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]]> Wenn man der engen Gassen, denen die i —5 Etagen hohen Häuser Luft
und Sonne versperren, müde geworden ist, und nicht mehr die Paläste mit ihren
weiten Marmorhallen, voll der werthvollsten Gemälde, durchwandern mag, dann
flüchtet man sich gern zu dem blauen Spiegel des Meeres. Schon am frühen
Morgen, wenn die Sonne ihre ersten, noch linden Strahlen über die klaren Flu¬
chen hingleiten ließ, trieb ich in leichtem Nachen aus denselben umher. Ein be¬
stimmtes Fischerpaar, Vater und Sohn, führte mich. Mit heiterem Gruße
empfingen sie mich zur bestimmten Stunde an dem Thore, das aus der Bazar-
Mauer in den Porto franco einführt, und geleiteten mich zu der, mit der
italienischen Tricolore bunt ausgeputzten, dabei sehr reinlich gehaltenen kleinen
Barke. Wenn ich auch ein „WÄesco" sei, so sei ich doch kein „austrlaeo",
sagte mir oft Antonio, der Vater, ein wahres Modell eines noch in voller
Kraft stehenden silberhaarigen Mannes. Lieber aber, als daß er einen „austriaco"
fahre, solle seine Barke in den tiefsten Grund des Meeres versenkt werden.
Solche Aeußerungen wird man in ganz Sardinien von allen Ständen hören.
Die Gebildeten sind wol zurückhaltender, die unteren Volksklassen äußern aber
ihre Empfindungen mit der ganzen Lebendigkeit eines Jtalieners. Von allen
Fremden fühlt sich der Geruche persönlich zu dem Franzosen am meisten hinge¬
zogen, mit dem er in Sitte, Denk- und Handelsweise unbestritten die größte
Aehnlichkeit hat, den unbedingtesten Respect aber hegt er vor dem Engländer. —
Am Molo nuovo lag gewöhnlich die mich erwartende Barke, und mit raschen,
gewandten Ruderschlägen glitten wir bald zwischen den großen Kauffahrern aller
Nationen durch. Die erste Thätigkeit des jungen Tages zeigte sich am Bord
derselben, wenn wir unsre Fahrt begannen. Munter und lebendig ging es am
Bord der kleinen griechischen Fahrzeuge zu. Die rothe, oft schon sehr schmierige
Mütze hing keck ans den schwarzen, gerade nicht sehr sorgsam gekämmten Locken,
sowol beim ältesten Steuermann, wie beim kleinsten Schiffsjungen der Griechen.
Ein buntes baumwollenes Hemd, ein Paar weite gestreifte Hosen, die oft nur bis
an die Knie der Strumpf- und schuhlvsen Beine reichten, bildeten den ganzen
übrigen Anzug. Sehr rasch und gewandt, ja selbst oft mit einer Art graciöser
Anmuth, ward das Geschäft, das Verdeck zu waschen, womit das Tagewerk jedes
Seemanns im Hafen stets beginnen wird, von ihnen verrichtet, als sei es eine
Art lustiges Spiel, vom Capitano mir zu ihrer Ergötzlichkeit angeordnet, so lach¬
ten und scherzten und neckten und jagten die Matrosen sich bei dieser Arbeit, die
flink und rasch, ohne doch eigentlich aber gefördert zu werden, ihnen von der
Hand ging. Ueber die Hälfte des in den leichten Eimern von Hanfleinewand
an Stricken heraufgezogenen Wassers ward muthwillig wieder ungenützt in das
Meer gegossen. Lustig sah es auch, wenn so ein Matrose aus Muthwillen seinem
neben ihm stehenden Kameraden tüchtig mit Wasser begossen hatte, und dieser
den Necker zu ergreisen suchte. Eine lebhafte Jagd begann dann zwischen den
Beiden, woraus sogleich die übrige Mannschaft ihre Arbeit einstellte, und lachend,
singend und mit lautem Zurufen anspornend oder verspottend dem Treiben zusah.
Mit der Schnelligkeit und Gewandtheit einer Eichkatze kletterte der Verfolgte in
der Strickleiter herauf und schwang sich bis auf die äußersten Spitzen der Masten
oder Nam, eben so rasch ihm nach der Verfolger, worauf der Erste, sich mir mit
den Händen und Füßen anhaltend, wie der Blitz an einem Spanntaue wieder auf
das Verdeck dcmiedersauste, während unablässig sein Feind ihm auf den Fersen
blieb. So ging die Jagd Mast auf, Mast ab, oft eine ganze Weile fort und
endete gewöhnlich damit, daß der Flüchtling, gleichsam zur Sühne, einen hohen
„Salto mortale" vom Mastkorb hinab in das Meer machte. Da fast alle grie¬
chischen Seeleute sehr geschickte Schwimmer und Taucher sind, so blieb der Sprin¬
ger oft> eine ganze Weile unter dem Wasser, bis dann plötzlich auf der andern
Seite des Schiffes sein schwarzer Lockenkopf wieder emportauchte und er lachend
und scherzend an einem ihm zugeworfenen Tau emporkletterte, um seiue
Arbeit vereint mit den Anderen ans's Neue aufzunehmen. Daß unter solchen
Späßen das Waschen nicht sonderlich gefördert wurde, läßt sich denken. Trotz
der langen Zeit, welche die Mannschaft dazu verwendet, sehen die griechischen
Handelsschiffe fast stets vou außen und mehr noch von innen schlecht und
unordentlich gewaschen, ja selbst oft widerlich schmuzig aus. So schlank ihre
Bauart, so zweckmäßig für das Mittelmeer ihre Takelage, so gewandt und schnell
sie im Segeln und Hin- und Herkreuzen sind, so nachlässig gehalten und ver¬
wahrlost sieht es dagegen an ihrem Bord aus. Ein ganz anderes Bild zeigte
das Geschäft der Morgeuwaschuug bei unsren norddeutschen Schiffen, von,denen
man stets mehrere mit oldenburgischen, preußischen, hannoverschen, mecklenburgi¬
schen oder bremischen Flaggen im Hafen von Genua bei einander liegen sieht.
Ein gewisser närrischer Ernst ist auf den Gesichtern ihrer meist blauäugigen, flachs-
haarigen, breitschultrigen Matrosen, die auch hier im Süden ihre gewohnten
dicken, groben, rothen oder blauen Frieshemden selten abzulegen lieben. Das
allzu frühe Ausstehen ist ihnen nicht angenehm gewesen, sie hätten noch gern
ein Stündchen in den engen dunklen Schlafcojen verträumt, trotzdem daß der
Morgen mit so wunderherrlicher Pracht ans das blaue Meer daniederlacht und
es überall glitzert und funkelt vom italienischen Sonnenschein. Ruhig und fest,
zwar mit eiuer gewissen trägen Verdrossenheit, aber auch mit angewohnter Regel¬
mäßigkeit, die oft sogar in das Pedantische übergeht, verrichten sie ihre nasse Ar¬
beit. Taktmäßig fahren die Schrubber auf den Verdeckplanken umher, kein
Winkelchen wird übergangen, kein Wasser unnütz vergossen, und mit der Arbeit
nicht eher aufgehört, bis das Schiff vollkommen rein ist und der beaufsichtigende
Steuermann das Zeichen dazu gegeben hat. Nächst den holländischen Fahrzeugen
gebührt unsren norddeutschen Seeschiffen und besonders denen von der Nordsee
unbedingt das Lob, daß sie die reinlichsten und ordentlichsten in ganz Europa siud.
Auf den englischen Schiffen beginnt gewöhnlich die Thätigkeit etwas später, denn der
Engländer liebt das Frühaufstehen nicht sonderlich. Bei der Arbeit hingegen sind ihre
Matrosen stets rasch und mit praktischen Handgriffen vertraut, und da auch die Rei-
niguugsinftrumente meist sehr zweckmäßig construirt sind und jede Pedanterie ver¬
mieden wird, so ist dieselbe in kürzerer Frist als auf den deutschen Fahrzeugen
vollendet. So gut erhalten wie unsre deutschen Kauffahrer sehen die englischen
selten aus, und man merkt ihrem Aeußern an, daß sie mehr herumgetrieben
und hurtiger auf den Gewinn aus sein müssen, wie dies bei den unsrigen
der Fall zu sein pflegt. Ein englisches Schiff macht im Durchschnitt bei gleichen
Reisen alljährlich eine Fahrt mehr, als ein deutsches, so viel rascher und
waghalsiger wird es benutzt. Freilich gehen dabei im Verhältniß auch stets mehr
englische Schiffe als deutsche in der See verloren, und außer der holländischen
werden keine Flaggen bei den Schiffsassecnratnren in den europäischen und nord¬
amerikanischen Fahrten so gern gesehen, wie die 7 oder 8, welche unsre deutschen
Fahrzeuge führen.
War ich- es müde, diesen Toilettegeheimnissen der Schiffe zuzusehen, so brach¬
ten meine Ruderer.mich bald aus dem Gewühl derselben hinaus in den freien
Meerbusen. Eine prachtvolle Aussicht jhat man.von hier ans die ganze Stadt,
und besonders von unweit der Lanterna vor dem äußersten Punkt des Molo
nuovo ist der Blick äußerst belohnend. Ganze Reihen der imposantesten Paläste,
oft amphitheatralisch über einander steigend, oft aber auch vou breiten, grünen Ter¬
rassen getrennt, oder wie von smaragdnen Gürtel umgeben, in der Mitte von
grünenden und blühenden Gärten übersteht man. Hier begreift man die Ge¬
schichte Genua's. Geschickte, kühne Seeleute, klug speculirende Kaufherren waren
diese alten genuesischen „Nobili" auf dem Meere, vor deren Galeeren mehr wie
einmal der Halbmond floh, dagegen prachtliebende Aristokraten, üppige Sybariten
auf dem Festlande. Nicht verschlossen sie die Schätze, die Indien oder der Orient
ihnen brachte, ängstlich, sorgsam in ihre Truhen, sie liebten im Gegentheil mit
triumphirendem Stolze, sie öffentlich zu zeigen, und prachtvolle Bauwerke, welche
die Namen ihrer Gründer Jahrhunderte noch aufbewahrten, zu errichten, Künste
aller Art zu fördern, mit verschwenderischer Hand den unteren VolksAassen zu
spenden. Was für ein fürstlicher Reichthum gehört dazu, wenn ein Privatmann
ganz aus eigenen Mitteln eine Kirche, wie die von Corignano, in einer kurzen
Zeit erbaut. Das edle Haus der Santi lebte, wie dies in Genua unter den
vornehmen Geschlechtern so häufig der Fall war, in arger Feindschaft mit dem
nicht minder edlen Hause der Fieschi. Trotz dieser Feindschaft besuchten Erstere
doch aus altem Herkommen eine kleine Kirche, die einst von den Fieschi gegrün¬
det war und auf welche diese noch eine Art von Eigenthumsrecht auszuüben hat¬
ten. Da geschah es, daß ein Marchese Fieschi der jungen Tochter des Marchese
Santi, des Oberhauptes der Familie, öffentlich in spöttischen Worten den Ein¬
tritt in sein Gotteshaus untersagte. Vor Scham und Zorn erröthend kehrte die
so Gekränkte in den väterlichen Palast zurück, und klagte dem Vater die ihr wider¬
fahrene Unbill. Mit stolzen Worten that'der verletzte Mann das Gelübde, er
wolle sogleich eine Kirche aus eigenen Mitteln erbauen, welche die der Fieschi
weit überragen solle. Sogleich mußte der geschickteste Architekt der Stadt den
Plan zu dem Bauwerk entwerfen, mit offenen Händen spendete der Marchese
Geld über Geld, den Bau zu fördern, und binnen wenigen Jahren stand das
Gotteshaus in seiner stolzen Würde, die mächtige Kuppel des Mittelthurms, von
vier kleineren Thürmen umgeben, vollendet da, noch jetzt eine Zierde Genuas.
Welche stolzen Paläste sind auch die der edlen Familien Doria, Fieschi, Durazzi,
Pallavicini u. «., welche alle unweit des Meeres liegen, so daß man sie von einer
Barke im Hafen aus so recht in ihrer ganzen Größe bewundern kann. Gar das
weitläufige Bauwerk des Palazzo - Doria übertrifft an Größe und Reichthum der
äußern Ausstattung gar manches fürstliche Residenzschloß in unsren verschiedenen
deutschen Hauptstädten. Zwei Hauptgebäude, durch große Arcaden mit einander
verbunden, bilden den Palast. Das eine liegt auf schönen grünen Terrassen hart
am Meere, dessen Wellen den Fuß der Mauern, welche den Garten tragen, be¬
spülen, das andere höher hinauf auf einem mäßigen Berge. Große Bäume, be¬
sonders Platanen, Kastanien und Pinien von seltenem Wuchs zieren den weit¬
läufigen Garten mit seinen Marmvrbassins und Bildsäulen und Taxnsh'eater.
Hoch oben über der ganzen Häusermasse Genuas erhebt sich am Horizont
die blaue Bergkette der Seealpen, einen würdigen Schluß des schönen Gemäldes
bildend. In weiter Bogenlinie ziehen sich dieselben um den ganzen Meerbusen,
dessen Wellen oft in schneeigem Schaum sich an ihren Füßen brechen.
Hatten meine Bootsleute mich eine Strecke weit in das Meer hineingerudert,
dann legten sie gewöhnlich die Ruder nieder und ließen die Barke leise treiben,
während ich mich in die klaren, salzigen Fluthen stürzte.
So ein Morgenbad im mittelländischen Meere, wenn die Hitze des Tages
das Wasser noch nicht zu lan gemacht hat, stählt die Nerven. Unnennbares
Wohlbehagen durchströmt alle Glieder, und wie neugeboren entsteigt man dem
Wasser. Kein Tag verging, an dem ich in Genua nicht solch ein kräftigendes Bad
nahm, und immer mehr spürte ich die wohlthätigen Folgen desselben. Wenn ich
gegen 6 Uhr wieder durch die Reihen der Schiffe im Hasen mich zurückrudern
ließ, herrschte schon eine viel regere Thätigkeit, wie noch vor zwei Stunden auf
demselben. Mit lautem eintönigem Gesang arbeiteten die Matrosen auf den mei¬
sten Fahrzeugen, an den Winden die schweren Güter aus dem untern Schiffs¬
raum heraufzuziehen, oder neue Ladung einzunehmen. Auch hierbei zeigte sich
der Unterschied der nördlichen und südlichen Nationen. Mit langsamen, aber
sicheren Griffen zogen die schwedischen, norwegischen, norddeutschen und eng¬
lischen Matrosen an ihren Winden, eintönig erscholl das Ho, Ho, — Hi—o,
Hio — Ho — Ho ihres Vorziehers und Vorsängers, in dem die Anderen dann
in gleichem Takte Mit einstimmten. Aber tüchtige Lasten kamen zum Vorschein
und wurden von den derben Fäusten an den kräftigen Armen anscheinend leicht
bewegt. Welch Durcheinanderschreien, welch Lärmen und Zerren und Kreischen
hingegen am Bord der Griechen, Italiener, Andalusier und Provenyalen; als
wollten sie in blindem Eiser wahre Riesenlasten aufwinden, so sprangen und zerr¬
ten die braunen Kerle an ihren Winden, und doch brachten sie verhältnißmäßig
nur kleine Ballen oder Fässer herauf, der Eine zog scharf und rasch, der Andere
langsam, der Erste ward früher müde, bis die Last herauf war und ließ das
Ziehtau fahren, die Anderen wollten oder konnten die Last allein nicht über¬
wältigen, folgten seinem Beispiel, und der Ballen oder die Tonne, die oft schon
fast das Verdeck erreicht hatte, stürzte mit dumpfem Gepolter wieder in den
Raum zurück. Dann gab es jedes Mal ein langes heftiges Zanken, wer die
Hauptschuld daran trage, und ein wildes Fluchen und Drohen des mit Recht er¬
zürnten Steuermanns oder Capitains, und damit ging dann so viel Zeit verloren, daß
die ruhig langsamen Nordländer schon wieder 1—2 Ballen herausgcwunden, bis
die lebhaften Südländer mir mit dem Anfang der Arbeit begonnen hatten. Ich habe
mir einmal die Mühe gemacht/zu zählen, wie viel mehr Erstere als Letztere förderten.
Eine mecklenburgische Brigg und eine römische aus Civita-Vecchia, die beide
Baumwolle in gleich großen Ballen aus der Levante gebracht hatten, lagen neben
einander, um- zu löschen. Der mecklenburgische Capitain hatte 3 Matrosen an
der Winde, der römische aber 9, und doch ließ ersterer in gleichem Zeitraum
mehr als die doppelte Zahl von Ballen Heranswinden, als letzterer. Freilich
verzehrten die 3 mecklenburgischen Matrosen dafür auch am Mittag eine so ge¬
waltige Schüssel voll gelber Erbsen und Pöckelfleisch, daß die mäßigen Römer
gewiß drei Tage davon gelebt hätten.
Unzählige große und kleine Barken und Böte aller Art durchschneiden um
die 6. Morgenstunde den Hafen nach allen Richtungen. Häufig sind junge Män¬
ner der höheren Stände, auch Fremde, besonders Engländer in denselben, die
gleich mir ein Seebad nehmen wollen, oder eifrige Handlnngscommis fahren am
Bord der Fahrzeuge, Geschäfte mit den Capitälen abzumachen, Schiffsmäkler-
Gehilfen halten in ihren leichten Booten förmlich Wettfahrten mit einander, den
einlaufenden Schiffen entgegen, um zuerst die Capitaine zu überreden, die Hilfe
ihrer Prinzipale beim Aus- und Einklariren in Anspruch zu nehmen. Gleich
schachernden Juden auf den Trödelmärkten, so hört man in lautem, mißtönendem
Geschrei diese geputzten Makler - Commis sich gegen einander schmälern und die
Preise für ihre Dienste herabsetzen, um die unschlüssiger Capitaine für ihr Hans
zu kapern. Andere Boote sind mit Victualien aller Art bis an den Rand be¬
laden, den Schiffen die ihnen nach langer Seereise willkommenen frischen Lebens¬
mittel zu bringen. Besonders hübsch sehen diejenigen uuter denselben aus, die
mit Früchten und anderen Gartengewächsen angefüllt sind. Zu hohen Bergen
liegen die hellgelben Citronen aufgestapelt, riesige Körbe sind mit dunklen bitteren
oder süßen Orangen, Paradiesäpfeln, gold- und graugestreisten Melonen, frischen
Feigen oder anderen Erzeugnissen der südlichen Vegetation angefüllt, während
dabei Artischocken, Blumenkohl und andere seine Gemüse, die im Norden hohen
Werth haben, zu wohlfeilen Preisen verkauft werden. Unsere nordischen Matrosen
wissen aber allen diesen Früchten und Gemüsen keinen sonderlichen Werth abzu¬
gewinnen, und bleiben lieber bei ihren gewohnten Linsen, Bohnen, Erbsen und
Pökelfleisch. Zwischen allen diesen Handelsbarken, die größtentheils gerudert
werden, da es der Nähe der Schiffe und des vielen Anlegens wegen nicht der
Mühe lohnte, Segel aufzusetzen, lassen sich die heimkommenden Fischerboote an
ihren ausgespannten Segeln leicht Herausscheiden. Voll bläst der leichte Seewind
das ausgespannte Leinen auf, wie ein Pfeil schießt das kleine Schifflein zwischen
allen den hochbordigen Kauffahrern hindurch. Man fürchtet oft, jeden Augenblick
müsse das kleine Fahrzeug durch heftiges Zusammenprallen mit jenen kupser-
beschlagenen Niesen zerschellen, so dicht segelt es auf sie zu, aber ein leichter Druck
der Hand des Steuernde« genügt, der Kiel ändert seine Richtung, und oft kaum
einen Fuß von der gefährlichen Nähe schießt das Schifflein vorbei. Die Genue-
sen sind von Alters her geschickte und kühne Seeleute, und übertreffen hierin gar
sehr alle übrigen Italiener. In den Fischkasten dieser Fischerboote, die größten¬
theils die Nacht zu ihrem Fange benutzen, wimmelt es oft von den seltsamsten
Gestalten. Fische in so mannichfacher Auswahl, wie unsre nordischen Meere sie nicht
kennen, Molusken, Muscheln und andere Thiere des Meeres. IsruM al mars
nennt der Geruche alle diese Thiere, die besonders auch den unteren Ständen
einen nicht geringen Beitrag zu ihrer Küche geben, da sie zu ungemein wohlfeilen
Preisen verkauft werden. Auf dem Fischmarkt, der unweit des Hafens liegt, kann
man interessante Beobachtungen machen. Hier liegen die großen Thunfische,
die gleich dem Fleisch in unsren Schlachtbänken mit dem Beile zerhackt und pfund¬
weise verkauft werden, da sie für den Bedarf einer Familie zu viel Gewicht haben
und mehrere Dutzende von hungrigen Mägen zu sättigen vermögen; daneben
Spielarten der Delphine, Seeteufel und weiß Gott noch was für verschiedene
Gattungen, oft von den schönsten Farben, von den seltsamsten Formen. Und nun
gar die Mollusken, die häufig ein nichts weniger als Appetit erweckendes Aeußere
haben, obgleich sie von den unteren Ständen leidenschaftlich gegessen werden.
Ein beständiges Gewühl herrscht besonders in den Morgenstunden von 6—8 Uhr
auf diesem Fischmarkte. Viele Hunderte von Frauen und Männern strömen dann
aus der Stadt herbei, ihre Einkäufe zu machen, und da in Italien nichts ohne
Lärm und Geschrei abgehen kann, so schwirren und summen alle möglichen Töne
betäubend durch einander. Um ein Paar Fische für wenige Kupfermünzen ein¬
zukaufen, macht der Geruche viel mehr Worte, entfaltet einen weit größern Auf¬
wand von Redekünsten, als der englische Kaufmann bedarf, wenn es sich um ein
Geschäft von vielleicht mehreren hundert Tausend Pfunden handelt. In dieser
außer« Lebendigkeit, dieser Volubilität der Zunge, besonders im Handeln und
Feilschen, haben die Italiener viele Aehnlichkeit mit den Jsraeliten. Es kann auf
einem jüdischen Trödelmarkt wahrlich nicht geräuschvoller zugehen, als auf dem
Genueser Fischmarkt. — Kommt man durch Zufall um die Mittagsstunden von
12 —3 Uhr während der Zeit der Siesta in den Hafen und in die Straßen,
die an demselben liegen, so steht man überall ganz andere Bilder, wie am Mor¬
gen. Die geschäftige Thätigkeit ist verschwunden und hat der tiefsten Ruhe Platz
gemacht. Zu ganzen Schaaren auf dem Boden hingestreckt liegen die Fachiui
schlafend umher, und selbst das Anerbieten doppelten Lohnes wird Keinen dem¬
selben bewegen, sich in dem Genuß der „Siesta" unterbrechen zu lassen. Auch die
Bootsführer, die sonst überall den Fremden mit der Aufforderung bestürmen, sich
ihrer Fahrzeuge zu bedienen, schweigen gänzlich. Aus ihren Segeln haben die¬
selben sich eine Art wie Schattendach über ihre Böte gemacht und liegen auf dem
Boden derselben, entweder im tiefen Schlummer, oder doch im seligen clolee km-
nlenw versunken. Ich glaube, die Bootsführer, Fiacres, Eselstreiber u. s. w.
haben in ganz Genua das Recht, während der Zeit von 12—3 oder i- Uhr er¬
höhte Preise zu verlangen, und obgleich sie dasselbe gewiß benutzen, den Fremden
noch mehr wie gewöhnlich zu prellen, so sind sie während dieser Zeit doch äußerst
schwer zu irgeud einer Thätigkeit zu bewegen. Auch die Schiffe der fremden
Nationen sind gänzlich ausgestorben. Die Matrosen, von dem frühen Aufstehen
ermüdet, liegen größtentheils schlafend umher, und auch die Nordländer fügen
s^h gern der hiesigen vom Klima gebotenen Sitte. Schläfrig und verdrossen
lehnen die Douanieri, welche die Thore , die aus dem Hafen in die Stadt führen,
bewachen, denn Genua hat einen Freihafen, der von dem sardinischen Gebiet
durch eine Zolllinie getrennt ist, sich an den Mauern umher, und schlössen gar
gern die Augen, wenn ihre um diese Zeit doppelt harte Pflicht ihnen nicht strenge
gehste, dieselben wenigstens halb offen zu halten. Es muß zur Zeit der Siesta
in Genua leicht sein, zu schmuggeln oder zu stehlen. Die einzig Wachenden, die
ich bei einigen Wanderungen um die Mittagsstunde im Hafen sand, waren solche,
die das bekannte italienische Spiel „1a morro" spielten. Wenn Alles ringsumher
schlief, erlahmte ihr Eiser nicht. Im Schatten einer Mauer niedergekauert
gestiknlirten unaufhörlich, gleich den Armen eines Telegraphen, die geöffneten Hände
mit den ausgespreizten Fingern vor den Gesichtern der Spielenden, war un¬
geschwächt der gellende Ausruf der Zahlen der gegenseitigen Gegner. Und mit
welcher Leidenschaftlichkeit wird dieses Morra hier gespielt! Selbst in den glän¬
zenden Spielhöllen von Baden-Baden und Homburg, wo man doch sonst Gelegen¬
heit genug hat, die menschliche Natur in ihrer nackten Erbärmlichkeit zu beobachten,
sah ich solche Gier, solche Habsucht nicht als hier, wo es sich nur um einige Ba-
jochi handelte. Die dunklen Augen der Spieler schienen Feuer zu sprühen, solche
Gluth brannte in ihnen; zur scheußlichen Maske verzerrt waren alle Züge des
Gesichts und weit hervorgestreckt, gleich als wollten sie die schmuzigen Kupfer¬
münzen verschlingen, die geöffneten Kinnbacken mit den gelbweißen Zähnen. Be¬
sonders an einem alten Paar dieser 1a morra-Spieler, das ich häusig im Hafen
sah , habe ich diese Beobachtung gemacht. Auch die Ausdauer, womit dasselbe
dieses Spiel trieb, war um so erstaunenswerther, da sonst Ausdauer gerade nicht
zu den Haupteigenschaften der Italiener gehört. Ich fuhr einmal des Morgens
gegen K Uhr am Bord einiger Schiffe, wo ich etwas zu thun hatte, und wie ich
mich gegen 2 Uhr Mittags wieder zurückruderu ließ, fand ich dieses Spielerpaar
noch ganz an gleichem Platze und in derselben Körperlage, in der sie waren, wie
ich am Morgen an ihnen vorübergegangen war. So hatten dieselben schon an
8 Stunden unausgesetzt dieses einfache Spiel getrieben, und ihr Eiser war noch
nicht im mindesten im Abnehmen begriffen.
Nach 3 Uhr Nachmittags beginnt wieder die Lebendigkeit im Hafen und
dauert bis zum Sonnenuntergang fort. Köstlich waren die Fahrten, die ich häufig
noch in der Kühle des Abends aus dem Meere machte. Fuhr ich des Morgens
um i Uhr fast stets allein aus, um ein Seebad zu nehmen, bevor mich von
6—12 Uhr der Schreibtisch in meinem Zimmer fesselte, wo nach eingenommener
leichter Mahlzeit die Siesta von 1—i Uhr nach gut italienischer Sitte ge¬
halten wurde, so vereinigten wir uns des Abends gewöhnlich zu größerer
Gesellschaft. Ein Sardinischer Generalstabsofficier, ein angenehmer, gebildeter,
viel gereifter Mann, ein Pole, der als Ingenieur in sardinischen Diensten stand,
ein englischer Marine-Capitain auf Halbsold, waren bei diesen Abeudfahrten meine
gewöhnlichen Gefährte». Oft segelten wir weit in das blaue Meer hinaus, so
daß uns bei einbrechender Nacht das Leuchtfeuer der äußersten Lanterna vor dem
Molo nuovo als Leitpunkt dienen mußten, oft blieben wir anch im Hafen selbst
zwischen den Schiffen, die mannichfachen Bilder, die sich jetzt auf ihnen uns
zeigten, zu beschauen, oder hielten uns in mäßiger Entfernung von der Küste,
um so die vielen landschaftlichen Reize, die sie in immer neuer Abwechselung
uns bot, desto besser bewundern zu können.
Besonders herrlich war es ans dem Meere, wenn die Sonne im Scheiden
begriffen, und ihre letzten Strahlen den breiten Spiegel desselben mit purpurnem
Schein färbten. In der klaren Beleuchtung sah man doppelt deutlich die schönen
Linien der Paläste und Kirchen Genua's, und gleich goldenen Scheiben blitzten
und funkelten die Fenster in dem silberweißen Gemäuer. Im duftigen Blau ver¬
hüllt, lagen die ferneren Kuppen der Seealpen, während ihre näheren Höhen
in scharfen Contouren am rosigen Himmel sich abzeichneten. Gleich riesigen Schwä¬
nen erschienen die vielen großen und kleinen Fischerboote, welche um die Abend¬
stunde mit ausgespannten Segeln dem Meere wieder zueilten, dort während der
Nacht den Fang zu treiben. Oft fielen die Sonnenstrahlen gerade auf ein solches
Schifflein und färbten dann das weiße Leinen der Segel mit ihrer feurigen Gluth,
daß es aussah, als wäre es aus lauter goldenen Fäden zusammengewebt. Auf
den meisten Schiffen herrschte um diese Zeit das frohe Leben der Lust und Rast
nach der vollbrachten Arbeit des Tages. Vom Bord der Meisten ertönte Gesang,
oft mit den Klängen der Mandoline oder Flöte vermischt. Besonders' auf denen
der Völker des Mittelmeers konnte man fast stets Musik und Gesang hören, die
zuweilen dazu dienten, die nationalen Töne der Matrosen zu begleiten. Ruhiger
und stiller ging es auf den nordischen Fahrzeugen zu. In kleinen oder größeren
Gruppen vereint lehnten sich die Matrosen müsstg über die Wand des Verdecks,
rauchten behaglich ihre Pfeifen, plauderten in leisen Gesprächen, oder schauten
träumerisch in die blauen Gewässer, die rauschend am Kiel des Schiffes vorbei-
flutheten. Zahlreiche Gesellschaften fahren im Hafen spazieren und in den kräf¬
tigen Chor der Männerstimmen mischen sich die weicheren Töne zarter Frauen.
Die Genueserinnen der höheren Stände sind oft von großer Schönheit, und manch
edle hohe Gestalt, manch reizendes Gesicht habe ich bei diesen abendlichen Spazier¬
fahrten bewundert. Da tönt plötzlich das „^ve Uarls" Glöcklein von der Ka¬
thedrale, und ihm nach von den vielen großen und kleinen Thürmen, die aus
dem stolzen Genua sich in die Luft erheben. Eine plötzliche Stille tritt ein, ver¬
stummt für den Augenblick ist Lachen und Scherzen, Musik und Gesang, die man
noch so eben ringsum hörte. Ueberall lassen die Bootsleute in den Barken die
Ruder sinken. Frauen und Männer erheben sich, letztere entblößen die Häupter,
und mit gekreuzten Händen verharren Alle im stillen Gebet, so lange das Lauten
anhält. Nach ungefähr 5 Minuten sind die letzten Töne desselben verklungen,
und sogleich tritt das frohe Leben mit seinem mannichfachen Geräusch wieder an
dessen Stelle. Dem Gebot der Kirche ist vollauf Genüge geleistet, der Ungebun¬
denste darf bei den warmblütigen Italienern sich wieder regen.
Graner und farbloser werden allmählich die Mauern und Thürme, dunkler
die unteren Berge, während ihre oberen Gipfel von den letzten Strahlen der
Sonne beleuchtet noch im rosigen Lichte schimmern. Allmählich wird es auch im
Hafen leerer und leerer, eine Barke nach der andern rudert dem Molo zu, dort
ihre frohen Gäste, die das Nachtmahl uoch einnehmen wollen, anzulanden. Auch
auf den Schiffen wird es still, der Gesang der Matrosen verstummt, schläfrig
suchen sie ihre Cojen, um nach der harten Arbeit des Tages sich für die nicht
minderschwere des morgenden zu stärken. Von dem Wachtschiff donnert jetzt der
Signalschuß' zum Zeichen, daß alle Feuer und Lichter am Bord der Schiffe ge¬
löscht sein müssen, und in vollem Echo ertönt derselbe wieder von den Felsen und
den Mauern der Paläste zurück.
Allmählich tritt der Mond mit voller Scheibe hinter dem Berge von „San-
Noccv" hervor. Silbermatt erglänzt der Spiegel des Meeres, von der leichten
Landbrise, die gegen Abend sich stets zu erhebe» pflegt, gekräuselt. Lauge dunkle
Schatten werfen die Mauern des Molo auf dieser hellen Fläche, und die Umrisse
einzelner Fahrzeuge, die gerade eine besondere Beleuchtung haben, zeichnen sich
in stark vergrößertem Maßstabe ans derselben so scharf und rein ab, wie bei der
besten Latcrna magica mit ihren Figuren aus der weißen Kalkwand. Von tief¬
blauer vollgesättigter Farbe ist dabei der Himmel, und kein leises Wölkchen trübt
dessen Reinheit, während unzählige Sternbilder mit ihrem Hellem Lichte schwach
durch das mattere des Mondes hindurchschimmern. Voller süßer Wohlgerüche
von den vielen Rosen-, Jasmin- und Granathecken, die überall in deu weitläufigen
Gärten am Lande stehen, duftet der sanft kühlende Landwind und 'zeigt uns die
Milde italienischer Sommernächte. Kleine Barken, größtentheils nur mit einigen
Personen, kreuzen noch auf den Wellen, langsam in lang eingehaltenen Ruder-
schlägen von ihren Führern fortbewegt. Häufig sind liebende Paare in denselben,
denn die einsame Barke, in der man unbeobachtet von lästigen Spähern dem
Drange der Herzen folgen kann, ist ein beliebter Ort für dergleichen Zusammen¬
künfte. Die Treue und Verschwiegenheit der Barkführer in dergleichen Fällen
ist in Genua sprichwörtlich geworden. Häufig scheinen diese Paare den höheren
Ständen anzugehören. Viele Mäntel von dunkler Seide wurden, um die Form
des Körpers zu verhülle», von den Damen nmgenommen, ein schwarzer dichter
Schleier rasch über das Gesicht gezogen, wenn zufällig unsre Barke auf Augen¬
blicke in zu'große Nähe kam. Oft ertönte von solchem einsamen Schifflein ein
voller honorer Gesang aus Manneskehle, dann fiel in einzelnen Pausen eine zar¬
tere Frauenstimme mit ein,' oder die Klänge der Mandoline begleiteten denselben.
Weit ab im Meere, oft nur kleinen glühenden Punkten gleich, leuchteten die Feuer
vieler Fischerboote. Eine Art größerer Seefisch wird vornehmlich in der Art
gefangen, daß die Fischer in ruhigen Nächten, wo das Meer still ist, mit einer
Kohlenpfanne im Vordertheil des Nachens, auf die sie von Zeit zu Zeit harziges
Holz werfen, umherfahren. Von dem Glänze des Feuers geblendet, bleibt der
Fisch ruhig an einer Stelle stehen, und kann dann leicht mit einer dreizackigen
Harpune, die 'mit langem Stiel versehen ist, erlegt werden. Stundenlang trieben
wir ohne Ziel und Plan an solchen Mondscheinabenden bis gegen Mitternacht
umher, uns des süßen Zaubers, der über ihnen ausgebreitet lag, mit ganzer
Seele hingebend.
Wie ganz anders dann die, Scenen, die sich uus bei dem Heimweg oft
noch in einigen Gassen am Hafen darstellten. Draußen stiller Frieden, hier wüster
Lärm und wilde Rohheit. Im bestialischer Gebrüll erschollen unflätige Lieder in
allen möglichen Sprachen ans den geöffneten Fenstern der niederen Schenken, in
denen die Matrosen ihre Orgien feierten. Halbnackte Mädchen von so schamloser
Frechheit, wie ich sie in der Art in keiner Hafenstadt sah, standen überall umher,
die Vorübergehenden in diese Höhlen des Lasters hineiuzulvckeu. Durch die der
Hitze wegen offen stehenden Fenster der Tauzstuben konnte man nach dem Klänge
mißtönender und entsetzlich gellender Musik berauschte Matrosen mit nicht vielmehr
nüchternen Weibern in den wildesten, zügellosesten Tänzen her»arti.seu sehen.
Flüche, Verwünschungen in allen Sprachen der Welt, dann wieherndes Gelächter,
rohes Gejauchze, oft auch ängstliches Gekreische von einer Frauenstimme, die viel¬
leicht einige Mißhandlungen erhielt, verschmolz sich hier zu dem widerlichsten Chaos.
Uebrigens sollen diese Straßen des Nachts auch für Einzelne, besonders Fremde
ans den höheren Ständen ziemlich unsicher sein, und Ranbanfälle, ja selbst Mord¬
thaten in ihnen nicht zu den Seltenheiten gehören.
Von großem Interesse für mich war auch der Besuch einer sardinischen Fre¬
gatte, die auf der Rhede von Genua lag. Ich hatte in den letzten Jahren die
Kriegsschiffe von fast allei! Nationen Europas gesehen und wollte daher gern die
der Flotte Sardinien, die in dem Kampf mit Oestreich so wacker die Feuertaufe
bestanden hatte, damit vergleichen. Es war eine schöne, in den besten Verhält¬
nissen gebaute Fregatte, die wir besuchten, und sie hatte in ihrer Große und
äußern Erscheinung große Aehnlichkeit mit der Fregatte „Eckernförde". Am Bord
derselben herrschte durchgängig die größte Ordnung und Sauberkeit, und man
sah es dem Ganzen an, daß tüchtige, wohlgeübte Ofstciere hier befehligten. Die
Mannschaft bestand ans hübschen, kräftigen, gewandten Burschen, vielfach aus
Genua selbst, dann auch von der Insel Sardinien gebürtig. Nemlich in weite
Hosen von Segelleinewand und kurze blaue Jacken gekleidet, und gut genährt,
gewährten dieselben einen sehr befriedigenden Anblick. Da ein englischer Flotten-
Capitain mit uns die Fregatte besah, so ließ der Commandeur derselben die Mann¬
schaft einige Uebungen in den Masten und Tauen machen und dann auch blind
an den Geschützen exerciren. Das Ganze geschah sehr rasch und gewandt und
auch mit großer Sicherheit sowol von Seite der befehlenden Officiere, wie der
ausübenden Mannschaft. Nicht allein ans Artigkeit gegen den Capitain, sondern
später auch gegen uns äußerte der englische Officier seine volle Zufriedenheit mit
Allem, was er gesehen hatte, und es war auf dessen Urtheil ein um so größeres
Gewicht zu legen, da derselbe einen anerkannten Ruf als einer der tüchtigsten
Seeleute der englischen Flotte hatte. Etwas mehr Unruhe und lebhaftes Geschrei,
als auf einem englischen Kriegsschiff, kam übrigens auf der sardinischen Fregatte
vor, und glich dieselbe hierin mehr einem französischen Fahrzeug. Auch die
Mannschaft war körperlich nicht so stark, wie die nordischen Seeleute es in der
Regel sind, und war deshalb auch in größerer Zahl an den Geschützen und Tauen
vertheilt.
Die Ausnahme, die uns am Bord zu Theil wurde, war ungemein zuvor¬
kommend, da der schon vorhin erwähnte Generalstabs-Officier in naher Ver¬
wandtschaft zu dem Capitain stand. Wir nahmen in der Cajüte desselben eine
reichliche Collazione ein, wobei besonders ausgezeichneter Cyperwein präsentirt
ward. Nicht ohne große Beschämung vermochte ich dabei die Frage eines Schiffs¬
lieutenants nach dem Schicksal unsrer neu gegründeten deutschen Flotte zu be¬
antworten.
Auf der Heimfahrt von der Fregatte besahen wir noch ein Fahrzeug,
das so eben aus den- Korallenfang nach der tunesischen Küste hinsegeln wollte.
Im großen Umfang wird die Korallenfischerei von Genua aus betrieben, und be¬
schäftigt viele Hunderte tüchtiger Seeleute. Den Patrone des Fahrzeugs hatte
ich zufälliger Weise im vorigen Frühling in Bona getroffen, und mit außerordent¬
licher Lebhaftigkeit freute er sich jeht unsres Wiedersehens. Er schenkte mir meh¬
rere sehr seltene Korallen, die er als Rarität aufbewahrt hatte, bewirthete uns
anf alle Weise und war durchaus nicht zu bewege», auch nur die geringste Ver¬
gütung dafür anzunehmen. ,M da kMc> Meere 6i servirla Sixiwre," ant¬
wortete er stets mit dem aufrichtigsten Ausdruck. Man findet sonst in Italien
nicht viel ähnliche Beispiele von Uneigennützigkeit gegen Fremde, daher mir dieses
desto mehr auffiel.
Indem wir zur nähern Betrachtung übergehen, können wir nicht unterlassen,
in die allgemeinen Klagen über die nachlässige Einsendung der im Katalog ver¬
zeichneten Kunstwerke einzustimmen. Das Zusammenfassen des Zusammengehörigen
zu bestimmten Gruppen, nach allgemeinen Gesichtspunkten, wird dadurch auf's
Aeußerste erschwert, und sowol die Kritik, wie die durch sie beabsichtigte Kunst¬
anschauung in ihren Wirfungen zersplittert — gehemmt. Aber einer wohlgemein¬
ten, mit Ernst geführten Kritik muß es wesentlich um allgemein faßliche Resultate
zu thun sein, die zwar aus der Specialberrachtuug gewonnen, jedoch zu einem
Endresultat vereinigt, den wahren Stand der Kunst überhaupt erkennen lassen.
Wir werden demnach, ungeachtet jener oben berührten Mangelhaftigkeit, dennoch
den für eine gründliche Beurtheilung des Ganzen nicht zu umgehenden Weg ver¬
folgen, sollten wir auch im Verlaufe der Ausstellung, durch das Hinzukommen
neuer bedeutsamer Gegenstände, aus ein in unsrer Arbeit bereits behandeltes Thema
zurückgeführt werden.
Wenn wir im Vorigen bemerkten, daß der Mangel wahrhaft ergreifender
historischer Darstellungen fühlbar ist, so gilt das ganz besonders von den
im Interesse der Religion geschaffenen Werken — den sogenannten Heiligen¬
bildern. Die Zahl derselben ist sehr gering, und die Darstellung Christi — der
Mittelpunkt, um den sich gewissermaßen diese Kunstrichtung bewegt — beschränkt
sich zumeist auf Skizzen (Ur. 30, Ur. 351, Ur. -122, Ur. -123), auf eine Carton¬
zeichnung (Ur. 478) und auf ein Glasgemälde (Ur. -1-143). Von alle dem be¬
findet sich indeß noch Nichts auf der Ausstellung, und ebenfalls stehen noch die
denselben Gegenstand behandelnden ausgeführten Bilder (Ur. -I-I8, Ur. 322,
Ur. 326, Ur. 327) zu erwarten. Was wir höchlichst bedauern, ist das Fehlen
des Bildes von C. Begas: „Christi Verrath." Unter den bereits ausgestellten
Bildern können wir die Nummern 633 und einige ähnliche, durchaus bedeutlose
Arbeiten mit Stillschweigen übergehen, während ein großes Oelgemälde von
E. secirte*) aus Frankfurt a. M. unsre Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt.
Auf demselben erblicken wir Christus in einer rein symbolischen Handlung und
zwar als „guten Hirten" dargestellt, wie er das Lamm aus den Dornen errettet.
Der Künstler verlegt die Handlung — vermuthlich um den Gegenstand selbst
so viel wie möglich aus dem Bereiche des Irdischen emporzuheben — aus deu
Gipfel eines Berges, während uns, da wir tiefer stehend gedacht werden, nur der
Blick in den vom Abendroth beleuchteten Horizont gestattet ist. Hier hinauf hatte
sich das Lämmchen verirrt und in einen fast gänzlich isolirt stehenden scharf¬
spitzigen Dornenbusch verwickelt. Christus war ihm gefolgt. Angethan mit langen,
weitfaltigen Gewändern, einen über die Schulter geworfenen Räntzel und in der
linken Hand den langen, oben gekrümmten Wanderstab haltend, hat er sich knieend
vor dem Lämmchen niedergelassen, indem er es mit der rechten Hand von den
Dornen befreit. Die Gestalt des Erlösers erhält nur ein leichtes Streiflicht von
der im Scheiden begriffenen Sonne, wobei sich die ganze Masse dunkel gegen
des Himmels Licht absetzt. — Treten wir dieser Darstellung näher, um sie aus
sich heraus zu würdigen, so ist ein zu Grunde liegender feiner Sir«, ein den
Künstler innerlich bewegendes Element unverkennbar. Aber es ist noch nicht zur
vollgiltigen Erscheinung gekommen. Zwischen ihm und dem Beschauer ruht noch
eine erlMeude Schränke, so daß das Werk selbst an seiner geistigen Wirkung
verliert und streng genommen eindruckslos dasteht. Diese WirkungSlosigkeit beruht
aber nicht etwa auf der technischen BeHandlungsweise allein, die vielmehr ziemlich
mit dem Inhalte harmonirt, da sie jedes Streben nach äußerlich wirkenden Effect
verschmäht und dem Gegenstande selbst sich unterordnet; auch beruht sie uicht auf
einzelnen Mängeln der Zeichnung, die sich besonders in der Gewandung, in der
Unschönheit der über dem linken Knie fallenden Masse, geltend machen; — sie
bericht vielmehr in der Gesammtaufsassuug des Gegenständlichen, in dem sicht- und
fühlbaren Bestreben, dasselbe über die Sphäre des Sinnlichen erheben zu wollen.
Es ist dies überhaupt der Punkt, an dem die meisten modernen Heiligenbilder
in ihrer beabsichtigten religiösen Wirkung scheitern.
Bei allen wahrhaft wirkenden Heiligenbildern, namentlich des Mittelalters, läuft
es am Ende immer darauf hinaus, menschliche Situationen und Zustände zu versinn¬
lichen, sie gleichsam so zu Potenziren, daß sie uns in eine erhöhte Stimmung versetzen;
denn selbst die höchste geistige Spannung, soll sie ans unser Inneres wirken, darf
nicht die Greuze menschlicher Empfindungsweise überschreiten wollen. In dem
Erkennen dieser Grenze beruht die Macht jener mittelalterlichen Werke, jener
Schöpfungen eines Rafael, Tizian, Dürer u. f. w., aus denen uns, in der har¬
monischen Verkörperung des höchsten der Schöpfungswerke, die Allmacht des
Schöpfers erkennbar entgegentritt und uus zu ihm erhebt, aber nicht das Bestreben,
den doch nicht faßbaren göttlichen Geist als solchen verkörpern zu wollen. Aber
viele unsrer modernen Maler wollen die Existenz des rein Göttlichen formiren.
