrch die Februarrevolntion rechts¬
kräftig außer Wirksamkeit gesetzt worden."
Gegenüber der öffentlichen Aengstlichkeit, fügt Jules Favre hinzu, darf mau
keinen Aufschub wagen. Es ist zweckmäßig, bei den Fragen, welche die Wahl
anregt, die gesetzliche und politische Freimüthigkeit in Angriff zu nehmen. Die
gesetzliche Frage wäre nach ihm schon dnrch die Zulassung dreier Mitglieder der
Familie Bonaparte gelöst worden. Was die politische betrifft, wäre es gegen die
Staatsräson, den Bürger Bonaparte zu vergrößern, und dies geschähe dnrch eine
furchtsame Ausschließung des VollziehuugSausschnsses. Indem er die Expeditionen
von Boulogne und Straßbmg als thöricht und verbrecherisch bezeichnet,
behauptet Herr Jules Favre, daß nichts Aehnliches sich wiederholen könne.
„Versuchte der Bürger Napoleon eine miserable Parodie des kaiser¬
lichen Mantels, der nicht mehr seiner Taille angepaßt ist, wurde
er augenblicklich außerhalb des Gesetzes erklärt und auf den Pranger
gestellt werde»."
Herr Buchez, Berichterstatter deö zehnten Bureau, bekämpft Herrn Jules
Favre. Dieses Bureau hat sich einstimmig gegen die Zulassung erklärt. Es
handelt sich nicht um den Bürger Bonaparte, sagt der Berichterstatter; es ist der
Prinz Louis Napoleon, der vor uns steht, es ist ein Prätendent, der zweimal
den französischen Boden betreten hat, und die Waffen in der Hand sein Erbrecht
zu beanspruchen kam, und auch heute noch begrüßen seine Anhänger seine Wahl
durch den Ruf: Es lebe der Kaiser! Herr Buchez bemerkt zur Unterstützung
seines Verdachtes, daß der Prinz die Republik noch nicht anerkannt habe'
daß er auch noch kein einziges Wort gesprochen, das der Aufregung in den Straßen,
der Zweideutigkeit seiner Stellung und der Perplexität derjenige» seiner Freunde,
die ihn für aufrichtig hallen, ein Ende machen würde.
Bei diesen Worten verläßt Herr Vieillard mit Ungestüm seine Bank und
besteigt die Tribune. Er kommt, sagt er, eine heilige Pflicht zu erfüllen, indem
er einen Abwesenden, einen Freund vertheidigt. „Ich kenne den Bürger Bona¬
parte seit dreißig Jahren. Nachdem man ans ihm einen Deputirten wider seinen
Willen gemacht hat, gestaltet man ihn zum Prätendenten wider seinen Willen um.
Seine Wahl ist keine Konspiration, wie man glauben machen mochte, sondern eine
Protestation gegen die traurigen Erinnerungen von 18is." Und um seine Be¬
hauptungen um so besser zu bekräftigen, theilt Herr Vieillard der Versammlung
einen Brief Louis Bonaparte'S vom 11. Mai 18i8 mit. Der Brief lautet:
„Ich wollte nicht als Kandidat bei den Wahlen auftreten, weil ich überzeugt bin,
daß meine Stellung in der Nationalversammlung vcrlegcnhcitbriugcnd gewesen
wäre. Meine Antecedentien machen ans mir nicht einen Parteiführer, sondern
nothwendigerweise einen Mann, ans den die Blicke aller Unzufriedenen gerichtet
waren. So lange die französische Gesellschaft nicht eingerichtet, die Constitution
nicht festgesetzt ist, fühle ich, daß meine Stellung in Frankreich sehr schwierig
und selbst für euch gefährlich wäre. Ich habe daher den festen Entschluß gefaßt,
mich abseits zu halten, und allen Verführungen zu widerstehen, die ein Aufent¬
halt in meinem V.üerlande für mich haben kann. Wenn Frankreich meiner be¬
dürfte, wenn meine Rolle bezeichnet wäre, wenn ich endlich meinem Vaterlands
nützlich sein könnte, würde ich nicht zaudern, alle secundären Betrachtungen zu
beseitigen und meine Pflicht zu erfüllen; allein unter den gegenwärtigen Verhält¬
nissen kann ich zu Nichts gut sein, und ich wäre höchstens nnr ein Hinderniß;
ich werde daher noch einige Monate hier warten, bis die Angelegenheiten in
Frankreich eine ruhigere klarere Wendung nehmen werden. Ich weiß nicht, ob
Sie diesen meinen Entschluß tadeln werden, allein wenn Sie wüßten, was für
kaiserliche Anträge man mir selbst hier macht, würden Sie begreifen, um wie viel
mehr ich in Paris einer jeden Art von Intriguen ausgesetzt wäre. Ich mag
mich in nichts mengen, ich wünsche, die Republik sich an Weisheit und Recht
kräftigen zu sehen, und die willkürliche Verbannung ist mir indessen sehr lieb,
weil ich weiß, daß sie eine willkürliche ist."
Dieser Brief erzielte nicht die Wirkung aus die Nationalversammlung, die
man von ihm erwarten konnte. Wie ich bereits bemerkt habe, war die Rechte
durch ihren Haß gegen die Executiv - Commission l'lind gemacht. Sie behandelte
durch das Organ des Herrn Hresnean die bonapartistische Konspiration als
Chimäre; sie erklärte, daß in diesem Augenblicke eine legitime Bewegung im
Volke obwalte, dieses prvtestire nicht gegen die Regierung, sondern gegen die
Abwesenheit einer Regierung. Einige aufrichtige Männer sprachen im Namen
des Rechts, andere erklärten, daß sie die Republik vertrauensvoll und großmüthig
zu sehen wünschten. Louis Blank sprach sich in diesem Sinne ans, er sehe, sagte
er, in der Wahl Louis Bonaparte's keine ernste Gefahr für die Republik. „Wissen
sie übrigens ein einfaches Mittel, Louis Bonaparte zu verhindern, zur Präsident¬
schaft zu gelangen? Schreiben Sie in Ihre Konstitution folgenden Artikel: In
der am 24. Februar gegründeten französischen Republik giebt es keinen Präsiden¬
ten." Allein die Nationalversammlung wollte sich durch eine starke Gewalt be¬
schützen, sie strebte nach einer persönlichen Regierung. Obgleich ihren Absichten
nach republikanisch, blieb sie in diesem Punkte bei der monarchischen Tradition und
begriff die Gewalt blos in der Personalirät. Der Vorschlag, die Präsidentschaft
abzuschaffen, verstieß daher ohne Nothwendigkeit und ohne ü, propos gegen die
allgemeine Stimmung.
Ledru Nollin war weit politischer als Louis Blanc, er hielt den unbestimmten
Allgemeinheiten seiner Kollegen bestimmte Thatsachen entgegen. Er versicherte,
daß einer begonnenen Untersuchung zufolge Geldvertheilnngeu und Geschenke an
Wein im Namen des Kaisers geschehen seien. „Es geschehen Werbungen für
eine neue kaiserliche Garde> die Conspiration in der Umgebung deS Prinzen ist
offenbar aus den Thatsachen, die ihn drängen, ans den Parteien, die sich seines
Namens bedienen." Und er schloß mit der Bitte, die Nationalversammlung möge
Blutvergießen verhüten und zeitweilig ein Gesetz der Nothwendigkeit voll¬
ziehen lassen. Ledru Rollin spricht mit viel Sinn und Kraft, seine Sprache ist
jene der Vernunft, allem Ledru Nollin ist unpopulär in der Versammlung, wie
Louis Blanc, wie Herr von Lamartine. Alles, was er bei einer stark gegen ihn
eingenommenen Majorität erzielen kann, ist, daß diese einen Augenblick schwankt.
Diese unmerkliche Bewegung der Gemüther erlauschend, besteigt Herr Bonjean,
ein Anhänger des Prinzen, die Tribune und verliest einen Brief Louis Bona¬
parte's, der vom 23. Mai aus London datirt ist. Die Nationalversammlung
hatte sich geweigert, diesen Brief in der Sitzung anzuhören, in welcher die
Schreiben des Prinzen Joinville und des Herzogs von Anmale verlesen wurden,
aber seither haben sich die Zeiten geändert. Man wußte aus Erfahrung, daß
der Name des Prinzen Joinville nnr wenig Wiederhall in den Massen erweckte.
Die Rechte hatte begriffen, daß sie keine Waffe gegen die Republik daraus
machen kounte, und sie wollte prüfen, welcher Vortheil aus dem Namen Bona¬
parte's zu ziehen wäre.
„Bürger-Repräsentanten," sagte Louis Napoleon in dem Briefe, den Bon¬
jean verlesen, ,,ich erfahre dnrch die Journale vom ZU., daß man in den Bu¬
reaux der Nationalversammlung den Antrag gestellt, das Verbannnngsgesetz, das
meine Familie seit 1816 trifft, gegen mich allein aufrecht zu erhalten. Ich
komme, die Vertreter des Volkes zu frage», warum ich eine solche Strafe ver¬
diene? Ware es, weil ich stets öffentlich erklärt habe, daß, nach meiner Ueber¬
zeugung, Frankreich weder das Leibgebinde eines Einzelnen, noch jenes einer
Familie oder einer Partei sei? Wäre es, weil ich in dem Wunsch, die Volks-
sonverainetät ohne Licenz, ohne Anarchie triumphiren zu sehen, zweimal ein Opfer
der Negierung gewesen, die Sie gestürzt haben? Wäre es, weil ich aus Achtung
vor der provisorischen Regierung in die Fremde zurückgekehrt bin, nachdem ich
ans den ersten Ruf der Revolution nach Paris gekommen war? Wäre es, weil
ich uneigennützig die Candidatureu für die Nationalversammlung zurückgewiesen,
die man mir vorgeschlagen, entschlossen, nach Frankreich zurückzukehren, erst wenn
die neue Verfassung festgestellt und die Republik gestärkt sein wird? Dieselben
Gründe, die mich gegen Louis Philipp die Waffe» ergreifen ließen, würden mich
bestimmen, falls man meine Dienste verlangte, meine Kräfte der Vertheidigung
der Nationalversammlung, welche Ausfluß- des allgemeinen Stimmrechtes ist, zu
weihen. In Gegenwart eines dnrch zweihundert Deputirte gewählte,, Königs
konnte ich mich erinnern, daß ich der Erbe eines mit der Einwilligung vo» vier
Millionen Franzosen gegründeten Kaiserreichs bin. In Gegenwart der Volks-
souveraiuetät kaun ich, will ich blos mein Recht des französischen Bürgers geltend
machen; dieses aber werde ich nicht aufhören, mit aller Energie zu fordern,
welche das Gefühl, mich nie an meinem Vaterlande verschuldet zu habe», meinem
ehrlichen Herzen verleiht."
„Ihr Mitbürger"
Dieser Brief führt Jules Favre wieder auf die Tribune zurück, um die Zu¬
lassung aufs Neue zu unterstützen. Die Versammlung ist entschlossen; trotz Herrn
Bücher, der ein letztes Mal versucht, einen offenen Bruch mit dem Vollziehungs-
auöschusse zu verhindern, trotz Herrn Degvufte, der einen, wie er sagt, dem
Briefe Louis Bonaparte's entsprechenden Unterantrag stellt, verlangend, daß das
Verbannuugsgesetz blos bis zur Kundmachung der Verfassung aufrecht erhalten werde,
wird die Zulassung durch zwei Dritttheile der Versammlung ausgesprochen. Aus
diese Neuigkeit, welche sich mit großer Schnelligkeit verbreitet, zerstreuen sich die
Zusammenrottungen unter dem Rufe: „es lebe Napoleon!" aber ohne irgend
ein Zeichen der Dankbarkeit für die Nationalversammlung. Diese zog keinerlei
Vortheil für ihre Volksthümlichkeit aus der Demüthigung, welche sie dem
Vollziehuugsausschusse zugefügt. Louis Bonaparre war klüger, als sie, und
benutzte das Votum, das ihm die Thüren der Nationalversammlung öffnete, gar
nicht, seine Freunde hielten den Augenblick noch nicht für passend. Die Herren
Laity und Pcrsigny, als Unruhestifter verhaftet, aber sogleich wieder entlassen
von einer Regierung, der jede Art von Gewalt widerstrebte, waren unmittelbar
nach dem Votum nach London gereist, um dem Prinzen dessen Sinn und Trag¬
weite ja genau auseinanderzusetzen. Dieses Votum war ihrer Ansicht zufolge blos
ein Act der Opposition gegen den Vvllziehuugsausschuß; mau würde sich täu¬
schen, darin einen Ausdruck von Sympathie für Louis Napoleon sehen zu wollen.
Die große Majorität der Versammlung, sagten diese eifrigen Bonapartisten, sei
noch entschieden republikanisch gesinnt. Die Rechte schiene in der That bereits
zum Augriffe bereit, allein dies geschähe unter dem Einflüsse der Herren Falloux,
Thiers und Montalembert in einem dynastischen Interesse. Der Prinz Louis
hätte nur eine untergeordnete Stellung, wenn er in eine so gestimmte Versamm¬
lung träte. Er würde daselbst als wenig gefährlich geduldet, also vernachlässigt
werden. Entweder begänne er einen frühzeitige,: Kampf, um besiegt zu werden,
oder er würde sich stets schweigend verhalten, unter der Menge von Volks¬
vertretern sich verlieren und unmerklich um sein Blendwerk kommen. Jeder seiner
Stimmzettel würde gedeutet und glossirt werden; er böte seinen Feinden tausend
Vorwande. Louis Bonaparte begriff die Nichtigkeit dieser Rathschläge. Er fühlte
keinerlei Rednertalent, keinerlei Begeisterung, keine Bewegung in sich, die geeig¬
net wären, eine Versanuulnng hinzureißen. Er sah sich übrigens die Volkshaufen
zuströmen und mir deu Schwierigkeiten anwachsen; Alles rieth ihm zu temporisiren;
er richtete daher an den Präsidenten der Nationalversammlung folgendes Schrei¬
ben, das in der Sitzung vom 1ö. Juni verlesen worden:
„Herc Präsident, Ich war im Begriffe abzureisen und mich an meinen
Posten zu begeben, als ich erfuhr, daß meine Wahl bedauernswerthen Unruhen
und unheilvollen Irrthümern zum Vorwande diene. Ich habe nicht die Ehre
gesucht, Volksvertreter zu werden, weil ich die schmählichen Verdächtigungen
kannte, deren Gegenstand ich bin. Noch weniger strebte ich die Gewalt an.
Wenn das Volk mir Pflichten auferlegte, würde ich selbe zu erfülle» wissen;
aber ich weise Alle von mir zurück, die mir Absichten zuschreiben, die ich nicht
hege. Mein Name ist ein Symbol von Ordnung, Nationalität und Ruhm, ich
würde ita mit dem lebhaftesten Schmerze zur Vermehrung der Unruhen und
Spaltungen des Vaterlandes dienen scheu. Um ein solches Unglück zu vermeiden,
würde ich lieber in der Verbannung bleiben. Ich bin bereit, Alles für das Glück
Frankreichs zu opfern,"
Dieser Brief verursachte in der Nationalversammlung eine unangenehme
Wirkung. Er drückte seine Entsagung in einem eigenthümlich hochmüthigen Tone
aus. General Cavaignac hob die bedeutungsvolle Umgehung des Wortes Re¬
publik hervor. Die H. H. Aubray Thouret, Banne, David (von Angers) lenkten
die Aufmerksamkeit ans den sonderbaren Satz: „Wenn das Volk mir Pflichten
auferlegte, würde ich sie zu erfüllen wissen. Jules Favre gewissermaßen
ehrenhafte Buße für seine Rede vom 13. thuend verlangt, daß der Brief und
die Adresse, welche ihn begleitet, in die Hände des Justizministers niedergelegt
werden, damit er die Schritte thue, die er für zweckdienlich erachte.
Herr Duclerc sagt, daß die Regierung genau die Ränke der Bonapartisten kenne,
aber sie wolle keine Uebereilung und wünschte, daß die Verhandlung auf morgen
vertagt werde. „Auf morgen, rief Herr Element Thomas, morgen, wo denken
Sie hin? Auf morgen vertagen heißt Schlacht für heute!"
Die Versammlung ist einen Augenblick bewegt, das Volk versammelt sich
anf's Neue um den Pallast Bourbon. Die Volksvertreter werden draußen mit
Hohngeschrei empfangen. Der Ruf: Es lebe der Kaiser! Nieder mit Thiers!
Nieder mit den Volksvertretern! tönt unaufhörlich vor ihren Ohren, der Ausdruck
der Gesichter scheint sehr düster. In dem Augenblicke, wo der Präsident der
Nationalversammlung sich weigerte, die Adresse an die Wähler zu lesen, warf ihm
ein Mann in einer Blouse ein Zettelchen von der Znschancrbühne herab: „wenn
Sie nicht das Denkschreibcn Louis Bonaparte's an seine Wähler lesen," lautete
dasselbe, „erkläre ich Sie als Vaterlandsverräther." Dieser Zettel war „August
Blum, ehemaliger Zögling der polytechnischen Schule" unterfertigt. So viel
Frechheit, dachte man, wäre kaum erklärlich, wenn sie sich nicht auf bedeutende
Volkskräfte stützen könnte. Man bestärkt sich in diesem Verdachte, indem man
erfährt, daß Blum gegenwärtig Abgeordneter der Männer bei den Konferenzen
im Luxembourg sei, und daß man ihn für einen der vorzüglichsten Agenten Louis
Blanc's halte. Man erfährt auch, daß sehr zahlreiche Rotten, die im Tnilerien-
garten sich herumtreiben, davon sprechen, Louis Bonaparte zum Consul zu pro-
clamiren. Das Gewitter droht in der Luft, man hat das Vorgefühl einer bal¬
digen Jnsurrection.
Die Jmpopularität von Element Thomas, jene des Vvllziehungsausschnsses
vermehrend, läßt die Schale noch einmal zu Gunsten Louis Bonaparte's sinken.
Am Is. Mai als Retter begrüßt, fiel Herr Element Thomas gleich am andern
Tage bei der Rechten in Ungnade, weil er, wie wir gesehen haben, eine Petition
der Ofstciere der Nationalgarde einbrachte, welche verlangte, daß man keine Re-
motion mache. Die Nationalgarde selbst, welche weniger republikanisch geworden,
als die Officiere, welche sie im Augenblicke der ersten Begeisterung gewählt,
wünschte einen andern Chef. In einer durch den Antrag zweier bonapartistischer
Volksvertreter, Napoleon's Bild auf dem Kreuze der Ehrenlegion wieder her¬
zustellen, hervorgerufenen Verhandlung hatte Element Thomas das öffentliche
Gefühl beleidigt, indem er „diese Symbole kaiserlicher Auszeichnungen,
diese Kinderspiele der Eitelkeit" angriff. Diese Ausdrücke, welche die
Opposition des Staatsrathes im Jahre 1802 der Errichtung der Ehrenlegion
entgegensetzte*), dieses Gefühl, das den Engländern und Amerikanern gemein ist,
reizte die bei den Franzosen so kitzliche Fiber der militärischen Eitelkeit. Von
diesem Tage an war Element Thomas die Zielscheibe der heftigsten Zornausbrüche;
man schmähte ihn alö Lästerer der Nationalehre, Als er ans dem Concordcplatze
erscheint, um die Zusammenrottungen zu zerstreuen, rufen die Nationalgarten:
Nieder mit Thomas! Es lebe die Ehrenlegion! Da sich die Nationalversammlung
nicht günstiger für ihn bezeigte, fühlte er, daß er seine Stelle nicht behalten könne-
und zwei Tage später schickte er seine Entlassung ein.
Alles war unruhig, verwirrt, jeder fragte sich, was aus diesen Feindseligkeiten
zwischen dem Volke und der Nationalversammlung, zwischen verschiedenen Parteien
in der Versammlung, zwischen dieser und dem VollziehungsauSschusse, zwischen der
Negierung endlich und Louis Bonaparte hervorgehen solle; alle Gemüther sind
von der Angst vor einer unbestimmten, aber unmittelbaren Gefahr erfüllt, als ein
neues Schreiben Louis Bonaparte's an den Präsidenten der Nationalversammlung
diesem Zustande scheinbar ein Eude macht und eine friedliche Lösung einer Krise
bringt, in welche man sich vertieft hatte, ohne sie anch nur zu verstehen.
„Ich war stolz, in Paris und drei andern Departements zum Volksvertreter
gewählt zu werden," sagte Louis Napoleon, „dies war in meinen Augen eine reiche
Genugthuung für dreißig Jahre der Verbannung und sechs Jahre Gefangenschaft;
allein die verletzenden Verdächtigungen, welche meine Wahl hervorgerufen, die
Unruhen, denen sie zum Vorwande gedient, die Feindseligkeit der vollziehenden
Gewalt legen mir die Pflicht auf, eine Ehre aufzuschlagen, die mau durch Kabalen
errungen glaubt."
„Ich wünsche die Ordnung und die Aufrechterhaltung einer mäßigen, großen
verständigen Republik, und weil ich unwillkürlich die Unordnung unterstütze, lege
ich, wenn gleich nicht ohne lebhaftes Bedauern, meine Entlassung in Ihre Hände
nieder. Bald, hoffe ich, wird die Ruhe wieder hergestellt und mir gestattet
sein, nach Frankreich zurückzukehren als der einfachste der Bürger, aber auch als
einer, welcher der Ruhe und der Wohlfahrt seines Vaterlandes am Ergebenster ist."
Obgleich der Ton dieses Briefes ein ganz anderer gewesen als jener des
ersten; obgleich das Wort Republik gleichsam als Huldigung für die Gefühle der
Nationalversammlung darin ausgesprochen wird, und der Ausdruck „einfacher
Bürger" gegen die Persönlichkeit des Prätendenten protestirt, affectirte die Ver¬
sammlung, denselben mit Verachtung zu behandeln, und wies ihn dem Minister
des Innern mit dem Bemerken zu, daß, da die Zulassung des Bürgers Louis
Bonaparte nur bedingungsweise, das heißt erst nach Ausweis des Alters und der
Nationalität, ausgesprochen worden, auch seine Entlassung nicht angenommen
werden könne. '
So endigten die erste» officiellen Berührungen des Prinzen Louis Napoleon
Bonaparte mit der constituirenden Versammlung.
Indem Louis Napoleon auf seine dreifache Macht verzichtete, scheinbar den
Wünschen der Nationalversammlung sich fügend, zog er einen beträchtlichen Vor¬
theil aus dem Conflicte, der so eben entstanden war. Seine anscheinende Mäßigung
vergrößerte ihn in der öffentlichen Meinung, was nicht verhinderte, daß er in den
Augen des Volkes das Princip der Natioualsouveraiuetät selbst personifizirte,
welches die Volksvertreter zu mißkennen schienen. Seit jenem Tage gab er den
unbestimmten Anstrengungen, welche die Revolution durch unbekannte Hände machte,
sich den ihr entgegengestellten Hindernissen zu entwinden, einen Namen, einen
glänzenden Namen. Er absorbirte in sich, er verkörperte so zu sagen dieses Ideal
revolutionärer Dictatur, das eine noch ungebildete, lärmende, unvernünftige und
leidenschaftliche Demokratie den freiheitlichen Regierungen vorzieht.
Die verständige und thätige Bourgeoisie fühlte dies dunkel, und wir werden
sie auch mit richtigem Jnstincte sich um den General Cavaignac drängen sehen,
versuchend, die revolutionäre Bewegung bei einer gemäßigten Republik zum Halte
zu bringe». Aber die reiche, emporgekommene Bourgeoisie, welche deu politischen
Jnstinct verloren, die Parteien in.der Nationalversammlung, welche Fragen des
persönlichen Interesses gsepaltcu, die realistischen Fractionen, welche durch kleinlichen
Groll blind gemacht sind und deren Eitelkeit vor Allem das endliche Zustandekommen
der republikanischen Regierung fürchtet, werden sich ohne Ueberlegung auf Louis
Bonaparte's Seite werfen, das heißt auf die Seite ihres historischen, ihres ge¬
fährlichsten, nnversönlichstcn Feindes werfen.
N. S. des Berichterstatters:
Dieses Capitel aus der Geschichte Louis Bonaparte's scheint uns um so mehr die
Aufmerksamkeit des denkenden Lesers zu verdiene» als es bisher weniger gewürdigt
worden, u»d als der Kaiser uuserer Mai»n»g nach die im Mai und Juni vom „einfachen
Bürger" befolgte Politik nächstens als Napoleon III . in den Jahren 18.. und -18..
auf einem andern Terrain wiederholen wird, so wie der Kandidat der Präsident¬
schaft, der Präsident der Republik und der prinzpräsidcntliche Dictator des zweiten
Decembers auch ganz derselben Taktik gehuldigt hat.
Im kommen¬
den Monat Mai werden vierhundert Jahre vergangen sein, seitdem die Türken
den Halbmond ans den Zinnen der Stadt Constantin'ö aufgepflanzt. Eine alte
Sage, die bald nach der Eroberung in der griechischen Bevölkerung umging und
bis zur heutigen Stunde sich erhalten hat, verkündet, daß am Ende dieses
Zeitraums, den der Herr als eine PrüfnugS - »ud Bußzeit über sein Volk ver¬
hangen, das Krenz anf's Neue über der Aga Sophia erhöhet werden würde.
Beinahe möchte mau nach eiuer Ueberschau der politischen Situation des Augen¬
blicks ans die Vermuthung kommen, daß die altersgraue Prophezeiung ihrer
Erfüllung entgegen gehe!
Seit den zwanziger Jahren dieses SäcnlnmS hat das ottvmanische Reich sich
in keiner so drohenden und auswegslosen Krisis befunden, wie die gegenwärtige.
Die Verwickelung ist eine um so ernstere, als sie eine zweifache, mit Oestreich
und Nußland zugleich ist. Einsichtige Politiker sahen vor langer Zeit schon das
drohende Ungewitter Heraufziehen. Aber die Umstände, wie sie nun einmal sind,
haben es gewollt, daß der fragliche Augenblick weder die Pforte selber einiger¬
maßen in Fassung, noch die beiden großen Seemächte in einer Haltung findet,
welche ihnen gestattete, recht zeitig und mit ihrer ganzen politischen Schwerkraft
auf den Gang der Ereignisse zu influiren.
Wie alle Verhältnisse, die erst in der Entwickelung begriffen sind, liegen auch
die hier in Rede stehenden noch äußerst verworren vor den Blicken des Beob¬
achters. Hundert Widersprüche, wohin man hört und sich wendet. Unter solchen
Umständen hat es einige Schwierigkeiten, den leitenden rothen Faden aufzu-
finden. Indem ich den Versuch dazu mache, verwahre ich mich ausdrücklich
gegen einen etwaigen nachträglichen Vorwurf, in diesem oder jenem Pnnkte gefehlt
zu haben.
Man muß bei Berücksichtigung der Lage zunächst, und um von allem Anfang
an sich vor mißleitenden Irrthümern zu hüten, das Verhältniß Rußlands und
Oestreichs unter einander scharf auffassen. Das gemeinsame politische Operiren
dieser beiden Mächte ist durchans nicht in der Weise zu deuten, als ob eine voll¬
kommene Uebereinstimmung zwischen ihnen walte. Die dabei in's Spiel kommen¬
den Interessen Oestreichs sind so zu sagen localer, und dagegen diejenigen
Rußlands mehr nationaler Natur. Für letztere Macht ist die Angelegenheit
Montenegros Hauptsache. Für das Wiener Cabinet dagegen ist sie nur ein
Anhängsel zur Haupistrcitfrage, die ihren Mpnmg aus dem Jahre 4849 her
datirt.
Sie wissen, daß seit Ausgang jenes Jahres die diplomatischen Verhältnisse
zwischen Wien und Constantinopel schwieriger wurden. Die bekannte und ihrer-
zeit viel erörterte ungarische Flüchtlingsfrage fand nur eine einstweilige Erledigung
durch das schnelle Einschreiten Canning's und Angler's (der damaligen Ge¬
sandten Englands und Frankreichs). Im Geheimen reservirte sich Oestreich diese
Angelegenheit, indem es seitdem seine Verbindungen mit der Pforte abbrach
und, anstatt dnrch einen Gesandten, lediglich von einem OKar^ et'affaires sich
vertreten ließ, um, zur geeigneten Stunde, ans sie zurückzukommen. Diese
Stunde uun hat heute geschlagen!
Man will wissen, das; bedeutsame Korrespondenzen und sonstige Aktenstücke
in den Händen des österreichischen Cabinets seien, durch welche schlagend der
Beweis geführt werde, daß im Jahre 18i9 die Pforte dem ungarischen Auf¬
stande directe Hülfe in Aussicht gestellt und daß sie außerdem die Pacificiruug des
Landes dnrch Mittel und Wege, welche sie während des Krieges und namentlich
in der ersten Epoche den Aufständischen eröffnete, wesentlich erschwert habe.
Hierdurch sei Oestreich ein nicht zu verkeimender Schaden erwachsen, für den
eine Genugthuung und Entschädigung zu verlangen ihm von Rechtswegen zu¬
komme. Diese Entschädigung, abgesehen von der sonstigen Genugthuung, müsse
politischer und commerzieller Natur zugleich sein, darum drei Forderungen:
1) eine allgemeine, welche Oestreich als älteste Macht der Christenheit zu Gun¬
sten der Glaubensgenossen griechisch- und römisch-katholischen Bekenntnisses in
Bosnien geltend mache. Feste Garantie für die Währung ihrer Rechte, in noch
weiterer Ausdehnung, als solche der bekannte Hattischerif von Gülhane (Tansi-
mat) zusichere. 2) Für die österreichischen Unterthanen insbesondere das Recht
der Freizügigkeit über die türkischen Grenzen hinweg und die Autorisation in
ihrer Eigenschaft als Oestreicher, ans dem Gebiet der Pforte Territorialbesitz zu
erwerben, was bis jetzt den Unterthanen keiner fremden Macht, sondern aus¬
schließlich der Rajah zugestanden sei. 3) Abtretung des Hafens Durazzo in
Albanien an Oestreich, um daraus einen Freihafen machen zu können; diese
letztere Bedingung ist besonders deutuugövvller Natur. Ein Mal ist sie gegen
Nußland gerichtet, das die heißesten Gelüste hegt, an den Küsten der Adria
festen Fuß zu fassen, und denn will mau England durch die Lockung eines Frei¬
hafens gefügiger macheu.
In Bezug auf Montenegro fand erst in jüngster Zeit, d. h. seit vier Wochen,
ein ernsterer Notenwechsel zwischen Stambul und Wien statt. Vou Seiten des
Divans wurde offene Beschwerde wegen mnthmaßlicher oder erwiesener Unter¬
stützungen — ich will es dahingestellt sein lassen — geführt, die das aufständische
Bergvolk von östreichischer Seite empfangen. Hierauf hat das k. k. Cabinet in
gemessener Sprache erwidert, wie es sich gegen jede» Verdacht einer officiellen
Unterstützung Montenegros verwahren, aber auch gleichzeitig erklären müsse, daß
es weder in seiner Absicht (eine Rache für die Zeiten von 18i9), noch in
seiner Macht stände, wie die Grenzen nnn einmal lägen (!!!), Zuzüge von seinem
Gebiete her nach Montenegro hinüber zu hindern.
Das sind genug Thatsachen, um genaue Schlußfolgerungen ziehen zu können.
Oestreich, so viel ist klar, hält den Moment für gekommen, um mit einem that¬
kräftige» Systeme orientalischer Politik ans- und zugleich Nußland gegenüber zu
trete». Aber so wunderbar und eigenthümlich sind die Verhältnisse verschlungen,
daß es in seinem Interesse liegt, diese Macht in den Kreis seiner politische»
Operationen hineinzuziehen, schon um sich derselben wie eines Gegengewichts
gegen die Einmischung des Westens zu bedienen. Und Rußland hat in keiner
Hinsicht ans sich warten lassen.
Diese Macht führte ihrerseits bereits seit acht Monaten äußerst lebhafte
Unterhandlungen am hiesigen Orte. Aber sie waren, im Gegensatz zu den heutigen,
mehr secundärer, vielleicht insbesondere einleitender Natur. Endlich ist man von
den heiligen Stätten zu Jerusalem ans die Berge von Czeruagora übergegangen.
Was Montenegro anlangt, so sind in dieser Angelegenheit die Interesse»
Rußlands allerdings wesentlich andere, als die Oestreichs. Für Rußland ist Czeruagora
vor alleu anderen ein slavischer, uatioualverwandter, in Zukunft vielleicht ihm
zugehöriger Staat, der um seine Unabhängigkeit kämpft. Und dieser Umstand
ergiebt eine ganz andere Norm, rückstchtlich .der Stellung zu ihm für die
Monarchie der Nvmanovs, wie dort für die Habsburger.
Seit drei Tagen trägt man sich hier mit dem Gerücht, die Russen hätten
die Donaufürstenthümer besehe. Ja sie machten Miene, Silistria und Nußpuck
zu occupiren. Wenn diese Nachricht, die durch ein in den hiesigen Hafen
ciugelanfenes russ. Kriegsschiff überbracht worden und bereits am Dienstag
(8. d. Mes.) durch Staatsrath Ogeroff an Fuad Effendi im voraus notificirt worden
sein soll, sich bestätigen sollte, so lieferte die Thatsache den ausgiebigste» Beleg
für meine vorstehende Erörterung. Nach der Conferenz mit Ogeroff ließ Fuad
Effendi den Colonel Rose, Englands Geschäftsträger, um eine Unterredung bitten,
welche im Kvnak (türk. Hans) des auswärtigen Ministers, am 9. d. Mes.
(Mittwoch) Statt fand.
So viel von den, bei der hiesigen Situation in's Spiel kommenden poli¬
tischen Motiven. Nunmehr von jener selbst.
Graf Leiningen ist noch hier; indeß bleibt es in Ungewißheit, ob er nicht
jeden Augenblick abreisen wird. Er ist in innigem Verkehr mit dem russischen
Geschäftsträger, Staatsrath Ogeroff, unterhandelt indeß, wie zu erwarten war,
ganz selbstständig, und man weiß bis jetzt nichts Bestimmtes von Collectivnotcn.
Was darüber gleichwohl erzählt wird, beruht wol nur ans jeder Begründung ent¬
behrenden Gerüchten. Am ü- und V. d. Mes. sind Couriere nach Wien abge¬
fertigt worden, wodurch sich die öffentliche Stimmung ans eine Zeit lang beruhigen
ließ. Das türkische Papiergeld stieg wiederum an der Börse, indeß nnr,
um ein desto tieferes Fallen vorgestern und gestern aufs Neue zu erleide».
Auch der türkische auswärtige Minister, Fnad Effendi, traf vor einigen Tagen
Anstalten zur Abreise. Das Gerücht, er gehe nach Wien, wurde alsbald wider¬
rufen, und es hieß alsdann, mau werde ihn nach Paris senden, bis gestern be¬
fand er sich noch hier, und von unterrichteter Seite zweifelt man überhaupt an
seiner Entfernung, deun wen» einer in diesem Augenblick hier immer unentbehrlicher
ist, so ist er es. Eine Charakteristik des Mannes behalte ich mir bis zu meinem
nächsten Briefe vor.
Das hervorragendste Ereigniß der letzte» Zeit ist der
Abschluß der haildelspolitischeu Verträge zwischen Preuße» und Oestreich. Wir
werden später Gelegenheit finde», den Unterschied zwischen Sonst »ut Jetzt in
seinen Hauptzügen zu charakterisire».
Die zweite Kammer hat heute vor vollständig besetzte» Tribune» die Debatte
über die Grundstenerangelegenheit begönne». Es handelt sich i» dem von der
Regierung vorgelegten Gesetzentwurf nicht um eine eigentliche Regulirung der
Grundsteuer nach bestimmten und festen Grundsätze» für die ga»ze Monarchie,
sondern nur um eine Heranziehung und stärkere Belastung der bisher befreiten
oder doch uicht »ach den Grundsätzen der verschiedenen Stencrverfassungen genug
belasteten Grundstücke. Nur in Bezug auf die Städte ist eine Art Regulirung
vorgeschlagen worden. Der zweite Gesetzentwurf handelt von den Entschädigun-
gen, die den Betheiligten gewährt werden sollen.
Die Meinungen über diese Frage gehe» sehr aus el»a»der. Während der
größte Theil der Rechten einer Reg»ur»ng durchaus abgeneigt ist, und für den
Fall, daß sie nicht abgelehnt werden kann, eine Entschädigung im vollen, zwauzig-
fachcn Betrage der Mehrbelastung beansprucht, finden sich im Centrum und in
der Linken ohne Rücksicht auf die verschiedenen Fractivne» i» zahllosen Ab¬
stufungen alle Meinnngönnanccu bis zu der gerade entgegengesetzten Auffassung
vertreten, welche in der Verschiedenheit der Grundsteuer ein vieljähriges Unrecht
erblickt, dessen endliche Beseitigung die erste Nechtsforderung sei. Die Männer,
welche diese Auffassung theile», sind »atürlich vo» der Absicht, eine Entschädigung
zu bewilligen, so weit entfernt, daß sie vielmehr, we»n es möglich wäre, von den
bisher Bevorzugten einen Ersatz für die ans Kosten der übrigen Staatsbürger
genossenen Privilegien fordern möchten. Und das ist auch unläugbar die noth¬
wendige Consequenz jener Ansicht; und wenn man von ihr absieht, so geschieht
es — nach den Ansichten dieser Männer — lediglich aus Billigkeitsgründeu,
nicht vom Standpunkte des Rechts aus.
Die Controverse über die Frage, ob die Grundsteuer verändert werde» dürfe,
kehrt natürlich immer wieder zu Untersuchungen über das Wesen der Grundsteuer
zurück. Die eine Partei behauptet, daß diese Steuer fälschlich den Namen einer
Steuer trage, daß sie eine Rente sei, gewissermaßen eine feste Zinssmnme für
ein nie zu kündigendes Capital, welches der Staat einst hypothekarisch ans die
verschiedenen Besitzungen eingetragen habe. Sie bedrücke deshalb die gegenwär¬
tigen Besitzer des Grund und Bodens nicht; denn diese hätten ihre Güter an den
Betrag der kapitalisieren Grundsteuer billiger erkauft, oder sie wäre» ihnen bei
Erbschaftstheilungen n. Dgl. um denselben Betrag billiger berechnet worden. Eine
neue oder höhere Belastung wäre deshalb eine Ungerechtigkeit lediglich gegen die
jetzigen Besitzer, denen sie plötzlich einen Theil ihres Vermögens entzöge; wäh¬
rend der nächste Käufer sich schon dadurch schadlos halte, daß er bei dem Kauf-
preise die erhöhte Steuer in Anschlag bringe, und daS Gut nur uach dem durch
die Steuer verringerten Capitalwerthe annehme. Ebenso wäre eine Ermäßigung
der Grundsteuer el» nnmotivirtes Geschenk für den gegenwärtigen Besitzer, ganz
in derselben Weise, als wenn ihm plötzlich die Zinsen für ein anderes aus das
Gut eiugetrageucs Capital erlasse» oder ermäßigt und dieses selbst als ein nie zu
kündigendes erklärt würde.
Dieser Ansicht von der Neutennatnr der Grundsteuer wird entgegengesetzt,
daß sie in Preußen eben nicht als eine Rente, sondern als eine wirkliche Steuer
auferlegt sei; daß daher der Staat anch das Recht, sie nach den Umständen ab¬
zuändern, nie aufgegeben, dieses Recht vielmehr mehrmals factisch ausgeübt habe.
Namentlich sei es unläugbar, daß in der neuern Gesetzgebung die Ueberzeugung
der Staatsregierung von der Steueruatur der Belastung des Grund und Bodeus
überall klar ausgesprochen sei; in dem Edict von 1810 und seitdem mehrmals sei
in Folge jener Ueberzeugung eine definitive Regulirung der Grundsteuer i» Aus¬
sicht gestellt worden; wenn nichts desto weniger Personen im Vertrauen auf die
Unveränderlichkeit der Grundsteuer Güterkäufe und ähnliche Privatgeschäfte ab¬
geschlossen hätten, so wäre es allerdings möglich, daß sie sich dnrch solche Hand¬
lungen bei einer Regulirung benachtheiligt fühlten; allein die Gesetzgebung könne
nicht durch die Rücksicht gebunden werden, daß Privatpersonen in einer völlig
nnmotivirtcn Illusion gehandelt hätten, am wenigsten, wenn die Acte der Staats¬
regierung seit Decennie» dieser Illusion mit Bestimmtheit und Klarheit entgegen¬
gearbeitet und deu richtigen Standpunkt für Beurtheilung des Sachverhältnisses
wiederholt in Erinnerung gebracht hätten.
Nachdem beide Ansichten seit einer Reihe von Jahren in scharfsinnigen
Schriften von allen Seiten beleuchtet sind, ohne daß eine Einigung der Ansichten
erzielt wurde, darf man wol an einer Ausgleichung der Meinungsverschiedenheit
überhaupt verzweifeln. Es ist — unsrer Ansicht nach — vollkommen richtig,
daß die Grundsteuer in Preußen als eine Steuer, nicht als eine Rente auferlegt
wurde; aber die Gesetzgebung ist dieser Ansicht nicht durchweg so tren geblieben,
wie in den letzten vierzig Jahren. Vor dieser Zeit ist vielmehr für verschiedene
Landestheile die Unveränderlichkeit der Grundsteuer durch landesherrliche Erlasse
ausdrücklich anerkannt und dadurch die Ueberzeugung von ihrer Nentcnnatnr
gewährt worden. Die ans der Gesetzgebung hergeleiteten Gründe ziru und
enntiÄ scheinen uns übrigens nur in zweiter Linie zulässig zu sein, als eine frei¬
lich überflüssige, aber doch annehmbare Unterstützung der ans der Natur der
Sache hergeleiteten Gründe. Und in dieser Beziehung ist es »usre persönliche
Ausicht, daß eine auf Grund und Boden gelegte Steuer immer die Tendenz
haben wird, sofort die Natur eiuer Rente anzunehmen, wie sehr auch die Gesetz¬
gebung in entgegengesetzter Richtung arbeiten mag. Soll die Grundsteuer den
Charakter eiuer wirklichen, je nach dem wechselnden Ertrage des Guts abgemesse¬
nen Steuer erhalten, so ist dieses nur dnrch eine perpetuirliche Regulirung, durch
eine ununterbrochene Rectification des Katasters je nach der zeitweiligen Melio¬
ration oder Deterivration des Guts zu ermöglichen. Eine solche Rectification
kann aber bei dem Umfang und den großen Kosten des Geschäfts nnr selten, nur
in beträchtlichen Zwischenräumen unternommen werden; und in ruhigen Zeiten
wird man voraussichtlich Anstand nehmen, sür ein derartiges Geschäft ungeheure
Summen in ganz uuproductiver Weise zu verwenden, um die Ungleichheiten zu
ermitteln, die sich durch den mehr oder minder raschen Fortschritt oder den
Rückschritt in der Cultur im Laufe der Zeit herausgestellt habe» konnten. Sicher
aber werden diese Zwischenräume groß genug sei», daß die Grundsteuer, unmittel¬
bar nach ihrer Regulirung, mit aller Behaglichkeit wieder in die Rentennatnr
zurückfällt, und daß der neue Käufer an den Vortheilen oder Nachtheilen, die
mit der letzten Regulirung sür den damaligen Besitzer verknüpft waren, nicht mehr
participirt. Hat.uram vxxvUus Ku-<:a, l.amon usquv revM'el..'*)
Die Regierung hat sich für keine dieser entgegengesetzten Anffaßuugcn
oder, wenn sie wollen, für beide entschieden. In dem Gesetzentwurf, der die
Beseitigung der Er,cationem ausspricht, hält sie an der Ansicht fest, daß die
Grundsteuer eine Steuer sei, und vindicirt der Negierung das Recht, sie modi-
ficiren zu können, wie jede andre Steuer. Wie verträgt sich aber damit das
Princip der Entschädigung, welches dem zweiten Gesetzentwurf zum Grunde liegt?
Seit wann und wo betrachtet man eine neu auferlegte wirkliche Steuer als einen
Zins, sür dessen künftige Entrichtung man den eben Belasteten eine baare Summe
im Betrage des Capitals als Entschädigung zukommen lassen müsse? Was ist
überhaupt der Zweck dieser ganzen Manipulation, daß der Staat gewissen Per¬
sonen Capitalien schenkt, um sich dafür Zinsen entrichten zu lassen und mit diesen
Zinsen vorlieb zu nehmen? Wenn die Steuerfreiheit gewisser Grundstücke wirklich
ein ungerechter Zustand ist, dessen Beseitigung nothwendig erscheint, wird dann
die Ungerechtigkeit dadurch gehoben, daß man den schon bisher vollständig be¬
lasteten Personen noch die neue Last aufbürdet, die Capitalien zusammenzubringen,
welche man braucht, um die bisher Bevorzugten für die Beseitigung der Bor¬
dseite, die sie zur unbilligen Benachteiligung ihrer Mitbürger lange genug ge¬
nossen haben, für alle Zeiten zu entschädigen? Heißt das nicht, ein Unrecht durch
ein anderes —und, streng genommen, genau durch dieselbe Art des Unrechts—
wieder gut machen? So herrscht in den beiden Gesetzentwürfen ein directer Wider¬
spruch. Ehe man dem Privilegirten als Entschädigung bedeutende Capitalien in
die Hände giebt, ans dem Beutel der Belasteten, ist es besser, daß Alles beim
Alten bleibt.
Die heutige Debatte hat gelehrt, daß die von dem Herrn Minister des
Innern mit so großer Liebe gepflegten „ provinziellen Eigenthümlichkeiten" bereits
im besten Gedeihen begriffen sind. Bei der Heftigkeit, mit der die Regulirung
der Grundsteuer von den Rheinländern gefordert wird, nud bei der Zähigkeit,
mit der die Junker der östlichen Provinzen an der Exemtion als an einem
Privilegium festhalten, lag die Gefahr nahe, daß die Debatte eine unerquick-
liche Wendung nahm. Jetzt, da die Beurtheilung politischer Fragen vom pro¬
vinziellen Standpunkte ans eine gewisse Sanction erhalten hat, war es um so
natürlicher, daß sich die bittersten Anschuldigungen des Ostens gegen den Westen,
und umgekehrt, boren ließen. Herr v. Gerlach begann natürlich das Kreuzfeuer; und ist
es nach diesem Vorgänge zu verwundern, wenn die Abgeordneten der westlichen
Provinzen, falls nun einmal die provinziellen Interessen scharf gesondert werden
sollen, von dieser Sonderung bei einer Frage Gebrauch machen, bei der sie gerade
vom provinziellen Standpunkte aus die schärfsten Waffen für die von ihnen ver¬
tretene Ansicht finden? Die beliebte Hinweisung, daß die Rheinland? eroberte
Provinzen wären, wurde von dem Abgeordneten v. Gerlach auch heute wieder¬
holt; sie rief die entrüstete Entgegnung des Abg. v. Ketteler, eines conservativen
Mitgliedes der katholischen Fraction, hervor, daß, wenn der Grundsatz Platz
griffe, die Rheinlande als eroberte Provinzen zu betrachten, die rheinischen Ab¬
geordneten nicht in dieses Haus gehörten. Da haben Sie ein Pröbchen des
Segens, der uns ans der Schärsung der provinziellen Gegensätze erwächst. Auch
in den einzelnen Fractionen greift die Zwietracht um sich; die Erörterung der
Grnndsteuerfrage hat dazu veranlaßt, die Zustände der einzelnen Provinzen gegen
einander zu halten, wahre oder vermeintliche Bevorzugung und Vernachlässigung in
ein grelles Licht zu stellen, die ungleichmäßige Behandlung der Provinzen in Be¬
zug auf das Chaussee- und Eisenbahnwesen, die russische Grenzsperre, die Kala¬
mitäten der Kriegsjahre, die ungleich auf den Provinzen lasteten, und andere
Gravamina, die mit der vorliegenden Frage in keiner unmittelbaren Beziehung
stehen, zur Verbitterung nud Entfremdung der Gemüther in die Debatte hinein¬
zuziehen. So wuchert das Unkraut des provinziellen Antagonismus lustig empor,
und man befördert sein Wachsthum in einer Zeit, in der wir der Eintracht und
Starke im höchsten Grade bedürftig sind.