Da reicht nun freilich jene naiv menschliche Auffassung der Natur uicht aus, und
sofort greift man zur Allegorie. Der Heiligenschein, der von jeher nichts weiter
war, als ein — aus dem Heidenthum überkommenes — rein äußerliches Attribut,
wurde mit besonderer Achtung behandelt. Er gab zunächst dem Werke jene, es
als „heilig" charakterisirende Weihe. Aber man fühlte doch auch, daß mit dieser
Erlänteruugsformel nicht viel gewonnen sei, und so ging man weiter in der allego¬
rischen Darstellungsweise, indem man sich immer mehr von dem eigentlichen Kern
der Sache — von der allein zur Erkenntniß führenden Natur — entfernte. Daß
es auch Rafael nicht verschmähte, da, wo die natürliche Erscheinung nicht aus¬
reichte, zur Allegorie überzugehen, wissen wir sehr wohl, aber wir wissen auch,
wie er dabei zu Werke ging. Mau werfe nur einen Blick auf die sixtiuisch e
Madonna. Hier schauen wir die von Engelchören umgebene Gestalt der Maria
mit dem Jesuskinde im Arm, aus Wolken schwebend. Ernst und würdig, gleich
einem in sich abgeschlossenen Leben, schwebt sie hernieder — jedem geistig Fühlen¬
den verständlich, denn sie tritt ihm entgegen als Weib, als Weib mit Fleisch und
Bein, kräftig und wahr und zugleich schön — ein Werk, wie es die Natur in
günstigen Momenten hervorzubringen im Stande ist. Und dennoch ist sie nur
Trägerin des Kindes — des Welterlösers. Ju diesem sollte sich die ganze
schöpferische Kraft des Künstlers concentriren. Darum schuf Rafael ein Kind in den
schönsten kindlichen Formen mit dem Ausdruck eines Alles durchdringenden Geistes.
Dieser Gegensai) von Form und Geist, geeinigt durch die überwältigende Natur-
wahrheit in der Erscheinung, gesteigert durch die naiv dreinschauenden Kinder¬
köpfchen, welche die Mitte des untern Bilderraumcs füllen, die ebeu so innerlich
ergreifende Naturwahrheit, mit der die zu deu Seiten der Madonna knieenden
Figuren erfaßt und wiedergegeben'send, rücken das ganze Werk unsrer Natur so
nahe, daß wir, ohne die Allegorie zu ahnen, sofort von der Macht des Dar¬
gestellten ergriffen und erhoben werden. Wie anders wirken dagegen Bilder, wie
das von Seelilie, in welchem Alles, ja selbst die Farbe zur Allegorie geworden
ist. Nirgends zeigte sich uns ein Anknüpfpunkt an die Natur, nach dem unser
Gefühl so sehr verlangt. Ueberall werden wir kalt zurückgewiesen, bis wir, un¬
ruhig über uns selbst, an eine Zergliederung des Werkes gehen, um es uns klar
und verständlich zu machen. Mit dieser, durch die Allegorie hervorgerufenen spe¬
kulativen Zergliederung des Werkes aber ist die künstlerisch und sittlich wirkende
Macht desselben bereits gebrochen. Wir haben dasselbe verstanden und wir ver¬
lassen es, ohne es eigentlich empfunden zu haben. — So ging es uns
wenigstens mit diesem Bilde, dem wir um so mehr Aufmerksamkeit widmen,
als es vorläufig das einzig bedeutsame Werk dieser Gattung ist, das die
Ausstellung bringt, und es außerdem als ein Nepräsentativbild einer besondern
Richtung der modern kirchlichen Kunst zu betrachten ist. Ja, wir können
dasselbe nicht verlassen, bevor wir nicht noch ein zweites, mehr äußerliches
Moment hervorgehoben haben, das sich an demselben fühlbar macht. Es ist die
kuttstlerisch religiöse Tradition, die von Hanse aus dem freien Gedanken hemmend
entgegentritt. Wir erblicken nämlich die Gestalt Christi vom Kopf bis zur Zehe
in den althergebrachten Formen jener schwächlich sentimentalen Richtung, die aus
einem kaum glaublichen Mißverstand der altchristlichen Bilder hervorgegangen ist
und die sich zum großen Theil der modernen Heiligeumalerei bemächtigt hat. —
Es ist freilich uicht' Jedermanns Sache, einen Weltenerlöser in jener körperlich
mächtigen Bildung' hinzustellen, wie dies ein Michel Angelo in seinem jüngsten
Gericht zu thun wagte. Aber Fleisch und Blut, Knochen und Muskulatur, mit
einem Wort Lebensfähigkeit und Lebensfrische, überhaupt aber einen gesunden
Körper sollte man doch wenigstens dem Gottmenschen geben — ihm um so mehr,
als er zum fühl- und sichtbare», irdischen Repräsentanten des rein Göttlichen be¬
stimmt war. Statt dessen erblicken wir hier jene, nur allzubekauute kränkelnde
Gestalt mit in der Mitte sorgfältig gescheitelten, lang herabwallenden blondem
Lockenhaar, langem Gesicht und fein, fast zierlich geformtem doppeltem Kinnbart,
bedeckt mit den nicht minder typisch gewordenen Gewändern, einem langfließenden
und weitärmeligen blaugrauen Untergewande und dem darüber geworfenen braun¬
rothen, faltenreichen Mantel. Selbst die Bewegung der die Dornen zurück¬
biegenden Hand ist so kraftlos, zierlich erstarrt, daß wir beim Anblick uns innerlich
geängstigt fühlen; — stets möchte man zugreifen und helfen, damit dem armen
Lamm so schnell wie möglich geholfen werde. Diese Empfindung des Mitleids,
die wir mit dem geängstigten Thier haben, das Begehren, demselben zu helfen,
ist vielleicht als das einzig bewegende Element zu betrachten, das uns sofort ans
dem Bilde berührt. Um dies aber zur Erscheinung zu bringen, bedürfte es nicht
dieser künstlerischen Anstrengung. Jedes nach dieser Seite hin mit Geist durch¬
geführte Genrebild ist im Stande, derartige Empfindungen in viel bestimmterer
und in bei weitem rührender Weise in uns rege zu machen. Fragen wir uns
demnach, was diese Bilder eigentlich sollen, wozu sie gemalt werden, da sie weder
den Geist des Beschauers erheben, noch irgend wie religiöse Denk- und Gefühls¬
weise berühren? so müssen wir freilich die Antwort schuldig bleiben und sie Denen
überlassen, die anderer Ansicht sind, wie wir. Was uns indeß bei diesem Bilde
besonders schmerzt, ist, daß wir in demselben einen mit vielem Talent und künst¬
lerischer Empfindung begabten Künstler erkennen, der mit angestrengtem Fleiße
einem unerreichbaren Ziele entgegenstrebt, und in diesem Streben, das ihm gewiß
als das höchste erscheint, die schönste Kraft künstlerischer Befähigung zwecklos
verwirkt. —
Wohin übrigens jene oben angedeutete religiös traditionelle Kunstrichtung,
selbst bei nicht geringer künstlerischer Befähigung, führen kaun, beweist ein, nicht
im Katalog verzeichnetes, im zweiten Saal aufgestelltes Bild von G. Lasinski:
„Die Anbetung der heiligen drei Könige." In diesem zeigt sich deutlich das rein
äußerliche Bestreben, jene der deutsch-mittelalterlichen Kunst eigenthümliche Auffassung
und Darstellungsweise zu reproduciren. Aber wie jede Nachahmung, hatdas eine
Abschwächung der eigenen Individualität zur Folge. Fragen wir uns, was die
Mehrzahl der deutsch-mittelalterlichen Bilder trotz vielfältiger Mängel in der
Zeichnung dennoch künstlerisch so hoch stellt, daß wir von ihnen angezogen und
bis in's Tiefste ergriffen werden? so ertheilt darauf die Wirkung, die sie in uns
hervorbringen, die zuverlässigste Antwort. Es ist der nationale Geist jener Zeit,
der uns aus ihnen entgegenweht, der Geist des naiv religiösen Daseins, der alle
Interessen des Lebens in sich aufnahm, und thuen wiederum nach außen hin den
Stempel einer rein kirchlichen Existenz aufdrückte. Jedes aus diesem Zeitgeist
hervorgegangene, mit künstlerischer Befähigung durchgeführte Bild trug ohne
Wollen und Wissen des Künstlers den zeitlich religiösen Kern in sich, um so
wirksamer, als er uicht mit Absicht erstrebt war. Gleichzeitig ist es aber auch in
diesen Werken das innige Eingehen in die Naturerscheinungen, was sie uns nahe
führt. Selbst die mannichfach äußeren Mängel in der Darstellung verschwinden
gegen jenen harmonischen Zusammenklang von Geist und Form, der als
mächtiges Uebergewicht uns unbewußt hineinzieht in den Gegenstand — in die
Zeit. Unsre Zeit ist aber eine andere. Nicht mehr ist es das religiöse Element
des Mittelalters, das sie bewegt. Andere Interessen, auch im Bereiche der Re¬
ligion, sind an seine Stelle getreten. Zeit und Menschen sind naturgemäß an¬
dere geworden. Der seiner Zeit angehörende Künstler fühlt und empfindet, denkt
und schafft in ihr. Er kann und darf platterdings nicht hinaus aus seiner Zeit,
will er für sie, will er für andere Zeiten wirken. Jedes Bestreben, Geist und
Form vergangener Zeiten heraufbeschwören zu wollen, scheitert durch sich selbst,
indem es wirkungslos bleibt und kalt läßt. So ist es denn auch der Fall mit
dem Bilde von Lasinski. In ihm fühlen wir nur die Mängel jener mittel¬
alterlichen Bilder, ohne eine Spur vou dem geistigen Gehalte, der diese künst¬
lerisch belebt. Vielmehr tritt hier der Gegensatz von Inhalt und Form so schroff
zu Tage, daß wir bis in's Innerste verstimmt werden. Diese Disharmonie er¬
streckt sich selbst auf die Farbe, durch welche unser Auge vom Bunten zum Bunten
schweifend zwangvoll bewegt wird.
Bei weitem-ruhiger, sowohl in Form und Farbe erscheint dagegen ein Bild
von F. Colte (Ur. 39) „Die drei Marien am Ab.end vor dem Grabe des Herrn,"
das, ungeachtet einer bei weitem geringern künstlerischen Befähigung, dennoch ein
ernstes Ringen mit der Sache erkennen läßt. Man steht doch, daß es- dem
Maler darum zu thun war, aus sich heraus zu wirken, wenn gleich die Kraft ihm
fehlte, sich künstlerisch klar auszusprechen. Daher die im ersten Moment des Be-
schauens auffallenden Mängel in der Zeichnung, besonders in den Händen der
stehenden Maria, die etwas Aeußerliches, krampfhaft Steifes haben. So anch
sind die Gewänder fast sämmtlich schlaff und leblos, während die Färbung im
Ganzen an die sogenannten biblisch-historischen, braunrothen, grau gebrochenen
Töne erinnert. Eine Skizze desselben Malers (Ur. 61) macht weniger Ansprüche
und ist daher mit Stillschweigen zu übergehen. — Andere, in diesem Kreise sich
bewegende Darstellungen bietet nur noch der Katalog in den bis jetzt fehlenden
Bildern Ur. 226, Ur. 713 und Ur. 1173. Wenn wir aber in dem Verzeichniß
als die Arbeiten eines Künstlers unter einander gereiht finden Ur. 105: „Maria
mit dem Kinde", und Ur. 106: „Die leere Kaffeekanne", so hat wenigstens diese
Zusammenstellung einen kaum zu bewältigenden Eindruck in uns hervorgerufen.
— Uuter den Hieher gehörigen ausgestellten Bildern ist noch eine mit großem
Fleiß behandelte Oelmalerei von Frl. Virginia Bovin zu erwähnen (Ur. 72)
„Die Jungfrau Maria, den kleinen Jesus lesen lehrend." Die Anspruchslosigkeit,
mit der das Bild auftritt, der Fleiß, mit dem es durchgeführt ist, das in ihm
erkennbare Bestreben, die rein menschliche Empfindung der Mutterliebe zur Er¬
scheinung zu bringen, läßt über mannichfache Mängel desselben — selbst über die
Unschönheit des Mariakopfes, bei dem die Stirn gegen die übrigen Gesichtstheile
viel zu stark zurückliegt, wie auch über das Verschwommene, gleichsam Porzella¬
nene der Färbung — mit Nachsicht hinwegsehen. Weniger können und dürfen
wir dies bei der bei weitem anspruchsvollern Cartonzeichnung (Ur. 71) derselben,
welche „das von Heiligen umgebene Jesuskind schlafend" darstellt. Hier tritt das
Verschwimmenlassen der Contoure und Mvdelirung in einer, an das Verblichene
streifenden Manier auf, die dadurch, daß sie dem Einzelnen jeden Charakter, jede
Kraft benimmt, das Ganze als schwächlich, körper- und wirkungslos erscheinen
läßt. —
Markiger und innerlich fester, wenn auch nicht ganz ohne die fühlbare Absicht
einen gewisse» Ernst von außen auf die Gestalten zu übertragen, erscheinen
dagegen die Figuren ans den (Ur. 117) „Cartons zu deu zwölf kleinen Propheten"
von G. Elch. Was sie außerdem «och auszeichnet, ist die schlichte Einfachheit
in den Gewändern. — Ein ans derselben Wand befindlicher, in Aquarell und
Kreide ausgeführter Carton (Ur. 224.) von I. Hübner in Dresden fesselt unsre
Aufmerksamkeit durch seine geschmackvolle Anordnung. Da die Composition zum
Schmuck eines Fensters bestimmt war, das eine im Weinberge u. s. w. gelegene
Capelle zieren sollte, so lag hierin schon mehr oder weniger bedingt der Stoff
der Darstellung. Christus als Hauptfigur in der Mitte, ihm zur Rechten Maria,
zur Linken Johannes — jede unter reich ornamentirendem, baldachinartig an¬
gebrachten Rankenwerk stehend — sind Gestalten von poetischem Reiz. Wenn
gleich nicht ganz frei von jener typischen Darstellungsform, athmen sie dennoch
Innerlichkeit — wirkliches Leben. Die unteren, kleineren Darstellungen, in denen
das Beschneiden des Weinstocks, das Keltern der Trauben und die Lohnzahlung
an die Winzer versinnlicht ist, sind mit Geist empfundene und mit feinem Sinn
für Charakteristik durchgeführte Genrebilder, ohne daß dadurch mit jenen darüber
schwebenden heiligen Gestalten irgendwie ein Widerspruch entstände. — Haben
wir es auch hier mit einer allegorischen Darstellung zu thun, in der Christus
nach den Worten: „ich bin der Weinstock" den Mittelpunkt des Ganzen bildet,
auf die sich dann auch die durch Spruchbänder erläuterten Nebenbilder
beziehen, so tritt dagegen diese Symbolik so hinter das Gegenständliche zurück,
daß wir dies, auch ohne die Allegorie, in seiner Totalität erfassen können und
empfinden. Form und Färbung sind außerdem so innig mit dem Inhalt ver¬
schmolzen — die Wirkung des Ganzen dadurch eine so harmonische, daß wir mit
vollständiger Befriedigung in der Anschauung desselben beharren., — Wenden wir
uns von diesem Carton zu deu Oelgemälden des Künstlers, und zwar zunächst
zu jener schon von ferne durch ihre Ungeheuerlichkeit auffallende Komposition aus
der Offenbarung Johannis (Ur. 222.), „der Engel des Herrn zeigt dem greisen
Johannes die große Babylon auf dem siebenköpfigen Drachen", so macht diese
gleich im Moment des Davortretens stutzig. Wir sehen uns urplötzlich aus dem
Bereiche des Irdischen gewaltsam hinausgerückt in eine Fabelwelt, ohne daß
dabei die Phantasie irgendwie erregt, noch das ästhetische Gefühl befriedigt wird.
Wüßten wir nicht, daß Johannes im siebzehnten Capitel der Offenbarung eine
Vision schildert, die Wort für Wort dem Dargestellten wenigstens äußerlich
entspricht, so würden wir überhaupt nicht wissen, was wir mit dem Bilde an¬
fangen sollten — von wo aus der Kern desselben zu fassen sei, da es als
Kunstwerk an und für sich durchaus kalt läßt. — Ist schon die Apokalypsis
von jeher eine sehr verfängliche Sache für Bibelforscher und Ausleger gewesen,
die es denn doch mit Worten und dem Verstände zu thun haben, so ist sie es
in bei weitem höhern Grade sür den bildenden Künstler, dessen Hauptaufgabe
es ist, auf den Geist, auf das Gemüth erhebend und versöhnend einzuwirken.
Denn hierfür bieten die in der Offenbarung aufgezeichneten Visionen nur dann
Stoss, wenn mau sie in ihrer tiefern, einzig giltigen Bedeutung, ohne die alle¬
gorische Metapher, als Sieg des Christenthums über den Antichrist erfaßt. Dies
ist aber wiederum mehr Sache der Poesie, als Gegenstand der bildenden Kunst,
da letztere es doch stets mit dem Körperlichen zu thun hat. Hierin liegt aber die
Klippe, woran die Wirkung des bildlich Dargestellten scheitert. Johannes, nach¬
dem er von einem der sieben Engel aufgefordert worden, ihm zu folgen, damit
er das Urtheil (Strafgericht) n. s. w. schaue, und bevor er zur metaphorisch-
allegorischen Schilderung desselben übergeht, führt uns selbst auf den Punkt, von
wo ans das Ganze zu betrachten ist, indem er sagt: „Und er (der Engel) brachte
mich im Geist in die Wüste. Und ich sahe das Weib sitzen n. s. w." Wir
haben also hier eine Erscheinung im Geiste — ein Phantasiebild eines vom
wahren Glauben durchdrungenen, feurig empfindenden Orientalen, der — damit
es in seiner ganzen Macht wirke, damit in ihm die Gräuel des Heidenthums und
die der Widersacher der christlichen Lehre schreiend erkannt werden — zur Alle¬
gorie seine Zuflucht nimmt. Fragen wir uns, wie verhält sich hierzu das Bild
von Hübner? Ans demselben erblicken wir die auf dem scheußlichsten aller Un¬
geheuer sitzende Gestalt einer prächtig gekleideten, oberhalb zum Theil entblößten,
lüstern blickenden weiblichen Figur mit gemeinem Ausdruck, ohne Großheit, ohne
Stolz und — ohne Reiz. Das ganze Gebilde, von einer Art Feuerschein um¬
geben — vollständig als schwer lastende Materie behandelt — schwebt in der
Lust. Auf einem wenig vorspringenden Terrainstück —- dein Gipfelpunkt eines
Abhanges, steht die ernst und würdig blickende Gestalt eines weiß gekleideten,
weiß beseitigten Engels — des siebenten-Himmelöboten. Vor ihm ruht^ mit
starrem Entsetzen dem Scheusal zugewendet, halb zusammengesunken, Johannes —
wiederum eine ausdrucksvolle Figur eines greifen, weißbärtigen Mannes. —
Vergleichen wir diese, in einzelnen Theilen ganz trefflich durchgeführte Situation
im Bilde mit der eigentlichen Sache, um deren Darstellung es dem Künstler doch
wesentlich zu thun sein mußte -— denn wie wäre er sonst auf den Gedanken ge¬
kommen, sie zu malen — so treten die vielfachen Mißgriffe klar zu Tage. Der
erste, bedeutsamste Mißgriff ist aber der, etwas überhaupt malen zu wollen, das
seinem geistigen Gehalte nach nicht bildlich darzustellen ist, da dessen thatsächliches
Erscheinen unter allen Umständen unverständlich und unschön bleiben muß. Es
giebt nun einmal gewisse Dinge, die, weil sie aus dem Bereiche des Körperlichen,
Darstellbaren liegen, am wenigsten durch die bildende Kunst sich so verkörpern
lassen. Schon etwas Anderes ist es, wenn derartige Vorwürfe in einem, das
Wort erläuternden und durch das Wort erläuterten Zusammenhang als cyklische
Illustration auftreten, wie etwa in dem die ganze Offenbarung umfassenden
Holzschnittwerk von Albrecht Dürer. In diesem ist das Bild mit dem Worte
geeinigt, und weder das eine, noch das andere je als selbstständiges Produkt zu
betrachten. Und selbst diese Dürer'schen Kompositionen, so viel Tiefe und Geist
auch in sie hineingearbeitet ist, gehören, vom rein ästhetischen Standpunkt aus
betrachtet, keineswegs zu den schönsten des Meisters — das Bild ist da. —
Ein zweiter Mißgriff beruht darin, daß es der Künstler gerade hier ver¬
schmähte, das zauberische Element der Farbe irgendwie zur Geltung zu bringen.
Wir wundern uns darüber um so mehr, da der Gegenstand selbst nicht nur dazu
auffordert, sondern es sogar bedingt. — Das einzig Körperhafte, das nach dem
eigenen Zeugniß des Johannes im Raume des Vorgangs sich bewegt, bleibt —
er selbst. Alles Uebrige, die ungeheuerliche Erscheinung, wie auch der Engel
des Herrn, ist durchaus Vision und in keiner Beziehung als eine materielle, tast-
und fühlbare Erscheinung aufzufassen. Dieser Unterschied aber zwischen dem
Lebendigen und dem in ihm vorgehenden rein Geistigen konnte nur durch die
Kraft der Farbe einigermaßen wirksam versinnlicht werden, wodurch dann einzig
und allein der nothwendige Zusammenhang der Vision mit dem, von welchem
sie ausgeht, verstaatlicht worden wäre. Statt dessen sehen wir sämmtliche
Theile des Bildes in ein und derselben Farbenschwere behandelt. Johannes,
der Engel, das Ungeheuer und die darauf strotzende Babylon — Alle sind mit
gleicher Körperhastigkeit begabt und jedes als ein für sich selbstständiges Indi¬
viduum steht dem andern in der materiellen Existenzfähigkeit gleichberechtigt gegen¬
über. Dies aber giebt zu einem dritten Mißgriff Veranlassung, der uns um so
mehr erstaunen läßt, als wir ihn von Hübner am wenigsten erwartet hätten.
Ja, wir möchten fragen, für wen ist denn eigentlich dieses Ungethüm da?— hat
der Künstler in ihm ein moralistrendes, eine antichristliche Zeit warnendes Bild
geben wollen — wozu indeß jedwede, hier so überaus nothwendige Erläuterung
fehlt — oder hat er es nur gemalt, um die auf dem Bilde befindliche
Figur des Johannes in seinem Entsetzen zu motiviren? Fast scheint das Letztere
der Fall, denn in ihr sehen wir wirklich in Haltung, Geberde und Ausdruck den
höchsten Grad geistiger Spannung, ohne daß wir irgendwie, weder dadurch, noch
durch die widerliche, überaus unschöne Erscheinung des drachenreitenden Weibes er¬
griffen werden. — Wir halten demnach dieses Bild sowol in der Conception,
wie in der kaum davon zu trennenden künstlerischen Behandlung im Ganzen
für ein verfehltes, ohne indeß die mannichfachen trefflichen Seiten desselben, die
fleißige und ernste Durchführung des Einzelnen, das Streben nach tieferer
Auffassung des Gegenständlichen — nach individueller Charakteristik u. s. w. zu
verkennen, wenn wir gleich dagegen wiederum nicht umhin können, dem Bilde
den Vorwurf zu machen, daß es an jener technischen Einseitigkeit leidet, die jede
markige AeußerungSfvrm entbehrend, an das Geglättete, fast gläsern Durchschei¬
nende anstreift. —
Das dritte, auf der Ausstellung befindliche Bild des Künstlers (Ur. 223.)
macht, ungeachtet seines Umfangs — denn die Figuren nähern sich auch hier der
Lebensgröße — bei weitem weniger Ansprüche an den Verstand des Beschauers.
Wie der Katalog besagt, stellt das Bild dar: wie ,,Harras den Knaben Samuel
zu dem Hohenpriester Eti bringt, um ihn dem Herrn zu weihen." (Vergl. 1. Sa-
muelis Cap. 1, V. 2i—28.) Wir sagen ausdrücklich, wie der Katalog besagt,
denn in der Darstellung selbst spricht sich der Hergang dieser Sache in keiner Weise
ans. Nicht einmal dnrch Beobachtung des Costnmlichcn, wie rein Aeußerlichen,
sehen wir uns in eine orientalische Welt versetzt, indem das Ganze in dem hierauf
bezüglichen Arrangement durchaus den Charakter jener altitalischen Bilder aus
dem sechzehnten Jahrhundert nachahmt, in denen fast sämmtlich ein der Zeit
angepaßtes, mehr oder weniger antikisirendeS Element vorherrscht. Ein solches
erstreckt sich außerdem hier selbst bis auf den Ausdruck der Köpfe, von denen sogar
der des Knaben Samuelis aus eine modern italienische Ursprünglichkeit schließen
läßt. Sehen wir von der im Verzeichnis) gegebenen Erläuterung ab, so erblicken
wir einen graubärtigen alten Mann, der, auf einem Stuhle sitzend, einen von
einem Weibe ihm vorgeführten braunlockigen Jungen mit Wohlwollen blickenden
Antlitz empfängt^ Wahrlich Stoff genug für einen Maler, um daraus ein wahr¬
haft vollendetes, den Beschauer ergreifendes Kunstwerk zu schaffen — auch ohne weitere
geschichtliche Beziehung. Aber, auch dies ist dem Künstler nicht gelungen. Keines der
dargestellten Charaktere erscheint hier weder aus sich, noch aus der Handlung heraus
entwickelt, vielmehr trägt jeder und so auch jedes Einzelne im Bilde den Stempel eines
für sich bestehenden faktischen Studiums, wodurch dann das Ganze zu einem Komplex
von Studien zusammenfällt — den Geist des Beschauers herüber und hinüber führt,
ohne ihn zu beruhigen und zu fesseln. Betrachten wir hiernach das Einzelne, so
ist zunächst die Färbung durchgängig kalt und unharmonisch. Ueberall fehlt ihr
der so überaus belebende Schmelz. Die Schatten sind braun und schwer, und
stehen hart und scharf zu ihren Lichtpartien. Die Gewänder, obgleich nicht un¬
schön in den Motiven, erhalten dadurch etwas Blechernes, Gewaltsames. Dies
Steife und Unbicgsame fällt besonders störend an einzelnen Gewandtheilen der weib¬
lichen Figur aus, so z. B. an den weißen und weiten Aermeln derselben, die bei
vollständiger Unbelebtheit des übrigen Gewandlichen in eine vom Winde durch-
erste, bedeutsamste Mißgriff ist aber der, etwas überhaupt malen zu wollen, das
seinem geistigen Gehalte nach nicht bildlich darzustellen ist, da dessen thatsächliches
Erscheinen unter allen Umständen unverständlich und unschön bleiben muß. Es
giebt nun einmal gewisse Dinge, die, weil sie aus dem Bereiche des Körperlichen,
Darstellbaren liegen, am wenigsten durch die bildende Kunst sich so verkörpern
lassen. Schon etwas Anderes ist es, wenn derartige Vorwürfe in einem, das
Wort erläuternden und durch das Wort erläuterten Zusammenhang als cyklische
Illustration auftreten, wie etwa in dem die ganze Offenbarung umfassenden
Holzschnittwerk von Albrecht Dürer. In diesem ist das Bild mit dem Worte
geeinigt, und weder das eine, noch das andere je als selbstständiges Produkt zu
betrachten. Und selbst diese Dürer'schen Compositionen, so viel Tiefe und Geist
auch in sie hineingearbeitet ist, gehören, vom rein ästhetischen Standpunkt aus
betrachtet, keineswegs zu den schönsten des Meisters — das Bild ist da. —
Ein zweiter Mißgriff beruht darin, daß es der Künstler gerade hier ver¬
schmähte, das zauberische Element der Farbe irgendwie zur Geltung zu bringen.
Wir wundern uns darüber um so mehr, da der Gegenstand selbst nicht nur dazu
auffordert, sondern es sogar bedingt. — Das einzig Körperhafte, das nach dem
eigenen Zeugniß des Johannes im Raume des Vorgangs sich bewegt, bleibt —
er selbst. Alles Uebrige, die ungeheuerliche Erscheinung, wie auch der Engel
des Herrn, ist durchaus Vision und in keiner Beziehung als eine materielle, tast-
und fühlbare Erscheinung aufzufassen. Dieser Unterschied aber zwischen dem
Lebendigen und dem in ihm vorgehenden rein Geistigen konnte nur durch die
Kraft der Farbe einigermaßen wirksam versinnlicht werden, wodurch dann einzig
und allein der nothwendige Zusammenhang der Vision mit dem, von welchem
sie ausgeht, verständliche worden wäre. Statt dessen sehen wir sämmtliche
Theile des Bildes in ein und derselben Farbenschwere behandelt. Johannes,
der Engel, das Ungeheuer und die darauf strotzende Babylon — Alle sind mit
gleicher Körperhaftigkeit begabt und jedes als ein für sich selbstständiges Indi¬
viduum steht dem andern in der materiellen Existenzfähigkeit gleichberechtigt gegen¬
über. Dies aber giebt zu einem dritten Mißgriff Veranlassung, der uns um so
mehr erstaunen läßt, als wir ihn von H uhn er am wenigsten erwartet hätten.
Ja, wir mochten fragen, für wen ist denn eigentlich dieses Ungethüm da? — hat
der Künstler in ihm ein moralisirendes, eine antichristliche Zeit warnendes Bild
geben wollen — wozu indeß jedwede, hier so überaus nothwendige Erläuterung
fehlt — oder hat er es nur gemalt, um die auf dem Bilde befindliche
Figur des Johannes in seinem Entsetzen zu motiviren? Fast scheint das Letztere
der Fall, denn in ihr sehen wir wirklich in Haltung, Geberde und Ausdruck den
höchsten Grad geistiger Spannung, ohne daß wir irgendwie, weder dadurch, noch
durch die widerliche, überaus unschöne Erscheinung des drachenreitenden Weibes er¬
griffen werden. — Wir halten demnach dieses Bild sowol in der Conception,
wie in der kaum davon zu trennenden künstlerischen Behandlung im Ganzen
für ein verfehltes, ohne indeß die mannichfachen trefflichen Seiten desselben, die
fleißige und ernste Durchführung des Einzelnen, das Streben nach tieferer
Auffassung des Gegenstündlichen — nach individueller Charakteristik u. f. w. zu
verkennen, wenn wir gleich dagegen wiederum nicht umhin können, dem Bilde
den Vorwurf zu macheu, daß es an jener technischen Einseitigkeit leidet, die jede
markige Aeußerungsform entbehrend, an das Geglättete, fast gläsern Durchschei¬
nende anstreift. —
Das dritte, auf der Ausstellung befindliche Bild des Künstlers (Ur. 223.)
macht, ungeachtet seines Umfangs — denn die Figuren nähern sich auch hier der
Lebensgröße — bei weitem weniger Ansprüche an den Verstand des Beschauers.
Wie der Katalog besagt, stellt das Bild dar: wie „Harras den Knaben Samuel
zu dem Hohenpriester Ell bringt, um ihn dem Herrn zu weihen." (Vergl. 1. Sa-
muelis Cap. 1, V. 2t—28.) Wir sagen ausdrücklich, wie der Katalog besagt,
denn in der Darstellung selbst spricht sich der Hergang dieser Sache in keiner Weise
aus. Nicht einmal durch Beobachtung des Costumlichen, wie rein Aeußerlichen,
sehen wir uns in eine orientalische Welt versetzt, indem das Ganze in dem hierauf
bezüglichen Arrangement durchaus deu Charakter jener altitalischen Bilder aus
dem sechzehnten Jahrhundert nachahmt, in denen fast sämmtlich ein der Zeit
angepaßtes, mehr oder weniger antikiflrendes Element vorherrscht. Ein solches
erstreckt sich außerdem hier selbst bis auf den Ausdruck der Köpfe, von denen sogar
der des Knaben Samuelis aus eine modern italienische Ursprünglichkeit schließen
läßt. Sehen wir von der im Verzeichniß gegebenen Erläuterung ab, so erblicken
wir einen graubärtigen alten Maun, der, auf einem Stuhle sitzend, einen von
einem Weibe ihm vorgeführten braunlockigen Jungen mit Wohlwollen blickenden
Antlitz empfängt Wahrlich Stoff genug für einen Maler, um daraus ein wahr¬
haft vollendetes, den Beschauer ergreifendes Kunstwerk zu schaffen — auch ohne weitere
geschichtliche Beziehung. Aber, auch dies ist dem Künstler nicht gelungen. Keines der
dargestellten Charaktere erscheint hier weder aus sich, noch ans der Handlung heraus
entwickelt, vielmehr trägt jeder und so auch jedes Einzelne im Bilde den Stempel eines
für sich bestehenden faktischen Studiums, wodurch dann das Ganze zu einem Complex
von Studien zusammenfällt — den Geist des Beschauers herüber und hinüber führt,
ohne ihn zu beruhigen und zu fesseln. Betrachten wir hiernach das Einzelne, so
ist zunächst die Färbung durchgängig kalt und unharmonisch. Ueberall sehlt ihr
der so überaus belebende Schmelz. Die Schatten sind braun und schwer, und
stehen hart und scharf zu ihren Lichtpartien. Die Gewänder, obgleich nicht un¬
schön in den Motiven, erhalten dadurch etwas Blecherues, Gewaltsames. Dies
Steife und Unbiegsame fällt besonders störend an einzelnen Gewandtheilen der weib¬
lichen Figur auf, so z. B. an den weißen und weiten Aermeln derselben, die bei
vollständiger Unbelebtheit des übrigen Gewandlichen in eine vom Winde durch-
Hierfür sprechen eine große Anzahl deutscher Bilder, in denen sie, freilich oft
mit Aufopferung des innerlich deutscheu Wesens, erstrebt ist. Was der
Deutsche mit Mühe erstreben muß, lernen die belgischen Künstler spielend, indem
sie, mit sehr wenigen Ausnahmen, schon sehr frühzeitig, ja oft als Kinder, sich
der Kunstausübung widmen und so mit dem Handwerk in einer Weise vertraut
werden, wie Derjenige, dessen Geist bereits gereist ist, wenn er den Pinsel oder
Griffel zum ersten Male zur Hand nimmt, nur noch mit großer Mühe und
mannichfach geistigen Opfern zu erreichen im Stande ist. — Wir schicken diese
Bemerkungen dem Bilde des van Eycken voran, damit wir dies, wie überhaupt
die übrigen noch zu beurtheilenden belgischen Bilder, nach ihrem wahren künst¬
lerischen Gehalte zu würdigen im Stande sind. Bleiben wir also bei dem
,,Jeremias" stehen, so müssen wir dieser Arbeit unbedingt jene oben berührten
Vorzüge lassen. Diese gestalten indeß noch kein Kunstwerk. Sie sind höchstens
ein zwar nothwendiger, aber doch nur immer mehr äußerlich wirkender Theil
desselben. Zu der wahrhaft wirkenden Macht fehlt dem Bilde doch noch unendlich
viel und zwar zunächst das Wesentlichste — der in der Natur bedingte organische
Verband des Einzelnen zu einem Ganzen. Ungeachtet der Künstler hier das in
dem Bilde als Vision Gedachte dnrch eine von der Materie — dein Jeremias
selbst — sich sondernde Färbung getrennt und so den ganzen Vorgang einigermaßen
verständliche hat, fehlt dennoch der, vermuthlich das hereinbrechende Strafgericht
Gottes andeutenden Geisteserscheinung das innerlich ergreifende, das Sinnliche
überwältigende, geistige Leben. Und doch ist dieser Theil bei weitem der
gelungenste im Bilde, indem es uns, wenn auch nur momentan, über die Sphäre
des Gegenständlichen erhebt. Ganz schlecht ist dagegen, trotz orientalischer
Kleidung und langem, im Winde wüstflatterndem Barte, die vorn sitzende Gestalt
des Jeremias. Die nach der Stirn gerichtete, die Erscheinung abwehrende
Hand hat eben so wenig innerlichen Ausdruck und Leben, wie der Kops, dem es
sogar an einem — zur Existenz nothwendigen — rein naturgemäßen Knochenbau
gebricht. Dieser Jeremias könnte nicht, wie einst die Galathea des Pygmalion,
durch eingehauchtes Leben sich zu einem naturfähigen Wesen verkörpern — er
würde höchstens als ein unheilbarer, lahmer, athemloser Krüppel dem Bilde ent¬
steige». — Es hilft also dem Werke weder das brillante, effectvolle Colorit, noch
die ihm nicht abzusprechende technische Meisterschaft über die Grenze des gewöhn¬
lichen Machwerks — denn es fehlt ihm das wahre Erfassen der der Schöpfung
innewohnenden Macht — 'Naturwahrheit, Innerlichkeit, Seele.
Vor Kurzem inspicirteu Se. Maj. der Kaiser aller Reußen nebst hoher
Familie ihre deutschen BesHthümer, nämlich an Regimentern, Residenzschlössern
und Ministerhotels. Der Graf Cancrin schlummert im Grabe. Er war ein gries-
grämlicher Herr, welcher schon 1842 die Einstellung solcher kaiserlichen Tagfahrten
als, eine der Bedingungen seines Verbleibens am Fiuauzruder gefordert und zu¬
gestanden erhalten hatte. Sein Nachfolger Wrontscheuko ist nun auch gestorben,
und Herr v. Brok hat blos die Verwesung der Finanzen zu besorgen. Europa
wird also voraussichtlich czarischc Familieureisen nun wieder in gleicher Häufigkeit
wie in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre zu erwarten haben. Während
aber vor 18i8 bei solchen Reisegelegenheiten der allein daheimbleibende.Thron¬
folger die interimistische Regentschaft durch einen besondern Ukas übertragen bekam,
scheint derartige Präcautiou jetzt nicht mehr nöthig.
Der echte mitteleuropäische Patriot erschaut mit Sehnsucht die Herrlichkeit
der russischen Zustände, in desto grauserem Dunkel die Trostlosigkeit der eigenen.
Es muß in ihm aufflammen, wie eine Pftngstoffenbarung, daß auch Deutschlands
Größe, Macht und Glückesfülle nur an Rußlands Hand, durch Rußlands Rath,
unter Rußlands Einfluß aufsteigen kaun; namentlich die Freiheit und Einheit —
natürlich „nicht jene materielle Einheit, von welcher eine eroberungssüchtige De¬
mokratie träumt, sondern die moralische," wie die Petersburger Circulardepesche
es schon am 6. Juli 18i8 ebeu so wahr als präcis bezeichnete. Wem diese
Erkenntniß nicht ersteht, für den existiren freilich solche Zeichen und Stimmen nicht.
Das Bedürfniß nach.dicken und gutgesinnten Büchern über Rußland hat in
neuerer Zeit ziemlich reichliche Nahrung gesunden. Unter den Gutgesinnten steht
jedenfalls Herr Zaudo mit seinen „Russischen Zuständen im Jahre 1830" oben
an. Vielleicht wäre das Buch auch etwas weniger unzuverlässig in seineu eigenen
angeblichen Erfahrungen, vielleicht ferner etwas wieder zusammengestoppelt aus
einer ganzen Reihe früher erschienenen Werke über Rußland, wenn es dickleibiger
wäre. Es beweist und erklärt gar nichts; es behauptet nur, was von den Ge¬
nossen seiner Gesinnungen schon hundert Mal und zwar scharfsinniger, dialektischer
aufgestellt und durchgeführt, wenn anch nicht bewiesen worden ist. Was es da¬
gegen selbstständig sagt, ist so vollkommen bedeutungslos und banal, daß selbst
der bestgesiuute Deutsche darüber einzuschlafen versucht wird. Von einer Schil¬
derung russischer Zustände „im Jahr 1830" ist vollends keine Rede; der Ver¬
fasser gelangt vor vielem Reden in einem schlottrigen Deutsch überhaupt sehr
ausnahmsweise zu thatsächlichen Darlegungen. Und wenn er hier und da eine
neuere statistische Notiz einfügt, so kann man sie sicherlich bereits in einem deutschen
Zeitungsblatte von 18i9 nachweisen, gewöhnlich einem der russischen Mini-
sterialjournale entnommen. Aber allerdings gute Gesinnung findet sich genug
darin, Verachtung alles nichtrussischen öd. h. nichtgouvernementalen) Lebens und
Webens in Ueberfülle. Trotzdem glauben wir bestimmt, daß das russische Gou-
bernement solchen Freunden mit derselben Energie einen Zwangspaß nach den
Reichsgrenzen einhändigen sollte, wie dem Verblendetsten unter den entschiedenen
Gegnern seines Princips.
Das russische Gouvernement scheint jedoch diese Ansicht nicht zu theilen.
Im neuesten Index Ilororum proluditorum findet sich Herrn Zando's Product Nicht,
während Jerrmann's „Unpolitische Bilder aus Se. Petersburg" und „Nußland
und die Gegenwart" von einem Ungenannten diesem eben'so traurigen, als ge¬
rechten Loos verfielen. Bei Jerrmann's Unpolitischen Bildern begreift man eigentlich
die Entscheidungsgründe dafür nicht. Ihr Verfasser ist offenbar von den Herr¬
lichkeiten der Residenz und ihrer lnstschlvßlichen Umgebungen bezaubert, er findet
das ganze Leben und Treiben allerliebst, die Staatsverfassung und ihre Hand¬
habung im Großen, wie im Einzelnen vortrefflich, er beschreibt dies Alles in einem
anmuthigen Ton und ftanzöstrenden Jargon — also was will man mehr? Mehr
scheint mau just auch nicht verlangt zu haben, aber desto lebhafter bisweilen etwas
Weniger gewünscht. Herr Jerrmann läßt sich nämlich vom Eifer des Erzählens
mitunter zur Mittheilung einzelner Charakterzüge und Anekdoten hinreißen, die
unsrem west-europäischen Unterthanenverstande den jedenfalls rebellischen Ausruf:
schauderhaft, entsetzlich, barbarisch, unmenschlich! entlocken. Trotz der gewandten
Tournüre seiner ganzen Schrift, fehlt ihm doch, jene Petersburger Sicherheit des
Schweigens oder Escamotirens der Thatsachen, des zweifelnden Spottlächelns über
unläugbare Vorfälle, des flüchtigen Bcseitigens anderer. Ohne es auszusprechen,
schlägt ihm manchmal eine westeuropäische Anschauung von Moral, Ehre, Gerech¬
tigkeit und dergleichen in den Nacken, und er besitzt uicht Blasirtheit genug, um uns
Europäern mit souverainen Besserwissen zu octroyiren, daß alle diese Begriffe
bei uns nur angekünstelt seien und wir daher gar kein deutbares Recht hätten,
russische Depravation, Felonie, Prostitution und dergleichen auch vom objectiv
moralischen, politischen, socialen Standpunkte für eben so schlecht als deutsche oder
französische zu halten, vollends aus den tausend und abertausend derartigen Bei¬
spielen allgemeine Schlüsse auf das Besser oder Schlechter der russischen Zustände
uns zu erlauben. Er erzählt vielmehr solche Anekdoten mit demselben unbe¬
fangenen Lächeln, womit er uns die Brillanten der Fürstin * schildert, oder den
eaux Ms des Staatsraths " an diesem und jenem Orte preisgiebt. Kurz, es
fehlen ihm die unumgänglichen LZÄrcZs und Kessaräs — darum trifft sein Buch
die Verbannung mit demselben Rechte, wie z. B. Zumpt's Lateinische Grammatik,
Radowitz' Neue Gespräche aus der Gegenwart, Voigt's Geschichte der Schöpfung,
Weber's Geschichte der deutschen Literatur u. s. w.
An einer andern Stelle fand sich einmal Gelegenheit, unser deutsches Pu-
blicum und namentlich die Uebersetzer russischer Bücher in's Deutsche darauf hinzu¬
weisen; wie eine Beachtung der national-russischen statistischen und ethnographi¬
schen Literatur dem nichtrussischen Europa viel lehrreichere Einblicke in das innere
Leben, in die Zustände des russischen Reiches, in die Geistesbewegungen und die
socialen Verhältnisse gewähren würde, als die Uebertragungen modischer Novellen
und Romane. Diese sind weder ihrem intellectuellen Ursprünge nach russisch,
noch schildern sie meistens die eigentlich russische Welt, sondern die französisch ge¬
bildete der Salons, oder, wenn sogenannte russische Volks - und Lebenszustände,
doch diese mit den oben berührten Kexaräs für ihre wahrscheinlichen (aristokrati¬
schen) Leser, für die eigene Tschinstellung, für die gegen Allen zugängliche Litera-
turerzeuguifse absonderlich strenge Censur. — Russisch ist nun bekanntlich für uns
Deutsche eine außerordentlich schwierige Sprache. Vor der Hand ist serner die
Hoffnung auf jenes Nationalparlament einigermaßen in den Hintergrund getreten,
mit dessen Hilfe die Herren von Lassaulx, Sepp, Gfrörer, Reichensperger und
andere rationelle Patrioten, slavische Frömmigkeit, Loyalität, Geisteskraft und sla¬
vischen Biedersinn, also auch slavische Sprachen auf friedlichem Wege zur Ver¬
jüngung des germanischen Christenthums in unser Leben trcmssundiren wollten.
Eben so scheint sich vor der Hand die bekannte napoleonische Weissagung noch nicht
zu verwirklichen, so daß schwerlich in der nächsten Zeit pädagogische Kosaken uns
die russische Sprache mit der Nogaika einschmeicheln. Aus allen diesen Gründen
dürfte für den Augenblick die Lecture russischer Bücher und russische Conversations-
übung noch nicht so verbreitet sein, als z. B. das Studium französischer Romane
und das sogenannte Französtschsprechen. Wenn also russische Autoren über russische
Zustände auch etwelchen Absatz in Deutschland wünschen, möchte ihnen zu rathen
sein, ihre Bücher gleichzeitig deutsch und russisch herauszugeben. Dies hat Herr
Platon Storch mit seinem Werke „Der Bauernstand in Rußland" gethan.
Darin liegt ein sreundnachbarlicher Höflichkeits- und Achtungsbeweis, welcher
schwerlich eine baldige Erwiederung von deutscher Seite finden wird. Trotzdem
müssen wir bekennen^ daß auch jetzt noch einem russisch uicht vorgebildeten Leser
das Verständniß eines solchen russisch-deutscheu Buches ziemlich schwierig werden
mag. Russisch vorgebildet ist nämlich Derjenige, welcher ein unter russischer
Censur erschienenes Buch zu lesen versteht, d. h. mit denselben Voraussetzungen
zur. Hand nimmt, wie er in Rußland die ihm mündlich mit großer Bereitwillig¬
keit entgegengebrachten Belehrungen über Land, Leute, Zustände und Verhältnisse
auffassen lernt, nachdem er Gelegenheit gehabt hat, nngegängelt von dienstfertigen
Tschinowniks und offiziellen Empfehlungen, die selbstgesehenen Dinge mit den
empfangenen Belehrungen zu vergleichen. Herr Platon Storch berührt und ent¬
schuldigt diese Schwierigkeit des Verständnisses seines Buches in der Vorrede gar
nicht übel mit dem Satze: „Der Abfassung dieser Schrift liegen vorzugsweise
offizielle Quellen zum Grunde, welche aber leider, gleich anderen Angaben, nicht
immer den Anforderungen der Wissenschaft entsprechen; deshalb werden hier öfters
Meinungen und Resultate vermißt, deren Gegenwart wohl geeignet wäre,
die Schilderung zu beleben." schalkhafter Weise sagt er dann: ,,Jn zweifelhaften
Fällen findet daher hier eine bloße Zusammenstellung der Daten statt, indem die
Schlußfolge dem Urtheil und der Einsicht des Lesers selber überlassen wird."
Wer aber offizielle russische Daten kennt, der weiß, daß ihre Schlußfolgen und
Folgeschlüsse unsrem westeuropäischen Unterthanen-Verstände häufig ganz unzugäng¬
lich sind. Um irgend ein solches Beispiel zu geben, schlagen wir eine beliebige
Seite des Storch'schen Buches auf, wo wir z. B. betreffs der Ziegelbrennereien
auf Kronqütern (S. 491) die Angabe finden, daß
gebrannt worden sind. Unsre westeuropäische Berechnung würde danach aus eine
Vertheuerung der Ziegel im Jahre 1848 schließen müssen. Trotzdem sagt die
offizielle Angabe von beiden Jahren: „folglich kosteten 1000 Ziegel 36 Kop.
S." Die Rechtfertigung dieses „folglich" findet nur, wer russische Bücher zu
lesen gewohnt ist, in der offiziellen Angabe: Alle Verwaltungszweige streben da¬
hin, die Zahl der Ziegelbrenuereien zu vermehren, „die Ziegel und Dachpfannen
zu wohlfeilen Preisen zu liefern" u. f. w. — Herrn Storch scheinen allerdings
sehr viele Fälle zweifelhaft zu sein, denn er enthält sich eigentlich im ganzen
Buche eigener Meinungen und Resultate. Selbst wo er „geltende Zustände"
bespricht, thut er dies fast ausschließlich durch Anführung des Wortlautes der
betreffenden Artikel im Swod der Gesetze, d. h. er giebt uns die aufgestellte
Norm, deu Ukas, aber keine Schilderung der lebendigen Gestaltung seiner Vor¬
schriften. Diese Zusammenstellung ist dagegen für Denjenigen, welcher die bäuer¬
lichen Zustände in Nußland bereits kennt, mit großem Geschick gemacht und
muß auch sür Jeden, der sich um unsre deutschen Bauernverhältnisse in histori¬
schem oder politischem Sinne kümmert, von größtem Interesse werden. Als
amüsantes Lesebuch kaun man das Werk freilich nicht empfehlen. Dies ist in¬
dessen auch nicht sein Zweck, und um wenigstens einen Ueberblick seines Inhalts
zu geben, mögen hier die hauptsächlichsten Abschnittstitel folgen. Quellen (Ur¬
kunden, Chroniken, Gesetzbücher, Swod der Gesetze, Jahresberichte der Mini¬
sterien, Offizielle Journale); Literatur (sehr reichhaltig, intellectuell und kritisch
im Buche wenig benutzt); allgemeine Bauernversassung (Geschichtliche Uebersicht
— nicht ohne Interesse; geltende Zustände — nur Normen; Leistungen an den
Staat, den Grundherrn, die Gemeinde); ländliche Bevölkerung (ohne genaue
Resultate) :c. Betriebsamkeit der Bauern (äußerst sorgsam und speciell aus¬
gearbeitet); Mittel und Maßregeln zur Förderung der Banernbetriebsamkeit (auf
dem Papier sehr reichhaltig und allseitig; interessante Aufzählung der landwirth-
schaftlichen Journale; Schweigsamkeit über die praktischen Ergebnisse); Belehrung
und Unterricht (Reglements und offizielle statistische Tabellen); Gesittung der
Bauern (höchst unbedeutend); Gesundheitspflege (wichtige Tabellen); Dörfer.
(Normen, keine Zustände).
Trotz dieses theoretischen Charakters des ganzen Buches müssen wir dasselbe
einen eben so wichtigen, als glücklichen Fortschritt der publicistischcn Literatur
Rußlands ans dem schauderhaften Einerlei gedankenloser oder geradezu heuch¬
lerischer Vergötterung aller anbefohlenen Normen und Formeln nennen. Wir
erinnern uns ja aus der vormärzlichen Leidenszeit unsrer deutschen Literatur,
welche jetzt ihre fröhliche Rückkehr zu feiern beginnt, wie auch da dieZusämmen-
ordnung der offiziellen Lebensbestimmnngen oftmals anstatt aller Erläuterungen
sprechen mußte; wir wissen's ja, wie wir hente wieder in gewissen Fragen auf
denselben Standpunkt zurückgedrängt werden. Dies Alles gilt nun in verstärk- >
ter Potenz in Rußland. Darum muß freilich der russische Schriftsteller seinem
Leser die Lecture zwischen den Zeilen übrig lassen. Da wir Deutschen jedoch
vor der Hand noch so glücklich sind, unsre Urtheile über russische Zustände—na¬
türlich mit der gehörigen Mäßigung und wo möglich ohne selbst anspielende Nück-
beziehnngen ans die Heimath — ungestraft aussprechen zu können, so sollte man
allerdings erwarte«, daß deutsche Schriftsteller über Rußland das von Rußland
gebotene, offizielle, also von den Schutzrednern am wenigsten cmzweifelbare Ma¬
terial für ihre Ausführungen benutzen würden, namentlich, wenn solche sich als
„Studien" über Nußland einführen.
Herr v. Haxthausen hat bekanntlich als Ergebniß einer mehrjährigen Reise
in Rußland bereits 1847 zwei starke Bände „Studien über die inneren Zustände,
das Volksleben und insbesondere die ländlichen Einrichtungen Rußlands" erscheinen
lassen. So eben ist der dritte Band gefolgt, und man kann daraus nicht abnehmen,
ob er auch der letzte des Werkes sei. Wir haben in dieser Zeit so schwere
Schicksalsgänge durchgemacht, daß man es dem Publicum nicht zumuthen mag,
sich zu erinnern, wie Herr v. Haxthausen die beiden ersten Bände seines Werkes
mit der Bemerkung einführte, er werde schreiben, als sei noch gar kein gründ¬
liches Werk über russisch volkstümliches Leben erschienen. Wer Nußland aus
eigener Anschauung kannte, mochte allerdings zweifelhaft sein, ob denn sein Werk
so Ausgezeichnetes gewähren könne, daß man die Unmasse dadurch bedingter
Wiederholungen des schon Bekannten mit in den Kauf nehmen könne. Dies
besonders, da Herr v. Haxthausen ehrlich eingestand, die russische Sprache sei
ihm fremd; dann, weil aus seinem ganzen Buche hervorging, daß officielle und
officivse Mentoren ihn fortwährend umgeben hatten. »Dennoch mußte man ein¬
gestehen, vornehmlich in zwei Richtungen wahrhaft neue (so weit wir ans Selbst¬
beobachtung urtheilen können), richtige und klare Anschauungen durch ihn in die
deutsche Literatur über Rußland eingeführt zu sehen. Seine Darstellung des
bäuerlichen Communallebens, erläutert und veranschaulicht durch Einzelschilderungen
von Gemeinden und Dörfern in den verschiedensten Gouvernements, ausgestattet
mit einer zahlreichen Reihe statistischer Nachrichten, ist jedenfalls für die richtige
Beurtheilung des russischen Jnnerlebens ein außerordentlich wichtiges Material.
Noch unbekannter im größern Publicum und mindestens eben so wichtig für die
Erlangung eines richtigen Urtheils über russische Zustände waren die thatsächlichen
Angaben über die orthodoxe russische Kirche und das Sectirerwesen. Wunderbar
aber, daß derselbe Mann aus seinen Beobachtungen keine selbstständigen Resultate
zog, sondern seinem Raisonnement offenbar jene Urtheile zu Grunde legte, welche
dem Fremden in Rußland, besonders wenn etwas von seinen schriftstellerischen
Absichten verlautet, von allen Seiten in einem gewissermaßen confideutiellen Ge¬
wände entgegengetragen und mit den feinsten Formen aufgezwungen werden. Wer
russisches Volksleben recht mit eigenen Augen sehen, wer sich ein wirklich un¬
befangenes Urtheil darüber bilden will, der muß zuerst die russische Gesellschaft
' kennen, muß sehr lange in ihren verschiedensten Kreisen verkehrt sein, um aus der
sammetnen Ummantelung ihrer Confidenzen, durch Zusammenstellung mit den eige¬
nen, von Autoritätspersonen ungeleiteter Anschauungen des Volkslebens und der
Volkszustände, wirkliche Goldkörner herauszuschälen. Jedermann fühlt selbst,
wenn er Tagebücher der ersten Zeit eines russischen Aufenthaltes mit den Wahr¬
nehmungen späterer Zeit vergleicht, daß in den aufgenommenen Urtheilen aller¬
dings viel positiv Richtiges ist; daß aber vor der vollen Ergründung des Wie
und Warum noch ein flitternder Schleier liegt, dessen theilweise Lichtung uns sogar
meistens erst dann gelingt, wenn unsre Eindrücke, Beobachtungen, Erfahrungen
nicht mehr in lauter abgegrenzten Einzelbildern vor uns liegen, sondern mehr
in einander verflossen als Panorama, wie eine Atmosphäre uns umgeben. Ans
diesem Gefühl ist offenbar der dritte Band des Haxthausen'schen Werkes hervor¬
gegangen. Er recapitulirt gewissermaßen ständeweis die reisebeschreibenden An- und
Ausführungen der'fünf und sechs Jahre zurückliegenden ersten Arbeit. Dadurch
ist das Urtheil weit selbstständiger, sind die Resultate weit gediegener geworden.
Wer jedoch zu einer wahrhaften Stellung über den Parteien gelangen will, darf
bei einer solchermaßen kritischen Arbeit neben den eigenen Beobachtungen und
positiven Erfahrungen die anderer literarischer Vorgänger auf demselben Felde
nicht ignoriren. Er muß die Literatur seines Faches kennen, selbst die schlechte; er
muß auf seine eigenen Beobachtungen' und Schlüsse die Probe machen, besonders
wo er sich nicht ganz klar ist; er muß namentlich auch seine positiven Angaben,
die Wurzeln der Logik seines Werkes, mit eben so glaubwürdige» anderen ver-,
- gleichen. Dies hat Hr. 5. Haxthausen theils gar nicht, theils sehr ungenügend
gethan; der ganze dritte Band steht überhaupt aus, als fehle ihm die Feile der
materiellen und formellen Selbstkritik. Sogar über das specielle Feld seiner
Aufmerksamkeit, über die bäuerlichen Verhältnisse, würde nothwendig der Verf.
zu bedeutenden Modifikationen seines Gesammturtheils gelangt sein, wenn er
z. B. Storch's Bauernstand einer nähern Beachtung gewürdigt hätte. Tanski,
Schmidt, Benkendorff, Moltke, Plotho und auch Gegner des russischen Heerwesens
wären seinen Studien über dasselbe jedenfalls recht nützlich gewesen. Allgemeine,
kategorische Wegwerfungen fremder Ansichten sind keine Beweise für die Richtig¬
keit der eigenen, Desavouirnug fremder positiver Angaben macht die eigenen
nicht zuverlässiger. — Ueberdies durchlebte Hr. v. Haxthausen die Ausarbeitungs¬
jahre dieses 3. Bandes in Deutschland als aristokratischer Conservativer, als Mann
der äußersten Rechten und der gekränkten Standes- und Gesellschastsrechte. Er
läugnet dies nirgends. Leider giebt es seinem Werke abermals einen einseitigen
Standpunkt. Vollkommen richtig hatte er in den früheren Bänden die von
ihm wie eine neue Entdeckung behandelte und allerdings immer wieder hervor¬
zuhebende Wahrheit festgehalten, daß russisches Wesen, Sinn und Leben nicht mit
westeuropäischen Voraussetzungen aufzufassen, nicht nach westeuropäischen Anforde¬
rungen zu kritistren sei — im vorliegenden dritten Bande steht er dagegen aus
dem Standpunkte, westeuropäische Zustände und Verhältnisse mit russischen Vor¬
aussetzungen zu betrachten und die Reorganisation der seines Erachtens desorga-
nistrten mitteleuropäischen Welt mit russischen Mitteln zu russischen Formen zu
wünschen. Dies tritt in empörender oder bemitleidenswerther Nacktheit namentlich
in jenem Abschnitte zu Tage, wo über Rußlands welthistorischen Beruf, seine
ethischen, physischen und politischen Kräfte und Richtungen die Rede ist. Wahrlich,
man möchte glauben, es sollte uns die drohende Zuchtruthe erschreckend vorgehalten,
oder es solle hilfeflehend an Rußlands Intervention appellirt werden. Aus den
Studien über Rußland werden Panegyriken auf die äußere Petersburger Politik,
werden Rechtfertigungen ihrer gewaltsamsten Einflüsse aus unser innerstes Leben.
Vor Allem sollen wir uns vor dem russischen Heere fürchten. Dies ist jetzt
ein allgemeines Losungswort, und Schreiber dieses hat selbst sein bescheidenes
Schärflein zum Umschwung der öffentlichen Meinung in dieser Richtung beigetragen,
als er 1848 wie 18i9 an verschiedenen Orten dem sinnlosen Kriegsgeschrei gegen
Rußland nähere Entwickelungen, genauere Angaben über den Geist und Körper
der russischen Armee warnend entgegenhielt. Aber 1832, da überall wieder
diplomatische Cabinetsklugheit am Ruder sitzt und der Soldat den Bürger dominirt,
da erscheinen Ausführungen, welche nicht blos die Stärken des Gegners (— denn
das bleibt Rußland für Mitteleuropa in weit höherem Maße, als für Westeuropa —)
entwickeln, sondern deren Lob gleichzeitig zur Ossenlegung der heimischen, wahren
oder scheinbaren, Blößen benutzen--wir haben keinen Namen dafür. Eine
Brochure, welche Hr. v. Haxthausen selbst erwähnt, „Mißlands Politik und Heer
in den letzten Jahren," steht aus seinem eigenen allgemeinen politischen Standpunkte.
Hr. v. Haxthausen gesteht zu, daß ihre thatsächlichen Angaben über die russischen
Heereskräste und das Armeeleben seinen Resultaten gleichen. Aber diese Brochure
so feindlich sie auch den politischen Ueberstürzungen der Neuzeit, erörtert die
russischen Heerzustände warnend, gerecht gegen die deutschen Armeen, wahrhaft
patriotisch. Dadurch hat sie den ungeheuer» Vortheil vor Haxthausen's Schrift
voraus, von dem russischen Heerleben, von den inneren Zuständen, von der Ver¬
fassung desselben, von seinem moralischen und intellectuellen Geiste nicht Dinge zu
erzählen, welche Jedermann sofort als Eiugeuommenheiten und Uebertreibungen
erkennen muß. An und für sich wäre vielleicht dieser Schaden nicht gar groß.
Aber in sofern kann er's werden, als handwerkernde Rodomontaden-Schriftstellerei
durch den Nachweis einzelner derartiger Daten leicht wieder die öffentliche Meinung
zur alten Verachtung der russischen Militärmacht verführen kann. Trotz der
gegenwärtigen Ruhe in den Massen und der Lutents corcliale triM des Nordens
sind aber schwerlich die Entscheidungsschlachten unsres Jahrhunderts schon geschlagen,
und die Wiederkehr jener leichtsinnigen Täuschungen könnte Enropa's Kosakischwerden
leichter zur Folge haben, als eine allgemeine Herrschaft des Jacobinismus.
— Der erste entscheidende Schritt wäre
nun geschehen. Preußen hat die weitere^ Theilnahme der bisher zum Zollverein ge¬
hörigen Staaten an den Verhandlungen von der Annahme seines Programms abhängig
gemacht. Wir können über dieses Ereigniß nur unsere vollständige Befriedigung aus¬
sprechen, und wenn Preußen in dieser Bahn bleibt, so wollen wir nachträglich auch
alle die Zögerungen rechtfertigen, die wir nur darum angefochten haben, weil wir sie
als ein Symptom der Schwäche und Unentschlossenheit auffaßten. Waren sie nichts
weiter, als die schuldige Rücksicht gegen die übrigen gleichberechtigten deutschen Mächte,
so waren sie vollständig in der Ordnung. Was bisher Preußen in so üblen Kredit
gebracht hat, war seine Neigung, zuerst sehr ungestüm und gebieterisch aufzutreten, aber
nachzugeben, sobald ihm ein entschlossener Wille begegnete. Wenn diesmal sein Ver¬
fahren ein umgekehrtes war, so können wir es als die Eröffnung eines neuen Weges
nur mit Freuden begrüßen. Denn daß die Vorwürfe, die man von Seiten der Koali¬
tion Preußen wegen seiner Kündigung des Zollvereins gemacht hat, als ob es die
übrigen Staaten dadurch habe brusIren wollen, aller Begründung entbehren, zeigt das
Verhalten eben derselben Coalition gegen Braunschweig und die thüringischen Fürsten.
Der Zollverein sollte auf einer neuen Basis reconstituirt werden, und da man niHt
wußte, ob seine sämmtlichen Theilnehmer sich mit dieser neuen Basis einverstanden er¬
klären würden, so mußte man ihn an dem vertragsmäßig festgesetzten Termin kündigen,
um sich selbst und den übrigen Staaten die volle Freiheit der Wahl wiederzugeben.
Es wurden nachher Versuche angestellt, ob nicht der ganze frühere Zollverein aus der
neuen Grundlage wieder hergestellt werden könnte. ' Diese Versuche zeigten, daß in
materieller Beziehung eine Ausgleichung der verschiedenen Interessen wol möglich sei,
daß aber Alles an den formalen Bedingungen der Coalition scheitern müßte; denn das
Auffichtsrccht, welches Oestreich nicht nur während der Verhandlungen, sondern auch
nach Abschluß des neuen Zollvereins über die inneren Angelegenheiten desselben zuertheilt
werden sollte, widersprach allen Begriffen einer Vereinigung souverainer Staaten und
konnte von Preußen nicht angenommen werden, wenn es nicht seine eigene Freiheit
auf's Spiel setzen wollte. Darum blieb als letzter Ausweg nur der jetzt eingeschlagene
übrig, den Vertrag vorläufig mit den einverstandener Staaten abzuschließen und das
Uebrige der Zeit zu überlassen.
Sollte dadurch auf's Neue eine Zolllinie zwischen den bisher so eng verbrüderten
deutschen Staaten hervorgehen, so würden allerdings beide Theile darunter leiden, gewiß
aber mehr die Angehörigen der Coalitionsstaaten. Sachsen z. B. würden bei seiner
geographischen Lage fast alle Abzugscanäle abgeschnitten werden; selbst der Weg nach
Bayern könnte ihm durch Altenburg versperrt werden. Denn von einem Zollabschluß
mit Oestreich kann doch wol wenigstens für die nächste Zeit keine Rede sein. Die
Störung, die dadurch in alle Verhältnisse kommen würde, ist ganz unberechenbar, und
doch hört man von allen Seiten, namentlich M Handelsstande, eine laute Billigung
des Verfahrens, welches Preußen eingeschlagen hat. Man sieht daraus, daß überall
das bewußte oder unbewußte Gefühl lebt, nur auf diese Weise könne für die Zukunft
ein geordneter Zustand hergestellt werden, wie sehr auch die Gegenwart darunter leiden
möge. Das sollte aber eine dringende Mahnung für diejenigen unter den Coalitions-
regierungcn sein, die aufrichtig das Beste ihrer Staaten im Ange haben. Bis dahin
konnten sie sich wenigstens immer durch den stillen Gedanken rechtfertigen, Preußen sei
an ein unbedingtes Nachgeben gewöhnt, und man werde daher günstigere Bedingungen
von ihm erpressen können. Sobald sich aber dieser Hintergedanke als illusorisch erweist,
wird man doch den wirklichen Verhältnissen Rechnung tragen und etwaige politische Sym¬
pathien bei Seite lassen müssen.
— Einer der letzten Heroen der alten
großen Zeit, vielleicht nach Napoleon der bedeutendste, hat die Welt verlassen. Er war
vielleicht die größte Erscheinung, welche die alte Zeit der neuen entgegenstellte. Als
Feldherr wie als Staatsmann war er der stolze Repräsentant jener altenglischen Soli¬
dität, die sich durch nichts erschüttern läßt, weder durch die Umstände, noch durch.die
Menschen. In der ersten Zeit seiner staatsmännischen Laufbahn aus das Leidenschaft¬
lichste, und vielleicht nicht mit Unrecht vom Liberalismus angefochten (wer kennt nicht
die bitteren Ausfälle Lord Byron's gegen ihn?), wurde ihm am Ende seines Lebens
die allgemeinste Anerkennung und Huldigung zu Theil. Die Engländer sind nicht so
leicht in Feuer zu setzen, als andere Nationen; ihre Zähigkeit widersteht auch der Liebe
und Begeisterung, aber wenn sie sich einmal hingegeben haben, so ist es unbedingt.
Der „eiserne Herzog" war ein Abgott des Volks, von der Aristokratie bis in die nie¬
drigsten Klassen herunter, und mit Recht nicht blos wegen seiner Gaben, sondern auch
wegen seines Charakters. Seine Erscheinung hatte nichts Liebenswürdiges, wie wir es
bei den französischen Helden so häufig finden; sie beschäftigt überhaupt im Ganzen
wenig die Phantasie, aber von der Phantasie wird auch nicht das letzte Urtheil der
Weltgeschichte ausgehen. So alt er war, ist sein Tod doch nicht ganz ohne Bedeu¬
tung. Noch die Krisis des vorigen Jahres zeigte, wie gleichsam die Idee, die sich mit
ihm verknüpfte, die festeste Säule des Thrones war. In dem gegenwärtigen Gewirr
der Parteien wird der Mangel einer solchen über allen Zweifel erhabenen Autorität
sehr fühlbar werden. — Eine nähere Charakteristik behalten wir uns vor.
— Ferdinand David's komische Oper: „Hans Wacht" wurde
den 18. September auf der Leipziger Bühne zum ersten Mal gegeben. Es hatten sich
mancherlei Hoffnungen an die Aufführung dieses Werks geknüpft: Der Komponist steht
seit langer Zeit in guten Ehren bei der musikalischen Welt, und seine feinen und wohl¬
geordneten Violinconcerte verdienen wirklich vor allen ähnlichen Compositionen der letzten
Zeit einen entschiedenen Vorzug. Auch der Gesangsmusik hatte er sich zugewendet, und
nicht ganz ohne Glück, wie zwei von ihm herausgegebene Liederhefte bezeugen. Sie
sollten gewissermaßen als Vorläufer dieser Oper gelten. Leider hat dieselbe nicht in dem
Maße befriedigt, als man erwartete, und die Gründe des Mißlingens sind hauptsächlich
in zwei Momenten zu suchen, in der unschönen BeHandlungsweise des Gesangs und
in der schwerfällig mit falschem Humor überladenen Musik.
Die Vernachlässigung des Gesangs von Seiten unsrer Komponisten sängt nach¬
gerade an unerträglich zu werden. David begeht zwar nicht den allgemeinen Fehler,
die Melodien in Lagen zu versetzen, die den Sänger nur mit Qual seine Ausgabe
lösen lassen. Dieser Fehler ist nirgends bemerklich, wol aber ein anderer, ein fast schlim¬
merer, und dieser ist wol aus der musikalischen Erziehung des Componisten herzuleiten.
Es ist kaum möglich, daß ein Komponist, der seinen ganzen Lebensberuf in der Aus¬
bildung eines Saiteninstrumentes bisher gefunden hat, seine musikalische Phantasie und
Empfindungsweise so ohne Weiteres ummodeln kann, daß er einen richtigen Gesang
denken oder einen schreiben kann, an dem der Sänger sich erfreut, der ihm Gelegenheit
bietet, mit seiner Kunst hervorzutreten. Es galt früher als Ehrensache für die Com¬
ponisten, den Gesang und seine Technik genau kennen zu lernen, es wurde ihnen darum
möglich, Melodien zu erfinden, die Wohlklang besaßen und durch ihre natürliche Führung
eine wohlthuende Wirkung hervorbrachten. Unsre Zeit und ihre Talente setzen sich dar¬
über hinweg, obgleich man auf der andern Seite nie verfehlt, den Grundsatz aufzustellen
und einzuschärfen: man kann für irgend ein Instrument nur in dem Falle richtig denken
und schreiben, wenn man durch sorgfältiges Studium die Technik desselben sich zu eigen
gemacht. Daß die Sänger in David's Oper sich meist erfolglos abmüheten, findet in
der mangelnden Bekanntschaft des Componisten mit dem Gesang seinen Grund; wir
suchen ihn blos darin, weil wir von dem sonst so erfahrenen Musiker ein geflissentliches
Widerstreben gegen die Grundsätze des Gesangs nicht glauben mögen. Wie unschön
und unbeholfen klingen Melodien, die in unaufhörlichem Einerlei eine Note aus eine
Sylbe geben? Dieser Zug findet sich am Anfang der Oper, kehrt unaufhörlich wieder,
und erscheint in seiner höchsten Ausbildung in dem sentimentalen Hirtenliebe des Hans
Wacht (2. Act, Ur. 12), wo in dem schweren Dreivierteltakte eine Viertelnote nach
der andern schwerfällig einherschreitet und eine jede mit der andern um den größten
Accent wetteifert. Die Gewalt der menschlichen Stimme liegt,ja in dem schön gezoge¬
nen Tone, und das ist der Gegensatz der virtuosen Jnstrumentalcomposition. Wenn
wir den Vocalen und ihrer Klangschönheit keine Rücksicht schenken wollen, so erreichen
wir mit einer dem Orchester beigefügten Declamation beinahe gleich günstige Resultate.
Anders verhält es sich freilich mit dem Parlando in der komischen Oper. Eine rasche
Erzählung, schnell vorübergehende Scenen weisen natürlich jeden getragenen Gesang zurück
und bedingen ausdrücklich el» kurzes declamirendes Sprechen. Darum muß in diesem
Falle der Componist vermeiden, dem Sänger oder auch den Chören vollständig aus¬
geführte melodische Phrasen in den Mund zu legen. Sie sind unnütz verschwendet, dem
Sänger fehlt am Ende ja der Athem, um sie in dem raschen Vorbcieilcn auszuführen. Die
alten Componisten befolgten in solchen Fällen die Regel, die Sänger auf einem Tone oder
doch nur in dem Umkreise weniger Töne singen zu lassen, und dem Orchester eine kurze,
skizzirte Begleitung beizugeben, die den Sänger zweckmäßig unterstützte, ihm Raum genug
ließ, sich frei zu bewegen und leicht zu sprechen. Auch hierin hat David Fehler be¬
gangen: wir machen besonders aufmerksam aus die Arie des Sebaldus (Ur. 3), worin
dieser den erschrockenen Bürgern die Ankunft der Landsknechte meldet und in langen
Versen ihre großen Requisiten aufzählt. Wie es doch dem armen Sebaldus und dem
Zuhörer schwer gemacht wurde, um das zu fingen und zu verstehen. Noch ein Beispiel:
der Marktchor in der Introduction. Die in Massen aufgehäuften Vorräthe beeilen sich
die Verkäuferinnen aufzubieten, und alle die schönen Sachen würden sich aus einem
Tone recht artig herplappern lassen; es war nicht nöthig, die Hühner und Fische, die
saueren Gurken und die Hahneukämme mit so vielen melodischem Aufwande auszubieten.
Es gab ja für diesen Fall recht artige Muster in der Martha und in der Stumme
von Portic-i! Es ist unsrer Zeit das wunderliche Streben eigenthümlich, die musika¬
lischen Formen früherer Zeiten zu ignoriren und um jeden Preis Neues zu erschaffen.
Die Versuche in der opers seris sind nicht gelungen, die neue emancipirte komische
Oper wird kaum besser reussiren. Und die Hand auf's Herz! Sind denn die heim¬
liche Ehe von Cimarosa, Mozart'S Figaro, Rossini's Barbier, die zierlichen Opern
von Ander, sogar Flotow's Stradella Kunstwerke so verwerflicher Art, daß es nicht
der Mühe lohnt, sie ernsthaft zu betrachten und aus ihnen zu lernen? Es wird noch,
schwieriger sein, die alte komische Oper und ihr Wesen umzustoßen, als die ernsten Werke
dieser Gattung. Die hier leitenden Grundsätze find so einfach und natürlich, daß jede
größere Abweichung davon das Unglück hinter sich herzieht.
Wir sprachen oben von den Aeußerungen des falschen Humors in David's Musik.
Einen großen Theil der Schuld trägt das Buch, eine Chablouenarbeit, wie sie die
Dutzcndarbeiter der jüngsten Zeit in Masse aus den Markt geworfen haben, in der eine
schlechte, oft undeutsche Diction, holpri'ge Verse, niedrige Bilder und triviale Ausdrucks¬
weise in unausgesetztem Kampfe sich befinden. Es war eine übergroße Kühnheit des
Componisten, wenn er glaubte, solche Ungeschicklichkeiten durch die Gewalt seiner Musik
zu überwinden. Wir knüpfen hieran eine kurze Betrachtung, die jedoch nicht in specieller
Beziehung zum Componisten dieser Oper steht. Es giebt aus den letzten Jahrzehnten
eine Menge Textbücher komischer Opern, die in ihrer Sprache und Ausdrucksweise hinter
den Büchern der frühern Zeit zurückstehen. Viel Uebles wirkte in dieser Beziehung
Lortzing, aber die Strafe verfolgte ihn auf dem Fuße, und er verlor an solchen Trivia¬
litäten, sein künstlerisches Renommee. Das unglückliche Beispiel hat leider nicht ab¬
geschreckt und Pasquö's Buch ist eine neue Nachfolge dieser so tief stehenden Arbeiten.
Wir sollten meinen, daß eben keine große Unterscheidungsgabe dazu gehört, um solche
Ungehörigkeiten herauszufinden. Dennoch begehen unsre Componisten immer von Neuem
den Fehler, ihre Thätigkeit solchen Büchern zu widmen. Wir möchten bescheidener Weise
aus diesen Thatsachen fast schließen, daß einem guten Musiker noch etwas mehr zu
lernen nöthig sei, als recht gut wacker Violine, Clavier, Cello u. s. f. zu spielen: ein
'''''''
Grundsatz, der von musikalischen Autoritäten neuerdings häufig ausgesprochen ist. Die
meisten unsrer jungen Musiker besuchen bis in ihr Is. Jahr eine öffentliche Schule.
Man kann zwar'darin mancherlei Gutes lernen, aber Nichts, was speciell Kunstzwecke
fördert. Die folgenden Jahre vergehen über musikalischen Uebungen und es giebt in
der That kein besseres Mittel, geistige Fähigkeiten zu schwächen und zu unterdrücken. Und
die geistige Ausbildung! Das Studium der Kritiken in den Tageblättern und philoso¬
phische Vorlesungen über die Kunst der Zukunft verhelfen in kurzer Zeit zu einer Sicher¬
heit des Urtheils, die uns in unsrer Stadt oft genug imponirt hat!
David's Compositionen sind bekannt genug; die Kritik hat längst ein günstiges
Urtheil über sie festgestellt. Darum ist es hier überflüssig, über die gute Jnstrumentation,
über die gewandte und pikante Harmonieführuug, über die Leichtigkeit in der Formen¬
beherrschung zu sprechen; es hat noch Niemand an des Komponisten Geschicklichkeit und
Gewandtheit gezweifelt. Hier ist aber nicht einseitig die Musik, sondern ihr Verhältniß
zum Texte zu prüfen und in diesem Falle werden die Resultate kaum so günstig aus¬
fallen. Wir haben schon manche Entschuldigungsgründe sür den Componisten angeführt.
Wo diese nicht ausreichen, kann freilich nur davon die Rede sei», daß der Componist
keinen entschiedenen Beruf sür das Fach der Oper in sich trägt, daß, wie schon oben an¬
gedeutet, sein bisheriges Weben und Leben in Musik im diametralen Gegensatze zur Gesangs-
mnsik steht. Unter den vielen Stellen, die ein nicht genügendes Verständniß und eine falsche
Ausfassung des Textes bekunden, ist besonders eine namentlich anzuführen: der Chor der Bür¬
ger und Rathsherren am Anfang des dritten Actes. Es ist dem Componisten oft begegnet,
daß er das Maß vergessen,' womit komische Musik gemessen werden soll. Wenn nun
in der vorliegenden Scene die Bürger zwar mit Angst an die ankommenden spanischen
Truppen gedenken und Uebles sür ihre Stadt fürchten, so müssen sie doch der ganzen
so hanswurstmäßigen Anlage des Textes gemäß in komischer caricirtcr Weise diese Angst
und dieses Schrecken äußern, nicht einer Weise, in einer musikalischen Zeichnung, die
zur Begleitung eines zehnfachen Mordes und eines welterschütternden Ungewitters voll¬
ständig ausreichte. Der Gedanke, die Rathsherren in einer zopfigen Fuge singen zu
lassen, ist nicht übel, wenn nur nicht das „Zu Viel" der neueren Musiker den guten
Gedanken in seinem Entstehen vernichtete. Das leidige „Zu Viel" und „Zu Gut" hat
überhaupt David um manchen Erfolg gebracht.' Viele Sätze und Melodien beginnen
einfach, natürlich und vielversprechend, aber es genügt ein kurzer Raum von oft nur acht
Tacten, um uns aus dieser befriedigten Stimmung herauszureißen. Da wird modulirt,
contrapunktirt, figurirt, imitirt, bald Dieser, bald Jener, und der Zuhörer ist sogleich
wieder ein Opfer der mit vielem Fleiße gezeigten Kunstfertigkeit des Componisten. Es
ist schmerzlich, die geringen Resultate zu verfolgen, die durch die neue deutsche Oper
erreicht werden, und man möchte fast fürchten, daß die dramatische Musik in unserm
Vaterlande ein Ende gefunden habe. Wir werden aber nicht eher befriedigende Erfolge
erreichen, als bis unsre Componisten die bescheidenen Tugenden der Einfachheit und
Natürlichkeit einer gespreitzten Prahlerei und einer 'eitlen Künstlichkeit vorziehen lernen.
Die dramatischen Werke unsrer Vorfahren sind nicht so inhaltslos, daß wir auch heute
noch nicht wenigstens ihre mannichfachen Schönheiten erlernen und nachahmen dürsten.
Wir sind gewiß in mancher Beziehung in der Kunst vorgeschritten: unsre Formen sind
leichter, handlicher und mannichfaltiger geworden, unsre Harmonien sind nicht mehr ge¬
knechtet von den steifen Regeln alter Schulmeister, die Melodienführnng ist weniger an
einen bestimmten Modus gebannt, unsre Jnstrumentationsmittel sind mannichfaltiger und
seiner geworden. Möchte bald Einer crstchii, der in wohlüberlegter und talentvoller
Weise die Tugenden der Alten und die Vorzüge der Jungen vereinigte und solche
Kunstwerke erzeugte, die vor dem ästhetischen Richterstuhl Gnade finden dürfen!
— Wir führen ein Buch an, welches voraus sichtlich in dem
größern Publicum viel Aufsehn machen wird: Die Könige. Entwickelungsgeschichte
des Königthums von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Von Professor
Hinrichs (Leipzig, Costenoble). Der Verfasser, ein leidenschaftlicher Verehrer des ge¬
mäßigten Königthums, der zum Schluß sogar in den nordamerikanischen Freistaaten
die Grundlage für dgs ideale Königthum der Zukunft sucht, verfolgt die Idee des
Königthums durch alle Zeiten und Völker, von ihrem ersten naiven Ausdruck bis zur
breitesten Entwickelung. In wissenschaftlicher Beziehung kann man Vieles gegen den
Versuch einwenden, einen einzelnen historischen Begriff willkürlich von dem concreten
Leben der Geschichte überhaupt ablösen und ihm eine Art innerer Entwickelung vindi-
ciren zu wollen. Die Idee des Königthums ist nicht ein Organismus, der für sich da
wäre, sondern sie ist nur eine einzelne Erscheinung in dem Leben der Völker. Am
wenigsten dürste sie als eine absolute Idee aufgefaßt werden. Die Idee der Republik
steht gleichberechtigt neben ihr; es kommt nur daraus an, auf welches Volk und auf
welche Verhältnisse die eine oder die andere Anwendung findet. — Indeß können wir
von dieser Ausstellung absehen, da dem größern Publicum ein anmuthiges, historisch
treues, mit Geist entwickeltes und nach allen Richtungen hin belehrendes Bild von den
verschiedenen Zeiten des Königthums gegeben wird. Hinrichs bewegt sich auch in seinem
Styl diesmal freier, als in früheren Versuchen, die zu lebhaft nach der Schule schmeckten.
Der erste Theil des Buchs, der die alten und mittelalterlichen Könige enthält, ist zwar
sehr gut geschrieben, bietet aber doch kein näher liegendes Interesse; dagegen spielen
durch den ganzen zweiten Theil auf das Lebhafteste alle Fragen der Gegenwart und
werden aus eine eben so mäßige als bestimmte Weise erörtert. Auf Einzelnes, was
wir noch auszustellen und zu loben hätten, kommen wir bei Gelegenheit eines allge¬
meinen Artikels zurück. — Das Buch ist dem Herzog von Gotha gewidmet, als dem¬
jenigen unter den deutschen Fürsten, dem man eine ähnliche Schrift widmen kann und
darf. —
Wir erwähnen nur zwei in Lieferungen erscheinende Werke, über die wir seiner Zeit
ausführlicher berichten werden. — Erstens die Vaterländische Geschichte von den
ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. Von Eduard'Dukter (Frankfurt a. M., Meidinger
Sohn). — Da von den 20 bis 25 Lieferungen, aus denen das Werk bestehen soll, erst
zwei uns vorliegen, so müssen wir ein Urtheil noch hinausschieben. — Dann die Wunder
des Himmels oder gemeinfaßliche Darstellung des Weltsystems von I. I. v.on
Littrow. Vierte Auflage. Nach dem neuesten Zustande der Wissenschaft bearbeitet
von Carl von Littrow, Director der k. k. Sternwarte in Wien. (Stuttgart, Hoffmann).
Das Ganze besteht aus sechs Lieferungen (wovon zwei bereits erschienen sind),' und
kostet im Subscriptiouspreisc 2^ Thlr. Der berühmte Name des Verfassers ist Bürge
für den wissenschaftlichen Werth, der übrigens auch schon allgemein gebührend aner¬
kannt ist; wir haben hier nur die populaire gemeinverständliche Darstellung zu rühmen. —
„Der Kreislauf des Lebens, physiologische Antworten auf 'Liebig's
chemische Briefe, von Jac. Moleschott" (Mainz, v. Zabern, ^852) ist ebenfalls
eines der vielen jetzt erscheinenden populairen naturwissenschaftlichen Bücher. Es wird
namentlich durch die seltsame Konsequenz seiner theoretischen Folgerungen Aufmerksam¬
keit erregen. Im Allgemeinen enthält das Buch jene Früchte der-chemischen Forschung,
die Liebig schon in den erwähnten Briefen gesammelt hat; dagegen sind Principien
und Tendenz der Darstellung die entgegengesetzten. Gleich in der Ueberschrift des
ersten Capitels: „Offenbarung und Naturgesetz" zeigt sich der Widerspruch. Liebig
weiß jenseits der Naturgesetze ein Wesen, „zu, dessen Anschauung und Erkenntniß die
Sinne nicht mehr ausreichen"; Moleschott dagegen, den Standpunkt Feuerbach's revrä-
sentirend, geht von dem Grundsätze aus: „Es ist in'unsrem Verstände Nichts, was
nicht eingegangen wäre durch das Thor unsrer Sinne." — In Konsequenz damit
sucht er das Wachsthum der Pflanzen und Thiere aus mechanische Weise zu erklären
durch jenes bekannte Experiment an einer mit Kochsalz gefüllten, in's Wasser getauch¬
ten Röhre, welches das Aufsteigen der Säste, so wie das Ansetzen neuer Theile er¬
klärlich machen soll. Pflanzen und Thiere werden stofflich erzeugt von dem Boden, aus
dem sie wachsen, von der Nahrung, die sie einnehmen. Andererseits wieder sind be¬
stimmte mineralische Bestandtheile im Boden die Grundbedingungen für bestimmte
Pflanzengattungen: der Schachtelhalm, verbrannt, läßt fast nur Kieselerde zurück;
die Weinrebe zeichnet sich aus durch ihren Gehalt an Kalk, der Weizen durch phos-
phorsaure Salze, die Rübe durch den der Kalkerde ähnlichen Talk ze. — woraus die
Nothwendigkeit der Wechselwirthschaft beim Ackerbau und die Bedeutung der agro¬
nomischer Chemie erhellt. — Eben so hat beim Thier und beim Menschen jeder Stoff
des Körpers, jeder Formbestandthcil, jedes Werkzeug seine eigenen physikalischen Be¬
dingungen. Fett macht das Knochenmark leicht, Wasser das Blut beweglich, Knochen-
erde den elfenbeinernen Theil der Knochen schwer, den Zahnschmelz hart, Faserstoff
die Muskeln vcrkürzbar.- Alle festen Theile des Körpers. Knochen, Muskeln, Hirn
und Nerven entstehen aus dem Blute; das Blut ist zusammengesetzt aus Eiweiß,
Zucker, Fett und Salz; diese Stoffe muß also ein vollkommenes Nahrungsmittel ent¬
halten. Das Gehirn im Besondern kann ohne phosphorhciltigcs Fett nicht bestehn,
das der Phosphor dem Eiweiß und Faserstoff des Blutes verdankt: ohne Phosphor
kein Gedanke. Darum sind Fleisch, Brod, Erbsen nothwendig zur Ernährung des
Gehirns, die durch Speisen, welche wie Fisch und Eier fertig gebildetes phosphor¬
haltigcs Fett enthalten, noch mehr erleichtert wird. Thee stimmt das Urtheil, Kaffee
nährt die gestaltende Kraft des Gehirns. Anwesenheit des Weingeistes und Anhäufung
des Blutes im Gehirn sind Ursachen des Rausches. — Da die Kartoffel kein Eiweiß,
sondern nur Zucker und Fett enthält, so kann sie allein die dem Gehirn nöthigen
Nahrungsmittel nicht bieten; durch ihren ausschließlichen Genuß muß der Mensch
verdummen. Da aber im Gegensatz Erbsen, auch Bohnen und Linsen reich an Ei¬
weiß sind, so hat jenes Evangelium der Erbsen, in dem Feuerbach das Ziel der Zu¬
kunft, die Lösung der socialen Frage proclamirt, hier seine realistische Motivirung:
Das Abschaffen des Kartoffel- und Einführen des Erbsenbaues soll der Erde ein
neues, gesundes und erleuchtetes Geschlecht verschaffen. — Mit dem, was Moleschott
über die socialistische Mission der Naturwissenschaft sagt, darüber kaun man im Allge¬
meinen wohl einverstanden sein. „Das Leben", so schreibt er, „fordert Arbeit, die
Arbeit Stoff. Es ist die Aufgabe der Chemie, täglich besser einsehen zu lernen,
welcher Stoff zu jeder Arbeit gehört, und der Armuth, durch richtige Vertheilung
des Stoffes vorzubeugen. Es gilt nur, den Stoff, der bei hundert und tausend
Gelegenheiten als Abfall zwar nicht verloren geht, aber auf Umwegen sich verirrt, in
der vortheilhaftesten Weise zu sammeln und auf dem kürzesten Wege dahin zu lenken,
wo er die mächtigste Wirkung zu, entfalten vermag. — In Podolien, in Buenos
Ayres, in Mexiko, in Australien, in vielen Gegenden der Vereinigten Staaten Nord¬
amerika's, wo das Rindfleisch oder das Fleisch von Schafen kaum einen Werth
besitzt, ließen sich mit den einfachsten Mitteln die größten Quantitäten des
besten FleischextracteS sammeln, dessen Zufuhr für die kartoffelessende Bevölke¬
rung Europa's vielleicht eine ganz besondere Bedeutung gewinnen möchte (schon
von Liebig aufgestellt). — Ein Gemenge von Kalk und Schwefelcalcium,
das bei der Fabrikation von Kali- und Natronsalzen abfällt und bei den Sodasabriken
von Marseille, Liverpool, Glasgow und Newcastle in ganzen Hügeln aufgethürmt ist,
wäre äußerst wohlthätig für die Fruchtbarkeit von Aeckern und Wiesen, und könnte einen
einträglichen Handelsartikel abgeben. — Ja, wenn bei der stets wachsenden Bevölkerung
die Möglichkeit zu denken wäre, daß Mangel an phosphorsaurem Kalk, Mangel an
Knochenerde entstände, dann würde die Wissenschaft auf die Lager von Kuochenstein,
von phosphorsaurem Kalk in der Wetterau und in Estremadura als Mittel der Düngung
hinzuweisen haben. — Ist es nicht eine ganz nothwendige Folgerung, daß die Wissen¬
schaft einmal dahin kommen muß, eine Vertheiluug des Stoffes zu lehren, bei welcher
Armuth in dem Sinne eines unbefriedigten Bedürfnisses unmöglich ist? Die Salze sind
in überreicher Menge gegeben. Wir brauchen sie nur aus dem Eingeweide der Erde
hcrvorzuwühlen, das ganze Adern von Kuochenstein enthält. Die organischen Ver¬
bindungen, Eiweiß, Fett und Zucker sind ewig, weil sie die Pflanze aus einfachen Ver¬
bindungen bereitet, die selbst ewig sind, indem das Thier Fett, Eiweiß, Zucker nur verzehrt,
um sie in der Gestalt von Ammoniak, von Kohlensäure und Wasser der Pflanzenwelt
darzubieten. Nur richtige Vertheiluug des Stoffes ist es, was der Landwirth, der Arzt,
der Staatsmann, der Arme fordert! Landwirth, Arzt, Staatsmann und Armer hätten
gewiß ein leichtes Leben, wenn die verwickelte sociale Frage so leicht zu lösen wäre, und
Naturforscher und Chemiker wären die wahren Propheten und Heilande der Zukunft.