— Die Ratification deö Handels- und Zollvertrageö
zwischen Preußen und Oestreich, die nach langen Unterhandlungen endlich erfolgt
ist,, mich, falls die Ausführung den Bestimmungen desselben entspricht, und weder
geheime Stipulationen die zukünftige Stellung Preußens gefährden, noch im
Verlauf der Verhandlungen über die Necvustrnction des Zollvereins neue und
bedenkliche Momente hinzukommen, mit Befriedigung aufgenommen werden. Wir
tonnen hier nur den Eindruck wiedergeben, den eine schnelle Durchsicht deö ziemlich
umfangreichen und mit vielen in'ö Einzelne gehende» Bestimmungen ausgestatteten
Vertrags in uns erzeugt hat. Hiernach erscheinen aber die wesentlichsten
Bedingungen, welche die counuerzielle und politische Unabhängigkeit Preußens
erheischt, aufrecht erhalten. ES sind weder bindende Verpflichtungen für eine
bestimmte zukünftige Zolleinigung eingegangen, noch ist die Befugniß Preußens,
seinerseits TarifSäudcrungcn respect. Ermäßigungen eintreten zu lassen, ans
den Händen gegeben worden. Diese beiden Gesichtspunkte halten wir für die
wichtigste», und mit dem Vorbehalt ihrer stricte» Wahrung kann man die viel¬
fachen Erleichterungen des gegenseitigen Verkehrs, welche der Vertrag gewahrt,
nnr beifällig begrüßen. Nur einzelne Bestimmungen des Tarifs, z. B. die zoll¬
freie Einfuhr von Wolle und Getreide bedrohen die Agricultur, u»d die vom
Gedeihen derselbe» abhängige Industrie deö östlichen Preußens mit nicht unüber¬
windlichen, aber doch auf mehrere Jahre bedenklichen Gefahren. Die größte Bedeutung
des Vertrags liegt aber unstreitig in der gegründeten Hoffnung ans den Fortbestand
deö Zollvereins, die man in Folge seines Abschlusses fassen darf. Nachdem der
schwerste Stein des Anstoßes aus dem Wege geräumt ist, werde» die CvalitivuS-
regicrnngen wol fernerhin einer Einigung nicht mehr Schwierigkeiten in den
Weg legen, die für die höchsten Zutreffen ihrer Bevölkerungen ein unabweisbares
Bedürfniß ist, und als solches behandelt werden sollte. Die nichts weniger als
n»bete»kunde Lage der allgemeinen politischen Verhältnisse Europas fordert fernere
ebenso dringend dazu auf, als die Rücksicht, wenigstens ans diesem Gebiet nich
die gerechten Erwartungen der gesammten deutschen Nation scheitern zu lassen.
Gegenüber den drohenden Eventualitäten, die eine, vielleicht nahe Zukunft bringt,
können wir uns nur freuen, die Spannung zwischen Oestreich und Preußen durch
eine Ausgleichung beseitigt zu sehe», die wir stets gewünscht haben, insofern sie
nicht auf Preußens Kohle» geschieht. Möchte ein gleich günstiges Resultat, das
deu Fortbestand des Zollvereins, mit Einschluß der durch den Septembervertrag
ihm gewonnenen Staaten, sichert, nicht zu lauge auf sich warten lassen.
— Ihr Scher hat die Blattfolgc meiner
letzten Botschaft garstig durcheinander gemischt! Es wäre ihm leicht zu vergeben, wenn
»ur der Zufall gewollt hätte, daß das Schlußvcrsprcchcn, über „Tannhäuser" berichten
zu wollen, gänzlich weggefallen wäre. Denn die Ausführung in Leipzig und die treff¬
lichen Besprechungen in den Grenzboten Habens überflüssig gemacht; auch hat sich das
hiesige Theaterinteresse bereits Neuem zugewendet, nehmlich Flotow's „Indra." Das
ist ein Sprung von ernster Mannesarbeit zu leichtester Tändelei. Deal man mag mit
den Wagner'sehe» Intentionen im Tannhäuser noch so wenig einverstanden sein — wie
wir es sind — und mag Flotow'S Fertigkeit in der „Mache" noch so hoch stellen:
immerhin bleibt Wagner's Werk eine wirkliche That, Flotow's Arbeit — nun ja viel¬
leicht eine Arbeit. Aber leicht hat er sichs damit gemacht. Mnsard'S Quadrillen und
Flotow's frühere Productionen klinge» hauptsächlich aus der Musik der Oper, die in
ihrer Anlage und Ausführung gerade so „groß" und „romantisch" ist, daß man
I. Janin's bekanntes Wort von Rossini'S „joli" Requiem daraus anwenden
könnte. Auch der Puttlitz'sche Text trägt wahrlich nicht zur Erhöhung des innern
Gehaltes bei. Das sind Verse! Flotow hat sich oft nicht anders helfen können, als
indem er die stummen Endsylben der Worte mit dem musikalischen Nachdruck belegte,
was er indessen auch schon in früheren Opern liebte. Uns fällt aber bei dem,,
„Le-ben, Kom-men, Sir-gen"
der warnende Schulmcistervcrs ein:
. ^! >^>^^^! ^.^->^!— ^
I>los ?oloni non lZM-IMUS <1UMt,jtUl.«M L^IIi>I)NllM.
Fabrizircndc Flüchtigkeit zweier Männer, die Besseres leisten können, thut weh!
Wir Deutschen siud nun einmal noch nicht dahin, in Opern nur ein vicrzehutägiges
NnSfüllsel der Saison zu sehen. Mehr aber kann Indra trotz der hiesigen vortrefflichen
Ausführung schwerlich leisten. Man schaukelt sich auf leichten Melodien, die der Si¬
tuation nicht entsprechen, geht pfeifend nach Haus, und hat gar Nichts davongetragen.
Indessen soll damit keineswegs gesagt sein, daß sie nicht in der bevorstehenden Messe
zum Zugstück werden könnte. Leider zerrt ja das Publicum die musikalisch-dramatische,
wie die recitirendc Kunst dadurch immer mehr herab, daß es in ihr nur Ausfüllscl leerer
Abende erblickt. Auch daß das Käruthucrthorpublicum in Wien von Indra entzückt
sein mag, soll nicht in Abrede gestellt werden — selbst wenn man nicht daran denkt,
daß der Ursprung von Musik und Text aus gutadeligcn Häusern sicherlich keineswegs
ohne Einfluß gewesen ist.
Unser rccitireudcs Schauspiel ist durch Herrn Devrient's heimlichen Abgang einiger¬
maßen in Verlegenheit; und man merkt es ihm an. Die Dramatisiruug von „Onkel
Tom's Hütte" durch einen gewissen Herrn Olfers hilft ihm gewiß nicht auf. Das
Stück ist eine so platte SpeculativuSarbeit, als nur je über die Bretter gegangen. Man
sagt übrigens, hinter dem Namen Olfers verberge sieh eine unserem Thcarerregimcut sehr
nahe stehende Persönlichkeit. Nicht nnr augenblicklich macht Herrn Devrient's Abgang
sich sehr fühlbar, er wird es auch noch lang hin sein, und es ist für Frankfurt keine
Entschädigung, wenn täglich in fetten Lettern auf dem Theaterzettel zu lesen ist:
„Eontractbrüchig Herr Devrient." Jedenfalls ist Etwas faul im Staate Dänemark,
Denn wollen wir auch Herrn Devrient gar nicht entschuldigen, so könne» wir doch
eben so wenig verschweigen, daß die ewige» Mißhelligkeilc» mit den besten Kräften des
Schauspiels, wie der Oper erst seit dem Uebergange der Dircctio» in Herr» Hoffmann's
Hand begonnen haben. Den trefflichen Baritonisten Beet verlieren wir jetzt ebenfalls.
Obgleich seit vierzehn Tagen die Fasten angefangen haben, so sind doch die Gesell¬
schaften n»d Balle noch nicht geendet, die Concerte noch nicht zu besonderem Flor ge¬
kommen. Unter Letztere» scheinen uns indessen vor Allein die Quartcttuntcrhaltnngen
des Herrn Heinrich Wolf bemerkenswerth, welche anch stets von dem eigentlich musika¬
lischen Publieum stark besucht wurden. Während ferner das „Museum" rüstig weiter
strebt, beginnt so eben auch der „Cäcilicnverciu" aus seiner classischen Er/lnsivctät zur
Exeeutio» moderner Musick vorzuschreiten. Eine interessante Episode der Fastenzeit bil¬
deten überdies die drei Festtage des hiesigen Liederkrauzes zu seiner fünfundzwanzigjäh-
rigen Stiftungsfeier. Den Beginn machte am vorigen Dienstag ein Concert ernsteren
Charakters, welchem am Samstag (-19.) ein feierliches Bankett, gestern ein glänzender
Ball folgte. Der hiesige Liederkranz ist bekanntlich der Vater so ziemlich aller umlie¬
genden Liedertafel», und so wurde denn sei» Bankett anch aus Hanau, Offenbach,
Darmstadt u. s. w. mit Deputationen beschickt. Wie alljährlich am Stiftungstag war
neben dem Souper und zahlreichen Toasten eine komische samische Aufführung, diesmal
„die Idee als Preis, oder der verpuffte Liebhaber," der Mittelpunkt des Abends. Von
Mitglieder» gedichtet n»d ausgeführt siud die Tendenzen und Anspielungen dieser
dramatischen Scherze am Ende immer nur von lokalem Interesse. Indessen muß man
anerkennen, daß es in unserer gedrückten Zeit herzlich wohl thut, hier noch einer Fülle
von gutem Humor und unbefangener Laune zu begegne», wie man sie kaum i» de»
Ma»er» der ernste» Handelsstadt und verstimmten BnndeStagSrcfidciiz suchen mag. Trotz¬
dem behauptete man allgemein — wir möge» unser eigenes Urtheil nicht einmische»,
daß weder diesmal, noch sonst je der Witzborn in gleicher Weise gesprudelt habe, wie
1847, als der Besuch der Königin Ticvoria im Schlosse eines Sultans dargestellt
wurde, welcher die Blasirtheit seines Gastes mit alle» möglichen Amüsements nicht zu
überwinden vermag, endlich aber vom ewige» Jude» durch el» Männerquartett des
Liederkranzes aus seinen Nöthen befreit wird. — Das war freilich -1847 harmlos —
heut würde Aehnliches vielleicht scheelen Auges angesehen werde». inutimwi'.
Mit der A»ku»se des k.k. F. M. L. Freih. Prokesch von Osten als Buudespräsi--
dialgcsandtcn begann der politische Monat, und im Augenblicke sind noch alle Gemüther
mit dem Attentate auf das Leben des Kaisers von Oesterreich, so wie mit den Mai¬
länder Vorgänge» beschäftigt. — Man erinnert sich, daß die Absendung des Herr»
v. Prokesch a» die Spitze des Bundestages vielfache publicistischc Erörterungen über
deren demonstrative Bedeutung hervorrief. Man mag »»erörtert lasse», inwieweit diese
beim damalige» Stande der östrcich-preußischen Zollvcrhandlnnge» beabsichtigt war,
obgleich sie vo» alle» offieiöse» Stimme» i» Abrede gestellt wurde. Jedenfalls scheint
sie »ach Abschluß des Zoll- »»d Hattdclsvcrtragcs zurückgestellt, dessen überraschende
Eile wahrscheinlich ihre Erklärmig i» den Zustände» der südöstlichen äußern, und italie¬
nische» inner» Politik Oestreichs zu suche» hat. Begnügen wir uns mit dem er¬
wünschten Resultate, welchem ja bereits auch Hannovers Beitrittserklärung folgte, und
nur noch die erneute Vereinigung der Evalitiousftaatcn mit dem Zollvereine fehlt-
Immerhin bleibt Herr v. Prokesch's Erscheinung in unseren Mauern von Interesse. Ob¬
gleich noch nicht vollkommen in seinen Gemächer» im Bu»desvalastc eingerichtet, ist er
doch schon lebhaft in der Geselligkeit verkehrt. Mittelmäßigen Wuchses und von leichter
Haltung, leuchtet er in allen Gesellschaften aus dem Kreise der schwarzbcsracktcn Männer
durch seine Uniform hervor. Man hat ihn noch nur im militärischen Kleid erblickt,
selbst in den Bnndessitzungen. Der Kopf aber über dem goldgestickten Kragen ist, trotz
des Schuurrbartes, nicht vorwiegend militärischen Charakters. Daß das Gesicht keinem
Dentschen angehört, verräth sein ausgesprochener slavischer Typus. Und seitdem Fall-
mercyer bewiesen hat, daß die heutigen Griechen Slaven sind, darfman es ein griechisches
Antlitz nennen, dessen dunkle und scharsstrahlendc Augen unter dem sorgfältig geordneten,
dichten, wenn auch ergrauten Haupthaar wiederum an einen Armenier erinnern. Leicht
und gefällig ist der gesellige Verkehr, welcher sich mit besonderer Grazie den Damen
zuwendet, und vorzugsweise durch Erzählungen von orientalischen Reiseerlebnissen einen
angeregten Kreis zu fesseln weiß. Herr v. Prokesch schildert mit der Plastik des Schrift¬
stellers, nicht ohne die Feinheit des Diplomaten. Beide Eigenschaften finden sich nun
auch in der vielbesprochenen Rede vertreten, womit er den Präsidentenstuhl in der
Bundesversammlung bestieg, und deren überrasche Veröffentlichung in hiesigen Zeiwngen
der diplomatischen Welt beinah eben so überraschend war, als viele Stellen ihres In¬
haltes. Erst allerncucstens ist man noch überraschter von der außerordentlichen Aehn-
lichkeit ihrer historischen Erörterungen mit Parallelstellen jener Rede, durch welche Graf
Buol-Schauerstein 181K den Bundestag eröffnete. Sie ist damals in der hiesigen
Andreä'schen Buchhandlung in Separatabdrnck erschienen, und jetzt wieder eine vielbe¬
gehrte Waare. Auch dem Bundestage hat sich übrigens Herr v. Prokesch als Schrift¬
steller eingeführt, indem er dessen Bibliothek mit einem Exemplar seiner „Gesammelten
Schriften" und orientalischen Reisen beschenkte. Und wie öffentliche Blätter melden,
wird selbst in der Amtswohnung des Präsidialgesandten ein orientalisch eingerichtetes
Zimmer mit Gegenständen ausgeschmückt werden, welche Herr v. Prokesch im Orient
sammelte. — Ist's nun eine neue Erscheinung, einen Schriftsteller an der Spitze des
Bundestages zu sehen, so verwundert es wenig, die Literatur dreifach im Plenum
(v. Prokesch, v. Linde, v. Strauß) vertreten zu erblicken. Die segensvolle Einwirkung
auf die Bestimmungen des Bundespreßgcsctzes wird gewiß nicht ausbleiben, wo drei Mit¬
glieder des Kollegiums ans eigner praktischer Erfahrung urtheilen. Namentlich aber
würde freilich, wenn persönliche Motive bestimmend sein könnten, Herr v. Strauß zur
Mitwirkung sür liberalste Bestimmungen veranlaßt sein, da es bisher unerhört war, daß ein
Bundestagsgesandter wegen eines von ihm verfaßten Buches (Briefe über Staatskunst) auf
Hochverrat!) angeklagt werden mußte. Daß man sich bei dieser Gelegenheit auch seiner
frühern literarischen Thätigkeit erinnert, ist desto natürlicher. Ihre Fruchtbarkeit fast nnr
von ihrer Vielseitigkeit übertroffen zu sehen, erscheint jedoch um so bewundernswerther,
da sie mit „Theobald," einem Roman, erst 1839 begann, und Herr V. von Strauß
keineswegs mehr in den Vlüthcjahren steht. Bei Velhcim und Klassing in Bielefeld,
welches anch seiner Lcinenindustric halber berühmt ist, erschienen, außer jenem dreibän¬
digen Romane von demselben Verfasser: „Ueber die Gesangbuchssachc in den preußischen
Landen" eine Denkschrift (1856); „Schrift oder Geist?" chic Verantwortung auf Wis-
lieennö; „Bilder und Töne aus der Zeit, oder das Erbe der Väter" l-1830), ein novel¬
listisches Jahrbuch; „Gotteswort in den Zeitereignissen," vier Rhapsodien. Ferner bei
Zimmer in Frankfurt a. M.: „Ein Fastnachtsspiegcl von der Demokratie und Reaktion/'
zu Nutz und Kurzweil; „Gudrun," ein Schauspiel; „PolWnci," eine Tragödie. Dann
bei K> Winter in Heidelberg: „das Kirchenjahr im Hause," erste u. zweite Hälfte (1843),
„Lebensfragen" in Erzählungen. Endlich bei Perthes in Hamburg: „Lieder aus der
Gemeine für das christliche Kirchenjahr" (18i3); in der Sonntagsbiblivthck: „Leben
des P. Gerhard;" bei Mühlmann in Halle: „das kirchliche Bekenntniß und die lehr¬
amtliche Verpflichtung;" bei Arnold in Dresden: „ein Nachtgesang Dante's aus dem
Paradiese."
Der Schriftsteller Strauß schloß diesen siebzehnsältigen Blüthenkranz mit den nun
angeklagten „Briefen über Staatskunst." Uns aber klingt der Ausgang eines Gedichtes
des Herrn v. Prokesch, welches er in „Oberungarn" saug, vor dem innern Ohr:
„Breit' o Vergessen, deinen Schleier
Ueber die dunkleren Lebenslage,
Die Tage, die nur Leichtsinn und stürmend Blut
Mit Wolken füllte; hülle sie freundlich zu.
Fuhr' die Gestalten meiner Fehler
Abseits, daß ich ihr Klagegestöhne
Und ihrer Forderung traurigen Ruf nicht hör'!
Denk', daß ich gut war, war, nud noch immer bin,
Denn, was an Sünden ich gesäet;
Nicht aus dem Herzen war's entsprossen!"
Der Winter ist ein Prätendent, wie ein anderer, so lauge
nur eine Spur von Hoffnung für sein kaltes Reich existirt, giebt er sein Bestreben nicht
auf, sich seine Eiskrone aus'S Haupt zu drücken oder seinen kaiserlichen Schneemantel
um die Schultern zu werfen. Diesmal ist er bei uns unter Donner und Blitz in sein
Reich eingezogen, was gewiß eine seltene Auszeichnung für Iiivornus 1833 sein mag.
In der Politik ist die Woche ohne Ereignis! vorübergegangen. Die Verhafteten sind
freigelassen worden, so wie sie verhaftet worden waren — man weiß nicht recht warum,
noch was aus dieser unglückseligen Geschichte werden soll. Sonst verging uns die Zeit
über officiellen Empfängen, stillen Fastenuntcrhaltungen und vertraulichen Unterhaltungen.
Der Hos macht ein geheimnißvolles Gesicht, man flüstert sich in die Ohren, bemerkt zu
haben, die Kaiserin sei einmal bei Tische ohne jede äußere Veranlassung plötzlich er¬
blaßt —----sie soll durch diese Blässe wo möglich noch interessanter werden.
In der Literatur haben wir eine Geburt und einen Tod zu signalisiren. Die
Geburt ist eine Übersetzung von Dante's Hölle in französischen Versen — ich habe den
ersten Band (17 Gesänge) noch nicht zu Ende gelesen. Was ich gelesen, zeigt von
ziemlichem Verständnisse, aber man fühlt bei jeder Zeile, wie viel da noch zu erwarten
wäre, und wie ungeeignet die französische Sprache in der Gestalt, wie sie heute vor
uns steht, zu solchen Arbeiten geeignet ist.'
Der Todte ist Bayard, der Flügeladjutant und furchtbarste Nebenbuhler Scribes.
Der Verfasser von „die Königin von sechzehn Jahren", „der Mann auf dem Lande
(Er muß aufs Land)", „Marie Migräne", ,FiIs «Is Sannio" nud des so eben auf-
geführten „IZol-onoo on Jo vvoirineion". Bayard hat eine außerordentliche seenische
Fertigkeit, viel Routine im effectvollcn Dialog und gewandte Erfindung — aber eigent¬
licher Humor und Schwung fehlte ihm. Er hatte noch weniger Poesie und Begeisterung,
als Scribe. An seinem Boecace lobt man Costume und Decoration, vom Stücke selbst
sagt mau, es sei ein posthumes Werk, weil Bayard schon den Geist ausgeben hatte,
als er eS geschrieben.
In der großen Oper wird ein altes Ballet aufgeführt und zwar ein so altes, daß
es neu zu sein scheint.
— Das große Bild von Lerche: Washington's Uebergang
über den Delaware, wurde aus der Kunstausstellung in Bremen von einem Engländer
für 200 Pfd. Sterling gekauft.
Gallait in Brüssel und Heß in München sind von der Pariser Akademie der
schönen Künste zu correspondirenden Mitgliedern ernannt worden, und Julius Schmorr
von Carolsfcld hat von der Stadt München das Bürgerrecht zum Geschenk erhalten.
Gurlitt's Gemälde aus Montenegro in zwei Ansichten der Bocche ti Cattaro mit
den Gebirgen von Montenegro, einer Ansicht von Castelnuovo, der Spitze, wo vor
Kurzem die Türken eingedrungen sind, einer Ansicht von Fort Precinea, wo Albanien,
Montenegro und Dalmatien zusammenstoßen, und endlich einer Ansicht von Cattaro
selbst, mit dem Wege, der sich hinüber nach Montenegro zieht, erregen derzeit in Wien
Aufsehen, weil sie außer ihrem Kunstwerthc einen Begriff von der Terrainschwierigkeit
geben, welche die Türken in diesem Kriege zu überwinden haben.
Der Kupferstecher Wagner in Nürnberg hat seine vielbesprochene Platte des Co-
lumbus vollendet, und ist gegenwärtig mit der in der Zeichnung schon lange vorbereiteten
Platte der Kreuzabnahme Christi beschäftigt.
Das Comitv der Weltausstellung zu New-York hat die Düsseldorfer Künstler auf¬
gefordert, Einsendungen zu machen. Viele derselben sollen die Absicht haben, sich
daran zu beteiligen.
Der Bildhauer Härtung zu Berlin ist mit einem schönen Modell: Napoleon auf
Se. Helena, nach Paris gereist. Der König von Preußen gab dem Künstler die wärm¬
sten Empfehlungen mit, und er wurde dort vom Kaiser mit außerordentlichem Wohl¬
wollen aufgenommen. In einem der hervorragendsten Kreise wurde das Modell von
loyalen Männern und Frauen bewundert, und der Kaiser gab sogleich den Auftrag,
es in großen Dimensionen auszuführen.
Rauch's Denkmal Friedrich II. in Berlin wurde am Geburtstage dieses großen
Monarchen zum ersten Male mit vier Candclabern geschmückt und beleuchtet, die an
den vier äußersten Enden des Mosaikbodens um das Denkmal angebracht sind. Sie
bestehen aus Is Fuß hohen, reichverzierten Säulen, worauf die großen Gaslaternen
ruhen. Das Denkmal soll sich bei dieser glänzenden Beleuchtung wirklich prachtvoll
ausgenommen haben.
Das Denkmal, das die Vereinigten Staaten Nordamerikas Washington setzen
wollen, und dessen Ausführung dem gegenwärtig in Rom lebenden Bildhauer Crawford
übertragen ist, soll eines der größten Werke moderner Bildhauerei werden. Seine Höhe
wird 70 Fuß betragen. Die Grundlage ist ein sechsstrahliger Stern, worauf das
Piedestal der riesigen Reiterstatue ruht. Sechs Adler werden die Stufen der kreisför¬
migen Grundfläche umgeben; sechs Statuen der ausgezeichnetsten Männer Amerikas
das Piedestal: Henry, Lee, Mason. Marshall, Allen, und Jefferson. Henry's und
Jefferson's Statuen befinden sich bereits zum Guße in München, und Crawford ist
jetzt mit der Modellirung des colossalen Pferdes beschäftigt. Die päpstliche Regierung
hat zu diesem merkwürdigen Denkmal einen riesigen Block des schönsten Marmors
geschenkt.
Von dem kolossalen Abguß der bekannte» Reiterstatue voit Monte Cavallo im neuen
Museum zu Berlin ist jetzt das Gerüst abgenommen, und dies Werk gehört nun zu
den schönsten Zierden Berlins. Es erreicht die Höhe des dritten Theils des Treppen¬
hauses. Bis jetzt wurde nur noch ein einziger Abguß dieses Wertes für den neuen
Glaspalast zu London gemacht.
Das riesige Standbild, welches dem Kaiser Franz zu Franzensbad von dem Gra¬
fen Münch-Bellinghausen gesetzt werden soll, noch bei Lebzeiten Schwauthaler's in dessen
Atelier modcllirt, wird gegenwärtig in München gegossen und soll im Frühjahre an sei¬
nem Bestimmungsorte aufgestellt werden.
Die Sculptur-Ausschmückung des neuen Arsenals zu Wien ist dem dortige»
Bildhauer Fcrntorn, einem talentvolle» Schüler Schwauthaler's, übertragen.
Architekt Hittors aus Cöln. gegenwärtig in Paris lebend, ist von der dortige»
Akademie der schönen Künste zum wirklichen Mitglied«? vorgeschlagen worden.
Die berühmte russische Altcrthumskammcr des Professors Pogodin zu Petersburg
hat der Kaiser sür 130,000 Rubel als Staatseigenthum angekauft. Sie gilt als die
größte Privatsammlung »atioualcr Alterthümer, welche die neuere Zeit aufzuweisen hat.
Tidem and und Gut c, welche öfters gemeinschaftliche Arbeiten unternommen
haben, sind jetzt in Düsseldorf mit einem größere» Bilde beschäftigt, welches eine ihrer
bedeutendste» Leistungen zu werden verspricht. Der Gegenstand ist ein Leichenzug von
Norwegischen Bauern, an dem selsigtcn Ufer eines von gewaltigen Bergen begränzten
„Fjords". Im Vordergründe ein Kahn mit dem Sarg, die Spitze des ganze», vom
Mittelgrunde her sich bewegende» Zuges von Leute» beiderlei Geschlechts und der ver¬
schiedensten Altersstufen. Die Figuren werden, wie in diesen Bildern gewöhnlich, nicht
als Staffage behandelt, sondern erhalten eine selbstständige, der Landschaft ebenbürtige
Bedeutung. Ihre große Anzahl, die tief gefühlte», verschiedenartig variirte» Motive,
die nordischen Charaktere, welche in der düstern Situation eine noch ernstere Bedeutung
bekommen, der ergreifende Ausdruck in den Gesichter» der Hauptfiguren, die theils im
tiefen Schatten ruhende, theils vom Schimmer der entfernteren Lustpartie hell wider¬
strahlte Scenerie; dies Alles, mit der bekannte» Meisterschaft der beide» Künstler be¬
handelt, giebt el» Bild von höchst ergreifender Wirkung; ihm fehlt noch die letzte Hand;
es wird aber hoffentlich nächstens zur Ausstellung kommen. Außer ihre» eigenen Ar¬
beiten haben beide Künstler gemeinsam noch el» anderes Bild in Arbeit; den Gegensatz
des ersteren, eine Brautfahrt aus dem Wasser in Hardanger Fjord, es wird ein a»-
muthiges Bild voll Poesie und strahlender Farbenpracht.
August Kopisch, der liebenswürdige Dichter und Maler, ist in Berlin durch
plötzliche» Tod seinen zahlreichen Freunden entrissen worden. — Seit einigen Jahren
im Auftrage des Königs mit einer Geschichte und Beschreibung der königlichen Schlösser
und Gärten von Sanssouci beschäftigt und daher in Potsdam wohnend, war er auf
einige Tage zum Besuch bei Verwandten in die Residenz gekommen und wurde dort
am ti. Februar von einem Schlaganfall getroffen. Kopisch war am 26. Mai 1799
in Breslau geboren. Bedeutender denn als Maler — ein dnrch Sturz auf dem Eise
eiitstandtlics Haudübcl störte ihn dauernd — war er als Dichter, und sein poetischer
Sinn ist es auch hauptsächlich, der seine Bilder (Landschaften, besonders die pontinische»
Sümpfe) anziehend mqchtc. Viele feiner launige» Gedichte und Lieder sind in die
Volksbücher übergegangen. Auch hat er eine treffliche Uebersetzung von Dante's gött-
licher Komödie geliefert. Bekannt ist, daß er als tüchtiger Schwimmer die blaue Grotte
bei Capri entdeckte.
Tory Jo Hannot in Paris hat mehr als fünfzehntausend Zeichnungen und
Kompositionen hinterlassen, von denen er eine große Anzahl selber ans Stahl und Kupfer
ausgeführt hat, Diese große Fruchtbarkeit hat ih» vielleicht verhindert, während seines
Lebens an seine» rechte» Platz zu gelangen. Er produzirte zu viel; er war unvermeid¬
lich geworden. Er illustrirte Lafontaine, Werther, Faust, Lamartine, Beaumarchais,
das Evangelium, die Geschichte der Revolution, Voltaire, Walter Scott, Chateaubriand,
Vöraugcr, Byron, Cooper, George Sand u. s. w.
Vorige Woche ging im Princcß-Theater in London Macbeth mit
einer Jnsccnirnng über die Bühne, welche sich von den alten Traditionen ganz und gar
lossagte, und durch ihre Originalität große Wirkung machte. Mau sah sich in eine
alte rauhe Zeit versetzt, wo starke Leidenschaften zu wilder Lust und schwarzen Ver¬
brechen reizen; wir befinden uns mitten unter einem Barbarcnvvlke, das auf el» Men¬
schenleben nicht viel giebt, aber dem Trinkhorn und der Freude der Tafel leidenschaft¬
lich ergeben ist, und sich von der Harfe des Barde» zu wildem Enthusiasmus aufcucr»
läßt. 'Das große Mahl, wo Banquos Geist erscheint, ist sehr seltsam. Die riesi¬
gen Häuptlinge erschienen zwischen dicken Pfeilern, aus schweren Bänke» sich streckend,
und massenhafte Gerichte an den schwerbelastete» Tafel» genießend, nährend geschäftige
Diener für die Stillung ihres unlöschbaren Durstes sorgen, und bärtige Barden Genuß
mit Musik erhöhen. Wie die Ermordung Duncan's ruchbar wird, bedeckt sich die Bühne
nicht mit Hochländer» »ach dem conventionelle» Musterbild, sondern mit einer Schaar
wilder Gestalten, die durch einander stürzen, und sich mit wilder Neugier über einen gro¬
ßen Balkon hcrablchncn. Lady Macbeth lebt nicht in einem der herkömmlichen Nitter-
säle, sonder» in großen unmöblirten, Frösteln erweckenden Zimmern, mit plumpen Thü¬
ren, die auf das Einlassen an Zugluft berechnet zu sei» scheinen, »ut den Zuschauer
zweifeln mache», ob sie durch die größte Quantität Brennholz auf den riesigen Herden
erwärmt werden könnte». Der äußere Anblick von Schloß, Heide und Gebirg bringt
denselben Eindruck von Wildheit hervor, und erinnert an die Zeit und den Ort gewaltiger
Verbrechen und rauher Tugenden. I» der übernatürliche» Welt ist die Regie nicht weniger
erfinderisch gewesen. Die Hexen sprechen und singe» durch dicke Gaze, die sie nur halb
wirklich erscheinen macht; und wenn dieser künstliche Nebel verschwindet, heben sich ihre
fantastischen Gestalten grauenerregend von dem Morgenhimmel ab. Ihre Höhle ist keine
gewöh»liebe Hohle, sondern wirklich der Abgrund des Acheron, ein von oben mit einem
rothen Schimmer erleuchteter Kegel, in welchen? die Dämonen ihre Orgien begehe».
Ueberall, wo sich eine Gelegenheit darbietet, die vielen seltsamen Züge dieser grauen¬
erregende» Tragödie ans eine neue und originelle Weise zu beleuchten, ist sie mit Begier
ergriffen, und ein merkwürdiges Bild ist stets die Frucht dieser Künstelei und Verirrung
des Geschmacks.
Der Tod des vortrefflichen Schauspielers I. G. F. Weiß, (geboren 1790 zu
Magdeburg, gestorben den 17. Februar 1838 zu Berlin) wird als ein großer Verlust
des deutschen Theaters allgemein empfunden. Er war einer der sehr wenigen Darsteller,
welche die Traditionen einer bessern Kunstbildung bis in unsere traurige Theatcrzcit be¬
wahrt haben. Seiner Bildung nach gehört er der Hamburger Schule an, in welcher
die Lehren und das Bild des großen Schröder's, des größten deutschen Schauspielers,
bis in die zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts lebendig waren. Von dem Kreis
großer Talente, welche aus der gute» Zeit Hamburgs hervorgegangen sind, und noch
unter Schmidt dies Theater im bürgerlichen Schauspiel zu dem ersten Deutschlands
machten, von den Gloy, Lebrun, Lenz, Jost und Anderen sind kaum noch zwei oder
drei aus der Bühne, fast nur dazu, um eine jüngere Generation vergebens an das zu
erinnern, was die Kunst der theatralischen Darstellung einst zu leisten wußte. Jene
Wahrheit, Einfachheit und bescheidene Verwendung der Mittel, das sorgfältige Aus¬
arbeite» des Details, die innige Liebe, mit weicher das Charakteristische in kleinen Zügen
ausgearbeitet wurde, sind auch an Weiß bis an sein Lebensende zu verehre» gewesen.
Seit dem Jahre 1823 bei dem königlichen Theater zu Berlin angestellt, von 1827
bis 1852 Regisseur des Lustspiels, ist er in einer Reihe von Jahren als Künstler und
Beamter des Instituts eine Zierde und ein Stolz desselben gewesen. Er war keine
geniale Kraft, ein schwaches Organ und ein kränklicher Körper beschränkten seine Thätig¬
keit; aber in seinen komischen und gemüthlichen Charaktervoller war er ein von keinem
Jüngeren erreichtes Vorbild. Als Mensch war er nicht weniger achtungswerth. Von
seinen Kollegen geliebt, von dem Publicum hochgeachtet, fühlte er sich doch als Künstler
in den letzten Lebensjahren in der großen Stadt recht einsam. Das unsichere, eitle
Treiben, der rohe Dilettantismus und die Charlatanerie des neuen Berlins, und der
Verfall der deutschen Bühne waren ihm ein großer Schmerz, den er gegen Solche,
denen er Vertraue» schenken konnte, zuweilen mit rührender Lebhaftigkeit aussprach.
Die Erinnerung an ihn wird aus dem Spiel der Jüngeren nicht so lauge zu erkennen
sein, als die Ueberlieferungen der glorreichen Hamburger Zeit durch ihn lebendig erhalten
wurden, aber in der Geschichte des deutschen Theaters wird er sür immer als Einer
von den Guten und Edlen erwähnt werden, deren Verhängnis, es war, in ihren Per¬
sonen und in ihrer Kunstbildung das Ende einer schönen Kunstepoche darzustelle».
— Therese Milanollo hat in der letzten Woche noch drei Concerte
gegeben, die sich eines gleichen Beifalls, wie die früher» zu erfreuen hatten. Das
Opernhaus wird jetzt durch die wiederholten Aufführungen von Ander's Fecusee, oder
vielmehr durch die glänzenden Decorationen dazu^ gefüllt; es hält sehr schwer, ein
Billet zu bekommen. Da jetzt auch Marie Taglioni vo» ihrem Gastspiel in Wien
wieder zurückgekehrt, und schon für morgen das Ballet Satanclla wieder angesetzt ist,
so werden voraussichtlich Diejenigen, welche i» der Oper mehr ihrem Ohr als ihrem
Auge wohlthu» wolle», bei der zu erwartende» Abwechselung, zwischen Satanella und
dem Fecusee sehr schlecht fortkommen. — Eine sür Frl. Wagner von Truhn componirte
Scene, „Kleopatra", ist ziemlich beifällig aufgenommen worden. — Karl Formes ist hier
eingetroffen und wird zunächst im KönigSstädtcr Theater einige Lieder singen. Es
wäre zu wünschen, daß unsere Hoffnung, ihn in Figaro's Hochzeit zu hören, dieses
Mal nicht vereitelt werden möchte. — Das Schauspielhaus soll in 1i Tagen mit
den Piccolomini eröffnet werden.
Außer den atlantischen Stu¬
dien, welche in der letzten Nummer angezeigt wurden, ist unter dem Titel Atlantis,
Zeitschrift für Leben und Literatur in England und Amerika, herausgegeben von
Dr. Karl Elze, das 1. Heft einer billigen Zeitschrift erschienen, welche sich die Ausgabe
stellt, in ähnlicher Weise, wie die Grenzboten ihnn, die Kenntniß englische» und
amerikanischen Lebens bei uns zu verbreiten. Außer einem Einleitungscapitel: der an¬
gelsächsische Stamm und seine Sprache, sind Artikel über öffentliche Bibliotheken in
England, das englische Weihnachtsfest, außerdem literarische Kritiken, Biographien und
Miscellen in dem Probehefte enthalten. Das Unternehmen erscheint gediegen und der
Beachtung des deutschen Publikums in hohem Grade werth.
Korrespondenz - Blatt des Gcsammtvercins der deutschen Ge¬
schieht s- und Alterthums vereine. Im Auftrage des Directoriums vom Prof.
M. L. Löwe. Im vergangenen Jahr haben die deutschen Geschichts- und AlterthumS-
vcreine den Anfang gemacht, sich zu einer Einheit zu constituiren. Aus den Ver¬
sammlungen zu Dresden und Mainz wurden Statuten festgestellt, die Gründung eines
Corrcsspondcnzblattes beschlossen, und eine Menge vo» Anträgen gemacht, unter denen
einige z. B. die Gründung eines allgemeine» deutsche» Museums für Alterthümer sich
bereits in erfreulicher Weise verwirklichen. Das vorliegende Blatt, welches moiiatlich
erscheine» soll, wird das Cctttralorga» dieser Verewigung. Und diese Vereinigung
selbst ist ein Unternehme» von der größte» Bedeutung. Bei dem Mangel an politischer
Einheit Deutschlands ist eine Concentration seiner ideelle» Interesse» i» alle» Gebieten
verhältnismäßig schwer zu erreichen, und jedes Streben darnach als ein Fortschritt zu
begrüßen. Wir haben in Deutschland eine beträchtliche Anzahl von historischen und Alter-
thmnsvcreiucn mit sehr ehrenwerthen Bestrebungen, und viel Förderliches ist sür die
Wissenschaft durch sie bereits gethan worden, wir haben, namentlich im Süden und
Westen Deutschlands eine große Menge Sammlungen von Kunst und AlterthumSgegenständcn,
deren Schätze zum Theil noch wenig bekannt, oft ganz versteckt sind; aber eine Anzahl wissen-
schaftlicher Fragen von der höchsten Bedeutung können nur gelöst werden durch einheitliche For¬
schungen, welche durch viele Zusammenwirkende in den verschiedenen Gegenden des Vaterlandes
angestellt werden, so wie dadurch, daß die Entdeckungen in einzelnen Gegenden schnell und in
glänzender Weise zur Kenntniß und zum Genuß der Gesammtheit kommen. Für alle diese
Zwecke muß der Gcsammtvercin und das Organ desselben von der großer Wichtigkeit
werden. Möchten die historischen und Altcrthnmsvcreine in allen Gegenden Deutsch¬
lands sich mit Wärme und ohne altgermanische Bedenken dem Verein und seinem
großen Zwecke anschließen.
Nachrichten aus dem Gebiet der Staats- und Volkswirthschaft
von Otto Hühner. „Der Centralvercin für deutsche Auswanderung und Kolonisation
in Berlin hat die Ausgabe, durch Belehrung über die Beschaffenheit und die Zustände
fremder Länder zu wirken, und zu diesem Zwecke in allen Theile» der Erde Verbin¬
dungen, durch welche ihm zuverlässige Mitteilungen in großer Anzahl zufließen.
Hübner's statistisches Central-Archiv entsteht dadurch, daß die Regierungen, im Austausch gegen
dessen Berichte, ihre statistischen Veröffentlichungen, ihre Handels- und Finanz-Gesetze,
Parlaments-Berichte n. dergl., die Verwaltungen von Banken, Sparkassen, Eisenbahnen,
Versichernugs-, Wohlthätigkcitsgesellschastcn und andern öffentlichen Anstalten ihre An¬
rechnungen demselben regelmäßig zusenden. Das Material, welches ans diese Weise bei
dem Central-Verein und in dem Archive zusammenströmt, gemeinnützig zu machen, wird
von demselben unter dem obigen Titel wöchentlich wenigstens ein Bogen veröffentlicht.
Bei der Auswahl des Stoffes wird dahin gestrebt, daß der Leser zu den schwebenden
Tagesfragen das statistische Material, daß der Geschäftsmann über Eisenbahnen, Banken
u. Dgl., über die Erzeugnisse und Bedürfnisse des Auslandes und über die Veränderun¬
gen in Zollgesetzen genauen Bericht erhalte. Am Schlüsse jeden halben Jahres wird
ein Jnhalts-Verzeichnisi beigegeben und diese Wochenschrift hierdurch zu einem Reyer<
torium von bleibendem Werthe gemacht." Das Unternehmen ist nicht nur seinem Plan
nach von Wichtigkeit, es wird auch vortrefflich ausgeführt. Otto Hübner bat in
ausgezeichneter Weise das Talent, aus der Masse von Zahlen und statistische» Notizen
das Interessante und Schlagende deutlich und anziehend hervorzuheben. Die bis jetzt
erschienenen Nummern der Zeitschrift enthalten eine Anzahl von Uebersichten und Zu¬
sammenstellungen, die man nicht besser wünschen kann; z. B, in Ur. den Artikel:
„die östreichische Nationalbank," „über Frankreichs Finanzen" n. s. w.
Kunst-Jonriial, Unterhaltungen und kritische Mittheilungen aus dem Kunstleben
der Gegenwart, redigirt von Alexander Bauet. Ein kleines Blatt, monatlich in zwei
Nummern, welches sich die Aufgabe stellt, Freude und Verständniß an der bildenden
Kunst der Gegenwart in weiteren Kreisen zu verbreiten. Der billige Preis des Blattes
(1ö Ngr. für das Quartal) und die ernste Kunstliebe des Redacteurs geben ihm die
Aussicht auf eine weite Verbreitung, und wir würde» das Unternehmen als nützlich
und fruchtbrüigcnd mit unbedingter Freude begrüßen, wenn nicht die jeder Nummer
beigelegten kleinen Stahlstiche der Payne'schen Kunstanstalt zu Leipzig zweifelhaft machten,
ob das tüchtige Streben des Redacteur'S und die Kunst-Industrie des Herausgebers
ohne Conflicte werden neben einander bestehen können.