Aber richtige Vertheiluug des Stoffes vermehrt und verwohlseilert uur die auf den
Markt gelangenden Producte, ohne das Mißverhältniß zwischen Arbeitsgelegenheit und
Arbeitskräften zu heben. Sie macht zwar billiger, giebt dem Armen aber noch kein Geld,
um zu kaufen.
Als Absurditäten sind noch gewisse, aus die Spitze getriebene Consequenzen der
einseitig empirischen Anschauung zu rügen, die nicht einmal den Reiz der Neuheit sür
sich haben, wie z. B.: „das Hirn und seine Thätigkeit verändern sich mit den Zeiten
und mit dem Hirn die Sitte, die des Sittlichen Maßstab ist." So viel wir wissen,
hat man die Entwickelung der Sittlichkeit und deren Gesetze bisher noch immer auf dem
großen Schauplatz der Geschichte, nicht aber auf den Tischen der Anatomen verfolgt
und wird sie anch wol fernerhin nur dort finden und begreifen können!
Der Bruder aus Ungarn. Roman in zwei Bänden. (Berlin, Franz Duncker.) —
Der Verfasser macht den Eindruck eines gebildeten, selbst geistvollen Mannes. Seine
Reflexionen über die Zeit, die er behandelt (1L17—1518), sind zum Theil sehr treffend
und interessant. Aber eine solche Unruhe und Hast in der Zeichnung der Figuren und
Situationen ist uns selten vorgekommen. Sie sind zum Theil recht sein angelegt und
interessiren um Anfang; der Versasser bemüht sich, sie realistisch auszuführen? aber bald
subtilisiren sich ihre Gedanken und Empfindungen, sie zerfließen in allgemeine Abstrac-
tionen, in transscendentale Ideen, und wir bewegen uns nicht mehr im Deutschland des
sechzehnten Jahrhunderts, sondern im jungen Deutschland der Herren Gutzkow, Mundt
u. s. w. Fast kein einziger Charakter wird bis zu Ende festgehalten, bei den meisten
ist man selbst über die Intentionen des Verfassers vollständig im Unklaren. Und was
bietet gerade jene Zeit für ein glänzendes Material für psychologische Studien und für
kühne, charakteristische Zeichnung.
— In Wien wird jetzt ein regelmäßiges Pensionsinstitut, eingeführt,
welches für das künstlerische Fortbestehen des Hosburgthcaters nur einen sehr günstigen
Erfolg haben kann. — Der Tenorist Ander hat sich doch nun engagiren lasse», und
Frau v. Strantz, die von Berlin zurückgekehrt ist, ist gleichfalls bleibend für die
Oper gewonnen.
Karl Töpfer in Homburg ist mit der Vervollständigung seines Leitfadens für
dramaturgischen Unterricht beschäftigt. — Hector Berlioz will ein theoretisches Werk
über die Kunst herausgeben. —
Johanna Wagner feiert in Berlin wieder neue Triumphe. Leider ist sie wieder
in einen zweiten Proceß wegen ihres Breslauer Aufenthalts verwickelt. Das ist für
eine Künstlerin immer ungünstig, obgleich iHr Verhalten gegen Lumlcy durch die scan-
dalösen Processe, die jetzt in Paris gegen diesen eingeleitet sind, in ein weit besseres
Licht gestellt wird. — Sonderbarer Weise soll Lumley' im nächsten Jahre die Pacht
der Wiener Oper am Kärthnerthor erhalten.
Das neue Karlsruher Theater, welches auch architektonisch musterhaft sein soll, wird
erst im Mai des folgenden Jahres eröffnet werden. Hoffentlich wird es durch Eduard
Devrient bis dahin auch in geistiger Beziehung neu organisirt sein.'
Henriette Svntag wird den 1. October in Neu-Uorkihr erstes Concert
geben. —"
In Mailand ist eine große historisch-phantastische Oper: „Dante, Virgilio u. Bice,
aufgeführt worden, Text vom Professor Seraphim Torelli, Musik von Paolo Carrcr. Eine
andere Oper von Emanuel Muzio: „Kiovanns ig KiWS," kommt nächstens zur Auf¬
führung. — In Neapel hat die Oper: „Nous <ki lolosa," von Enrico Petrella, Bei¬
fall gesunden."
Die Rachel ist am i>. September zum ersten Mal im „Mithridates im IKMro
irsnyAS wieder ausgetreten. —
A. Dumas schreibt für das Pays einen Roman, der über hundert Bände um¬
fassen soll, und der an der Hand des Ewigen Juden durch alle Perioden der Welt¬
geschichte geht.
Auf die mehrfache Anfrage, wer der Verfasser des Aussatzes: Oldenburg er
Zustände in Ur. 18, 19, 2i, und 26 der Grenzboten sei, ertheilt die Redaction
mit Zustimmung des Verfassers den Bescheid, daß es Herr Dr. Karl August Mayer
ist, früher in Oldenburg, jetzt in Mannheim, Versasser des Werks: „Neapel und die
Neapolitaner."
Wir sind in Deutschland mehr als anderwärts daran gewöhnt, diejenigen zu
überschätzen, die sich mit der Tendenz begnügen, und weil sie niemals etwas
vollenden, weder in logischer Deduction, n.och in darstellender Gestaltung, sich im
Unendlichen bewegen können. Darum sind wir bei Frauen sehr bald geneigt, zu
bewundern und anzustaunen, wo wir nur etwas über das Gewöhnliche Hinaus¬
geführtwerden. Gedanken, deren Vermittelung wir nicht kennen, überraschen und be¬
wegen uns wie Inspirationen, und je weniger wir uns in dem Kreise unsrer eigenen
Ideen sicher fühlen, desto wehrloser trifft uns jeder Schlag einer Paradoxie,
eines Aphorism. Kein Volk kennt so viel aphoristische Schriftsteller, als Deutsch¬
land; und zwar meinen wir hier Aphorismen im strengsten Sinne, d. h. aus dem
Zusammenhang gerissene, unvollständige, durch eine besondere, uns nicht bezeichnete
Stimmung gefärbte und daher nur halb verständliche Gedanken, nicht etwa
Aphorismen in dem Sinn eines Pascal oder Larochefaucould, die, wenn auch
in prägnanter Form, und in der Regel in der Form des Witzes, doch einen in
sich abgeschlossenen, allgemein giltigen Gedanken ausdrücken. Man vergißt dabei,
daß es leichter ist, Contraste lebhaft zu empfinden und wiederzugeben, als sie
einer geordneten Lösung zuzuführen, daß also jede Gestaltungskraft, sei es nun
wissenschaftliche oder künstlerische, unendlich hoher steht, als die zerstreute Eingebung,
mit wie viel Geist sie auch verknüpft sein mag.
Wenn wir diese Betrachtungen auf Nadel anwenden, so wollen wir nur die
Grenzen bezeichnen, über die wir in der literarischen Anerkennung dieser außer¬
ordentlichen Frau nicht hinausgehn dürfen; keineswegs aber ihren wirklichen, sehr
hohen Werth schmälern. Sie als Schriftstellerin z. B. über Frau v. Stael oder
über die G.'Sand stellen zu wollen, wie es die deutsche Pietät zuweilen gewollt
hat, ist eine unverzeihliche Thorheit; denn was den Schriftsteller eigentlich macht,
die Gabe der Form, der Vollendung, scheint ihr vollständig gefehlt zu haben.
Sie sagt einmal in ihrem gewöhnlichen Lapidarstyl: „Ich bin kein Dichter, weil
ich nie seicht bin." Es liegt in dieser anscheinenden Paradoxie etwas Richtiges,
denn der Dichter wie der Künstler überhaupt muß Vieles ganz technisch arbeiten,
wie der Handwerker. Der Aristokratie des Geistes dagegen, wie sie uns in dem
Kreise der Rahel entgegentritt, ist diese triviale Beschäftigung nicht vornehm
genug. Rahel giebt uus eigentlich anch nicht einmal vollständige Gedanken,
sondern nur den feinsten Parfum des Denkens. Das imponirt, aber es ist ein
Mangel.
Allein wir dürfen nicht vergessen, daß sie in klaren oder instinctiven Bewußt¬
sein dieses Mangels auch niemals darau gedacht hat, etwas für die Oeffentlichkeit
zu arbeiten. Was uus von ihr aufbehalten ist, sind Briefe, zerstreute Tagebuch¬
blätter und Aehnliches, und um uns daraus ein vollständiges Bild von ihren
Gaben zusammenzusetzen, fehlt uns die Kenntniß der einzelnen Beziehungen. Bei
ihrer nervösen Natur ist sie jeder Stimmung leicht zugänglich. Sie bezeichnet in
der Regel zu Anfang jedes Briefes die Witterung, um seine Färbung zu motiviren,
und gewöhnt auch ihre Freunde, dasselbe zu thun! So müssen wir ihre Ideen immer
nicht als einen klaren, bewußten Ausdruck ihres Geistes, sondern nur als einen
modificirten, gebrochenen betrachten. Wir dürfe» es nicht einmal mit ihren Ge¬
fühlen, namentlich wo die Trauer einen witzigen Ausdruck annimmt, -zu ernst
nehmen. Trotz dem stößt uus darin so Vieles auf, was das Wesen der Sache
trifft, und die Grundlage des Gemüths und der Vernunft bleibt in allem schein¬
baren Wechsel so'beständig, daß wir es Herrn v. Varnhagen, ihrem Gemahl,
uur Dank wissen können, uns diese merkwürdigen Blätter mitgetheilt zu haben.
Was die reich begabte Frau in anderer Beziehung war, ihr inneres Gemütsleben,
ihre Schicksale, wenn mau eine Reihe von Empfindungen und Stimmungen so
nennen will, geht uns hier weniger an. Wir sehen in ihr nur den bedeutenden
und charakteristischen Ausdruck einer Literaturperiode, die auf die Entwickelung
Deutschlands von dem größten Einfluß gewesen ist. Die deutsche Nation ist in
unsrem Jahrhundert vorzugsweise durch Goethe gebildet worden. Der Cultus
dieses Dichters ist hauptsächlich dnrch die Frauen vermittelt, und uuter diesen
dürfte sich keine Nadel an die Seite stellen.
' Daß dieser in Abgötterei ausartende Cultus seiue sehr bedenklichen, ja seine
offenbar verderblichen Seiten gehabt hat, wird man mehr und mehr einsehen.
Darüber darf man aber nicht vergessen, daß selbst in dem Uebermaß jener Pietät
etwas Schönes lag; deun wir mögen Goethe so leidenschaftlich angreifen, als wir
wollen, — und wir müssen es thun, denn das Ganze der Nation steht uns
hoher, als eine einzelne, wenn auch noch so schöne Blüthe derselben, und diese
Nation kann mir dadurch erstarken, daß sie sich jener Abgötterei entreißt — so
viel bleibt auf der andern Seite ausgemacht, daß Goethe's Dichtung das Voll¬
endetste war, was die deutsche Nation hervorgebracht hat, und daß wir sie um
so wärmer lieben mußten, je stärker insgeheim das Gefühl in uns wurde, daß
diese Schönheit hektischer Natur war.
Die Schönheit, so wie die Krankhaftigkeit dex Goethe'schen Dichtung läßt
sich vielleicht am deutlichsten in seiner Grundtendenz zusammenfassen, aus dem
individuellen Leben ein Kunstmerk zu machen und alle Kraft seines
Geistes auf die Verklärung des individuellen Lebens zu wenden.
Unter der Herrschaft einer Philosophie, die das individuelle Leben harten, ver¬
knöcherten Begriffen aufopfern wollte, mußte diese Reaction der Individualität
als ein Werk der Befreiung von der Nation mit Jnbel begrüßt werdeu, und
namentlich von den Frauen, deren innerste Natur sich in der Idee der „schönen
Seele" verklärte. Aber jetzt sind wir von jener Philosophie befreit, und wir
müssen nunmehr begreifen, daß jene Verherrlichung des individuellen Lebens nichts
ist, als der feinste Epikuräismus, der die Kraft alles allgemeinen Lebens unter¬
gräbt. So lauge gerade bei den besten und vollkommensten Geistern der Nation
noch jene Goethischen Bilder herrschen, noch jene einseitige Sehnsucht schön zu
leben und höchstens durch Resignation sich mit der Tragik der Verhältnisse abzu¬
finden, so lauge bleibt Deutschland eine unproductive Nation, die keiner Elasticität,
keines historischen Aufschwungs fähig ist.
Die halleschen Jahrbücher brachten bei Gelegenheit der von Schlesier gesam¬
melten Gentz'schen Schriften einen sehr lesenswerthen Artikel: „ Gentz und das
Princip der Genußsucht." Der Artikel war von Ludwig Rellstab. Er hob gerade
in dem Briefwechsel mit Nadel sehr scharfsinnig die Stellen hervor, in denen es
sich zeigte, wie dieser verfeinerte Pietismus, diese geistreich liebenswürdige Schön-
leligkeit, die aus dem Leben ein Kunstwerk, also ein Spiel, ein isolirtes Traum¬
dasein machen wollte, in ernsten Verhältnissen zum Abscheulichsten sichren könnte.
Denn wo man jede Natur mit ihrem eigenen Maßstab mißt, wird der edle Zorn
der Gerechtigkeit abgeschwächt; man findet auch in dem fein gebildeten Schlemmer,
der selbst in seinen Ausschweifungen nicht gemein und trivial wird, eine innere
Harmonie und vergißt daran zu denken, daß die Weltbegebenheiten, die er in
den Kreis seines schönen Lebens zieht, ein ganz anderes Ansetzn gewinnen, wenn
man sie im ernsten Licht der.Wirklichkeit betrachtet. Eine Frau von so edler
Gemnthsanlage und so Hellem klarem Verstände wie Rahel konnte diesen
Menschen, nachdem er für schnödes Gold seine Principien verrathen und sich der
rohesten Tyrannei verkauft hatte, noch mit voller Seele lieben und verehren, nicht
mit jener exceptionellen, - instinctartigen Liebe, die blind ist, sondern mit jener
ästhetischen Befriedigung, die das Ganze eines individuellen Lebens gelten läßt,
weil es ein Ganzes ist. Eine solche Verirrung des NechtSgesnhls bei einer edlen
Natur ist ein bedenkliches Zeichen für die Berechtigung der Bilduugsfonn, der sie
angehört.,
Und wir können nicht läugnen, daß etwas von dieser Krankhaftigkeit durch
den ganzen Briefwechsel geht. Dieses beständige Staunen vor sich selbst, dieser
unbefangene regellose Cultus alles Individuellen, diese Sucht, jeden Augenblick
etwas Bedeutendes, Vollendetes zu empfinden und zu denken, ist nicht nur an
sich unschön, es schadet auch der Wahrheit der Empfindungen und Anschauungen.
Dieses beständige Verklären des Unbedeutenden, dieses Vergeistigen der zufälligen
Natur, dieser beständige Wechsel zwischen leidenschaftlicher Entsagung und gelassener
Hitze, dieses raffinirte Beobachten der eigenen Zustände., die man künstlich hervor¬
bringt, um etwas zu beobachten zu haben, stört in den Briefen Rahel's eben so,
wie in denen ihrer Freundinnen. So schreibt unter anderen Caroline v. Humboldt,
die Gemahlin Wilhelm's v. Humboldt, indem sie ihre Kinder schildert: „Theodor
ist das liebenswürdigste Kind, das ich je gesehen; er ist ganz dick und recht
eigentlich fett, und sieht doch schlank aus; sein Gesichtchen hat einen schönen Aus¬
druck von Fröhlichkeit, und doch deutet der Blick in seinem Auge ans etwas Tieferes,
sein Auge ist, als schaute man in den Himmel, das Weiße darin ist ganz blan
und der Augapfel braun u. s. w." — Hier ist doch recht eigentlich jedes Wort
gemacht. So schreibt einmal die Gräfin Caroline v. Schlaberndvrf an Rahel:
„Daß Sie unglücklich find, habe ich tief gefühlt u. s. w."; „wenigstens will ich
mich bestreben, wahr zu sein, um weder Sie, noch mich selbst zu täuschen, wenn
ich auch gegenwärtig noch nicht genau den Standpunkt anzugeben weiß, der uns
beiden in dem Verhältniß der Freundschaft angehört." Das ist ja eine wahre
calculatorische Auffassung der Freundschaft. So sind alle diese Personen, ein reicher
gewählter Kreis des Umgangs, unermüdlich geschäftig, was der Andere gesagt hat,
zu kritisiren, es entweder göttlich, oder himmlisch, oder unschuldig, oder entsetzlich
zu finden, und die Antwort wieder auf jenen Standpunkt des Göttlichen ze.
hinaufzuschrauben. Wirklich in der Sache sind, diese schönen Seelen niemals; sie
schauen nur in sich selbst, und das führt endlich unvermeidlich zum Selbstbetrug.
Wenn man meinen sollte, die Art und Weise, wie ein er.clusiver Kreis unter
einander verkehrte, dürfe die Literaturgeschichte nichts angehen, so wäre das doch
ehiseitig. Zwar hat die Schlegel'sche Schule durch ihre Schriften sehr viel dazu
beigetragen, jene oben charakterisirte Empfindungsweise im Publicum und nnter
den jungen Schriftstellern zu verbreiten, allein einerseits würden ihre Bemühungen
ganz ohne Erfolg geblieben sein, wenn ihnen nicht ein befreundetes und wesentlich
derselben Richtung angehörendes Element in der Gesellschaft entgegengekommen
wäre; andererseits wurden sie durch eben jene Kreise inspirirt und bestimmt.
Obgleich die deutsche Literatur in den späteren Jahren zum Theil in demokratische
Hände gekommen ist, geht sie doch eigentlich von der Aristokratie ans. Goethe's
Poesie mußte zuerst in den exclusiver Cirkeln nach allen Seiten hin empfunden
und durchgedacht werden, ehe sie so zubereitet sich auf die übrigen Schichten des
Volks ausdehnen konnte. Daher hat sie anch später immer eine Tendenz nach
dem vornehmen Wesen gehabt, und selbst jene Schriftsteller, die mit allem Bestehen¬
den reinen Tisch zu macheu schienen, Heine an der Spitze, haben vorzugsweise
für die Aristokratie geschrieben.
Der ideelle Mittelpunkt dieser abgeschlossenen Welt der Kunst, Weimar
und Jena, reichte für die Propaganda uicht aus. Wir müssen Berlin als den¬
jenigen Ort bezeichnen, wo die eigentliche Wirksamkeit der Schule begann; und
zwar waren es vorzugsweise die Gesellschaften der reichen Juden, die ihren Kindern
eine weit über das gewöhnliche Niveau hinausreichende Erziehung zu Theil werden
ließen, in denen jene Schöngeister sich versammelten. Es ist darüber neuerdings
ein lehrreiches Buch erschienen: „Das Leben der Henriette Herz, von
Fürst," welches wir seiner Zeit besprochen haben. Man lernt daraus, wie die
Gegensätze sich neutralistrten, wie die junge Aristokratie, den Prinzen Louis
Ferdinand an der Spitze, sich mit dem Kreise der Geistreichen zusammenfand und
auf ihn eben so einwirkte, wie seinen Einfluß empfing. Prinz Louis Ferdinand
ist auf unsre Literatur von uicht unbedeutenden Einfluß gewesen. Einem Fürsten,
der durch seinen Stand in allzu enge sittliche Traditionen gezwängt ist, sieht'
mau den Bruch dieser Verhältnisse gern nach, wenn er mit vornehmer Grazie
ausgeführt wird. Das wirkt dann wieder auf die sittlichen Begriffe der bürger¬
lichen Kreise zurück, mit denen er sich zusammenfindet. Wir sehen die Maitressen
des Prinzen sich ganz ungenirt und ebenbürtig in jenen Kreisen bewegen, und es wird
über jene exceptionellen sittlichen Verhältnisse gedacht und empfunden, als wenn
sie der einfache Ausdruck der menschlichen Natur wären. So bringt denn auch
Gentz, der angehende Diplomat, und nach ihm die übrigen Diplomaten, ihr
der bürgerlichen West sonst entgegengesetztes ästhetisch-moralisches Bewußtsein
unbefangen an's Tageslicht, und es wird dadurch eine Sophistik des Herzens, ein
Raffinement der Empfindung und eine Virtuosität in Stimmungen und Leidenschaften
genährt, in welcher das ätzende Wesen der jüdischen Bildung ein nicht unwesentliches
Moment war, und welches allein das Erscheinen und die Verbreitung solcher
Bücher, wie Schlegel's Lucinde, begreiflich macht. Wo die Individualität sich
selber so anbetet, daß sie jede Regung in sich verachtet, die mit den gewöhnlichen
Begriffen der übrigen Menschen etwas gemein hat, kann man sich wohl denken,
daß ein so auffallend nüchterner Mensch, wie A. W.-Schlegel, auf solche Begriffe
geriet!), wie die, welche er in seinen Berliner Vorlesungen vor einem gemischten
Publicum 1802 entwickelte. Da war ihm selbst der Katholicismus, auf den er
sonst in poetischer Beziehung sehr viel hielt, nicht mehr gut genug. Er empfahl
seinen Damen, nach Indien zu pilgern, wo man wenigstens noch Spuren der
echten Religion finden könne, für welche das europäische Klima sich unfähig er¬
wiesen habe. Man muß nicht glauben, daß die Gardelieutenants im Gefolge
des Prinzen mit Ernst, Naivetät und Andacht sich diesen Vorstellungen gefügt
hätten; sie amnstrten sich darin, und erzählten nachher die wunderbaren Dinge,
die sie gehört hatten, weiter, nicht um Propaganda zu machen, sonder)? um ihren
minder gebildeten Standesgenossen zu imponiren. Auch in dem Verhalten des
Prinzen zu jenen Kreisen ist doch immer etwas Herablassung. Er läßt sich mit
ihnen in die allerintimsten Herzensverhältnisse ein, aber er bleibt doch immer der
vornehme Herr, der sich in diesen bürgerliche» Sphären mit vollkommeuer Be¬
quemlichkeit bewegt, und jedesmal den Ton anschlägt, den er haben will.
Wir haben vor einiger Zeit das Buch der Fanny Lewald über diesen Gegen¬
stand besprochen, in welchem eine gewisse abscheuliche Wahrheit nicht zu verkennen
ist. Spaßhaft ist es nur, wie die demokratische Schriftstellerin sich sür den Prinzen
begeistert, von dessen Gardelieutenantsempfindnng sie doch Dinge erzählt, die
jedem echten Demokraten Entsetzen einflößen müßten. . Aber in einem andern
Buche finden wir das Leben jener Tage, freilich sehr stark idealisirt, interessanter
wiedergegeben. Es sind die Memoiren des Freiherrn von S — a, welche
im Jahr 1813 erschienen und entweder von Woltmann, oder seiner Frau herrühren,
einer intimen Freundin der Rahel. Wir kennen kein Buch, in welchem der Goethe-
Cultus so auf die Spitze getrieben wäre, und zwar ohne jene Excentricität des
Gefühls, die uns in Rahel's und Bettinens Briefen entgegentritt. Goethe wird
in allen Dingen als vollkommen dargestellt, die ganze übrige deutsche Literatur in
das, Reich der Barbarei geworfen, und namentlich Schiller alles dramatische Talent
abgesprochen. Die Auffassung ist von einer unerhörten Einseitigkeit; aber sie ist
mit viel Geist und Feinheit durchgeführt und gar nicht im Sinn der romantischen
Schule. Als Summe alles Genies im Dichter wird die Kraft dargestellt, durchaus
individuelle menschliche Gestalten zu schaffen und darzustellen. Dieses Princip wird
auch auf das Leben angewendet, und zwar mit Grazie und Anmuth. Es ist zwar
kein abgeschlossener Roman, aber die einzelnen, Figuren und Situationen aus deu
Jahren 1803 und 1806 werden uns in feinen Umrissen und in geschickter Färbung
vorgeführt. Das Buch hat damals für Goethe sehr viel gewirkt; es ist seit der
Zeit fast ganz in Vergessenheit gerathen, nicht ganz mit Recht, denn es enthält
namentlich über Literatur viel verständigere Bemerkungen, als die sämmtlichen
Kritiken der Schlegel.
Daß der Kreis der Rahel nicht ganz in die romantischen Tendenzen seiner
Jenenser Freunde aufging, zeigen uns einzelne sehr verständige Bemerkungen.
So sagt einmal einer der geistvollsten Männer dieses Kreises, Alexander v. d.
Marwitz, ein Officier, der 1813 fiel, über Friedrich Schlegel: „Neben der ge¬
wissenlosesten Ungründlichkeit und einer ekelhaften Befangenheit in bornirten Vor-
urtheilen hat er doch große und geistreiche Blicke .... Er ist nur vorn erträg¬
lich; je weiter er zu dem Ende kommt, desto alberner wird seine Befangenheit,
desto unredlicher seine Ignoranz, denn ans bloßem Vorurtheil weiß er Manches
geradezu nicht, hat instinctartig darüber weggesehen, das ist aber Gewissenlosigkeit."
— Nock schärfer spricht sich derselbe über Adam Müller ans, einen der Lieblinge
der Schule, einen höchst schädlichen Menschen: „Er ist ein unechter', lügenhafter
Gesell, bei dem öedaukksmiziit die Stelle der Begeisterung und hin- und her¬
schweifende gemeine Witzigkeit die Stelle des strengen Denkens vertreten muß.
Alles liegt in seinem Kopf chaotisch dnrch einander, und wird er den einen leuch¬
tenden Punkt auffinden, der diese verworrene Masse seiner Ansichten zu einem
organischen Ganzen ordnen könnte. Dazu ist er zu faul, zu irreligiös. Und
welcher Tumult in der Darstellung! Wo man erwartet, daß er den Grundstein
seines Gebäudes legen werde, da schweift er ab zu allerlei Auseinandersetzungen,
die darum unverständlich sind, weil sie ganz am Ende einer Reihe liegen, deren
erste Glieder nicht gegeben sind. Wo er gründlich widerlegen soll, da spaße er,
und wie unedel, nnmilde, unsicher, wie pöbelhaft zuweilen. An Talent fehlt es
ihm uicht, aber seines kleinlichen Gemüths halber dringt er nicht ein in den
Kern der Sache, denn statt sich dieser zu ergebe», denkt er überall uur an die
vornehme Rolle, die er vor Zuhörern und Zeitgenossen spielen soll. Daher die
Hohlheit und die pfuschcrnde Unsicherheit seiner Ansichten, die Unzahl schiefer,
verfehlter und ganz nichtssagender Ausdrücke .... Wenn er nichts Anderes
findet, um seine Perioden voll zu machen, so greift er ungescheut zum offenbaren
Unsinn...... Er hat Eingebungen zu Vergleichen, aber während er das
Aehnliche der Dinge und Verhältnisse auffindet, sieht er das Unähnliche nicht,
denn er ist ganz ohne Scharfsinn. Darum reiht er einfache und complicirte Er¬
scheinungen in dieselbe Kategorie und verwirrt das Gemüth des Lesers auf eine
ganz unglaubliche Weise. Mir ist er widerwärtig, uicht blos wegen seines Un-
zusammenhangs, seiner Faulheit, seiner rhapsodischen Willkür, sondern auch wegen
seiner enormen Dürftigkeit, seiner unausstehlichen Breite, mit der er ein Paar
Grundgedanken ewig wiederkäut, seiner Unbekanntschaft mit der Geschichte, die es
ihm neben seiner Steifheit unmöglich macht, sein Buch mit echtem und reichem
Leben zu erfüllen." — Man kann nicht richtiger und treffender urtheilen. Und
mit ähnlicher Freiheit bewegt sich auch Nadel, die instinctartig die Schädlichkeit
des romantischen Princips fast überall herauserkennt, wenn sie auch zuweilen
selber darin chesangen ist. Wie schön und treffend würdigt sie Lessing! ,,Lessing
wollen sie mit aller Gewalt vergessen, weil seine Recensionen nicht sentimental
waren und er uicht immer das Genie recensirte, analysirte, das hohe Menschliche
heraussuchte und bewies, daß das Genie ein Genie ist, — sondern das Kunstwerk
vornahm, aufstellte, mit Gründen tadelte oder für das alte Lob welche zeigte, den
Forderungen sichere Grenzen steckte und mit richtenden Blick und enthusiastischem
Beifall das Genie sie erreichen sah und seine Genialität in Ruhe -ließ." Es
ist das eine erschöpfende Verurtheilung der ganzen romantischen Kritik. So
äußert sie sich auch einmal sehr treffend über Tieck's „Phantasus": „Daraus habe
ich ganz etwas Neues erfahren, daß man die klügsten, ja feinsten Dinge sagen
und über jede Gebühr langweilig dabei sein kann. Dialoge sind schon das
Schwerste .... Dieses fortfließende Leben mit seinen unendlichen Voraus¬
setzungen, durch die kleinsten, aber bestimmendsten Züge kenntlich gemacht, gelingt
nur dem lebhaftesten, gründlichsten, leichtesten Bemerker, wenn er die Gabe des
Beurtheilers während der Vertheilung derselben in seineu Werken auf's Höchste
besitzt. Nun kommt Tieck mit roh zusammengestoppelten Reden und Gegenreden,
ohne alle Situation, als die willkürlichste, die mir weder Ort, noch Menschen,
noch Lage zeigt; diese armen Phantasmcigvren gehen in eben solchen Gegenden
spazieren und reden mich wahrlich todt. Der einzige Trost ist, wenn man nach
ihren allseitigen Behauptungen, von denen Tieck selbst nicht weiß, ob sie Scherz
oder Ernst sein sollen, und wenn er Recht giebt, Athem schöpft und sich gratulire,
uicht auch solche geschwätzige Tage mit den Herren und Damen verleben zu müssen!
Ich müßte toll werden in den Sälen, Gärten, bei den Wasserfällen und Brun¬
nen; bei den leblosen Scherzen!" .--Auch in ihren enthusiastischen Urtheilen
über Goethe ist doch immer ein ganz anderer Sinn, als in den stoffloser Apo¬
theosen der Schlegel. In einem Urtheil über Wilhelm Meister spricht sie den
Kern der Goethe'schen Poesie vortrefflich aus, und wenn sie ihn auch unbedingt
gelten läßt, während wir ihn nur in gewissen Grenzen anerkennen, so ist doch
wenigstens die Sache selbst charakteristisch bezeichnet. „Das ganze Buch ist für
mich nur ein Gewächs, um den Kern als Text darum gewachsen, der im Buche
selbst vorkommt und also lautet: „O wie sonderbar ist es, daß den Menschen
nicht allein so manches Unmögliche, sondern auch so manches Mögliche versagt
ist!" .... Mit einem Zauberschlage hat Goethe durch das Buch die ganze
Prosa unsres infamen kleinen Lebens festgehalten und uns noch anständig genug
vorgehalten .... An Theater mußte er, an Kunst und auch an Schwindelei den
Bürger verweisen, der sein Elend fühlte und sich nicht mit Werther todten wollte. . .
Dieses Netz von Witz, in dem uns die Götter hier gefangen halten, in welchem
wir errathen, toben, arbeiten, beten müssen, und durchschauen und durchgreifen
tonnen .... Das ist nicht tragisch, was andere Moralisten zeigen, wie man
sich selbst schadet, was man vermeiden könnte, wie man sich Unglück zuzieht, wie
mau mit den Göttern wählen sollte, und nicht ohne sie, wie innerer Friede schätzens-
werther, als anderes Gewünschtes sei; tragisch ist das, was wir durchaus nicht
verstehen, worein wir uns ergeben müssen, welches keine Klugheit, keine Weisheit
zerstören, noch vermeiden kann, wohin unsre innerste Natur uns treibt, reißt, lockt,
unvermeidlich führt und hält; wenn dies uns zerstört und wir mit der Frage
sitzen bleiben: warum? warum mir das, warum ich dazu gemacht? und aller Geist
und alle Kraft uur dazu dient, die Zerstörung zu fassen, zu fühlen oder sich über
sie zu zerstreuen .... Darum finde ich in Goethe's Tasso das tragischste Er¬
eignis). Ganz seiner innersten Natur zuwider muß er sich am Ende an den
halten, der ihm der Abscheulichste ist. Im Kampfe mit der Seligkeit seines Her¬
zens überwunden sie fcihreu lassen und endlich, um das Vernünftige zu ergreisen,
die Seele nach der unnatürlichsten Lage hinrenken." —
Die einzelnen Personen des Kreises, dessen productive Zeit bis zum Tode
des Prinzen Louis Ferdinand reicht, weil später eigentlich nur noch die Traditio¬
nen festgehalten wurden, hat Varnhagen in seiner „Galerie von Bildnissen aus
Rahel's Umgang" (-1836) gezeichnet. Es waren außer dem Prinzen, Gentz und
Marwitz, die Gräfin Schlaberndorf, eine hochgesinnte Fran voll stolzen Welt¬
schmerzes und in psychologischem Raffinement aufgewachsen (starb 1833); Henriette
Mendelssohn, Schlegel's Schwägerin; die Gemahlin Wilhelm's v. Humboldt, die
Herz; in einiger Beziehung stand auch die schone Herzogin Dorothea von Kur¬
land, die sich fast regelmäßig den Winter in Berlin aushielt, und ihre Schwester
Elise von der Recke; Caroline von Woltmann und einige Andere. Unter den
Männern zeichneten sich aus der Fürst von Ligne, Wilhelm v. Burgsdorf, ein
märkischer Edelmann, der Major Gualtieri, der Maler Hans Genelli, eine Reihe
von Charakteren, die, nach ihren Briefen zu schließen, sich alle wenigstens durch
irgend eine geistige Seite auszeichneten; dann die bekannten Tieck, Schlegel,
Fouqu«, der in sehr hohem Ansehen stand und in dessen Sigurd Rahel eine der
größten dramatischen Dichtungen zu finden glaubte; Heinrich v. Kleist, Wilhelm
Neumann n. s. w. Die meisten dieser Männer widmeten Rahel eine ganz un¬
bedingte Huldigung und folgten ihr als einem Leitstern. Bei jüngeren Männern,
wie Varnhagen, der die zwölf Jahr ältere Frau 181i heirathete, verstand sich
das von selbst.
Die Männer, welche dem Kreise seine Richtung gaben, waren Schleiermacher
und Fichte. Es ist das eigentlich eine sonderbare Zusammenstellung. Man wird
nicht leicht zwei Schriftsteller finden, die einen so unbedingten Gegensatz duldeten.
In Schleiermacher findet sich doctriuair ausgesprochen, was Goethe in seiner
Poesie praktisch durchführte: die unbedingte Heiligung des Individuellen, der
Cultus der Eigenthümlichkeit, die Umwandlung' des Lebens in ein Kunstwerk,
welchem Zweck sich sogar die Religion fügen mußte. Schleiermacher war mit
seiner zugleich unendlich anregenden und unendlich receptiven Natur vorzugsweise
für die Frauen gemacht. Seine Reden über die Religion, seine Monologe und
seiue Weihnachtsfeier sind eben so viel Apologien des weiblichen Wesens. —
Fichte dagegen ist ein metaphysischer Revolntionair, der seiner Idee zu Liebe
ohne alle Barmherzigkeit alles Individuelle zu Boden schlägt; und doch nennt ihn
Rahel beständig ihren Herrn und Meister, das zweite Auge Deutschlands neben
Goethe. Wie das zusammenhängt, läßt sich nicht recht ausmachen, vielleicht war
es der religiöse Anstrich seines Enthusiasmus, der trotz seiner Unbestimmtheit
einem weiblichen Herzen imponirte. Er war mit seinen Prophezeiungen einer
neuen Religion im Einverständnis; mit den Romantikern, wenn er sich auch ein
ganz anderes Ziel vor Augen stellte, und in diesem Sinn ist es zu verstehen,
wenn Nadel (1810) sagt: „Die jetzige Gestalt der Religion ist ein beinahe zu¬
fälliger Moment in der Entwickelung des menschlichen Gemüths und gehört mit
zu seinen Krankheiten. Sie hält zu lange an und wird zu lange angehalten.
Beides thut großen Schaden. Besonders ist es jetzt schon närrisch, da dieses
unbewußte Anhalten mit eigensinnigem leerem Bewußtsein «ollführl wird, und wo
Bewußtsein eintreten sollte, wirkliche bewußtlose Starrheit wie eine Krankheit zu
heilen vor uns steht." — Die Abneigung gegen das Christenthum war ein wesent¬
liches Moment der damaligen Romantik, trotz ihrer spätern Bekehrung; Nadel
spricht sich noch ein anderes Mal über die Verkehrtheit aus, den religiösen Idealis¬
mus auf den Begriff der Sinne zu basiren.
Bei der Vorliebe für Fichte sollte man sich eigentlich über die immer wieder
hervortretende Abneigung gegen Schiller mindern, der doch im Princip mit Fichte
auf einem Boden steht. Charakteristisch ist es, was sie einmal über Schiller's
ideale Figuren sagt: „Thekla ist ganz und gar nur die tragische Guru, beide
ohne Knochen, Muskeln und Mark, ganz ohne menschliche Anatomie; so bewegen
sie sich auch, wo gar keine menschlichen Glieder sind, mir aber zum Erstaunen mit
dem Beifall des ganzen deutschen Publicums. Eben fällt mir aber nach langen
Jahren Wunderns ein, daß sich die Leute eben daran ergötzen, diese bei natür¬
licher Gliederung nicht hervorzubringenden Bewegungen zu sehen, und bei diesem
ihrer Moral schmeichelnden Schauspiele der gesunden menschlichen Organisation
vergessen." — Aber ganz das Nämliche würde von Fichte's Moralphilosophie
gelten. In philosophischen Dingen war sie aber überhaupt toleranter, als in
poetischen. Sie sagt einmal, als sie aus Spinoza zu sprechen kommt: „Mir
kommt immer vor, als sagten alle Philosophen dasselbe, wenn sie nicht seicht sind.
Sie machen sich andre Terminologien, und den Unterschied finde ich nur darin,
daß sich jeder bei einem andern Nichtwissen beruhigt, entweder aus einem solchen
seine Deductionen anfängt, oder sie dahin führt, oder, weniger streng, es mit
drunter laufen läßt." — Darin hat sie vollkommen Recht, nur daß jenes Nicht¬
wissen auch der positiven Richtung des philosophischen Geistes einen bestimmten
Charakter giebt.
Mit Jean Paul, der in derselben Zeit bei den Berliner Damen der gefeierte
Liebling war, hat Nadel wenig zu thun gehabt; er war ihr zu weichlich. In
dem Briefwechsel findet sich ein auffallend verrückter Brief, in welchem er sie an¬
betet. Eben so zuwider war ihr die StaÄ, deren schnelle, hastige Cvmposttions-
gabe ihrem unendlich nach Ruhe lechzender Gemüth unerträglich wurde. Wir
wollen noch anführen, daß sie unter den früheren Schriftstellern in der Paradoxie
des Denkens und Empfindens Hamann am nächsten stehen dürste, und daß sie
selber auf Börne, den Zögling ihrer Freundin Henriette Herz, trotz seiner ab¬
weichenden Form einen sehr entschiedenen Einfluß ausgeübt hat.
Zum Schluß wollen wir noch die Ansicht der 'merkwürdigen Frau über das
gegenwärtige Zeitalter anführen: „Es ist eine wunderliche und wirklich mystische
Zeit, in der wir leben. Was sich den Sinnen zeigt, ist kraftlos, unfähig, ja
heillos verdorben; aber es fahren Blitze durch die Gemüther, es geschehen Vor¬
bedeutungen, es wandeln Gedanken durch die Zeit, es zeigen sich wie Gespenster
in mystischen Augenblicken dem tiefern Sinn, die auf eine plötzliche Umwandelung,
aus eine Revolution aller Dinge deuten, wo alles Frühere so verschwunden sein
wird, wie nach einem Erdbeben in der ganzen,Erde, während die Vulkane und
entsetzlichen Ruinen eine neue Frische emporheben, und der Mittelpunkt dieser
Umgestaltung wird doch Deutschland sein, mit seinem großen Bewußtsein, seinem
noch fähigen und gerade jetzt keimenden Herzen, seiner sonderbaren Jugend."
Fünf Wochen auf See machen den I^anämau nicht zum Se-umhin, aber
sie vertreiben die leidige Krankheit und rufen die verlorene Heiterkeit zurück.
Das waren schöne Tage und noch schönere Abende, als das Schiff dem Wende¬
kreise des Krebses sich näherte, und das Auge sich bemühte, jene Inseln zu
erspähen, welche ihren Entdecker zum glücklichsten der Sterblichen machten. Eine
Woche vorher war der Aufenthalt in unsrem Steerage wegen der erstickenden
Ausdünstungen nichts weniger als angenehm gewesen, und noch einige Zeit zurück
trieb uns die dumpfige Atmosphäre, vereinigt mit der Kälte der europäischen
Decembertage hinauf aus das Verdeck, wo uus Wind, Wetter und ein noch höherer
Grad von Kälte mit offenen Armen empfingen; aber es war eine Umarmung ohne
Herzlichkeit, sie wurde daher um mit Kälte erwiedert, und nicht lange darauf
machte sich der Eine und dann der Andere los und schlich hinab in sein dunkeles
Versteck, um die vermißte Wärme im Bette zu suchen, und, wenn möglich, auch
die Ungemüthlichkeit zu verschlafen. Nach und nach wurde die Kälte geringer,
aber die Ausdünstung stieg zu einer fast unerträglichen Hitze. Unser Capitain, der
bisher nur leblose Waaren an Bord geführt, hatte nicht die nöthige Erfahrung,
welche ihn über die Abhilfe dieser Uebel hätte belehren können. In dieser Noth,
die noch durch den Zuspruch von allerhand ungebetenen Gästen vermehrt wurde,
kamen die Vernünftigere» der Steerage-Passagiere aus den Einfall, ihre Behausung
zu scheuern; das Mittel half; der Dunst verminderte sich in einem so hohen
Grade, daß das Scheuern zum Gesetz erhoben wurde, und daß nun auch die
Bewohner des Zwischendecks gezwungen wurden, dieselbe Methode der Reinigung
in Anwendung zu bringen. 'Wenn nun dadurch der Aufenthalt in dem unteren
Raume eiuen großen Theil des Abschreckenden verloren holte, so wurde er doch
jetzt weit weniger gesucht als früher; denn in noch höherem Grade hatte das Verdeck,
während das Schiff, von dem milden Passatwinde getrieben, seinen Lauf in süd¬
westlicher Richtung fortsetzte, eine Meuge von Reizen entwickelt, gegen welche
weder die Schwachen noch die Starken unempfindlich bleiben konnten — die Reize
eines westindischen Januars.
Es war ein heiterer Jannarmorgen — der gelbe Kaffee mit dem dunkelbraunen
Schiffsbrode hatte die nüchternen Magen gefüllt, die zum Mittagsmahle bestimmten
Kartoffeln waren geschält, das Verdeck war gewaschen, der Wind blies ruhig und
ununterbrochen in die geschwollenen Segel, und die steigenden und sinkenden
Wellen vermochten nicht das Schiff in so große Schwingungen zu versetzen, daß
dadurch das Gehen, Stehen und Sitzen bedeutend erschwert worden wäre. Ans
der Capitainscajüte, an den Seitenwänden, um die Masten herum, auf dem
Schiffsschnabel saß die Bevölkerung, in größeren und kleineren Gruppen vereinigt.
Mit gespannter Aufmerksamkeit waren alle Blicke nach vorn gerichtet. Endlich
zeigte sich am Horizonte eine Wolke, und eine halbe Stunde später konnten wir deutlich
Berge und Thäler, Bäume und Häuser unterscheiden. Von dem Lande löste sich ein
Kahn; bald tanzte er auf der Spitze der Wellen, bald versank er in die Tiefe und
verschwand unsren Blicken, dann stieg er wieder empor, und immer näher und
näher kamen sie angefahren sieben Schwarze und ein Weißer. Wir hatten von
süßen Südfrüchten und von frischem Fleische geträumt, aber statt dessen tönte uns
vom Steuer des Bootes entgegen: vo z?c>u v-iirl g, Mol? ,M" war die prosaische
Antwort unsres Capitains ans die prosaische Frage — prosaisch im eigentlichen
Sinne: denn sie gab nicht allein der Einbildungskraft nicht die dürftigste Nahrung,
sondern zerstörte noch die Bilder, welche unsre Phantasie in den lebhaftesten
Farben gemalt hatte. Europa war nach und uach sür uus in deu Hintergrund
getreten, aber die Stelle, welche unser heimatlicher Welttheil verlassen hatte, war
noch nicht durch ein neues Vaterland ersetzt. Der Vordergrund war leer, eine
einförmig bewegte Wasserfläche — da erheben sich langsam in undeutlichen Um¬
rissen die Felsen von Kolumbus' Inseln, das Bild gewinnt einen Vordergrund,
und alle Gedanken, alle Gefühle concentriren sich auf das neue Schauspiel. Amerika/
das Ziel unsrer Hoffnungen, unsers Sehnens ist erreicht, unsre Blicke ruhen auf
amerikanischer Erde, aus amerikanischen Bergen und Thälern, ans amerikanischen '
Menschen; Thränen der Freude in den Augen reichen wir uns die Hände, weh¬
müthig denken wir an unsre fernen Verwandten und Freunde, und freuen uus,
in unsre Tagebücher die Notiz eintragen zu können: hente betraten wir zuerst,
wenn auch nur wenige Stunden, amerikanischen Boden. Da hören wir die
Stimme des amerikanischen Lootsen; unsre Blicke hängen an dem Munde des
Capitains, als ob er ein Urtheil über Leben und Tod aussprechen sollte, wir
erwarten von der Humanitär des Capitains den günstigen Ausspruch — er hatte
sich stets so freundlich, so gefällig bewiesen — da ertönt das verhängnisvolle
„M", wir erwachen aus einem süßen Traume,,und sehen traurig, wie sich-das
Schiff, und mit demselben die Bewohner, von dem Lande entfernt; der Vordergrund
tritt wiederum zurück, vor uns wiederum eine endlose Wasserfläche, hinter uns
eine westindische Jusel in undeutlichen Umrissen.
So hatte die Ankunft in Amerika viel Aehnliches mit der Abreise von Europa.
Wir hatten Bremerhaveu verlassen und dem deutscheu Vaterlande Lebewohl zu¬
gerufen, und erst acht Tage später verloren wir das Land ans den Blicken; jetzt
begrüßten wir die amerikanische Erde, und mußten noch über eine volle Woche
warten, ehe wir den Fuß von dem schwankenden Schiffe ans das Festland setzen
konnten. Ganz ähnlich war auch der Eindruck, den diese Verzögerungen in beiden
Fällen auf unsre geistigen Stimmungen ausübten. Acht Tage später hatten wir
deu Boden von Amerika wirklich unter unsren Füßen, aber wir waren nicht
fröhlich, nicht im geringsten so fröhlich, so gemüthlich aufgeregt, als damals, als
unsre Blicke die erste amerikanische Jusel erspähten, obgleich uus zu jeuer Zeit
wohl bekannt war, daß wir uoch einen ziemlich weiten Weg bis zum Festlande
zurückzulegen hatten, und daß uns während dieser Zeit noch Unglück über Unglück
heimsuchen konnte. Diese Befürchtungen waren, als wir später amerikanischen
Boden betraten,, weggeräumt, aber wir waren sinnend und in uns gekehrt, wir
hatten uns an deu Gedanken, unser neues Vaterland erreicht zu haben, gewohnt,
und unser Geist war mit der Lösung der Ausgabe beschäftigt: was werden wir
in Amerika anfangen?