Macchiavelli und der Gang der europäische» Politik, von Theodor
Munde. Zweite vermehrte Ausgabe. (Leipzig, Dyk). — Die zweite Ausgabe deutet
bereits an, daß der Verfasser sein Publicum gesunden hat. Der Grund seines Erfolgs
liegt wol in der geschickten Art und Weise, mit der er die mannichfaltigste» Thatsachen
combinirt, und einen gewissen Zusammenhang der Ideen darin entwickelt. Für eine
wissenschaftliche Ergründung eines Gegenstandes ist ein solcher Weg nicht geeignet, aber
er interessirt, und wenn wir uns so ausdrücken dürfen, amüsirt das größere Publicum, zumal
da ihm durchaus keine schwierige Probleme vorgelegt, und keine übertriebenen Kenntnisse
zugemuthet werden. — In der zweiten Ausgabe hat Herr Mundt als Anhang eine
Darstellung des Napoleonismus hinzugefügt, und diesen, den er ganz mit Recht mit
den, System des Macchiavelli in Parallele stellt, ziemlich scharf kritisirt. Um so mehr
muß es Wunder nehmen, daß er sich veranlaßt fühlt, von dem constitutionellen Princip
in den verächtlichsten Ausdrücken zu reden. Wenn das ein Einzelner thäte, wäre es
schon ein schlimmes Zeichen; da es aber heut zu Tage Mode ist, daß angeblich conser-
vative und angeblich demokratische Schriftsteller darin wetteifern, so darf man nicht ab¬
lassen, immer von Neuem auf die Verkehrtheit und völlige Absurdität solcher Polemik
hinzuweisen. Unter constitutionellen Staat versteht man nichts Anderes, als ein System,
den Willen der Negierung dnrch eine gesetzlich geordnete Gewalt zu beschränken. Daß
die Nothwendigkeit einer solchen Beschränkung von den Anhängern des Säbelregimcnts
geläugnet wird, ist ganz in der Ordnung; daß aber auch die Demokraten sich dazu
hergeben, zeigt von ihrer gänzlichen Gedankenlosigkeit, denn auch in einer Republik ist
der EonstitutionalismuS nothwendig, denn auch in einer Republik kann sich das gesammte
Volk, das heißt die in einem Ländcrcvmplcx vereinigten Individuen unmöglich selbst
regieren; es muß auch hier eine Regierung bestellt werden, und diese kann wenigstens
zu Überschreitungen geneigt sein, es muß also auch hier eine gesetzlich geordnete Ge¬
walt eingerichtet werden, die solche Ueberschreitungen unmöglich macht. Daß aber eine
solche Gewalt aus dem Volte hervorgehen, also von ihm gewählt werden muß, und daß
ferner das Wahlrecht eine gewisse Organisation, mithin eine gewisse Beschränkung (wenn
sie sich auch mir auf die Frauen und Unmündigen bezieht) erheischt, darüber kaun ja
gar kein Streit obwalten. Also mit solchen allgemeinen Angriffen gegen den Constitu¬
tionalismus arbeitet mau nur der Gedankenlosigkeit und den Launen der Masse und
damit der Willkürherrschaft in die Hände. —
Die Staaten im Stromgebiet des La Plata, in ihrer Bedeutung für
Europa, von l>>. Freiherr,, von Reden. Darmstadt, 1852. Gustav Jonghaus. —
Die Veranlassung zu dieser nützlichen Schrift war die mangelhafte Kenntniß der Staaten
im Stromgebiet des La Plata und der Wunsch des Verfassers, jene Gegenden der
Aufmerksamkeit der Auswandernden- zu empfehlen. Der rühmlich bekannte Verfasser
zeigt in der Vorrede an, daß er mich eine Wandkarte des Stromgebiets des La Plata
berichtigt nach den neuesten Nachrichten, in der Baucrkcllcr'schen Landkartenanstalt zu Darm¬
stadt besorgt habe. Nach allgemeiner Betrachtung der geographischen Verhältnisse und
einem kurzen Abriß der Geschichte dieser Länder folgt eine besondere Betrachtung der
Republiken von Uruguay, Paraguay, Euere Rios und Corrientes, des Argentinischen
Bundes und der brasilianischen Provinzen Katharina und Rio grande; zum Schluß
eine Darstellung der merkantilischen und Verkehrsverhältnisse dieser Staaten, Tabellen
über Ans- und Einfuhr n. f. w. Da wir in neuester Zeit kein Werk haben, welches
dem größer» Publicum in übersichtlicher Weise die Staatsverhältnisse dieses Theils von
Südamerika erklärt, dessen politische Kämpfe in unsren Zeitungen mit mehr Ausdauer
als Genauigkeit in Form von dreizeiligen Notizen besprochen werden, so ist das kleine
Werk als ein sehr willkommenes und nützliches Handbuch zu begrüßen. —
Eine amerikanische Expedition, bestehend ans 13 bewaffneten Fahrzeiten,
darunter das Linienschiff Vermont von 96 Kanonen, einige Korvetten erster
Klasse sMops ok war), t Dampffregatten und mehrere andere Fahrzeuge, zustimmen
mit 330 Stück meist schwerem GeschO, und 4000 Mann Besamung el»habile»lich
700 Marinetruppeu, ist gegenwärtig unter Segel, um von der japanischen Re¬
gierung Genugthuung für verschiedene amerikanischen Schissen widerfahrene Uulull
zu verlangen, und einen Versuch zu machen, Zutritt in dem seit 200 Jahren der
europäischen Civilisation verschlossenen Lande zu gewinnen. Nur die Chinesen
und die Holländer besaßen bisher das Privilegium eines, wenn auch Stahr be-
schränkten Handelsverkehrs mit Japan, und die Versuche anderer Nationen,
namentlich der Russen und der Engländer, mit den Japanesen Verbindungen an¬
zuknüpfen, sind mit unbeugsamer Consequenz und zuweilen mit blutiger Strenge
zurückgewiesen worden. Als die Portugiesen ISjZ das Land entdeckten, fanden
sie die gastlichste Aufnahme, das Christenthum gewann durch die aufopfernden
Bemühungen der Jesuiten rasche Ausbreitung, und Japan schien bereit zu sei»,
in die Wirkungssphäre der europäischen Civilisation eiuzuieeteu, als die Jesuiten
sich unkluger Weise in die inneren politischen Händel Japans mischte», sich auf
die Seite des unterliegenden Prätendenten stellte», und in seinem Untergang sich
und die zahlreichen einheimischen Christe» verwickelten. Die Holländer, welche
die aufrührerischen Christen mit hatten besiege», helfen, waren die einzige» Euro¬
päer, die im Lande bleibe» durften; im Uebrigen wurden von da an die Aus¬
länder eben so streng ans Japan, wie die Japanesen von dem Auslande aus¬
geschlossen. Ward ja ein fremdes Schiff vom Sturme an die ungastliche» Küsten
Japans geworfen, so wartete der Schiffbrüchigen anstatt Hilfe Einkerkerung, »ut
trieb es die Noth in einen japanischen Hafen, so erhielt es sofort Befehl, wieder
abzureisen, und die Nichtbeachtung dieses Befehls war für die Ungehorsamen der
Tod. Eben so traf die Todesstrafe den Japanesen, der mit ihnen verkehrte; Tod
traf den Japanesen, der auf einem Versuch, sein Vaterland zu verlassen, ertappt
wurde, der, nachdem ihm das stürmische Meer in ein fremdes Land verschlagen,
wieder in seine Heimath zurückzukehren wagte. Seit 1640 besteht dieses Interdict,
und mit unerheblichen Ausnahmen ist es noch keiner Nation gelungen, den Bann
zu lösen. Jetzt versucht das jüngste Kind des großen germanischen Vvlkcrstammes
das in Japan, was seinem ältern englischen Bruder ebenfalls durch Waffengewalt
in China gelungen ist, und wir sind vielleicht noch Zeugen des Unterganges eines
Staatswesens, das selbst in dem unvollkommenen Bilde, welches wir uns von
demselben machen können, unser höchstes Interesse erregt.
Bekanntlich haben die Holländer ans Desima, einer kleinen Insel im Hafen
von Nangasaki, eine Faktorei, wo sie in strenger Absperrung und unter ängst¬
licher Aufsicht ihre» Verkehr mit Japan betreiben. Den bei dieser Faktorei an¬
gestellten Aerzten verdanken wir den besten Theil unserer Nachrichten über das
Land, und wir nennen hier den Westphalen Dr, Kämpfer, einen scharfsichtigen
und zuverlässigen Beobachter, den Schweden Thunberg und or. von Siebold,
dessen schönes Kupferwerk uns mit den Landschaften und den Bewohnern des
seltsamen Landes wahrhaft vertraut macht. Der Text ist ein wahrer Schatz vou
Materialien. Außerdem besitzen wir »och die holländischen Werke über Japan
von Döff, Meylan und Fischer, des Russen Golvwnin Bericht über seine mehr¬
jährige Gefangenschaft bei den Japanesen, und einige aus dem Japanesischen
übersetzte Annalen. Die mit der holländischen Faktorei in Verbindung stehenden
Schriftsteller hatten natürlich von Allen die beste Gelegenheit, Beobachtungen zu
machen — theils dnrch den beständigen Verkehr mit den zahlreichen japanesische»
Dollmetschern, die zwar eidlich verpflichtet sind, Nichts über Japan mitzutheilen,
es aber mit ihrem Eide nichts weniger als genau nehmen, theils dnrch die alle
vier Jahre stattfindende Reise nach Jeddo, um dem Hofe des Sjogun den her¬
kömmlichen Tribut zu überbringen. Sie liefern uns daher anch die schätzbarsten
Beiträge zur Kenntniß vou Japan, und mau kann sich aus ihnen ein leiblich
genaues Bild von den japanesischen Zuständen machen, das wir unseren Lesern
in einer Skizze vorzulegen gedenken.
So anomal erscheinen dem Europäer das japanesische Volk und der japanesische
Staat, daß es ihm schwer wird, sich in seine Eigenthümlichkeiten hineinzufinden.
Die schroffen Gegensätze in dem Charakter des ersteren machen es zu einem
Phänomen unter de» in Weichlichkeit oder Barbarei versunkenen übrigen Volks-
stämmen Asiens, ans die der Japanese anch mit der Verachtung eines Aristokraten
herabsieht. Er ist kriegerisch und doch nicht ervbernugösüchtig, so kriechend gehor¬
sam gegen die Obrigkeit wie ein Spießbürger von Naugting, und doch ebenso
rebellisch und widerspenstig wie ein Reichstädter des Mittelalters, wenn diese
Obrigkeit die ihr von tausendjährigem Herkommen gesetzten Schranken über¬
schreitet; er holt sich eine Gattin aus einem Hause, wo in andern Ländern nur
die Verworfensten des weiblichen Geschlechts zu finden sind, aber beurtheilt eine
Verletzung der ehelichen Treue mit der Streuge eines Puritaners und rächt sie
mit der unerbittlichen Härte eines spanischen Hidalgo; er ist nicht religiös im
Herzen, aber ein genauer Beobachter aller gottesdienstlichen Gebräuche; grausam
im Strafen, aber als Privatmann höchst abgeneigt, Jemandem Schmerzen zu
macheu; sauft und höflich im geselligen Verkehr, aber rachsüchtiger und nachtra¬
gender als ein Corse; höchst begierig und sähig, seiue Kenntnisse in den Künsten
und Wissenschaften auszudehnen, aber principiell abgesperrt von allen Nationen,
welche ihm allein den so heiß gewünschten Unterricht ertheilen könnten.
Die Regierung ist der Theorie nach absolut, aber in der Wirklichkeit auf's
Aeußerste beschränkt durch eifersüchtig controlirendc Behörden, mächtige Fcudal-
fürsten, und eine jede Selbstthätigkeit unmöglich machendes Ceremoniell. An der
Spitze derselben steht nominell der Mikado, von Europäern auch zuweilen fälsch¬
lich Dairi genannt. Dairi ist der Name seines Hofes, und die Japanesen geben
dem Regenten manchmal den Titel Dairi sana, d. h. Herr des Dairi. Der
Mikado stammt direct von Ziu-ma-den-wu, dem Gründer des Dairis oder des
Palastes der Sonnengöttin, nach der japanesischen Mythe ein Sohn des letzten
irdischen Gottes der Japanesen, nach Klaproth's Vermuthung ein chinesischer
Krieger und Eroberer, der 660 vor Chr. regierte.
Mehrere Jahrhunderte lang waren die Mikados, die Kraft göttlichen und
Kraft Erbrechts regierten, despotische Herrscher; und selbst lauge nachdem sie
aufgehört hatten, sich an die Spitze ihrer Heere zu stellen, und den gefährlichen
Hcerbefehl Söhnen und Verwandten überlassen hatten, blieb ihre Macht noch
unbeschränkt und unbestritten. Die bei den Mikados einreißende Sitte, so früh¬
zeitig abzudanken, daß ihre Söhne die Regierung noch als Kinder übernahmen,
während sie selbst als Vormund ihres Nachfolgers sortregierten, mag den ersten
Anstoß zu allmählicher Schwächung ihrer Macht gegeben haben. Endlich gegen
Mitte des 12. Jahrhunderts nach Christus dankte ein mit der Tochter eines
mächtigen Reichsfürsten vermählter Mikado zu Gunsten seines dreijährigen Sohnes
ab, und der ehrgeizige Großvater des neuen Mikado übernahm die Regentschaft
und kerkerte den abgetretenen Herrscher ein. Daraus entstand ein langer Bürger¬
krieg, in welchem Uoritomo, ein berühmter Held und Heerführer, auf der Seite
des eingekerkerten Exmikados kämpfte, ihn befreite und den Usurpator verjagte.
Der Retter der Dynastie erhielt den Titel 8in> et-ü Sjossun, „Oberfeldherr gegen
die Barbaren"; und war als Stellvertreter des Souverains 20 Jahre lang that¬
sächlich Regent des Reichs. Bei seinem Tode war seine Macht bereits so befestigt,
daß er seinen Titel, seine Wurde und seine Macht auf seinen Sohn vererben konnte.
Eine lange Reihe von unmündigen Mikados kräftigte die Macht der Sjoguns,
und ihr Amt wurde bald so entschieden erblich, daß die Annalen des Reichs von
abdankenden Sjvgunö, und von Prätendenten der Sjognnswnrde sprechen. Das
Verhältnis; zwischen dein Neichsfeldherrn und dem Mikado gestaltete sich ungefähr
eben so, wie das der fränkischen Hausmeier zu den Merovingern — legitimer
Fürst war der Mikado, der anch noch das Schciurecht besaß, den Sjogun zu er¬
nennen, im Besitz aller nützlichem Regierungsgewalt waren die Sjoguns, die
Nachkomme» Noritomo'ö. Gegen Mitte des 16. Jahrhunderts kämpften zwei
Brüder ans V^'domo'S Geschlecht um die Würde; die Fürsten des Reichs nahmen
Partei, oder benutzten die Verwirrung, um sich unabhängig zu machen, und ein
verheerender Bürgerkrieg wüthete durch ganz Japan. Im Verlaufe des Krieges
kamen beide Brüder um's Leben, und die Reichsfürsten stritten sich jetzt unterein¬
ander um die erledigte Würde. Der mächtigste und fähigste von ihnen, Nobu-
uaga, Fürst von Owari, trug, unterstützt von einem tapfern Krieger niederer Her-
kunft, Hidejosi, den Sieg über alte Mitbewerber davon, und der Mikado mußte
ihn in einer Würde bestätigen, die er ihm zu versagen zu ohnmächtig war.
Hidejosi'6 Dienste wurden durch eine hohe Militairwnrde belohnt. Nach einige»
Jahren' fiel Nobnnaga durch die Hand eines ehrgeizigen Nebenbuhlers, der da¬
durch in den Besitz der Sjegunwürde gelangte. Aber auch er kam zu einem gewalt¬
samen Eude, und in der nnn folgenden allgemeinen Verwirrung bemächtigte sich
Hidejosi später Taiko sana genannt) der Macht, die er bis zu einer, bis dahin
beispiellosen Unbeschränktheit ausdehnte. Er raubte dem Mikado die wenigen ihm
noch übrigen Reste von Rcgiernngsbesugnissen, »ut machte ihn zu einem bloßen
Schaltenkaiscr; er unterjochte die einheimischen Fürsten; er machte Korea zinsbar,
und bereitete einen Kriegszug gegen China vor, als er 1398 starb. Zu
seinein Nachfolger hatte er seinen dreijährigen Sohn Hidejvri bestimmt, und
glaubte ihm fein Erbe am besten zu sicherm, wenn er ihm den mächtigen
Fürsten von Mstava, Jejassama, seinen vertrauten Freund »ut Rathgeber, zum
Vormund, und dessen Enkelin zur Gemahlin gab. Aber anstatt wie er dem ver¬
storbenen Sjognn geschworen, den Gemahl seiner Enkelin im Besitz des Thrones
zu erhalten, strebte der ehrgeizige und ränkevolle Jejassama selbst nach der
Sjogunwürde, und überzog den Sohn seines Wohlthäters mit Krieg. Er endigte
mit einer vollständigen Umwälzung, in der zum erstem Mal auch europäische In¬
teressen mit ins Spiel kamen. Als nämlich die Portugiesen 1563 Japan entdeckte»,
wurden sie freundlich aufgenommen, und durste» sich im Lande niederlassen. In
ihrem Gefolge stellten sich bald die Jesuiten ein, deren Missionsbemühnugeu von
Seiten der Behörden nicht die mindeste Behinderung, und bei dem Volke so
großen Anklang fanden, daß man zu Anfang deö 17. Jahrhunderts 200,000
Christen, darunter selbst hohe Würdenträger, in Japan zählte. Selbst der all¬
mächtige Sjogun Hidegosi war den Jesuiten nicht abhold, und vo» seinem Sohne
hofften sie sogar mit Grund, daß er sich zum Christenthum« bekehren, und dasselbe
zur Herrschaft im Lande bringen werde. Als daher Jejassama sich gegen Hidejori
empörte, traten die japanischen Christen ans die Seite des letzteren, und die
Jesuiten ermunterten sie in ihrem Widerstand. Jejassama aber trug den Sieg
davon, und als nach Hidejvri's vollständiger Niederlage die Christen die Waffen
noch nicht niederlegten, wendete sich der ganze Zorn des Usurpators gegen sie.
Ihre Verfolgung endigte erst unter seinem Nachfolger nach einem neuen Aufstand
mit dem Blutbade von Simabara 1638, der gänzlichen Ausrottung aller Christen,
der Vertreibung aller Portugiesen, und der gänzlichen Absperrung Japans vom
Auslande, die seitdem Staatsgesetz ist. Nur die Holländer durften unter großen
Beschränkungen bleiben , weil ihre Artillerie den Untergang der japanischen Christen
ans Simabara entschieden hatte. Jejassama setzte als Sjogmi die Politik Taiko's
fort; er brach die Macht der einheimischen Fürsten vollständig, beraubte viele
ihrer Besitzungen und verschenkte dieselben an seine Anhänger und jüngeren Söhne,
und versetzte den Mikado in den Zustand vollständiger Bedeutungslosigkeit und
Ohnmacht, der noch jetzt fortbesteht. Seine Nachkommen sind gegenwärtig noch
im Besitz der Sjogunwnrde.
Wir mußten dieses Stuck japanesischer Geschichte hier einschalten, um die
allmählige Einschränkung der Macht des Mikado und sein Verhältniß zum Sjo-
gun begreiflich zu machen.
Der Mikado, der Abkömmling der Heidengötter der Japanesen, die Jncar-
nation der die Welt regierenden Sonnengöttin, würde nach japnnesischcr Staats¬
praxis sich herabwürdigen, wen» er sich uur im Mindesten um irdische Angelegen¬
heiten bekümmern wollte. Er wird daher über keine politische Maßregel zu
Rathe gezogen und er verrichtet keine SouverainetätShaudluug, die nicht religiöser
Art ist. Er versetzt große Männer nach ihrem Tode unter die Götter, aber der
Sjogun überhebt ihn der Mühe, die dieser Ehre Würdigen selbst auszusuchen.
Er verleiht die Aemter seines Hofes, eine echte geistliche Hierarchie, die wegen
ihres nomineller Ranges und ihrer Heiligkeit für die Fürsten des Reichs, für die
Minister des Sjvguu's und für den Sjogun selbst ein Gegenstand des Ehrgeizes
sind. Er bestimmt die Tage, an welchem gewisse bewegliche religiöse Feste gefeiert
werden sollen, und entscheidet streitige Glaubensfragen, wie er z. B. durch sein
inappelables Urtheil festgestellt hat, daß die Teufel nicht nur von grüner, sondern
auch von weißer, schwarzer und rother Farbe sind. Außerdem verrichtet er all¬
täglich eine RegicrungShandlnng, in der er in Folge seiner theilweisen Identifi¬
cation mit der Sonnengöttin ebenso sehr als der Schutzgott, wie als der
Beherrscher von Japan sich darstellt. Er sitzt alltäglich eine gewisse Anzahl
Stunden ans seinem Throne, und zwar unbeweglich, damit er nicht etwa durch
Verwenden seines Kopfes über den Theil des Landes, wo er hinsieht oder von
dem er wegblickt, ein Unglück bringe; durch diese Unbeweglichkeit erhält er die
Ruhe und Stabilität des ganzen Reiches aufrecht. Wenn er die erforderliche An¬
zahl von Stunden gesessen hat, überläßt er seinen Platz seiner Krone, welche
die übrigen Stunden des Tages und der Nacht als sein Stellvertreter ans dem
Throne liegen bleibt.
Die Ehren, welche dem Mikado erwiesen werden, sind ebenso außerordent¬
lich, wie seine Stellung und seine Ansprüche, und erinnern alle an seine halb-
göttliche Natur, wem halbgöttlich genügend einen so hohe» Grad von Göttlich¬
keit ausdrückt, daß dem Glauben der Japanesen nach sämmtliche Kamiö oder
Götter, dem Mikado jährlich einen Besuch abstatten, und einen Monat an seinem
Hofe verweilen. Während dieses Monats, welcher der Gottlose (im wirklichen
Sinne) heißt, besucht Niemand die Tempel, da man sie für verlassen hält. Das
ganze Ceremoniell zielt lediglich dahin, die Heiligkeit des Mikado nnbeeinträchtigt
zu erhalten. Damit sein heiliger Fuß nicht den Erdboden berührt, kann er sich
nur, auf den Schultern seiner Hofbeamten getragen, von Ort zu Ort bewegen.
Damit der Blick uuhciliger Augen ihn uicht beflecke, verläßt er niemals seinen
Palast, Nach den meisten Berichten werden Haar, Bart und Nägel nie von der
Scheere berührt, um seine heilige Person nicht zu verstümmeln, wogegen Kämpfer
behauptet, daß das Beschneiden seines Bartes und seiner Nägel, während des
Schlafes, durch fromme Gläubige stattfinden darf, welche sich auf diese Weise die
kostbaren Reliquien stehlen.
Alles was der Mikado trägt oder berührt, muß beständig neu sein. Kein
einziges Kleidungsstück trägt er zum zweiten Mal; die Schüsseln und Teller, in
denen seine Speisen aufgetragen werden, die Becher, ans denen er trinkt, müssen
bei jeder Mahlzeit, ebenso wie die Geschirre, in denen das Mahl bereitet wird,
durch neue ersetzt werden. Aber was der Mikado ablegt, kommt in keines
Meuscheu Besitz. Was für ihn bereitet ist, selbst die Speisen, die ihm zum
Mahle dienen sollen, ist dadurch so geheiligt, daß menschliche Berührung es nicht
profaniren darf. Seine abgelegten Kleider zu tragen, von seinen Tellern zu essen,
in seinem Geschirr Essen zu bereiten, oder selbst die Brosamen von seiner Tafel
aufzulesen, würde die Rache des Himmels auf den Gottcsschäuder herabrufen.
Um jeder Gefahr dieser Art vorzubeugen, wird jeder Gegenstand, der einmal auf
irgend eine Art für den Mikado verwendet worden ist, sofort zerbrochen, zerrissen
oder ans andere Weise vernichtet; seine Kleider, die von einer, jedem andern
Japanesen verbotenen Farbe sind, werden verbrannt, und ans dieser Sitte folgt
eine Eigenthümlichkeit, die sich schlecht mit der hohen Stellung des Himmelssohnes
verträgt. Der Sjvguu muß den Mikado erhalten, und da die Subsidien aus
Jeddo (der Residenz des Sjoguns) nicht allznreichlich fließen, so hilft man sich
bei der Nothwendigkeit, Alles was der Mikado benutzt, täglich und stündlich zu
erneuern, dadurch daß Kleidung, Geschirr, Hausrath u. s. w. vom billigsten und daher
gröbsten Stoffe ist.
Der Mikado dankt sehr häufig ab, und ein solcher Thronwechsel wird durch
das ganze Reich verkündet; regiert aber der Kaiser bis zu seinem Tode fort, so
ist die Verkündigung dieses Vorfalls keine so einfache Sache. Man verheimlicht
den Tod des Mikado ans das Sorgfältigste, bis der Erbe sicher auf dem Throne
sijzt; und dann wird der neue Mikado mit dem Zusatz proclamirt, daß fein Vor¬
gänger verschwunden ist. Das gemeine, menschliche Loos des Sterbens kann eine
so göttliche Person nicht treffen.
Um das Aussterben des halbgöttlichen Stammes zu verhüten, hat der Mi¬
kado, der Einzige in Japan, dem Polygamie erlaubt ist, zwölf Weiber. Erwählt
sich dieselben für gewöhnlich ans den Damen seines Hofes, und sie zeichnen sich
vor andern japanesischen Frauen durch ihre Tracht ans. Ihre Kleider sollen so
lang und weit, und durch Gold- und Silberstickereieu so schwer und steif sein,
daß sie sich kaum in denselben bewegen können. Die Kleider des männlichen und
weiblichen Hofstaates sind ebenso unbequem, weit und lang. Das Leben am
Dairi ist übrigens, beiläufig gesagt, sehr ruinös, denn die Gehalte, die theils
von Douuünen herrühren, theils von dem Sjogun bezahlt werden, reichen für
den zu machenden Aufwand uicht aus. Die Grvßbeamten müssen ihren Ehrgeiz,
eine der hohen Würden am Hofe zu bekleiden, meistens mit dem besten Theile
ihres Vermögens bezahlen, und die geringern Beamten müssen einen Nebenver¬
dienst haben, um leben zu können. Sie machen und verkaufen Strvhkörbchc»,
lackirte Tischchen, Hufeisen und Aehnliches.
Mit so niedern Beschäftigungen geben sich übrigens blos die untern Beamten
aus Noth ab; sonst ist der Hof des Mikado gerade der Ort, wo die schönen
Wissenschaften und Künste den Hauptgegenstand der Beschäftigung bilden, während
man am Hose von Jeddo mehr den ernstern Wissenschaften obliegt. Die be¬
rühmtesten Poeten, Geschichtsschreiber, Moralphilosophen u. s. w. sind stets unter
den männlichen und weiblichen Mitgliedern des Dairis, wo sie eine Art Akademie
bilden. Die Frauen widmen sich mit Vorliebe der Musik. DaS Kalciidermacheu
war früher ebenfalls eine Obliegenheit des Hofes von Miaco, gegenwärtig aber
besorgt es ein Gelehrter der Stadt.
Daß das harmlose Treiben des Mikado und seines Hofes nicht durch die
ehrgeizige Beschäftigung mit Politik gestört werde, ist die Sorge des Großrich¬
ters, den der Sjoguu zum Aufseher über das Thun und Treiben des Dairiö
bestellt; seine Stellung wird ihm durch die Lage seiner Wohnung, unmittelbar der
Dairipforte gegenüber, sehr erleichtert. Sein Amt ist jedoch nichts weniger als
angenehm. Die geringste Nachlässigkeit würde ihm den Zorn des Sjvgnns zu¬
ziehen, während allzu großer Diensteifer die Unzufriedenheit des Mikado erregen
würde, bei dem er officiell nur der bescheidene Repräsentant eines gehorsamen
Vicekönigs ist. In beiden Fällen bleibt ihm nnr der einzige Weg des Bauch-
anfschneidens übrig, das letzte Mittel aller in Ungnade gefallenen oder mit ent¬
ehrender Strafe bedrohten vornehmen Japanesen.
Der Sjognn, der den Mikado zum Schattenkaiser gemacht hat, ist aber anch
nicht mehr der allmächtige Feldherr, dem sein Degen die factische Ausübung der
Regierungsgewalt sichert, sondern er hat sich das durch die Kraft und Tüchtigkeit
seiner Vorgänger Eroberte allmählig wieder entschlüpfen lassen und ist gegenwärtig
wirklicher Macht fast eben so baar, dem profanen Auge des Publikums eben so
verborgen, und in ein eben so unentwirrbares Netz von Herkommen »ut Cere-
moniell verstrickt, wie sein nomineller Herr. Denn wir müssen hier bemerken,
daß den Japanese» heute noch der Mikado der einzige Kaiser ist, und daß ihnen
der Sjogun nicht als beigeordneter weltlicher Kaiser, wie man es in europäischen
Büchern ausgedrückt findet, sondern als formell untergeordneter Viceregent gilt.
Er hat auch dem Mikado jährlich Huldigung zu leiste», und zwar früher persön¬
lich, jetzt aber durch eine Deputation.
Der Sjogu» oder K»do (wie er manchmal gerann wird) restdirt in einem
geräumigen Palaste der größte» Stadt des Reiches, Jeddo. Nur äußerst selten
verläßt er den Umkreis desselben, den» außer den frühern jährlichen Reisen a»
den Hof in Miacv werden anch die dem Sjvgnn obliegenden religiösen Pilger¬
fahrten durch Deputationen verrichtet. Sich mit Regierungsgeschäfte» zu befassen,
ist seines Geistes unwürdig; und seine Zeit soll mit solcher Kunst besetzt sein, daß
er nicht einmal die nöthige Muse hat, sich mit den Reichsangelegenheiten zu be¬
schäftigen, selbst wenn die Neigung dazu vorhanden wäre.
Die Pflichten, welche das Hofceremo»leit dem Sjogun auferlegt, — Beob¬
achtung der Etiquette, das Entgegennehmer von Huldigungen und Geschenke»
von denen, welche dazu verpflichtet sind, an gewissen, häusig wiederkehrenden Fest¬
tagen — sind so vielfach, daß sie drei Personen vollauf beschäftige» köunten.
Eine Anzahl von Hofleuten, welche die beständige Umgebung des Sjognns bilden,
regelt diese wichtigen Ceremonie». Damit aber kein Gefühl von der Erniedri¬
gung in Folge der thatsächlichen Bedeutungslosigkeit dieser Srellung, keine Ahnung,
baß er gleich dem Mikado, uur der Schatte» eines Regenten sei, in der kaiser¬
liche» Brust auskomme, oder durch einen ehrgeizige» Günstling hi»el»gepflanzt
werde, wird der Sjogun und sein Hof beständig von den zahllosen Spionen deö
Staatsraths bewacht, in dessen Besitz sich gegenwärtig die wirkliche Executiv-
gcwalt befindet.
Nach Siebold besteht dieser Staatsrath aus 13 Personen, nämlich aus fünf
Räthen der erste» Klasse, die stets Fürsten sind, und ans acht Räthen zweiter
Klasse, die ans den Reihen des Adels gewählt werden. Noch einige andere
Minister findet man genannt, sie scheinen aber nicht mit im Staatsrath zu sitze»,
nämlich die drei geistliche» Richter, allem Anschein nach ^aler, aber mit der Rege¬
lung aller religiösen Angelegenheiten betraut, und die zwei Commissancn der aus-
waldigen Angelegenheiten, wie eS scheint eine Art Polizeiminister ganz der Natur
der Beziehungen der Japanesen zum Anstand angemessen. Die Räthe beider
Klassen werden in der Regel ans den Familien derjenigen Fürsten und Adeligen
gewählt, die sich in dem die Begründung der gegenwärtige» Dynastie der Sjo-
gnns begleitenden Bürgerkriege als Anhänger derselben ausgezeichnet haben. Den
Vorsitz führt ein Rath erster Klasse, der stets ein Nachkomme Imo-Kanon-no-
Kami ist, eines Ministers, welcher den Nachkommen des ersten Usurpators einen
ausgezeichneten Dienst geleistet hat. Dieser Vorsitzende des Staatsrathes führt
den Titel Reichsstatthalter, und scheint eine ähnliche, oder eher noch größere
Macht zu besitzen wie ein orientalischer Wessir. Alle anderen Staatsräthe und
jedes andere Departement der Verwaltung stehen unter ihm; ohne seine Mitmir--
fung kann nichts unternommen werden; und nach Einigen soll er für sich allein
auch die Macht besitzen, einen schlecht regierenden Sjognn ab und einen andern,
den gesetzlichen Erben natürlich, an dessen Stelle zu setzen; dies scheint uns
jedoch eine falsche Auffassung eines Verhältnisses zu sein, dies wir Sammlern von
staatsrechtlichen Curiositäten als eine ganz eigenthümliche Ausbildung des könig¬
lichen Veto's und der Ministcrverantwortlichkeit empfehlen können.
Der Staatsrath verrichtet alle Regierungsgeschäfte, entscheidet über jede
Maßregel, bestätigt oder cassirt jedes von einem kaiserlichen Statthalter ausge¬
sprochene Todesurtheil, ernennt zu allen wirklichen Regiernngsämtern, correspon-
dirt mit den Localbehörden, und muß bei jedem außerordentlichen Vorfalle, auf
den die bestehenden Gesetze oder das Herkomme» sich nicht anwenden lassen, zu
Rathe gezogen werden und seine Willensmeinung aussprechen, bevor selbst die
höchsten Localbeamten nur einen Schritt darin thun können. Jeder Rath hat sein
eigenes Departement, für das er in der Regel allein verantwortlich ist, aber bei
allen wichtigen Maßregeln hat der gesammte Staatsrath zu entscheiden. Sämmt¬
liche Beschlüsse werden dem Sjognn zur Sanction vorgelegt, die er in der Regel
ertheilt, ohne sich um die Bedeutung des Beschlusses zu bekümmern. Dennoch
besitzt er das Neckt, ein Veto einzulegen, nud sür diesen bei der gänzlichen poli¬
tischen Bedeutungslosigkeit des Herrn sehr selten vorkommenden Fall hat das Gesetz ge¬
naue Vorkehrung getroffen. Das Veto ist nickt absolut, el» Zeichen, daß der Sjognn
nicht als despotischer Herrscher betrachtet werde» darf, souocr» die beanstandete
Maßregel wird einem Schiedsgericht von drei Prinzen von Geblüt, unter denen
sich stets der Thronerbe befindet, wenn er mündig ist, vorgelegt. Fällt die Ent¬
scheidung dieses Familicnratties gegen den Sjognn ans, so bat er keine andere
Wahl als sofort abzudanken; fällt die Entscheidung gegen den Staatsrath, so
sind die Folgen weit tragischer; dem Präsidenten bleibt nichts übrig, als zu dem
gewöhnlichen Mittel unterliegender japanesischer Staatsmänner zu greifen, und sich
den Bauch aufzuschneiden, und seine untergeordneten Kollegen klenn am Allerbesten,
seinem Beispiel zu folgen. Bedenkt man, daß außer dieser beständig über den
Häuptern des Staatsraths schwebenden Möglichkeit, jeder Schritt jedes Einzelnen
von bekannten und unbekannten Spionen, 'die im Dienste von Vorgesetzten,
Untergebenen und Nebenbuhlern stehen, beobachtet wird, so wird man zugeben,
daß der Staatsrath in seinen Maßregel» sehr vorsichtig sein muß, um sich keine
Blöße zu gebe», die stets das Lebe» des gege» Gesetz oder Herkommen Ver¬
stoßenden gefährdet.
Wir kommen jetzt zu den Lehnssürsten des Reichs, deren Macht zu brechen
von jeher die Hauptsorge der SjogunS und ihres Staatsraths gewesen ist. Ur¬
sprünglich gab es 68 solcher Erbfürsten, aber der Staatsrath hat consequent die
Politik befolgt, sie durch Theilungen und Confiscationen zu schwächen, und da
dem Gesetz nach durch Hochverrat!) das LehnSeigenthum verfällt, so hat es wäh¬
rend des langen Bürgerkriegs nicht an Gelegenheit dazu gefehlt. Gegenwärtig
zahlt Japan 60i- besondere Verwaltungsbezirke, und sind in dieser Zahl sämmt¬
liche große und kleine Fürstentümer, Herrschaften, kaiserliche Provinzen und
kaiserliche Städte rin inbegriffen.
Die Fürsten, genannt Kot-svyn, oder Herren des Landes, zerfallen in zwei
Klassen, in die Dann» (die sehr hoch Geehrten), welche Vasallen des Mikado,
und in die Sai-mu (die Hochgeehrte»), welche Vasallen deö Sjognn sind. Beide
sind innerhalb ihrer Besitzungen nominell unumschränkte Herrscher; ihre Negie¬
rung ist der Form und der Organisation nach eine vollständig souveraine, und sie
besitzen in ihren adeligen Vasallen »ut deren Gefolge ein eigenes Heer. Aber
die Oberlehensherrschaft verstrickt die anscheinend souverainen Fürsten in el» solches
Netz von Vorsichtsmaßregeln, daß selbst der Mächtigste nichts gegen den Sjognn
und den Staatsrath unternehmen kann; und so heimlich und in's Kleinlichste
gehend ist die Ueberwachung jedes Schrittes ihres öffentlichen nud ihres Privat¬
lebens, daß das Abdanken zu Gunsten eines Sohnes nirgends so häufig vor¬
kommt als bei diesen japanischen Reichsfürsten. Ein regierender Fürst von höherem
Alter kommt in Japan niemals vor.
Bei allem äußern Prunk der Souverainetät wird die eigentliche Regierung
jedes Fürstenthums nicht von dem Fürsten oder von Ministern seiner Wahl be¬
setzt, sondern von zwei Gvlkaroö oder Secretaireu, die der Staatsrath von Jeddo
ernennt, nud von denen stets einer im Fürstenthum, der andere in Jeddo residirt;
dort bleibt auch die Familie des in der Provinz abwesenden Secretairs als Pfand
für seiue Treue zurück. In gleicher Weise werden alle hohen Provinzialstcllen
doppelt besetzt, und nur durch den regelmäßig wiederkehrenden jährlichen Wechsel
der Stellen sind diese Beamten in den Stand gesetzt, ein Jahr um das andere
mit ihrer Familie zu leben. Diesen ihrem nomineller Herrn aufgezwungenen
Creaturen ist es nicht gestattet, nach der Vorschrift des Fürsten, oder nach ihrem
eigene» Urtheil zu handeln, sondern sie sind lediglich Delegirte des Staatsraths,
aus dessen Mitte sie ihre Befehle empfange».
Entweder ein Jahr »in das andere, oder die eine Hälfte jeden Jahres sind
die Fürsten gezwungen, in Jeddo zu verleben, und blos bei dieser Gelegenheit
sehen sie ihre Familien, welche beständig in der Hauptstadt als Geißel zurück¬
bleiben. So lange die Fürsten in ihrem eigenen Gebiete, getrennt von ihren
Familien, verweilen, ist ihnen jeder Verkehr mit dein andern Geschlechte auf das
Strengste untersagt. Das Hofceremoniell, welches ihre Zeit ebenso vollständig
ausfüllt, wie die des Sjoguuö, ist ihnen von Jeddo vorgeschrieben. Sie dürfen
nnr zu festbestimmten Zeiten und in einer auf das Strengste vorgeschriebenen
Form außerhalb ihres Palastes erscheinen; ja, sogar die Stunde des Aufstehens
und des Schlafengehens ist von dem Staatsrath unverrückbar festgestellt. Daß
keine Verletzung dieser unleidlichen Beschränkungen dem Ange der Spione und
durch diese dem Staatsrath verborgen bleibt, weiß jeder Fürst recht gut; aber
einige Fürsten scheinen doch mächtig genug zu sein, sich von dieser heimlichen
Aufsicht verhältnißmäßig frei zu erhalten; und von dem Fürstenthum Satznma
wird erzählt, daß wenn sich auch manchmal als seltene Ausnahme ein Spion
hineinwagt, gewiß keiner lebendig wieder herauskommt, und daß die Regierung
von Jeddo, die ihre ungeschickten Diener nicht anerkennt, weder nach ihnen fragt,
noch ihr Schicksal rächt.
Die argwöhnische Centralregiernng begnügt sich aber noch nicht, ihre Lehns¬
fürsten mit einem auf das Vollständigste ausgebildeten Spionirsystem zu umgeben,
und sich ihrer Treue durch Geißeln zu versichern. Um jede Verschwörung gegen
den Sjvgun unmöglich zu machen, dürfen benachbarte Fürsten nie zu gleicher
Zeit in ihrem Territorium residiren, anßer wenn sie notorisch einander Feind sind,
in welchem Falle der Staatsrath Sorge trägt, ihre Feindschaft stets durch neuen
Stoff zu Streitigkeiten zu nähren. Der vorzugsweise eingeschlagene Weg, sie in
Gehorsam zu erhalten, ist jedoch, sie dnrch Armuth abhängig zu machen, und um
dieses zu bewerkstelligen, werden mancherlei Mittel angewendet.
Fast die ganze Heeresmacht des Reiches müssen die Fürsten erhalten; nicht
nur für ihr eigenes Gebiet müssen sie, im Verhältniß zur Große desselben, Trup¬
pen stellen und bezahlen, sondern auch für die kaiserlichen Provinzen, deren Ver¬
waltung direct der Staatsrath von Jeddo besorgt. So haben in Nangasaki,
das seit den letzten zwei Jahrhunderten das Monopol des auswärtigen Handels
genossen hat, (dessen Ertrag ganz allein zum Unterhalt des SjogunS, des Staats¬
raths, der Gouverneure und der Unterbeamten verwendet, und welches aus diesem
Grunde von einem Fürstenthum abgetrennt, und in eine kaiserliche Stadt ver¬
wandelt worden ist) die Bewachung der Bai die beiden benachbarten Fürsten
von Fizen und von Tsitnzeu ganz allein zu besorgen. Der zwcihuudertjährige
Friede, dessen sich Japan seit der Einführung des Absperrungsystems erfreut, hat
natürlich die Nothwendigkeit, Truppen zu halten, sehr vermindert, aber weder die
Fürsten, noch die Unterthanen ziehen Gewinn von den dadurch ermöglichten Er-
sparnissen, denn was der Fürst, in Folge des herabgesetzten Etats, weniger für
seine Truppe» ausgiebt, muß er in den kaiserlichen Schatz nach Ieddo zahlen.
Wenn nöthig, nimmt man noch zu andern Mitteln, die Großen des Reichs
arm zu machen, seine Zuflucht. So nöthigt man z. B. die Fürsten während ihres
Anfenthaltes am Hofe einen übermäßigen Aufwand zu machen, und mit dem aus¬
schweifendsten Lurus aufzutreten. Sollten alle diese Mittel bei einem außerge¬
wöhnlich reichen oder umsichtigen Fürsten noch nicht anschlagen, so hat man noch
zwei andere in Reserve, die ihren Zweck gewiß nicht verfehlen. Entweder erweist
der Sjoguu seinem unangemessen reichen Vasallen die Ehre, in seinem Palast in
Jeddo sein Tischgast zu sein, oder er erlangt für ihn vom Mikado eines der hohen
Aemter am Dairi. Die mit der Bewirthung des Sjoguns, oder mit der Ueber¬
nahme eines hoben Dairiamtes verbundenen Ausgaben haben bisher immer selbst
den Schatz des reichsten Japanesen erschöpft.
Von den Herrschaften gilt, nur in kleinerem Maßstabe, ganz dasselbe wie
von den Fürstentümern.
Die als kaiserliche Domainen verwalteten Provinzen und Städte stehen unter
kaiserlichen Statthaltern, welche der Staatsrath ernennt, und deren Treue ma» sich auf
ähnliche Weise wie die der Fürsten versichert. Jede Statthalterschaft hat zwei Statt¬
halter; der eine hält sich in Jeddo ans, der andere in seinem Gouvernement, wahrend
seine Familie alö Geißel am Hofe bleibt, und er selbst alle den Beschränkungen
und Quälereien »uterworsen ist, unter welchen die Lchnsfürsten zu leiden haben;
alle Jahr wechselt er mit seinen College» in der Negierung ab. Die Statthalter
haben i» ihre» Provinzen dieselbe Autorität wie die Lehusfürstcu, oder vielmehr
wie die Secretaire derselben in den Fürstenthümern, außer daß ein Statthalter
ein Tobesuvtheil erst nach erhaltener Bestätigung aus Jeddo vollstrecken darf,
wogegen der Fürst das Neckt über Leben uni) Tod ohne diese Beschränkung besitzt.
Aber sowol Fürsten wie Statthalter scheue» sich Todesurtheile anzusprechen,
damit das Vorkommen lodeöwüröiger Verbrechen nicht ihrer Nachlässigkeit oder
schlechten Regierung zugeschrieben werde.
Den Statthalter unterstützt eine zahlreiche Bureaukratie, deu» es ist japane¬
sische Politik, so viel als möglich Personen ans den mittler» und höhern Stände»
anzustellen. Die Mitglieder derselben, sämmtlich vom Staatsrath ernannt, sind nicht
alle dem Statthalter verantwortlich, sondern zum Theil direct dem Staatsrath,
und alle sind denselben argwöhnischen Einschränkungen unterworfen, wie alle
übrigen Beamten, und von Spionen umringt.
Dieses Spionirsystem ist einer der eigenthümlichsten Züge des japanesischen
Staatslebens, und eine der stärksten Stützen der Regierung. Die Spione ge¬
hören allen Ständen an, und die Negierung mesß selbst Adlige, entweder dnrch
bestimmte Beuchte, bereu Befolgung der Betreffende nur dadurch umgehe» könnte,
daß er sich freiwillig den Bauch aufschneidet, oder dnrch die Hoffnung, die Stelle
desjenigen zu erhalten, dessen Schuld der Spion aufgedeckt hat, zu nöthigen, ihr
diesen übrigens nicht für entehrend gehaltenen Dienst zu leisten. Die unter dem
Statthalter von Nangasaki stehenden Spione sind berechtigt, zu jeder Stunde
des Tages und der Nacht Zutritt bei ihm zu verlangen, und wehe ihm, wenn
er sie nicht ans der Stelle vorlaßt, und dadurch sich der Gefahr aussetzt, daß
ihre Berichte ohne seine Vermittlung direct nach Jeddo gelangen. Aber außer
diesen offiziell angestellten Spionen giebt es noch heimliche, welche über den Statt¬
halter selbst Aufsicht führen, ohne daß er es weiß, und in „Meylan, Skizzen der
Sitten und Gebräuche der Japanesen" ist eine Anekdote mitgetheilt, welche eine
treffliche Illustration dieser Einrichtung abgiebt. „Der Hof in Jeddo hatte Klagen
über den Statthalter von MvtSmai vernommen, und er ergriff sofort seine Ma߬
regeln, hinter die Wahrheit zu kommen. Bald darauf erfuhr man, daß der Statt¬
halter abgesetzt sei, aber zum nicht geringen Erstannen der Stadt Matsmai erkannte
man in seinem Nachfolger einen Tabaksschneider, der vor einigen Monaten aus
dem Laden seines Herrn verschwunden war. Der Tabakschncider war ein vor¬
nehmer Adliger gewesen, der in dieser Verkleidung die ihm vom Staatsrath über¬
tragene Rolle eines Spions in Matsmai durchgeführt hatte." Man denke sich
einmal, Herr von K... N . . . müßte eine kleine Tabaksbandluug in Koblenz über
nehmen — wenn es in Köln wäre, würden wir Raveaux's verwaistes Cigarrengeschäst
empfehlen — um Stoff zur Anklage gegen seinen Borgänger zu sammeln, und
ans Herrn von Manteuffel's Gehör verwandelte sich, nachdem er sich von der
Schuld des Vorgängers überzeugt, der bescheidene Cigarreuhändler in den Ober¬
präsidenten der Rheinprovinz, dessen Stelle dnrch den Selbstmord des Herrn von
C...... erledigt wäre, dem alten Herkommen gemäß nichts übrig bliebe, als
sich, umgeben von seiner gestimmten Familie »ut seiner Dienerschaft, den Bauch
aufzuschneiden. Das ist ein Bild aus dem japanesischen Staatolcbeu.
Die städtische Verwaltung, Polizei n. s. w., steht unter einem zum Theil
erblichen Stadtrath, der eine große Anzahl Gasseumeister und Polizeidiener, Otto-
nas und Kasseros, beauftragt die Ruhe und Ordnung in der Stadt zu erhalten,
unter sich hat. Die Aufsicht wird thuen sehr dnrch die Sitte erleichtert, jede
Straße zu einer bestimmten Abendstunde mit einem Thor zu verschließen, und
ohne besondere Erlaubniß Niemand den Durchgang zu gestatten.
Das japanische Pvlizcisystem hat das ganze Land mit einem Netz von Be-
obachtungsposten überzogen. Jede Stadt und jedes Dorf ist in Gruppen von
fünf Häusern abgetheilt, deren Häupter für einander verantwortlich sind; jedes
ist verpflichtet, dem Kassero jedes, bei einem seiner Nachbarn vorkommende
Vergehn, und selbst jeden ungewöhnlichen Vorfall anzuzeigen, und die Anzeige
wird von dem Kassero vermittelst des Ottvna an den Gemeinderath befördert, so
daß man wohl sagen kaun, daß jede Hälste der Nation die andere beständig
als Spion überwacht. Sogar für das, was auf der Straße vor ihren Häusern
vorfällt, sind die Besitzer verantwortlich, und jede Vernachlässigung wird mit
Geldstrafe», Schläge», Einsperrung oder Hausarrest bestraft. Letzterer ist eine
sehr eruste Sache. Nicht nur der Schuldige, sondern anch seine ganze Familie
werden von allem Verkehr mit der Außenwelt abgesperrt, und zu diesem Zwecke
Fenster und Thüren vernagelt; der Beamte wird von Amt und Gehalt suspen-
dirt, der Arbeitsmann darf nicht arbeiten. Wie sich die Familie bei dieser
Entziehung aller Subsistenzmittcl ernährt, geht aus unsern Quellen nicht hervor.
Die japanischen Gesetze sind mit blutiger Strenge geschrieben, und nkenncn
nur sehr selten verschiedene Grade der Schuld an. Geldbußen werden nur bej
unbedeutenden Pvlizeivcrgchcn auferlegt, da nach der Meinung der japanischen
Gesetzgeber ihre allgemeinere Anwendung dem Reichen einen »»billige» Vorzug
vor den: Armen geben würde. Die Justizverwaltung wird als sehr unparteiisch
gerühmt, und wenn Staatsverbrechen strenger als andere bestraft werden, so liegt
dies daran, daß die Regierungsbeamten durch die geringste Nachsicht gegen
Staatsverbrechen ihren Kopf wagen würden, während Vergehen gegen Privat¬
personen nnr anf Antrag des Verletzten bestraft werden.
Die Todesstrafe, und selbst das Todesurtheil ziehen unfehlbar Vcnnögens-
Confiscativn für den Verbrecher, und Entehrung für seine Familie nach sich.
Aus diesem Grunde ziehen vornehmere Japanese», wenn sie eines Verbrechens
angeklagt, und sich der Schuld bewußt sind, die freiwillige Tödtung d»res Auf-
schlitze» des Bauches vor, da dadurch allem ferner» Verfahren ein Ende gemacht
wird. Kommt die Verhaftung dem Verbrecher zu unerwartet, und hat die Fa¬
milie Einfluß genug, um die Behörden zu bewegen, sich ihretwegen einiger Ge¬
fahr auszusetzen, so steckt man dem Gefangenen vor ergangenen Urtheil entweder
ein Messer zu, daß er sich nachträglich im Gefängnisse den Bauch aufschlitzen kann,
oder, da dies für die Beamten ziemlich gefährlich ist, man unterwirft den Gefangenen,
angeblich »in el» Bekenntniß zu erlangen, der Folter, und giebt dem Scharf¬
richter einen Wink, daß man die Sache vertuschen werde, wenn der Gefolterte
bei der Operation sterben sollte. Der Oberbchvrde wird in diesen« Falle gemeldet,
der Gefangene sei an einer Krankheit gestorben, und da er nicht überführt ist,
gilt er für nicht schuldig, und die Familie hat keine weiter« nachtheiligen Folgen
von seinem Tode zu befürchten. Die gelindeste Todesstrafe des überführten Ver¬
brechers ist die Enthauptung; außerdem kommen noch Kreuzigung, Verbrennung
und andere martervvlle Todesarten vor.
Wir haben zum Schluß nur uoch Ciuigcs über die Standesunterschiede unter
den Japanese» zu sagen. Die ganze Bevölkerung zerfällt in acht Klassen, die
zwar nicht so geschlossen wie Kasten, aber doch fast erblich sind, indem el» Ueber-
gang aus der eine» i» die andere dieser Klassen nnr unter sehr »»gewöhnlichen
Umständen vorkommt. Die erste Klasse sind die Koksin, oder Reichsfürsten,
von denen schon die Rede gewesen ist. Die zweite Klasse besteht aus den Kie-
rien, oder Adligen, die ihre Besitzungen als Lehm von den Fürsten oder Sjogun
besitzen, und dafür militärische Dienste leisten. Alle hohem Aemter, welche nicht
Fürsten zugetheilt sind, werden aus dieser Klasse besetzt, welche dadurch sehr
abhängig vom Hofe ist. Außerdem müssen die Adligen einen beträchtlichen Theil
des Jahres in Jeddo zubringen, was sie nicht allein zu beträchtlichen und
ihre Finanzen zu Grunde richtenden Ausgaben zwingt, sondern sie auch verlockt,
so wenig Truppen als möglich zu halten, um das Deficit einigermaßen zu decken.
So wirkt der Aufenthalt in Jeddo in doppelter Weise auf die Schwächung ihrer
Macht. Die dritte Klasse umfaßt die Priesterschaft der japanischen Siren- und
buddhistischen Religionen, und werden wir derselben bei einer spätern Gelegenheit
ausführlicher gedenken. Die vierte Klasse bilden die Scnnlai, oder Krieger, die
Vasallen des Adels. Da Japan sich seit 200 Jahren eines ziemlich ungestörten
Friedens erfreut, so ist ihr Dienst sehr leicht, und sie haben nur die nöthige
Mannschaft zu Wachen für deu Hof des Mikado, des Sjoguu und der Fürsten zu
stellen, die innere Ruhe aufrecht zu erhalten, und die Küste zu bewachen. Vor
der Absperrung von dem Auslande waren die Japanesen im übrigen Asten, wo
sie auf den Neislanf gingen, als Soldaten sehr geschätzt, jetzt ist diese Sitte
streng untersagt, und wir werden vielleicht von den Amerikanern erst erfahren,
inwiefern die lange Ruhe der Japanesen angeborne Tapferkeit beeinträchtigt hat.
Die Bewaffnung besteht ans Säbeln, Spießen, Pfeil und Bogen und Lunten¬
flinten. Einige Geschütze sind noch von den Portugiesen vorhanden, doch weiß
man nicht, ob die Japanesen von denselben Gebrauch mache». Diese vier Klassen
bilden den vornehmer» Theil der Bevölkerung, der berechtigt ist, zwei Säbel
und die Nakama, oder Uuterrockbeiukleider zu tragen. Die fünfte Klasse, niedere
Beamte und Aerzte, bildet ein Mittelglied, und darf ein Schwert und die Bein¬
kleider tragen. Die sechste Klasse begreift die Handels- und Kaufleute in sich,
und hier findet man den meisten Reichthum, obgleich die hohem Klassen auf
diese mit der größten Verachtung herabsehen, etwa wie der Edle des Mittelalters
auf den „schlechten Mann", oder den handeltreibenden Krämer. Die siebente
Klasse sind die Handwerker, die achte die Bauern und Taglöhner aller Art.
Die Bauern sind meistens Leibeigene, besitzen aber anch zum Theil ihr Land in
MetaPacht, d. h. sie genießen die Hälfte des Ertrags. Sie sollen dnrch
Steuern schwer bedrückt sein, und dnrch ihre Armuth in der tiefsten Erniedri-
gung erhalten werde».
Außer diesen acht Klassen giebt es noch eine quasi »»ehrliche Klasse, die
Gerber und alle Lederarbeiter, die Parias von Japan. Sie dürfen nicht mit
der übrigen Bevölkerung zusammen wohne», so»dem sind i» beso»dere Flecken
und Dörfer verwiesen, und kommen nur in die Stadt, um Hcukerdieuste zu
leisten. Spreche» sie auf einer Reise bei einem Gasthaus an, so dürfen sie nicht
über die Schwelle, sondern man setzt ihnen das Verlangte ans die Straße hinaus,
und das Gefäß, das sie berührt haben, wird zerbrochen oder weggeworfen. Bei
der Volkszählung werden sie ebenfalls nicht mit gerechnet, und was das Aller-
seltsamste ist, der Raum, den ihre Dörfer auf der Landstraße einnehmen, wird
als nicht vorhanden betrachtet, und der Reisende von der Post durch dieselbe»
gratis befördert.
Wenn ich vom Meister sofort zu seinem berühmtesten Schüler übergehe, so
geschieht dies vorzugsweise darum, weil Viele unsrer gewiegtesten Kritiker Kaulbach
unmittelbar ueben Cornelius, andere ihn gar über denselben stellen wollen und
er vor dem größern Publicum viel mehr und vortheilhafter besprochen wird, als
der Letztere. Man kann ihm schwerlich einen schlimmern Dienst leisten, da diese
Ueberschätzung den Widerspruch hervorruft, der sich von Seiten der Künstler
schon mit zum Theil maßloser Heftigkeit erhebt. Wie Sie wissen, kenne ich Keinen
von Beiden persönlich, Sympathien und Antipathien ans dieser Quelle haben
auf mein Urtheil schwerlich bedeutenden Einfluß — wenn ich Ihnen also meine
Eindrücke mittheile, so glaube ich wenigstens aus das Verdienst der Unbefangen¬
heit Anspruch machen zu dürfen. —
Allerdings befinden sich Kaulbach's bedeutendste neuern Arbeiten in Berlin,
aber einestheils habe ich dieselben früher gesehen, anderentheils siudet man hier
die Skizzen und Cartons zu den meisten derselben, so daß ein Urtheil über das
Ganze wohl erlaubt, wenn auch da und dort der Ergänzung bedürftig erscheinen
mag. —
Daß mau sich hier einer höchst bedeutenden künstlerischen Kraft gegenüber befinde,
läßt sich sofort erkennen, großer Blick, beträchtliche Herrschaft über die Mittel
der Darstellung, ein glänzendes Formeugedächtniß und eine viel ausgebildetere
Handhabung der Technik, als sie Cornelius eigen, das läßt sich keinen Augen¬
blick verkennen, — so wenig als ein am Schönsten und Besten ausgezogener
Geschmack. Sehen wir nun zu, wie das Alles verwendet wird. —
Muß man als ersten Charakterzug bei den Productionen des Cornelius die
Größe der Anschauung erkennen, so erscheint mir als solcher bei Kaulbach die
Eleganz, er will groß sein, er will es aber vor allen Dingen auch scheinen.
Während Cornelius f.ir gar keine Zeit oder vielmehr für jede arbeitet, istKaulbach
durch und durch modern, skeptisch, ironisch und ungläubig, während der erste
sich gar nicht um den Beifall bekümmert, scheint ihn der zweite nicht einen
Augenblick entbehre» zu können, und setzt wie ein Held der Bühne alle künstle¬
rischen Mittel in Bewegung, um ihn zu gewinnen. Das ist um se' mehr zu be¬
dauern, als er's gar nicht nothwendig hatte, ein Held braucht niemals deu Helden
zu spielen. — In seineu frühesten Composttioncn, dem Verbrecher ans verlorener
Ehre, dem Narrenhaus ?c. fesselt er durch fast melodramatische Mittel, es ist
eine Harte, eine Menschenverachtung und Verbitterung, eine Byron'sche Zerfallen-
heit in diesen Productionen, die für mich furchtbar zurückstoßend wirken, da ich
nicht eine Spur vou sittlicher Versöhnung darin zu finden vermag, und diese
Productionen uns demüthigen statt zu erheben. Ein so energischer Hohn konnte
damals nicht verfehlen, die Aufmerksamkeit zu erregen, jetzt findet wohl Jeder das
Carrikirte, Ucbertnebene und Unschöne desselben heraus.—- Ungefähr aus gleicher
Zeit stammen Einige der gelungensten Arbeiten des Künstlers in der Residenz und
anderwärts, eine Figur der Jsaar, die den wilden tückische» Charakter dieses
Gcbirgstrvms ganz vortrefflich wiedergiebt u. A. in. Einige Scenen zu deut¬
scher Dichterei i. d. Residenz ze. verdienen dagegen nnr dürftiges Lob, meines-
theils wüßte ich sie ebenso wie die Egmont und Klärchen, Poesie und Liebe, die
Illustrationen zu Goethe's und Schiller's Werken, die dnrch Kupferstiche auch
größern Kreisen bekannt geworden, nur als höchst unerquicklich zu bezeichnen.
Sie erscheinen bewußt und gesucht, gemacht, uicht gehöre»; nirgends ans einer
freien und freudigen Seele heransgcquollen, entbehren sie aller Unmittelbarkeit und
Frische dieser kostbarsten künstlerischen Eigenschaften. —
Um so glänzender» Erfolg hatte bald nachher die Komposition der Hunnen-
schlacht, die mit Recht den Grundstein zu des Künstlers großem Ruf legte und
auch meines Erachtens bis jetzt seine beste Arbeit geblieben ist, wo er am Reinsten
strebt und empfindet, fo wie sie allerdings allein schon hinreichte, um seinen
Namen der Vergessenheit zu entziehen, — wenn man auch nicht sagen tan», daß
die Kunst einen eigentliche» Fortschritt dadurch gemacht habe, da der Künstler
keine eigentlich selbstständigen Formen, einen eigenen Styl darin entwickelt, son¬
dern nnr den des Cornelius eleganter, salonfähiger, wenn ich so sagen darf, wieder-
giebt, aber anch die Kühnheit, Stärke und Originalität desselben vermissen läßt.
Immerhin bleibt es ein edles und ergreifend gemaltes Gedicht, um das der
Künstler hier die Nation bereichert, — es gelang ihm hier, wahr und edel zu
bleiben, weder kokett, noch theatralisch zu werden. Der Hunnenschlacht, die nur
grau in grau ausgeführt wurde, folgte die Zerstörung Jerusalems, von welcher
ich bei weitem kein so günstiges Urtheil zu fällen vermag. Es tritt hier znerst
ein Fehler entschieden hervor, der allen später» Compositionen zum Cyclus der
Weltgeschichte am Berliner Museum anklebt, die UeberMnng mit Motiven, die
Manier, Alles Mögliche in ein Bild zu packen, so daß man um jede Spontanei¬
tät des Eindruckes kommt, da mau el» paar Seiten lesen muß, ehe man recht
verstehen kann, was der Künstler sagen will. UeberMnng ist aber uicht Neich-
thun, sondern eher Armuth, und' so trifft man denn auch bei diesem Bilde ver¬
hältnißmäßig Wenig, was Einen recht erwärmt, die Bewunderer sind beständig
genöthigt, auf die kleine Christcngruppe im Bilde zu weisen, weil fast nichts
Anderes befriedigen kann. Die ganze Scene macht den Eindruck der Nbstchtlichkeit,
mau sieht die Mittel, durch die gewirkt werdeu soll, viel zu deutlich, als daß man
noch glauben, noch naiv empfinden könnte. So hat Kaulbach z. B. die vier
Propheten, die den Fall der Stadt voransverkündet, oben in einer Glorie an¬
gebracht, aber »icht etwa in voller Realität des Lebens, wie dies ein naiver
Künstler gethan hätte, wie es Raphael z. B. in der Dispata thut, sondern mir
in einem Nebel als wesenlose Schemen, als wenn er selbst nicht daran glaubte,
was nicht verfehlt, auch uus den Glauben daran zu rauben und uns das ganze
Motiv als die ganz überflüssige gemalte Moral des Stücks, als ein verstimmen¬
des Vorempfinden erscheinen zu lasse». Eben so wirkt auch die Ueberhäufung
der Mittel; wo Cornelius einen Engel mit dem Schwert, einen der in die Po¬
saune stößt, anbringt, zeigt uns Kaulbach deren sechs, die aber zusammen we¬
niger künstlerischen »ud ästhetischen Werth haben, als der einzige des Meisters.—
Da das Bild durch einen sehr gelungenen Kupferstich überall verbreitet und be¬
gänne ist, so will ich auf eine Kritik des Einzelnen eingehen, da deren Billigkeit
zu controlire» Jedem möglich wird. — Zunächst muß ich bemerken, daß der
Kupferstich schon darum einen bessern Eindruck macht, als das Gemälde, weil
das später zu berührende Kolorit desselben nicht stört, noch die Flausen der Be¬
handlung mancher Partien so empfindlich fallt. — Nichts desto weniger wird uns
die flüchtigste Vergleichung z. B. der Propheten mit ähnlichen Gestalten des
Cornelius zeigen, wie viel ärmer an Erfindung und Charakteristik jene sind,
was sich ganz vorzüglich bei den Motiven zu den Köpfen, oder zu den Ge¬
wändern zeigt, welche le^tern manieritt genannt werden müssen, ohne origeuell
oder großartig zu sein, da genau dieselbe Behandlungsart, derselbe Stoff, das
gleiche Machwerk, sogar dieselben Motive auf fast alle» Gestalten des Bildes
wiederkehren, und ein feineres Naturstudium, wie z. B. die Dispata des Raphael^
die Sybille» und Propheten des Michel Angelo so unübertrefflich zeigen, anch
nicht entfernt wahrzunehmen, sonder» die Conception durch die Ausführung über¬
all leerer geworden ist.
Eben so sehr läßt sich die Individualisirung der Gestalten vermissen, man
hat bei keiner die Empfindung, das Motiv derselben sei aus der Natur
geholt, sie gleichen sich alle, »ud contrastire» darum nur in Masse. Die Haupt¬
figur, der hohe Priester, der sich selbst ermordet, ist jedenfalls die mißlungenste
und kann weder großartig, noch schö» gedacht genannt werden, es ist ein häßlicher,
schlecht gezeichneter, aber ruhete»te»der Jude, durchweg widerlich, ohne die
Macht des Verhängnisses, das ihn trifft, irgend auszudrücken.
So können wir alle eiuzelue» Figuren durchgehen, ohne daß man im Stande
wäre, bei einer einzigen mit Liebe zu bleiben, sie ganz gelungen und befriedigend
nennen zu können. —
Ohne Zweifel würde ich diesen Tadel nicht so hart aussprechen, wenn ich
nicht andererseits an Kaulbach wirklich die Fähigkeit entdeckte, den berührten An¬
forderungen zu genügen, und es nur dem Mangel an Liebe bei Durchbildung des
Details, der Tendenz ihrer Schnellmalerei zuschreiben müßte, wenn es nicht
geschieht. —
Dieselben Einwendungen, die das erstürmte Jerusalem treffen, kann man
gegen den babylonischen Thurmbau und den Homer machen, wo uus überall so
Viel geboten wird, daß man nie recht weiß, wo zu greifen, und zuletzt Alles
liegen läßt, da das Bestreben, Jedem Etwas zu bringen, Jedem zu gefallen, zu
deutlich wird, ein Motiv, das andre todtschlägt, selten aber eins so schon und
eigenthümlich ist, daß wir uns recht gefesselt fühlen. —
Gehe ich nun zur technischen Ausführung über, so muß im Allgemeinen der
passende Styl, die correcte Zeichnung der schlanken Figuren, die schöne Bewegung
der Linien durchweg anerkannt werde», die uus überall den höchst bedeutenden
Künstler zeigen, wennauch, wieerwähnt, eigentlich selbständige Formen fehlen, eine
gewisse Magerkeit überall auffällt, und jene Ueberfüllung sich nicht nur in der
Menge der Figuren, sondern auch in der Häufung der Fciltenmvtive ?c. jeder ein¬
zelnen zeigt.
In der Modelliruug ist wenig oder kein Fortschritt gegen Cornelius, anch
Kaulbach's Körper haben im flachen Co.ntonr mehr Leben, als in vollendeter
Ausführung, die immer etwas stumpfes, Flaues bei ihm bekommt. Am Auffallend-
sten ist dies bei seinen Portraits, die häufig an die manierirten Bilder des
vorigen Jahrhunderts ernähren. Zu letzterem, gewiß vom Künstler schwerlich be¬
absichtigten Eindruck tragt wohl am Meisten ihre Farbe bei, die an die Arbeiten
deS Mengs, der Angelica Kauffmann oder des Verlöv durch ihre kokette Vor¬
liebe sür die prismatischen Farben erinnert. Wie überhaupt eine Einwirkung des
von ihm erst in spätern Jahren besuchten Italiens ans den Künstler nicht bemerk¬
bar hervortritt, so hat selbst auf seine Farbe dies Land nicht gewirkt, da er zu¬
rückkehrend das Jerusalem in Oel malte, weiches eher alles Andere, als den
Einfluß italienischer Meister zeigt. Mir wäre das Bild grau in grau tausendmal
lieber, als mit dieser kokettirenden Farbe, die Einem eher den Eindruck eines
Feuerwerks macht, als den einer verhängnißvollen tragischen Scene. Statt des
fürchterlichen Ernstes derselben sehen wir nichts, denn eine Effecthascherei, die
die Figuren wie geschminkte Schauspieler colorire, daß ich sür meinen Theil die
Härte und Kälte des Cornelius bei weitem vorzöge. — Die Vox pvpM des
Publicums ist allerdings nicht meiner Meinung, sondern hat ihr höchstes Ver¬
gnügen an jenen glänzenden Farben, denn weder Klarheit, noch Brillanz sehlt
ihnen — aber wer wollte jener verständigen Stimme trauen, die seinerzeit
Kotzebue vergöttert, Clauren bewundert und die IVlMsres cke ?ans verschlungen
hat, »in sie bald darauf spurlos zu vergesse». Einem so begabten Geiste, als es
Kaulbach wirklich ist, kauu dies am Wenigsten einfallen.—
In keinem seiner Werke zeigt sich aber diese große Begabung nnwidersprech-
lichcr, als in seinem Reinecke Fuchs, den er während der vorerwähnten großen
Arbeiten nebenher schuf, der aber »ack meiner Einsicht zum Vortrefflichsten und
Eigenthümlichsten gehört, was die Kunst in dieser Art überhaupt besitzt.
Hier bat er aus ganzem Holze geschnitzt, es spiegelt sich ein durch und durch mo¬
derner, geistreicher, mehr satyrischer, als gemächlicher Charakter, Glaubenslosigkeit
und Ironie, die sich selbst nicht verschont, so wenig als alles Existireude, ab. —
In tausend lustigen Einfällen entwickelt sich eine souveraine Freiheit der Weltan¬
schauung, Reinecke scheint uns im Grunde blos eine Seite des Künstlers selber
wie der Mephisto bei Goethe. Just, weil dies Werk unsere skeptische Zeit mit
solch künstlerischer Meisterschaft wiedergiebt, so ist es ein Monument für alle
Zeiten. —
Der satyrische Zug des Künstlers hat ihm bei Ausführung seiner gegen¬
wärtigen großen Arbeit, den die Geschichte unsrer deutschen Kunst-Entwickelung
verherrlichenden Bildern der neuen Pinakothek, sehr heftige Augriffe seiner Ge¬
nossen zugezogen, weil er dem trockenen Stoff allerlei humoristische Beimischungen
gegeben hatte. — Ich kann in diesen Vorwürfen nicht viel mehr erblicken, als
eine Bestätigung des alten Satzes, daß die Deutschen keinen Witz vertragen
können, — nnr etwas philisterhafte Empfindlichkeit. — Allerdings können
diese kolossalen Wandbilder Einen eben nicht sehr ansprechen, dies ist aber
zunächst ein organischer Fehler deö ganz und gar undankbaren Stoffes;
mau soll nicht malen, wie man malt, nicht dichten, wie man dichtet, sondern
wie man handelt. Es passirt ja nichts, kann man mit Grund sagen, wie
soll man sich da noch wundern, wenn der Künstler von seinem Rechte
Gebrauch gemacht hat, wenigstens die Empfindungen und Gedanken der darge¬
stellten Personen etwas rücksichtsloser und deutlicher durch Geberden zu versinnlichen
als dieselben ohne Zweifel seinerzeit sie — gebildete und gefaßte Männer wie sie
sind — haben laut werden lassen? Hat doch der Dichter aus der Bühne auch
das Pnvileginm, die Helden im lauten Monolog das ganze Publicum zu Mit¬
wissern ihrer Staats- und Privat-Geheimnisse machen zu lassen. Und wenn er
nnter denselben mit Vorliebe einige burlesk erscheinende aufgesucht hat, so hat
das schwerlich viel zu bedeute», der Werth jener Männer ist denn doch zu fest¬
gestellt, als daß er dnrch einen gemalten Scherz alterirt werden könnte. —
Von meinem Standpunkte ans wüßte ich gegen die Auffassung dieser Bilder
in der Hauptsache nichts einzuwenden, desto mehr aber über die Ausführung, die
mir in einem Grade flüchtig und leichtsinnig vorkommt, wie dies eines Künstlers
wie Kaulbach nirgends würdig erscheint. Wenn man seine Zeichnungen und
Farbeskizzcn gesehen hat, so erstaunt man billig, wie er es zugeben konnte, daß
die meistens trefflich erfaßten Portraitköpfe derselben mit solcher Rohheit und
Stumpfheit auf die Mauer gebracht wurden, als es bei der größern Anzahl ge¬
schehen ist. Noch schlimmer ist dies bei den allegorischen Figuren, der Malerei,
Sculptur, Erzgießerei 2c., die allerdings auch in ihrer Erfindung theilweise sehr
ärmlich und dürftig erscheinen. — Wenn die drei ins Kamin gesperrten Grazien
so ruppige Frauenzimmer waren, so konnten sie Cornelius, Overbeck und Veith
ganz ruhig dem Ungeheuer des Zopfes überlassen und sich irgendwo bessere suchen,
könnte man mit Fug und Recht sage». — Eben so wird Niemand durch die dar¬
gestellten Gruppen italienischer Landleute mit ihren gezwungenen und verrenkten
Stellungen eine sonderliche Vorstellung vom wunderbar plastischen Reiz jenes
Volkslebens bekommen, die kleinste Vergleichung mit Leopold Robert's unnach-
ahmlichen dichterischen Compositionen wird den großen Abstand deutlich machen,
indem der deutsche Künstler durch seine Flüchtigkeit hinter einem der angeblich so
leichtsinnigen Franzosen zurückgeblieben ist. — Rühmend anerkannt werden muß
dagegen der Fortschritt in der Färbung, der sich hier kund thut, und eine Rich¬
tung zu einer einfachern und solidem Weise anzeigt als früher, wenn sie anch
immer noch ziemlich weit von der Klarheit und Feinheit selbst eines Piulmuchiv
entfernt sein möchte. —
Wenn ich nun trotz der innern Kälte, dem reflectirten gemachten Wesen, der
koketten Natur, trotz der Flüchtigkeit und Lieblosigkeit, die uns bei der größern
Zahl der Kaulbach'schen Arbeiten nicht zu rechtem Genuß kommen läßt, trotz dem
Mangel einer eigenthümlichen Formengebung, die uns verhindert, seine Figuren
unserm Gedächtniß tief einzuprägen, während die des Cornelius, Schwind, Over¬
beck, Genelli sich wie mit eisernen Klammern in unser Gedächtniß graben, wenn
ich trotz alle dem ihm noch eine bedeutende Zukunft zutraue, glaube, daß wir
seiue besten Leistungen »och zu erwarten haben, sobald er zu größerer Einfachheit
von dem Streben, Alles zu überbieten, zurückgekehrt sein wird, so ist dies nicht
nnr, weil ich an diesem rastlosen Künstler überall einen beständigen UmwandlnngS-
proceß vor sich gehen sehe, weil ich ihn noch auf voller Höhe seiner Kraft weiß,
sondern auch weil vorauszusetzen ist, daß einem so geistreichen Kopfe nicht entgehen
kann, wie Leonardo die Menschheit mit einem einzigen Bilde mehr bereichert, sich
selber eine höhere Stellung errungen hat, als z. B. der begabte Knoller mit
Hunderten, und ich den Kern seiner Seele und seines Talents für groß und gesund
halten muß, trotz Allem, was das Leben daran angesäumt und angefressen haben
mag.
Den Vorständen der deutschen Theater empfehlen sich die folgenden Be¬
merkungen zur gefälligen Beachtung, sie haben die Absicht, in die Musik des
Fidelio zwei Nummern, welche in musikalischer Hinsicht vortrefflich und für einzelne
Gesangpartien der Oper von Wichtigkeit sind, wieder einzuführen.
Bekanntlich ist Fidelio in der Form, in welcher er auf unsern Bühnen heimisch
ist, die dritte Bearbeitung desselben sujets durch Beethoven. Die ursprüngliche
Composition wurde zuerst am 20. November 1803 im Theater an der Wien
gegeben, sie fand bei der Kritik und den Wienern durchaus keinen Beifall.
Man leugnete nicht, daß Beethoven Talent habe, fand aber weder Er¬
findung, uoch Ausführung originell, in den Gesangstücken wenig Ideen, die
Chöre schwach, den Chor der Gefangenen mißlungen n. f. w. — Das war
daS Urtheil der Zeitgenossen über ein Werk, das wir jetzt für das kostbarste
Juwel in dem bunten Glanz unseres Ovcrnrepertoirs halten. Um die Oper
der Bühne zu erhalten, drängten Freunde und Gönner den Komponisten,
stark zu kürzen und Einzelnes umzuarbeiten. So verändert wurde die Oper
am 29. März -1806 von Neuem aufgeführt, — gegen Beethoven's Willen
wieder unter dem Titel Leonore — fand etwas nachsichtigere Beurtheilung, aber
anch so nnr geringe Verbreitung. Beethoven ärgerte sich und ließ sie liegen.
Erst im Jahre -I8-IL wählten die Jnspicienten der k. k. Hofoper den Fidelio zu
ihrem Benefiz. Beethoven war bereit, die Oper herzugeben, unterzog sie aber
vorher einer strengen Durchsicht, schrieb manche Stücke um, kürzte und änderte an
andern stark. Seit dieser Zeit wurde Fidelio allmählich eine Oper des stehenden
Repertoirs. Durch die ausgezeichnete Arbeit von Professor Dr. Otto Jahr
sind die älteren Bearbeitungen der Oper (Leonore, Oper in zwei Acten von L.
van Beethoven, vollständiger Clavierauszug der zweiten Bearbeitung mit den
Abweichungen der ersten, Leipzig, Breitkopf und Härte!) seit ungefähr einem
Jahre dem deutschen Publicum zugänglich, Werth und Bedeutung dieser ältern
Arbeiten sind in diesen Blättern bereits früher besprochen, insbesondere das Ver¬
hältniß derselben zu dem auf den Bühnen heimischen Fidelio.
Die Veränderungen, welche Beethoven allmählich mit der Oper vornahm,
sind weder vom dramatischen, noch vom musikalischen Standpunkt insgesammt
als Verbesserungen zu betrachten/ Namentlich die letzte Bearbeitung, welche
dem Fidelio die jetzt gebräuchliche Einrichtung gegeben hat, ist von Beethoven,
wie er selbst sagt, ohne besondere Freude und Begeisterung gemacht worden. Er
war der Oper bereits zu fremd geworden. Musik und Text der ältern Bearbei¬
tungen enthält vieles Vortreffliche, das der große Meister dem damaligen Zeit¬
geschmack und den Wiener Operngcwohnheiten zu Liebe sehr gegen seine Ueber-
zeugnng und zum Theil nach hartem Kampf mit sich selbst unterdrückt hat. Doch
wer unsere Bühnen kennt und weiß, wie schwer und unbequem es im Drang der
Tagesgeschäfte und bei dem ewigen Andrängen des Neuen einer Bühnenleitnng
wird, an dem Alten, Festen, bereits Gewonnenen zu rütteln, der wird nicht
verlangen, daß unser Fidelio dnrch Aufnahme der zahlreichen Schönheiten der
älteren Partitur umgestaltet werde, oder gar an seine Stelle die einfache, reine
Originalität der ursprünglichen Bearbeitung treten solle. Und sollte Jemand so
Etwas verlangen, er würde es sicher nicht durchsehen.
Ganz anders dagegen steht die Sache mit zwei Gesangstücken, welche in der
ursprünglichen Arbeit Beethoven's ein Schmuck derselben waren, welche der Meister
auch bei den Kürzungen der zweiten Bearbeitung noch nicht aufgeben wollte, und
die er erst bei der dritten ganz wegließ, wie wir wissen, gegen seine eigene,
bessere Ueberzeugung. Diese beiden Gesangstücke dem gegenwärtigen Fidelio
wiederzugeben ist sehr leicht und erscheint jetzt, wo wir die Große Beethoven's
und die Schönheit der Oper besser zu würdigen wissen, als eine Pflicht gegen
den Componisten und das Publicum, welches allerdings in genügendem Grade
die Geduld erworben hat, Beethoven's Musik zu ertragen. Diese beiden Musik»
stücke sind:
1) ein Terzett Ur. 3 des Clavierauszuges der Leonore: „Ein Mann ist bald
genommen" zwischen Rocco, Jacqnino und Marcelline. Es tritt ein in Act. -I.
Scene 2, nachdem Rocco die Bewerbung des Schließer Jacqnino abgewiesen bat,
nach den Worten: „Nein, lieber Jacqnino, von einer Heirath zwischen Euch und
Marcelline ist keine Rede" u. s. w. Dies Musikstück ist eben so launig und an¬
muthig, als charakteristisch, es schließt eine Situation und Stimmung musikalisch
ab und hat außerdem den Vorzug, die Partien der Marcelline und des im Fidelio
schlecht bedachten Jacqnino zu verbessern. 2) Duett Nro. 10 des Clavieraus-
znges zwischen Leonore und Marcelline tritt zu Folge der Einrichtung des Fidelio
ein nach Leonoren's großer Arie (Nro. 9 des Fidelio) in der sie sich Muth ein¬
spricht, nachdem sie den Pizarro belauscht hat. Unmittelbar nach dieser Arie
erscheint Marcelline, und nach einigen gesprochenen Worten folgt dies Duett, in
welchem Marcelline ihre Empfindungen über das Glück der projectirten Ehe mit
Fidelio ausspricht und Leonore ihre tragische Stimmung zu mastiren sucht. Die
reine, süße Unschuld Marcellinen's und der große, verhaltene Schmerz Leonoren's
welche in das Geplauder des Mädchens bald eingeht, bald ihren Schmerz über
die Täuschung der Kleinen ausdrückt, ist in Musik und selbst im Texte reizend
charakterisirt. Nach dem Duett Austritt Rocco's und die Bitte der Beiden, die
Gefangenen herauszulassen. Dies Duett ist als Musikstück wunderschön, es ver¬
bessert wesentlich die Partie der Marcelline, deren Charakter dadurch eine größere
Innigkeit und Wärme erhält, füllt aus seine zarte und anmuthige Weise eine
Lücke in der Charakteristik des Verhältnisses zwischen Leonore und Marcelline
aus, und giebt eine, an dieser Stelle sehr wünschenswerthe musikalische Abwechs¬
lung, zwischen den schweren, ernsten Musikstücken, die vorangehen und dem
großen Finale.
Fidelio in seiner gegenwärtigen Gestalt ist nicht zu lang für den Theater¬
abend, sondern eher zu kurz, beide Musikstücke sind von ungewöhnlicher Schönheit,
beide sind unter Kummer und Aerger des Componisten einer frühern längst vergesse¬
nen Geschmacksrichtung zum Opfer gefallen, beide können ohne jede dramatische
Schwierigkeit in Musik und Handlung in unsern Fidelio hineiugesejzt werden, den
sie sogar verbessern. Aus allen diesen Gründen erscheint es uns als ein zweck¬
mäßiges Zeichen der Pietät gegen den großen Meister, und als eine willkommene
Gabe für das Theaterpublicnm, wenn die Vorstände der deutschen Bühnen diese
beiden Stücke in dem Fidelio restituiren.
Damit dies mit größter Bequemlichkeit für die deutschen Theater geschehen
könne, hat die ehrenwerthe, um die Kunst viel verdiente Handlung von Breit¬
kopf und Härtel zu Leipzig sich bereit erklärt, Abschriften der Partitur
dieser Nummern in der von Beethoven abgekürzten Bearbeitung im Man Il¬
sen pe bereit zu halten, und sind dieselben von jetzt ab mit den kleinen zum
Dialog des Fidelio nöthigen Zusätzen gegen Einsendung von zwei Thalern zu
beziehen.
Allen Bühncnvvrständen aber sei diese Ergänzung des Fidelio angelegentlich
empfohlen.
Für die Verehrer Beethoven's sei noch bemerkt, daß Generalmusikdirector
Lachner zu München den Fidelio durch die beiden dieser Nummern vervollstän¬
digt, zu Beethoven's Todestag 26. März, aufzuführen beabsichtigt. Bei dieser
Gelegenheit sei diesem Dirigenten Dank für de» Eifer ausgesprochen, mit welchem
er der ernsten und tüchtigen Musik in Süddentschland von München ans eine
bleibende Stätte zu schaffen bemüht ist, und für die Gewissenhaftigkeit im sorg¬
fältigsten Einstudiren, welches die Münchner Aufführungen in die erste Reihe
stellt. Auch für die großen Concerte in Wien sind dieselben beiden Nummern
in diesem Winter zur Aufführung gewählt.
Es ist zu einer allgemein
anerkannten Wahrheit geworden, daß Oestreich gleich viel seiner Diplomatie wie
seineu Waffen zu danken hat. Diese wurden in den jüngsten Jahren zweimal
siegreich bis zu den Grenzen Piemonts getragen; sie triumphirten über den Auf¬
stand in der Hauptstadt Wien, in Ungarn und in Siebenbürgen; ja kurz darauf
legten sie das Gewicht der Entscheidung, und zwar durch ihre moralische Kraft
allein, in die Wage, mit welcher die Geschicke des äußersten Nordwestens unseres
Vaterlandes gewogen wurden, und östreichische Rosse wurden aus den Fluchen
der Cyder getränkt.
So viel Schall und Klang das Alles hat, und wie schwer seine innere Be¬
deutung ist — den eigentlichen Nerv für die große Reihe von Folgen, der sich
daran knüpfte, legte dennoch erst die östreichische Diplomatie hinein. Sie war
es, welche in einem Momente, an den es nicht gut ist, zu erinnern, Preußen zur
zweiten Macht, nicht nur in Deutschland überhaupt, sondern im Speciellen im
Norden Dentschlands, wo Oestreich sodann als erste gebot, herabdrückte — sie ist
es jetzt wiederum gewesen, welche ohne Zuthun einer militärischen Kraftanstrengung,
ja ohne allen kriegerischen Apparat, fast lediglich durch Aufstellung einiger Ba¬
taillone im Kreise Cattaro und an sonstigen Grenzpunkten unterstützt, der ottoma-
nischen Pforte Bedingungen aufgezwungen hat, die noch demüthigender sind, wie
die von Olmütz.
Die Krisis ist beendet. Man konnte mit Recht darob in Wien Vic¬
toria schießen lassen, denn es ist ein großer Sieg, den man, und zwar ohne alle
Verluste, aus friedlichem Wege, selbst ohne ein paar Audienzen des Grafen Leiningen
beim Großvezier, ohne einige Konferenzen mit dem Minister des Auswärtigen,
lediglich durch zwei oder drei Noten, durch ruhiges Abwarten, durch Gemessen¬
heit, Zähigkeit und eine Consequenz ohne Gleichen erreicht hat.
Mehr erreichte Oestreich in allen Kriegen nicht, die eS seit Anbeginn seiner
Herrschaft an der unteren Donau mit den Ottomanen geführt. Mehr selbst ernd-
tete Rußland nicht einmal, mit all seiner Schlauheit, dem Eifer, der strengen
Schule und der Schmiegsamkeit seiner Diplomatie seit etwa Jahren. England
und Frankreich aber haben niemals zu Stambul einen ähnlichen Vertrag erlangt,
wie der ist, deu Graf Leiningen am Sonnabend den 13. d. Mes zur Notistcativn
nach Wien sendete.
Die Geschicklichkeit dieses Unterhändlers giebt noch nicht die volle Erklärung
über die Möglichkeit eiues solchen Triumphes. Allerdings laufen alle Gründe
dieses beispiellosen diplomatischen Erfolges auf die Meisterschaft in der Benutzung
der Umstände hinaus — aber eben diese Umstände mußten sich bieten, um benutzt
werden zu können; man schafft nur in seltenen Fällen die Situation, innerhalb
welcher man agirt, und im internationalen staatlichen Verkehr geschieht es fast nie.
Es muß als ein verhängnißvoller Fehler des Fnfionscabincts in England be¬
zeichnet werden, daß es die sich vorbereitende Krisis zu spät wahrgenommen, und
erst da dem Viscount Stratsord of Ratcliffe Ordre auf seinen Posten zu gehen
ertheilte, als hier die Entscheidung gewogen wurde. Diese Ordre wurde nämlich
erst an demselben Tage in Downing Straal ausgefertigt, wo man dort vom
brittischen Gesandten in Wien die Notification von der bevorstehenden Sendung
des Grafen Lei»i»ge» nach Constantinopel empfangen hatte. Mehr indeß noch,
wie das brittische Ministerium, verschuldet der hiesige englische Geschäftsträger,
Colonel Rose. Er konnte den Sturm deutlicher wie irgend ein Staatsmann in England
Heraufziehen sehen, »ut an ihm war es, das Unwetter in einer Weise zu annon-
ciren, die dem Cabinet keine Frist für seine Entschließimgc» ließ, sondern diese augen¬
blicklich hervorrief. Seit den erste» Tagen des Jahres kannte man in diploma¬
tische» Kreise» die östreichische» Forderungen, fast der ganzen Ausdehnung nach.
Coloiiel Rose aber hatte Mittel »ut Wege, sie noch weit früher kennen zu lernen;
woraus klar erhellt, daß es ihm zur Last fällt, wen» das Ministerium Aberdeen
bis Mitte Januar einer Kenntniß der ganze» Sachlage noch ermangelte. Die
Debatte» in beiden Häuser» werde» diese Verhältnisse, u»d ob der i» Rede stehende
Oberst ans eine mildere Beurtheilung Anspruch hat, in'S Licht stelle». Bis jeht
ist selbst redend Alles noch dunkel, »»d »ur Eines wäre klar vor aller Augen:
daß der Vertrag mit Oestreich uinuner zu Stande gekommen sei» würde, wen»
Viscount Stratfort of Ratcliffe, an Statt des Colonel's Nose, in der Periode
der Krisis sich ans seinem Posten befunden hätte.
I» meinem legten Schreiben vom 1-1. d. Mes. entwickelte ich, wie die Ver¬
hältnisse des Mi»isteri»ins Raschid Pascha zu» ehemaligen ungarische» Kossnth-
Cabinet der Ausgangs- und eigentliche Kernpunkt der östreichische« Unterhand¬
lungen seien. Diese Behaupt»»g hat sich bestätigt. Zweierlei war eS i» dieser
Hüisicht, was Oestreich vo» der Psorte perla»gte:
Letztere Forderung wurde damit motivirt, daß Oestreich, in Folge der Be¬
günstigung, welche der Aufstand von türkischer Seite her erfahren, eine ungleich
größere Krafta»strcugnng behufs seiner Besiegung zu mache» veranlaßt worden sei.
Die andere» Forderungen wäre» vermuthlich mir Beiwerk,' und darauf be¬
rechnet, den Vollmachten des Grafen Lemiiigc», ohne daß dadurch die Haupt-
bedingungen alterirt wurde», ni»e gewisse Elasticität zu verleihen.
Namentlich dürfte dies vo» dem den Hase» von Durazzv i» Albanien
betreffenden Punkte gelte».
Was bis heute von deu Resultaten der Ein,iguug verlautet, läßt sich nur
wie folgt zusammenfasse»: der Sultan wird an den Kaiser von Oestreich schreiben,
und die Pforte i» dieser Woche acht Millionen Gulden als eine Kricgsentschädignng
zahle». Dies ist der Vertrag, von dem das im türkische» Solde stehende Jour¬
nal von Constantinopel bemerkt, daß er beiden contrahirende» Mächten zur Zu-
fricdenheit gereiche. Die Forderung von Durazzo ist von der Pforte nicht accep-
tirt, und in Folge dessen vom Grafen Leiningen zurückgezogen worden. Man
glaubt, und wie ich denke nicht mit Unrecht, daß Oestreich bei diesem Punkte
auf russische und englische verborgene Interessen stieß, und aus diesem Grund
sich nachgiebig zeigte. Mindestens wird die, von mir bereits annoncirte Conferenz,
welche der englische und russische Geschäftsträger um die Mitte der vergangenen
Woche mit Fnad Effendi hatten, in der Art ausgelegt, als hätten jene Diplomaten
damals ein jeder für sich, dem Pfortenminister Protest-Noten überreicht.
In den letzten Tagen redete man wiederum ernstlicher von der bevorstehen¬
den Ankunft eines außerordentlichen russischen Botschafters, mit ähnlichen Auf¬
trägen als die, welche Graf Leiningen auszurichten hatte. Käme er wirklich, so
würde er Canning Discount Ratcliffe) auf seinem Posten, und zum allerenergisch-
sten Widerstände bereit finden. Man würde dann aufs Neue nach langer Zeit
wieder erfahren, in welchem Maße ein in sich und mit der Boltsrepräsentation in
Uebereinstimmung handelndes brittischeS Ministerium seineu auswärtigen Vertreter
zu kräftigen, und deu Maßregeln, die er nimmt, Nachdruck zu verleihen vermag.
Was der Pforte innerhalb der letzteren vierzehn Tage begegnete, wird nir¬
gends schmerzlicher empfunden werden, wie in England, und wenn Aberdeen
Neigung für Oestreich empfindet, und diesem alten Verbündeten Englands auf dem
Continent Zugeständnisse zu machen willig ist, so weiß er sich doch, das ist offen¬
kundig, ohne solche Rücksichten dem Czarcnreich gegenüber.
In den Artikeln der „Grenzboten", über die neue-
sten Gemeindeordnung-Entioürfe ist bereits hervorgehoben worden, daß die Be¬
stimmung der Laudgemeindeordnungen, nach welcher die Juden vou Commuual-
ämtern ausgeschlossen werde», nicht nur gegen die Verfassung, sondern auch gegen
das dnrch die Bundesacte garantirte Edict vou 18-12 verstößt. I» den letzten
Wochen sind in der That ans mehreren Ortschaften Petitionen jüdischer Bewohner
eingelaufen, welche sich ans die erwähnten gesetzlichen Bestimmiiugen stützen und
gegen eine Beeinträchtign»»!,, sogar der vormärzlichen Rechte der Judenschaft,
Protest einlegen. Bei dem engherzigen und fanatischen Si»n, der die Mehrheit
unsrer ersten Kammer bezeichnet, war allerdings nicht zu erwarten, daß dieses
Haus bei der Berathung der Laudgemeindeordnungen auf je»e Stimmen Rücksicht
nehmen würde; allein das schien nicht zweifelhaft, daß die Beibehaltung der
judenfeindlichen Bestimmung eine Abänderung der Verfassung nothwendig machen
würde; denn diese ordnet im Art. 12 ausdrücklich an: „der Genuß der bürger¬
liche» und staatsbürgerlichen Rechte ist unabhängig von dem religiöse« Bekennt-
niß." Man sollte es für ganz uinuöglich halten, daß Jemand in einer Bestimmung,
durch welche eines der wichtigsten staatsbürgerlichen Rechte, das Recht zu Cvmmnnal-
ämtern zugelassen zu werden, vou dem Bekenntniß der christlichen Religion
abhängig gemacht wird, nicht einen flagranten Widerspruch mit dem angeführten
Grundsatz der Verfassung erkennen sollte. Allein unserer Rechten sind dergleichen
Dinge leicht möglich, und der Herr Münster hat in seiner Deduction, daß die
Ausschließung der Juden von Commnnalämtern, mit der Verfassung in Einklang
stehe, so Ausgezeichnetes geleistet, daß wir es der Bewunderung der Leser Ihres
Blattes nicht vorenthalten mögen. Art. i der Verf. lautet: „Alle Preußen sind
vor dem Gesetze gleich. Standesvorrechte finden nicht statt. Die öffentlichen
Aemter sind, unter Einhaltung der von den Gesetzen festgestellten Bedingungen,
für alle dazu Befähigten gleich zugänglich." Was hindert uns nun, fragt eine
unvergleichliche Naivetät, in einem Gesetz festzustellen, daß für die Erlangung
von Commnnalämtern das Bekenntniß der christlichen Religion eine unerläßliche
Bedingung ist? Wendet man bescheiden ein, daß eben dieses durch Art. 4Ä, der
von der Art und Weise handelt, wie die Anhänger der verschiedenen religiösen
Bekenntnisse in bürgerlicher und staatsbürgerlicher Hinsicht gestellt werden sollen,
ausdrücklich verboten ist, so wird man durch die dreiste Behauptung niedergeschmettert,
daß das Recht, zu Communalämteru gelangen zu dürfen, weder ein bürgerliches,
noch ein staatsbürgerliches ist. Apollo und alle Musen! Das nenne ich eine
Beweisführung! Alle Welt hat bisher unter staatsbürgerlichen Rechten das Recht,
zu Staats- und Cvmmunalämtern zu gelangen, in die Vertretung des Volks und
der Communen gewählt zu werden u. Dgl. verstanden; jetzt sagen die Männer
der Autorität, daß das ein kläglicher Irrthum war; orxo war es ein Irrthum.
Ich mochte nur wissen, ob es irgend eine Behauptung giebt, die durch solche
Beweisführung nicht bewiesen werden könnte.