Von den Tnrks-Islands segelten wir nun südwestlich und daun westlich durch
deu Canal zwischen Haiti, Cuba und Jamaica, dicht an der Küste von Cuba
entlang, und ergötzten uns an den Gebirgen und Wäldern, und an den Schluchten
und Bächen, welche vou deu Bergen nach dem Meere herabliefeu. Wir hatten
Zeit genug, um alle diese Erzeugnisse der rohen Naturkräfte, leider nnr aus der
Ferne, zu betrachte«; uoch mehr Zeit und Mühe verwandten wir aber auf das
Auffischen von Holz und Kräutern, welche an unsrem Schiffe laugsam vorbeitriebeu.
Nachmittags hatten wir meist Windstille, und das Meer war oft so eben wie ein
Spiegel. Da versammelten sich die Steeragepassagiere mit einigen befreundeten
Bewohnern der Capitainscajüte auf dem obern Decke; in bunten Gruppen auf
dem Fußboden sitzend oder hingestreckt, mitten unter uus der Capitain, spielten
Einige Whist oder Sechsundsechzig, während Andere durch Nath und That die
Spieler unterstützten, indem sie die Stiche in Empfang nahmen, die leicht beim
Eintritt von etwas Zugluft über Bord geführt werden konnten. Die Franc»
strickten und klatschten und wurden in der letzten edlen Beschäftigung vielfach
von den müßigen Herren unterstützt, Alle aber hatten neben sich eine Tasse
schwarzen Kaffee oder Chocolade stehen und auf der Tasse ein Stück Kuchen; es
war ja heute ein großes deutsches Fest, ein deutsches Kaffeepickenick, wozu Jeder
seinen Theil beigetragen hatte, um seine Reisegefährten zu ehren und ein Denkmal
aufzubauen für jene Zeiten, wo die Steeragebewohner friedlich, heiter und froh
eine große Familie bildeten — vielleicht noch eine Woche und die Familie war
nach allen Himmelsrichtungen aus einander gesprengt.
In der Fischerei, die sich aber weniger aus Fische, als auf alle nur möglichen
Gegenstände bezog, welche im Meereschwammen, wurde ich getreulich durch einen
jungen deutschen Kaufmann unterstützt. Dieser hatte von einer der 8t<zeiÄss«z-1-Mes
ein kleines Netz zum Geschenk erhalten, und ich hatte mir von Draht ein mit
vielen Haken versehenes Instrument zurecht gemacht, welches ich an einer, Schnur
befestigt nach den Gegenständen warf, die ich zu erHaschen wünschte. Viele Würfe
verfehlten allerdings ihren Zweck, und wenn ein Wurf einmal mißlungen war, so war
gewöhnlich ein zweiter Wurf nutzlos, indem der Gegenstand sich während der Zeit
aus meinem Bereiche entfernt hatte. Dessen ungeachtet gelang es mir, mehrere
Arten von Seetang, LeaveeÄ von den Matrosen genannt, aufzufischen. An
manchen Stellen war diese Fischerei sehr leicht, da wir durch breite schwimmende
Inseln, oder durch lauge, unabsehbare, schnurgerade Linien, die nur aus diesen
Seaweed bestanden, hindurchsegelten. Mein Gefährte fing unterdessen fliegende
Fische und Blasenquallen, von den Seeleute» ?ol'tussue8«z wen ok v^ar genannt.
Letztere entzückten das Auge durch die Farbenpracht und den Atlasglanz, welchen die
auf dem Wasser schwimmende Blase entsendet, überraschten aber noch mehr durch
die langen blauen und rothen Fäden, welche wie Perlenschnüre von den Blasen
in das Meer hinabhingen und die berührende Hand dafür, daß sie dieselben
ihrem Elemente entrissen hatte, mit einer Entzündung straften. Vor uns her
erhoben sich vou Zeit zu Zeit Schaaren von fliegenden Fischen, um sich nach einem
Fluge von 100 bis 200 Fuß, sobald sie dem feindlichen Schiffe entgangen zu
sein glaubten, wie aufgescheuchte Sperlinge an einer andern Stelle wieder nieder¬
zulassen. Diese in Herden gesellig lebenden Fische waren blau und weiß, und
von 2 — 3 Zoll Länge; eine andere Art war von der Größe der Heringe und
lebte einsam.
Das Island of Pirch war hinter uns, und wir segelten eben um Cap Se.
Antonio herum, um das westindische Jnselmeer aus immer zu verlassen und in
nordwestlicher Richtung der Mündung des Mississippi und dem Festlande von
Amerika zuzusteuern, als der Tod dem jungen Leben eines Kindes ein Ende
setzte, welchem, schon krank auf das Schiff gebracht, nicht vergönnt war, die neue
Heimath seiner Aeltern und Geschwister mit eigenen Augen zu sehen. Obgleich
wir sicher hoffen durften, daß wir in wenigen Tagen die Küste des Festlandes
erreichen würden, so gab doch der Capitain den Bitten der Aeltern, welche ihr
dahingeschiedenes Kind der Mutter Erde, und uicht dem unsteten wässerigen
Elemente anzuvertrauen wünschten, nicht nach, und die Aeltern sahen sich genöthigt,
ihr Vorurtheil fallen zu lassen, und den weiten mexikanischen Meerbusen als
großes Grab des kleinen Lieblings zu ehren. Am frühen Morgen des folgenden
Tages brachte der erste Steuermann den Leichnam in weißes Segeltuch gehüllt
und mit Ketten beschwert, auf ein kleines Bret befestigt, ans der Tiefe des
Zwischendecks auf das obere Deck; er legte den entseelten Körper auf ein langes
Bret, welches über das Bord hinausgeschoben wurde; das Kommando des Capi¬
tals hieß das Schiff sich drehen, so daß der . Wind an der Fläche der Segel
entlang streifte und das Gebäude bewegungslos machte; alle Bewohner standen
lautlos bei der bisher ungekannten Todtenfeier — da flatterten die Segel, die
Leiche glitt herab von dem Brete in die Wogen und verschwand nach wenigen
Augenblicken in die Tiefe; noch einige Augenblicke später steuerte das Schiff in
der frühern Richtung; die Matrosen gingen an ihre gewohnten Arbeiten, und
die Passagiere stellten sich in Gruppen zusammen, um über das Geschehene ihre
Meinungen und Gefühle auszutauschen. — So war zwar durch diesen Todesfall
die Zahl unsrer Reisegesellschaft um 1 verringert, aber die Zahl war schon früher
durch eine Geburt ergänzt, und als wir einige Tage später in die Mündung des
Mississippi einfuhren, war die ursprüngliche Zahl um 1 überschritten.'
Ich hatte mir schon beim Beginn der Reise in den Kopf gesetzt, daß wir
an einem bestimmten Tage, meinem Geburtstage, landen oder wenigstens das
Land in Sicht haben würden; einer oder der andere meiner Freunde fand diese
Voraussetzung sehr fraglich, aber ich hegte eine solche Zuversicht, daß ich, natürlich
nicht um so nud so viel Pfund, sondern um eine Kleinigkeit wettete. Als wir
Cap Se. Antonio passirten, ergab die Wahrscheinlichkeit immer noch, daß ich meine
Wette gewinnen würde, und auch der Capitain sprach mit einem gewissen Grade
von Ueberzeugung aus, dies würde der Tag unsrer Ankunft sein, sobald kein
unvorhergesehenes Hinderniß sich entgegenstellen würde. Der Morgen des viel
besprochenen Tages kam: man gratulirte mir zum Geburtstage, zum Gewinn der
Wette und zu dem Glücke, welches mich nach dem Eintreffen meiner Prophezeiung
nothwendig in Amerika heimsuchen müßte, Alle gratulirten sich aber außerdem
zur glücklichen Ankunft und zur Erfüllung ihrer Wünsche. Dies geschah am
Morgen des Tages, in dessen zweiter Hälfte uns die flachen Ufer des Mississippi
in Sicht kommen sollten. Aber wir hatten unsre Rechnung ohne den Wirth
gemacht. Mittag kam an, und mit ihm rückte das Land auch näher und näher;
aber zwei Stunden-später stellte sich eine vollständige Windstille ein; die Segel
schlugen langsam, dem Wiegen des Schiffes folgend vorwärts und rückwärts, das
Meer begaun sich zu ebenen, und das Schiff schlich dahin, als ob es mit einer
Schnecke einen Wettlauf eingegangen wäre. Wenn überhaupt jede Windstille auf
die Seeleute und aus die Passagiere denselben Eindruck macht, wie das Stillstehen
der Räder aus den Müller, den Eindruck der Leblosigkeit, so kam in unsrem
Falle noch die Verstimmung wegen getäuschter Hoffnung und wegen des Verlustes von
Zeit, von unersetzbarer Zeit hinzu. Schon früher hatten wir, besonders so lange wir im
mexikanischen Meerbusen zwischen den Inseln dahin sichren, manchen Nachmittag still
gelegen, aber die Zeit erschien uns nicht als verloren, da sie durch einige Stunden guten
Wind vollständig ersetzt werden konnte — gerade wie ein Spieler sich durch eiuen
anfänglichen Verlust nicht leicht die gute Laune nehmen läßt, da er hofft, daß
er das Verlorene im Verlauf des Spiels wieder gewinnen kann; naht aber das
Spiel seinem Ende, setzt er zum letzten Male ein, dann erwartet er mit Angst
den Ausgang, und geht, wenn das Glück ihm nicht wohl wollte, verstimmt
von bannen.
Trotzdem, daß ich durch die eingetretene Windstille mehr verlor als die
Anderen — die Ehre des Propheten und die Wette—,so kann ich doch nicht sagen, daß
sie mich übler berührte, als meine Reisegefährten/ Während die meisten meiner
Freunde die Reise als Mittel zur Erreichung ihres Zwecks ansahen, war sie sür
mich Selbstzweck. Jene hatten ihr Vaterland verlassen, um in Amerika das zu
suchen, was sie in Europa nicht zu finden glaubten: sie gingen sort, um aus
fremdem festem Boden ihr Glück zu machen, und da sie dies eben auf festem
Boden suchten, so war für sie die wogende See nicht mehr als Perlen sür den
Hungrigen — ich im Gegentheil konnte, wenn ich nach der Triebfeder meines
Thuns forschte, Nichts anderes herausfinden, als das Streben nach Veränderung,
ein Trachten nach ungewohnten Anschauungen. Solche fremdartige Anschauungen
hatte mir die See bis jetzt in reichem Maße geboten. Wenn in den früheren
Stadien der Reise bisweilen der Wind von der gewünschten Richtung abwich,
oder wenn er von der mühsamen Anstrengung, mit welcher er unser Gebäude
zehn engl. Meilen in der Stunde forttrieb, erschlafft sich der Ruhe überließ, da
klagte wol der Eine über Zeitverlust, während ein Anderer ohne ein Wort zu
sagen, sich in seine Koje verkroch, um Aerger und Langeweile zu verschlafen, und
wenn ich dann in die allgemeine Verstimmung nicht einstimmte, sondern in der
gewohnten Weise meine Geige sortspielte, so hielten dies die Anderen erst recht
für einen Verstoß gegen jede Harmonie.
Der launische Wind hatte meine Prophezeiung zu Schanden gemacht, aber
er grollte nicht lauge. Den folgenden Morgen war Alles ringsumher noch Wasser,
keine Spur von Land, kein Baum, kein Haus; aber der See war trübe, nicht
so frisch grün, wie wir sie vorher zu sehen gewohnt waren, milchig von aus¬
geschwemmter Erde: Sah man aber senkrecht an den Seitenwänden oder an dem
Steuerruder des Schiffes herab, so zeigte sich das Meer mit seiner vollen Klarheit
in einer langen schmalen Linie. „Das ist der Mississippi!" rief uns der Capitain
zu, der uns wohl ansah, daß wir das Räthsel nicht zu lösen vermochten. Viele
Meilen in die See hinein sendet dieser gewaltige Strom sein trübes Wasser, ohne
es mit dem klaren Elemente des Meeres zu vermischen; unten salzig und klar,
oben süß und trübe, ohne ihre gegenseitige Lage auszugeben, schlagen die Wellen
empor, um im nächsten Augenblicke eben so tief hinabzusinken; führt aber der
Kiel des Schiffes hindurch, so theilt er die obere Schicht; rechts und links weicht
der Mississippi aus, und in den verlassenen Raum tritt er unter das grüne Wasser
des Meeres. Immer schmaler und schmaler wurde der grüne Streifen, bis er
allmählich Farbe und Klarheit verlor; das Meer war hinter uns, und in weiter
Ferne entdeckte das spähende Auge die flache Küste des Festlandes von Amerika.
Land! zum letzten Male: Land! Aber hat mir der geringe Theil von Phan¬
tasie, womit die Natur mich ausgestattet hat, wiederur'n ein Trugbild vorgehalten?
Lange, lange vorher, ehe ich daran dachte, daß mein Fuß einmal den gesegneten
Boden Amerika's betreten sollte, träumte ich von dem himmlischen Gefühl, welches
sich der Herzen der Auswanderer bemächtigen mußte, wenn sie nach wochenlanger,
enger Einkerkerung zwischen den Planken eines gebrechlichen Schisses, rings-
nmgeben von dem unsteten, bodenlosen Meere, den mannichfachsten Entbehrungen
unterworfen, von der Spitze des Mastes, wie vom Himmel herab der Ruf: Land!
Land! vernehmen, wenn dann nach einem kurzen Zwischenraume zuerst als eine
ferne Wolke, dann immer klarer und klarer die Hügel und Bäume am Horizonte
ans dem Meere hervortauchen, wenn von derselben Richtung her ein Kahn sich
ihnen nähert, wenn die Bewohner des ersehnten Landes ihnen gastfreundlich die
Hand entgegenstrecken, und sich, als neue Landsleute, als Freunde, als Brüder
bewillkommnen. Nichts von Allem dem! Kein Matrose bestieg den hohen Mast
und spähte gierig nach Land. Wozu auch dieses? Der Capitain wußte ja genau,
um welche Stunde, sobald der Wind mit derselben Kraft und in derselben Rich¬
tung cmsdanerte, das Laud in Sicht kommen würde; er hatte oft und abermals
sein Heimathsland verlassen und war auf demselben Wege mit Hilfe von Compaß
und Quadrant aus dem fernen Welttheile dahin zurückgekehrt; er hatte die
Passagiere von der Annäherung der Küste in Kenntniß gesetzt — also keine
Ueberraschung! Anstatt der geträumten Freude prägte sich aber eine Beklemmung,
eine Aengstlichkeit, eine eigenthümliche Verlegenheit in den Gesichtszügen eines
Jeden aus. „Noch eine kurze Spanne Zeit", dachten sie, „so sind wir der
Vormundschaft des Capitains enthoben, so sind wir selbstständig, aber selbstständig
in einem fremden Lande, ohne Kenntniß der Sprache und der Sitten der Ein¬
wohner; wo werden wir, wenn wir mit Koffern und Kisten, mit Frau und Kin¬
dern abgesetzt sind, unser müdes Haupt hinlegen? wer wird unser Hab' und
Gut vor Dieben und Betrügern schützen? wer wird uns freundlich ohne eigen¬
nützige Absichten mit Rath und That beistehen? wer wird uns Pflegen, wenn wir,
des Klima's und der fremden Nahrung ungewohnt, von Krankheit heimgesucht
werden? wo werden wir Arbeit und Verdienst, oder wo den Boden finden, der
uns für die fernere Zeit unsres Lebens Speise, Trank, Kleidung und alle sonstigen
Bedürfnisse, welche das Leben erfordert, darbieten soll?" „Wir wissen es nicht,"
sagten kleinmüthig die Einen, während in dem Geiste Anderer eine Menge von
Zweifeln aufstiegen: ob die Verwandten und Freunde, von denen sie Rath und
thätige Hilfe erwarteten, noch lebten; ob sie, wenn sie noch lebten, noch so
freundschaftlich, so vertrauungsvoll gesinnt wären, wie früher; ob sie, wenn wirklich
die alten Gesinnungen noch in ihnen wohnten, die Gelegenheit und Kraft besäßen,
um den Anforderungen der deutschen Freunde genügen zu können. — Das waren
unsre Gedanken, unsre Gefühle — kein Wunder also, wenn sich nichts von Jubel
und Jauchzen hören ließ, wenn vielmehr die Meisten still und in sich gekehrt,
nach dem auftauchenden Lande blickten und, ergeben in. ihr Geschick, erwarteten,
was es von nun an über sie beschließen würde.
Wenn schon im atlantischen Ocean a fait in 8iM keineswegs zu den Selten¬
heiten gehört, aber doch noch nicht eine so alltägliche Erscheinung ist, als daß
sie nicht, wenn ihre Bahnen sich treffen, einander die traulichen Fragen: ^Vuers
Ap zun ebens trou? ^Voers ne> z?ein to? Mdat ItMwüe? zurufen sollten, so
ist im mexikanischen Meerbusen häufig die Zahl derjenigen, welche man zu gleicher
Zeit übersehen kann, so groß, daß die Einer zur Zählung nicht mehr ausreichen;
aber am Ausflusse des Mississippi war ihre Zahl Legion. Da kamen sie von
Mexiko und deu westindischen Inseln, von New-Uork und Baltimore und von
den Häfen der alten Welt, dort zogen Andere nach den Bestimmungsörtern zu,
welche Jene verlassen hatten, Viele in weiter Ferne, Andere so nahe, daß ihre
Planken sich fast berührten, mitten hindurch aber sausten und ächzten die einstöckigen,
mit hohem Bord versehenen Steamships, und die Tow-boats (Schleppschiffe), Mich
zum Tanze geschmückt, in weißen Gewändern mit grünem Besätze, doppelt so
hoch als ihre Tänzerinnen, umschwärmten die Segel und stritten mit einander
um die Ehre, diese oder jene der Damen ihrem Ruheplätze, dem Hafen von
New-Orleans, zuzuführen. Nicht zufrieden mit einer bot mancher übergalante
Tänzer einer zweiten den andern Arm, und wenn er auch noch so stöhnte und
seufzte, so ließ er sie doch nicht eher wieder los, als bis er deutlich sah, daß der
reißende Strom sie trotz aller Mühe in jeder Minute einige Fuß zurücktrieb.
So wurden auch wir engagirt.' Dem Tow-boat zur rechten hing unser
Schiff, zur linken eine schwedische Brigg, mit Wein beladen, den sie aus Marseille
der Hauptstadt des amerikanischen Südens zuführte. Jetzt zogen wir ein zum
„Vater der Gewässer", dem stolzen Mississippi; rechts und links Wald, hier und
da ein einzelnes Loghouse, von Holzschlägern bewohnt, dort ein Fort, um dem
Feinde den Eintritt in das Innere des Landes zu verwehren. Weiter hinauf
machte hier und da der Wald einer Zuckerplantage Platz; in derselben das niedrige,
aber geschmackvoll gebaute Herrschaftshaus, und in geringer Entfernung davon
lange Reihen von hölzernen, weiß angestrichenen Häuschen, den Wohnstätten der
Neger. Hunderte bewohnten hier gemeinschaftlich das freundliche Dörfchen; aber
das Dörfchen war heute wie ausgestorben, leer wie das Feld; desto lebendiger
aber war das Ufer. Es war ein Sonntag, ein Tag der Frende, den der Schwarze,
von jeder Arbeit für seine Herrschaft entbunden, nach eigenem Ermessen für sich
verwenden darf. Hier wuschen Negersrauen am User ihre Wäsche, hier spielte eine
Schaar von schwarzen Kindern, dort war eine Gesellschaft mit Fischen beschäftigt, und
hier wieder schlenderte ein schwarzer Gentleman in schwarzem Leibrock und blendend
weißen Beinkleidern, mit handbreit hervorragenden Hemdärmeln und Halskragen,
um den krausen Wollkopf ein roth und' weiß gestreiftes Tuch gebunden und über
demselben einen schwarzen Hut, am Arme seiner eben so schwarzen Geliebten
dahin, alle heiter und froh, singend und lachend — ein vollständiger Widerspruch
mit dem Bilde, welches wir uns in Deutschland von dem Leiden der Negersclaven
entworfen hatten.
Mühsam ächzte und stöhnte unser Tow-boat, rüstig drehten sich die Schaufel¬
räder und die Schornsteine spieen Funken umher, so daß hier und da die Segel
unsres James Feuer fingen — aber stundenlang hatten wir dieselbe Plantage in
Sicht, und bisweilen kam es uns vor, als ob wir rückwärts statt vorwärts kämen.
Jetzt erst sah unser galanter Führer, daß seine Kraft mit seinem Muthe nicht
aufkommen konnte, und mußte nun der bestimmten Forderung der beiden Capitaine
und der Nothwendigkeit sich fügen; das schwedische Schiff, vom Schlepptau gelöst,
warf Anker, während das Tow-boat zuerst uns dem Hafen zuführte, um dann
dieselbe Bahn nochmals mit der zurückgelassenen Schwedin zu durchlaufen.
Je mehr wir uns der Halbmondstadt näherten, desto seltener wurde der
Wald und desto häufiger die Plantagen; endlich blieben auch diese aus und an
ihrer Stelle erschienen Lusthäuser und Fabriken, Niederlagen und Schiffswerft?.
Die Stunde der Landung mußte bald heranrücken; meine Koffer waren bald
gepackt, und ich kom.nec bald ungestört, mit Ausnahme einer kurzen Zeit, während
welcher ich ab und zu meine Reisegefährten in ihren mannichfachen Bemühungen,
ihr Gepäck zum Ausräumen zurecht zu legen, unterstützte, die wechselnden, bunten
Scenen des Ufers betrachten. Da war ein Leben im Zwischendeck, wie es noch
nie gewesen war — ein Chaos von Kisten und Koffern, von Säcken, Matratzen,
Eß - und Trinkgeschirren; Alles sollte von einander geschieden und wiederum mit
anderen aus den möglichst kleinen Raum zusammengedrängt werden; hier fehlte
ein Tuch, dort ein Hut, hier ein Stiefel, dort ein Geschirr, hier fehlte es an
Raum, dort an Kraft; aber Zeit und Menschenhände überwanden die Schwierig¬
keiten; noch ehe das Schiff anlegte, sogar noch ehe wir in den dichten Wald von
Masten und Schornsteinen — ein Anblick, wie ihn nur amerikanische und englische
Häfen bieten können — eingelaufen waren, stand das gesammte Schiffspersonal
auf dem Deck und erwartete den Moment, wo unsre bisherige Heimath sich an
die zukünftige anschließen, wo unser James Edward zum ersten Male an dem
Festlande der Vereinigten Staaten von Nord - Amerika anlegen sollte. Aber wel¬
ches Wunder! Wer sind die Herren und Damen, welche festlich geschmückt von
unsrem Deck herab in gespannter Erwartung dem Drängen und Treiben der
bunten Bevölkerung zuschauen? wo sind sie hergekommen? sind sie vom Lande
herübergezaubert, oder der dunklen Tiefe entstiegen? Der Tiefe sind sie entstiegen,
aber weder der höllischen Tiefe, noch dem Schooße des Vaters der Gewässer:
das Zwischendeck des James Edward hat sie heraufgesandt: es sind unsre alten
Freunde, die Stecrage- und Zwischendeckpassagiere, unsre treuen Gefährten, welche
sich anschicken, ihr Haus zu verlassen. Die alten, schon in Deutschland abgetra¬
genen Lumpen, welche nach siebenwöchentlicher enger Berührung mit Theer
und Schmuz, mit Speise und Trank, mit Nägeln und Haken ihrem Begriffe
jetzt erst recht entsprachen, waren über Bord geworfen den Fluthen übergeben,
oder hatten in irgend einem Winkel der Cojeu ein bescheidenes Plätzchen gefunden;
die Bärte waren der Schärfe des Messers gewichen, und anstatt der deutschen
Mützen prangte ein wvhlgebürsteter schwarzer Hut auf den Köpfen der Gentlemen
während die Ladies Hut und Schleier horvorgesncht hatten — kurz unsre Aus¬
wanderungsgesellschaft machte dem deutschen Vaterlande (wenn Kleider den ameri¬
kanischen Gentleman machen) nur Ehre. Allein deu deutschen Bauer konnten
die hohen, blanken Stiefeln und der blaue, lange Nock, die breitdecklige Mütze
und die plumpe Haltung nicht verläugnen, und den aufmerksamen Beobachter
konnten auch alle übrigen Passagiere nicht täuschen, wenn er die frische Gesichts¬
farbe, die von Gesundheit strotzenden Backen mit den hagern, blassen Gesichtern
der Amerikaner verglich.
Die Sonne hatte in Amerika ihren Lauf noch nicht beendet, während sie
sich in Deutschland schon längst zur Ruhe begeben hatte, da kündigte ein Stoß,
der das Gebäude erzittern machte, und zu gleicher Zeit ein Rasseln an den Tauen
die Landung an — jetzt erst wäre es Zeit gewesen, den Ruf Land! Land! er¬
tönen zu lassen — einige Breter bildeten bald eine Brücke, und wenige Minuten
später hatten wir festen Boden unter unsren Füßen, — seit zwei Monaten zum
ersten Male wieder festen Boden; aber wir schwankten nicht, und gingen auch
nicht mit ausgespreizten Beinen, wie uns von denen prophezeit worden war,
welche einmal eine Seereise unternommen hatten, und mit der Wichtigkeit und
dem Einflüsse eines solchen Unternehmens renommirten — wir gingen gerade und
fest aus amerikanischem Festlande, wie wir in Deutschland gewohnt gewesen waren.
Wir durften an diesem Tage unser Gepäck noch nicht aus dem Schiffe fort¬
schaffen, weil erst am folgenden Morgen die Steuerbeamten uns ihren Besuch
zugedacht hatten; hingegen war es jedem Einzelnen gestattet, in eigener Person
und mit so viel von seinem Hab' und Gut, als er unter den Armen tragen konnte,
das Schiff zu verlassen. Die meisten der Passagiere, vornehmlich diejenigen,
welche nicht längere Zeit in New-Orleans zu bleiben gedachten, zogen es vor,
die Nacht auf dem Schiffe zuzubringen, theils um der Unbequemlichkeit, welche
das Aufsuchen eines Gasthauses verursacht, zu entgehen, theils auch, um ihre
Habseligkeiten während der Nacht zu schützen. Da nun so viele Wächter auf
dem Schiffe blieben, so konnte es mancher Andere, unter ihnen auch ich, leicht
wagen, sich von dem Gepäcke zu trennen, sobald wir nur Einen oder den Andern
unsrer Freunde um die Gefälligkeit baten, auf unser Gepäck etwas Acht zu geben.
Diese Vorsicht stellte sich auch in der folgenden Nacht als völlig nothwendig her¬
aus; denn als wir am andern Morgen unsre alte Wohnstätte besuchten, erzählte
man uns, daß sich während der Nacht Diebe hereingeschlichen hatten, daß diese
aber noch zeitig genug bemerkt, gefaßt, tüchtig durchgebläuet und dann wieder
entlassen worden wären. Durch die Sprache hatten sich die Diebe als Lands¬
leute verrathen.
Ich hatte mich einer Familie angeschlossen, die ich schon in Deutschland zu
meinen Bekannten zählte; mit dieser verließ ich sogleich nach der Landung das
Schiff, um eiuen nahen Verwandten derselben, welcher sich um diese Zeit in der
Eigenschaft als Musiklehrer in New-Orleans aufhielt, auszukundschaften. Der
Tag neigte sich seinem Ende zu; dessen ungeachtet beschlossen wir, den Versuch zu
machen. In einem frühern Briefe hatte der Musiklehrer den Seinigen mitgetheilt,
daß er in einem deutschen Boardinghause logirt, und daß er den Wirth als ehr¬
lichen Mann und die Wirthschaft wohl eingerichtet und wohlfeil befunden habe;
er hatte uns den Namen der Straße angegeben, und daher waren wir fest über¬
zeugt, daß unsre Bemühungen durch eiuen glücklichen Erfolg gekrönt werden
würden. Se. Philip - Street war bald gefunden. Da ich der englischen Sprache
mächtiger war, als meine Begleiter, so unternahm ich es, in einigen öffentlichen
Localen mich nach der bezeichneten Adresse zu erkundigen; Niemand wollte Etwas
davon wissen, bis mir endlich eine Dame, welche aus einem Fenster des untern
Stockwerks eines Hauses heraussah, den Bescheid gab, daß das fragliche Boardiug-
haus nicht mehr existire. Zwar war dies nur ein negativer Bescheid, aber doch
immer besser, als gar kein Bescheid; ich beeilte mich daher, das Resultat meiner
Forschungen der Gesellschaft mitzutheilen, fand sie aber wegen der schwer zu be¬
friedigenden Anforderungen, welche die Kinder an sie stellten, theils wegen des
ungenügenden Ausfalls meiner Erkundigungen höchst übel gelaunt, und der Gentle¬
man warf mir geradezu vor, ich habe es nicht recht angefangen, denn er wisse
ganz genau, daß das besagte Boardinghaus in der besagten Straße liege, und
deshalb müsse es auch zu finden sein. Natürlicherweise war ich über dieses Mi߬
trauungsvotum nicht gerade entzückt, hielt aber an mich, und forderte meinen Freund
auf, selbst aus Erkundigungen auszugehen. Er that es; da er aber weder eng¬
lisch noch französisch sprechen konnte, so kam er erst recht zu keinem Resultate.
So war ich gerechtfertigt, und in Folge dessen glaubte ich eine zweite Entdeckungs¬
reise, die nicht auf ein bestimmtes, sondern ans irgend e>in angemessenes
Boardinghaus gerichtet war, unternehmen zu dürfen. Nach mannichfachen frucht¬
losen Versuchen in Etablissements, die sich theils als Matrosenkneipen, theils als
Locale von zweideutigem Charakter herausstellten, lockte mich eine gedeckte Tafel
in einem Barroom an; ich trat ein, fand das Aeußere ansprechend, und forderte
nun meine Gesellschaft auf, mir nachzufolgen. Es stellte sich bald heraus, daß
der Wirth ein Deutscher war. Er bedauerte, daß er uns für die Nacht nicht
Quartier geben könne, da sein Logirhaus nur für Männer, besonders für Ma¬
trosen, eingerichtet sei, hingegen versprach er uns, Sorge tragen zu wollen,-daß
wir anderswo ein anständiges und bequemes Obdach finden sollten. Dieses Ver¬
sprechen war vorläufig befriedigend; bald faßen wir bei Thee, Braten, Brod u. s. w.,
und nach möglichst kurzer Zeit war der gute Humor wiederhergestellt. Wirth
und Wirthin waren freundlich und zuvorkommend, erzählten uns von ihren eigenen
Erlebnissen, und suchten uns in jeder Hinsicht zu Gefallen zu handeln. Da die
Straßen während der Zeit völlig finster geworden waren, so mußten wir bald
daran denken, das besprochene Nachtlager aufzusuchen. Wir fragten daher nach
der Zeche, und machten uns gesaßt, deutsch-amerikanisch geprellt zu werden. Wie
groß war aber unser Erstaunen, als Wirth und Wirthin erklärten, sie würden
von uns keine Bezahlung annehmen, da ihr Gasthaus nicht für Leute von unsrem
Stande eingerichtet wäre; das Vergnügen, deutschen Landsleuten einen Dienst
erwiesen zu haben, sei hinlängliche Bezahlung. Wir konnten natürlich eine Ge¬
fälligkeit, wie diese, nicht ausschlagen, eben so wie wir das Anerbieten des Wirthes,
uns in ein anderes deutsches Boardinghaus zu führen, nur mit Dank annehmen
konnten.
Den folgenden Morgen erhoben wir uns gestärkt und frisch zum ersten Male
von einem amerikanischen Lager. Es war schon ziemlich spät, und wir hatten
alle Ursache, uns zu beeilen, wenn wir noch an dem gemeinschaftlichen Frühstück
Theil nehmen wollten. Wir fanden hier mannichfache Gelegenheit, uns nach dem
deutschen Musiklehrer zu erkundigen, und wenn ihn auch keiner der Gäste kannte,
so wurde uus doch Hoffnung gemacht, daß wir ihn jedenfalls in einem gewissen
Boardinghause, wo gewöhnlich deutsche Künstler und Gelehrte logirten, erfragen
könnten. Eiligst wurde ein Bote dahin abgesandt. Nach Verlauf einer halben
Stunde kehrte der Bote zurück, und mit ihm trat unser amerikanischer Freund in
das Zimmer. Wenn auch uicht geläugnet werden konnte, daß er sichtbar über
die Ankunft seiner deutschen Verwandten und Freunde erfreut war, so war doch
die Freude aus unsrer Seite weit größer; denn der Egoismus flößte uns ein:
jetzt habt ihr einen Rathgeber und einen Beistand gesunden, einen Führer durch
das Labyrinth amerikanischer Sitten und Gebräuche.
Als wir noch an demselben Morgen unsren James Edward besuchten, fanden
wir dort die vollständigste Verwirrung. , Ein Steuerbeamter untersuchte die
Passagiergüter; unterdessen hatte ein nach Se. Louis bestimmtes Dampfboot, von
der „Deutschen Gesellschaft" veranlaßt, an der Seite angelegt, um einen Theil
unsrer Reisegesellschaft weiter hinauf nach dem Norden zu befördern; überall Eile
und Geschäftigkeit: hier schleppte der Eine einen Sack aus dem Zwischendecke
hervor, dort öffnete ein Anderer einen Koffer, um den Inhalt von dem Custom-
houseoffieer besichtigen zu lassen; hier beeilte man sich, die zurückerhaltenen Kisten
wieder zu verschließen und sie hinaus auf das Deck des wartenden Dämpfers zu
heben, und dort eilten Andere, welche einige Zeit in New-Orleans zu bleiben,
oder mit dem nächsten Dampfschiffe nach Texas abzugehen gedachten, hinab vom '
Schiffe, luden ihr Gepäck auf einem zweirädrigen, mit Maulthieren bespannten
Drap, und fort trieb der Neger seine Thiere durch das Gewühl der Karren, Ballen,
Kisten, Fässer und Menschen hindurch dem Bestimmungsorte zu. Jetzt läutete
die Glocke des Dämpfers — in eiliger Hast kletterte noch Alles hinaus, was sich
zu lange bei James aufgehalten hatte; die Taue wurden gelöst, der Dämpfer
keuchte und stöhnte, langsam wand er sich durch das Gewühl der Schornsteine
und Masten, und verschwand dann bald aus unsrer Blicken.
Unsre Steeragesamilie, die zwei Monate lang Freude und Leid getheilt hatte,
so einträchtlich als ob die Natur sie durch ein starkes, festes Band zusammen-
gefesselt hatte, war zersprengt; Keiner hatte von dem Andern Abschied genommen
—> so sehr war Jeder mit sich selbst beschäftigt —, aber Jedev denkt gewiß, so
lange sein Herz in ihm schlägt — doch Mancher ruht schon, fern von seinem
Vaterlande und seinen theuersten Verwandten, in amerikanischer Erde — mit weh¬
müthiger Freude an James Edward und seine Passagiere zurück.
...... Mein Erwachen auf dem Fahrzeuge, welches in der Bai von
Katania lag, war in der That ein höchst romantisches; im ersten Augenblicke
glaubte ich wirklich, ich befinde mich, gleich einem zweiten Aeneas an Erebus'
Pforten. Die kleine Bucht, in welcher wir vor Anker lagen, umstarrten von
allen Seiten schwarze, riesige Felsen, ein Andenken an die Lavaströme des Jahres
1669, und in den abenteuerlichsten Gestalten sich vor einem erstaunten Auge darstellend.
Katania selbst steht ans einem zu Stein gewordenen Lavaboden, und gleicht einer
Insel, die von zwei nun erstarrten Fenerströmen umgeben ist. Der erste derselben
schreibt sich aus dem Jahre 1329 her und läuft rechts, der andere ist über 300
Jahre jünger und umgiebt die Stadt von der linken Seite. Zur Zeit als dieser
sich nenn Meilen weit als glühende Lava fortwälzte, begrub er auf seinem Laufe alle
ihm im Wege stehenden Städte und Dörfer, ergoß sich dann auch über Katania,
von dem er nichts als das Kloster des heil. Benedict übrig ließ und senkte sich
zuletzt in die Wogen des Meeres, das, gleichsam erschreckt von dem feurigen
Strome, bis auf eine halbe Meile zurücktrat. Zwei gleich furchtbare Gewalten
lagen damals mit einander im Kampf, doch endlich blieb der Ocean Sieger. Mit
wachsender Macht stürmten die salzigen Wellen gegen den langsam erkaltenden
Strom und traten in ihre alten Rechte; die noch weichen Lavamassen thürmten
sich durch den Widerstand der kochenden See zu Felsen auf, und geben dadurch
uoch heute Zeugniß von dem Ringen der zwei sich feindlich gegenüberstehenden Elemente
und von dem endlichen Erliegen des Feuers. Was sind alle Kämpfe der Menschen
im Vergleich zu demjenigen, der hier geführt worden sein mußte und dessen
Merkzeichen in jedem der phantastischen Gebilde eingegraben sind, die wir heute
vor uns sehen? Hier schießt ein Fels gleich einer Nadel aus der Fluth und blickt
drohend auf uns herab, dort hat sich ein Gewölbe gebildet, an das die schaum¬
bedeckten Wogen andonnern; hie und da endlich sind Kessel und Höhlen entstanden,
die nun unzähligen Schaaren von wilden Tauben zur Zuflucht und zum Ausenthalt
dienen. Bedenkt man, daß alle diese Gebilde das Gewand der Trauer tragen
und wie in ein Leichentuch gehüllt siud, so ist es wol sehr natürlich, daß dem Beschauer
sich der Gedanke aufdrängt, er stehe wol an den Pforten der Hölle. Hat zu
Aischylos' und Pindar's Zeiten die Bucht von Katania so ausgesehen, wie heute,
so ist leicht zu begreifen, warum diese Dichter in ihrer aufgeregten Phantasie,
gerade hierher den Eingang zu Pluto's finsterm Reiche verlegten, und die User
ringsum mit den scheußlichen Cyklopen und Lästrigonen bevölkerten.
Um nenn Uhr Morgens erst geruhte der Intendant der Seepolizei an's User
zu kommen und zur Durchsicht unsres Speronaro zu schreiten. Mittelst eines
ungeheuern Fernrohrs las er die Papiere des Capitains und unsre Pässe, welche
ein am Schnabel des Schiffes aufgestellter Matrose über die Theerjacke ausbreitete
und aus diese Art dem bewaffneten Auge des Beamteten zugänglich machte. Nach
Durchsicht und Prüfung jedes einzelnen Documents wurde es mit einer langen
eisernen Zange in Empfang genommen, und nachdem diese eben so lange als
langweilige Procedur vorüber war, der Capitain aus's Verdeck gerufen, um zu
beschwören, daß sich kein Kranker am Bord befinde. Auch dieser Formalität
wurde Genüge geleistet, und uns endlich die Erlaubniß ertheilt, an's Land
zu steigen.
Nach einer schlaflos auf dem Schiff zugebrachten Nacht fühlte ich vor allem
das Bedürfniß, meinem, durch die Reise etwas heruntergekommenen Leichnam
wieder aufzuhelfen und den müden Gliedern in einem der schwellenden Betten des
prächtigan Hotels des Signor Abbate erst die nöthige Spannkraft zu geben, ehe
ich zur Besichtigung der Stadt und zur Besteigung des höchsten europäischen
Vulkans schritt. Im Rathe der Götter jedoch war es anders beschlossen. Für
die ganze Reihe, in welcher der Gipfel des alten Aetna's den Glanzpunkt bildete
hatten wir uns einem gewissen Marlet, einem in Palermo ansäßigen Franzosen,
in Entreprise gegeben und waren sonach in gewisser Hinsicht von dessen Disposi¬
tionen abhängig. Dieser nun wollte von keinem Aufschub hören und zwar vor¬
nehmlich deßhalb, weil, wie er sagte, das Wetter so ausgezeichnet schön, und
auch nicht das geringste Wölkchen am Himmel zu scheu sei. Dieser glückliche
Umstand konnte sich seiner Meinung nach jeden Augenblick ändern, um ihn zur
Ersteigung des Bergkolvsses aufs Schnellste zu benutzen, war daher das Rathsamste,
was man thun konnte. „Katania bleibt Ihnen ja immer noch nach der Rückkehr";
mit diesem wichtigen Argument brachte er alle Wenn und Aber zum Schweigen,
und als wir gar schon die bereit stehenden Wagen, Führer und Maulesel erblickten,
die nur auf uns warteten, um sich in Bewegung zu setzen, so faßte ich mich mit
Ergebung in mein Schicksal, reckte die stcifgewordenen Glieder ein Paar Male aus,
und folgte, wohin die selbstgewählte Bestimmung mich rief.
Der Gipfel des Aetna ist 55 italienische Meilen von Katania entfernt; wollten
wir von ihm aus den Sonnenaufgang sehen, was mit Hauptzweck der Reise war,
so hatten wir freilich keine Zeit zu verlieren, und machten uns deshalb auch sofort
auf den Weg. Dies geschah am 7. Juni und zwar bei einer Hitze von 36 Grad
im Schatten; man kann sich vorstellen, wie viel das Thermometer in der Sonne
gezeigt haben mußte. Nach einem leichten Frühstück besorgte unser Marlet den
nöthigen Proviant an Pasteten, Salami, Arak, Citronen, Zucker und Pomeranzen,
so wie auch an frischem Brod und Malteser Cigarren, nud um -I I Uhr bestiegen
wir den bequemen Wagen, der uns nach Nicolosi bringen sollte, wo bereits die
Führer mit den Mauleseln aus uus warteten.
Signor Abbate, der Wirth des Hotels, dessen Betten ich gleich einer ver¬
botenen Frucht nicht kosten durfte und bei dem wir nur so lange hausten, als
nöthig war, um etwas zu uns zu nehmen, redete uns beim Einsteigen anf's
Eindringlichste zu, uns mit Winterkleidern zu versehen. Er hielt davon für die
Aetnabesteiger Lager, und es gehörten dazu: wollene Handschuhe, ungeheure dito
Strümpfe, welche über die Stiefeln gezogen werden konnten, eine langwollige
Schlafmütze, und eine Art Kutte von grobem Fries mit einer Kapuze, wie sie die
Mönche zu tragen pflegen. Beim Anblick dieser nichts weniger als eleganten
und kleidsamen Stücke, die uns bei einer Hitze von 40 Grad empfohlen, ja fast
aufgedrungen wurden, hatte ich unsern schlauen sicilianischen Wirth stark im
Verdacht, auf unsern Geldbeutel zu speculiren — eine Tugend, die auf der ganzen
italienischen Halbinsel zu Hause ist — und war fest überzeugt, er suche uns nur
deshalb die warmen Kleider aufzuschwatzen, um mit seinen Vorräthen zu räumen.
Doch noch in derselben Nacht that ich dem guten Mann im Stillen Abbitte; denn
schon ehe zehn Stunden verflossen waren, wurden wir die Nothwendigkeit der uns
angerathenen Gegenstände inne, und steckten unsre Glieder mit Behagen in
Schlafmütze, Handschuhe, Strümpfe und Kutte.
Auf der ganzen, weiten Gotteserde möchte es wol keinen Weg geben, der
so viel Schönheit, Abwechselung und Originalität mit so viel Wildheit verbindet,
wie derjenige ist, auf dem wir jetzt dahin rollten, und zu^ dessen Ban die stein¬
harte Lava das Material geliefert hat. Er erhebt sich allmählich gegen den hier
schon ziemlich steil hinansteigenden Berg, und schien mir sehr sorgfältig.unterhalten.
Was die nächste Umgegend betrifft, so sieht man, so weit das Auge reicht, nichts
als erkaltete Lava, die, wo ihr nichts in den Weg getreten ist, einem erstarrten
Flusse gleicht, oder auch, wo sich ihr Hindernisse entgegenstemmten, sich zu gigan¬
tischen Felsen aufbäumte. Doch denke man ja uicht, dieser Boden sei öde und
kahl; im Gegentheil trägt er sowol, wie auch selbst die hohen Felsenkuppen die
reichste und üppigste Vegetation. In der Höllenesse des Aetna schmelzen, wie
man steht, die verschiedenartigsten Bestandtheile unsrer Erde, und die ausströmende
Lava ist dem zufolge ein Gemisch der mannichfaltigsten Elemente, die auch nach dem
Erkalten ihre Natur uicht verläugnen. So finden wir Theile, die so hart sind,
daß sie und dem Stahle Funken geben, und auf welche die Witterung, selbst durch
Jahrhunderte, keinerlei Einfluß ausüben kann; sie sind und bleiben Felsen, die
nur der Meißel oder Pulver zu sprengen vermögen. Andere dagegen verändern sich
durch Lust und Sonne schon nach wenigen Jahren in das fruchtbarste Erdreich,
und tragen in üppiger Fülle prangende Felder, lachende Gärten von entzückende?
Schönheit.
Ueber diesen Boden weg führt nun der Weg von Katania nach Nieolosi, und
man kann sich denken, wie reiche Abwechselung er darbieten muß. Wo irgend der
warme Strahl der Sonne Leben ans dem starren Feuerstrome hervorgerufen hat,
erhebt sich auch ein niedliches zweistöckiges Häuschen, das gewöhnlich aus dem Material
besteht, worauf es ruht, nämlich aus Lava. Gruppen von Orangen- und
Myrthenbäumen umschatten die kleine Wohnung, und schützen sie vor den sengen¬
den Strahlen der Sonne; das saftige Laub der Rebe schlingt sich an ihr empor
und vergittert ihre Fenster., Gleich dem Demant in einem Ringe, ist es von
einem Kranze der üppigsten Felder eingefaßt, welche in den mannichfaltigsten
Farben einen reizenden Anblick gewähren. Hier spielt ein Lüftchen mit den reisen
schweren Gerstenähren und bewegt sie gleich den Wellen des Meeres, dort streckt
der Mais seine gelben Kolben in die dunkelblaue Luft; bald wechselt ein Wald
von Sonnenblumen mit riesigen Bohnen ab, bald trifft das Auge aus eine mit
duftenden Pelargonien durchwebte Wiese. Nur hier und da ragt ans diesem Eden
ein schwarzer Lavakegel hervor, und erinnert daran, daß alle diese Schönheiten
dem Bauche der Zerstörung entsprossen sind.