Die Juden werden also verfassungsmäßig fortfahren, sich des Genusses der
staatsbürgerlichen Rechte zu erfreuen, und eben so verfassungsmäßig alles dessen
beraubt sein, was der beschränkte Unterthanenverstand bisher unter staatsbürger¬
lichen Rechten verstanden hat. Noch interessanter ist es, wie die Nützlichkeit oder
Nothwendigkeit des Ausschlusses der Juden von Commnnalämtern motivirt wurde.
„Es herrscht auf dem Lande," sagt der Minister des Innern, „eine entschiedene
Abneigung gegen die geschäftliche Richtung des jüdischen Stammes; und wir
tragen der Wahrheit dann Rechnung, wenn wir die Gesetze so schreiben, wie
sie im Volke leben." Diese zarte Rücksichtnahme nicht blos ans die Meinungen,
sondern sogar aus ungerechte und verletzende Vorurtheile des Volks, — rührt sie
nicht Ihr verhärtetes Herz? und besonders im Munde einer Regierung, deren
Schwäche es nie war, ans die allgemeine Meinung Rücksicht zu nehmen? einer
Regierung, die eine instinctive Abneigung gegen die öffentliche Stimme fühlte?
die selbst da, wo sie auf dem richtigen Wege war, durch die allgemeine Zustim¬
mung an sich irre wurde, weil sie in jeder übereinstimmenden Kundgebung der
Volksmeinung Revolution witterte? Wir würden diese wunderbare Bekehrung
ruhig und lächelnd zu den übrigen Zeichen und Wundern schreiben, die heut zu
Tage geschehen, — wenn der Herr Minister nnr nicht das Wort „Wahrheit"
in seine Rede gemengt hätte. Wenn man einem Vorurtheil, welches zu den
schändlichsten und empörendsten Thaten verleitet, von denen die Geschichte der
Menschheit Kunde giebt, — wenn man einem solchen Vorurtheil Rechnung trägt,
dann trägt man der Wahrheit Rechnung? Freilich, wenn man die Logik über
den Haufen wirft, warum soll man nicht den Sprachgebrauch umstürzen, und das
Vorurtheil eine Wahrheit, und die Wahrheit el» Vorurtheil nennen? Wenn der
Herzog fallen muß, sobald der Mantel fällt, — warum wundern wir uns, wenn
verlangt wird, daß auch der Mantel falle, sobald der Herzog gefallen ist?
Wenn es die ernste Meinung des Herrn Ministers ist, daß da, wo Aber-
glauben und Vorurtheile in einem Volke herrschen, die Gesetzgebung des Landes
ans dieselben, nicht um ihnen entgegenzuarbeiten, sondern um ihnen Form und
Ausdruck zu geben, Rücksicht nehmen müsse, so war doch unter allen Umständen
hier nicht der Ort dazu. Communalbeamtc werden gewählt. Wo jene Vorur-
theile gegen den jüdischen Stamm wirklich herrschen, werden Juden nicht gewählt
werde»; da ist also ein Verbot überflüssig. Wo sie aber gewählt werden, da
herrschen jene Vorurtheile augenscheinlich nicht; da fällt also das Motiv zu einem
solchen Verbot fort. Wir fragen nun, ganz abgesehen von von dem, was der
Dienst der „Wahrheit" erheischt, heißt es den wirklichen Verhältnissen Rech¬
nung tragen, wenn man um des niedern Bildungsgrades willen gesetzliche Ein¬
schränkungen feststellt, welche die von Vorurtheilen Befangenen sich von selbst
auflegen, und diese Einschränkungen mich auf solche Kreise ausdehnt, in welchen
sie, der weiter vorgeschrittenen Bildung und Gesittung gegenüber, uicht gerecht¬
fertigt erscheine»? Oder ist mir der Maugel an Cultur, jeder Nest mittelalter¬
licher Barbarei ein der Berücksichtigung werthes Element, Bildung und aufge¬
klärter Sinn aber nicht? Und ist die Civilisation so wenig werth, daß ihre
Grundsätze durch gesetzliche Bestimmungen selbst da verletzt zu werden verdienen,
wo dergleichen Bestimmungen zur Regelung der Unvernunft nicht erforderlich
sind? Es ist traurig, daß man noch im neunzehnte» Jahrhundert solche Fragen
auswerfen muß.
Als ich Ihnen vor Kurzem schrieb, daß in Folge der Aeußerungen des Abg.
Aldenhoven das Ministerium wahrscheinlich einen Gesetzentwurf zur Einschränkung
der Redefreiheit einbringen werde, übersah ich uoch nicht, daß die Art, die Ver¬
fassung zu behandeln, in ein neues Stadium getreten war, daß die neue Jnter-
pretatiousmcthode in Schwung gekommen war, für die ich Ihnen im Eingange
meines Briefs ein Beispiel gab. Daß mau allgemeine Grundsätze der Ver¬
fassung, vou denen in der Verfassung selbst einzelne bestimmte Ausnahmen statuirt
waren, nach Analogie dieser Ausnahmen auch noch weiter einschränken zu dürfen
glaubte, ist alte Praxis; zu ihrer VervoWändignug war noch erforderlich, daß,
wo es besser couvenirte, auch das Gegentheil in Uebung gebracht wurde, daß
man nämlich die in der Verfassung selbst statnirten Ausnahmen um der allgemeinen
Grundsätze willen ignoriren zu dürfen glaubt. Das Ministerium hat nämlich
schlechtweg die Erlaubniß zur gerichtlichen Verfolgung des Abg. Alte»dove» nach¬
gesucht, unbekümmert darum, daß Art. 8t der Verf. in Betreff der Abgeordneten
ausdrücklich bestimmt: „Sie können für ihre Abstimmungen in der Kammer
niemals, für ihre darin ausgesprochenen Meinungen nur innerhalb der Kammer
auf den Grund der Geschäftsordnung (Art. 78) zur Rechenschaft gezogen werden."
Die Geschäftsordnung, die von der Kammer nach Art. 78 vollständig antoiiomisch
festgestellt wird, statuirt eine gerichtliche Verfolgung der Abgeordneten für ihre in
der Kammer geäußerten Meinungen schon deßhalb nicht, weil verfassungsmäßig
die Abgeordneten in dieser Beziehung „nnr innerhalb der Kammer" zur Rechen¬
schaft gezogen werden dürfen. Aber Art. i bestimmt: „Alle Preußen sind vor
dem Gesetze gleich," — und wahrscheinlich ist es dieser allgemeine Grundsatz, vor
dem — der Meinung des Ministeriums zufolge — jene ausdrückliche Bestimmung des
Art. 8i verstummen muß. Nu» hat aber die Anforderung des Ministeriums selbst
uuter den Mitglieder» der Rechten großen Anstoß erregt; man sühlt, daß es unzulässig
ist, ein in der Hitze des parlamentarischen Kampfs gesprochenes Wort, ein an dem Orte
gesprochenes Wort, der zur politischen Erörterung geradezu bestimmt ist, demselben
Strafgesetz zu unterwerfen, dem ein mit Vorbedacht und ohne gesetzliche Nöthigung
geschriebener Artikel unterliegt; man fühlt, daß es »»gerecht ist, Abgeordnete zur
Vernehmung ihrer Meinungen einzuberufen, sie da»» ihrer Ac»ßer»»ge» wegen
gerichtlich z» verfolgen, und doch dem Ministerium das Recht einzuräumen, daß
es die zur Vertheidigung des Angeklagten erforderlichen amtlichen Actenstücke als
Amtsgeheimnisse den Gerichten vorenthalten darf. Es ist also vorauszusehen,
daß nur eine Minorität, ans de» pu'tout-Mimsterielleu bestehend, bereit sein
wird, die Genehmigung zur Anklage des Abg. Aldenhovcn zu ertheile». Allein
nach der Auffassung, welche der Forderung der Regierung zum Grunde liegt, ist
die Sache damit noch nicht abgethan. Das Ministerium! hält nämlich eine Ver¬
folgung des Abg. Aldenhovcn für zulässig, sobald die Kammer ihre Genehmigung
dazu ertheilt hat; sie stellt also die in der Kammer ausgesprochenen Meinungen
in dieselbe Linie mit den von einem Abgeordneten an irgend einen? andern
Orte verübten Vergehen, »ut wenn die Kammer zur gerichtliche» Verfolgung
eines solche» Vergehens die Ge»chmig»»g »icht ertheilt, bleiben die Gerichte
verpflichtet, nach Beendigung der Sitzu»gSpcriode die U»ters»es»»g zu eröffne».
Die Consequenz der NegiernngSansicht, daß eine gerichtliche Verfolgung in dem
vorliegenden Falle überhaupt zulässig ist, würde also die sei», daß die Regierung
nach dem Schlüsse der Session bei einem Gerichtshöfe die Bestrafung des Abg.
Aldenhoven uachsnchte. Daun wird sich zeigen, wie es mit der preußischen Justiz
bestellt ist.
Die Verfassungscommission der zweiten Kammer hat den Gesetzentwurf über
die Bildung einer Pairie berathen, und empfiehlt mit 1t gegen t Stimmen die
Annahme desselben, in der von der ersten Kammer beschossenen Form, Von den
dissentirenden Stimmen gehören zwei solchen Mitgliedern der Rechten an, welche
in Uebereinstimmung mit dem Stahl-Arnim'schen Antrage, in eine Umgestaltung
der ersten Kammer nur dann willigen mochten, wenn die vorzüglichen conserva-
tiven Elemente, welche das setzige Wahlgesetz in der ersten Kammer vereint hat,
vollständig in die zweite verpflanzt würden. ES erhellt daraus, daß anch in
der zweiten Kammer ein Theil der Rechten gegen die Regierungsvorlage stimmen
wird; dennoch wird die letztere mit sehr großer Majorität angenommen werden,
wenn nicht inzwischen ein Wunder geschieht. Man behauptet zwar, das; der
Stahl-Arnimsche Antrag, mit circa 80 Unterschriften versehen, in der zweiten
Kammer erneuert werden wird; allein mehr als die Hälfte der Unterzeichner wird
den Standpunkt des Grafen Arnim theilen, d. h. nach Ablehnung des Amende-
ments für die Regierungsvorlage stimmen. In der katholischen Fraction wird
die Negierung bei dieser Frage nnr sehr wenig Gegner finden; die beiden Rei-
chensperger stimmen für eine Pairie, und sie gehören zu den liberalsten Mitgliedern
der Fraction. Die Bethmann-Hollwegiauer haben ihr Interesse für dergleichen
Pairie-EMerimente schon während der vorigen Session an den Tag gelegt.
In der Fraction Helgoland war anfänglich die große Mehrzahl für die Annahme
der Regierungsvorlage; allein die Argumente, welche in dem treffliche» Artikel
der vorletzten Nummer der Grcnzbote» zusammengefaßt sind, sind so einleuchtend,
daß man sich dieselbe» anch hier nicht hat verheimlichen können. Die Verhand¬
lungen in der ersten Kammer, die ausdrückliche Zusicherung der Regierung, daß
sie nach Erledigung dieser Frage an eine Umgestaltung der zweiten Kammer gehen
werde, und die Gewißheit, daß diese nur im ständischen Sinne erfolgen wird,
sind so handgreifliche Thatsachen, daß ich in der That nicht begreife, wie sich ihnen
gegenüber der Traum von einer definitiven Beendigung unserer VcrfassungSÜisiS
durch Bildung einer Pairie erhalten kaun. Nichtsdestoweniger ist es jetzt »och
zweifelhaft, ob mehr als die Hälfte der Fraction gegen die Regierungsvorlage
stimmen wird. Rechnet man alle diese gegnerischen Elemente zusammen, so wird
sich etwa der vierte Theil der Abgeordneten gegen eine Pairie erklären; und dann
wird man alle Schleusen öffnen, um auch die zweite Kammer in ihrer gegenwär¬
tige» Zusammensetzung wegzuschwemmen.
Die zweite Abstimmung über die Beseitigung des Art. der Verfassung,
welcher die Grundzüge für die künftige Verfassung der Gemeinden, Kreise und
Provinzen feststellt, hat ein anderes Resultat als die erste gehabt. Es ist nämlich
nicht die einfache Beseitigung desselben, sondern seine Ersetzung dnrch eine An¬
ordnung ist beschlossen worden, welche besagt, daß die Vertretung und Verwaltung
der Gemeinden, Kreise und Prvvinze» durch provinzielle Gesetze angeordnet
werden solle. Der Zweck dieses Amendements ist, in einer so wichtigen Ange-
legenden die Octroyirung auszuschließen. Abweichend von dem sonst üblichen
Verfahren hatte die Kammer unter ausdrücklichen Vorbehalt der Abstimmung
über das Amendement zuerst über die Beseitigung des Art. 103 abgestimmt, da
das Amendement auch nur für den Fall gestellt war, daß diese Beseitigung be¬
liebt werden sollte. Der Herr Minister des Innern war gleich bereit, die Ab¬
weichung von dem regulären Verfahren in seinem Sinne zu benutzen; er erklärte
Art. -106 für definitiv beseitigt und machte die Frage, ob er dnrch das erwähnte
Amendement ersetzt werden sollte, von der Zustimmung der Regierung abhängig,
— als ob das Amendement ein ganz selbstständiger Antrag und die Beseitigung
des Art. 106 nicht mit Rücksicht auf die ausdrücklich vorbehaltene Abstimmung
über das Amendement erfolgt wäre. Allein die Klarheit und Festigkeit des
Präsidenten vereitelte diesen Versuch; er stellte das Sachverhältniß fest und er¬
klärte, daß die Frage wegen Beseitigung deö Art. 103 noch nicht erledigt sei.
Es wird demnach über das jetzt angenommene Amendement nach drei Wochen
zum zweiten Mal abgestimmt werden; wiederholt die Kammer ihren jetzigen Be¬
schluß, so wird er zunächst dem andern Hause mitgetheilt, um dessen Zustimmung
zu erwirken.
Die Siege Louis Napoleon's lassen den Hof von Madrid
nicht schlafen, d. h. die Siege, welche der französische Machthaber über die
durch die mühevollen Kämpfe zweier Generationen erworbenen Institutionen Frank¬
reichs davongetragen, denn von andern weiß die Geschichte bis jetzt nicht zu
berichten, man müßte denn zu denen gehören, die an das „rothe Gespenst" glau¬
ben, das nach den Versicherungen der kaiserlichen Hof- und Leibjournalisten, des
Apostaten Guerrouiere, des Socialisten Cüftua, und des literarischen Bravo
Cassagnac vor der „rettenden That" des zweiten Dezember zerstoben sein soll.
Leider befindet sich der spanische Hof nicht in der glücklichen Lage, ein rothes Gespenst
zur Ueberwindung des Parlamentarismus citiren zu können; er gleicht viel eher
jenem Manne, welcher sagte: „ich kann anch Geister rufen, aber sie kommen
nicht." Diese Art von Geisterbeschwörung erweckt in Spanien keine Furcht, denn
sie findet keinen Glauben. Man hat mit der Verfassung das Jahr -1848 glück¬
lich überwunden, und es ist gar kein Grund vorhanden zu befürchten, daß man
jetzt nicht mit ihr weiter kommen sollte.
Da die Staatsrettung also beim besten Willen nicht vorzuschieben ist, so
bleibt als Motto für die Madrider Politik nnr noch der schöne Wahlspruch des
alten französischen Königthums übrig: „cur tot t-se notre; xlaisir", u»d bei der
gewissenhaftesten Forschung ist es unmöglich, ein anderes Motiv dafür aufzufinden.
Der Constitutionalismus belästigt den Hof, die Königin Mutter und die Kama¬
rilla, deshalb soll er gut oder übel beseitigt werden; der Absolutismus bietet
dagegen die verlockendsten Aussichten dar; deshalb will man ihn so viel und
so schnell wie möglich wiederherstellen. Der Ausfall der maßlos beeinflußten und
terrvrisirten Wahlen hat das Ministerium Noncali sehr ermuthigt, wenn auch
noch nicht völlig sicher gemacht. Es rechnet jedenfalls aus eine gefällige Kammer,
scheint aber nicht unbedingt ans die unbegrenzte Nachgiebigkeit derselben zu
vertrauen; deshalb hält es immer noch mit dem Umfang seiner Revisionsforderun-
geu zurück, und maßregelt unterdessen nach Kräften, um der Opposition Lust und
Sonne abzuschneiden. So hat es, den letzten Nachrichten zufolge, ein Decret
erlassen, das den Zeitungen untersagt, andere Mittheilungen über die Cortes-
fitznngen, als die stenographischen Berichte der ,,Gaceta" (des Regierungsblattes)
oder den von dem Bureau jeder Kammer abgefaßten Auszug zu geben. Auch
darf keine einzelne Rede stenographisch abgedruckt werden, ja es ist deu Zeitun¬
gen verboten, den stenographischen Bericht einer Sitzung in einer Nummer ab¬
zubrechen und in der nächsten fortzusetzen. Jede Sitzung muß ans einmal voll-
ständig gegeben werden, oder gar nicht. Da der uugeschmälerte Abdruck der
stenographischen Berichte sowol die Mittel der Blätter, als ihre Lectüre die Zeit
und Geduld des Publicums übersteigt, und da die ministerielle Mehrheit durch
die aus ihrer Mitte gewählten Bureaus die Auszüge daraus ihrem Interesse nach
zurechtstutzen kann, so ist hienach eine unparteiische und wahrhaftige Veröffentlichung
der Cortessitzuugeu so gut wie unterdrückt. Dies Decret, zu dessen Erlaß Herr Noncali
und seine Collegen nicht mehr gesetzliche Befugniß, als zur Aufhebung der ganzen Con-
stitutwn durch einen Federzug haben, ist der ziemlich getreue Abklatsch der Borschriften,
wodurch die hohe Fürsorge für das Wohl und die Ruhe Fraukreich's die Ver¬
öffentlichung der Debatten des französischen Corps legislativ beschränkt hat, De¬
batten, um die sich übrigens wol der Zusammensetzung und Berechtigung
dieser höchst schätzenswerthen Körperschaft zufolge auch dann fast Niemand be¬
kümmern würde, wenn sie unbehindert veröffentlicht werden dürften. In den
spanischen Cortes sitzen aber noch Männer, die, obwol in der Minderzahl, ihre
letzte Kraft für die bedrohten Freiheiten ihres Landes anstrengen werden, und des¬
halb ist eS für das Ministerium von Wichtigkeit, den Wiederhall der voraussichtlich
stürmischen Kämpfe des Parlaments im Volke zu verhüten. Zur Bekräftigung
dieses Decrets ließ die Negierung am folgenden Tage diejenigen Blätter der
Hauptstadt, die es ihrer Kritik unterwarfen, cvnfisciren, wie denn die Beschlag¬
nahme gewissermaßen das tägliche Brod der spanischen OppositivnSpresse geworden
ist, und die Beharrlichkeit, womit dieselbe fortfährt, die Verfassung gegen eine
Gewalt zu vertheidigen, die sich über jede Vorschrift des Gesetzes hinwegsetzt, die
höchste Anerkennung verdient. Es ist nur zu sehr zu befürchten, daß die Mehr¬
heit der Cortes willen- und würdelos genug sein wird, um sich dieser Maßregel,
welche das Lebensprincip der parlamentarischen Institutionen, die Oeffentlichkeit,
fast vernichtet, zu unterwerfen. Staunen aber muß die Nachricht erregen, daß
auch noch nach diesem Willküract Martinez de la Rosa die ministerielle Can-
didatnr der Präsidentschaft des Kongresses angenommen hat. Welche Hoffnungen
ans das Verhalten der moderirten Mittelfractivn könnten hiernach »och ge¬
hegt werden?
Ueber Narvaez haben sich in letzter Zeit verschiedene Angaben gekreuzt. Es
hieß, er sei in Paris angekommen und wolle sich der ihm auferlegten Mission
nach Wien unterziehen, was er nach allem Vorhergegangenen nicht thun könnte,
ohne seine Ehre anzutasten und seinen Charakter herabzusetzen. neuerdings ist
dies jedoch widerrufen; er sei nicht in Paris, sondern nach wie vor an der spa¬
nischen Grenze und werde in einer energischen Eingabe an den Senat gegen die
Regierung, die ihn behindere, seinen Sitz in dieser Versammlung einzunehmen,
Beschwerde erheben. Da das Cabinet durch den neulichen Seuatorenschnb sich
die Mehrheit gesichert hat, so wird voraussichtlich die Beschwerde nicht durch-
dringen, aber zweifelsohne der zahlreiche» und durch ihre Persönlichkeiten gewich¬
tigen Opposition Gelegenheit zu den heftigsten Ausfällen geben. Wie die Dinge
sich aber auch gestalte» mögen, man muß wünschen, daß der Herzog von
Valencia um Spaniens und um seiner selbst willen fest in seinem Widerstand
gegen die verderblichen Pläne des Hofes bleibe.
— Es hat Nichts geholfen, daß die Triester Zeitung
und einige östreichische Korrespondenten verschiedener deutscher Blätter dem
britischen Inselreich gedroht haben, sich nicht nur vor der Ansteckung durch seine
Ideen, sondern anch durch seine Calicvs durch ein strenges Verbot derselben zu
schützen, wenn nicht Mazzini und Consorten auf der Stelle in England ergriffen
und mindestens nach dem Monde exilirt würden. Ohne erst z» fragen, wen der
Schaden des Verbots zuletzt treffen würde, —- wir meinen der Calicos, denn
die Ideen würden ohnehin bei gedachten Organen keinen fruchtbaren Boden
finden — ist die englische Negierung kühn genng gewesen, dem Zorn der Triester
Zeitung zu trotzen und zu erklären, daß jedes derartige Ansinnen mit einem ent¬
schiedenen Nein beantwortet werden wird. Und seltenes Mißgeschick! diese Er¬
klärung mußte der unvermeidliche Lord Palmerston gebe», den doch Graf Fiquel-
mout mit zwei dicken Bänden längst politisch losgeschlagen hat, und deu man
in sei» Staatssecretariat des Jnnern als auf eiuen anständigen Ruheposten ver¬
wiesen glaubte! Wer freilich im Interesse einer prompter Justiz und zur Rettung
der bedrohten Gesellschaft dem menschenfreundlichen Grundsatz huldigt: Erst hängen
und bann untersuchen! mußte eine andere Antwort erwarten. Aber in dem neue¬
ste» politische» Fortschritt des Jahrhunderts ist England leider weit zurückgeblieben.
Es huldigt noch ganz dem alte» Zopf, »»r überführte Schuldige und nicht Ver¬
dächtige strafen zu wolle», es glaubt die persönliche Freiheit mit schützenden Ga¬
rantien umgebe» und wie ein unschätzbares Kleinod hüten zu müssen, während
der aufgeklärte Continent sie längst als ein staatsgefährliches Ding, nur gemacht,
um das schwache Menschenkind in Versuchung und Stricke z» führen, erkannt hat,
ja es bindet pedantisch genug seine Richter an Gesetze, anstatt einzusehen, daß
über dem Gesetz die Staatsnothwcndigkeit stehen muß. Nur das eine Gute hat
diese Pedanterie, daß sie streng unparteiisch ist, deun nnter ihrem Schutze haben
Fürsten und Demagogen, Minister mit hochfürstlichen und mit Ouvriernamen
während der politischen Unwetter in ihrer Heimath geweilt, und wenn jetzt Kaiser
Napoleon UI. zürnt, daß seine Gegner ein Asyl in London finden, so sollte
Ludwig Napoleon zuweilen daran denken, daß er von demselben London ans nach
Boulogne unter Segel gegangen ist, um einen Manu vom Throne zu stürzen,
der sich ebenfalls für den gottbernfenen Retter der Gesellschaft hielt. Daß vor
Ruge und Kinkel auch einige andere deutsche Flüchtlinge entgegengesetzter politi¬
scher Meinung eine Zuflucht in London fanden, dürsten wir wohl in Erinnerung
zu bringen wagen. Einschreiten kann die englische Regierung nur gegen Flücht¬
linge, welche innerhalb ihrer Jurisdiction gegen befreundete Staaten conspiriren
oder zum Kriege rüsten; der Beweis muß aber so geliefert werden, daß eine
englische Jury darauf ihr schuldig aussprechen kann. Dabei darf mau nicht
vergessen, daß dem englischen Untersuchungsrichter alle Mittel entzogen sind, dem
Verdächtigen cvmprvmittirende Geständnisse abzulocken, und daß er rein darauf
angewiesen ist, ihm den Beweis der Schuld durch Zeugen zu liefern, und daß
die Erfahrungen dreier Jahrhunderte — Erfahrungen, die mau auf dem Conti-
nent wohl gemacht, aber nicht benutzt hat — dem Engländer die Nothwendig¬
keit gelehrt haben, den wegen Staatsverbrechen Angeklagten mit doppelten und
dreifache« Garantien gegen den servilen Diensteifer seiner Ankläger und selten
Richter zu schützen. Das Verlangen eines außerordentlichen Verfahrens gegen
Mazzini und audere Demagogen ist daher keine persönliche, sondern eine prin¬
cipielle Frage, welche im innigsten Zusammenhange mit den verfassungsmäßigen
Rechten jedes Engländers steht.
Allen, denen Gesetz und Ordnung ein Dorn im Auge sind, weil sie sich
ihren augenblicklichen politische» Bedürfnissen nicht unterordnen, wird es eine
wahre Jrende sein, wenn wir anch einmal von den Schwämmen und Pilzen
sprechen, die sich an dem festgefugten Staatswesen England's angesetzt haben;
wir nennen z. B. die Wahlcvrrnption. Das gegenwärtige Parlament giebt
Gelegenheit zu interessanten Einblicken in diese Mißbräuche. Bekanntlich ist es
unter dem conservativen Ministerium Derby gewählt, und die conservative Partei
fühlte das dringendste Bedürfniß nach einer entschiedenen Majorität, denn auch sie
spürte in sich den Beruf zu der Weltmission „den Wogen der Demokratie einen
Damm entgegenzusetzen." Da aber bekanntlich das sündige Menschengeschlecht
dem Guten weniger leicht zugänglich ist als dem Bösen, so glaubte sie ihren guten
Grundsätzen durch Hülfe ihrer goldnen Guineen Eingang bei den Wählern ver¬
schaffen zu müssen, und brachte dieses Mittel so eifrig in Anwendung, daß nicht
weniger als 100 und einige Wahlen beanstandet sind. Mehrere sind bereits für
ungültig erklärt, und die jetzt veröffentlichten Verhöre der Zeugen bringen manche
interessanten Züge zu Tage. In Canterbury versuchte man zugleich ans Herz und
Kopf der Wähler zu wirken, auf das Herz durch farbige Billets, die nach der
Wahl mit 10 si>. eingelöst wurden, auf den Kopf durch „Nestanrationsbillets",
die so mächtig wirkten, daß die halbe Wählerschaft Canterbury's sich da wälzte,,
wo für gewöhnlich nur die Säue zu finden sind. Ein anderer Wähler ging, von
seinem Sohne aufgefordert, in das Haus seiner Tochter, und fand dort fünf
Sovereigns auf der Bettdecke liegen, die er einsteckte, ohne zu wissen, wozu
das Geld da lag und woher es kam. In Chatham dienten Stellen in den
königlichen Schiffsbanwerften, die der ministerielle Kandidat, Sir F. Smith, seinen
Wählern zu verschaffen versprach, als BestechnngSmittcl. Aber uicht bei allen
Wählern war das Gewissen ganz erstorben. Ein braver Seiler, Namens Sibbett,
dem eine feste Stelle versprochen war, der aber nur Stückarbeit erhielt, erkannte
bei dieser Entdeckung, wie sehr er unrecht gethan hatte, daß er seine Stimme
für eine Anstellung habe verkaufen wollen. In Clitheroe hatte die gute Sache,
um durchzudringen, die Unterstützung streitbarer Keulenträger. Ein Lancashire-
sarmer lieferte sie «n xros, und erhielt einen Auftrag auf 300 Manu „für die
grobe Arbeit" bei den Wahlen, mit dem Bedeuten, daß gute Zuschläger und
Wilddiebe am Liebsten gesehen würden. Die Hilfstruppen müsse» zahlreich ge¬
wesen sein, denn in einem Wirthshause aßen und tranken am Wahltage und
einige Tage vorher 2000 Personen so viel und so rasch, als der Wirth auftragen
konnte. Sehr zartfühlend sind die Wähler von Bridgenorth. Ihr uneigennütziges
Herz kennt nicht die schmutzige Sehnsucht nach Geld, sie wünschen in ihrer Ge¬
müthlichkeit nnr den Kandidaten wiederzusehen, oder wenigstens seine Geschäfts¬
agenten. Aber wehe ihm, wenn er den geheimnißvollen Sinn dieser unschuldigen
Frage nicht versteht: nicht seinem freundlichen Gesicht gilt ihre Sehnsucht, sondern
dem Antlitz der verehrten Königin, doppelt verehrt, wenn es von Gold ist. Herr
Eceles, das Mitglied für Blackbnrn, hat gar nicht gewählt sein wollen; nur auf
Andringen seiner Freunde hat er sich bewegen lassen, als Kandidat aufzutreten.
Aber bestechen? Pfui, wer könnte das seinem grauen Haare zutraue» — was
aus den 2000 Pfd. geworden ist, die sein Sohn einem Wahlagenten, Mr.
Hollinshed, hat auszahlen lassen, ist ihm gänzlich unbekannt. Er für seinen
Theil hat blos ö öd. ausgegeben, und die so beschenkten waren betrunkene
Nichiwähler, die ihm Angelegenheiten machten. Die naive Unschuld des Hinter¬
gangenen Greises hat leider wenig Aussicht, von Seiten des Untersuchungs-
cvmittvs die gebührende Anerkennung zu finden.
Der neue Krystallpalast in Sydenham hat trotz des ungünstigen Wetters und
der langwierigen Grundbauten erhebliche Fortschritte gemacht, und die westliche
Hälfte wird bald unter Dach gebracht sein. Die bei dem Gebäude von Hydepart
gemachten Erfahrungen sind gut benutzt worden. Das Dach hat sich bei dem
letzten Regen als vollkommen wasserdicht bewiesen; es ist durch hölzere Spann¬
rippen besser gegen heftigen Wind geschützt, und das 2-1 anstatt 16 Unzen
schwere Glas dürfte selbst von schwerem Hagel kaum leiden. Die Säulen im In¬
nern hat man diesmal alle roth gemalt, um den kalten blauen Ton zu vermeide»,
der im Krystallpalaste nach dem Wegnehmen des Leinendaches vorherrschte. Wenn
das Gebäude erst vollendet ist, was wol schwerlich vor Mitte Mai geschehen
kann, wird es einen ebenso großartigen als originellen Anblick gewähren. Ein
Glasbau höher als die größte englische Catedrale, mit einer Psorte von 200 Fuß
Höhe und einer den Hügel hinaufführenden Vortreppe von 96 Fuß Breite, unter
sich London und die Themse als kleinen Theil eines herrlichen Panoramas, außen
von den schönsten Bäumen der gemäßigten Zone umschattet, und im Innern mit
Palmen gefüllt, deren schwankende Häupter nicht einmal seine Decke erreichen,
wird es der großartigste Vergnügungsort, den jemals ein Volk gehabt hat.
Es ist keine Kleinigkeit, ein eine Bodenfläche von 18—20 Acker bedeckendes
Gebäude so zu füllen, daß keine unangenehme Leere in demselben entsteht. Der
neue Krystallpalast soll ein Gewächshaus der schönsten Pflanzen aller Welttheile,
und ein die allmähliche Entwicklung der schönen Künste darstellendes Museum, fer¬
ner ein Bazar für Industrien, aller Art sein. Das Museum ist am Weitesten vor¬
geschritten. Die Herren Owen Jones und Digby Watt sind eifrig mit der Ab-
formung der egyptischen Lvwenstatuen beschäftigt. Von den zur Herstellung des
Löweuhofes in Alhambra nöthigen Abgüssen sind schon mehrere Kisten angekom¬
men. Eine der vier, an dem Tempel von Abu Simbel stehenden Statuen von
70 Fuß Höhe kommt an das Ende des Schiffes. Ein farbiges Modell des
Parthenon führt Mr. Penrose aus. Der faruefische Stier aus Neapel findet einen
Platz in der Mitte, die Flora und der Hercules aus derselbe» Stadt zu beiden
Seiten des El»ga»ges. Den pompejanischen Hof malt Abbati, der Maler des
Königs von Neapel. Von dem egyptischen Tempel an, bis zu der Renaissance
wird man die Entwicklung der Architektur und Sculptur Schritt für Schritt durch
alle ihre Phasen verfolgen können.
Die großartigen Wasserwerke im Parke, unter andern zwei Springbrunnen,
jeder mit 90 Strahlen von 200 Fuß Höhe, sind bereits im Ban begriffen.
— Eine der allerwichtigsten
Vorlagen an die Kammern ist das Gesetz über die Eiseubahnsteuer, und zwar darum,
weil es direct an das Vermöge» der Staatsangehörigen geht.
Wir wolle», von allem Politische» absehend, nur die materielle Seite in's Auge
fassen.
Die preußische» Eisenbahnen sind unter schweren Opfern der Privaten entstanden.
Nur Wenigen hatte die Regierung eine Zinsgarantie gewährt, und dafür sich Rechte
vorbehalte», welche diese Begünstigung mehr als aufwiegen. Mit Ausnahme der Ber-
lin-Potsdamer, Magdeburg-Leipziger und Rheinischen, welche früher concessionirt wurden,
lag sämmtlichen Eisenbahnunternehmungen el» allgemeines Gesetz zu Grunde, das in
einer Zeit abgefaßt war, wo man noch nicht die leiseste Ahnung von dem mächtigen
Aufschwünge hatte, den dieser Industriezweig jetzt genommen.") §. 38 — it) dieses
Gesetzes bestimmen, daß den Eisenbahnen eine Abgabe aufgelegt werden soll, welche zur
Entschädigung der Staatskasse für die ihr durch die Eisenbahnen entzogenen Einnahmen
(ein Punkt der zugestandenermaßen jetzt gar nicht mehr vorhanden), und zur Amortisation
des in dem Unternehmen angelegten Capitals verwendet werde» soll. Ueber die Art
dieser Verwendung wird besondere Anweisung vorbehalten. Nach erfolgter Amortisation
soll dem Unternehmen eine solche Einrichtung gegeben werden, daß der Ertrag des
Bahngeldes die Kosten der Unterhaltung der Bahn und der Verwaltung nicht übersteige.
Nirgends steht aber erwähnt, daß in Folge dieser Amortisation die
Regierung in Besitz der Bahnen trete. Im Gegentheil bestimmt gleich darauf
§. LA: „Dem Staate bleibt vorbehalten, das Eigenthum der Bahn mit allem Zube¬
hör gegen vollständige Entschädigung anzukaufen, und führt dann das Nähere (Slifacher
Betrag der lctztfnnsjährige» Dnrchschnittsdividende, nach Ablauf von 30 Jahren) aus.
Nachdem viele Jahre verstrichen, so daß Niemand mehr an die Ausführung dieser
unter ganz andern Verhältnissen projectirten Amortisation dachte, nachdem bei hoch-
angcwachscncr Staatsschuld die Steuern jedes Jahr vermehrt werden ausdem, tritt
das Handelsministerium plötzlich mit seinem Eiscnbahnstcnervrojcct hervor, dasselbe
als dem Interesse des Landes förderlich bezeichnend. Der Wohlstand eines Landes
besteht aber in dem Reichthum seiner Bewohner, nicht darin, daß die Regierung möglichst
viel auszugeben hat. Bis jetzt sind die Einnahmen der Eisenbahnen den gesammten
Staatsangehörige» zu gut gekommen, Arm und Reich hat sich «ach Kräfte» dabei
betheiligt. solle» die Einwohner des Landes freiwillig diesem Eigenthum entsagen? —
und für welchen Zweck? — Das beantwortet sich leicht Jeder selbst. — Für andere
Sache», für Sachen der allgemeinen Volkswirthschaft sorgt aber die Privatindustrie
am Besten. Das erhebliche Einkommen für die RegiernngSkasse, der Punkt, welcher
in dem Gesetzentwürfe hervorgehoben wird, zeigt deutlich, worauf es ankommt. Die
Staatsangehörigen haben aber keinen Vortheil von vermehrte» Ausgaben, sondern von
vermehrten Eimiabme», und die echte Finanzknnst besteht nicht darin, durch Steuer¬
druck künstlich sich Einnahmen zu verschaffen, um Ausgaben zu decken, sondern darin,
die Ausgaben zu vermeiden und die Einnahme» zu vermehren. Bereits ist der einzige
Paragraph des EisenbahngcsetzcS, welcher den Staatsangehörigen zu gut kam. und die
Herabsetzung der Fahrpreise »ach geschehener Amortisation zu einem Minimum bestimmte,
weggefallen, und nur noch vo» einer bedeutende» Herabsetzung der Fahrpreise die Rede.
Wie es aber damit stehen könnte, zeigt jetzt schon das Beispiel der niederschlcsisch-
märkischen RcgierungSbahn, welche nicht einmal den schlesischen Industriellen für ihre
Sendungen zur Neuporkcr Industrieausstellung ermäßigte Transportpreise gewähren will,
während die Privatbahne» sich dazu bereit erklärten. Wenn einmal bei dem so klar
daliegenden politischen Zustande der Staaten eine Regierung die Macht in Händen
hat, ihre disponibel» Mittel so leicht durch Erhöhung der Fahrpreise zu vermehre»,
sollte sie, wenn der drängende Moment herantritt, sich dessen einschlagen? — Glaub's
wer's kann! —
Bis jetzt ist das große Capital der Eisenbahnen noch wirkliches, unverschuldetes
Eigenthum des Landes. Soll es der Gefahr ausgesetzt werde», daß »»glückliche
Verhältnisse eine Regierung, nachdem es in ihre freie Disposition Übergänge» ist,
zwinge», darauf schulde» zu machen? — Muß nicht jeder solchen Gefahr weit vor¬
gebeugt werden? — Als das übelste Geschäft von allen hat sich bis jetzt die Finanz-
Wirthschaft der europäischen Staaten erwiese». — Für den ruhig Blickende» zeigen sich
aber in der Zukunft noch viel traurigere Resultate.
Vorstehend haben wir die Amortisation der Actien durch die Regierung, d. h. den
Ankauf nach dem Tagescourse vorausgesetzt. Im Anfang wird dieser Ankauf nicht
schwierig sein, wenn man den Börscnconrs als einen Lprocentigen annimmt. Bald
aber wird mit der Seltenheit der Actie» auch die Hartnäckigkeit ihrer Besitzer sie festzu¬
halten, und daher der Cours ausnehmend steige». Uns scheint daher der ganze Plan
chimärisch. Dies, die Zusammensetzung der gegenwärtigen Kammer» u»d der Klaube
an keine feste Dauer politischer Zustände sind die Ursachen, warum sich so geringe
Opposition gegen das Project des Handelsministers kundgiebt. Außerdem sind die
Eisenbahnen allen Angriffe» der Regierung aus dem Verwaltungswege, der unter dem
Schutze des Cvmpetenzgerichts n»a»tastbar ist, dermaßen unterworfen. daß die Eisenbahn-
dircctionc» gezwunge» sind zu schweigen oder nur ganz milde Einwendungen zu vcr-
lautbaren. Man erinnere sich nur des Entscheids des Competenzgcrichts in Sache»
der Berlin-Hamburger Bahn, daß sogar eine Possessionsklage der Eisenbahnverwal-
tungen gegen den Fiskus nicht zulässig ist!--
Im Allgemeinen ist man der Ansicht, daß, zufolge des Bestcucrungsprojectcs. die
Regierung das größte Interesse an der Ertragsfähigkeit der Eisenbahnen hat, und daß
dies günstiger ist als der bisherige Zustand, wo man sich bereits gewöhnt hatte, das
Handelsministerium als Feind hoher Dividenden zu betrachten. Man zieht eine feste,
wenn auch hohe Abgabe einer mögliche» willkürlichen Schmälerung vor, und betrachtet
daher den Gesetzvorschlag sogar nicht als so ungünstig für die Aktienbesitzer.
Es könnte sich zukünftig aber auch ereigne», daß man die Amortisation fahren
ließe, und die Einnahmen blos sür vermehrte Negierungsaiisgabe» verwendete. Kam¬
mern, welche auch dies billige», würde» sich seiner Zeit schon finden lasse». Ist einmal
ein Schritt geschehen, so folgt der andere leicht nach.
Betrachten wir nun die Höhe dieser Steuer. Hier hat die Vorlage es so ein¬
gerichtet, daß die bcstrcntircnde» Bahnen zuerst an die Regierung falle». Eine wahrhaft
colossale Steuer liegt auf den höher rcutireudeu Bahne». Eine Einnahme von 1 g«/^ giebt
1 Thlr 10^2 Sgr. und jedes folgende Procent »/^. Ist denn 10"/., schon ein so großer Ge¬
winn für ein industrielles Unternehmen, das so abhängig von allgemeine» Verhältnissen und
leder Gefahr bloßgestellt ist? Man denke nur an den Paragraph des Eisenbahngcsetzes,
welcher den Eisenbahnen jede Entschädigung sür in Kriegszeiten begangene Zerstörungen,
von welcher Seite sie auch kommen mögen, abspricht? — Gegenwärtig sind
freilich glänzende Zeiten für die Eisenbahnen, aber welche Kämpfe haben sie früher
durchgemacht, und welche warten ihrer vielleicht noch! — Unrichtig ist die Vorgabe, die
Gerechtigkeit verlange, daß auch die Eisenbahnen wie andere Industrien! besteuert wür¬
den. Bezahlen denn nicht die Eisenbahnactionaire ihre Einkommensteuer? — Aber der
Gesetzvorschlag trifft doppelt, erst die Actionaire und nachher das Unternehmen als Ganzes,
trotzdem dies doch nur auH den Capitalien der davon steuernden einzelnen Personen
besteht. Außerdem, welcher Industrielle bezahlt so "olossale Steuern lfast '/z des Ein¬
kommens)? Es könnte eine Zeit kommen, wo w /'"vieler bereut, die Stenerkrast des
Landes nicht geschont zu haben. —
Nicht minder unzulänglich ist die Vorgabe, daß das Interesse der Landesvertheidi-
gung den Uebergang der Eisenbahnen in RegicrungseigeUthum erheische. Jede Eisen¬
bahn ist verpflichtet, eine beträchtliche Anzahl Wagen zum Militairtransport vorräthig
zu halten, und es wäre der Regierung ein Leichtes, auf ihre Kosten dergleichen Wagen
in beliebiger Anzahl bauen zu lassen. In Zeiten der Gefahr hat die Negierung so
freie Disposition über die Eisenbahnen, als wenn sie ihr Eigenthum wären. Dies ist
ausdrücklich in den Concessionen vorbehalten, und bleibt also hinsichtlich der Militair-
transpvrte in Kriegszeiten nichts zu wünschen übrig.
Mancher könnte nun meinen, die Amortisation der Actien käme doch erst in sehr
langer Zeit zur Ausführung. Aber das Project hat sich ein Mittel vorbehalten,
schneller zum Ziele zu gelangen. Ganz im eignen Widerspruche gegen die Bedeutung
des Wortes: Amortisation beansprucht die Vorlage nicht blos Steuern von den Privat-
actien, sondern auch gar noch Zinsen und Dividenden und Steuern von den auf¬
gekauften, also bereits der Regierung gehörenden Actien. —
Daraus erhellt denn, daß die Actien nicht amortisirt werden, sondern fortcxiftire» und
bei den Generalversammlungen der Eisenbahngesellschaften sogar »och anstimmen sollen.
Dadurch erlangt die Regierung einen solchen Einfluß aus die inneren Angelegenheiten der
Eisenbahngesellschaften, diese selbst verlieren so sehr alle Selbstständigkeit, daß ne es
bald vorziehen möchten, das ganze Eigenthum zu einem Spottpreise an die Regierung
fahren zu lassen. Offenbar muß es bald dahin kommen, daß die Regierung die Majo¬
rität in den Generalversammlungen hat, denn die Privatactien sind vielfach auswärts
vertheilt und zählen also nicht, da sie größtentheils ausbleiben, während die Regierungs-
actien als compacte Masse auftreten, denen nichts widerstehen kann, sobald sie/um den
jedesmaligen Statuten zu genügen, angemessen vertheilt werden. Was nun von
Regierungsseite aus da für Anträge gestellt werden könnten und durchgehen müßten,
das mag sich Jeder selbst sagen.
Enden wir mit dem wiederholten Warnungsrufe, daß die Annahme dieses Eisen-
bahnstenerprojects die ärgsten Gefahren für das Vermögen des Landes birgt, und daß
gerade der Monarchismus, der doch auf das materielle Wohlbefinden der Staats¬
angehörige» sich stützen will, am Entschiedensten diesem Project widerstreben muß.
Der Besitz von Eisenbahnactien macht die stärkste Propaganda für Ruhe und Ordnung;
dagegen tragen Beschränkung der Bankfreiheit, der E.ihn»bah»erträg»löse, überhaupt des
Verdienstes, Unzufriedenheit selbst in jene Kreise, die sonst jeder Art conservativer
Negierung anhängen.
Wenn in d. Bl. bei Anfang dieses Jahres die Ansicht ausgesprochen war,
daß die Niedergeschlagenheit und Teilnahmlosigkeit an politischen Fragen in
Preußen ihren höchsten Stand bereits erreicht habe, und die ersten schwachen
Zeichen einer wieder auflebenden Theilnahme des Volks für seine höchsten An¬
gelegenheiten, so wie eine, wenn auch noch langsame Vermehrung der liberalen
Sympathien zu bemerken sei, so wird diese Ansicht durch die legten Monate aller¬
dings bestätigt. sowol in deu Kammern als im Publicum lassen einzelne
Symptome erkennen, daß die Streiter für eine große und gesunde Entwickelung
des preußischen Staates uoch uicht Ursache haben, an unserer Zukunft zu ver¬
zweifeln. Allerdings hat eine liberalere Auffassung keine parlamentarischen Siege
erfochten, wir sind noch weit davon entfernt, aber in den Gemüthern bereitet
sich die Reaction gegen die Reaction entschieden vor.
Die vorige Woche war reich an parlamentarischen Entscheidungen. In der
Berathung der auf die Grundsteuer bezügliche» Vorlagen war man bis zu K. 3
des EntschädigungSgesctzes gediehen, welcher für diejenigen Güter, deren Exemtion
nicht vertragsmäßig erworben war, nur eine l^'/zfache Entschädigung feststellte.
Dieser Paragraph wurde mit großer Majorität verworfen; der Finanzminister erklärte,
das Princip des Gesetzes sei damit gefallen; seine fernere Berathung überflüssig;
und am folgenden Tage zog er ans Grund einer Königl. Ermächtigung die Grund-
stcucrvorlageu vollständig zurück. So scheiterte der Versuch, die vielfach erörterte
und seit Decennien schwebende Frage in dieser Session zum Austrag zu bringen.
Die Majorität, welche den Gesetzentwurf zu Fall brachte, bestand aus einer
Koalition der verschiedenartigsten Elemente; neben den Gegnern jeder Entschä¬
digung stimmten gegen den Paragraphen alle diejenigen, welche im Princip gegen
eine Regulirung der Grundsteuer sind und eventuell mindestens die volle, zwauzig-
sache Entschädigung beanspruchen, und diejenigen, welche, zu Conzessionen bereit,
nur mit der Höhe des in §> 3 festgestellten Cntschädignugssatzes nicht einverstanden
waren. Mau hatte unzweifelhafte Beweise, daß unter deu Ministern nur die der
Finanzen, des Handels und der Justiz sich einigermaßen für den Gesetzentwurf
interessirten; die Unterstützung, die er bei dem Ministerpräsidenten fand, war
sehr lau; die Minister v. Raumer und v> Westphalen waren als entschiedene
Gegner der Regulirung bekannt, und demgemäß stimmte der größte Theil der
Beamten, namentlich der Landräthe, gegen den Gesetzentwurf. So wurde das
Ministerium nur scheinbar von seine» eigenen Truppen geschlagen; die Meuterei
im ministeriellen Lager war an einigen Orten — um nicht mehr zu sagen —
sehr erwünscht, Herr v. Vincke nahm aus diesem unerfreulichen Schauspiel Ver-
anlassung zu einer satyrischen Lobrede auf die Unabhängigkeit des Votums, welche
die Beamten durch diese Abstimmung gegen das Ministerium documentirt hätten;
er sagte deu Minister, v. Raumer und Westphalen Dank dasür, daß sie durch
ihre Nichtbetheiliguug bei der Abstimmung das Signal zu dieser Unabhängigkeit
gegeben hätten, und beschwor sie, die oppositionellen Landräthe dieses Votums
wegen nicht, wie diejenigen, die gegen das Preßgesetz gestimmt hätten, zur
Disposition zu stellen . . . Diese gelungene Apostrophe erregte die lauteste Heiter¬
keit, selbst uuter der Rechte»; der Jubel verjüngen Landräthe bezeugte, daß sie
wohl wußten, wem sie durch ihr Votum gedient hatten; anch Herr v. Westphalen
stimmte in seiner Siegesfreude in die Heiterkeit der kräftigen Phalanx ein, die
er durch die Ordre, bei deu Wahlen „die conservative Fahne hoch zu halten,"
in die Kammer gebracht hatte und die jetzt gegen seinen College», de» Finanz-
minister, in's Feld gerückt war. Nur der Ministerpräsident schaute finster auf
diese Bloßlegung eines bösen Schadens in unsern politischen Verhältnissen; es
schien ihn zu verdrieße», daß die Behauptungen über einen Widerstreit und ein
schlimmes Julrigucnspiel im Schoße des Ministeriums durch die unwillkürliche
Heiterkeit, mit der die ministerielle Partei auf v. Vincke's Ironie einging, den
Stempel der Gewißheit erhielte». Aber was hilft der finstere Blick, ..die saure
Miene? Wenn die Gruudsteuervorlageu uur ein Schattenspiel sein sollte»,
warum soll man dann mit pedantischen Ernst darüber trauern, daß es in sein
Nichts verflogen? und wenn sie Ernst sein sollten, — nnn, so wußte ja Herr
v. Manteuffel, wie wenig es nothwendig war, ernste Jntentionen durch
seiue gegnerischen College» Paralysiren zu lassen. Sobald es sich um Entwürfe
handelt, welche der Minister des Jnnern vorlegt, unterläßt dieser nie, dafür
Sorge zu tragen, daß bei der Abstimmung keiner der stimmberechtigten Herren
Minister fehle! und das ganze Beamtenheer stimmt dann immer für das Mini¬
sterium wie Ein Mauuu; insonderheit dem Herr» Ministerpräsidenten wird dann
nicht die Pönitenz erspart, von den ministeriellen Abgeordneten die maßlosesten
Jnvectiven gegen sein Wert, die von ihm eingebrachte und warm vertheidigte
Gemeinde-Gesetzgebung von 1860 anhören zu müssen, sich schweigend darein fügen
zu müssen, daß sie um Beamten als revolutiouair, als zerstörend für alle ge¬
sunden Elemente des Volks bezeichnet wird; und um das Maaß einer ausgesuchten
Buße voll zu machen, wird es ihm nie erspart, in Reih' und Glied mit denen,
die an seinem Weck nnter dem Beifall seines Kollegen, deö Ministers des
Innern eine so schonungslose Kritik übten, dasselbe in zahllosen Abstimmungen
stückweise zu zerstöre», wie die besiegte» Athener gezwungen wurden, die
Mauern ihrer Stadt unter Flötenspiel abzutragen. Für so viele Leiden,
denen sich schwerlich ein anderer Manu unterziehen dürfte, scheint es ein geringes
Aequivalent zu fordern, daß nun auch einmal die Minister des Innern und des
Cultus ihre Privatansicht vor der Meinung und den Beschlüssen des Staatsmini-
steriums beugten; allein die Philosophie des Herrn von Manteuffel entlehnt ihre
Maximen aus der Martyrologie, und seiner Meinung nach ist es der Starke, der
einige Schritte zurückweicht, -— um dann, mit demselben Trost noch einige Schritte
weiter zurückzuweichen.
Obgleich meine Ueberzeugung von dem Wesen einer ans Grund und Boden
gelegten Steuer mich zu der weitern Ansicht führt, daß es am Besten ist, wenn
mau die Grundsteuer, wie sie liegt, unangetastet läßt und das Steuersystem nicht
dadurch, daß mau sie ihrer Ncntennatur beraubt, noch cvmplizirter macht, be¬
dauere ich doch das Schicksal deö Gesetzentwurfs aufs Lebhafteste. Freilich, wenn
begründete Aussicht vorhanden wäre, daß die Ansicht von der Rcntennatnr der
Grundsteuer in der Mehrzahl des Volkes festen Boden fassen und sich anch in
bewegteren Zeiten behaupten könnte, so wäre mit der Vertagung dieser Frage
vielleicht Etwas gewonnen. Allein dem ist nicht so. Nach manchem Hin- und
Herschwanken ist die preußische Gesetzgebung in den letzten vier Decennien dem
Grundsatz von der Veränderlichkeit der Grundsteuer treu geblieben, so daß der
entgegengesetzten Meinung uicht nur die Weihe eines unantastbaren, in i>i»xi
stets beobachteten Axioms vollständig abgeht, sondern daß die Zahl ihrer An¬
hänger, in Folge der Anerkennung der eben erwähnten Thatsache, fortwährend
im Abnehmen begriffen ist. Die Gemüther werden sich also über die Ungleich¬
heit der Belastung des Grund und Bodens nicht nur uicht beruhigen, sondern
der Meinungskampf wird periodisch mit immer wachsender Erbitterung sich er¬
neuern. Diesem Eutwickeluugsprvzeß ist die letzte Entscheidung der Kammer in
keiner Weise entgegengetreten; sie hat vielmehr dadurch, daß sich eine Majorität
für die Aushebung der Exemtionen erklärte, die in der preußischen Steuergesetz¬
gebung seit 18-10 maßgebende Ansicht von Neuem sanctionirt und dadurch den
Bestrebungen auf Beseitigung der Ungleichheit einen neuen Impuls gegeben,
während die Majorität gegen ez. 3. keine prinzipielle Bedeutung hat da sie ans
Anhängern der diametral entgegengesetzten Meinungen gebildet war. Unter sol-
eben Umständen bleibt es zu bedauern, das; die Regulirung eines der Mehrheit
des Volks anstößigen Mißverhältnisses nicht in dieser Zeit erfolgte, in der sie
ans eine möglichst schonende Weise erfolgen konnte. Bei der Bitterkeit, mit der
die Grnndsteuerfrage stets erörtert wird, wird sie von der Negierung, von dieser
wie von jeder folgenden, nur nothgedrungen, nur wenn es unvermeidlich ist,
wieder aufgenommen werden; und wenn die öffentliche Meinung sich mit solchem
Nachdruck geltend macht, daß ein Ministerium die Lösung dieser alle Parteien
zersplitternden Frage in die Hand zu nehme» genöthigt ist, dann sind die Um¬
stände für eine rücksichtsvolle und schonende Behandlung nicht geeignet.
Die zweite wichtige Entscheidung dieser Woche besteht in der Annahme des
Gesetzentwurfs, welcher die Bildung einer Pairie aus erblichen und lebensläng¬
lichen Mitgliedern feststellt und die betreffende Anordnung ohne weitere Ein¬
schränkung dem Ermessen der Krone anheimstellt. Die Annahme dieses eigen¬
thümlichen Gesetzentwurfs erfolgte mit einer Majorität von 2it) gegen 70 Stim¬
men; die Polen enthielten sich der Abstimmung. Die Minorität wurde aus 33
Mitgliedern der Fraction Helgoland, etwa eben so vielen Mitgliedern der Rechten
und einigen Katholiken gebildet. Die Majorität bestand ans 19 Mitgliedern der
Linken, darunter die Abgeordneten v. Patvw, Kühne und Pochhammcr, der
Fraction Bethmann-Hollweg, welche die Pairiegelnste recht eigentlich in Schwung
gebracht hat, fast allen Katholiken und dem Gros der Ministeriellen.
Ich will die Folgen dieses Gesetzentwurfs nicht voreilig an die Wand
malen; sie werden zeitig genug hervorbrechen, daß denen, die bons, Käs für ihn
stimmten, die Augen nicht nnr aus-, sondern übergehen werden. Die Zukunft
wird es lehre», ob es gerathen war, eine Institution zu schaffen, die in Preußen
keinen Boden hat, und in das Schicksal einer solchen Institution die Dynastie,
das monarchische Prinzip und das Zweikammersystem zu gleicher Zeit unauflöslich
zu verflechten, und der Ausgang wird die. Wahrhaftigen loben. Jetzt, da
die Majorität ohne Bedenken, heitern Muthes, als ginge es zu einem fröhlichen
und unbedeutenden Spiele, den verhängnißvollen Schritt gethan hat, können wir
nnr wünschen — wenn auch leider nicht hoffen — daß dieser Institution nicht
gleich bei ihrer Geburt ein unheilbarer Krankheitsstoff eingeimpft wird.
Aber zwei Punkte, die bei der Debatte hervortraten, möchten wir nicht un¬
erwähnt lassen. Der eine ist das Auftreten der Fraction Bethmann-Hollweg.
Niemand bezweifelt, daß die Mitglieder dieser Fraction sich dnrch den redlichsten
Willen auszeichnen, und daß sich auch gegen ihre politische Einsicht wie gegen
ihre Festigkeit wenig einwenden läßt. Allein in Bezug auf die Pairiesrage sind
sie augenscheinlich weniger ihrer innern Ueberzeugung als vielmehr anderweitigen
Rücksichten gefolgt, durch welche sie zu der Hoffnung verleitet wurden, daß aus
der Bildung einer Pairie und der dadurch herbeigeführten Befriedigung eines
allerhöchsten Wunsches ersprießliche Folgen für unser Nerfassnngslcben hervorgehen
würden. Es waren, wie gesagt, weniger aus der Natur hergeleitete Gründe als
äußere künstliche Combinationen, vielleicht anch die Hoffnung, daß durch ihr be¬
reitwilliges Eingehen auf die Intention des Königs die Möglichkeit geboten wer¬
den möchte, das jetzige von ihnen als verderblich erkannte Regierungssystem dnrch
das von ihnen vertretene ersetzen zu könne», diese Momente waren es, welche die
Fraction bestimmten, während der vorigen Session die Bildung einer Paine in
Anregung zu bringen. Durch dieses freiwillige Auftreten für eine Sache, die sich
nicht vollständig dnrch sich selbst empfahl, ist die Fraction in eine sehr schiese Lage
gekommen; die Combinationen und Hoffnungen, durch die sie vor Jahresfrist ge¬
leitet wurde, haben sich inzwischen als luftige Spinngewebe erwiesen, und es ist
klar geworden, daß die Bildung einer Pairie unsere VerfassnngSkrisis nicht mir
nicht abschließen, sondern nur zu noch energischeren Angriffen gegen andere wich¬
tige Fnndamentalsätze unseres Staatsrechts führen wird. Dieses Gefühl lastete
wie ein Alp auf der Fraction und kann ihr die Lehre geben, daß es in politischen
Dingen gerathener ist, sich sest an die Sache zu halten, und sich nicht durch
Seitenblicke hinter die Coulissen irre leite» zu lassen. Die Vertheidigung des Gesetz¬
entwurfs durch den Abgeordneten Bethmann-Hollweg war ausnehmend schwach;
seine Gründe reducirten sich eigentlich auf den Satz, die Frage müsse einmal er¬
ledigt werden; von einer Beendigung der VerfassnngSkrisiS nud dergleichen hoff¬
nungsreichen Dingen war nicht mehr die Rede. Aber auch das angeführte Argu¬
ment scheint uns in dieser Frage nicht zutreffend; es existirt kaum eine politische
Frage, deren Erledigung weniger nöthig und weniger nützlich wäre. Einem so
klaren Kopf wie Herr von Bethmann-Hollweg es ist, kaun es kaum entgehen, daß
in ganz Preußen schwerlich hundert urthcilöfähige Politiker existiren, die sich für
eine preußische Pairie an sich, der Sache selbst wegen interessiren, die davou
überzeugt siud, daß Preuße» das geeignete Material zu einer Pairie besitzt, daß
ein solches Jusitut sich bciuuS als el» Förderungsmittel unseres VerfassnngSlebens
und zugleich als eine Stütze der Monarchie in bösen und guten Tagen bewahren
werde. Die große Masse derer, welche jetzt für eine preußische Pairie schreiben und
stimmen, läßt sich durch die oben angedeuteten äußern Rücksichten und Hoffnungen
über die Bedenken, die sich a»S der historischen Erfahrung und aus den speziellen
Preußischen Zuständen ergeben, hinwegsehen; und der Eifer dieser Personen ist dem¬
gemäß mehr ein künstlicher und scheinbarer als ein natürlicher und wirklicher. Was
würde also die Folge sein, wenn der Gesetzentwurf wieder verworfen wäre? Eine
Aufregung oder auch nur Unzufriedenheit deS Volks? Sicherlich nicht! Aber
vielleicht eine Kammcranflösung? Vielleicht, aber auch nnr vielleicht! Denn es
ist nicht wahrscheinlich, daß das gegenwärtige Ministerium zur Auflösung einer
so gearteten Kammer den Rath ertheilen wird, zumal um einer Frage willen,
für die es — wenigstens im vorigen Jahre — nur ein höchst problematisches
Interesse an den Tag gelegt hat. Und was hat die Minorität von einer Kam-
merauflösung zu fürchten? Die Pairiefrage ist so angethan, daß sie durch zwei¬
malige Ablehnung wahrscheinlich todt gemacht wäre. Und das soll eine Frage
sein, deren Erledigung durch Annahme des Negiernngsvorschlages dringend noth¬
wendig wäre? Oder fürchtet mau, daß die Ablehnung der Pairie unsere ganze
Verfassung in Frage gestellt hätte? Diesen Besorgnissen steht ein Eid entgegen;
und wenn Jemand diese Garantie nicht für hinlänglich erachtet, so muß er nicht
übersehen, daß dann — nach seinen Anschauungen über die Dauerbarkeit unsres
Rechtszustandes — unsere Verfassung als ein sehr precärcs Gut von höchst zwei¬
felhaftem Werthe erscheinen muß, über dessen Verlust sich kein einsichtiger Mensch
betrüben kann. Die Bereitwilligkeit, mit der die Fraction Bethmann den Wün¬
schen des Königs zuvorzukommen sich beeilte, ehren wir vollkommen; aber einer
Frage gegenüber, die doch auch in den Augen dieser Fraction ihre sehr bedenk¬
lichen Seiten haben wird, erscheint sie sehr gefährlich, wenn sie in einer Zeit be¬
wiesen wird, in der bei dem Maße politischer Einsicht, welches die gegenwärtigen
Rathgeber der Krone bei ganz ähnlichen Gelegenheiten zur Schau gestellt haben,
mit der vollen Gewißheit, wie sie überhaupt bei irgend einer politischen Berech¬
nung stattfinden kann, vorauszusehen ist, daß die Ausführung der Maßregel selbst
bei dem besten Willen der Minister in einer Weise erfolgen wird, welche die
eigentlichen Intentionen des Monarchen, aus der neuen Institution eine Stütze
des Thrones zu machen, vereitelt, ja vielleicht die gerade entgegengesetzte Wirkung
hervorbringt. Solchen Verhältnissen gegenüber eine Frage abthun, nur damit
man durch sie uicht abermals behelligt werde, scheint uns eine verderbliche Ver-
irrung zu sein, die unserer Meinung nach mir durch die schiefe Stellung erklärt
werden kann, in die sich die Fraction, dieser Frage gegenüber, von vorn herein
gebracht hat.
Das zweite Moment ist die oben erwähnte Erscheinung, daß die Opposition gegen
das Ministerium!, obgleich sie in dieser Kammer numerisch schwächer ist als in der
vorjährigen, dennoch an Terrain gewinnt, indem sich oppositionelle Regungen in
Kreisen zeigen, die bisher für unbedingt ministeriell galten. Wir haben hier na¬
türlich nicht die Junkcrpartci im Auge, die gegen eine Pairie stimmt, weil sie
den Kleinadel bei der Gesetzgebung als gleichberechtigtes Element neben die Krone
und die Volksvertretung stellen will; sondern diejenigen Männer, deren Meinung
jetzt zum zweiten Male durch den Grafen Limburg - Styrum ausgesprochen ist.
Graf Limburg motivirte seine Abstimmung nicht durch seine Sehnsucht nach einem
von dem Kleinadel zu bildenden Oberhause, auch uicht durch den Wunsch, daß
die wundervoll conservativen Elemente der jetzigen ersten Kammer zunächst in die
zweite verpflanzt werden möchten, sondern schlechtweg durch sein Mißtrauen gegen
die jetzigen Minister, welche die Pairie nicht in einer zweckentsprechenden Weise
bilden würden, und durch seine Ueberzeugung, daß die gegenwärtige Vorlage
ebenso wie die frühere, nach der die Kammern nur alle zwei Jahre einberufen
werden sollten, keinen andern Zweck habe, als zur Rückkehr des Absolutismus
die Wege zu bahnen. Durch solche Ansichten sind die Grafen Limburg und Zie-
then in eine principielle Differenz mit der ministeriellen Fraction Mater gerathen
und haben sich in Folge dessen veranlaßt gefühlt, aus derselben auszuscheiden.
Wie im verflossenen Jahre die Opposition der Fraction Bethmann-Hollwcg sich
consolidirte, wie in dieser Session schon bei mehrern Abstimmungen in der Fraction
Hohenlohe-Danzin oppositionelle Elemente hervorgetreten sind, so findet jetzt anch
noch weiter rechts die Einsicht Boden, daß die rastlose Fortentwickelung des jetzi¬
gen Negiernngösystems der conservativen Sache keinen Dienst leistet, daß nicht
Alles als wohlgethan zu betrachten ist, was von dem gegenwärtigen Ministerium
ausgeht. Und die Sache der constitutionellen Partei steht jetzt so, das sich Je¬
der ihr zuwendet, der sich nur überhaupt zum Besinnen, zur Prüfung entschließt.
Die größte Begebenheit der auswärtigen Politik, der Handelsvertrag mit
Oestreich, wird in der Presse von den verschiedensten Standpunkten aus beleuchtet.
Wenn man mit all diesen entgegengesetzten Ansichten »och die ebenso weit aus¬
einandergehenden Urtheile unserer Sachverständigen, der großen Kaufleute und
Industriellen, vergleicht, so erhält man als letztes weises Resultat den einfachen
Satz, daß sich die Folgen dieses Vertrages noch gar nicht übersehen und von
der größten Weisheit auch nicht einmal annähernd berechnen lassen. In der
That ist die Vergrößerung des deutschen Marktes um 30 bis 50 Millionen Pro¬
ducenten und Consumenten eine so ungeheure Begebenheit, daß sie die deutsche
und preußische Entwickelung in ganz neue Bahnen führen muß. In der preu-
ßischen Handelswelt lebt im Allgemeinen ein frohes Vertrauen, daß die Thätig¬
keit und Intelligenz der Augehörigen des Zollvereins anch da noch Siege er¬
kämpfen werde, wo die Tarifbcstimmungen im Interesse Oestreichs gemacht schei¬
nen. Für Handel und Industrie beginnt eine »eile Aera und die Expansions¬
kraft unserer Geschäftsmänner wird jetzt einen friedlichen Eroberungszug in das
östreichische Gebiet zu leiten haben, dessen Folgen man zunächst als verhängniß-
voll für den Wohlstand der ZollvereinSstaaten betrachten muß.
Aber noch weit wichtiger sind die politischen Folgen des Zollvertrages, so
wichtig, daß sie die ganze Stellung unserer deutschen Partei total verändern.
Denn die große Verbindung der Liberalen, welche seit dem Jahre 18i9 unter
dem Namen der Gothaer als Prinzip eine Concentration der dentschen Interessen
unter Preußens Primat erstrebte, hat, gerade heraus gesagt, dnrch diesen Vertrag
ihr altes Parteiprinzip verloren. Bis jetzt mußte ihr als die einzig mögliche
Erhebung ans dem Partikularismus der einzelnen Staaten erscheinen, einen
Staatsbäu vorzubereiten, welcher Oestreich so fern als möglich hielte, und die in
praktischen und idealen Interessen einander nahestehenden einzelnen Staaten von
vorwiegend deutscher Bevölkerung zusammenbände. Diese Aufgabe ist bis jetzt,
wie wir Alle wissen, durchaus nicht gelöst worden, doch war es möglich und
nothwendig, c»i derselben als an der leitenden Idee festzuhalten, so lange der
östreichische Staat dem übrigen Deutschland isolirt gegenüber stand, wie etwa die
Schweiz oder die russischen Ostseeprovinzen, und durch seine diplomatische Kunst
eine» immerhin vergänglichen Einfluß aus die deutschen Kabinette ausübte. Jetzt
aber werden die praktischen Interessen Deutschlands und Oestreichs auf das Innigste
verbunden. Große Kapitalien der Deutschen werden in östreichischen Unternehmun¬
gen angelegt werden, große Credite werden hier und dort gefordert und bewilligt
werden, jede Art von geschäftlicher Intelligenz wird ans einem Staatenkvrper in
den andern übersiedeln, im Laufe der Jahre werden die Merkantilismen Interessen
beider Völkergruppeu so zusammen wachsen, daß ein gewaltsames Zerreißen un¬
möglich, oder doch im höchsten Grade gefährlich werden muß. Den praktischen
Interessen werden die gemüthlichen folgen, menschliche Beziehungen, herzliche Ver¬
hältnisse, Familienbande werden in sehr gesteigerter Zahl hüben und drüben ent¬
stehen ; und ans den zarten und doch festen Fäden dieser Verbindungen werden
auch ganz audere, als industrielle Ideen sich an Oestreich anheften und das Land
überspinnen. Viele deutsche Landwirthe, Kaufleute, industrielle Gewerbtreibende
werden in Oestreich ihre Thatkraft und ihr Wissen zu verwerthen suchen, und
norddeutsches Wesen und norddeutsche Ideale in ihre neue Heimath hereintragen.
Ueberall werden in Oestreich kleine Colonien deutscher Geister entstehen, und die
Ansichten, Stimmungen, und gemüthlichen Neigungen deS Nordens werden dort
eine lebhafte und einflußreiche Vertretung finden. Es ist unmöglich zu schätzen,
wie weit der Einfluß des protestantischen Geistes und norddeutscher Thatkraft in
Oestreich gehen wird, sicher aber ist, daß er größer sein wird, als umgekehrt die
Einwirknng der östreichischen Kräfte auf die deutschen Völker. Und als Meinung
eines Einzelne» sei hier die Vehanptnng ausgesprochen, daß dieser'deutsche Einfluß
auf Oestreich sich i» uicht lauger Zeit als so wirksam herausstellen wird, daß er
noch ganz andere Folgen nach sich ziehen muß, als eine Verbindung des östreichi¬
schen Capitals mit norddeutscher Intelligenz.
Die östreichische Regierung hat den polirischen Hintergedanken, durch die
Zolleinignng für ihre Suprematie in Deutschland el»e sichere Grundlage zu ge¬
winnen. Wohlan, das Princip der Partei, welcher auch wir angehören, muß
von jetzt ab daS Entgegengesetzte sein, die deutsche» Länder Oestreichs durch
Capital, durch Intelligenz und geschäftige Redlichkeit für den norddeutsche» Geist
zu erober». Das ist der alte Kampf auf einem neuen Terrain, und diesmal ist
der endliche Sieg kaum zweifelhaft. - - Wir werden trotz aller vermehrten Ein¬
wirkungen der kaiserlichen Regierung ans die deutschen Kabinette mit einem Er-
folge kämpfen, welcher genan entsprechen wirb dem Verhältniß, in welchem deutsche
Bildung und Kraft zu der Oestreichischen steht. Die kaiserliche Regierung hat
gewollt', daß die letzte Zeile des Arndtscheu Liedes zur Wahrheit werde: ,',DaS
ganze Deutschland soll es sein", unsere Partei wird von jetzt ab dieselbe Ueber¬
zeugung und dasselbe Prinzip annehmen müssen. Es handelt sich mir noch darum,
wer das Lied zum guten Ende singen wird, ob sie ober wir.
Japan, „das Reich der tausend Inseln", stellt man sich am besten als eine
Halbinsel von großen und kleinen Eilanden vor, die sich von der Diemcnstraße
südlich von Kamschatka, bis zum 31.nördl. Breitengrade erstreckt. Der nördlichste Theil
dieser Halbinsel, die kurilischen Insel», vom Cap Lopatka bis zur La Pcyrouse-
straße, sind eigentlich mehr Schrittstcine nach Japan hinüber, als Japan selbst,
und obgleich die Japanesen sie als Theile ihres Reichs betrachten, scheinen sie
doch keine wirkliche Autorität über dieselben zu besitzen. Erst mit der großen
Insel Südjeso beginnt das eigentliche Japan, seitdem sie, früher dem Fürsten
von Matömai tributpflichtig, unter einem kaiserlichen Statthalter steht. Der
eigentliche Schwerpunkt der Macht deS Reichs liegt aber in der großen Insel
Niphon oder Nippon, wo sich sowol die geistliche wie die weltliche Hauptstadt
befindet, und in der NaHariusel Kiu-sin, mit Nangasaki, dem einzigen Hasen,
in welchem Europäer zugelassen werden; die kleinere Insel Sikok füllt die Lücke
zwischen diesen beiden wichtigsten Theilen des Reiches aus. Außerdem zählen die
javanesischen Geographen noch 3—4000 Inselchen und Klippen zu den Besitzungen
deö Sohnes der Sonnengöttin. Die Bevölkerung wird sehr verschieden von
bis und !i0 Millionen Seelen angegeben; 25 bis 30 Millionen erscheint jedoch
nicht unwahrscheinlich, wenn man bedenkt, daß das Land gesund, nicht unfrucht-
bar und wohl bebaut ist, daß es zahlreiche Dörfer und Städte hat, uuter letztem
Miaco mit 600,000, und Jeddo mit vielleicht 2 Millionen Einwohnern, und daß
es sich seit zwei Jahrhunderten eines ungestörten Friedens erfreut. Das Land
ist schwer zugänglich wegen der steilen Küsten und der vielen Inselchen und ver¬
borgenen Klippen, welche es wie ein Gürtel umgeben, und deren Gefährlichkeit
durch die heftigen Stürme und die dicken Nebel, die sich häufig einstellen, noch
vermehrt wird. Sein Anblick aber ist, wenn man näher kommt, nach Siebold's
Schilderung reizend und eigenthümlich. Mit frischem Grün überzogene Hügel,
bis auf den Gipfel bebaut, schmücken den Vordergrund, »ud hinter ihnen erheben
sich blane Bergspitzen in scharfen, malerische» Umrissen. Ans der blauen Meeres¬
fläche steigen hie und da schwarze Klippen empor, und die steilen Felsenwände
der Küste glänzen in dem goldnen Lichte der Morgensonne. Weiter landeinwärts
steigen fleißig bebaute Terrasse» die Abhänge der von grotesken Felscngruppen
gekrönten Berge hinauf; auf den schönsten Höhenpunkten stehe» in schattenreichen,
parkartigen Hamen die Tempel der Götter, »ut immergrüne Eichen, Cedern und
Lorbeerbäume bilden herrliche Wälder, während hübsche weiße Häuser das Ufer
und zahlreiche Fahrzeuge die Buchte« beleben. Das Jnnere des Landes ist von
hohen Gebirgsrücken durchzogen, aus denen sich mehrere zum großen Theil noch
thätige Vulkane erheben, unter andern der schöne Berg Fnsijamma, an Gestalt
und Große dem Pik von Teneriffa vergleichbar. Siebold, der mehr Gelegenheit
hatte, das Jnnere des Landes zu scheu, als seine Vorgänger, giebt in seinem
Werte eine große Auzahl von Ansichten, die einen bessern Begriff von der pitto¬
resken Physiognomie des Landes geben, als die ausführlichste Beschreibung.
Die Japanesen gehören, wie ihre Gesichtsbildung und ihre Farbe verräth,
der mongolischen Race an, sie siud aber gewiß das edelste Glied derselben. Geistig
und körperlich find sie von unvergleichlich größerer Energie als die Chinesen; sie
sind kräftig, gewandt und abgehärtet, und in der Jugend nicht unschön, wie
mehrere der von Siebold mitgetheilten Portraits beweisen. Mild und höflich im
geselligen Umgänge, siud sie doch blutig grausam alö Gesetzgeber und im Kriege,
dabei voll abenteuerlichen Muths und kühler Todesverachtung. Unversöhnliche
Rachgier, Hinterlist und Argwohn siud Flecken ihres Charakters, der ans eine
seltsame Weise rauhe Barbarei und Ritterlichkeit in sich vereinigt. Einen großen
Theil ihrer Bildung haben sie von den Chinesen, deren Schrift sie auch zuweilen
gebrauchen; ihre Sprache aber ist mit der chinesischen nicht im Mindesten ver¬
wandt. In der Astronomie haben sie viel von den Holländern gelernt, und ihre
natürliche Begabung hat sie in den Stand gesetzt, von den gelehrtesten Werken,
die man aus dem Holländischen übersetzt hat, Nutzen zu ziehen. Ueberhaupt be¬
sitzen sie bei größerer Auffassuugssähigkeir nichts von der eitlen Selbstgefälligkeit,
welche die Chinesen alles Fremde ungeprüft verachten lehrt. Besonders geschickt
sind die Japanesen in der Verfertigung von Stahl und schneidenden Waffe», und
in lackirten Waaren unübertrefflich. In der Landwirthschaft zeichnen sie sich durch
unermüdlichen Fleiß und eine durchdachte Dung- und Bcwässcruugsmethode ans.
Sie sind kühne und gewandte Schiffer, aber eine ans politischen Rücksichten er¬
lassene Ncgieruugöverordunng, die Schiffe so schwach am Hintertheil zu bauen
und das Nuder so einzuhängen, daß hochgehende Wogen ersteres zertrümmern und
letzteres wegreißen müssen, gestattet ihnen nicht, sich weit von den Küsten weg
zu wagen.
Die Kleidung ist bei beiden Geschlechtern ziemlich gleich, und besteht aus
einer Auzahl vou lösen und weiten Kutten von Leinen, Baumwolle oder Seide,
die übereinander getragen und nur vou einem Leibgürtel zusammengehalten werden.
Die langen und weiten, unten zugebundenen und herabhängenden Aermel dienen
in ihrem untern Theile als Tasche. Nur die lebhaftere Farbe und reicheren
Stickereien unterscheiden die weibliche Kleidung von der männlichen. Die Männer
tragen bei feierlichen Gelegenheiten ein Ehrenkleid, eine Art Mantel von eigen¬
thümlicher Form; die vornehmere Klasse zeichnet sich durch zwei kurze Schwerter
aus, die sie an einer Seite über einander trägt; die mittlere Klasse führt nur
eins, und den niederen Ständen ist diese Waffe auf das Strengste verboten. Am
Wesentlichsten unterscheiden sich äußerlich Männer und Frauen durch die Art das
Haar zu tragen. Erstere scheeren sich Stirn und Scheitel, binden das hinten
stehen gelassene Haar zusammen und ziehen es in einem Knoten über den kahlen
Scheitel nach vorn. Die Buddhapriester und die Aerzte scheeren sich den Kopf
kahl. Die Frauen binden ihr reiches, kohlschwarzes Haar zu einer Art Turban
zusammen, durch welche sie 1!i Zoll lauge, sein gearbeitete und glänzend polirte
Stücke Schildkrot stecken. Das Gesicht ist sehr stark geschminkt; verheiratete
Frauen schwärzen sich die Zähne und raufen sich die Augenbrauen aus.
Kein Japanese, Mann oder Weib, kann den Fächer entbehren, den Jeder¬
mann in der Hand oder im Gürtel trägt. Selbst Soldaten und Priester sind
damit versehen. Gäste nehmen die bei einem Besuch ihnen dargebotenen Lecker¬
bissen aus den Fächer; der Bettler streckt, um Almosen flehend, dein Vorüber¬
gehenden den Fächer entgegen. Der japanesische Sticher schwingt ihn wie der
europäische das Stöckchen; dem Schulmeister dient er als Züchtigungsmittel, und
für den vornehmen Verbrecher ist das Darbieten eines Fächers auf einem beson¬
ders geformten Teller ein sicherer Vorbote des Todes: in dem Augenblick, wo er
den Kopf nach dem Fächer vorstreckt, durchschneidet das Henkerschwert ihm den Hals.
Kein wichtiger Vorfall im Leben des Japanesen geht ohne ein bezeichnendes
Ceremoniell vorüber. So wie das Weib eines Japanesen sich für schwanger er¬
klärt, wird ihr ein rother Creppshawl um den Leib gebunden, zum Andenken an
die kaiserliche Amazone Sir-Gu-Kop-Gu, die vor 16 Jahrhunderten gesegneten
Leibes an die Spitze des japanesischen Heeres trat, als der Tod ihren Gemahl,
den regierenden Mikado, mitten in den Vorbereitungen zu einem Feldzug gegen
Kwca hinwegraffte. Nach der Entbindung kann die Wöchnerin nicht die Ruhe
des Wochenbettes genießen, sondern sie muß, nnter den Armen mit Neiösäcken
unterstützt, aufrecht sitzen bleiben, und darf nenn Tage und neun Nächte laug
kein Auge schließen, um nicht etwa im Schlafe aus der vorgeschriebenen Stellung
zu gerathen. Bis zum hundertsten Tag nach der Geburt des Kindes gilt die
Mutter für krank, und erst dann übernimmt sie wieder die Wirthschaft und dankt
den Göttern durch eine Wallfahrt für ihre Genesung.
Am 31. Tage nach seiner Geburt, wenn es ein Knabe, am 30., wenn es
ein Mädchen ist, empfängt das Kind im Tempel des Familiengotteö unter großen
Feierlichkeiten seinen ersten Namen, den es schon mit dem 7. Jahre, wo es den
Gürtel anlegt, mit einem neuen vertauscht. Dieses Namenvcrwechseln tritt auch
später wieder ein, mit jedem neuen Schritt im Leben, mit jeder Beförderung im
Amte, und sogar wenn der Vorgesetzte denselben Namen hat, wie der Unter¬
gebene. Den ersten Unterricht erhalten die Kinder in Elementarschulen, wo selbst
der Niedrigstgeborene lesen und schreiben lernt. Die Kinder vornehmerer Aeltern
kommen alsdann in höhere Bildungsanstalten um in alle Geheimnisse des guten
Tons und der Etiquette eingeweiht zu werden. Zu den Unterrichlsgcgcnständcn ge¬
hört die Tsianosi genannte, d. h. die Kunst, Thee zu bereiten, und ihn mit An¬
stand und Grazie zu serviren, und mit Anmuth zu genießen, serner eine gründ¬
liche Kenntniß des Kalenders, und der glückliche» und unglücklichen Tage des
JahreS; vor Allem aber müssen die Jünglinge die erhabene Wissenschaft des
Hara-Kiri, ,,der glücklichen Abfertigung" studiren, d. h. die schwierige Kunst sich
den Bauch aufzuschneiden, und zwar nicht nnr das Wie, sondern auch das Wann —
in welchen Fällen ein Kavalier freiwillig seinem Leben ein Ende machen muß,
entweder um einem entehrenden Tode zu entgehen, oder seine Erben vor den
nachtheiligen Folgen desselben zu schützen.
Verliebt sich ein Japanese in ein Mädchen, so befestigt er an ihrer Thür
einen Zweig von (.Iclaslrus iilöiitus. Läßt seine Auserwählte den Zweig unangerührt
verwelken, so ist seine Liebe hoffnungslos; wenn sie aber seine Liebe erwidert,
so schwärzt sie sich auf der Stelle die Zähne; das höchste Liebeszeichen, das
Ausraufen der Augenbrauen, wird bis zum Hochzeitstag aufgespart. Bei den
Eheu wird sehr streug auf Standesglcichhcit zwischen den beiden Ehegatten gesehen,
und eine Mißheirath gilt für eine nntilgbare Schande. Die gesellschaftliche
Stellung der Frauen ist in Japan besser, als im übrigen Orient. Sie werden
in keinen Harem eingesperrt, nehmen an allen Vergnügungen ihrer Familien Theil
und machen die Honneurs ihres Hauses. Ihre Keuschheit steht unter dem
Schlitze des eigene» Ehrgefühls und der Furcht vor dem Tode, mit dem jeder
Verstoß gegen die eheliche Treue unfehlbar bestraft wird. An Bildung stehen sie
den Männern nicht nach, und die japanische Literatur zählt mehrere Schriftstelle¬
rinnen unter ihre schönsten Zierden. Aber so hoch anch ihre gesellschaftliche Gel¬
tung ist, ihre rechtliche ist null. Sie stehen ihr ganzes Leben lang unter der
Vormnudtschaft ihrer männlichen Verwandten, haben keine gesetzlichen Rechte,
können vor Gericht kein Zeugniß ablegen, und müssen sich gefallen lassen, daß
ihr Gatte Maitressen als gleichberechtigte Frauen in sein Hans einführt; auch
besitzt der Mann unbeschränktes Scheiderecht, während die Fran nnter keiner
Bedingung die Trennung von ihrem Gatten verlange» kann. Von der strengen
Ansicht, welche die Japanesen über weibliche Ehe haben, sticht es sehr seltsam ab,
daß man nicht die Freudenmädchen, sondern blos die Bordcllwirthe, als unehr¬
lich betrachtet, und daß diese Mädchen wegen ihrer Schönheit und Bildung nicht
ungern zur Ehe genommen werden. Die Schande ihres frühern Lebenswandels
fällt nicht auf sie, sondern auf ihre Aeltern und Verwandte, die sie in ihrer
Jugend, ehe sie sich noch selbst eine Lebensbahn auswählen konnten, in die
öffentlichen Hänser verkauft haben.
Das Leben der japanesischen Damen und Herren wird sehr wenig durch Ge¬
schäfte gestört, denn selbst die Beamten haben, da jedes Amt mehrfach besetzt ist,
nicht viel zu thun, und sie können daher ihre Zeit ziemlich gleichmäßig zwischen
den Pflichten ceremouieller Höflichkeit und geselligen Vergnügungen theilen. Erstere
bestehen hauptsächlich in Briefe wechseln und Geschenke machen, worüber, wie
über alles in Japan, die umstäudlichsten Gesetze bestehen. Es giebt besondere
Gelegenheiten, wo die Art der zu machenden Geschenke unabänderlich bestimmt
ist; andere, wo ihre Auswahl dem Geber überlassen ist; doch ist es stets Regel,
daß der Höherstehende nützliche Sachen, der Untergeordnete dagegen Raritäten
und Tändeleien schenkt. Zwischen Gleichstehenden ist der Werth der Gabe gleich-
giltig; ein paar Buch Papier, oder ein Dutzend Eier genügen, wenn sie nur in
einem hübschen, mit Seidenschnnr zugebundenen Kästchen nud auf einem hübschen
Teller präsentirt werde». Jedem Geschenk fügt mau die glückverkündcnde Schleife
von buntem Papier bei, niemals aber darf ein Scheibchen getrockneter Fisch von
der geringsten Sorte fehlen, das als Erinnerung an die frühere frugale Lebens¬
weise der Japanesen, anch ans jede Tafel kommt.
Außer Gastmahlen und Thees, die sich weniger durch Aufwand in den vor¬
gesetzten Gerichten, oder durch besondere Heiterkeit der Unterhaltung, als durch
die Kostbarkeit des auf den Tisch kommenden lackirten nud Pvrzcllangeschirrs
auszeichnen, kennen die Japanesen anch ungezwungenere Gesellschaften, wo
die Hauptunterhaltung in einer dem europäischen Ohre unerträglichen Musik
und in Tanz, oder in Gesellschaftsspielen besteht. Karten und Würfel sind ver¬
boten, dafür spielt man Schach nud Dame und eine Art Mora, mit großer
Leidenschaft. Auch Trink'spiele kommeu vor, bei denen eine lärmende Fröhlichkeit
herrscht, und bei denen sich die jünger» Japanesen abwechselnd i» satt (Ncisbicr)
berauschen, und in Thee wieder ernüchtern, bis sie besinnungslos nach Hause
geschafft werde».
Im Sommer nehmen die gesellschaftliche» Vergnügungen häufig die Form
von Land- und Wasscrparticn an, um die schöne Gegeud zu genieße», und man
wählt meistens die sehr angenehm gelegenen Tempel zu Sammelpunkten. Man
unterhält sich mit Musik und Tanz, nud miethet auch wol, wennn die eigenen
Kräfte nicht ausreichen sollten, Musikanten, Jongleurs, Tänzer ze. von Profession.
Dazu kommeu noch Erzähler, die sich von ihren Kollegen im übrigen Orient sehr
bedeutend unterscheide». Sie erzähle» nicht etwa Märchen, sondern die (Nw-
niMö scimclirleuse der Stadt, die in Erfahrung zu bringen sie große Mühe
aufwenden. Mit der Pflicht, die Gesellschaft zu unterhalten, verbinden sie noch
eine andere; sie müssen nämlich als Muster der Höflichkeit und feinen Erziehung
dienen, um den Ton der ihrer Dienste bedürfenden Gesellschaft zu heben. Beiden
nicht sehr verträglichen Obliegenheiten sollen sie ans wahrhaft bewundernswerthe
Weise nachkommen, und obgleich sie als Spaßmacher sich die rohesten HauS-
wnrstiaden erlauben, vergessen sie sich doch nie, und nehmen im geeigneten Augen-
blick ihr seines Benehmen wieder ein, um die ganze Gesellschaft zur Ordnung und
zum Anstand zurückzurufen.
Der Tod macht dem Japanesen nicht weniger Umstände, als das Leben.
Häufig verstreicht zwischen dem Sterbetage und der Bestattung eine ziemlich
lange Zeit. Viele vornehme Japanesen sterben Naybnn (heimlich) — entweder natür¬
lichen Todes, oder durch eigene Hand. Stirbt Einer, während er im Besitz eines
Amtes ist, so wird sein Tod verheimlicht — er ist Naybun — und das Leben seiner
Familie geht seinen gewöhnlichen Gang, bis der Sohn sich den Heimfall der
erledigten Stelle gesichert hat. Ist ein Beamter sehr verschuldet, so geschieht
dasselbe zu Gunsten seiner Gläubiger, welche seinen Gehalt bekommen, während
er, obgleich sein Tod Jedermann bekannt ist, dem Namen nach noch lebt. Auch
das früher erwähnte Bauchanfschlilzcn geschieht manchmal Naybun, wenn die
Familie aus der Verheimlichung des Todes Riesen zu ziehen hofft.
Zum ersten öffentlichen Zeichen der Trauer werden sämmtliche Thüren und
Läden auf den Kops gestellt und die Kleider umgewendet. Ein Priester nimmt
neben der Leiche Platz. Der Familie erlaubt die Sitte nicht, an den Vorberei¬
tungen zum Leichenbegängnisse Theil zu nehmen, da mau bei ihr einen zu großen
Schmerz über deu erlittenen Verlust voraussetzt, als daß sie sich um das kleinliche
Detail der Leichenbesorgung bekümmern könnte, und die vertrautesten Freunde
übernehmen daher diese Geschäfte, so wie das nicht weniger mühevolle des Em¬
pfängnis der Kondolenzbesuche, die aber nie die Schwelle überschreiten, da das
Haus vom Todestag an unrein ist. Bei der Ernst wird, wie bei den Chinesen,
besonders Sorge getragen, daß kein Wasser hineindringt. Die Trauerfarbe ist
weiß, und die nächsten Verwandten des Verstorbenen bleiben 13 Monate nach
seinem Tode unrein; die Trauer im Allgemeinen dauert aber blos 49 Tage.
Ueber das Schicksal des Verstorbenen jenseits des Grabes sind die An¬
sichten in jeder religiösen Secte verschieden. Denn obgleich der Sintnismns so
weit die anerkannte Staatsreligion ist, daß sich alle andern Seelen wenigstens
äußerlich ihr anschließen müssen, haben doch Buddha und Consuzius zahlreiche
Verehrer, und auch Mahomed und Brahma zählen nicht wenige Gläubige. Das
Christenthum ist, wie schon früher erwähnt, blutig ausgerottet worden, und auf
des Strengste verboten.
Da der Sintnismns die Gruudsäule der japanischen Staatsverfassung ist,
und der Mikado seine Herrschifft von ihm herleitet, müssen wir ihm einige Worte
widmen. Nach den Japanesen erhob sich aus dem ursprünglichen Chaos ein
höchster Gott, der im obersten Himmel wohnte — wie sein etwas langathmiger
Name Ameno-mi-maka-n»sino-laeni besagt — und viel zu groß war, um sich in
seiner göttlichen Ruhe durch irgendwelche Sorgen stören zu lassen. Nach ihm
entstanden zwei schaffende Götter, welche die Welt aus dem Chaos gestalteten,
aber die Erde noch ungeschaffen ließen. Sieben himmlische Götter hinter einander
regierten dann die Welt viele Myriaden Jahre lang, bis der letzte derselben die
Erde, oder vielmehr Japan, und 8 Millionen Götter erschuf, die Regierung der
Welt aber seiner Lieblingstochter, der Sonnengöttin, übergab, die nnr 2!)0,000 Jahre
regierte, worauf ihr 4 Halbgötter mit einer Regierungszeit von 2,09-1 M2 Jahre
folgten. Der letzte derselben nahm eine sterbliche Gattin, und erzeugte mit ihr
einen Sohn, den Urahn der Mikados.
Alle diese Götter sind aber zu hoch, um sich um die irdischen Angelegen¬
heiten bekümmern zu tonnen, und der practische Japanese wendet daher sein
Gebet nicht direct an sie, nicht einmal an die Schutzgöttin des Landes, die Son-
nengöttin, sondern an die Kamis, Naturgeister oder Heroen und Heilige, deren
Anzahl selbst einen Katholiken in Erstaunen setzen würden, denn die japanische
Mythologie kennt von ersteren i92, von letzteren nicht weniger als 26-L0. Ihnen
wird während 11 Monaten des Jahres Verehrung gezollt, während des zwölften
aber kaun man nicht zu ihnen beten, denn dann sind sämmtliche Kamis auf Be¬
such am Hofe des Mikado. Sie werden in Miaö oder Tempeln verehrt, in denen
auch ihr Bild aufbewahrt wird, ohne jedoch Gegenstand der Verehrung zu sein.