Diese kleine, mangelhafte Skizze giebt vielleicht ein schwaches Bild von alle
der Pracht und Herrlichkeit, die durch 13 italienische Meilen an unsrem erstaunten
Auge vorüberzogen. Die Feder ist zu schwach, den Eindruck so auf das Papier
zu bringen, wie ihn die Seele aufgenommen hat.
Unterwegs trafen wir auf einige sehr nette Dörfer, als: Gravina, Santa,
Lucia, Massauunciate, Rocinato, Paterno und andere. Auch sie und die aus
ihnen hervorragenden Kirchen bestehen, gleichwie die einzeln umherliegenden
Häuschen, aus Lava, und sind selbst mit dieser Masse gedeckt. Man möchte glauben,
die kunstfertige Hand irgend eines Schnitzers habe die netten Sächelchen aus dem
harten Erguß des Kraters geformt, und sie hier aufgestellt; eine Weile zur Er¬
götzung, bis sie wieder von dem Vulcane vernichtet werden.
Gegen drei Uhr Nachmittags erreichten wir Nieolost und mit ihm das Ende
der guten Chaussee. Das Städtchen, das sich an der äußersten bewohnten Grenze
des Gürtels erhebt, der den Aetna als Sohle umgiebt, ist natürlich auch wieder
aus Lava aufgeführt, und macht einen weniger heitern Eindruck, als das, was
wir bisher gesehen hatten. Je mehr wir uns ihm näherten, desto matter wurde
auch die reiche Vegetation; der Weinstock rankte sich wol noch überall fröhlich
in die Höhe, doch die Orange war bereits der Kastanie gewichen, und anstatt
der Aloe, des Cactus und der indischen Feige erblickte man jetzt die lazurfarbene
Distel und die niedrige Palme.
Gleichwie in Italien, so giebt es auch auf der Insel Sicilien keinen Ort,
der irgend ein Andenken an das Alterthum oder sonst etwas Eigenthümliches
aufzuweisen hat und deshalb von Fremden besucht wird, an dem man nicht einen
Cicerone, so eine Art lebenslänglichen Pächter des von ihm in Beschlag genom¬
menen Punktes fände, der aus eigener Machtvollkommenheit sich das Recht
zugesprochen hat, die Neugierigen auf seinem Terrain herumzuführen, um'von
dem, was dieses Geschäft abwirft, sein Leben zu fristen. Monopole der Art werden
weder von der Behörde, noch weniger von den Bewohnern der nächsten Umgebung
ertheilt; tritt irgend eine Vacanz ein, so macht der erste beste Bettler oder Land¬
streicher sich nach dem führerlosen Platze auf den Weg, nimmt Besitz von ihm,
und genießt von dem Augenblicke an alle damit verbundenen Vortheile, ohne daß
es einem Andern einfällt, ihn in seinem Gewerbe zu stören. Daß der Altvater
Aetna ohne ein derartiges Individuum nicht bestiegen werden darf und auch nicht
kann, liegt aus der Hand; demjenigen nun, der die Verpflichtung des Führers
und Erklärens übernommen hat, muß man zum Ruhme nachsagen, daß er unter
seinen zahlreichen College» als eine Perle, eine große Ausnahme von der Regel
gelten darf. In Agrigent schon söhnte uns der dortige Cicerone, Professor Politi,
einigermaßen mit der Corporation aus, zu deren Mitgliedern er sich zählt, denn
wir lernten in ihm nicht nur einen tüchtigen Alterthumskundigen, sondern auch
einen recht gescheidten, wissenschaftlich gebildeten und dabei nicht mittellosen Mann
kennen. Signor Gemmelaro, der Monopolist des Aetna, kann ihm dreist an die
Seite gestellt werden. Er nennt sich zwar nicht Professor wie sein Agrigenter
Mitbruder, ist, aber deshalb nichts weniger eine bedeutende und sogar eines ge¬
wissen Rufs genießende Persönlichkeit, Archäolog, Antiquar, Naturalist und Bo¬
taniker. Seit 60 Jahren, d. h. seit der Stunde seiner Geburt, lebt er in Nicolost,
wo er sein Observatorium angelegt hat und den mächtigen Vulcan, den er, im
Vorbeigehen gesagt, als sein Eigenthum betrachtet, beobachtet. Was sich in dem
Zeitraume der letzten 30 Jahre an und auf dem Riesen zugetragen hat, davon
wurde sorgfältig Act genommen. Zeigte sich irgend eine Veränderung an der
Oberfläche, so wurde sie sofort aufgezeichnet und abgebildet, und aus den täg¬
lichen Erscheinungen am Berge und im Krater hat Gemmelaro mit Hilfe eigener
Schlüsse und Combinationen ein so untrügliches Register zusammengestellt, daß er
mit fast mathematischer Gewißheit Alles voraussagt, was auf seinem Territorium
eintreffen wird, und sich in seinen Prophezeiungen nie irrt, ein Umstand, den man
unsren Kalendermachern nicht nachrühmen kann. In seiner Wohnung findet mau
eine vollständige Sammlung aller Lavaergüsse seit zehn Jahrhunderten, so wie der
aufs Sorgfältigste getrockneten Pflanzen der Flora des Aetna. Gemmelaro kann
ein zweiter Empedocles genannt werden, hat aber vor dem Agrigenter Philo¬
sophen den Vorzug, daß er nicht wie dieser, der sich bekanntlich aus Neugierde
in den Krater stürzte, seine Forschungen bis in's Abenteuerliche treibt, sondern
ihnen einen vernünftigen, nützlichen Zweck unterlegt.
Daß wir, um den Aetna zu besteigen, dessen Cicerone weder umgehen moch¬
ten noch konnten, darf nicht erst erwähnt werden. Zum Ueberflusse hatte uns
unser gefälliger Wirth in Katania noch mit einer schriftlichen Empfehlung an ihn
versehen, obgleich es deren bei der überall bekannten Gastfreundlichkeit Gem-
melaro's nicht bedurft hätte. Doch hatten wir diesmal recht eigentlich die Rech¬
nung ohne den Wirth gemacht und uns umsonst daraus gefreut, den greisen Wächter
der himmelanstrebenden Warte Siciliens persönlich kennen zu lernen. Das schöne
Wetter hatte ihn zu einem botanischen Ausflüge verlockt, und uns dadurch die
Gelegenheit geraubt, seinen Rath in Anspruch zu nehmen. Wir besuchten seine
Wohnung, ein niedliches Häuschen, das sein Eigenthum ist, und sein Famulus,
dem wir unsre Karten überreichten, war so artig, uns zu gestatten, daß wir die
Lavansammlung, so wie die anderen geologischen und zoologischen Merkwürdig¬
keiten in Augenschein nehmen konnten, welche in zwei Zimmern in mehreren Glas¬
schränken aufgestellt siud.
Um von Nicvlosi wenigstens eine Erinnerung mitzunehmen, besuchten wir
den nur eine italienische Meile entfernten Monte Rosso, schon deshalb, weil er
einen so großen, wenn auch traurigen Ruf erlangt hat. Der Ausbruch des Aetna
im Jahre 1669, der einer'der heftigsten war, welche die Geschichte aufzuweisen
hat, geschah vorzugsweise durch den genannten Monte Rosso, der damals den
glühenden Strom aussandte, unter welchem das alte Katania heute begraben liegt.
Man muß nämlich wissen, daß der Aetna als großer Herr ost nicht in der Laune
ist, seine Aufgabe, Tod und Verderben um sich her zu verbreiten, in eigener
Person zu lösen, sondern sich dazu kleinerer, um ihn herumliegender Vulcane be¬
dient. Der Vesuv sowol, wie auch die Feuerberge aus den Liparischen Inseln
sind nicht so vornehmer Natur, und müssen ihr Tagewerk allein vollbringen; der
Sicilianische Altvater dagegen, im Gefühl, daß er aus der obersten Sprosse der
vulcanischen Hierarchie stehe, bläst nur ruhig seinen Rauch gen Himmel, oder wirst
von Zeit zu Zeit ein Felsstück, einen-Haufen Asche aus seinem Schlunde. Für
den verheerenden Strom, der fortwährend in seinem Bauche kocht, hat er be¬
sondere Organe, die auf sein Geheiß sich in Bewegung setzen. Tritt die Zeit
eines neuen Ausbruchs ein, so macht sich das alte Schneehaupt nur durch ver¬
mehrten Rauch und reichlichern Aschenregen bemerklich, aber am Riesenleibe des
Berges, näher oder serner, höher oder tiefer, entsteht gleich einem Geschwür an
einem kranken Körper, ein Berg, klein im Vergleich zum Aetna, aber immer noch
bedeutender als der Vesuv; dieser öffnet sich und gießt das, was im Innern der
Erde so lange gegohren hat, auf die Oberfläche aus. Ein Krater dieser Art,
von denen der Aetna gleich einer Schaar von Kindern und Enkeln umgeben ist,
ist der genannte Monte Rosso, der vor 200 Jahren dazu ausersehen war, einen
blühenden Garten in eine Einöde zu verwandeln. Stände er an einer andern
Stelle und allem, so konnte er für einen ganz stattlichen Vulcan gelten, denn er
erhebt sich -1200 Pariser Fuß über das Niveau von Nicolosi; hier aber, neben
dem riesenhaften Aetna schrumpft er zu einem Hügel zusammen. Wir erstiegen
seinen Gipfel gemächlich zu Fuße und fanden oben eine Oeffnung von ungefähr 200
Fuß Umfang von der Gestalt eines doppelten Topfes oder getheilten Pfeffer- und
Salznäpfchens. Die Tiefe des Kraters mag wol an 300 Fuß betragen, und
deutlich erkennt man von oben dessen Boden, auf den man gewiß ohne Gefahr
hinabsteigen könnte, wenn Jemand die Neugier dazu triebe. Wir hatten weder
diese, noch überflüssige Zeit und wollten eben so «wenig in die Fußstapfen Goethe's
treten, der -1787 bei seinem Ausflug nach dem Aetna am Monte Rosso stehen
blieb, und aus Furcht vor den Eismassen, Wäldern und anderen eingebildeten Ge¬
fahren in die für einen Dichter ziemlich prosaischen Worte' ausbrach: „Man thut
besser, sich das Uebrige erzählen zu lassen." Wir hegten, wie gesagt, nicht die
Absicht, den gefeierten deutschen Poeten nachzuahmen, sondern den festen Vorsatz,
von dem Gipfel des Aetna das aufgehende Gestirn des Tages zu begrüßen. Um
dies zu erreichen, hatten wir Eile nöthig, und kehrten deshalb bald nach Nicolosi
zurück.
Wie auf Sonnenschein immer Regen folgt, so kam auch jetzt nach der An¬
nehmlichkeit und Behaglichkeit die Mühsal, die vorzugsweise in dem nun vor uns
liegenden schlechtem Wege, so wie darin bestand, daß wir dem bequemen Wagen
Valet sagen und den Rücken der Maulesel besteigen mußten, die von Jngend
auf an's Bergsteigen gewöhnt und deshalb vollkommen sicher, in Nicolosi auf uns
warteten.
Gegen halb fünf Uhr Nachmittags saßen wir auf. Jeder von uns hatte
einen mit einer Laterne und einer Fackel versehenen Führer, und ein Esel trug,
als allgemeines Lastthier und Sündenbock der ganzen Gesellschaft, unsren Winter¬
staat, die sogenannte Robe, so wie die in Katania eingekauften Lebensmittel.
Obgleich die Temperatur schon bedeutend niedriger war, als in Katania, so hatten
wir doch immer noch bedeutende Hitze und begannen deshalb unsren Marsch in
leichten Reisehemden.
Nicolosi ist, wie bereits erwähnt, der letzte bewohnte Punkt am untern Gürtel
des Aetna; weiter hinauf hatten wir also keine menschliche Wohnung zu hoffen.
— Der Raum zwischen Katania und dem Gipfel des Vulcans wird allgemein in
drei Theile oder sogenannte Regionen eingetheilt; der erste, noch gut bebaut und
bewohnt, erstreckt sich bis Nicolosi, der zweite, die Waldregion, bis zur Casa de
Bosco oder Casa del Neve (dem Walde oder Schneehaus); der dritte endlich,
die Schneeregion, reicht bis zur Casa Jnglese, dem englischen Hause, das am
Fuße des Aschenkegels steht. Von hier aus noch weiter hinauf gelangt man zum
Krater, aus welchem fortwährend Rauch in die Höhe steigt.
Bei unsrem Abzug aus Nicolosi gelangten wir nicht unmittelbar in die Wald¬
region, sondern mußten erst eine wol eine halbe Meile lange Steppe durchschreiten,
welche mit einem rothen Sande, oder vielmehr mit der Asche einer verbrannten
metallischen Schlacke bedeckt war, welche 1669 der Monte Rosso ausgeworfen,
und davon auch den Namen bekommen hatte. Erst als wir diese öde Fläche
hinter uns hatten, betraten wir den Kastanienwald, welcher den Aetna gleich einem
Gürtel rings umgiebt.
Dieser Wald muß, meiner Ansicht nach, besonders für den Naturforscher
vom größten Interesse sein. Auf dem Boden, den er bedeckt, erblickt man auch
nicht eine Spur von Erde, aus der nur ein Grashälmchen, geschweige denn ein
so ungeheurer Wald emporwachsen konnte, sondern er besteht aus nacktem, kahlem
Stein. Die Ursache davon mag vielleicht sein, daß in dieser Hohe der Atmo¬
sphäre schon die Kraft mangelt, die Lava zu zersetzen, vielleicht auch, daß der
Feuerstrom, der hier Halt machte, aus Theilen besteht, die jedem klimatischen
Einflüsse trotzen. In diesem Boden nun wurzelt der Wald, dem man es'auf
den ersten Blick ansieht, er müsse ein urweltlicher und wol so alt, wie der Aetna
selbst sein. Er scheint sich durchaus nicht zu erneuern, denn außer den himmel¬
hohen Bäumen sieht man durchaus keinen jungen Nachwuchs. Jeder Stamm in
dem ungeheuern Forste ist ein Riese, der von oben bis unten mit Moos und
weißlich-braunem Schwamm überzogen ist, die Gestalt desselben fast durchgängig
eine abenteuerliche, phantastische, die von dem schweren Kampfe zeigt, mit welchem
die Natur hier geschaffen haben muß. Nirgends schießt er gerade in die Höhe,
wie in anderen Wäldern, sondern von der Erde an windet er sich in den mannich-
faltigsten Krümmungen, und bildet fortwährend Knorren und Knoten, gerade so,
als ob eine Gewalt im Innern der Erde ihn mühevoll und langsam heraus¬
gepreßt hätte. Die Wurzeln der Bäume liegen meist auf der Erde, und haben
sich mit der Zeit so dicht in einander verschlungen, daß sie jetzt ein Netz bilden,
das keine Kraft der Erde aus einander zu trennen vermag. Auf welchem Grunde
nun, frage ich, steht dieser Wald, woher nimmt er die zu seiner Erhaltung nöthige
Nahrung, und wie ergänzt er sich? Liegt hierin nicht reicher Stoff zum Nach¬
denken und zur Forschung?
Durch diesen in jeder Hinsicht ungewöhnlichen Wald, der fast keinen Schatten
giebt, da er sehr blätterarm ist und die einzelnen Bäume ziemlich weit aus einander
stehen, ritten wir den Berg hinan, der mit jedem Schritt steiler zu werden schien.
Der Weg, oder vielmehr der Fußsteig, über welchen unsre Thiere mit bewunderns¬
würdiger Sicherheit hinwegschritten, war in den felsigen Lavaboden förmlich ein¬
getreten. Daß wir den Weg, der Zeuge so vieler Umwälzungen gewesen sein
muß und der überall noch die grausenerregendem Spuren davon trägt, ohne Un¬
fall zurücklegten, verdankten, wir vorzugsweise dem Jnstincte unsrer Esel, welche
die Führer denn auch nach Gefallen gehen und sich von ihnen leiten ließen.
Je mehr wir vorwärts kamen, desto beschwerlicher und selbst gefahrdrohender
wurde der Weg. Der Sicherheit wegen fiel unser Zug aus der Gruppenform
in den Gänsemarsch, und zog so an Felsblöcken, die schon herabzufallen schienen,
an Schlünden und.Abgründen, in die man hineinzublicken nicht wagte, vorbei in
die Höhe.
Obgleich gegen acht Uhr Abends die Sonne noch sehr hell schien, so fing
es doch an, uns ein wenig zu frösteln; wir schlüpften deshalb in das Habit, wo¬
mit uns Signor Abbate aus Fürsorge versehen hatte. Handschuhe, Strümpfe
und die Nebelkappe ließen wir einstweilen noch bei Seite.
Der Berg stieg bald so steil auf, daß man an ihm wie auf einer Leiter
hinanklettern mußte; der Wald wurde je höher, desto lichter und mißgestalteter,
und die Kälte in Kurzem so empfindlich, daß wir uns alle Augenblicke die Hände
reiben mußten. — Beinahe mit Sonnenuntergang kamen wir matt und todmüde
bei der Casa del Bosco an.
Das Gebäude mit dem wohltönenden Namen ist die Ruine einer Hütte,
welche einst ein Führer als Obdach für sein Vieh hier ausgestellt hatte, und deren
Wände aus rohen, über einander-gelegten Lavastücken bestehen.' Von Thüren
und Fenstern ist da keine Rede, eben so wenig von einem Dache; die einzige
Annehmlichkeit, welche der Steinhausen bietet, ist diejenige, daß er etwas Schutz
vor dem Winde gewährt. Uns dünkte er jedoch ein Palast, in dem wir uns
denn auch sofort häuslich niederließen. Unsre Führer machten sogleich aus dem
dürren Kastanienreisig ein tüchtiges Feuer an, und wir streckten uns mit Wohl¬
behagen auf die Streu von Maisstroh, das einzige Inventarium, welches die
Casa aufzuweisen hatte. Die mitgebrachten Mundvorräthe wurden auf der Erde
ausgebreitet und ihnen von uns Allen aufs Wackerste zugesprochen.
Nach einer Stunde Aufenthalt, in der wir wenigstens die Bedürfnisse des
Magens befriedigen konnten, erscholl der Ruf: Weiter! Wir erhoben uns; doch
wie groß war unser Schreck, als wir vernahmen, wir hätten uns von jetzt ab
nur unsrer eigenen Füße zu bedienen, denn es sei, zumal im Juni, zu gefährlich,
denselben beritten weiter zu verfolgen. Die Führer fürchteten, der Schnee könne
von der Hitze schon zu morsch geworden sein, um noch einen Maulesel zu tragen,
die Eisrinde leicht durchbrechen, und Roß und Reiter seien der Gefahr ausgesetzt,
das Leben daran setzen zu müssen. Gegen dergleichen von der Vernunft, wie es
schien, dictirte Argumente ließ sich freilich nichts einwenden; mit Ergebung fügten
wir uns in das Unvermeidliche und richteten uns zum Marsche ein.
Es mochte damals wol 10 Uhr sein und die Nacht war vollständig herein¬
gebrochen. Der Vollmond glänzte an dem sammetschwarzen, wolkenlosen Himmel,
und Millionen von blinkenden Sternen schauten gleich so viel Edelsteinen auf
uns hernieder. Wir hatten kein Thermometer bei uns, allein nach dem Hauche
zu schließen, der unsrem Munde und den Nüstern unsrer Thiere entströmte, mußte
der Temperaturstand schon ein sehr niedriger sein. Die Kälte setzte uns auch
wirklich so empfindlich zu, daß wir nach dem Reste unsres Aetnacvstums griffen,
und die Handschuhe über die steifen Finger, die Strümpfe über die erstarrten
Füße und die Schlafmütze bis tief unter die Ohren zogen. So herausgeputzt
und mit einem tüchtigen mit einer eisernen Spitze versehenen Stocke bewaffnet
gingen wir in Gottes Namen vorwärts, Jeder hinter seinem mit einer brennenden
Fackel versehenen Führer her. Wer den Aufzug mit ansah, ohne zu wissen, was
es mit ihm für eine Bewandniß habe, mußte glauben, eine Schaar Nachtgespenster
oder Tollhauscandidaten vor sich zu sehen, denn solchen glichen wir in unsrem
Costum aufs Haar.
Zweihundert Schritte jenseits der Casa del Bosco traten wir aus dem Walde,
wenn anders einzeln stehende zwerghafte Bäume noch diesen Namen verdienen;
noch zweihundert Schritte weiter, und wir standen an der Grenze der Region
des ewigen Schnees, von wo aus das Auge schon bequem und ohne Hindernisse
nach allen Himmelsgegenden schauen konnte. Ueber uns breitete sich das stern-
besäete Himmelsgewölbe aus, hinter uns der dunkle, rauschende Wald, und vor
uns der im Lichte des Mondes gleich Edelsteinen glitzernde Schneeberg, dessen
Gipfel der schwarze, rauchende Krater krönte; kann man sich etwas Großartigeres
denken? Die optische Täuschung war hier, wie dies ja bei vielen Bergen der
Fall ist, so groß, daß es schien, als könne man das vor uns sich erhebende
Schneefeld in einer Viertelstunde durchlaufen und den Gipfel des Berges fünf
Minute» darauf erreichen. Wir sollten erfahren, daß wir dazu noch beinahe neun
sehr saure Stunden nöthig hatten!
Ein halbstündiger Marsch im Schnee überzeugte uns, der gute Rath, den
Weg zu Fuße zurückzulegen, sei mehr im Interesse der Thiere gegeben worden,
als unsrer selbst, denn dasjenige, was man hier gewöhnlich Schuee nennt und
von weitem auch wie solcher aussieht, ist Eis, und zwar ein so hartes, daß wir
Mühe hatten, die eisernen spilen unsrer Stäbe hinejnznbohren. Es bedeckt
den Berg gewiß schon Tausende von Jahren, und schmilzt weder, noch vermindert
es sich. Die den Winter durch herangewehte obere Lage unterliegt zwar dem
Einfluß der heißen Sonnenstrahlen; doch kaum ist deren Einwirkung vorüber, so
verwandelt sich der aufgethaute Schnee sofort wieder in eine spiegelglatte Eisrinde.
Die ganze Masse ist, wie gesagt, so fest, daß man Axt und Hacke anwenden muß,
um Stücke loszulösen.
Die Dauerhaftigkeit des Aetnaeises, das jetzt einen bedeutenden Ausfuhr¬
artikel nach Italien, Griechenland, der Türkei und Afrika bildet, mußte bald die
Aufmerksamkeit der Speculanten ans sich ziehen. Früher holte sich, wer'da wollte,
doch schon 1788 machte, wie uns Marlet erzählt, der tatarische Bischof von der
Kanzel herab bekannt, die heilige Agathe, die Schutzpatronin von Katania, sei
ihm im Traume erschienen, und habe der Kathedrale der Stadt, die deren Namen
trägt, das Eis des Aetna ans ewige Zeiten zum Geschenk gemacht. Das im
Glauben starke Volk ließ von da an den Schatz unberührt, und der Bischof ver¬
pachtete ihn im Interesse der Kirche, d. h. seinem eigenen für die Summe von
4000 Unzen Gold oder 12,000 Dukaten an Marseiller Kaufleute.
Ein „Schnee", den man mit der Axt loshauen .muß und welcher den Trans¬
port bis nach Afrika hinein aushält, ist wol auch im Stande, nicht nur Maulesel,
sondern selbst schweres Frachtfuhrwcrk zu tragen; es liegt also auf der Hand, daß
die Führer uns nur deshalb die Fußpartie machen ließen, um ihre Thiere zu
schonen. Leider waren wir, als uns. dies klar wurde,, schon zu weit von der
Casa del Bosco entfernt, um noch einmal zurückzukehren und aufzusitzen.
Um eine Erfahrung reicher schleppten wir uns mühsam in die Hohe, mußten
aber beinahe alle zehn Schritte halten und nach Luft schnappen, die uus bald
ganz zu fehlen schien. Das dritthalbstündigc Hinaufklettern ans einen fast senk¬
recht abfallenden und mit holprigen Eise bedeckten Berg war wirklich ein saures
Stück Arbeit, denn eS bestand in einem fortwährenden Ringen unsrer schon sehr-
erschöpften Kräfte mit der Abschüssigkeit des Bodens, mit dem uns in's Gesicht
wehenden oder vielmehr pfeifenden Winde, mit der Bürde des unbequemen Um-
zugs, und der Täuschung endlich, welche den in scharfen Umrissen an dunklem
Himmel gezeichneten Kegel scheinbar dicht vor uns hinstellte, ohne daß wir ihm
merklich näher kommen konnten. Eine halbe Stunde nach Mitternacht kamen,
wir halb todt an dem zweiten Ruhepunkte, der sogenannten Casa Jnglese, dem
englische» Hause, an und warfen uus dort auch augenblicklich nieder.
Dieses Gebäude, das sich 10,300 Fuß über die Meeresfläche erhebt, ist ein
Werk der Engländer, deren Namen es auch trägt. Früher stand an dessen Stelle
eine Bude nach dem Muster der Casa del Bosco, welche Gemmelaro hatte er¬
richten lassen; da sie jedoch die Winterstürme regelmäßig jedes Jahr über den
Hausen warfen, so zog der genannte Cicerone 1810 den Lord Forbes, der da¬
mals an der Spitze der englischen Armee in Sicilien stand, in's Interesse, und
es kamen unter dem Protektorat dieses hohen Briten über ö0,000 Franken zu¬
sammen, die zu einem solidem Gebäude vou drei Zimmern und Ställen zu 26
Pferden verwendet wurden. Hatten wir schon früher der Versicherung unsrer
Führer, man könne es nicht wagen, die Schneeregion zu Esel zu durchschreiten,
mißtraut, so wurde beim Anblick der Ställe unsre Vermuthung zur klarsten Ge¬
wißheit. Doch wozu half'uns jetzt diese Ueberzeugung? Möge die Erfahrung,
die wir zum Schaden unsrer Knochen machen mußten, wenigstens Anderen zur
Lehre dienen.
Das Haus besteht gegenwärtig aus Lavastücken, hät Thüren und Fenster,
so wie ein mit schweren Steinen beladenes Breterdach, und trägt die in Lava
eingehauene Inschrift der frühern Hütte: (.'srsa Ka.ce ^ucmtrüa Munin xsi'wsiro.n-
Wus Aratissüna, aus welchem Grunde es von den Führern auch häufig ca8g.
Ki'g,ti88irren genannt wird. Im Innern findet mau einige Instrumente zu atmo¬
sphärischen und meteorologischen Beobachtungen, welche Gemmelarv in Ver¬
wahrung hat.
Das Erste, was wir thaten, als wir in die sast bis zur Hälfte im Schnee
steckende Casa eintraten, war, unsre Mäntel über die aus dem Boden umher¬
liegende, aus Moos und dürren Blättern bestehende Streu auszubreiten und uns
darauf zu werfen. 'Ach, war das eine Wohlthat! Auf keinem noch so weich ge¬
polsterten Sopha habe ich je so weich und beqnem gelegen, wie aus dem einfachen
Lager in der Casa Jnglese.
Es dauerte nicht lange, so hatten in einer der Stuben unsre Führer ein
tüchtiges Feuer im Gange, wozu, wie mir schien, Thüren, Krippen und anderes
Holzwerk das Brennmaterial geliefert hatten. Bei solchem Verfahren ist die beste
Aussicht vorhanden, daß man, um sich zu erwärmen, auch bald die Breter vom
Dache holen, und das Gebäude dadurch mehr und mehr zu einer Ruine werden
wird. Jeder denk't: ^prös noi to äeluxel
Leider sollten wir der Wohlthat der Ruhe nicht lange froh werden, denn
kaum hatten wir uns ein Paar Mal ausgereckt und etwas Brod und Arak zu
uns genommen, als das verhängnißvolle ,Apar>,i" ertönte, und uns wieder auf
die Beine trieb. Seufzend schickten wir uns zum Marsche an, und trösteten uns
lediglich mit der Aussicht, wir hätten die letzte Station vor uns.
Von dem AbHange aus, auf dem die Casa Jnglese steht, konnten wir erst
deutlich sehen, welch ein Stückchen Arbeit unsrer uoch warte, ehe wir deu ersehnten
Gipfel des Aetna erreichen würden. Wir standen jetzt an der obern Grenze
der Schneeregion, und ^ sahen in einer Entfernung von kaum 200 Schritten schon
die nackten Lavalagcn, in deren Mitte sich der Niese erhebt, welcher der eigent¬
liche Kessel oder Aschenkegel des Vulcans ist. Um sich vou dessen Größe einen
Begriff zu machen, ist es hinreichend, anzuführen, daß sein Fuß, glaubwürdigen
Personen zufolge, über 10 italienische Meilen Umfang hat, während derjenige der
Krateröffnung am Gipfel anderthalb beträgt. — Der Kegel selbst ist, der heißen
vulcanischen Dünste wegen, die aus allen seinen Poren dringen, vollkommen frei
von Schnee und Eis, besteht ans lauter Asche oder vielmehr Keinen Stückchen
zertrümmerter Lava in der Größe einer Erbse, und erhebt sich noch 1800 Pariser
Fuß über die Casa Jnglese. Die so zu sagen bewegliche Oberfläche, in welche man
bei jedem Schritt bis an die Waden einsinkt, der sast senkrechte Abfall, und die
fortwährend aus ihm ausströmenden - heißen Gase machten die Besteigung des
Kegels-zu einer eben so erschöpfenden, als ungesunden Partie.
Wir waren noch nicht weit in die Höhe gegangen, so hörten wir schon von
Zeit zu Zeit ein mit eigenthümlichen klagenden Lauten untermischtes unterirdisches
Getöse, durch welches der fortwährend thätige Vulcan uns Zeichen von seiner
verheerenden Thätigkeit gab. Daß er nie feiert, dessen sind die am Fuße des
Kegels umhergestreuten Oeffnungen Zeuge, aus denen fortwährend ein mit
Schwefel geschwängerter Rauch aufsteigt, aus welchem sich die schönsten Schwefel-
blumen niederschlagen. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, um in diesen er¬
stickende Dünste ausströmenden Schlünden eben so viel Rachen zu erkennen, wo¬
mit das Ungethüm athmet.
Es gehörte wirklich mehr als gewöhnlicher Muth dazu, dem gefaßten Vor¬
satze, den Gipfel des Aetna zu erreichen, nicht untreu zu werde«, nachdem uus die
Schneeregion schon so viele Mühseligkeiten verursacht hatte. Von einem aufrechten
Gehen war bei dieser Steilheit gar keine Rede mehr; wir krochen ans allen Vieren,
wobei dann bei jedem Schritte ein Stück Unterlage gleich trockenem Kies hinab¬
rollte, und waren schon nach fünf Minuten Gehen im Schweiße förmlich gebadet,
was bei der äußerst dünnen Luft, in welcher wir uns befanden, und bei der
großen Kraftanstrengung 'auch gar nicht anders sein konnte. Um uns das Steigen
erträglicher, ja nur möglich zu machen, warfen wir die Kutte, Schlafmütze und
Handschuhe von uns;, die Strümpfe mußten bleiben, wo sie waren, denn es war
kein Platz da, wo man sich hinsetzen konnte, um sie auszuziehen; zudem belästigten
sie uns auch am wenigsten, denn die Sohlen waren von der Hitze bereits durch-
gebrannt. Nachdem ich mich des schweren, unbehilflichen Umzugs entledigt hatte,
fühlte ich mich wol etwas leichter, doch stiegen schwere Zweifel in mir auf, ob ich
wol das nun nicht mehr ferne Ziel auch erreichen würde; die Kräfte waren
schon sast im Verlöschen. Der rosenrothe Schimmer des nahenden Morgens sing
schon an das Firmament im Osten zu erhellen, und das Panorama, das sich mit
jedem Augenblick mehr ans den Schatten der Nacht herauswand, würde immer
herrlicher und großartiger; doch ich hatte weder Zeit noch Verlangen, die Wunder
um mich her zu betrachten. Wollte auch einmal einer von uns einen kurzen Halt
,-"
machen, so schrie gleich Marlet: Uorüe/. toujour8, Ne8fleurs, und die Führer
accompagnirten mit: ^parti, IZeLvIenM, Oorraxi«! ?all<zu?a, Leoelön/.a!
Um ein Viertel auf vier Uhr endlich, nachdem wir uUsre letzten Kräfte daran
gesetzt und zu guter Letzt uoch das Ehrgefühl zu Hilfe genommen hatten, er¬
reichten wir das Ziel unsrer Wanderung; wir standen am Krater des Aetna.
Im ersten Augenblicke erblickte ich nichts, und wollte auch gar nichts sehen;
mein erstes Bedürfniß war Ruhe. Ich ließ meinen tatarischen Ueberwurf an
dem kaum fünf Schritte breiten Rande des Kraters ausbreiten, und warf mich
darauf, um wenigstens etwas zu mir zu kommen.' Mir war, als sollte mir eben
das Lebenslicht ausgehe».
Eine kurze Erholung und der Gedanke: Du stehst auf dem Gipfel des Aetna
und dem Himmel nnn über 12000 Fuß näher, als andere Menschen, waren hin¬
reichend, mich nen zu kräftigen. Ich sprang auf, hielt mich an meinen Führer,
um nicht Empedocles' Schicksal heimzufalleu, und blickte um mich her — Himmel,
welche Wunder sah ich da! Das Grauen des werdenden Tages wich immer
mehr dem Rosenschimmer, der gleich einem Strome sich über den östlichen Himmel
ergoß; die Sonne stand noch unter dem Horizonte, doch ehe sie noch hervortrat,
flammte schon das Firmament. Je mehr das kaum geborene Licht an Kraft zu¬
nahm, desto mehr schwand die Finsterniß der Nacht und die Sterne verlöschten
einer nach dem andern vor der heranziehenden Königin. Es war ein unvergleich¬
licher und eben so unbeschreiblicher Anblick. Auf dem Horizont, d. h. auf Land
und Meer, lag, so weit das Auge reichte, ein weißer Nebel, gleich schaumigen
Flocken, und wir, wir standen in der That zwischen dem Himmel und dem Ge¬
wölk unsres Planeten, das jeden Augenblick Form und Gestalt änderte, und aus
welchem der Riesenleib des Aetna gleich einem unbedeutenden Hügel herausragte.
Das ohnehin schon so großartige Gemälde verwandelte sich wie dnrch Zauber¬
schlag in ein noch herrlicheres, wahrhaft majestätisches, als weit hinten das
Tagesgestirn aus den Wassern des Ionischen Meeres auftauchte. Vor seinen
strahlen zerrannen die Nebel, die bisher noch auf der Erde gelegen hatten, und
schienen von Meer und Bergen allmählich eingesaugt zu werden. In dem Maße,
als sie schwanden, entstand ein Rundgemälde, das vollkommen zu beschreiben ich
fast für nicht möglich halte, und in dessen Mitte sich der altehrwürdige Berg erhob,
aus welchem wir kleine nichtssagende Punkte in der großen Natur standen und —
staunten. Noch warf der ungeheure Vulcan einen mächtigen Schatten auf die
Wasser und das Firmament des Westens, noch blitzten dort einzelne Sterne, und
hell noch spiegelte sich das ewig brennende Stromboli in den Wellen des Tyrrhe-
nischeu Meeres ab; doch mehr und mehr gewann der Tag die Oberhand, und
bald lag er klar und sonnig da, der ungeheure Kreis, den wir übersehen konnten.
Wie aus der Vogelperspective erblickten wir zu unsren Füßen das Sicilianische
Dreieck mit seinen Vorgebirgen und Meerbusen, von Messina bis Segest, von
Syrakus bis Palermo, und konnten deutlich alle Städte, Flecken und Dörfer, ja
sogar die Kirchen und Klöster auf der Insel zählen, weiter östlich das dnrch die
Meerenge gleichwie durch einen Silberfaden abgetrennte Calabrien, nördlich die
Gruppe der Liparen, und westlich diejenige der Aegaden, ringsum drei Meere,
das Ionische, Tyrrhenische und Mittelländische, im fernen Westen Malta als
kleiner schwarzer Punkt, und im Süden einen grauen Nebelstreif, die Küste Afrikas;
das Alles sahen wir von unsrem erhabenen Standpunkte aus, über welchen sich
der reinste südliche Himmel wölbte. Kann man sich Größeres, Schöneres denken,
und ist es zu verwundern, wenn der Mensch, von seinen Gefühlen fortgerissen, an
solchen Orten auf die Knie sinkt und die Hände zu dem unerforschlichen Wesen
erhebt, das Alles so herrlich gemacht hat?
Obgleich der Aetna niedriger ist als der Mont Blanc — er erhebt sich be¬
kanntlich nnr 12,L00 Fuß über die Meeresfläche — so ist die Aussicht von seinem
Gipfel aus doch eine weit umfassende, weil sie dnrch keine anderen Berge gehindert
wird ,, wie dies in der Schweiz der Fall ist.
Den Krater des Feuerberges betrachteten wir, um nicht schwindlich zu werden,
auf dem Bauche liegend. Seine Wände fallen senkrecht ab und bilden einen
Abgrund, dessen Boden man mit dem Auge nicht erreichen kann. Da die Sonne
noch ziemlich tief stand, so lag der grauliche Schlund noch vollkommen im Dunkel,
und wir konnten deshalb deutlich Tausende von blauen Manchen wahrnehmen,
welche aus den Sparreu der Wände heransznngelten. Außer den beiden Kuppen
eines, wie es scheint gespaltenen Felsens, der mitten aus dem Abgrund hervorragt,
einem weit'.geringern Rauche, als wie er dem Vesuv entströmt, und einem bald
stärkern, bald schwächern Getöse, konnten wir nichts wahrnehmen, was um Suber den
innern Bau des Vulcans hätte einigen Aufschluß geben können. Hier will, scheint
es, die- Natur über ihr Schaffen das Geheimnis; bewahren.
Nach einem Aufenthalt von anderthalb Stunden traten wir den Rückweg an,
erreichten um 7 Uhr früh die Casa Juglese, wo wir frühstückten, um 10 Uhr die
Casa del Bosco, woselbst wir unsre Thiere bestiegen, und um 1 Uhr Nicolvsi,
wo die Wagen uns erwarteten. Sechs Stunden später trafen wir in Katania ein,
und hatten viel Ruhe und Schlaf nöthig, um wieder zu Kräften zu kommen.
Es ist wahr, das Unternehmen, den Aetna zu besteigen, war ein großes und mit
unsäglichen Mühen verknüpftes, aber der Lohn dafür auch ein herrlicher; die Erinne¬
rung an das, was mein Auge erschaut hat, wird mir ewig frisch bleiben, und
manchen Augenblick meines Lebens verschönern.
— Das Ministerium weiß selbst von dem Todesfall des
Herzogs von Wellington Nutzen zu ziehen. ° Es hat dadurch nicht blos Gelegenheit
erhalten, die wichtige Stelle des Oberbefehlshabers der gesammten Landmacht aus eine
Allen Genüge leistende Weise zu besetzen, sondern scheint den Tod des eisernen Herzogs
auch noch dazu benutzen zu wollen, die unvermeidliche Abrechnung mit dem Lande so
lange als möglich hinauszuschieben und sich noch eine Galgenfrist zu verschaffen.. So
deutet wenigstens ein Theil der Messe Lord Derby's Beschluß, über das Leichenbegängniß
des Herzogs erst mit dem Parlamente berathen zu wollen. Da dieses erst den 11. No¬
vember zusammentritt, und sich keiner der, angeseheneren Redner des Hauses wird ent¬
halten wollen, dem als Nationalhelden betrachteten Todten einen Nachruf zu weihen, so
kann vor Beendigung der Debatte über diesen Gegenstand leicht das Ende des Monats
nahe heranrücken. Dann verbietet die Decenz, unmittelbar nach der Bestattung den
Parteikamps in seiner ganzen Heftigkeit entbrennen zu lassen, und vielleicht meint auch
Lord Derby, das Parlament werde sich begnügen, den größten Feldherrn Englands
begraben zu haben, und nicht daran denken, dem Ministerium dasselbe Schicksal, wenn
auch nur figürlich, zu bereiten. Dann kommt die erste Hälfte des Decembers, wo man
wegen der Nähe der Weihnachtsferien nicht gern eine wichtige Debatte, die von einiger
Länge zu werden verspricht, anfängt, dann die Ferien selbst und endlich das neue Jahr,
wo der glückliche Stern des Hauses Stanley und das erfinderische Genie des kaukasischen
Schatzkanzlcrs schon neue Mittel, die gefürchtete Krisis hinauszuschieben, finden werden.
Lord Hardinge's Ernennung zum Oberbefehlshaber der Landmacht hat allgemeine
Billigung gefunden. Der Nachfolger Wellington's ist jetzt 66 Jahr alt, hat sich
schon während des Halbinselkriegs als guter Officier bewährt, und verlor bei Ligny
an Blücher's Seite — in dessen Hauptquartier er als englischer Kommissar anwesend
war, — die linke Hand. Der verstorbene Herzog schenkte ihm von jeher großes Ver¬
trauen, und ernannte ihn 18Z8 zum Kriegssecretair im Unterhause. Später wurde
Hardingc irischer Secretair, welches Amt er auch 1834 und 1841 wieder bekleidete.
1844 wurde er Generalgouvemeur von Ostindien, und trug durch seine Thätigkeit und
Energie viel zu den Siegen Lord Gongs's in Pendschab bei. Seit seiner Anwesenheit
im Blücher'schen Hauptquartier hat er immer große Achtung vor dem preußischen Heer-'
wesen behalten, das er gründlich kennt, und man hofft daher, daß er gründlich die Hand
an's Werk legen wird, um das so sehr der Reform bedürftige englische Heerwesen um¬
zugestalten. Als Politiker hält sich Lord Hardingc zu den Peclitcn.
Der aus Hydcpark verschwundene Krystallpalast wird nun bald seine Auferstehung
feiern, und zwar in Sydenham, einer Station der Brightoner Eisenbahn, acht englische
Meilen von London. Die Direction der London- Brightoner Bahn steht an der Spitze
des Unternehmens; das dazu erforderliche Capital von 3^2 Mill. Thalern wurde in
weniger als vierzehn Tagen gezeichnet. Am 3. August dieses Jahres richtete man die
erste Säule aus, und im Mai 1853 soll das Gebäude dem Publicum eröffnet werden.
Der neue Krystallpalast steht auf einem Hügel von mäßiger Höhe in einer ange¬
nehmen, waldumgcbencn Gegend. Er wird nicht ganz so lang wie sein Vorgänger,
nämlich 240 Fuß kürzer, wird aber an beiden Enden mit eben solchen Querschiffen oder
Transiten vergrößert, wie das in der Mitte war, und das Ganze wird immer noch
eine Fläche von 30 Morgen bedecken. Die Transepte und Corridore des neuen Aaues
sollen historische Galerien der Bau- und bildenden Kunst aufnehmen, gebildet aus Muster-"
werken, Abgüssen und Modellen der berühmtesten Bild- und Bauwerke aller Zeiten und
Völker, von den Sculpturen und Palästen von Ninive bis zu den Wunderbaum des
Mittelalters. Auch die beiden Ncstaurationslocale sollen diesem Zweck dienen. Das
eine wird nach dem Muster eines pompejanischen Hauses gebaut und eingerichtet, das
andere nach dem Löwcnhos, dem schönsten und berühmtesten Theil der Alhambra in
Granada.
' Ein anderer Theil des Gebäudes ist zu ethnographischen Museen bestimmt, und
hier werden die verschiedenen Völkerschaften in ihren eigenthümlichen Trachten, mit ihren
Waffen und ihrem Hausrath neben ihrer vaterländischen Hütte zu sehen sein. Um das
Bild noch vollständiger zu machen, werden die verschiedenen Hütten mit den Bäumen
und Gewächsen der fraglichen Länder umgeben, große und kleine Thiere des
Heimathlandes werden in der Nähe zu erblicken sein, und selbst in der Gestaltung des
Erdbodens wird man die Wirklichkeit nachahmen, so daß man hier gewissermaßen eine
Reise im Zimmer durch die entlegensten Theile der Erde machen kann. Professor
Latham und andere sachliche Autoritäten stehen der Einrichtung dieser Museen vor.
Außer diesen der Unterhaltung und Belehrung gewidmeten Sammlungen wird der
Glaspalast eine Weltachse, einen Ricsenbazar für die Erzeugnisse aller Nationen ent¬
halten. Es soll nicht blos eine Ausstellung sein, sondern ein permanenter Verkaussplatz,.
wo aus allen Ländern der Erde die Producte der menschlichen Industrie zusammenströmen,
um einen Käufer zu finden. Gewiß ein im höchsten Grade großartiger Plan! Der
Hügel, auf dem der Krystallpalast steht, wird terrassirt und mit Statuen und Spring¬
brunnen verziert. Unmittelbar vor das Gebäude kommen zwei Springbrunnen mit 200
Fuß hohen Strahlen. Die ganze Umgebung wird in einen schönen Park verwandelt,
und namentlich pflanzt man immergrüne Sträucher und Bäume. Auch dieser Park
wird der Wissenschaft dienstbar gemacht, indem die Pflanzen systematisch geordnet werden.
— Der tüchtige Komponist und ausgezeichnete Klavierspieler Julius
Emil Leonhard wird Leipzig, wo er sich seit einer langen Reihe von Jahren aus¬
gehalten, verlassen, um einem Ruft an das Münchener Conscrvatorium zu folgen. Leon¬
hard hatte sich in früheren Jahren der lebhaftesten Freundschaft und Theilnahme
Mendelssohn's zu erfreuen, der ihn bei vielen Gelegenheiten auszeichnete und dem nur
zu bescheidenen Künstler Gelegenheit bot, hervorzutreten. Wegen später erfahrener Ver¬
nachlässigungen mag er sich damit trösten, daß ihm die Fremde die Anerkennung zu
Theil werden ließ, die der hier wenig protegirte Künstler zu erringen nicht im
Stande war. Sein letztes großes Werk ist ein Oratorium: „Johannes der Täufer/'
zu dessen Aufführung er hier vergeblich alle Mittel in Bewegung'setzte. Gedruckt wurde
zuletzt von ihm bei Peters el» großes Quartett für Pianoforte, Violine, Viola und
Cello, ein Werk voll tiefer Sinnigkeit, hohem Ernst und lebhaftem Schwung. Wir
machen bei dieser Gelegenheit anch aufmerksam auf sein großes Trio für Pianoforte,
Violine und Cello in das schon vor mehreren Jahren erschien. Eine Sinfonie in
LmoII wurde im Gewandhaus und in der Euterpe mit vielem Beifall aufgenommen.
Eine Concertouvcrture zu „Axel und Walburg" von Ochlenschläger brachte schon
früher das letztgenannte Institut.
Der Organist der Johanniskirche zu Leipzig, Herrmann Schellenberg, gab
am Sonntage ein sehr besuchtes Concert in der Thomaskirche. Das Programm war
gut zusammengestellt aus Compositionen von I. Seb. Bach, Hauptmann und
Mendelssohn. Den Vortrag der Gesangsstücke hatte der Thomanerchor, die Soli der
Sänger Behr übernommen. Besonderes Interesse boten zwei Stücke von Bach, eine
Arie sür Baßstimme, obligate Flöte und' Orgel und eine Cantate (Ach Gott im Himmel
sieh darein) sür Chor und Baßsolo. Beide Stücke wurden das erste Mal seit Bach's
Zeiten zu Gehör gebracht, die Arie war überhaupt noch nie ausgeführt worden. Wir
empfehlen die letztere allen Freunden Bach's auf das Angelegentlichste; sie ist uns bis
in's innerste Herz.gedrungen und hat uns von Neuem überzeugt, daß der alte Herr
kein pedantischer Nechnenkünstlcr gewesen, daß ihm vielmehr ein recht frommes und fein¬
fühlendes Herz im Busen geschlagen. Die Zusammenstellung der Flöte und Orgel er¬
zeugt eine angenehme, warme Klangwirkung, vorausgesetzt, daß der Organist aus feine,
der Flöte angemessene Weise registrirt, was der Concertgeber sehr geschickt gethan hatte.
In Form und Charakter, nähert sich diese Arie jener des Alls in der großen Passion
(Ur. 10, Ausgabe von Schlesinger). Die Stimmung und die Grundgedanken des Textes
kommen fast überein, eben so ist die Flöte auch dort das in der Begleitung hervor¬
tretende, oder eigentlich das wirklich melodiesührende Instrument, zu dem die Singstimme
mit neuem Motive tritt und im unablässigen Wechselspiel die außerordentlichen Wir¬
kungen erzielen hilft, durch welche Bach jeden Augenblick überrascht. — Die Cantate
ist ein streng protestantisches Kirchenstück, dessen erster, contrapunktisch gearbeiteter und
übermäßig ausgedehnter Satz endlich ermüdet. Das folgende Baßrccitativ ist charak¬
teristisch und schön, nicht minder der im einfachen Contravunkte geschriebene Schlußchvral,
, der in der bekannten Weise des Meisters geführt ist. Am Schlüsse spielte der Concert¬
geber eine große Fantasie: „Zum Gedächtnisse Bach's," von, seiner eigenen Com-
posttion. Herrmann Schellenberg ist einer der tüchtigste», kenntnißreichsten Organisten
unsrer Stadt und er verdient wegen des Genusses, den er den Verehrern des Orgelspiels
bereitete, und wegen der trefflichen Zusammenstellung des Programms großen Dank.
In Paris wurden zwei neue Opern gegeben; die erste: „I.o?vro KaMsrcl," ist
von Sauvage und Reder. Eine frühere Oper von Reder: „I.a nuit as Rost," er¬
langte nur geringen Beifall; die Partitur der neuen soll freier und ungezwungener sein,
besonders aber von großem, Geschmack in der Behandlung der Instrumente zu komischen
Effect zeugen. — Die zweite Oper ist von Adam componirt und heißt: „8i ^'ötsis roi."
Ein neues Oratorium: „Johannes der Evangelist," von H. Küster wird in der
Berliner Sing - Akademie zur Aufführung kommen. Der Componist nennt es ein drama¬
tisches Oratorium.
'
Beethovens Sonate pathvtique ist von Schindelmeister für großes Orchester
bearbeitet worden. Das Arrangement liegt vor uns, und wir können uns darüber mit
großer Befriedigung aussprechen. Die Direction der Euterpe wird diesen Winter Ge¬
legenheit suchen, dieselbe vorzuführen.
Der Bräutigam auf Reisen ist eine Komödie, welche gegenwärtig in den
südlichen Provinzen Frankreichs mit viel Eclat aufgeführt wird. Die Braut ist
das Kaiserthum und sie verlohnt auch der Mühe, daß man um ihren Besitz durch
ein Dutzend Kathedralen auf den Knieen rutscht. Die Bigotterie und der Klerus
finden für den Augenblick ihre Rechnung bei diesem Spiele mit dem, was die
Gläubigen das Heiligste nennen, und der Moniteur darf täglich von dem Enthu¬
siasmus der Bevölkerung des Südens, von den Prachtaufzügen, von den tapferen,
rufgeübten Kehlen der postHumen Imperialisten berichten, um uns gehörig auf
das vorzubereiten, was uns der Prinzpräsident als Geschenk von seinem officiellen
Ausfluge mitbringen dürfte. Das Journal de l'empire ist bereits fertig, und
I)r. Veron, der sich trotz aller Zurücksetzungen des Elysve nicht von seiner ehr¬
erbietigen Freundschaft für den Prinzen abbringen läßt, wird schon nächste Woche
das Kaiserthum proclamiren. Louis Napoleon soll nicht einmal das Verdienst
haben, sich die Krone Frankreichs zu nehmen, los courlis-ruf us 1-r voille <Zs
l'vmpirö nu leliäem-un bringen sie ihm wedelnd entgegen. Aber zum Verständ¬
nisse dessen, was in Frankreich vorgeht, so wie zur Ehrenrettung dieses geschmähten
und tiefgekränkten Volkes ist es gut, den Empfangsfeierlichkeiten ein Wenig hinter
den bienengestickten Vorhang zu guten. Dies giebt zugleich einen Begriff von
der unbegrenzten Machtvollkommenheit, mit welcher die Angelegenheiten des Landes
jetzt geleitet werden. Die erste und Hauptaufgabe, welche die Potemkins des
französischen Czaren bei Gelegenheit des Triumphzuges unsres Retters zu lösen
hatten, war, einen möglichsten Zufluß von Leuten zu bewirken, und wir nuissen
zur Ehre der officiellen Festordner gestehen, daß dies mit eben so viel Geschick
als Erfolg geschehen. Die Präfecte erließen an alle Maires, an deren Adjuncte,
an die Pfarrer und Kapellane, so wie an die Gemeinderäthe aller in den durch
die Gegenwart des Prinzpräsidenten zu beglückenden Ortschaften den Befehl, dem
Oberhaupte des Staates und respective.dem Retter der Gesellschaft entgegen¬
zukommen. Sie erhielten zugleich den Auftrag, ihren amtlichen wie gesellschaft¬
lichen Einfluß aufzubieten, um möglichst viele Mitglieder ihrer Gemeinden zum
Erscheinen auf deu Berührungspunkten der prinzpräsidentlichen Reise zu bewegen,
was denn auch wirklich geschah. Das ganze ofstcielle und halbofficiclle Heer mit
ihrem verwandten Nachtrabe finden sich ans den Orten der Bestellung pünktlichst
ein und macheu pflichtschuldigst deu an den Moniteur telegraphirten Spectakel.
Die frommen Pfarrer erscheinen am Arme ihrer treuen Mägde und Haus¬
hälterinnen, um ihr andächtiges Gebet Salvum kao Hapoleonetv, in's Weltliche
übersetzt Vive l'^mpereur zum Himmel zu schicken. Den Bauern wird versichert,
daß die Commnnalwege, die nöthigen Bauten im Interesse ihrer Gemeinden alle
sofort beginnen würden, als der Priuzpräfideut von ihrem Eifer für seiue Person
überzeugt ist. Anderen, die einen Sohn, einen Bruder, einen Verwandten oder
Freund im Gefängnisse oder im Exile haben, wird in's Ohr geflüstert, daß sie
nur Viv<z 1'empöreur zu schreien brauchten, um ihre Angehörigen der Freiheit
wiedergegeben zu sehen. Die bei der Polizei schlecht Angemerkten werden er¬
mahnt und zu lebhaften Loyalitätsbeweisen angespornt, weil man sonst für Nichts
stehe u. s. w. So findet sich denn eine anständige Anzahl von gezwungenen
Bewunderern zusammen, nud das Ganze bietet einen artigen Anblick, mit dem
sich selbst die kaiserlichen Ansprüche Louis Napoleon's zufrieden geben können.
Anfänglich scheinen die gouvernementalen Forderungen bescheidenerer Natur ge¬
wesen zu sein, denn die meisten Gemeinden trugen auf ihren Festbannern blos die
Inschriften: Vive 1s xrvsiäsMl Vivs I^0ni,8 Mpolvoir l — Später steigerten sich
die Ansprüche und man schrieb neben den Goldletteru ein mit Kohle und Wasser
imprvvisirtes Vivs I'smperLue. So wünschen es die telegraphischen Bedürfnisse
des Moniteurs. Daheim wird mittlerweile anch nicht gefeiert, und der Börsen¬
minister Fould ließ seine College» von ehemals zu sich kommen und erklärte ihnen,
daß die 3°/g vor der Rückkunft des Präsidenten den Cours von 8 "/„erreicht
haben müssen. Nun sollten Sie das lustige Hinauftreiben der armen Actien
sehen. Das ist ein wahrer Hexensabbat, dieses Schauspiel an der Börse. Was
wird aber dem Kaiserthume zu thun übrig bleiben, wenn schon die Agonie der
Republik unsre Capitalien verdoppelt? Das weiß Louis Napoleon allein. Die
Presse steht dem Treiben mit geknebeltem Munde zu, und selbst die gouvernemen¬
talen Journale finden sich ans die unbegrenzte und unbestimmte Lobhudelei an-
gewiesen. Sie hat eben so wenig Wurzel im Boden der Regierung, wie die
Oppositionsorgane. Will man ja in Zukunft dieses nothwendige Uebel der mo¬
dernen Staatskunst ganz entbehren können, und nur der Moniteur verdient einige
Aufmerksamkeit. Die Journalisten, von denen bekannt ist, daß sie für auswärtige
Blätter arbeiten, sind vollends zu Tode gehetzt, und so wurde, um nur ein Factum
zu nennen, ein bekannter ungarischer Flüchtling auf die bloße Denunciation, für
deutsche Journale zu arbeiten, des Landes verwiesen und mußte binnen vierund¬
zwanzig Stunden seineu Paß holen. Das ist aber nur ein schwacher Anfang,
und wir sehen Alle der Zeit entgegen, wo wir in, unsrer Berichten das Wort
Politik als ein gefährliches noU me tan^ere meiden müssen. Zum Glücke bleiben
uns in Paris immer noch Ressourcen genug, und wenn uns auch das Kaiserthum
eine politische Mundsperre anlegt, wird es uns doch Gelegenheit zu großen Fest-
beschreibnngen und ähnlichen Sittenschilderungen bieten. Die Theater werden
dann auch vfstciell angespornt werden, und vielleicht erzeugt die neue kaiserliche
Aera sogar auch neue Genies. Vorläufig müssen wir uns noch mit den alten
behelfen und mit den Stücken von Georges Sand zufriedengeben. Der Hauch
kaiserlicher Huld ist aber vorläufig deu Poeten nicht günstig, denn der Prolog¬
schreiber Mvry hat mit seinem Stücke 1v saZe se 1s 5on eclatantes Fiasco ge¬
macht und es auch verdient. Das ist ein Stück Paul de Kock, ein Stück Murger,
ein matter Widerschein von Gozlan'scheu Frivolitäten und Excentrizitäten und
weiter nichts. Die Dichterin der Lelia wurde vom Publicum mit ihrem letzten
Producte I.e äsmon co ko^er weit günstiger aufgenommen. Madame Sand hat
eben keine gute Komödie geliefert, der Stoff ist allgemein ohne entschiedene Fär¬
bung der Charaktere gehalten, und das Sujet eignet sich weder zu einem humo¬
ristischen Lustspiele, noch zu einem sentimentalen Familienbilde — es hat von
Beidem Etwas, und beide Eigenschaften müssen erst durch das Spiel der Acteure
gehörig hervorgehoben werden, was denn auch geschieht und deu Erfolg des
Stückes sicherte. Einzelne reizende Details, einige gelungene Scenen, hier und
da ein schönes Bild, das fehlt dem neuen dramatischen Producte von Georges
Sand allerdings nicht, allein dasselbe bleibt doch nur ein ausgespannter Rahmen,
in welchen die Schauspieler erst deu reckten Sinn hineinzusticken haben. Mad.
Sand scheint seit den Ferien des Pandolphe die Phantastik im Lustspiele zur
Geltung bringen zu wollen. Es sollen intime Leidenschaften dargestellt werden,
aber ohne Berücksichtigung ans Charaktere unsrer gegebenen Gesellschaft. Es ist
das Theater auf dem Theater, und nur die allgemein menschlichen Saiten, die noth¬
wendiger Weise angeregt werden müssen, sollen uns erinnern, daß wir mit dem Dinge
etwas zu schaffen haben. Es ist eine gewisse Tendenz der deutschen Romantik
auf die Verhältnisse der modernen Gesellschaft angewandt. Das heißt,'das will¬
kürlich Ideale in Stoss und Person wird in den kleinen Kreis der gesellschaftlichen
Leidenschaften gezwängt, ohne besondere Rücksicht auf die Gesellschaft selber.
Georges Sand hat sich den Ingrimm einiger Feuilletonisten und nebenbei auch
eine Polemik mit einem Mitarbeiter eines belgischen Blattes zugezogen. Sie
keimen den Streit, Sie wissen, daß derselbe dadurch entstanden, weil Mad. Sand,
einen italienischen Prinzen von den Journalisten sprechen lassend, ihm den Ans-
druck Gazetier in den Mund legt. Um nun von der Persönlichkeit des Feuille-
tonisten, welcher sich zum unberufenen Champion der gesammten Presse aufgeworfen,
gar nicht zu reden, fragen wir blos, ob denn die französischen Journalisten gerade
in diesem Augenblicke ein Recht haben, den Kopf so hoch zu tragen. Die Mit¬
arbeiter des Pays, des Cvustitutionel und selbst des fraglichen Blattes wissen,
daß es Zeiten giebt, wo man sich Bedingungen stellen läßt, und daß sich auch
französische Journalisten finden, die ihre Bedingungen stellen. Wozu also die
Phrasen vou Honnötetö und von Würde — die Männer, die keinen Grund haben,
sich getroffen zu fühlen, schweigen, und finden es eben so wenig sonderbar, daß
mau deu Journalisten etwas nachsagt, als die Advocaten, Aerzte, oder sonst ein
Stand es übelnehmen, wenn sich die Satyre ihrer bemächtigt. Es befremdet uns
um so mehr, anch Jules Janin mit dem Trosse Chorus machen zu sehen. Mad.
Sand hat in dieser ganzen Sache nur einen Fehler begangen, und der ist, Herrn
Lecomte geantwortet z» haben. Sie hätte das Recht gehabt, mit Guizot zu sagen:
Va>s Insultes n'in'i'komt, pas g, la rmulsur as mori äöäain. vocem OMot:
der arme Exminister fährt in seiner versteckten Polemik gegen den Bonapartismus
fort — er stellt den Herzog von Wellington über Napoleon, oder doch diesem
zur Seite. Er hat die längst vergangene Geschichte Englands schon ganz aus¬
gebeutet, und der preise Herzog ist gerade zur rechten Z°it gestorben, um ihm
neuen Stoff zu geben. Aber die jetzige Regierung versteht keinen Spaß und
jede Anspielung sehr gut, und die Assemblve nationale wurde vermahnt, sich so
unpatriotisch englisch geberden zu können. Das Polizeiministerünn hat keine Zeit,
sich in Discussionen über den Ruhm Wellington's einzulassen, aber es verbietet
jede Veranlassung zu ungelegener Discussionen, und das kommt denn auch aus
Eins heraus.
Man wird sich erinnern, daß vor dem zweiten December eine Brochure über
den Staatsstreich lresp. über die französische Konstitution) erschienen war, welche
großes Aufsehen erregt hatte, weil bekannt worden war, daß diese Schrift den
Präsidenten der Republik zum Verfasser habe. In diesem Augenblicke soll eine
ähnliche Flugschrift erscheinen, welche sich zum Kaiserreiche verhält, wie ihre ältere
Schwester sich zum Staatsstreiche verhalten hatte. Die Correcturbogen dieses
neuesten literarischen Productes Louis Bonaparte's liegen vor uns, und wir haben
dieselben mit großem Interesse gelesen. Es ist die Sprache, es sind die Gedanken
und es ist ganz die Politik Louis Bonaparte's, und diese Apologie der Wieder¬
herstellung des Kaiserreichs verdient die volle Aufmerksamkeit der politischen Welt.
Wir wollen versuchen, ein getreues Resnmv nebst einigen Auszügen dieses wich¬
tigen Actenstückes den Lesern Ihrer Revue mitzutheilen.
„Es ist jetzt klar, daß die unwiderstehliche Bewegung der öffentlichen Meinung,
der einstimmige Schwung der Nation, wie er sich allseitig in den Wünschen der
Generalräthe ausgesprochen, der Fortschritt der politischen Ideen, die Lehren
einer contemporairen (jetztzeitigen) Erfahrung, das Interesse Frankreichs, Europa's,
der Welt, dazu beiträgt, in einem mehr oder minder nahen Zeitpunkte die Wieder¬
herstellung des Kaiserreichs herbei^nführen."
So beginnt der anonyme Schriftsteller, welcher, um sein Jncognito um so
besser zu wahren, erklärt, daß er weder den Präsidenten, noch irgend einen seiner
Freunde kenne, und fügt hin^n, daß er nur seine persönliche Meinung aus¬
sprechen wolle. Um die Nothwendigkeit des Kaiserreichs darzuthun, giebt der
Pamphletist eine gedrNngene Darstellung der Geschichte Frankreichs seit der ersten
französischen Revolution bis auf unsre Tage, aus welcher hervorgeht, daß nnr
Napoleon eine wirklich nationale Regierung gegründet, und daß daher nur sein
System und seine Dynastie eine stabile Regierung gründen können. Die Ge¬
schichte Frankreichs, wie sie unser Schriftsteller auffaßt, lehrt nämlich, daß der
Kaiser blos den Koalitionen des Auslandes gegenüber gefallen sei, während alle
anderen Regierungen der Emeute und dem Bürgerkriege unterlagen. -Die Ursache
dieses Phänomens ist dem Verfasser die Axe, um die sich das Problem der Neu¬
zeit dreht, und diese sendet er in dem Umstände, daß ,,der Kaiser die Revolution
ohne Rückhalt angenommen und sie im Innern durch seiue Gesetze und nach
außen hin dnrch seiue Siege zur Geltung brachte." Die Revolution von 1789
ist aber dem Pamphletisten der Inbegriff der menschlichen Fortschritte, und blos
weil sie entweder zu weit ausgedehnt wurde (durch Abschaffung der Monarchie),
oder »late genug anerkannt, wie unter der Restauration und der Juliregierung,
konnte sich kein Gouvernement in Frankreich halten. „Dann fühlte sich der Kaiser'
so sehr als Vertreter dieser Revolution, daß er keinen Augenblick anstand, das
neue Recht Frankreichs, die Nationalsouverainetät an, die Stelle des Rechts von
Gottes Gnaden zu setzen." Seit 181S hingegen sieht unser Verfasser blos Re¬
gierungen, welche die Revolution nicht aufrichtig anerkannten, und welche ihre
Autorität nicht in der Volkssouverainetät suchten. Hierin liegt der Grund der
Schwäche dieser Regierungen, welche oft den unbedeutendsten Emeuten erlagen. Und
sie unterlagen trotz der Organisation Napoleon's, deren Wohlthaten ihnen doch
zu Gute gekommen waren: der Code, das Finanzsystem, das Budget, die Bank,
die Ehrenlegion, die Armee, die administrative und gerichtliche Einheit: „Mit
einem Worte alle Lebenskräfte des Staates, und die Restauration sowol, als Lud¬
wig Philipp hatten blos die verständige Maschine in Bewegung zu setzen, welche
die Hand des Genies geschaffen, was, beiläufig gesagt, die Anhänger des Kaisers
während dessen Verbannung auf der Insel Elba sagen ließ: die Bourbonen
herrschen, aber Napoleon regiert."
Die französische Revolution war eine Schwester der Reformation. Diese griff
die religiöse Autorität, jene die monarchische an. Beide wollten blos Mißbräuche
abschaffen, aber weder die Religion, noch die Monarchie unterdrücken, die Vor¬
sehung schuf nach der Revolution einen Mann, so groß und noch größer, als
diese gewesen, um sie zu heiligen, ihre Grundsetze zu verbreiten und ihnen eine
Grenze zu stecken. Dieser Mann war Napoleon. Die französische Revolution
hat das Fcndalrecht abgeschafft,, der Kaiser hat durch seinen Code die letzten
Spuren desselben verwischt. Sie hat die Dazwischenkunft Aller bei den Steuer-
votirnugen ausgesprochen, der Kaiser hat diese Principien beibehalten. Sie hat
die ausnahmsweisen Gerichte aufgehoben, Napoleon hat die Einheit des Gerichts¬
wesens gegründet. Sie hat allen Staatsangehörigen den Zutritt zu allen Aem¬
tern eröffnen wollen. Der Kgiser hat seine Marschälle aus Bauern gewählt.
Die Revolution wollte die geistliche Macht der weltlichen untergeordnet wissen.
Napoleon machte jene von dieser in einem gerechten Maße abhängig. Weiter
konnte und durfte man nicht gehen.
Der Kaiser gab, wie der Verfasser schon bemerkt, diesem Spöte-in die National-
souverainetät zur Grundlage, und er habe auch bis zu seinem letzten Augenblicke
niemals seinen populairen Ursprung verläugnet.
Seine Nachfolger haben das Gegentheil gethan.
„Ludwig XVIII. und Carl X. fühlten Beide, daß sie blos die Könige des
Adels und des Klerus seien, das heißt von zwei Kasten, die sich in großer Min¬
derheit im Lande befinden, sie regieren auch nicht im Interesse des Landes, von
welchem sie weder ein Mandat verlangt, noch erhalten haben, sondern im Interesse
der beiden Kasten. Ludwig Philipp seinerseits wird ausschließlich für die Bour¬
geoisie thun, was die ältere Linie für den Adel und den Klerus gethan. Und
zunächst überzeugt, daß sie blos eine Minderheit darstellen, wagte keiner von
ihnen, was der Kaiser gethan. Sie befragten nicht das allgemeine Stimmrecht;
sie haben zurückgeschreckt, die Frage ihrer Existenz dem allgemeinen Stimmrechte
vorzulegen."
Ludwig XVIII. nahm vom Throne Besitz, wie von einem Lehensgnte, er
octroyirte eine Charte (sie), und verwarf die vom Senate ausgearbeitete, deren
Annahme versprochen war.
,,„Mau verlieh der Nation ein angebliches Verfassungsgesetz, eben so leicht
zu umgehen, als zu, widerrufen und in der Form von einfachen königlichen Or¬
donnanzen, ohne die Nation zu befragen, ohne selbst jene ungesetzlich gewordenen
Körperschaften zu befragen — Schatten von einer Nationalvertretung — (sie),
und so wie die Bourbonen ohne Recht befahlen und ohne Garantie versprachen,
haben sie umgangen'ohne Ehrlichkeit und ausgeführt ohne Treue (!),
die Verletzung dieser angeblichen Charte wurde blos durch die Furchtsamkeit
der Regierung beschränkt, die Ausdehnung des Mißbrauchs der Autorität
wurde nnr durch deren Schwäche begrenzt."" „Wer hat das gesagt? Der Kaiser
selbst in einer im Moniteur vom 13. April 1815 eingerückten Erklärung an seinen
Ministerrath, drei Woche» nach seiner Rückkehr von der Insel Elba."
Und wer hat diese merkwürdigen Worte wiederholt? Louis Bonaparte, .zehn
Mouate nach dem Staatsstreiche vom zweiten December und wahrscheinlich zwei
Monate vor der Proclamiruug des Kaiserreiches. Der erlauchte Verfasser scheut
überhaupt gefährliche Anspielungen nicht, und so finden wir zu unsrem Erstannen
auch folgende Stelle in dem Pamphlet gegenwärtiger Besprechung.
'
„Man kennt die Geschichte der beiden Regierungen der alten Linie der
Bourbonen und die rasche Aufeinanderfolge ihrer Acte, welche sie unter dem un¬
mittelbaren Einfluß des Adels und der Geistlichkeit in's Verderben gestürzt haben,
so wie es der Kaiser vorausgesagt: Verbannung der Erinnerungen des National¬
ruhmes, politische Verfolgungen und Hinrichtungen, Prevotalgerichts-
höfe, Ministerien Richelieu, Decaze, de Villele, Verletzung der Tribune in der
Person des Ubbo Gregoire und Manuel's, Gesetz gegen die Presse, gegen
die Schriftsteller, gegen die Journale, spanischen Krieg, Entlassung Cha¬
teaubriand's, Wiederherstellung der Censur, Gesetz gegen die kirchliche Entweihung,
Uebermacht des Klerus und des Adels, die Milliarde für die Emigrirten, Pro¬
cesse der Journale, Majoratsrechte, neuerliche Wiederherstellung der Censur,
Ministerium Polignac, Vorlegung der Charte, Julirevolution."
Nach dem Verfasser waren es die verläugnetcn bonapartistischen Ideen,
welche der Opposition zu Mitteln dienten, eine Bresche in das Reich der Bourbonen
zu stoßen. Es war natürlich, daß nach der Julirevolution, meint er weiter, der
Herzog von Reichsstadt auf den Thron gelangen werde, er war weit von Paris,
und Louis Philipp bemächtigte sich seines Opfers, unterstützt von Lafayette, La-
fitte und Dupont de l'Eure. Louis Philipp hätte sein Reich stützen können, wenn
er es gewagt hätte, das allgemeine Stimmrecht zu befragen, aber es fehlte ihm
hierzu an der nöthigen Kühnheit des Geistes, und trotz seiner vom Verfasser
anerkannten Geschicklichkeit beging er dieselben politischen Fehler, die seine Vor¬
gänger auch begangen. Er erhielt die Krone von einigen Deputirten, und sah
sich genöthigt, das parlamentarische System auszubilden, das ihn später stürzen
sollte. Sohn eines Jacobiners und selbst Jacobiner, kann er es nicht wagen, offen
mit der Revolution zu brechen, und er versucht durch 1i Jahre vergebens, die
Autorität mit der Licenz, den Fortschritt mit der Ordnung, die revolutionäre
Heißblütigkeit mit der Stabilität einer ernsthaften Regierung zu vereinigen. Sich
blos auf die Nationalgarde von Paris stützend, regiert er im Interesse der
Bourgeoisie. Er schafft eine regierende Kaste mit Ausschluß des Talentes, des
Verdienstes, ja selbst des Genies. Er bemüht sich, die Sympathien für den Kaiser
in seinem Interesse auszubeuten, er bringt die Asche Napoleon's heim, aber er
macht aus dieser nationalen Maßregel blos eine kleinliche Intrigue, um Thiers und
Guizot eine Genugthuung auf einige Stunden zu verschaffen. Man haßte Louis
Philipp, die junge Generation liebte das Kaiserreich und hoffte die Wiederher-
stellung dieser Ideen vom Herzoge von Orleans Md später von der Herzogin von
Orleans. Louis Philipp fiel einer Eineute zum Opfer, wie ihn eine Emeute
aus den Thron brachte. Nun folgt eine Parallele Frankreichs mit England
welche beweisen soll, daß die parlamentarische Regierung daselbst möglich ist, in
Frankreich aber eine unausführbare Neuerung eine gefährliche Fiction bleiben muß.
Carl X. und Louis Philipp starben im Exile, während ihre Minister Polignac,
de Peyronnet, Guizot, Duchatel und Dumon nach Frankreich zurückkehren durften.
„So wurde zweimal innerhalb 20 Jahren der Grundsatz der UnVerantwortlichkeit
des Monarchen in Frankreich ausgeübt!" Der Unterschied zu Gunsten Englands
war natürlich: „In England sind die politischen Fragen nur Fragen der National-
Jnteressen, und eine neue Regierung bringt nur ein wirkliches Regierungssystem
mit sich, das der König oder die Königin ohne Zaudern annehmen, weil es der
wahre Ausdruck der Bedürfnisse des Landes ist. In Frankreich, man muß es
gestehen, ist der Kampf blos ein Kampf persönlichen Ehrgeizes, und Herr Thiers
selbst gestand^ dies zu, als er durch Herrn von Remusat erklären ließ, daß es
nur dasselbe Lied sei, wenn gleich auf andere Weise gespielt."
Die Februarrevolution wird nicht weniger geschont, auch sie hat nach Louis
Bonaparte eine Usurpation begangen, denn das allgemeine Stimmrecht wurde erst
nachträglich befragt und nach Wahllisten, was einer Fälschung gleich komme. Nur
das suklrax«; universal Louis Bonaparte's ist das wirkliche, wenn die Soldaten
auf das Commando ihrer Vorgesetzten, die Bauern aus Befehl der Geistlichen
und der Maires stimmen, wenn die mißliebigen Wähler, deren Einfluß man
fürchtet, vorläufig eingesperrt oder verbannt werden, kann dieses demokratische In¬
stitut sich gehörig frei bewegen, nur dann ist vox populi vox ciel. Die Febrnar-
revvlntion wird nur einer Seite gewürdigt. Die Asfemblve ist ein polirisches
Babel, und eine angeblich neue Wunde des Socialismus versucht es im Laude
durch die Grvschenjournale zu verbreiten. Allein die neue Wunde ist alt und
erscheint im Gefolge jeder Revolution. 1789 habe Baboenf gehabt, 1830 den
Se. Simoniom und 1848 fiel der Socialismus zu seinem Theile bei. „Glücklicher
Weise erschien der Zwerg des Socialismus blos im Luxembourg, um den Tarif
der Fiaker festzusetzen. Das Hotel de ville hatte die politische Ohnmacht Lamar¬
tine's bewiesen. Das Luxembourg that die ökonomische Louis Blanc's dar. Wir
wollen nicht von Babel's Deurieu, vom Circulair des Herrn Pierre Lervix und
von den Phalanstere^Albernheiten ConfMrants reden. Wenigstens haben diese un¬
schuldigem Träumer in den Vortrag ihrer Geschichten, um stehend dabei einzu¬
schlafen, eine Lonhomie gelegt, die entwaffnet, und sie find ohnehin genugsam ge-
geißelt worden von dem einzigen Manne vom Geiste, den ihre Partei zahlte von
Proudhon, jenem Swift der Demagogie, der so vortrefflich deren Lilipntiaua
dargestellt."
Schon aus dieser Stelle erhellt, daß der Verfasser es nicht wagt und es
auch nicht mag, den Socialismus dive zu verurtheile». Von Proudhon sagt
er gar nichts, und die anderen Socialisten behandelt er als unschuldige Träumer,
während der Socialismus im Allgemeinen als Krebs bezeichnet wird. Aber anch
das ist nicht ganz ernst gemeint, denn an einem andern Orte lesen wir folgende
Stelle: „Von den untere» Klassen der Gesellschaft schlecht verstanden wurde der
Socialismus eine wahrhafte öffentliche Gefahr", worin alle socialistischen Schrift¬
steller mit Louis Bonaparte einverstanden sein werden.
Diese Gefahr kam aber auch daher, daß mau in Frankreich, sagt der, Ver¬
fasser, nicht genug davou überzeugt gewesen, daß durch den Kaiser die französische
Revolution abgeschlossen und nichts mehr zu thun sei. Die Geschichte der Na¬
tionalversammlung beweise das — keine einzige große Frage wäre an der Tages¬
ordnung gewesen, und man habe blos die Parteistreitigkeiten sortgesetzt mit den¬
selben Menschen und mit derselben Redseligkeit. Der Versasser vergißt» daß diese
Männer nnr darum wieder gewählt wordeu, weil sie dem Laude feierlichst ver¬
sprochen, sich deu neuen Ideen anzuschließen, und für den materiellen wie geistigen
Fortschritt, für die Republik zu kämpfen. Sie haben das Land belogen.
Es ist jedenfalls eine sonderbare Beweisführung, wenn man sagt,, es ist kein
Fortschritt mehr zu machen, weil eine gegebene Nationalversammlung eines Landes
keinen gemacht. Wo wäre denn aber auch die große reformatorische Mission
des Präsidenten selbst? Das wird also wol nur ein Irrthum sein!
Die Nationalversammlung erhitzte sich in diesen Parteistreitigkeiten so lange,
wie sie ihr Mandat überschritt und das allgemeine Stimmrecht verletzte (Louis
Bonaparte und seine Minister, welche die Versammlung unterstützt, waren da¬
mals etwa in Australien?); sie wollte trotz ihrer Entzweiung und trotz ihrer Jm-
popularität alle Gewalt an sich bringen, da stand ein Genie aus, welches das
versinkende Staatsschiff rettete. Louis Bonaparte war der Mann, und der
2. December die rettende That.
Trotz Lamartine und Cavaignac, trotz der Regierung, welche alle Mittel in
Händen hatte und gebrauchte, Louis Bonaparte in der öffentlichen Meinung zu
schaden, wurde dieser doch wieder gewählt. „Sechs Millionen Stimmen pro-
testiren gegen die republikanische Minorität und geben dem neu¬
erwählten das Kaiserthum. Von jenem Tage brauche Louis Bo¬
naparte keine Krone zu beneiden, weder Notxe Dame noch Rheims,
das allgemeine Stimmrecht hat ihn geheiligt."
Mit einer unmöglichen Verfassung in Widerspruch gebracht, in Antagonis¬
mus versetzt mit eiuer unvolksthümlichen retrograden Versammlung, welche Frank-
reich dem Byzantinischen Reich zuführte, konnte der Präsident blos eine Gelegen¬
heit abwarten, dieselbe unter einem Schlage der Autorität vom Gewichte von sechs
Millionen Stimmen zu vernichten. Louis Napoleon hat es gethan, aber er
folgte nicht dem Beispiele seiner Vorgänger, er rief das allgemeine Stimmrecht
an (in der bekannten Weise). Der gordische Knoten war also unter dem
Beifalle des Landes von diesem modernen Alexander zerhauen, und Prinz Napoleon
steht von jenem Moment in der ersten Reihe der berühmtesten Staatsmänner
und Politiker. Louis Bonaparte hat das Scepter verdient, das die Bourbonen
schon so oft aus ihren ungeschickten Händen entwischen ließen. Er hat bei seiner
Constitution die Ideen des Kaisers zu Rathe gezogen, und so ist diese in der
That das ne»n plus ultra aller vergangenen und bestehenden Verfassungen
geworden. Er hat keine Abstractionen gemacht, er hat die Verfassung des Jahres
VIII mit Erfolg den Bedürfnissen unsrer Zeit angepaßt. Sie läßt Nichts zu
wünschen übrig, und selbst die englische Verfassung weit hinter sich. (Folgt wieder
ein Vergleich zwischen England und Frankreich.) Der Hauptvorzug ist immer
noch die Ausübung des allgemeinen Stimmrechtes la mimiöre que vous
eormaissW. Aus den bisherigen Entwickelungen folgert der Verfasser, daß „Frank¬
reich sich zum Morgen des Reiches-von Napoleon zurückgeführt sieht, und daß
die Restauration, die Julianstalt und selbst die Februarrevolution, für uus,
die wir ihm deren Nachwelt sind, blos zu vorübergehenden Zufällen herabsinken,
zu ephemeren Parenthesen in der Ordnung der Ereignisse, zu Regierungen des
Antagonismus, beruhend auf schlechten Grundlagen und untergraben von immer¬
währenden Agenten der Zerstörung. Es ist daher verständig, es ist daher natür¬
lich, das Regime des Kaisers wieder aufzunehmen in dem, was es Heilsames und
Großartiges hatte, mit Ausnahme des Krieges, der heute unnütz, mit
Ausnahme des Despotismus, dessen vielleicht zu absolute Aus¬
übung in den Händen des Kaisers eine Nothwendigkeit jener Zeit gewesen, blos
eine Folge der europäischen Kriege."
Napoleon's Geschichte wäre erst zu schreiben, denn es ließe sich nachweisen,
daß der Kaiser zu allen seinen Kriegen, selbst zum Feldzuge nach Rußland, ge¬
zwungen worden war. Die royalistischen Verschwörungen haben ihn dazu ge¬
nöthigt. „Das Blut kocht Einem in den Adern, wenn man bedenkt, daß der
größte Mann, der große Politiker, der größte Monarch der Welt einer Intrigue
erlegen sei, und daß Fouchv und Talleyrand, das Verbrechen und das Laster,
die thätigen Agenten seines Falles gewesen."
„Die Lage ist heute nicht mehr dieselbe, und der Prinzprästdent der Republik kaun
keine bedeutsameren Beweise seiner friedlichen Absichten geben, als indem er thut, was
er eben im Legriffe ist, eine Reserve zu bilden, die ihm erlaubt, den Efsectivstand der
Armee zu vermindern." Die Parteien sollen daher aufhören, immer wieder von
Kriegszehnten zu sprechen. „Ein Feind, der entwaffnet, ist nicht zu fürchten!"
Der Kaiser selbst habe erklärt, daß seine Kriege, zu seiner Zeit nothwendig,
min unmöglich geworden seien, es wäre unsinnig, sie zu unternehmen, und über¬
dies hätte Frankreichs Unglück genug Schwierigkeiten erzeugt, als daß man einen
andern Ruhm zu suchen braucht, als deren glückliche Entfernung.
Mit diesem' Rathe des Kaisers und mit diesen friedlichen Aeußerungen des
Präsidenten steht folgende Stelle in sonderbarem Widersprüche, und wir können
nicht umhin, dieselbe dem Nachdenken des deutschen Lesers zu empfehlen. Die
Handelsschwierigkeiten zwischen Frankreich und Belgien geben ihr eine um so
größere Bedeutung.
Dort, wo der Verfasser die Nothwendigkeit und Leichtigkeit der Wieder¬
herstellung des Kaiserreichs aus einander setzt, ruft er aus: „Wie sollten hente die
Mächte Europa's, nach einer Revolution, die ihnen so viel von ihrem Nimbus
genommen, einem Prinzen gegenüber, der ihnen denselben wiedergegeben, sich in
unsre inneren Angelegenheiten mengen wollen? Blos der Geist der Faction
kann eine solche Hypothese glaubwürdig erscheinen lassen. Was könnten wir
übrigens wünschen, was wir nicht schon hätten? Vielleicht das linke Rheinufer
und Belgien, das heißt die natürliche Grenze Frankreichs mit den Pyrenäen, den
Alpen, dem Rhein und dem Meere, mit anderen Worten die Grundlage des
Vertrages von Campo Formio und des Friedens von Amiens? Ja, ohne Zweifel,
jedes französische Herz, jeder wahrhaft europäische Patriotismus muß wünschen,
für das Gleichgewicht und die Ruhe der Welt diese definitive Grundlage der
französischen Gewalt, deren Wiederherstellung im Jahre 1815 in ihrer Ein¬
fachheit besser gewesen wäre, als alle angeblich macchiavellistischen Combinationen
des Kongresses in Wien. Ach Gott! wer weiß, was die Vorsehung die¬
ser Welt noch für Ueberraschungen vorbehalten? Die Könige Europa's
werden vielleicht eines Tages selbst die Hand bieten zu dieser endlichen Combina¬
tion, welche mit den Erklärungen von Frankfurt und von Paris (1814) überein¬
stimmen und welche den Entzweiungen des Continents ein Ende setzen würden.
Aber es handelt sich jetzt nicht darum" (gie). Das ist klar und braucht keinen
Commentar.
Frankreich muß das Kaiserreich wieder herstellen, denn es bedarf des äußern
Zeichens seines wirklichen Ranges und seiner wirklichen Macht, und es handelt sich
blos noch um diese Aeußerlichkeit, da der Sache nach das Kaiserthum bereits
hergestellt sei. Die Nationalversammlung habe selbst die Monarchie wieder her¬
gestellt, als sie einen Präsidenten an die Spitze des Landes setzte, und dieses
hat durch die Wahl Louis Bonaparte's das Kaiserreich wieder hergestellt. Louis
Bonaparte ist der Erbe des Kaisers, und ihm gebührt der Thron, da der Sena-
tnsconsultus vom 18. Mai 1804 noch nicht von der Nation widerrufen worden.
Der Kaiser habe es selbst gesagt: „5s ins 8eriÜ8 releve nu pica clef ?^rsn6e8,
8l ssulement ^'sus86 6t<z mori pst.it, til8." Dieser Spruch wurde vom Ver-
fasser als Motto seiner Schrift verwendet, was andeuten soll, daß er der ge¬
wünschte Enkel sei. In der That ist er der Enkel der Kaiserin Josephine und
der Neffe des Kajsers. Er hat durch seiue Vergangenheit und durch seine Ne¬
gierung bewiesen, daß er auch der Erbe des Genies von Napoleon gewesen.
Denn wie uns der Verfasser sagt, hat Gott einem edlen Volke an seine Spitze
einen Mann gegeben, der ein administratives Genie ist wie Colbert und ausführt
wie Richelieu, schreibt wie Pascal, herrscht und regiert wie Napoleon."
Das Kaiserreich hat übrigens nichts mehr zu fürchten vom Auslande, da der
Hauptgrund der Koalitionen, der Haß Englands gegen Frankreich, wegfalle. Seit
Amerika frei, habe England nicht mehr Ursache, Frankreich zu hassen, und es gebe
keinen' Pitt mehr.
„Die Wiederherstellung des Kaiserreichs hätte nicht nur einen Sinn für
uns, in unsrem Lande, in unsrer Herde, in unsrem Innern, sondern auch einen
beträchtlichen, welcher verdient, die Augen und das Nachdenken Europa's auf
sich zu richten."
Mit Louis Napoleon's Kaiserkrone würden die Staatsideen wieder her¬
gestellt werden als nöthiges Gegengewicht für die Nevolutionsid e en.
Weder Graf Chambord, noch der Graf von Paris hatten Aussicht, weil sie
die französische Revolution nicht zur Anerkennung bringen konnten, und falls sie
es thäten, würden sie nur fortsetzen, was Louis Bonaparte so glorreich begonnen.
Frankreich wolle das Kaiserthum, und nur die Factionen wären dagegen. Der
Schluß lautet, wie folgt: „Als der Kaiser starb, wollte das Volk nicht an
diesen Tod glauben: es wiederholte oft, daß der Kaiser eines Tages plötzlich wieder
erscheinen werde. Diese rührende populaire Legende hat sich auf diese Weise ver¬
wirklicht, denn der Kaiser erscheint wieder in seinen Werken, in seinem Geiste, in
der Person seines Erben, des Enkels der Kaiserin Josephine. Das ist ein
Wunder des Geschickes! Hier ist er in der That, Ihr seht es, Ihr hört es, er
lebt, er ist vor Euch. Begrüßet also diese vierte Dynastie, von welcher der
Kaiser unaufhörlich in Se. Helena gesprochen und welche in seinem Gedanken für
immer das Wohl, die Glückseligkeit und die Ruhe Frankreichs sichern sollte. Accla-
miren wir das constitutionelle Kaiserthum Frankreichs. Acclamiren wir nun das
Kaiserreich und den Kaiser. Es ist der Wille des Volkes und Gottes." Von
gewisser Seite her wird in Umlauf gesetzt, ein Herr Deschamp wäre der Ver¬
fasser dieser Brochure, wir glauben aber zu wissen> daß sie aus'der Feder des
Präsidenten selbst rühre, oder doch von ihm dictirt und in ihren Grundsätzen
entworfen worden sei.*)
Wenn man Berlin nach einiger Zeit zum ersten Mal wiedersieht, macht es
trotz aller Einwendungen den Eindruck einer schönen Stadt. Zwar hat man ganz
mit Recht hervorgehoben, daß der Mangel einer günstigen Natur und einer or¬
ganischen geschichtlichen Entwickelung sich durch nichts ersetzen läßt, daß, mit Aus¬
nahme der älteren Stadttheile an der Spree, die ganze Residenz so aussteht, wie
etwas Gemachtes; allein wir werden doch allmählich dahin kommen, den histori¬
schen Charakter einer Stadt nicht nach ihrem historischen Stillleben abzumessen.
Daß man in unsrer Zeit, wo die natürlichen Bodenverhältnisse nicht eine andere
Richtung vorschreiben, die Straßen gerade und breit baut und nicht'in labyrin¬
thischen Verwickelungen, dürfte wol ebeu so gerechtfertigt sein, als daß man den
Boden, wo-er theuer ist, so stark als möglich zu verwerthen sucht, daß man also
die Häuser hoch baut. Daß ferner die neuen Stadttheile mit einer gewissen un¬
ruhigen, geschäftsmäßigen Hast und nach einem einförmigen Plan auf Specula-
tion aufgeführt werden, dürfte bei dem jährlichen Zmvachs von etwa 13,000
Menschen eben so in der Natur der Sache begründet sein. Gegen den Baustyl,
der in diesen neuen Unternehmungen vorwaltet, läßt sich allerdings vieles Er-,
schliche einwenden. Er erinnert einestheils an die Casernen, die ihm als Vor¬
bild gedient haben, und andererseits in dem unruhigen Experimentiren seiner
Verzierungen an jene Zeit, wo man die schöne Form nicht ans dem Natur¬
gemäßen herleitete, sondern sie als etwas Aeußeres, Willkürliches hinzutreten
ließ, und darum die Muster aus den allerentgegengesetztesten Stylarten entlehnte.