Der Siutv verrichtet sein Gebet kniend vor einem im Tempel angebrachten Spie¬
gel, und so deutlich er seine Züge in demselben erblickt, so klar sind dem Gotte,
zu dem er betet, die Flecken und die Wünsche seiner Seele. Reinheit der Seele,
des Herzens und des Körpers, Beobachtung der Festtage, Pilgerfahrten und Ver¬
ehrung der Kamis sind die hauptsächlichsten religiösen Pflichten des Sintv. Sein
Lohn jenseits ist ein glückseliges Leben im Paradies unter dem 33. Himmel,
der Wohnung seiner Götter; die Bösen irren nach dem Tode umher, bis sie ihre
Verbrechen gesühnt haben.
Die Tempelwächter, die Kamiuusi, sind die einzige eigentliche Priesterschaft
der Sirtus. Sie dürfen sich verheirathen, und ihre Frauen sind Priesterinnen,
und verrichten verschiedene gottesdienstliche Gebräuche. Außer 'durch die Tracht
des Haares, welches sie nicht scheeren, und durch einen besonders gestalteten Hut
unterscheiden sich die Kamiuusi in nichts von den Laien; nur bei ihren gottes-
dienstlichen Verrichtungen legen sie ein besonderes Kleid an. Ihre Kaste gehört
zu den vornehmern und ist berechtigt, zwei Schwerter zu tragen.
Außerdem giebt es zwei Bliudeuordeu, die ebenfalls zu den Geistlichen zählen,
obgleich die Mitglieder des einen derselben ihren Lebensunterhalt hauptsächlich
durch Musik verdienen, und selbst im Theater spielen. Die Entstehungsgeschichte
dieser beiden Orden ist so romantisch, und die deö einen so charakteristisch für die
Japanesen, daß wir sie unsern Lesern nicht vorenthalten dürfen.
Der Ursprung des ersten dieser Orden, Bussatz Salv, hat mit der Religion
nichts zu thun, sondern knüpft sich an eine Liebesgeschichte. Vor vielen Jahr¬
hunderten stiftete ihn Senmimar, Sohn des Mikado Jengins, der schönste aller
Menschen, weil er sich um den Verlust einer ihm an Schönheit gleichkommenden
Prinzessin von kaiserlichem Geblüt, die er liebte, blind geweint. Dieser Orden
Bussalz Salv bcstcind schon mehrere Jahrhunderte, als in dem verheerenden Bür¬
gerkriege des 12. Jahrhunderts der berühmte Held Jvritomv den aufrührerischen
Fürsten Fell im Kampfe erschlug, nud seinen Feldherrn, Kakekijv gefangen nahm.
Dieser Feldherr war in ganz Japan hochberühmt, nud der Sieger gab sich alle
mögliche Mühe, die Freundschaft des Gefangenen zu gewinnen; er behandelte ihn
mit der größten Achtung, und bot ihm zniejzt die Freiheit an. Kakekijv gab zur
Antwort: Ich kaun Niemanden lieben, als meinen erschlagenen Herrn. Ich bin
Euch Dankbarkeit schuldig, aber Ihr seid Schuld an Fürst Fell's Tod, und ich
kann Euch nicht ansehen, ohne de» Wunsch zu fühle», Euch zu tödten. Das
Glück hat mich so verlassen, daß ich Euch, um Euch für Eure Güte gegen mich zu
danke», nichts geben kann als die Augen, welche Euch so Böses wünschen."
Damit riß er sich die Augen aus, und bot sie Joritomo auf einem Teller dar.
Voll von Bewnndcniug über solchen Heroismus schenkte ihm Joritomo die Frei¬
heit, nud Kakekijv zog sich in die Einsamkeit zurück, und gründete den zweiten
Blindcuvrden der Fekisata. Der General beider Orden residirt in Miaco, am
Hofe des Mikado.
Eine dritte geistliche Genossenschaft sind die Jammoboö, eine Art Bettel-
eremiten, die den Ruf eines besonders heiligen Lebenswandels und der Geschick-
lichkeit in magischen Künsten beanspruchen, die sie mit großem Erfolg für ihre
Beutel zur Heilung von Krankheiten anwenden.
Der reine Sintncnltns zählt verhältnißmäßig nnr wenige Bekenner, denn
der seit langer Zeit ans Indien herübergct'omiueue Buddhaismus hat ihm viel
Boden abgewonnen, und die bei weitem zahlreichere Hälfte der Siutus hat sehr
viel von ihm entlehnt. Durch das Vorgeben, daß die Sonnengöttin eine Jncarna-
tion Budda Amidaö, des höchsten Gottes der Buddhaisten sei, hat er seine Lehre
mit den politischen Bedürfnissen der Mikadodyuastic versöhnt, und sich eine sichere
Stellung im Staate erworben, wen» er sich auch der Form nach dem SinducultuS
anschließe» muß- Die Abneigung der Japanese», Thiere zu todten, und dieUn-
ehrlichkeit der Fleischer, Gerber ». f. w., ist wahrschci»lieh den, El»si»ß des Buddha¬
ismus zu verdauten, dem wegen der Seelenwanderung das Leben des Thieres
heilig ist.
Um dem Leser ein möglichst deutliches Bild von dem Bolkscharakter der
Japanesen zu geben, füge» wir noch einige Anekdoten bei, welche ein Helles Licht
auf ihre nationale» Eigc»es»mlichkcite», auf ihre unversöhnliche Nachsucht, ihren
unerschrockenen Muth, ihre Geringschätzung des Menschenlebens, aber auch ans
ihre hingebende Treue und ihre Erstndsamkeit werfen. Wir lesen sie aus den
verschiedenen Schriftsteller», die über Japan geschrieben habe», zusammen.
Im Jahre 1«80 kam ein kleines japanisches Fahrzeug uach der Insel For-
mosa, welche damals der holländischen.Compagnie gehörte. Der damalige Gou-
verneur der Insel behandelte die Fremdlinge schlecht, die sich bei ihrer Rückkehr
nach Japan darüber beklagten, und Genugthuung für den nicht allein ihnen, son¬
dern auch ihrem Fürsten angethanen Schimpf forderten. Da der Fürst sich außer
Stande sah, die gewünschte Rache zu nehmen, redete ihn seine Leibwache folgen¬
dermaßen an: „Wir wollen Eure Person nicht länger bewachen, wofern uns nicht
verstattet wird, Eure Ehre wieder herzustellen; nichts als das Blut des Über¬
treters kann diesen Fleck abwaschen; befiehl, und wir wollen den Kopf des Verbrechers
abhauen, oder ihn lebendig hierher bringen, damit er nach Euerm Gutdünken und
seinem Verdienste bestraft werde. Sieben vou uns sind genug; weder die Ge¬
fahren des Meeres, noch die Stärke der Besatzung, noch die Anzahl seiner Leib¬
wache sollen ihn vor unserm Zorn schützen." Nach erhaltener Erlaubniß und vor¬
sichtig angestellter Ueberlegung kamen die Rächer nach Formosa. Wie sie zur
Audienz beim Gouverneur Einlaß erhielten, zogen alle sieben auf einmal ihre
Säbel, nahmen den Gouverneur gefangen, und brachten ihn rasch auf ihr Schiff.
Dies tollkühne Unternehmen geschah mitten am hellen Tage, im Angesicht der
Wache und der Leute im Hanse, ohne daß einer von diesen ans Bestürzung es
wagte, sich zur Befreiung seines Herrn zu rühren, dessen Kops die Japanesen in
demselben Augenblick gespaltet hatten.
Wie schwach der Faden ist, an dem das Leben jedes japanesischen Beamten
hängt, geht aus folgendem Vorfall hervor. Im Jahre 1808 faßte Capirän
Pellew von dem englischen Kriegsschiff Phaeton den Plan, die jährlich nach
Japan segelnden holländischen Handelsschiffe zu kapern. Als er sich der Bucht
von Nangasaki näherte, und man sein Schiff vom Lande ans erblickte, näher¬
ten sich ihm wie gewöhnlich zwei Boote, das eine von holländischer, um die
vermeintlichen Landsleute zu begrüße», das andere ein japanesisches, um die Geißeln,
die jedes in den Hafen segelndes fremde Schiff geben muß, in Empfang zu
nehmen. Das holländische Boot war eine kleine Strecke voraus, und segelte
arglos auf das die holländische Flagge führende Schiff los, als ihm von da ans
ein Boot entgegen kam, es unerwartet enterte, und die holländischen Beamten
auf das Schiff entführte. Der japanesische Polizeibeamte und die Dolmetscher,
auf das Aeußerste bestürzt über eine so unerwartete und unbegreifliche Katastrophe,
kehrten zurück, um Bericht abzustatten. Der Statthalter von Nangasaki, dem
das Verschwinden von zwei seiner Obhut anvertrauten Fremden den Kopf kosten
mußte, befahl den beiden Gobanvgosis, die gefangenen Holländer wiederzubringen,
oder lebendig nicht wiederzukommen, nud schickte dann nach dem damaligen hollän¬
dischen Oberfaktor Doeff, um Aufklärung über den Vorfall, und die Mittel, die
Gefangenen zu befreien, zu erlangen. Doeff erwiederte, daß das Schiff wahr¬
scheinlich ein englisches Kriegsschiff, die Freilassung der Holländer aber, als Ci¬
vilisten, wahrscheinlich durch Unterhandlungen zu erlangen sei. Unterdessen aber
segelte der Phaeton ohne Lotsen in den Hafen, und die Japanesen, ganz bestürzt
über dieses beispiellose Unterfangen, erhoben ein lautes Geschrei, daß die Frem¬
den auf Desima lossegelten.
Der Statthalter, der jetzt für seine ganze Faktorei zu fürchten anfing, be¬
fahl allen Holländern, sich mit ihren werthvollsten Sachen in sein Haus zu flüch¬
ten, um dort wenigstens so sicher wie er selbst zu sein. Sie fanden ihn im
fürchterlichsten Zorne, und er empfieng Doeff mit den Worten: „Seid ruhig,
Oppcrhvofd, ich will Euch Eure Holländer selbst wieder zurückschaffen." Bald
darauf kam ein Brief von einem der Gekaperten, mit der Botschaft, daß das
Schiff ein englisches sei, und Lebensmittel und Wasser verlange.
Der Statthalter erklärte seine entschiedene Abneigung, dieses Verlangen zu
erfüllen, und traf mit großem Eiser Anordnungen, seinen allgemeinen Instructio-
nen gemäß, das fremde Fahrzeug zu vernichte». Zu allererst schickte er uach den
Truppe» des nächste» Postens, de» der Fürst von Fizen zu stellen hatte, und der ans
tausend Mann bestehen sollte; aber es waren nnr 30—60 Mann da, und selbst
der Befehlshaber war abwesend. Diese Unterlassungssünde dritter Personen be¬
siegelte das Schicksal des Statthalters, aber er betrieb deshalb seine Bemühungen,
die Holländer zu befreien, nicht minder energisch, und sein Plan, dies Ziel durch Unter-
handlung zu erlangen, war echt japanesisch. Sein Oberschreiber kam zu Doeff, mit der
Meldung, daß er Befehl habe, die Gefangenen zurückzubringen; und gab auf die
Frage: Wie? zur Antwort: da das Schiff sich der Holländer verräterischer Weise
bemächtigt hat, werde ich mich ganz allein an Bord begeben, und mit de» stärk¬
sten Betheuerungen der Freundschaft den Capitän zu sprechen verlangen, um von
ihm die Freilassung der Holländer zu fordern, und falls er mir sie verweigert,
erst ihn und dann mich niederstoßen." Nur die Vorstellungen Docffs, daß eine
solche That die Ermordung der Holländer durch das wüthende Schiffsvolk unfehlbar
nach sich ziehen würde, konnte den Gouverneur mit vieler Mühe von diesem aben¬
teuerlichen Plane abbringen.
Einer der gefangenen Holländer kam jetzt, auf Ehrenwort entlassen, ein's
Land, um die verlangten Lebensmittel zu holen. Er brachte die Nachricht, daß
der englische Capitän sich uach den holländischen Schiffen erkundigt, und gedroht
habe, jeden Versuch, ihn zu täuschen, mit der Hinrichtung der beiden Gefangenen
und der Verbrennung sämmtlicher Fahrzeuge in der Bucht zu bestrafen. Der
Statthalter zeigte sich im höchsten Grade abgeneigt, den an's Land Gekommenen
wieder fort zu lassen, gab aber »ach langem Zureden, des Zurückgebliebenen wegen,
nach. Er übergab ihm anch Lebensmittel und Wasser, aber eine ganz kleine
Quantität, um das Schiff hinzuhalten, bis er die Feindseligkeiten eröffnen könne.
Capitän Pellew, der sich überzeugt hatte, das; die gesuchte» Schiffe nicht in der
Bucht waren, und dem der erhaltene Proviant genügte, schickte nun die beiden
Holländer wieder an'S Land. Ihre Freilassung war für die beiden Polizeibeam¬
ten, die immer noch rathlos um das Schiff ruderten, Rettung vor sicherem Tode.
Der Phaeton aber ging, während der Statthalter die thätigsten Vorbereitungen
zur Eröffnung des Kampfes traf, nud von allen Seiten Truppen zusammenzog,
unter Segel, und verließ die Bucht ohne Lotsen, wie er gekommen war.
Die Holländer durften jetzt nach Desima zurückkehren, und für sie war alle
Gefahr vorbei. Anders war es mit den Japanesen. Der Statthalter hatte,
allerdings ohne es zu beabsichtigen, seine Instructionen verletzt, indem er den
fremden Eindringling hatte entschlüpfen lassen, und er fühlte, daß er seine Pflicht
versäumt hatte, weil er den Zustand der Küstenwache nicht untersuchte. Aür einen
Japanesen giebt es über den unter solchen Umständen einzuschlagenden Weg kein
Besinnen.. Die Katastrophe wird von Docff folgendermaßen erzählt:
„Der Statthalter kannte das seiner wartende Schicksal so gut, daß er, als
wir kaum eine halbe Stunde fort waren, sein Haus um sich versammelte, und
sich in der Anwesenheit aller seiner Angehörigen den Leib aufschlitzte. Die Be¬
fehlshaber der nachlässig befundenen Posten, die nicht Offiziere deö Sjvguns,
sondern des Fürsten von Fizen waren, folgten seinem Beispiel, und rettete» so
ihre Verwandten vor unausbleiblicher Entehrung. Daß ihre Pflichtversäumniß
die strengste Strafe gefunden hätte, geht daraus hervor, daß der Fürst vou Fizen,
obgleich er sich nicht in seiner Provinz, sondern ans Befehl des Sjognn in Jeddo
aufhielt, 100 Tage Gefängniß erhielt, weil die von ihm eingesetzten Beamten
seinen Befehlen nicht gehörig nachgekommen waren. Der junge Sohn des Si.ttt-
Halters von Nangasaki steht dagegen jetzt in hoher Gunst bei Hofe, und begleitet
ein ehrenvolles Amt. Um ihn einigermaßen für den Verlust seines Vaters zu
entschädigen, bat der Fürst von Fizen, da die Pflichtvcrsänmniß der unter seinem
Befehl stehenden Posten hauptsächlich an dem tragischen Vorfall Schuld war, den
Staatsrath um Erlaubniß, dem Sohne des unglücklichen Statthalters vou Nan¬
gasaki 2000 Kohls (ungefähr 17000 Thaler) schenken zu dürfen. Es wurde ihm
nicht nur dieß gestattet, sondern auch die eben so unerwartete wie unerbetene Er.
lanbniß hinzugefügt, ein wiederholtes Ansuchen ihm zu ersparen, und das Geschenk
jährlich zu erneuern. Diese Erlaubniß, die einem Befehl gleich zu achten war, zwang den
Fürsten vou Fizen, den verwaisten Kindern des Statthalters, eine Leibrente auszuzahlen."
Folgender Vorfall aus der japanesischen Geschichte giebt ein gutes Beispiel
von dem wilden Heroismus und der standhaften Dankbarkeit des Volks. Wäh¬
rend des Bürgerkriegs zwischen Görger und dem Gatten seiner Enkelin Hydcjosi
war der Fürst von Toza ein getreuer Anhänger des letzter», und hatte bei der
Besiegung desselben das Unglück in des Usurpators Hand zu fallen. Dieser ließ
ihm erst die Hände abhacken — in den Augen der Japanesen die entehrendste
Strafe die es giebt — und dann enthaupten. Der Fürst hatte einen neunjäh¬
rigen Sohn, Marabvzi Tschuja, der sogleich beschloß den Tod seines Vaters zu
rächen, fühlte aber, daß bei seiner zarten Jugend die Ausführung seines Ent¬
schlusses für jetzt unmöglich sei. Mit der Zähigkeit eines Japanesen wartete er
bis zur Thronbesteigung von Gongens Urenkel, Minamoto-no-jeje-mitsu, <e!51,
wo er die Stelle eines Befehlshabers der Pikeniere Jorinobos, des neuen Sjoguns
Onkel, erbiete. Jetzt glaubte Tschuja die Gelegenheit zur Rache ergreifen zu
müssen. Er verschwor sich mit Ziositz, dem ehemaligen Lehrer Jorinobos, das
ganze Geschlecht GongenS auszurotten, und das Reich zwischen sich und Ziositz
zu theilen. Die Verschwörung hatte schon zahlreiche Anhänger gesunden, als
Tschnjci, der seine Rachepläne fast 30 Jahre in seinem Busen bewahrt hatte,
sich durch eine Unvorsichtigkeit verrieth, und der Sjogun Befehl ertheilte die
beiden Hauptverschwörer wo möglich lebendig zu verhaften, um weitere Bekennt¬
nisse von ihnen zu erpressen. Eo gelang bei Tschuja, der in Jeddo wohnte.
Man machte vor seiner Thür Fcueilärm, und als er heraustrat, wurde er über¬
fallen, und nach hartnäckiger Gegenwehr, — er tödtete zwei der Häscher, —
überwältigt. Seine Gattin hörte den Lärm, ahnte die Ursache, und beeilte sich
die Papiere ihres Mannes, die viele Fürsten und andere Vornehme des Landes
in der Verschwörung compromittirten, zu verbrennen. Ihre Geistesgegenwart
wird jetzt noch in Japan bewundert, und will man einem geistesstarken Weibe
eine ganz besondere Ehre erweisen, so vergleicht man es mit Tschuja's Gattin.
Glücklicher als Tschuja entging Zivsitz der Verhaftung durch das gewöhnliche Mittel
des Selbstmords; aber zwei seiner Freunde, Jkejemon und Fatsijcmon, wurden
festgenommen und verhört. Sie erkannten bereitwillig ihre Theilnahme an einer
Verschwörung an, die sie für ruhmvoll hielten, weigerten sich aber, Teilnehmer
zu nennen. Nun wurden sie Foltern unterworfen, deren Beschreibung die Haut
schaudern macht, über die wir aber nicht mit Stillschweigen hinweg gehen dürfen,
wenn wir einen richtigen Begriff von der Sündhaftigkeit und der Wildheit des
japanesischen Charakters geben wollen.
Zuerst überklebte man Tschuja, Jkejemon und Fatsijemon mit feuchtem Thon
und legte sie dann ans heiße Asche, bis der sich durch das Trocknen zusammenziehende
Thon das Fleisch mit zahllose» Wunden zerriß. Kein Einziger verzog eine Miene, und
Fatsijemon, der wie ein Mohawk unter den Händen blutdürstiger Irokesen seine
Peiniger verhöhnte, sagte: „Ich habe eine lange Reise gemacht, und die Wärme
ist gut für meine Gesundheit; meine Gelenke werden dadurch geschmeidiger, und
meine Glieder gewandter." Da diese Marter ihren Zweck nicht erreichte, machte
man Jedem einen 8 Zoll langen Einschnitt in den Rücken, und goß siedendes
Kupfer hinein, und nach dem Erkalten grub man dieses Kupfer wieder aus, so
daß es das daran hängenbleibende Fleisch mit wegriß. Auch dadurch ließ sich die
Standhaftigkeit der Opfer nicht erschüttern. Fatsijemon nannte die Tortur eine
neue Art Moxa, eine von den japanesischen Aerzten angewendete Cantesirungs-
methode; und Tschuja sagte zu dem Richter, der ihn aufforderte, weitere Qualen
sich durch Nennung seiner Mitschuldigen zu ersparen: „Kaum war ich nenn Jahr
alt, so beschloß ich meinen Vater zu rächen, und mich des Thrones zu bemächtigen.
Mein Muth ist so unerschütterlich, wie eine unsrer Mauern. Ich trotze allem
Eurem Witz! Erfindet neue Qualen, meine Sündhaftigkeit spricht ihnen Hohn."
Die Regierung gab die Hoffnung ans, auf diesem Wege neue Entdeckungen
zu machen, und beschloß, die Strafe an den Opfern, die in ihre Hand gefallen,
zu vollstrecke». Es waren, außer den drei Obengenannten, noch ZI, die meistens
nur als Freunde und Verwandte der Verschworenen verdächtig waren, und so
mit in ihr Schicksal verwickelt wurden. Sieben davon waren Frauen, und na¬
türlich befand sich Tschuja'ö Gattin unter den Opfern. In einem langen Zuge
wurden sie zum Tode geführt, und als sie auf dem Hinrichtnngsplatze ankamen,
drängte sich ein zwei kostbare Schwerter tragender Maun durch die Menge und
redete den mit der Beaufsichtigung der Hinrichtung beauftragten Richter folgender¬
maßen an: „Ich bin Sibata-Sabrobe, der Freund Tschuja'ö und Ziositz's. Da
ich weit entfernt von hier wohne, habe ich erst vor Kurzem von ihrer Verschwö¬
rung gehört, und bin sofort nach Jeddo geeilt. Bis jetzt habe ich mich verborgen
gehalten, in der Hoffnung, der Sjvguu werde in seiner Gnade Tschuja verzeihen;
da er aber jetzt sterben soll, so bin ich gekommen, um ihn zu umarmen, und,
wenn es sein muß, mit ihm den Tod zu leiden." „Du bist ein edler Mann,"
gab der Richter zur Antwort „und ich wollte, alle Welt wäre wie dn. Ich brauche
nicht erst des Statthalters von Jeddo Erlaubniß abzuwarten, um deine Bitte zu
gewähren; du kannst Tschuja Gesellschaft leisten."
Die beiden Freunde sprachen eine Zeit lang ungestört mit einander; dann
holte Sibata einen Krug Saki, den er mitgebracht, und sie tranken sich darin
zum Abschied zu. Beide weinten. Tschuja dankte seinem Freunde mit großer
Innigkeit, daß er noch einmal gekommen, ihn zu sehen. Sibata erwiderte:
„Unser irdischer Körper gleicht der prächtigen Blume Asagawa, die mit Tagesgrauen
aufblühe, und so wie die Souue aufgeht, verwelkt; oder der Eintagsfliege No-
gero. Aber nach dem Tode werden wir uns in einer bessern Welt wiederfinden,
wo wir uns nie wieder trennen." Darauf stand er auf, verließ Tschuja, und
dankte dem Richter für seine Nachsicht.
Die Gefangenen wurden nun an Kreuze geheftet, und dnrch Bauchaufschlitzen
hingerichtet. Aber auch die Frauen starben mit der größten Standhaftigkeit.
Als sie ausgelitten, trat Sibata abermals vor den Richter und bot ihm seiue
beiden Schwerter mit den Worten dar: „Dir bin ich Dank schuldig für die
Unterredung mit meinem Hingeschiedenen Freunde; und ich fordere Dich jetzt auf,
.mich bei dem Sjogun anzuklagen, damit ich wie Tschuja den Tod leide." —
„Verhüten die Götter, daß ich solches thue!" rief der Angeredete aus. „Du
verdienst ein besseres Schicksal, denn während alle seine andern Freunde nur für
ihre Sicherheit sorgten und sich versteckt hielten, meldest Du Dich kühn, um ihn
zum Abschied zu umarmen."
Das Schicksal eures andern der dieser Verschwörung Verdächtigen, giebt
ein schönes Beispiel von der hingebenden Treue der Japanesen. Seit der Ver¬
nichtung von Tschuja's Papieren fehlte es an allen schriftlichen Beweisen gegen
die Theilnahme an dem Complott; aber der Umstand, daß Ziositz, der eine so
wichtige Rolle dabei spielen sollte, Lehrer, und Tschuja Officier des Jorinobo
gewesen, mußte diesen Fürsten bei dem argwöhnischen Sjogun verdächtig machen.
Man fing eine Untersuchung gegen ihn an, ohne zu einem Ziel zu kommen, als
sein Secretair Karmofejemon mit der Erklärung hervortrat, daß er allein von
dem ganzen Haushalt des Fürsten in die Verschwörung eingeweiht sei; zur Bestätigung
seiner Aussage schlitzte er sich den Bauch auf. Die Folge dieser Selbstaufopferung
war, daß Jorinobo, obgleich immer noch verdächtig, unangefochten am Hofe von
Jeddo blieb; und daß ein verdächtiger Fürst so durchkommen kann, zeigt, wie
sehr der japanesische Despotismus dnrch Gesetz und Herkommen beschränkt ist.
Einige Generationen später wurde Josimorim, ein Nachkömmling Joriuobo's,
Sjogun, und legte die Dankbarkeit seiner Familie für die Rettung ihres Uhus da¬
durch an den Tag, daß er die Nachkommen Karmofejemon's zu den höchsten
Würden des Staats erhob, und letztere in der Familie erblich machte.
Schließlich noch ein Beispiel von mechanischem Genie bei einem ungebildeten
Japanesen, welches zugleich zeigt, daß die die einzelnen Rangklassen trennenden
Grenzen doch zuweilen zu überschreiten sind. Als zu Anfang dieses Jahrhunderts
die englischen Kreuzer den holländischen Schiffen den Verkehr mit Japan zu ge¬
fährlich machten, engagirten die Holländer amerikanische Schiffe, um durch die
neutrale Flagge ihre Waare zu decken. Eines derselben, mit Kupfer und Kampher
beladen, wollte Nachts den Hafen von Nangasaki verlassen, rannte aber ans einem
Felsen ans, wurde leck und versank. Die Mannschaft kam glücklich an's Land,
und der amerikanische Capitän, die holländische Faktorei und die Behörde von
Nangasaki gingen nun zu Rathe, wie das Schiff wieder herauszubringen sei.
„Zuerst faßte man den Plan," erzählt Doeff, „dnrch japanesische Taucher das
Kupfer heraufholen zu lassen; aber das einströmende Wasser hatte den Kampher
geschmolzen und die dadurch entbundenen erstickenden Dünste kosteten zwei Tauchern
das Leben. Der Versuch, das Schiff zu erleichtern, mußte aufgegeben werden, und
jeder Versuch, es ohne Entladung herauszuheben, war fehlgeschlagen, als ein ein¬
facher Fischer aus dem Fürstenthum Fizen, Namens Kijemon, es gegen Wieder¬
erstattung der Auslagen zu thun versprach; wenn es ihm nicht gelänge, wollte er
nichts haben. Die Leute lachten den Mann aus, der vielleicht jetzt zum ersten
Male ein europäisches Schiff sah; aber er ließ sich nicht irre machen. Er befestigte
auf beiden Seiten des gesunkenen Schiffes 15 oder 16 Bugsirboote, und verband
sie unter einander mit Stützen und Balken. Dann bei günstiger Springfluth
kam er selbst mit einem japanesischen Handelsfahrzeng, das er auf ähnliche Weise
am Hintertheil des gesunkenen Schiffes befestigte, und setzte im Augenblick der
höchsten Fluth jedes Segel auf jedem Boote bei. Der schwerbeladene Kauffahrer
erhob sich ans dem Meere, kam von dem Felsen los, und wurde an den flachen
Strand bngsirt, wo er in aller Bequemlichkeit ausgeladen und ausgebessert wer¬
den konnte. Kijcmon erhielt nicht nnr seine Auslage» zurückerstattet, sondern der
Fürst von Fizen gab ihm Erlaubniß, zwei Schwerter und als Wappen einen
holländischen Hut und zwei holländische Tabakspfeifen zu tragen." Ob die Hol¬
länder dem Fischer für den geleisteten wichtigen Dienst durch eine solidere Be¬
lohnung dankten, sagt Herr Doeff nicht.
Wenn man von der deutschen Schule spricht, so wäre es allerdings zu erwarten,
das; zunächst nach Cornelius, Overbeck und Veith, seine Zeitgenossen, genannt
worden wären. Da aber hier keine bedeutenden Werke derselben vorhanden sind,
so gehe ich, sie auf später versparend, zu Schmorr über, der ebenfalls Zeit
genösse desselben, obgleich jünger als die vorgenannten — in München den weit¬
aus größten Theil seiner Wirksamkeit entfaltet hat. In einer zahlreiche» Reihe
von Bildern wurden von ihm bekanntlich die Nibelungensage, die Geschichte
Carls des Großen, Friedrich Barbarossa's nud Rudolph's von Habsburg i» der
neuen Residenz bearbeitet. Von diesen, meist durch seine Schüler in Fresko und
encanstisch gemalten Kompositionen würde» die zum Nibelungenlied am meisten befrie¬
digen, obgleich man anch i» den andern den großen schwungvolle» Historienmaler nir¬
gends verkennt. Wenn anch nicht mit der Kraft und Tiefe des Cornelius, zeigt er uns
doch überall den, seinen Stoff beherrschenden, mit Einsicht und richtigem Gefühl
für den Geist desselben begabten Meister, dem man, neben so viel wahren und
schön empfundenen Figuren manche etwas zu pathetische ans theatralische gränzende
Gebärde, manche Ueberschwänglichkeit überhaupt um so eher zu Gute halten
muß, als sich überall so viel in Composition, Zeichnung und Charakteristik Ge¬
lungenes darauf findet, welches besonders an die Raphael'sche» Figuren der
spätesten Zeit erinnert; z. B. in seinem Fest zu Mainz, im Einzug Barbarossa's ze.
finden wir überall Anklänge an den Bnrgbrand, den Heliodor, die Constantin's-
Schlacht, die zu treffe», nur erfreue» kann. Seine einzelnen Gestalten ans dem
Nibelungenlied gehören in Bezug aus gelungene Individualisirung zum Besten,
was die Münchner Kunst geschaffen. Besonders erfreulich ist auch das große
landschaftliche und decoratioe Talent des Meisters, das sich die Manischen Land¬
schaften und die Architekturen des Veronese mit seiner poetischen Auffassung und
Zeichnung, wenn auch nicht mit dem wunderbare» Farbenreiz derselben vergleichen
darf. — Letzterer ist, wie bei der Schule überhaupt, so auch bei Schmorr nicht
zu finden, so wenig, als eine gründlich durchgebildete Modclliruug, zu der es
die Eile, mit der die Arbeit durch den König meist betrieben wurde, niemals
kommen ließ.
Am meisten findet mau sie noch bei Heinrich Heß entwickelt, demjenigen
Meister der Schule, der seiue künstlerischen Eigenschaften am meisten in ein schö¬
nes wohlthuendes Gleichgewicht zu bringen und damit vortreffliche Resultate zu
erzielen gewußt hat. — So sind denn aus dessen Malereien in der Hoscapelle,
noch mehr aber aus denen der Basilica Werke geworden, in denen sich die tech¬
nischen Fortschritte der Schule am meisten bemerkbar machen, die einen schonen,
wahren, ja edlen Eindruck überall machen müssen, wenn man in ihnen eine her¬
vortretende Eigenthümlichkeit auch am wenigsten finden mag. — Eine höchst
ehrenwerthe hausbackene Tüchtigkeit ist es, die uns aus den Werken dieses Ma¬
lers anspricht, innig ohne Schwung, edel ohne groß, trefflich ohne blendend,
wahr ohne gerade sehr individuell in der Auffassung oder eigenthümlich in der
Darstellung zu sein. — Besonders rühmenswerth ist sein Kolorit. In der Hos¬
capelle noch etwas schwarze Schatten zeigend, steigerte er dasselbe in der Basilica
zu einer höchst wohlthuenden Klarheit und Harmonie, wie sie außer ihm und
seinem vortrefflichen Genossen Schrandolph keiner der andern Meister erreichte,
sodaß die Schule ihm nach dieser Seite hin einen entschiedenen Fortschritt ver¬
dankt, der jüngere Meister wie Kaulbach und Schrandolph nur eine feinere und
gründlichere Durchbildung der Mvdelliruug und Rundung der Gestalten beizufügen
brauchten, um ihr Alles zu geben, dessen Mangel ihr vorzugsweise noch mit
Recht vorgeworfen werden kann. —
Aller dieser technischen Ausbildung entbehrend, welche Haß zu so großem
Verdienste gereicht, muß Bonaventura Genelli doch zu den genialsten, eigen¬
thümlichsten Künstlern unserer Zeit gerechnet werden, weil ihm eine Fülle poetischer
Begabung und plastischen Formensinns innewohnt, wie sie nur wenigen verliehen
wurde. — In der Art seiner Auffassung und Zeichnung überall Michel Angelo'sche
Einflüsse verrathend, die er mit der Antike auf eine merkwürdige Weise durch
seiue eigentlich keiner bestimmten Zeit noch Nation angehörenden, aller Indivi-
dualisirung entsagenden Gestalten zu vereinen weiß, entwickelt er eine dämonische
Macht in der Erfindung seiner dem romantische» Gebiete angehörenden, eine Fülle
der schönsten Anschauungen in dem des griechischen Göttermythus entnommenen
Stoffen; hat man erst gewagt, sich ihm anzuvertrauen und das oft Abstoßende
seiner Productionen zu übertragen, so führt er uns in eine gänzlich neue origi¬
nelle Welt, die nichts mit der irgend eines jetzt existirenden Künstlers gemein hat,
so entschieden und wohlthätig er auch auf viele derselben eingewirkt. — In Al¬
lem, was er macht, beurkundet sich jener große Blick deö ächten Historienmalers,
der überall das Zufällige vom Wesentlichen zu trennen und uns das letztere,
durch die Befreiung von dieser Zuthat erhöht und veredelt, wiederzugeben weiß.
Sein Leben eine-? Wüstlings, einer Hexe, sind Bildergaben von gewaltiger un¬
heimlicher Macht, in seinen Kompositionen z» Dante findet sich ein Ueberfluß vou
meisterhaften Bildungen, sein Homer, Aesop unier den Hirten und unzählige
andere Arbeiten dieser Art offenbaren uns ein Verständniß des antiken Lebens,
wie eS selbst Cornelius nicht in gleichem Grade besitzt, da er zu specifisch deutsch
und schroff ist, um sich so ganz die Formen dieser heitern Welt aneignen zu
können.
Leider ist Genelli durch die Ungunst des Schicksals verhindert gewesen, seine
geniale Eigenthümlichkeit jemals in großen monumentalen Productionen zu ent¬
falten, vielleicht war die Art derselben am meisten an diesem Msgeschiek Schuld
da sie ihn der großen Masse sast ganz unverständlich machte. Den Mangel an
Individualisirung derselben habe ich schon berührt, so daß seine Figuren meist
ohne Kopf z. B. genau dasselbe ausdrücken würden als mit demselben, was wol
den großen Historienmaler, aber auch eine Lücke seines Talents anzeigt. Noch
minder werden ihm die unschöne Art seiner Drapirungen, die am meisten denen
des Michel Angelo in seinen Sculpturen gleichen, (welche selten nur den zehnten
Theil deö Werthes seiner herrlichen gemalten haben), und gewisse Manicrirtheiten
seiner Zeichnung verziehen, die jedem Schüler auffallen, der darum ans den Meister
herabsehen zu können glaubt, — am wenigsten aber sein Hang zur übermäßi¬
gen ?l»weuduug der Symbolik und zu geschraubten und frostigen Allegorien, den
er mit der ganzen Schule theilt. Mir ist unbegreiflich, wie noch Künstler ein
diesem Genre Gefallen finden können, nachdem sie doch täglich an den Werken
ihrer Vorgänger sehen, mit welcher Gleichgültigkeit, ja Abneigung auch der Ge¬
bildete sich von der Cuträthselung dieser Bilder-Rebus abwendet, wie höchstens
die schönen Gestalten derselben ihm el» Interesse abgewinnen können, das mit
der vorgestellten Idee nicht im geringste» -zusammenhange steht. —
Ich gebe zu, daß man wenigstens bei der monumentalen Kunst weder der
Svmbolik, »och allegorischer Vorstellung ganz sich wird entschlagen tonnen, wenn
man sie dann aber nnr mit so viel Oekonomie anwenden wollte, als dies Raphael
nud Michel Angelo gethan haben, — wie denn z. B. die Nacht deö letztern am
Grabmal der Medicäer wol eine unübertreffliche Personification dieses Begriffs
genannt werden kann, die niemals ihre Wirkung verfehlen wird.
Tritt uns die Hinneigung zum Hellenismus in Genelli unter allen lebenden
Künstlern am auffallendsten entgegen, so finde» wir dagegen bei Schwind die
ausgesprochen deutschesten Formen, die sich unmittelbar an unsere alte Kunst¬
schule, an Dürer, Adam Kraft, Peter Bischer anschließen, und nur den reizend¬
sten Schönheitssinn alö Bereicherung dazubringen. Kein deutscher Künstler kann
sich größeren und originelleren FormcnsinnS rühmen als Schwind, der Humorist
unter denselben. Was bei Kaulbach scharfe, ätzende Satyre ward, verklärt sich
bei Schwind zur liebenswürdigsten, graziösesten Heiterkeit. Ich wüßte seineu
Reichthum an Gestalten nur mit dem Mozarts an Melodien zu vergleichen, die
schönsten, scherzhaftesten und übermüthigsten entquillen seinem Griffel mit gleicher
Leichtigkeit, wie der Lerche ihre schmetternden Triller. — Sein großer Kinderfries
in einem Festsaale der Residenz wird ewig das Meisterwerk derselben bleiben,
seine Einweihung deö Freiburger Münsters im neuen Kunstgebäude in Karlsruhe
immer eine der schönsten Compositionen der Art, die die neuere Kunst hervorge¬
bracht; sein Rhein, eine der lieblichsten Allegorien, deren unendliche Heiterkeit
jedes Herz erwärmen muß, und welche sinnige, naive, anmuthige, scherzhafte Welt
sproßt ans seinen unzähligen Compositionen zu deutschen Mährchen und Sagen,
aus seinem herrlichen Bildcrcyclns zur Geschichte des Schwanenritters in Hohen-
schwangau, aus seinem Ritter Curt und tausend andern hervor, denn eine größere
spiclendere Leichtigkeit der Production möchte wohl niemals zu finden gewesen
sein. — Der Aufenthalt in Italien hat Schwind gelehrt, den ganzen schwellenden
rhythmischen Reiz italischer und griechischer Kunst auf deutsche Formen überzu¬
tragen, Ghiberti's, Beuozzo Gozzvli's Liebenswürdigkeit für unser» rauhe» Boden
zu gewinnen. Niemand hat glänzendere Widerlegungen gegen den Satz geliefert,
daß deutsche, besonders modern deutsche Trachten und Körperbildungen der künst¬
lerischen Verarbeitung unübersteigliche Hindernisse boten. Nur Ludwig Richter
ist in diesem Genre sein würdiger Nebenbuhler geworden, während sein in engere
Kreise gewöhntes Talent in allem Uebrigen ihm den Vortritt willig ließ.
Sind auch Scherz, Lust und Schönheit vorzugsweise seine Genien, so ist er
doch nicht minder auch des Ernstes und des Ausdrucks der Leidenschaften fähig;
seiue Zeichnung gewinnt den Neiz feinster Individualisirung, denn die kleinste»
charakteristischen Züge liefert ihm sein herrliches Formeugedächtuiß, mit dem rein¬
sten und harmonisch edelsten Styl. — Es kann nicht verkannt werde», daß es
die Besonderheit seines Talents zu sein scheint, mehr schöne Arabesken um ein
gegebenes Thema zu macheu, als in die Mitte eines Stoffs zu greifen, und die
ganze sittliche Macht desselben zur Erscheinung zu bringen. Ebensowenig dürfen
wir verschweige», daß dieselbe Abschwächung der Wirkung durch die Ausführung
im Malen wie bei Cornelius und Kaulbach auch bei ihm mehr oder weniger stattfindet;
daß seine Formeu, statt durch dieselbe belebter, stumpfer werde», und daß, we»u
die Grazie» de» innigsten Bund mit seinem Griffel geschlossen haben, sie doch schwerlich
jemals auf seiner Palette gesessen haben, deren Farbe» allerdings i» Oel des
Lebens entbehren, während dies beim Fresco viel weniger hervortritt, und nicht
störender wirkt als z. B. bei dem ebenerwähnten Beuozzo Gozzoli, dessen Bilder
seit Jahrhunderten die Freude der Gebildeten ausmachen; ja mau kau» wohl
sage», daß Schwind'S ganz jenem große» Italiener verwandtes Talent, densel¬
ben an Schönheit und Correctheit der Zeichnung weit übertrifft, ohne hinter ihm
in der Cvloriruug zurückzustehen.
Trotz der Mängel einer unvollständigen Bildung, die ihm wie fast der gan¬
zen Schule ankleben, und die ursprünglich in dein richtigen Gedanken ihren Grund
hatten, daß die Kunst dnrch den Materialismus ihres Schaffens zu Grunde ge¬
gangen und nur durch Vvrherrschendmachnng ihres geistigen Theils, also zunächst
der Auffassung, Darstellung und Zeichnung wieder zu neuem Leben erweckt werden
könne, bildet Schwind nächst den Helden Cornelius und Overbeck, mit Genelli,
Kaulbach, Peter Heß und Ludwig Richter denjenigen Kreis genialer Maler, denen
unsere deutsche Malerei die größte Erweiterung und Bereicherung, sowohl des
Kreises der Stoffe als ganz besonders ihrer charakteristischen Formen verdankt,
so daß mau diese Männer als die Grundsäulen dieses stolzen Baues betrach¬
ten kann. —
Die beiden letztern so interessanten und bedeutenden Künstler ausführlicher
zu besprechen, muß ich mir um so mehr für ein ander Mal vorbehalten, als sie
in keinem so unmittelbaren Zusammenhange mit den großen Historienmalern stehen,
die den Hauptgegenstand dieser Mittheilung bilden, und doch viel -u bedeutend
sind, als daß ich mich entschließen könnte, sie nur flüchtig zu skizziren. —
Ebenso muß ich mir aus demselben Grunde versagen, Ihnen von den
eigentlichen Genremalern Münchens viel erzählen zu wollen, obwohl anch nnter
ihnen bedeutende Talente wie Philipp Folz, Kirner, Flügge», Geyer ?c. deutlich
den guten Einfluß der Historienmalerei anch auf ihre Auffassung zeigen und darin
sowie in ihrer Technik deutsch und eigenthümlich geblieben sind, während eine
nicht geringe Zahl, besonders der Jüngern, vorgezogen hat, sich einstweilen an
belgische und französische Meister zu lehnen, ihre» deutschen Charakter, das Stre¬
ben nach gesunder Composition, feiner Individualisirung, naiver Grazie und zum
Styl erhöhter Form, nach innigem Gefühl, Kraft und Humor, wie sie theils dem
einen, theils dem andern der vorerwähnten Meister vorzugsweise eigen sind, auf¬
zugeben, um Lichtcffecten oder melodramatischen Wirkungen nachzulaufen, damit
aber für die nationale Kunst jede Erheblichkeit zu verlieren. — Es ist vorauszu¬
sehen, daß eine solche Verirrung ans dem gesunden Münchner Boden nicht lange
anhalten wird; ich erspare mir daher Mittheilungen ans diesem Gebiete ans spä¬
tere Zeit; eben so über die Schule der Münchner Landschafter, die in neuerer
Zeit so ungemeine Fortschritte auch in der Technik der Oelmalerei gemacht haben,
nachdem schon durch des leider zu früh vom Tode hinweggerafften Nottmann
Vorgang, Größe und Ernst der Auffassung, meisterhafte Zeichnung und feiner
Natursinn ihr gemeinsames Eigenthum geworden waren, so daß sich jetzt die Na¬
men eines Heinlein, Morgenstern, Schleich, Alb. Zimmermann, den Besten aller
Zeiten an die Seite setzen dürfen.
— Das Bedeutendste, was
ich Ihnen zu melden habe, ist die Aufhebung des Krieges gegen Montenegro,
von der bereits in der vergangenen Woche die Sage ging, »ut die nunmehr
sich als Thatsache herausgestellt hat. Dieser kurze, kaum zehnwöchcntliche Feldzug
wird eine bedeutende Stellung in der Geschichte unserer Tage einnehmen; er
eigentlich war es, der die Unterhandlungen mit Oestreich, die, von dieser Macht,
allem Vermuthen nach, ursprünglich für eine spätere, und vielleicht noch günstigere
Stunde ausgespart gewesen waren, in den Gang gebracht hat. In letzterer Hin¬
sicht knüpfen sich Ereignisse an den Kampf in bei, „schwarzen Bergen", deren
Tragweite vorerst noch nicht zu berechnen, von denen aber zu ahnen ist, daß
sie, möglicher Weise, die bedeutendsten politischen Vvrgä ug e dieser
Epoche herbeiführen werden.
Außer dieser großen politischen Seite hat der in Rede stehende Krieg noch
eine andere von rein militärischem Interesse. Er ist nämlich, außerdem daß er
die Welt in Erregung gesetzt, »och zum Prüfstein sowohl dessen, was die
zähen Stämme des Gebirges vermögen, als anch der, seit dem letzten
Kriege mit Nußland, neu organisirten ottomanischen Armee ge¬
worden. Diese letztere hatte zwar seitdem manche Gelegenheit gehabt, sich dem
Feinde gegenüber zu produziren; (die beiden Kriege gegen Mohammed Ali und
die früheren Kämpfe im Libanon;) aber theils waren damals die Organisationen,
namentlich die bedeutungsvolle der Artillerie, noch nicht so weit vorgeschritten,
theils befanden sich die Truppen der Leitung von Führern übergeben, welche die
man geschaffenen Waffengattungen nicht zu gebrauchen verstanden. Der et'ampf
gegen den ,,Kara-days" ist der erste Krieg gewesen, in welchem türkische, organi-
sirte, mit allem Bedarf reichlich ausgerüstete, namentlich durch eine treffliche Artil¬
lerie unterstützte Truppen, sich, unter einem kriegsverständigen Führer, dem Feinde
gegenüber befanden. Es ist dabei nicht zu vergessen, daß die Operationen,
dnrch die Eigenthümlichkeit »ut die außerordentlichen Schwierigkeiten des Terrains
einen besonderen Charakter ausgedrückt erhielten; desgleichen, daß, in Verbindung
mit den regelmäßigen türkischen Truppen, zugleich unregelmäßige agirten. Wie
dem indeß auch sein möge, keiner der vorhergegangenen Kämpfe hat, wie dieser,
einen Maaßstab für die Kriegsbranchbarkeit der ottomanischen Armee abgegeben.
Man weiß jetzt, baß die Truppen derselben, im Kampfe Maun gegen Manu,
sich nicht schlechter schlagen, wie diejenigen der meisten anderen Heere Europas;
man hat einen Beweis für die strenge Disciplin erhalten, die sie zu bewahren
wissen, wenn ein dem Befehl gewachsener Mann sie führt; endlich hat sich die
praktische Vorzüglichkeit der türkischen Artillerie, von der man vor dem »ur wußte,
daß sie nach preußischem Muster eingerichtet sei, ans's Glänzendste herausgestellt.
Was dieser Krieg dagegen nicht 5» entscheiden vermochte, das ist die Frage:
ob dieselbe Armee eines regelmäßigen Truppen gegenüber das Feld werde halten
könne». In einer jüngst in der Allgemeinen Zeitung veröffentlichte», bedeutsamen
Denkschrift, der, beiläufig bemerkt, andere wichtige Actrustncke nächstem? nach¬
folgen dürften, ist die Behauptung ausgestellt: jede türkische Armee werde, in
offener Feldschlacht, von jedwedem, etwa vierzigtausend Mann starken, russischen
oder östreichischen Hecrkörpcr in kurzer Zeit zersprengt oder vernichtet werden.
Bedingungsweise bin ich noch jetzt, nach dem Kriege im „Kara-days", derselben
Ansicht; aber ich hege die Ueberzeugung, dass das ottomanische Heer vergl c i chs-
wcise Erstaunliches leiste» wurde, we»u es ihni vergönnt sein sollte, a» der
Seite einer verbündete» europäischen Trnppenmacbt, oder mindestens in einer
gut angelegten, verschanzten Stellung zu fechten. Diese Ueber-enguug hat
ihren Werth. Aus ihr nimmt nämlich die andere ihre» Ursprung: daß es
England und Frankreich möglich sei» würde, die Pforte, eiuer etwaigen russisch¬
östreichischen Invasion gegenüber, aufrecht, und im Besitz ihres europäischen LSn-
dcrcomplexeS zu erhalten. Der Nachtheil nämlich, in welchem sich, abgesehen
von dem Kraftaufwande, dessen sie sähig find, die beide» Seemächte dadurch be¬
finden würden, daß sie ihre Truppen lediglich im Wege maritimer Expeditionen
auf den Kriegsschauplatz versehen könnten, würde durch das Vorfinden einer,
zur Corporation befähigten, türkischen Armee vermutlich ausgeglichen werden.
Was die Zusammensetzung des, unter Omer-Past-ins Befehl gegen den Kara-
daph vperirenden Heeres anlangt, so waren darin die Truppen dreier Armee-
corps, deö von Rumili, von Constantinopel und der Garde lMmssa), vertreten.
Jm Besonderen war die Artillerie gemischt. Aus Gründen, die von
der geringen Wegbartcit Macedo>liens und Albaniens hergenommen sein werden,
hatte man darauf verzichtet, ans dem Bestände des ArtilleriercgimcnteS der rnnie-
livnischcn Armee, mehr als drei Batterien Kanoucubatterien n 6 Geschütze
und eine Berghanbitzenbatterie zu gleichfalls 6 Pieren), auf den Kriegsschauplatz
zu führen. Zwei weitere Kanonenbatterien wurden dem Artillerieregiment der
Armee von Constantinopel, und .man^ig Geschütze lwornnter vier Lerghanbitzeu),
der Garde entnommen. Dergestalt daß Omer-Pascha, Alles in Allem, 0 Kano¬
nen- und l''/., Berghanbitzbatterieu, oder Geschütze unter der Hand hatte.
Die Stücke der Berghaulutzbatterieu werden ans Maulesel verpackt, und leisten,
im Gebirgökrieg, dem Angriff großen Vorschub.
Omer-Pascha, der nicht nur die strategische Leitung des Krieges im Allge¬
meinen übernommen, sondern anch d-e taktische Führung der Hanptgefcchte sich
zur Pflicht gemacht hatte, empfing in einem derselben einen Schuß in die Schulter,
war indeß deßnngeachtet nicht zu vermögen, vor Beendigung des Kampfes den
Fuß a»S dem Bügel zu setzen. Uuter deu Schwerverwundeten befindet sich ein
Oberst. Mau rühmt sehr die Umsicht, die Aufopferung und unermüdete Thätig¬
keit des Seraskiers. Für seine Person hatte er, während deö Feldzuges, ans
ein Muschir- (Feldmarschalls-) Zelt verzichtet, und nahm mit einem gemeinen
fürlieb. Desgleichen nahm er seine Morgen- und Abendmahlzeiten (der Türke
ißt nie Mittags), an den Feuern der Soldaten ein. Jedermann war er zu¬
gänglich. Zum Schlafe genügten ihm wenige Stunden.
Seit vierzehn Tagen circulirt hier das Gerücht: Omer-Pascha habe seine
Entlassung eingegeben. Ich bin nicht im Stande zuverlässige Auskunft über dieses,
falls es sich bestätigen sollte, sehr wichtige Factum zu geben. Die ottvmanischc
Pforte verlöre mit ihm den einzigen Mann, der im Stande ist, eine größere
Trnppenmasse zu lenken und zugleich die Gaben besitzt, ihr einen Geist, eine
kriegerische Seele einzuhauchen.
Die letztverflosscue Woche ist ohne eigentliches Ereigmß geblieben, denn die
Aufhebung des Krieges gegen den „Kara-days", steht im innigsten Zusammen-
ha»g mit dem, zwischen der Pforte und Oestreich zu Stande gekommenen Ab¬
schlüsse, oder ist vielmehr ein, darin einbegriffen gewesener Punkt, mithin schon
damals entschieden gewesen. Dagegen zweifele man nicht, daß die große Politik
alsbald wieder in den Vordergrund treten, und markirte Farben annehmen werde,
sobald die beiden neuen Gesandten Englands und Frankreichs hierselbst in ihre
neuen Functionen eingetreten sind. Keinem Zweifel unterliegt es mehr,
daß Rußland und Oestreich, wegen der orientalischen Frage, sich
bereits während deö ungarischen Krieges verständigt haben, ja es
hat viel Wahrscheinlichkeit für sich, daß eine solche Verständigung
von Seiten der erstere» Macht, damals zur Bedingung für die im
Magyaren lande zu leistende Hülfe gemacht wurde. Es wird indeß
einer höheren Überredungskunst, als derjenigen, welche in der obenerwähnten
Denkschrift laut wird, bedürfe», um Deutschland zu überzeuge», daß mit dem
Preisgeben der niederen Donan und Bulgariens an Rußland, nicht seine aller-
heiligsten Interesse» geopfert wurden. Sollte jemals die in Rede ste¬
hende Stipulation, welche, wie gesagt, erwiesener Maßen er,islirt
(die Denkschrift vom 10. Juli -I8Ü0 sagt es ausdrücklich), zur Ausführung
kommen, so wäre es »in die östliche Mission unseres Volkes geschehen.
Obscho» nnn Oestreich augenscheinlich ein solches Opfer bringen will, so
haben doch England und Frankreich ein zu lebhaftes Interesse an dem Fortbc-
stehu des ottomanischen Reiches, als daß sich von ih»e» voraussetzen ließe, sie
würde» eine Theilung des illyrischen Dreiecks zwischen den beiden Monarchien
der Romanow und der Habsburger jemals gestatten. „Bis zum letzten Kosacken!"
hat Rußland ausgerufe», u»d England wird nicht zögern, dem ein „bis zum
letzten Schilling!" entgegenzusetzen.
In welcher Klemme sich übrigens die Pforte selber fühlt, das erhellt aus
der fast enthusiastischen Erregung, mit der man die Kunde von revolutionairen
Bewegungen in Italien ciufgeiwimneu hatte. Nur ein Glied aus der langen und
dicht geschaffenen Kette von Ereignissen, wie sie das Jahr 1848 mit sich brachte,
wäre von Nöthen, um ihr momentan ein wenig Luft zu machen. In den
Staatsmännern zu Stambul lebte, während der europäischen Revolutions-Krisen,
das Gefühl, daß diese Periode die beste zum Fvrtbetrieb der Regeneration des
Reiches sei. Aber man hat sie schlecht benutzt! „Ja!" ruft Mohammed Ali-
Pascha aus: „wenn ich bereits damals Grvßvezicr gewesen!" Aber es ist gewiß,
daß wir kaum andere Dinge, wie uuter Reschid'ö Regime, erlebt haben wurden.
Am meisten für diese Ansicht sprechen die Intriguen, welche im Schoße des
Ministeriums, wie im Serail, täglich um angesponnen werde». Sie wissen be¬
reits, daß man vorlängst beschlossen hatte, sich der fanariotischcn Griechen, (so
genannt von einem Stadttheil Stambuls, dem Fanar) im Staatsdienst zu ent¬
ledigen. Zunächst wurden die Fürsten Calimachi und Karadscha, ersterer wegen
Abschlusses der bekannten Staatsanleihe, letzterer wegen Contrahirung einer
Menge schlecht garautirter Privatanlcihen, über die von Berlin aus, hierher
berichtet sein soll, ihrer Gesandschaftsposten entsetzt. Nunmehr hat auch der Ver¬
treter der Pforte zu Loudv», Herr Mussurus, seine Abberufung erhalte». Wich¬
tiger als diese kleinen Ausscheidungen ist die Nachricht, daß Fnad Effendi nener-
dings wiederum Anstalten zur ttebersiedelnng nach Paris macht. Ihm würde in
solchem Falle der Posten von Wcly-Pascha (bisher Gesandter am französischen
Hofe) zufallen, indeß dieser sich nach London begeben würde, um den des Herrn
MussnrnS einzunehmen. Daß man den geschickten Minister der auswärtigen An¬
gelegenheiten nach der französischen Hauptstadt zu senden beabsichtigt, findet hier
eine doppelte Auslegung. Die Einen sind geneigt, darin nur eine Cabale
gegen den vormaligen Kollegen Ali- und Neschid-Paschas zu erkennen, den man
jetzt, nachdem mit Oestreich contrcchirt ist und seine Beihilfe an hiesiger Stelle
entbehrlich sei, aus dem Kreise des Cabinets bannen wolle. Andere dagegen,
welche die Sachlage ernster nehmen »ut die Unterhandlungen des Grafen Lei¬
ningen lediglich als die Einleitung anderweitiger Schritte Oestreichs und Ru߬
lands betrachten, wollen in der beabsichtigten Entsendung des türkischen Staats¬
mannes par oxeölwiu'.u das Bekenntniß des ottomanischen Ministeriums erblicken,
daß die Entscheidung über die Geschicke der Pforte gegenwärtig mehr in den bei¬
den großen Hauptstädten des europäischen Westen, Paris und London, wie in
Stambul selber zu suchen sei. Sicher ist es, daß man, in Anbetracht der
Dinge, die da kommen werden, die Blicke Vertrauens- und sehnsuchtsvoll aus
Frankreich und England gewendet hat.
Wenn Fnad Effendi wirklich nach Paris gehen sollte, so würde seine Stel-
lung, dem allgemeinen Vermuthen nach, der Art sein, daß er gleichzeitig die
Beziehungen der Pforte zu England zu übersehen, und in dieser Hinsicht Wely-
Pascha zum Untergebenen hätte. Man ums; einräumen, daß der gegenwärtige
Minister der auswärtig'» Angelegenheiten hierzu der geeignete Mann ist, daß er
ohne Frage geeigneter ist, wie irgend ein anderer türkischer Diplomat; aber mau
darf mit Recht einwenden: ob er zu Stambul selbst uicht noch weit ersprie߬
lichere Dienste leisten würde.
Man ist in deu letzte» Monaten zu viel mit der politischen Lage nud letzt¬
lich mit der dnrch Oestreich heraiifbeschworeuen großen Krisis beschäftigt gewesen,
als daß man Zeit gefunden hätte, deu Finanzen irgend welche Aufmerksamkeit zu
widmen. Nichtsdestoweniger ist die Lage derselben kaum minder kritisch, wie die
auswärtigen Beziehungen. Hiervon hat mau nicht nnr die Ahnung, sondern die
Gewißheit; aber im Publieum ermangelt mau noch der Kenntniß aller Details.
Es könnte zu einer Preisaufgabe für die Politiker von Pera gemacht werden, den
Betrag des vorhandenen türkische» Papiergeldes annähernd zu ermitteln, und ich
bin gewiß, daß keinen sie lösen würde. So viel indeß scheint erwiese», daß die
Regierung durch immer »e»e Papier-Emissionen sich bereits seit einer langen
Reihe von Jahre» hilft. Darum der immer tiefer sinkende Preis der Kaimv's
(Papierscheine), und darum auch die wachsende» Schwierigkeiten der Bauksrage.
Ich mich erwähnen, daß man, in Hinflchr auf die Begründung der von
der Pforte an Oestreich geleisteten Eutschädigungszahluugen, und in Betreff der
Größe dieser Summe, hier verschiedene Lesarten hat. neuerdings gewinnt die
Meinung die Oberhand, Oestreich sei um für die Kosten entschädigt worden,
welche ihm aus dem Uebertritt der böhmischen Christen auf sein Territorium, zur
Zeit des böhmischen Aufstandes, erwachsen wären.
— Die Fastenzeit geht ihren wenig reuige» Ga»g
d»res unsere unterhaltungssüchtige» Salons, und selbst der kaiserliche Hof, trotz
seiner Gottesfürchtigkeit, konnte sich der Macht der Micaröme uicht entziehen,
nud während die Wäschcrinuc», Wasserträger und Fiaker ihrerseits längs den
Barrieren ihr einziges Earnevalsfest feierte», versammelten die Tuilerien Alles
was ein Hofkleid befiel oder zu leihen im Stande ist, zu einem jener glänzen¬
den Feste, bei welche» sich Niemand unterhält und die Meiste» langweile», die
aber Alles ger» mit ansehen möchte, denn es bekommt der Eitelkeit der modernen
Bureaukraten und Geldadels gar zu gut, sich in den großen Spiegeln des histo¬
rischen Palastes zu begukeu. <!lac:in> n hin, denn- ist das Losungswort, erst die
Bourbonen, dann die Barrikadenkämpfer, dann die Bonapartisten, „die Ccvenncn-
streiter nud so weiter", wie Nikolaus Lenau sagt. Sie haben drüben in Deutsch¬
land keinen Begriff von den Anstrengungen, die in gewissen Kreisen der Gesell¬
schaft hier gemacht werden, um zu teil clciisinische'.i Festen des Kciiserthilins Zutritt
zu finden. Nichts wird gespart, keine Rücksicht gescheut, und ich kenne zum Bei¬
spiel eine junge hübsche Frau, deren Mann sich nicht zum Ankaufe einer gestickten
Hoflivree entschließen wollte, und die, »in ihre Neugierde zu befriedigen, einen
jungen Mann, den sie früher einige Mal gesehen hatte, zu ihren, Begleiter machte.
Weder das Anstandsgefühl der Frau, noch die l^npfindlichkcit des Mannes hat¬
ten etwas an diesem Auskunftsmittel auSznstjzcn. Das; selbst die Fastenzeit und
gerade heim Hofe und hei uuserer bigott gewordenen Aristokratie deu Tanzunter-
haltungen kein Eude macht, ist bezeichnend für die Pariser Gesellschaft, wie für
den französischen Clerus. Dieser kümmert sich um -solche Kleinigkeiten wenig,
wenn nur sein Hauptzweck nicht darunter leidet. Er'weiß seinen schönen Beicht¬
kinder» den Weg zum Hiwniel so angenehm als möglich zu machen — und Pascal
könnte heute'sei»e Briefe neu schreiben, ohne ein Wort darau zu andern. Der
Hof seinerseits läßt die Geistlichkeit schalte», alwr auch er will die gute» Gelegen¬
heiten für de» Pariser LuxnShandel nicht vermindern, und die einzige Buße, die
er seineu Gäste» auferlegt, ist ihre Wadenlvfigkeit unverhüllt nmherzntragen.
Vielleicht ist das eine Art zu zeigen, 'daß unsere, gegenwärtige Generation eben
keines andern Regimes windig sei, als jenes der eisernen Bevormundung. Diese
prachtvollen Hoftrachten haben zwar die Autorität oder deu Glauben an dieselbe
keineswegs gehoben, und sie haben bisher blos do Folge gehal't, daß die Frauen,
»in uicht von der gold- und, sammtstrahlendcn männliche» Hälfte der Gesellschaft
verdunkelt z» werden, einen L».r»S an den Tag legen, welcher uusern Ehemännern
uicht wenig Schreck einjagt. Glücklicherweise hat die Kunst de» Nachahmung
echter Edelsteine so große Fortschritte gemacht, daß man sich einigermaßen aus
der Verlegenheit hilft, ohne das eheliche Budget allzusehr erschüttern zu müsse».
Die Diamanten und Perlen spielen darum doch eine große Rolle in der Toilette
der Damenwelt, und wenn das Kaiserthum seinen Anhänger» den Sold nicht
kärglich zumißt, so wird dieser wieder mit einer Schnelligkeit in Umlauf gesetzt,
welche an die lustigste» Zeiten des Directoriums und des ersten Kaiserreichs er¬
innert. Daß diese tägliche Steigerung der Bedürfnisse und des Luxus auch den
rege gewordenen Hang zum Bvrscnspicle nicht vermindern, ist selbstverständlich.
Wir habe» erst vor wenigen Tagen ein Opfer der Spielwnth zu beklagen ge¬
hal't, und dieser Selbstmord, welche eine Mutter um ihr einziges Kind »ud de»
einzige» Erbe» eines »»geheuern Vermögens gebracht, hat im Selbstmord einer
hiesigen Schauspielerin ein tragisches Postscriptum erhalten. Man kann die
Familien, welche an drr Börse während des kehlen Jahres zu Grunde gegangen,
nicht mehr an den Fingern herzählen, und doch ist der Zudrang in jene Hallen
heute wieder el'en so groß als zur Zeit, wo die ersten Illusionen noch durch keine
Krise erschüttert waren. Die Börscwnth ist in Zunahme begriffen und doch
scheinen die Comlnuativuen mit unserem papiernen Reichthume der Habgier und
Kmotivnssncht unserer herabgekommenen Gesellschaft noch nicht zu genügen, und
die Regierung wird von vielen Seiten darum angegangen, die Errichtung öffent¬
licher Spielhäuser zu gestatten. Mau glanl't, die Gebrüder Blaue Homburger
Andenkens hätten eine solche Concession erhalten. Diese Tendenzen des gesell¬
schaftlichen Geistes scheinen nur von großer Bedeutn»«, zu sein und sie erklären
Vieles, was auf politischem Wege ein Räthsel bliebe. Eine Gesellschaft, die
massenhaft solche» Leidenschaften nachgeht, muß in ihrem Schoße Erscheinungen
erzeuge», welche eine Summe gebe», wie die gegenwärtige» Zustände in diesem
merkwürdige» Lande. Wenn man die Beurtheilung der Männer, welche sich trotz
ihrer Vergangenheit offen und entschieden den, gegenwärtigen Systeme anschlie¬
ßen, mit anhört, so kommt mau zur Ueberzeugung, daß es noch mehr Habsucht
ist als Ehrgeiz und Eitelkeit, welche so verschiedene Elemente der politischen Par¬
teien zu derselben Transaction treibt. „Dreißigtausend Franken jährlich," sagte
ein Senator in meiner Gegenwart, „sind selbst für Leute bestimmend, welche
bereits drei- bis vicrhunderttansend Franken Renten besitzen." Wer will es der
Negierung verdenken, daß sie die Gesellschaft beurtheilt, wie sie ist, und sie be¬
handelt wie sie es verdient? Kann man sie allein verdammen, wenn sie vor
Allem die materielle Stimmung unserer Zeit befragend, nur den materiellen In¬
teressen im Staate Geltung zu verschaffe» sucht? Den Freund der Freiheit mag
ein solches System betrüben, aber wer die gegebenen Thatsachen beurtheilt, der
muß gestehen, daß Louis Napoleon mit seinem ,j0 on-ux quo 1v bunt^vt soll,
perils ein eben so passendes Schlagwort für jetzt gesunden, als Ludwig Philipp mit
seineui it nul, Pu; la Llrg,re<z soll in>«z verilv. Seit das Volk an seinen eigenen
Grundsätzen irre geworden, indem es gesehen, daß der Name einer Republik nicht
genüge, es glücklich zu machen, ist es erklärlich, daß es wenigstens zeitweilig zum
andern Extreme überspringend, die Freiheit weniger anstrebend, nnr ans liebe
tägliche Brot denkt. I'unc-in t-t eivLLnsLs ist kein zufälliger Wunsch einer gesun¬
kenen Nation, er drückt vielmehr eine mit Nothwendigkeit aus der Vergangenheit
hervorgegangen allgemeine Richtung aus. Vielleicht — und das ist Alles was
wir wünschen tonnen — wird die moralische Reaction, welche in dem Auf- »ut
Abwogen menschlicher Leidenschaften niemals wegbleibt, uns wieder zur schaffen¬
den Mäßigung und würdigen Anschauung zurückführe» — vor der Hand
ist »och uicht an diesen heilsamen Rückschlag zu denken. Vielleicht haben
wir noch früher eine gesellschaftliche Cvnvnlsio» durchzumachen, welche der demo¬
kratischen Anschauung unserer Zeit, was der dreißigjährige Krieg den Refor-
mationsideen gewesen ist. Größer war die Erschütterung in allen Anschauungen
und geistigen Tendenzen wol niemals, als in diesem Augenblicke. Folgende That¬
sache ist mit el» Beweis dafür.
Unsere Regierung, welche die Forderungen der modernen Gesellschaft auf
dem Wege der Autorität zur Geltung zu bringen sucht — so wollen wir ihren
eigenen Erklärungen hypothetisch Glanben schenken — sucht folgerecht die Säulen
der Autvritätöidec, die Armee »ud den Clerus, wieder aufzurichten. Sie thut
sich und ihrer Tradition Gewalt an, sie wagt den letzten Nest der Popularität,
welche der demokratische Bonapartismus in Frankreich für sich hat, indem sie
Zugeständnisse macht, welche Napoleon I. niemals gebilligt haben würde. Was
geschieht? Der Cleruü, der den Untergang der Welt prophezeiht, weil die Au¬
torität »ut Hierarchie ihren Credit im Geiste und Herzen des moderne» Staates
verloren, giebt nnn selbst das Beispiel innerer Zwietracht und Auflösung, Hohe
Prälaten streiten sich in den wichtigsten Angelegenheiten ihres Berufs herum, wie
die Redner einer gesetzgebenden Versammlung, so selbst darthnend, daß selbst
die abgeschlossene Priesterkaste nicht außerhalb ihrer Zeit stehen kann, Sie wol¬
len das Unmögliche, weil sie Zustände wieder herbeizuführen suchen, welche kei¬
nerlei Boden und ganz verdorrte Wurzeln haben. Der Erzbischof von Paris
und die andern Bischöfe mögen gute Höflinge sein können, aber sie sind nicht
mehr so subordiuatiouSfähig, wie sie es im eigenen Interesse sein mußten.
Die Regierung läßt das geschehen, denn auch sie ist nicht cvnscgucut genug
in ihrem Streben, sie kann es auch nicht sein, weil sie trotz aller Concessionen
nicht unbedingt auf den französischen Clerus zähle» darf. Ihre nächste Sorge ist
jetzt, dem neuen Gebäude durch die Salbung vom Papste die letzte Weihe zu
verleihen, und die Kathedrale von Notre-Dame soll auch schou in einigen Tagen
für diese letzte Feierlichkeit hergerichtet werden. Wir wissen nicht, ob der Papst,
wie es heißt, seine Hierhcrlnnft zugesagt habe, allein es ist gewiß, daß die Re¬
gierung in Wien und in Rom Alles gethan, um ihren Willen durchzusetzen.
Wir sagen bei dieser Gelegenheit, was wir bei Gelegenheit der Kaiserproclama-
tion und bei Gelegenheit der Heirath gesagt — von ihrem Standpunkte ans
begingen der Kaiser von Oestreich sowol als der Papst einen groben Fehler,
wenn sie sich in den Wunsch der frauzöstscheu Regierung nicht fügte».
Ponsard's neues Lustspiel in Versen und in fünf Akten ist gestern zum ersten
Male zur Ausführung gekommen. Es soll, so viel nur vou allen Seiten gesagt
wird, sehr gefallen haben. Ich selbst konnte der ersten Vorstellung nicht bei¬
wohnen und muß daher mein Urtheil ans nächstens versparen. Madame George
Sand ist vom Lande hereingekommen, um sich mit der Direction der Gymnase
über die Aufführung eines neuen Lustspiels zu verständigen, doch wird Angler's
Stück zunächst über diese Bühne gehen. Die Eröffnung der Kunstausstellung ist
auf den 15. Mai verschoben worden.
Die Cortes sind am i. März
in Madrid zusammengetreten und die Opposition hat sofort in beiden Häusern,
namentlich aber im Senat, ihre Angriffe auf das Ministerium Noucali mit einer
Heftigkeit und Energie begonnen, die »ach den neuesten Nachrichten die Stellung
des Ccibiuets bereits gefährdet zu haben scheinen. Das Parlament wurde ohne
Thronrede durch Verlesung einer Königl. Ordonnanz seitens des Ministerpräsi-
'enden eröffnet. Der Kongreß ernannte unter Leitung des Alterspräsidenten die
zur Prüfung der Wahlen erforderlichen Comnttssionen. Gonzales Bravo (von
der gemäßigten Opposition) interpellirte bei diesem Aulas! die Regierung über
die Wahl Mvyauv's in Mota del Marques, in Betreff derer der Minister des
Innern dem Kongreß die Wahlalte» vorenthalten hat, wegen angeblich grober
Ungesetzlichkeiten, die bei der Wahl stattgefunden haben sollen, wie Herr Bena-
vidcs behauptete. Da »um aber die souveraine Entscheidung über die Gülngkeit
der Wahlen nach der Verfassung dem Kongreß zusteht, so mußte dies alö ein
grober Eingriff in seine Rechte erscheinen. Die Erklärung des Ministers erregte
einen beispiellosen Sturm ans den Opvvsitionsbänl'er und die Sitzung bot das
Schauspiel der größte» Verwirrung, als der Alterspräsident die Debatte ab¬
schnitt. Der Antrag von Gonzales Vravv wurde jedoch Tags darauf wieder
ausgenommen und eine Eommission deshalb niedergesetzt. Die provisorische Prä-
sidentenwahl fand noch am Tage der Eröffnungssitzung statt und siel mit -U>2
Stimmen von 170 anivesenden Deputirte» auf Martinez de la Rosa, für welchen
auch der größte Theil der Opposition stimmte. Der Kongreß setzte hierauf die
Wahlprüfnngen fort (die Prüfungskommission ist im ministerielle» Sinne zusam¬
mengesetzt), wobei die Opposition wegen Vecinträchtiginig der Wahlfreiheit »»-
a»fhörliche »»d stürmische Debatten mit dem Ministerium! führte.
Wichtiger waren die Verhandlungen des Senats. Hier stellte sich der
General ODonncl Graf von Lucera (er hat diesen Titel für einen bei dieser
Stadt -1839 über Cabrera erfochtenen Sieg erhalte»), der Freund und Waffen¬
bruder des Marschalls Narvaez, an die Spitze der Opposition, welche die Elite
der StaasSmänuer, Generale und deö hohen Adels von Spanien in ihren
Reihen zählt. Der erste Antrag O'Donuclö betraf die Wahl der Secretaire; er
verlangte, daß dieselbe geschehe, bevor die neuen von der Regierung ernannten
Senatoren (es sind 37) vereidigt wurden. Obwohl der Präsident des Senats,
General Espcleta, sich dem Antrag widersetzte, gewann er die Mehrheit, und
die vier, ohne Theilnahme der nenernannten Senatoren gewählten Secretaire
fielen sämmtlich ans Mitglieder der Opposition. Der nächste Angriff derselben
betraf den Erlaß des Ministeriums über die Veröffentlichung der Cortesdebatteu;
Ealdcron Eollantcs, einer der ersten Redner der mvderirtcn Partei, beantragte
die Nicdcrsetznng einer Commission zur Prüfung dieser Verordnung und bewies
in einer ausführlichen und glänzenden Rede, die von einem Publikum vo» mehr
als -1200 Personen, das die Tribunen füllte, mit der gespanntesten Anfniertsamkeit
gehört wurde, deren völlige Ungesetzlichkeit. Trotz der sehr ungenügenden E»t-
gegnuug des Justizministers Vahey verwarfen <>t Stimmen gegen !>2 die Jnbc-
trachtnahme des Antrags.
In der folgenden Sitzung trat nun der Graf vou Lucera mit dem Haupt¬
angriff gegen das Cabinet hervor. Er brachte die Beschwerde des Herzogs von
Valencia vor das Forum des Senats, worin derselbe das Ministerium anklagt,
ihn daran verhindert zu haben, seinen Platz in, Senat einzunehmen, den Schutz
der Versammlung in Anspruch nimmt nud fordert, wegen der von dem Cabinet
gegen ihn erhobenen Beschuldigungen von seinen Pairs (den Senatoren) gerichtet
;u werden. Dieser Antrag, der unter einem beispiellosen Zudrang des Publikums
verhandelt wurde, fand in Pcua Agnayv einen beredten Vertheidiger. Er legte
die schwere Bedeutung der Maßregel bar, die das Ministerium gegen den Chef
der Opposition ergriffen habt chiau erfuhr aus Agnayo'S Rede, daß der spanische
Konsul in Bayonne'dem Marschall Narvaez die Pässe zur Reise nach Madrid verweigert
hube) und wies auf die Gefahren hin, mir der die zweideutige Politik der Ne¬
gierung den Bestand der Verfassung bedrohe. Gegen alle Erwartung widersetzte
sich der Ministerpräsident Noncali derIubctraclcknahme des Antrags nicht—wahr¬
scheinlich fühlte er sich der Mehrheit nicht sicher — und eine Commision wurde
zur Berichterstattung gewählt, von der drei Mitglieder, die Generale Sanz, Cor-
dova und Peznela ministeriell, der Herzog von Rivas, O'Dommel und Pera
Agnayo Freunde des Narvaez, der siebente, Arrazola, früher Justizminister unter
Narvaez, zweiflhaft ist. Doch meint man, der 'Letztere werde in diesem Falle
mit der Opposition stimmen. Mit der Bericht derselben hiernach günstig für
Narvaez ans und gewinnt er die Mehrheit des Senats, so würden die Folgen da¬
von, entweder ein'Rücktritt des Cabinets oder eine Suspension der Cortes und
die Wiederaufnahme der Politik des Staatsstreiches sein. Da ans den bisherigen
Berichten nicht hervorgeht, ob die ncueruanuten Senatoren bei der Wahl der
Commission schon mitgewirkt haben, so lässt sich der Ausfall der Abstüumuug nicht
sicher ermesse». Telegraphische Berichte vom 8. März wollen wissen, das! Rar-
vciez's Sache alle Aussicht habe, durchzudringen, und daß Sartorius bereits mit
Bildung eiues neue» Caliiuets beschäftigt sei. Doch scheint dies sehr der Bestä¬
tigung zu bedürfen.
Die unverständigen Angriffe eines Theils der deutschen
und der östreichische» Presse aus England, gelegentlich seines Verfahrens gegen
politische Flüchtlinge, sind nicht geeignet, das deutsche Volk in der Achtung des
englischen zu heben, denn man ist hier leider zu sehr geneigt, die bestellten Wnlh-
ausbrüche einzelner Scribenten für den legitimen Ausdruck der öffentlichen Meinung
des Continents, und auf diese Vorstellung hin, die Deutschen sür ein Volk zu
halten, das, selbst außer Staude, die Freiheit zu ertragen, nun auch andere glück¬
lichere Völker dieses Segens beraubt zu sehen wünscht. Man betrachtet i»
England die in Wien und Mailand vorgefallene» Verbrechen mit demselben Ab--
sehen wie in Deutschland, aber man treibt ihn nicht so weil, um deshalb die Ab¬
schaffung der besten Garantie» der persönliche» Freiheit zu verlangen. Wenn
aber diese Mäßigkeit in der Sehnsucht nach politischer Knechtschaft England als
ein Verbreche» angerechnet wird, wenn man ihm Schuld giebt, daß es sich nnr
zum Privatvcrguügeu eine Art Menagerie vo» Flüchtlingenwie sich die Times
ausdrückt — hält, eine systematisch geordnete Sammlung der Revolutionäre aller
Länder, vom milden theoretische» Republikaner bis zum'wüthendsten Rothe», der
uur mit Gift nud Dolch wirke» will, »in sie auf deu Kontinent zu schicke», wenn
die englischen Fabrikanten, die nach vom Bürgerkrieg zerfleischten Ländern natür¬
lich mehr Absatz haben als »ach ruhige», das Parlament petircu, zur Beförderung
der Fabriken je nach Bedürfniß eine blane oder rothe Revolution ans dem Kon¬
tinent anzustiften, so errcgr das »ur el» Lachet» der Verachtung, welches leider
nicht blos wohlverdient den Verfasser solcher Albernheiten trifft, sondern anch »in
verschuldet das Volk, dessen Sprache sie schänden.
Was England in dieser Sacke thun kann und will, hat seit uuserem letzten
Berichte Lord Lyndhurst im Oberhause ^auseinandergesetzt, und die bekannte ulrra-
couservativc Gesinnung dieses Staatsmannes giebt Bürgschaft, daß er sich in
seiner Auslegung des Gesetzes durch keine sentimentale Vorliebe für flüchtige Re,
volutionairS hat'beirre» lassen. Auf dem Continente vergißt man beständig, daß
die englische Crimmalprocedur — abgesehen von Mündlichkeit, Öffentlichkeit und
Geschwornengericht — ans einer vou der festländischen total verschiedenen Grund-
läge beruht. Kein Angeklagter darf wegen des ihm Schuld gegebenen Verbrechens
befragt werden, sondern das Gericht hat ihm das Verbrechen'durch Zeugen nach-
zuweisen. Das Verbrechen Mazzini'S oder Kossuth'ö würde sein, daß er durch
Verschwörung oder Proclamation einen Aufstand in Italien gegen eine der Kö¬
nigin befreundete Macht verursacht habe. Strafbar wäre dies Verbrechen aber
nur in England, wenn es i» England verübt oder vorbereitet wordeu ist. Der
Umstand, daß in den Zeitungen' eine mit Mazzini oder Kossuth unterzeichnete
Proclamation steht, welche zu einem Aufstand in Mailand auffordert, oder daß
eine solche in der Lombardei vertheilt wird, ist kein in englischen Gerichtshöfen
zulässiger Beweis. Dem Ankläger würde obliegen zu beweise», daß Mazzini die
in der Lombardei verbreiteten Proclamationen in England verfaßt, oder ihre
Verbreitung von England aus befohlen habe. Bevor dieser Beweis nicht herge¬
stellt ist, gilt Mazzini dem Gericht für unschuldig, wie jeder andere Angeklagte,
der deS ihm schuldgegcbeueu Verbrechens nicht überführt ist. Innerhalb der
Grenzen dieser Befugnisse gegen die Flüchtlinge zu verfahren, ist die englische
Regierung gern bereit, aber darüber hinaus kann sie nicht gehen, und kein Mi¬
nister würde heutzutage mehr wagen, von dem englischen Parlamente die Anö-
uahmcmaßregel eiuer Fremdcubill zu verlangen.
Altona Dirckseu
und Jngwerscu 1832. Auch Friedens Bremer hat es nicht vermeiden können, über den
Knistallpalast, die englischen Nrmenschulcu und die Physiognomie Londons zu schreiben.
Ihre Reflexionen sind schwach, ihr verständiges Urtheil über Personen und Zustände,
erhält durch die ihr eigene Sentimentalität eine, wenigstens für Männer zuweilen un¬
bequeme Färbung, am Meisten gefällt sie da, wo sie unbefangene Eindrücke erzählt, welche
ihr selbst geworden sind. Ihre Begegnung mit der Königin Victoria und dem Prinzen
Albert, welche dadurch herbeigeführt wird, das; ihr im Park ein alter Regenschirm aus
dem Wagen fällt, den sie aus persönlicher Anhänglichkeit, trotz der Nähe der hohen
Herrschaften, nicht im Sande liegen lassen will, ist hübsch erzählt, und bei der
Schilderung des hohen Paars Gemüthlichkeit und Ehrfurcht aus angenehme Weise
verbunden.
Geschichte Englands während des dreißigjährigen Friedens von
1816—1846. Von Harriet Martineau, übersetzt von C. I. Bergins. i- Theile. Berlin
Verlag von F. Dunker 18ö3. Das englische Original der bekannten nationalökono-
mischen Schriftstellerin de>t den populairen Zweck, dem Volke die Entwickelung der
handelspolitischen Gesetzgebung, der liberalen Principien, welche in einer Reihe von so¬
cialen Fragen allmächtig im Ltaatslcben Geltung erhalten haben, und die aus ihrer
Realisirung folgende Zunahme des Wohlstandes, der Intelligenz und Autorität Englands
zu zeigen. Das Werk enthält nicht die politische Geschichte Englands, ja diese ist
wenigstens für uns fast zu lückenhaft darin enthalten, wohl aber eine detaillirte Dar¬
stellung der Volksstimmungen und parlamentarischen Kämpfe, der financiellen Krisen »ut
politischen Schwierigkeiten, unter welchen die großen Acte der englischen Gesetzgebung
z. B. die Kathvlikcnemancipation, die ParlamcntSresorm und Gctreidebill u. s. w. durch¬
gesetzt worden. Das Werk stellt sich die Aufgabe, die liberalen Grundsätze des Frei¬
handels und der Erhebung der arbeitenden Klasse in ihrer segensreichen Bedeutung dar¬
zustellen, es ist in England mit Recht pvpulair und verdient eine weite Verbreitung
auch bei uns. Leider ist der Uebersetzer, zwar wie es scheint in den Sachen gut
unterrichtet, aber in der englischen Sprache nicht sicher genug, um immer richtig zu
übertragen, oft geht die Deutlichkeit des Originals verloren, nicht selten sind offenbare
Unrichtigkeiten der Uebertragung zu beklagen.
Deutsche Geschichte von den ältesten Zeiten bis ans die Gegenwart.
Von Adam Pfaff. i Bände, Braunschweig, George Westermann. -I. Bd. Dies po¬
puläre Geschichtswerk, von welchem einzelne Lieferungen in diesem Blatte bereits früher
lobend angezeigt wurden, führt in dem 1. jetzt vollendeten Bande bis zum Jahre 911,
dem Aussterben der Carvlingcr. Es enthält in gebildeter und übersichtlicher Darstellung
die älteste politische Geschichte der Deutschen, und bestrebt sich mit Glück, ein Bild von
den socialen Verhältnissen und den Bildungszuständen jener Zeit zu geben. Unter den
zahlreichen Werken von ähnlicher Tendenz,'welche in den letzten Jahren begonnen wor¬
den sind, verdient dieses vorzugsweise Beachtung.
— Flotow's neueste Oper „Indra" ist nun auch in Leipzig über
die Scene gegangen, jedoch mit nur sehr geringem Erfolge. Eine Steigerung des
Werths der Flotow'sehe» Musik konnte wohl' Niemand erwarte», der das künstlerische
Wesen der Martha und des Stradclla begriffe» hatte, allein auf das vollständige Ver¬
sinken des Compvnistc» in die niedrigste Trivialität war kaum Jemand gefaxt, noch
weniger auf die Wahl eines solchen Textbuchs, das in Langweiligkeiten und Ergüssen
eines kindlichen Humors kann, zu übertreffen sei» dürste. Wir begegnen hier dem voll¬
ständigsten Gegensatze zu der von Wagner angestellten Opernmusik, die mit sorgfältiger
Reflexion jeden Ton abmißt, die aus Angst, dem Worte zu schaden, den musikalischen
Gedanken ans das Knappste zuschreitet, und seine Ausführung in die zweite Reihe stellt.
Flotow macht nnr Musik, und in der Erregung der Sinnlichkeit des Menschen scheint
er das höchste Ziel derselbe» zu suchen. Man hat von gewissen Seiten den Grundsatz
aufgestellt, die höchste Befähigung des Operncomponisten offenbare sich in Erfindung
von Volks- oder überhaupt leicht rhytiuisirtcn Melodien, und führt zu diesem Behufe
besonders die Zauberflöte und den Freischütz an. Die Erfahrung aber widerlegt diesen
Satz vollständig, denn die darin so gepriesenen leicht eingänglicher Melodien können
wir doch nur als Stationspunkte der Erholung für solche betrachten, die ans Mangel
an Verständnist des höher» dramatischen Kunstwerks glücklich sind, einzelne Stellen an¬
zutreffen, die ihrem geringen kunstrichterlichen Verständnisse zugänglich sind. Dieser
Standpunkt der Beurtheilung ist sür Flotow der einzig günstige! er ist bis jetzt auch
immer mir so geschätzt worden, denn die ernste Kritik hatte es kaum der Mühe werth
geachtet, über ihn erschöpfende Recensionen zu geben. Auch jetzt ist es kaum nöthig,
über ihn ein Strafgericht zu fordern, denn die Träger seines Rubins sind selbst in
ihrem Meister irre geworden, und sie werden die ersten sein, die sein Panier verlassen.
Man sagt zur eigenen Entschuldigung: die neue Oper stehe Martha bedeutend nach;
der Componist hat sich ausgeschrieben, er dringt nur Reni»isec»ze» ans seinen frühern
Opern, oder er bestiehlt sogar Andere. Betrachte» wir die Sache ge»auer, so erhält sie
el» andres Ansehe», und es läßt sich »icht zweifeln, wäre Indra vor Martha erschien», so
dürfte ihr der Beifall der früher» nicht gcmaiigclt haben, und diese würde dann der Seel»
des Anstoßes sein, an dem Flotow's Componistcnrnhm scheitern mußte/obgleich man zu-
gestehn darf, daß das Textbuch der Martha im Allgemeinen eine günstigere Stimmung
hei der Beurtheilung erwecken wird. Eine» Fehler Flotow's aber hat ma» »le gemigcnd
gerügt! die Abhängigkeit von Ander und den komischen Operncomponisten der Franzosen
überhaupt, die sich nicht nnr in der sklavischen Nachbildung aller Melodie» zeigt, sondern
auch, und zwar auf eine lästige, und keineswegs zu entschuldigende Weise in der Rhpth-
misirnng und Worlbchandlung fast überall, am meisten aber in den schnellen Tempi's
hervortritt. Wie stolpern die schwere» deutsche» Verse in den leichten französische»
Tanzschuhe»! Lange Silben, kurze Silben, alle pnrzcl» sie durcheinander; der
Walze des Leierkastens gelinge» alle diese Kunststücke leichter, als dem denkenden
Sänger, der mit Mühe in diesen verkehrten Pas umherspringen kann. Und dann wieder
der Gegensatz in den langsamen, sentimentalen Gesängen. Kücken und Gumbert sind
ihm gegenüber Götter; anch sie berechnen zwar ihre weinerlichen Melodien ans die Em¬
pfindsamkeit eines Nähmädchens oder LadcndicnerS, aber sie geben doch von Zeit zu
Zeit Zeichen von höherem künstlerische» Bewußtsein, und wisse» so zu versöhnen. Könnte
rin» doch Flotow so Gutes nachsagen, allein er ist zu sehr Sclave der Gedankenlosigkeit,
und seine Natur offenbart sich in seiner höchsten Glorie in den Schlnßcadenzcn, die
ja eigentlich immer als der richtige Prüfstein des Geschmacks oder Uügcschmacks eines
Komponisten anzusehen sind. Aus diese sogenannten brillanten Abgänge hat Flotow
nie vergessen sein Augenmerk zu richten; sie sind gewissermaßen nie doppelte Zwick¬
mühle, denn man zwingt durch sie nicht nur das Publikum zum Beifall des Säugers,
es sällt dabei immer noch genug ab, das« auch der Komponist an seine Brust schlagen
kann und sagen; Seht, ich bin ein großer Mann! El» solches Buhlen um Kunst
kann nie hart genug gezüchtigt werde», besonders bei einem Künstler, der von Natur
hervorragende Fähigkeit erhalten hat, und wol im Stande gewesen wäre, der deutschen
komischen Oper emporznbelfen. Es läßt sich kaum erwarten, daß sich Flotow zu
höherer ^unstauschauuug aufschwingen werde; den von ihm bis jetzt verfolgten Weg
künstlerischer Lascivität zu verlassen, wird ihm wenigstens schwer genug werden. Die
Musen unterlassen es nie, sich an Denen zu rächen, die sich so schwerer Vergehen gegen
sie zu Schulden kommen lassen,
I» Paris soll den -12. Juni 18-)Z ein großartiger Concurs zwischen den Männer-
gesangvercinen Frankreichs und des Auslands stattfinden. Vorsitzende Richter sind;
H. Berlioz und H. Ueber, unter deu übrigen Mitgliedern der Jury (31) befinden
sich Hiller, Meyer deer, Kastner, Offenbach, Leon Kreutzer, Tb. Gouvy,
Prüdent, Rien^temps, Fel. David n. s. w. Die Anregung geht von Emil
Eher»! aus, der sich um den Männergcsang in Frankreich große Verdienste erworben
bat. Zur Erringung des Preises (goldne Medaille, Werth /i<)0 Franken von Ehevv
ausgesetzt), sind vier Siege nöthig! 1) Vortrag dreier Lieder nach eigner Wahl. -—
I) Bortrag eines noch nicht gedruckten Ehors, welchen die Jury allen Bewerbern
Se Stunden vor der öffentliche!; Aufführiuig einbändige. — 3> Ava-Blatt-Singe»,
solfeggircnd, eines ungedruckten Chors, welche die July erst im Augenblicke der Aus¬
führung jedem einzelnen Vereine vorlegt. — i) Ausschreiben einer »»gedruckten
Melodie, einer und derselbe» für Alle, nach dem Gehör. Jeder Dirigent jedes
Vereins wird die Melodie vorsi»ge», und jedes einzelne Mitglied ist gehalten, seine
Notenschrift i» dem Schlüssel »ud der Tonart abzufassen, welche die Jury vorschreibe»
wird. Um de» Preis zu gewinnen, »lust ein Verein alle vier Prüfungen siegreich
bestelle». Nur bei Ur. -I. können alle Vereine zuhören, bei Ur. Ä 3. 4. erscheint
jeder Verein allein in dem Prüsnngssaal vor den Richtern. Die Reihenfolge wird
durchs l'vos entschieden. Die Anmcldnngc» müssen vor dem ersten Mai 18^3 in
frankirtc» Briefen geschehen, in Paris bei Herrn Tajan-Nogo, Secretär der Jury,
Kuv ^ouvv-ljrv'l«, As. Jeder Berein hat anzugeben; 1) seinen Name», 'S) die
wahrscheinliche Zahl seiner Mitglieder, 3) deu Namen des Dirigenten, /s.) seinen Wohnort.
Ein junger Musiker in Dresden, Moritz Siering, veranstaltete ein Concert,
in dem nur Eomposiiivnen des Eoncertgebers aufgeführt wurden. Eine Ouvertüre für
Orchester, ein Trio für Violine, Ecllo und Pianoforte, waren die größern, und am
meisten Talent verrathende» Stücke. Die Theilnahme deö Publikums war groß und
der Beifall der Musik gerechtseriigt. Die Gesundheit und Klarheit der Gedanke» und
Ausführung wird gelobt; es fände sich keine Spur einer »ngcsundcn HyperromaM
und der formten Originalität der Neuzeit!
Lindpaiuiner wird die Eonccrtc der neue» philharmonischen Gesellschaft in London
dirigiren, welche voriges Jahr Hector Berlioz leitete.