Allein einerseits hat die energische elastische Sicherheit, mit der diese neuen Arme
der Weltstadt aus dem Boden hervorwachsen und sich ausdehnen, schon an sich
etwas JmponirendeS, andererseits vermißt man auch das immer wachsende Behagen
nicht, welches aus der Unruhe und Unstätigkeit des immerwährenden Werdens
allmählich zu eiuer gewissen Ordnung und Form leitet. Man denkt in den neuen
Straßen schon hin und wieder daran, dnrch Bänme und dergleichen die Mono¬
tonie anmuthig zu unterbrechen. Zudem wird der naturgemäße Lauf der Ent¬
wickelung den Charakter des Gemachtem allmählich auslöschen. Dieser Charakter
spricht sich am widerwärtigsten in der grämlichen Mauer aus, die Berlin lange
vor seinem Entstehen eine unabänderliche Form zu geben bestimmt war, und die
es in einen abstracten Schlacht- und Mahlstencrbezirk verwandelt hätte. Die
Baulust hat nach diesen Schranken nicht gefragt; sie hat das Köpnicker Feld
liegen lassen und sich nach dem Thiergarten hin ausgedehnt, der theils unmittel¬
bar, theils durch seine Nachbarschaft den gelangweilten Geschäftsstyl der langen
Straßen unterbricht. Jetzt wird allmählich durch den Canal, an dessen Seite ein
sehr hübscher Spaziergang nach Charlottenburg führt, die Physiognomie der
Stadt verändert und die Gemüthlichkeit mich nach einer andern Richtung hin ge¬
pflegt werden. Zwar sehen die Bäume, die man an die Seite gepflanzt hat,
immer nnr noch wie schüchterne Wünsche ans, aber bei dem unglaublich rüstigen
Fortschreiten Berlins werden diese Gegenden bald einen gehaltener», bestimmtem
Charakter annehmen. Die städtische Verbindungsbahn hat schon einige Male mit
ihrem eisernen Finger an die Stadtmauer geklopft und sich Thore geöffnet, man
wird allmählich für die Erhaltung der Schlacht- und Mahlsteuer sich nach anderen
Mitteln und Wegen umsehen müssen, und wenn die Mauer erst gefallen sein
wird, so zählt Berlin eine Reihe prächtiger und heiterer Straßen mehr. Dem
berüchtigten Stande ist schon ein Terrain nach dem andern abgewonnen; die mit
ihm verbündeten militärischen Uebungen ziehen sich immer weiter zurück; der
Wilhelmsvlätz hat sich in einen anmuthigen Garten verwandelt, und der
ehemalige Exercirplatz entwickelt sich zu einem Gemälde im größten Styl. Das
Kroll'sche Etablissement, das diesen Platz verziert, wäre allein hinreichend, den
weltstädtischen Charakter Berlins auszudrücken. Wenn es schon in seiner frühern
Form gerechte Bewunderung erregte, so ist diese Erinnerung nach dem neuen Auf¬
bau zu etwas Unbedeutenden und Dürftigen herabgesetzt. Diese großartigen
Säle, in denen sich jetzt das muntere Völkchen von Berlin allabendlich versammelt,
zeichnen sich nicht nur durch einen wahrhaft heerartigen Glanz und Reichthum,
sondern auch, was mehr sagen will, durch einen correcten Geschmack aus. Die
Form des Hauses, seine Verzierungen mit einbegriffen, ist durch seine Bestim¬
mung, und durch seine Lage mitten in einem Park indicirt, und die Pracht der
innern Ausrüstung ist so harmonisch geordnet, daß sie nirgend beleidigt. Wenn
Kroll öfters abbrennen und jedesmal in einer neuen höhern Entwickelung aus
der Asche hervorgehen sollte, so werden nächstens den Berlinern die Märchen
aus Tausend und einer Nacht schal und abgeschmackt vorkommen.
Die eigentlichen Verschönerungen Berlins, die in den letzten Jahren unter¬
nommen und von Künstlerhand ausgeführt sind, beschränken sich fast ausschließlich
auf den kleinen Raum, der sich als Kern der Stadt wol immer erhalten wird.
Es sind Ihnen darüber von kundiger Hand von Zeit zu Zeit Berichte zugekom¬
men, die mit anerkennenswerther Pietät das Gute und Bedeutende, das sich in
diesen Unternehmungen so reichlich vorfindet, ans einander setzen. Man darf aber
doch nicht die Kehrseite übersehen. Unzweifelhaft gewährt der Platz vom Schloß
an bis zu den Linden einen malerischen Anblick, der sich selten in einer großen
Stadt wiederfinden wird. Es lag freilich schon früher etwas Bedenkliches in der
Zusammenstellung der entgegengesetztesten Kunstformen, die einzeln auf das Vor¬
trefflichste und zum Theil Großartigste ausgeführt waren, die aber dnrch ihre Zu¬
sammenstellung verwirrten und beunruhigten; indeß konnte man darüber hinweg¬
sehen , da sie in der That zu verschiedenen Zeiten entstanden waren und den
Charakter ihrer Zeit auf eine würdige Weise ausdrückten. Denn auch der antiki-
streute Styl des alten Museums und der katholischen Kirche entspricht einer
bestimmten Phase des modernen Bewußtseins. In neuester Zeit aber sieht es
fast so aus, als wollte man mit einer gewissen Absicht alle möglichen Kunstformen
durch einander wirren und daraus eine neue Kunstform erzeugen, wie die roman¬
tische Schule durch Durcheiuaudermischuug sämmtlicher Religionen des Weltalls
ihr neues Evangelium chemisch zu destilliren beabsichtigte. Das alte Schloß hatte
in seiner Einfachheit eine so würdige, imponirende Form; nnn bat man eine
Kuppel darauf gesetzt, uoch dazu auf einer Seite, die gar keine Front darbietet,
die zwar vom Innern aus betrachtet, und wenn man vom Uebermaß der ein sich
ziemlich indifferenten Bilder absieht, einen sehr guten Eindruck macht, die aber
den Charakter des ganzen Gebäudes vollständig aufhebt. Zum Ueberfluß hat
mau einen großen Laternenpfahl davor aufgestellt, auf dem ein goldnes vogel¬
artiges Wesen schwebt. Das soll eine Säule sein mit dem Adler der Hohen-
zollern daraus. Diese dünnen Säulen, die nichts tragen, sondern blos für sich,
selbst da sind, scheinen von dem leitenden Geschmack der neuen Unternehmungen
mit besonderer Vorliebe betrachtet zu werden. Man hat sogar die schone Treppe
des alten Museums mit zwei solchen Wegweisern entstellt.
Das Uebermaß der neuen Geschmacksoerwirrung zeigt sich im neuen Museum.
Wir, die wir noch Gelegenheit haben, das Werk in seinem Entstehen zu ver¬
folge», können uns an den einzelnen herrlichen Kunstwerken erfreue». Einer
spätern Generation wird das nicht möglich sein, denn sie wird die einzelnen
Gegenstände theils gar nicht mehr sehen können, theils durch die Ueberfülle des
zu Sehenden so betäubt werden, daß sie jeden Versuch aufgiebt, etwas Bestimm¬
tes zu unterscheiden. Der Zweck eines Museums ist doch offenbar die Auf¬
bewahrung von allen Kunstschätzen, die durch eine angemessen deconrte Localität
zugänglich gemacht und gehoben werden sollen. Dieser Zweck ist im alten Museum
vollständig erreicht, wenn auch ihm leider in neuerer Zeit durch die in der Säulen¬
halle angebrachten Fresken zuwidergehandelt worden ist. Im neuen Museum
scheint man dagegen den vollkommen entgegengesetzten Zweck zu verfolgen. Die
bleichen Gypsabgüsse der Antike stehen in Sälen, die durch die glänzendsten
und schreiendsten Farben verziert send. Es sind daraus Landschaften aus der
antiken Welt angebracht, nicht in einfacher ruhiger Skizze, sondern mit den
glänzendsten Lichtessecten der modernen Kunst. Diese Wandgemälde machen die
Statuen vollständig todt. Man steht sich zuletzt veranlaßt, in ihnen nichts
weiter zu finden, als unbequeme Hindernisse, die der Anschauung der Wand¬
gemälde im Wege stehen. Und was sind in diesen Gypsabgüssen für . Schätze
enthalten! Im alten Museum standen sie in einer abgelegenen Kanuner bunt
durcheinander, das gewöhnliche Publicum ging gar nicht hinein; wer aber eintrat,
konnte sich mit jener Andacht und Ruhe, die das Studium der plastischen Kunst
erfordert, der Anschauung hingeben. Davon ist im neuen Museum nicht die
Rede mehr. Mit einem wahren Raffinement hat man nicht blos den ruhigen,
behaglichen Genuß, sondern selbst das materielle Anschauen erschwert. Eine Reihe
dxr werthvollsten Reliefarbeiten verlieren sich an Plätzen, wo kein Mensch sie
aufsuchen wird. Daß für den künstlerischen Eindruck eine gewisse Fülle des Raums
gehört, davon scheinen die Anordner des neuen Museums keinen Begriff
gehabt zu haben. So ist z. B. in dem Hauptsaal der Antike die braunrothe
Wandfarbe, die den weißen Statuen einen so zweckmäßigen Hintergrund giebt,
wie es auch in der Dresdner Galerie der Fall ist, allerdings angebracht, aber
oben und unten durch Reliefs so überkleidet, daß man blos einzelne dünne Streifen
davon steht; und wohl gemerkt, das sind Alles nicht bloße Decorationen, sondern
bedeutende Kunstwerke, die ein Studium verlangen. Um manche davon zu sehen,
wird man an der Decke einen Strick anbringen müssen, an dem man sich in der
Luft balancirt, und wenn man die Raumersparnis;, was gar nicht unwahrschein¬
lich ist, so weit treibt, auch den Fußboden mit kleinen Statuetten zu besetzen, so
wird sich ein Theil des Publicums auf den Bauch legen können, während der andere
in der Luft schwebt.
Den Gipfel erreicht diese Ueberladung in dem berühmten Treppenhaus.
Wir läugnen das Jmponirende desselben nicht, denn jede große, nach allen drei
Dimensionen hin Perspectiven eröffnende Räumlichkeit macht einen bedeutenden
Eindruck; wir würden auch selbst nicht so übertriebenes Gewicht darauf legen,
daß eine Treppe doch eigentlich nicht Selbstzweck sein, daß sie, um schön zu
wirken, immer nur den Eindruck einer Vorbereitung erregen darf; wir würden,
wie gesagt, von dieser Ausstellung absehen, wenn man nur erreichte, die
Kunstschätze, die in diesem verhältnißmäßig kleinen Raume aufgespeichert sind,
überall von dem richtigen Standpunkte aus anzusehen. Das ist aber nicht der
Fall. Gegenwärtig kann man die großen Kaulbach'schen Wandgemälde von dem
Bretergerüst aus betrachten, auf welchem sie gearbeitet werden; wenn dieses aber
abgebrochen sein wird, so gewährt die ganze Treppe keinen einzigen Standpunkt,
von dem aus man auch nur eines dieser Gemälde so sehe« könnte, wie man es
sehen sollte. Einzelne Treppenwendungen stehen dem Zuschauer geradezu im
Wege. Dieser Uebelstand wird noch vergrößert durch die neue Methode der von
Kaulbach angewandten Freskomalerei. Die alten Fresken verlangten eine gewisse
Entfernung des Beschauers, einen so zu sagen liberalen Standpunkt, Kaulbach's
Fresken dagegen wetteifern nicht nur an Glanz und Detailausführung mit der
Oelmalerei, sie überbieten dieselbe sogar. Das ist für den entfernten Beschauer
kein günstiger Umstand, denn es entgeht ihm nicht nur Vieles, sondern er wird
auch dnrch die Lichteffecte verwirrt. Ueber diesen Wandgemälden sind noch eine
Reihe sehr fein erfundener anmuthiger Arabesken angebracht, die eine halb humo¬
ristische Symbolisirung der Weltgeschichte darstellen, »ut die, wenn man sie im Carton
unmittelbar vor sich hat, einen sehr wohlthuenden Eindruck machen. Von diesen fleht man
absolut gar nichts, und wenn man sie auch wirklich mit dem Perspectiv entdecken sollte,
so wird es doch Niemand einfallen, sie in dieser Fülle von glänzender und größer
ausgeführten Gemälden auch nur zu suchen. Am schlimmsten geht es den Reliefs,
mit denen jeder Platz der Treppe, wo nur irgend ein kleiner Raum sich vorfand,
überkleidet ist. Wenn das Ange von den glänzenden Farben der Wandgemälde
geblendet ist, wird es ihm ganz unmöglich, auf diesen vereinsamten weißen Bild¬
werken zu weilen, die sonst doch ein so großes Interesse in Anspruch nehmen
würden. Kurz, von einer solchen Ueberladung, wie sie in diesem Treppenhause
stattfindet, wird die Kunst kaum ein zweites Beispiel kennen.
Vielleicht den am wenigsten beleidigenden Eindruck macht das ägyptische
Museum. Der Tempel, welcher deu Mittelpunkt desselben bildet, verräth zwar
gleichfalls die Berkennnug der Zwecke eines Museums, die doch keineswegs eine
theatralische Nachbildung der alten Welt sein können, und er ironisirt sich selber,
indem er durch die Wandgemälde einerseits das Bewußtsein der neuem Zeit hin¬
durch blicken läßt, andererseits ausplaudert, daß man eigentlich an ganz andere
Dimensionen denken soll, als mau wirklich vor sich hat, allein es ist darum we¬
niger schade, weil man bei einem ägyptischen Museum wol kaum auf einen künst-
lerischen Eindruck ausgehen wird.
Nehmen wir das ganze neue Museum zusammen, so kommt es mir vor wie
eine plastische Darstellung der romantischen Schule, die sich in ihre» Gegenstände»
gesetzlos verlor, weil sie dieselbe» weder mit wissenschaftlichem entsagenden Ernst,
noch mit der Integrität eines fest ausgebildeten Kuustgeschmacks betrachtete, son¬
dern ihre eigenen Snmmnngen u»d Empfindungen mit den regellos aufgenomme¬
nen Anschauungen zu einem bunten Durcheinander verarbeitete. We»» man be¬
denkt, was für Kräfte,-Talente »ut äußerliche Mittel z» diese»! widerspruchsvollen
Uliteruelnue» aufgewandt sind, so macht das eine» nicht gerade a»ge»ein»e» Ein¬
druck. Das neue Museum wird auch für spätere Zeiten von den Mitteln »ud
Talente», die Berlin in sich zu concentriren wußte, el» sehr günstiges Ze»g»iß
ablege», aber ein sehr ungünstiges für seinen herrschenden Geschmack.
Als eines sehr vortrefflichen Instituts in diesem Museum, das seiner Aus¬
stattung, wie name» lich seiner Zu^anglichkeit willen die nul'edingteste A»erke»»n»g
verdient, dürfen wir noch des Kupfersti.hcabinetS gedenken, das in dies.» Bläl.ern
bereits besprochen ist.
Auf den eigentlich künstlerischen Gehalt der neuen Leistungen, namentlich der
Malerei, näher einzugehen, ist hier nicht der Ort. Was man auch von Kau!bach
denken mag, er ist jedenfalls ein riesenhafter Fortschritt gegen die Zeit, wo man
sich noch an den Düsseldorfer Bildern erfreute; eine Zeit, die uns i» den Samm-
lungen des Schlosses Bellevue und des Consul Wagner noch sehr anschaulich
entgegentritt. Kaulbach hat bei seinen Wand.iemälde» sehr verständig den archi¬
tektonischen Zweck festgehalten. Die Symmeirie, die in iyne» vielleicht etwas
einförmig in die Augen fällt, indem jedes derselben drei in verschiedenen Farben
gemalte Schichten enthält, die mit einander correspc-ndiren, ist daraus vollkommen
zu erklären und zu rechtfertigen. Er versteht es, in den edelsten Linien zu grup-
piren und lebenskräftige und lebensfähige Gestalten zu schaffen. Wo er in Action
übergeht, weiß er nicht immer den natürlichen Ausdruck zu treffen, weil er sich
seine Anschauung erst symbolisch vermittelt. Von der „Hunnenschlacht" gilt das
nicht, und wenn dieser wunderbar schöne Carton, was man früher für ganz un¬
möglich hielt, was man aber jetzt, da Kaulbach bewiesen hat, daß er in der Farbe
auch das Unmögliche mit spielender Leichtigkeit lösen kann, wol erwarten darf, in
Farben ausgeführt und in die Reihe der übrigen Wandgemälde aufgestellt sein
wird, so werden wenigstens nach meiner Ueberzeugung die anderen Bilder sehr in
Schatten treten. Von den ganz oder zum Theil ausgeführten Wandgemälden
ist „der babylonische Thurmbau" das bedeutendste, aber auch hier eigentlich nur
die drei Vordergruppen, denn die mittlere um den König versammelte Gruppe
ist durchaus theatralisch. In der „Zerstörung Jerusalems" sind der Intentionen
zu viel; mau kaun sie sich nur durch die Reflexion vermitteln, obgleich die grellen
Lichteffecte die Aufgabe erleichtern. „Die Jugend Griechenlands" dürfte das
schwächste unter diesen Gemälden sein. — Da wir einmal bei diesem Gegenstand
stehen, so müssen wir auch auf die Cartons von Cornelius eingehen, die für den
Campo santo des neuen Doms bestimmt sind. Da dieses eben so großartige
als verworrene Bauwerk, dessen trümmerartige Vorarbeiten man jetzt mit einer
Mischung von Achtung und Verwunderung durchwandert, schon längere Zeit zu
ruhen scheint, so ist es fraglich, ob der würdigste Meister der modernen Kunst
die vollständige Ausführung seiner Entwürfe noch erleben wird. Uns scheinen
diese Entwürfe vor den Leistungen seines Schülers Kaulbach entschieden den
Vorzug zu verdienen. Zwar behandeln sie die Apokalypse, also eine Mythologie,
die an Verworrenheit mit der indischen wetteifert, aber der Meister hat es ver¬
standen, diese unklaren Gebilde in so großem, edlem und einfachem Styl aufzu¬
fassen und sie dabei durch einzelne gemüthliche, aber dem Styl in keiner Weise
widersprechende Züge dem Menschlichen zu nähern, daß sie ihren Eindruck nicht
verfehlen, anch wo man über den Gegenstand nicht klar wird. So ist z. B. das
Gemälde .von den sieben apokalyptischen Reitern, welche von dem Zorn des
Herrn getrieben das Geschlecht der Erde vor sich niedermähen, in so großem
Sinn aufgefaßt, daß man gar nicht daran denkt, nach irgend welcher symbolischen
oder historischen Bedeutung zu fragen. Es ist eine in die lebendigste Gestaltung
übersetzte, vollkommen klare und ergreifende Empfindung, wie etwa eine Sym¬
phonie von Beethoven. Der Strich der Linien, in welchem die Menschen wie
die Garben niedergemäht erscheinen, ist ein unvergleichliches Meisterstück. In
den anderen Gemälden, die eine so gewaltige, fortreißende Action nicht zulassen,
sind neben der vollständigen Herrschaft über die Bewegung jene schon berührten
individuell menschlichen Zuge das Jnteressanteste, und es ist!sehr lehrreich, die
ursprüngliche Anlage mit den ausgeführten Cartons zu vergleichen, wie in den
letzteren jene Züge sich immer mehr ausführen, immer inniger in die Charakteristik
des Ganzen eingreifen. So z. B. die verschiedene Empfindung der Engel, welche
die Schalen des Zorns über die Erde ausgießen. So in dem Bilde von der
neuen Jerusalem das gutmüthig neckische Verhalten der tragenden Engel gegen
die sehnsüchtig harrenden Menschenkinder. Eben so werthvoll wie die großen
Gemälde sind die kleinen Genrebilder, in denen die einzelnen guten Eigenschaften
der Menschen individualisirt werden. Daß man bei dem vollkommen incommen-
surabeln Gegenstand doch so Manches nicht versteht, und daß Cornelius in seinem
großen Sinu für das Ganze im Einzelnen manche Gesetze der Natur und
Aesthetik vielleicht etwas zu vornehm behandelt, darf dabei kaum in Anschlag
gebracht werden.
Ueber das Andere, was sich sonst von den Gemälden Berlins sagen läßt,
z. B. über die Kunstausstellung, und auch über mauche Gemälde in den älteren
Sammlungen, die eine Besprechung verdienen, werden Sie anderweitige Berichte
erhalten. Was die neuen Statuen betrifft, so verdient das Friedrichsdenkmal
alle die Anerkennung, die ihm so reichlich zu Theil geworden ist. Die Statue
an sich ist in den edelsten und elastischen Formen und die unteren Gruppen voll
von dem reichsten und wärmsten Leben. Daß es besser wäre, wenn die allego¬
rische Gruppe weggefallen und dadurch das Standbild den Augen des Publicums
etwas näher gerückt wäre, darüber ist alle Welt einig. Auch bei dieser Statue
scheint man mir doch etwas zu viel zu gleicher Zeit haben erreichen zu wollen.
Von deu gewöhnlichen Dimensionen aus sieht man vom alten Fritz nnr die Soh¬
len, und wenn es auch einen sehr schönen Anblick gewährt, wie das Bild des
großen Königs sich in kühnen Umrissen in der Atmosphäre abzeichnet, so hätte
man es doch gern, wenn man etwas näher, menschlicher mit ihm Verkehren
könnte. Um die Große dieses Königs symbolisch anzudeuten, reicht kein Piedestal
aus, und wenn man eine Pyramide aufrichten wollte. Und im Uebrigen war er
doch eine so populaire Erscheinung! Er ließ es ja zu, wenn die Berliner Straßen¬
jungen ihm in den Zügel griffen. Vom Balcon des Prinzen von Preußen wäre
vielleicht ein günstiger Puukt, ihn zu sehen; nur wendet er sein Gesicht davon ab.
Der große Kurfürst bleibt immer ein Bildwerk, welches uns menschlich näher
stehen wird.
Wir gehen von der eigentlichen Kunst ab und wenden uns zum Theater.
Die mit den königlichen Bühnen wetteifernden kleineren Theater sind eine der
wesentlichsten Errungenschaften Berlins seit der Revolution. ES läßt sich ein
allmählicher Fortschritt, eine gewisse Gliederung des Bühuenwesens voraus¬
sehen-, die freilich jetzt nur noch in deu ersten Anfängen vorhanden ist. So hat
sich z. B. das Friedrich-Wilhelmstädter Theater ein eignes Genre und ein auf-
merksames Pri'unum dadurch geschaffen, d,aß es die älteren komischen Opern von
Diedersdorf, Cimarosa, Fioravanti ze. wieder aufgenommen hat. Ist auch in dem
Styl dieser Musik Manches veraltet, und muß man sich zuweilen auch mit einiger
Mühe durch die Dürre und Langweiligkeit des Textes durcharbeiten, so dort man
darin doch echte Musik, und in unsrer Zeit, wo wenigstens bei den Deutschen
das Talent zur komischen Musik so unendlich dürftig ist, muß es daher als ein
dankenswerthes Unternehmen bezeichnet werden, wenn man die Aufmerksamkeit
auf diese theilweise ganz vergessenen Leistungen wieder hinlenkt. Die Aus¬
führung entspricht im Ganzen den Anforderungen, die man an dieses Genre
zu machen berechtigt ist. Frau Küchenmeister-Nudersdorf eignet sich dnrch
Spiel und Gesang vorzugsweise für diese Gattung, und einige sehr brauchbare
Komiker stehen ihr treulich zur Seite. Außerdem bat dieses Theater jetzt eine
italienische Oper engagirt, als deren glänzendste Sänger» wir Signora Fodor
,mit Freuden in Berlin begrüßen. Sonst scheint sich das Theater wie anch
die übrigen kleineren Bühnen vorzugsweise auf die Localposse zu legen. Zu weiteren
Leistungen dinften anch die Kräfte kaum ausreiche». Was sich das neue König¬
städter Theater für eine Tendenz setzen wird, ist noch nicht bekannt. Je mehr
sich indeß alle diese Theater aus ein ganz bestimmtes Genre einschränken, desto
bessere Leistungen dürften wir zu eiwarteu haben, und desto größer» Nutze» dürfte
die Kunst davou ziehe». Wir müsse» nothwendiger Weise, wenn wir uiid innrem
Theater vors.breiten wolle», das Beispiel der Pariser nachahmen, denen eS nicht
einfällt, daß el» u»d derselbe Schauspieler, selbst wen» er nach allen Seite» hin
die gleiche Be,äluguug in sich trägt, in Beziehung ans Ansbildung und Styl allen
GaMnigeu gerecht werden konnte. Auch in der Kunst ist eine Tlieilnng der
Arbeit von unendlichen Gewinn. In diesem Falle müßte das königliche Schau¬
spiel die Rolle des Ti'LÜtre Fransig übernehmen und sich vorzugsweise mit dem
Studium klassischer Stücke beschäftigen. Freilich müßte dann in der Auswahl
der mitwirkenden Kräfte mit eineni größern Plan z > Weite gegangen werden,
als jetzt der Fall zu sein scheint. Herr v. Hülsen hatte bei dem Antritt seines
Amtes mit vielen Feindseligkeiten zu kämpfen; jejzt scheint »r bei dem Publicum
wesentlich gewonnen zu habe». Ob das, was er bis jetzt für das Schauspiel ge¬
than hat, diesen Beifall vollkommen rechtfertigt, möchte ich doch »och bezweifeln.
Die männlichen Darsteller schreiben sich fast ausschließlich noch ans der alten Zeit
her. Sie sind hier im Schauspiel unstreitig der bessere Theil, wälrend in der
Oper das (5>>tgegengesetzte der Fall ist. Die Schansp^elerinnen, mit Ausnahme
der Frau Crelinger und einiger Anderen, die zur gu,en alten Zeit geboren, sind
meistens erst in der neuern Zeit engagirt worden. Nun fällt zunächst ans, daß
das Aeußere dieser jungen Künstlerinnen einen so erfreulichen Vtudruck macht,
wie man es nicht leicht auf eiuer andern Bühne finden wird. Fräulein Bierock,
Fränkel» Fuhr, Fräulein Bernhard, Fräulein Ahrens, ganz ungerechnet die Schon-
heilen des Ballets, repräsentiren uns eine Reihe der anmuthigsten Erscheinungen;
aber sie spielen alle das nämliche Rollenfach und scheinen kaum über diesen Kreis
hinaus verwandt werden zu können. Eine junge Heldeuspielerin ist nach dem
Tode der Frau Thomas nicht vorhanden. Außerdem scheint es Styl zu sein,
daß nicht gern eine von diesen Damen in einer untergeordneten Rolle auftritt;
diese muß dann durch zweite oder dritte Kräfte besetzt werden, nud so kommt
selbst bei unbedeutenden Stücken kein gutes Ensemble heraus. Daraus geht nebenbei
der Uebelstand hervor, daß diese Damen,.wenn nicht ganz besondere Zeitumstände
eintreten, nnr, sehr selten beschäftigt werden. Nun muß ich freilich hinzusetzen,
daß der gegenwärtige Zustand nur ein provisorischer genannt werden kann, weil
auch die kleinsten Jntriguenstücke während des Ausbaues» des Schauspielhauses
in dem unendlich großen Opernhaus gespielt werden, wo an ein feines Spiel
nicht zu denken ist. — In der Oper ist das weibliche Personal so musterhaft,
wie man es bei einem großen deutschen Theater nur verlangen kann. Fräulein
Wagner, Fran Köster, Frau Herrenbnrg - Tuczeck neben einander, und dazu noch
eine gute Zahl zweiter Kräfte, die zum Theil in ihrer Art ganz vvnrefflich sind,
das läßt kaum etwas zu, wünschen übrig. Unter den Sängern dagegen begegnen
wir außer Herr» Krause eigentlich »ur Mittelmäßigkeiten; denn die G>ößen der
alten Zeit, Herr Martius und Herr Ziesehe, sind kaum mehr zu rechnen. Die
Krone der Berliner Darstellung bleibt noch immer das Ballet, trotz der Ein¬
schränkungen, die man seit 18i0 darin hat einreden lassen. Man mag gegen
dieses zweifelhafte Genre der Kunst noch so sehr eingenommen sein, und auch ich
rechne mich in dieser Beziehung zu den Ungläul'igen, so wird man eine mit so
fal'elhafter Pracht ausgestattete und mit so viel Anmuth ausgeführte Darstellung,
wie die der Satanella, doch immer mit einigem Interesse ansehen. Fräulein
Marie Taglioni rivalisirt auch in diesem Augenblick um die Begeisterung des
Berliner Publicums, welches immer einen neue» Gegenstand verlangt, und seine
Treue nicht lange bewahrt, ganz.entschieden mit Fräulein Johanna Wagner.
Ich fing meine Skizzen mit der Behauptung an, daß Berlin Alles in Allem
betrachtet eine schöne Stadt sei, und ich schließe mit der Ansicht, daß die Berliner
anch ein sehr liebenswürdiges Völkchen sind. Ganz gewiß erfreut sich Berlin
eines größern Fonds an Narrheit, als irgend eine andere Stadt des Continents,
Paris nicht ausgenommen, und die Fremdlinge, die es nach Leipzig ans die Messe
schickt, sind wol »meer Allen am wenigsten dazu geeignet, den Sachsen eine vor¬
theilhafte Borstellnng beizubringen, aber man braucht nnr die Physiognomien zu
beobachten, die sich ans der Straße herumtreiben, so findet man so viel Be¬
weglichkeit, Durchtriebenheit, Anmnrh und gute Lanne, daß man das Geschäft deö
Flanircns mit einem gewissen Interesse treibt. Wer wäre wol im Stande, in
Dresden oder Leipzig zu flaniren! In einem frühern Aufsatz,' Ihres Blattes
war der Mangel an Solidität bei den Berlinern hervorgehoben, und ich will anch
nichts dagegen einwenden; aber ästhetisch betrachtet hat das auch wieder seine
Vortheile, denn selbst der eingefleischteste Berliner Spießbürger ist eine drollige
Figur, über welche man sich eine Weile amüsiren kann, während man bei dem
Spießbürger ehrbarer Städte vor langer Weile stirbt. Gegenwärtig bewegen sie
sich in feierlich ernstem Humor, wie im Jahre i8 in drolliger Begeisterung. Der
Kladderadatsch ist ihr Evangelium und wenigstens für das eigentliche Publicum auch
die einzige Quelle für alle polnischen Nachrichten und Ideen.
Die Messe ist diesmal weniger als gewöhnlich mit den Schnurrpfeifereien
ausgerüstet, die sonst das Entzücken der Fremden auszumachen Pflegen, dagegen
bieten sich einige Kunstgenüsse, die man anderwärts nicht leicht wiederfinden
wird. Ueber das Gemälde der Marie Antoinette von Paul Delaroche haben
wir bereits seiner Zeit referirt; es ist jetzt nach langer Wanderung vorläufig in
die Kunstausstellung von Del Vecchio zurückgekehrt. Zugleich aber ist ein anderes
Gemälde ausgestellt, welches an Werth das eben genannte bedeutend überragt,
und welches wohl überhaupt zu den bedeutendsten Kunstwerken der neuen Zeit
gezählt werden muß. Wir meinen das historische Gemälde von Louis Gallait:
„Die große Schützengilde von Brüssel erweist den Grafen Egmont und Horn
die letzte Ehre." Das Werk hat bereits auf den Ausstellungen zu Brüssel und
Paris den glänzendsten Erfolg gehabt und schließt sich in Beziehung auf die Aus¬
führung würdig den beiden früheren größeren Gemälden von Gallait an: „Die
Abdication Karl's V.," und „die letzte» Augenblicke des Grafen Egmont." Ans
der Berliner Kunstausstellung befindet sich in diesem Augenblick gleichfalls ein
größeres Genrebild von Gallait, ein Mnsikanteuknabe mit einer schlafenden
Schwester im Arm, welches vielleicht die größte Zierde der ganzen Ausstellung ist.
Das Gemälde von Delaroche hat man in eine Art Guckkasten gestellt und
durch eine künstlich arrangirte Beleuchtung gehoben; mit Recht, denn bei der
Verwirrung von romantischen Lichteffecten in diesem Bilde müßte man erst mit
vieler Mühe einen Puukt suchen, von welchem aus mau die einzelnen Figuren
sehen und richtig sehen kann. Das Bild von Gallait hat diese künstliche Zu¬
bereitung nicht nöthig; es trägt sein Licht in sich selber und schlägt mit der
ganzen Macht seiner Farben und Gestalten gleichsam dem Zuschauer in's Gesicht.
Der Gegenstand ist folgender.
Die Leichen der beiden enthaupteten Grafen sind im Vordergründe aus¬
gestellt; man sieht nur die Köpfe, die an den Rumpf angenäht sind, der Leib
wird durch eine schwarze Sammetdecke überkleidet; nur die eine Hand des
Grasen Egmont fällt daraus hervor. Im Hintergrunde links zündet ein Mönch
vor einem kleinen Altar eine Kerze an; rechts im Vordergründe nähert sich die
Schützengilde den beiden Leichnamen, eine Reihe charakteristischer Gesichter, vom
ritterlichen Führer bis zum feisten Spießbürger und schwachen Greise herunter,
und betrachtet die Leichname ihrer beiden Helden mit verschiedenen Ausdrücken
der Theilnahme. Bei Einem überwiegt der Zorn und der Haß, beim Andern
das Mitleid, beim Dritten die Verzweiflung. Links, unmittelbar hinter den
Leichnamen, stehen zwei Spanier, ein Kriegsmann und ein Diplomat, die den Em¬
pfindungen der Niederländer einen herausfordernden Widerstand entgegensetzen.
Die Gruppe ist nach allen Seiten hin klar, einfach und verständlich.
Was nun zuerst ausfällt, ist die wunderbare Virtuosität der Technik. Ein
so freies Heraustreten der Körper, eine so in allen Punkten glänzende Versinn-
lichung der Materie, ohne alle Spur ängstlicher Detailmalerei; die größte Freiheit
und Elasticität in den Bewegungen, und doch in allen diesen Farben und Linien
ein strenger Styl, eine vollständige Beobachtung des Gesetzes der Harmonie;
alle diese Eigenschaften finden sich in einem Grade, wie sie kein anderes Bild
der neuern Zeit zeigt. Wenn man erfahren will, was für eine Poesie in dem
materiellen Theil der Malerei liegt, so muß man dieses Bild studiren.
Aber das Verdienst des Malers geht noch höher hinauf. Es ist in all
diesen Köpfen eine Charakteristik und ein geistiger Ausdruck, wie man ihn in
den Werken der früheren Niederländer, die in der Technik die gleiche Stufe der
Vollkommenheit erreichten, selten findet. In jedem dieser Portraits steckt eine
vollständige Geschichte, und doch wird der Charakter vom Eindruck des Moments
vollständig beherrscht. Diese Fülle des Charakteristischen, die sich doch der un¬
mittelbaren historischen Bewegung vollständig fügt, da die Seelenbewegnng bei
allen Einzelnen sich aus einen bestimmten Mittelpunkt concentrnt, verräth eine
Meisterschaft in der Kunst der historischen Malerei, die auch das Größte bewäl¬
tigen wird. Wir übernehmen es gar nicht, auf die Details einzugehen, denn
hier würden wir kein Ende finden; wir machen nur auf den dicken Bürger auf¬
merksam, bei dem die Rührung die unermeßliche Fleischmasse durchbricht und eine
Thräne ans das fette Gesicht lockt;'ans den alten Mann, der vor dumpfem Schmerz
in sich selber zusammenbricht, so wie auf der andern Seite auf den Diener der
spanischen Politik, in dessen nicht unschönem, aber verschlossenem Gesicht man die
Gluth des kalten Hasses hindurchschimmern sieht, der sehr bestimmt weiß, um was
es sich handelt, während bei seinem kriegerischen Gefährten nur der blinde,
trotzige Dienst des Soldaten hervortritt.
Nun aber zu der Kehrseite. Wie ist es überhaupt möglich, einen so ab¬
scheulichen Gegenstand zu malen! und wie ist es einem so poesievollen Künstler
wie Gallait möglich! Der Gegenstand, auf den sich der Blick gezwungen fort¬
während zurückwendet, so sehr er sich auch anstrengt, ihn zu verlassen, sind die
beiden Leichen; und das sind nicht etwa Paradeleichen, bei denen man durch künst¬
liche Mittel die Scheußlichkeit des Todes entfernt hat, nicht Leichen, bei denen
man noch die Merkmale der Schlacht sieht, bei denen man sich also noch irgend
eine Action vorstellen kann, sondern Cadaver in der schlimmsten Bedeutung dieses
Worts. Man sieht die Stiche, mit denen das blutlose Haupt an den Leib be¬
festigt ist, und gerade die wunderbare Technik vergrößert das Entsetzliche des
Anblicks. Wenn man hin und wieder davon redet, daß man ja dabei an das
Martyrium der Freiheit denken kann, so ist das eine leere Einbildung. Die
Materie ist zu mächtig, um dem Geist Raum zu lassen.
Aber dieser schauderhafte Materialismus scheint in der belgischen Malerei
überhaupt immer mehr um sich zu greifen. Vor einiger Zeit war bei Del Vecchio
ein übrigens gut ausgeführtes Gemälde von Huysmans, die Darstellung eines
Cadavers, an welchem Rembrandt unter Anleitung eines Arztes Anatomie studirt
Der eine Arm, bereits in Fäulniß übergegangen, der andere der Haut entblößt
und mit bloßgelegten Nerven. Auf der diesmaligen Ausstellung in Antwerpen
behandelt eins der bedeutendsten Bilder von Slingeuaer folgenden Inhalt.
Lebensgroß ausgeführt die bis auf die Schwimmbosen nackte Leiche eines ertrun¬
kenen Matrosen, von den Welle» ausgeworfen auf dem gelben Ufersande liegend;
ein Adler ist ans der Luft herabgeschossen und so eben im Begriff, seinen Schnabel
in die Brust des Todten zu schlagen. Dieser liegt mit gespreizten Beinen und
Armen, deren Fäuste sich ballen, die Fußsohlen zum Bilde beraus, in einer Ver¬
kürzung, die bei dem tiefen Horizont den Kopf verschwinde» läßt. Da^u ein
graugrüner Fleischton, der deutlich zeigt, daß der Leichnam schon viele Tage im
Wasser gelegen bat. — Wenn die älteren christlichen Maler ähnliche Gegenstände
wählten, so war das im Sinn der damaligen Kirche, die das Elend des Lebens,
das Leiden und den Schmerz göttlich verehrte; sie waren durch die Nothwendig¬
keit getrieben, und wenigstens die Besseren nnter ihnen suchten anch unter den
Zuckungen des Fleisches deu gottergebenen und daber siegreichen Geist durch¬
scheinen zu lassen.' Jetzt sind wir dieser bittern Nothwendigkeit ni'erhoben, und
der häßliche Anblick jenes Zustandes, in dem die lebende Hülle des Geistes dem
gemeinen Reich der Chemie verfällt, gebört eben so wenig in das Gebiet der
Kunst, wie in das Gebiet der Religion. Das Centrum der mittelalterlichen Re¬
ligion war der Tod; wir dagegen glauben.an das Leben, an das ewige Leben,
an das unendliche Leben. Der Tod ist ein Problem 'der Wissenschaft, aber
nicht mehr eine ideale Anschauung. —
Vor einigen Wochen sahen wir in Leipzig ein Gemälde, welches die bekannte Ge¬
schichte von dem gefangenen Römer darstellt, der, weil er keine andere Nahrung
hatte, im Kerker von seiner Tochter gesängt wurde. Der Besitzer dieses Gemäldes,
Herr Lemaire, der es dann später auch an anderen Orten ausgestellt hat, gab
es als ein Gemälde von Van Dyk, welches in irgend einem abgelegenen Winkel
in Vergessenheit gerathen und von ihm erst wieder aufgefunden wäre. Es waren
in dieser Erzählung manche sehr wunderbare Umstände, welche wol zum Verdacht
leiten konnten, wenn nicht das Gemälde selbst diesem Verdacht widerspräche. Es
ist nicht blos bis in die kleinsten Züge, der Pinselführung hinein in der Manier
des Van Dyk gehalten, sondern es würde sich seinem innern Werthe nach an die
besseren Gemälde dieses Meisters reihen. Ist es nicht von Van Dyk, so gehört
der Maler des Bildes zu den bedeutendsten Künstlern der Gegenwart. Das
Bild könnte wol die Frage bei uns anregen, ob nicht in der alten einfachen
Weise, die wir bei den Künstlern der guten Zeit immer antreffen, etwas lag, was
gerade die Vollendung ihrer Kunst beförderte. Wir wenden jetzt die complicir-
testen Mittel von der Welt an, und der Eindruck wird doch nur in den seltensten
Fällen ein ergreifender und dauernder. Aus diesem Gemälde kann man lernen,
was man Mit einfachen Mitteln, einer klaren Gruppirung und einer breiten Farbe
erreicht. In einem Punkt geht der Künstler ein wenig aus der alten Einfachheit
heraus. Er giebt nämlich der Situation dadurch eine gewisse dramatische Span¬
nung, daß er einen Kerkermeister argwöhnisch durch das kleine Fenster hinein¬
blicken läßt. In ängstlicher, sehr schön ausgedrückter Spannung sucht das junge
Weib die Scene ihrem Verfolger zu verbergen, indem sie ihr Kleid vor dem
Vater ausbreitet. —
Noch eines Bildes müssen wir 'gedenken, welches einen bedeutenden Platz
in der neuern Landschaftsmalerei einnimmt und sich gegenwärtig gleichfalls bei
Del Vecchio befindet: eine Waldlandschaft bei Regenwetter, von Prof. Preller
in Weimar. Namentlich der Baumschlag ist mit einer Virtuosität ausgeführt, die
wir sonst nur bei Calame antreffen, und die Stimmung des Ganzen eine durch¬
aus poetische. —
Bei dieser Gelegenheit machen wir auf ein beachtenswerthes Unternehmen
der Hofbuchhandlung Alexander Duncker in Berlin aufmerksam. Dieselbe wird
nämlich Kaulbach's Wandgemälde im Treppenhause des neuen Museums im
Kupferstich herausgebe»/ Kaulbach selbst wird deu Stich überwachen. Das
Ganze ist auf etwa 2i Blätter berechnet, von denen 18 kleinere den einzelnen
Figuren und dem Fries gewidmet sind, während die sechs größeren die Zerstörung
von Babel, die Blüthe Griechenlands, Zerstörung Jerusalems, die Hunnenschlacht,
die Kreuzzüge und das sechste noch nicht componirte Bild wiedergeben werden.
Die Ausgabe erfolgt in 10 Lieferungen, von denen vier 3 Blätter, sechs 2
Blätter enthalten. Für die ersteren ist der Pränumerationspreis 9'/z Thlr., für
die letzteren -14°/z Thlr. Das Unternehmen ist als ein Nationalwerk zu betrachten
und zu befördern.
Von dem in Frankreich und Belgien mit so großer Begierde verschlungenen
Buch: Napoleon der Kleine, von Victor Hugo, ist so eben eine deutsche Ueber-
setzung von Savoye erschienen <Gera, Kanitz). Abgesehen von dem Inhalt, in
dem wir diesmal, einige Uebertreibungen abgerechnet, ganz auf Seite des alten
Romantikers stehen, auf eine Weise stehen, wie wir es bei den diplomatischen
Verhältnissen Deutschlands'zum Auslande nicht mehr ausdrücken dürfen, finden
wir in diesem Buch eine Fülle von Geist und Scharfsinn, die eigentlich bei
V. Hugo nie ganz fehlen, wenn er nicht wie ein eitles Weib mit seinem
Schatten coquettirt; aber im Ganzen macht das Buch doch einen unbehaglichen
Eindruck. Was V. Hugo trotz seines unbestreitbaren Talents sowol in seinen
dramatischen wie in seinen lyrischen Versuchen verhindert hat, etwas Genügendes
zu leisten, das tritt auch seiner politischen Laufbahn in den Weg. Man wird sich,
noch daran erinnern, wie in den Debatten der aufgelösten Nationalversammlung
V. Hugo's Angriffe gegen die reactionaire Politik stets die schärfste und bitterste
Erwiderung fanden, wie Montalembert mit seiner gewölmlichen Frechheit ihm
die schlimmsten Injurien in's Gesicht schlenderte, ohne daß auch nur irgeud
ein erheblicher Theil der Versammlung sich des Gekränkten annahm. Der Grund,
daß die verschiedenen politischen Ansichten, denen er während seines Leben gehul¬
digt, eine günstige Gelegenheit zu beißenden Epigrammen darboten, reicht allein
nicht ans; denn einmal sind die Franzosen so an politischen Wankelmuth gewöhnt,
daß, wenn zwei unter ihnen sich über polnische Consequenz unterhalten, sie sich
eben so wenig wie die Auguren des Cicero des Lachens enthalten können; sodann
ist man in Paris geneigt, einem Dichter Alles zu "verzeihen. Der Grund liegt
vielmehr darin, daß V. Hugo niemals in der Sache ist, sondern stets ein eitles
Spiel mit seinem eigenen Witz' und seiner eigenen Phantasie treibt. Man merkt zu
sehr bei ihm heraus, daß der Einfall, der Contrast, der Effect bei ihm die
Hauptsache sind, und daß' die Gegenstände sich diesem subjectiven Bedürfniß
fügen müssen. Um eine gute Antiihese hervorzubringen, kommt es ihm nicht
darauf an, aus einem Lehnstuhl eine Barricade und aus einem Federmesser
einen Dolch zu machen. Wenn es bei anderen französischen Schönrednern
z. B. bei Lamartine, im Grunde der nämliche Fall ist, so wissen sie es
wenigstens geschickter zu verbergen und geben sich keine so handgreiflichen Blößen.
V. Hugo gebraucht den Witz nicht, er ist ein Sclave des Witzes, und so ist es
ihm auch bei diesem Buch gegangen. ES ist zu rhetorisch, zu pikant, zu geistreich
gehalten, um auf Unbefangene die Wirkung auszuüben, die es doch beabsichtigt.
Man amüsirt sich zu sehr dabei, um sich in die Stimmung zu versetzen, ans die
der Verfasser hinarbeitet. Aber in der Ausführung des Einzelnen ist vieles
Glänzende, und das Buch wird immer ein merkwürdiges Denkmal unsrer gegen¬
wärtigen politischen Literatur bleiben.
Man ist in Deutschland an die Unschlüssigkeit der preußischen Regierung so
gewöhnt worden, daß selbst nach dem entscheidenden Schritt, nämlich nach der
Einberufung derjenigen Regierungen, die sich für das preußische Programm erklärt
hatten, mit Ausschluß der Coalitiousstaateu, noch immer die Meinung verbreitet
war, Preußen könne wieder zurückgebe». Wir wollen auch gern zugeben, daß
eine corrcctere Form in dew Verhandlungen hätte beobachtet werden können und
sollen. Nachdem die Coalitionsregiernngen den ihnen von der preußischen Ne¬
gierung gestellten Präclnsiotermin nicht eingehalten hatten, hätte ihnen preußischer
Seits officiell angezeigt werden sollen, daß man demnach die vorbereitenden Unter¬
handlungen als abgebrochen betrachte. Mit Recht wird nun von den Cvalitions-
blättern darauf hingewiesen, daß nach dem 17. September kein neues Factum
eingetreten ist, den Bruch zu motiviren. Ein blos stillsckweigeudeS Abbrechen
bestehender Verhandlungen dürfte aber mit den gewöhnlichen diplomatischen Firmen
nicht vereinbar sein. Wir geben, wie gesagt, diese Einwendungen gegen die
Correctheit der Form gern zu, müssen aber behaupten, daß in der Sache damit
nichts geändert wird, am allerwenigsten aber sind die Coalitionsblätter in der Lage,
sich über Maugel an Form von Seite Preußens zu beschweren, da sie vorher
Alles gethan haben, um die Ehre der preußischen Regierung mit Hohn und Spott
zu überhäufe», und wenn auch eine verständige Regierung auf Formlosigkeiten
der Presse nicht viel Gewicht legen wird, so lag hier doch ein ganz anderer Fall
vor, da die Beleidigungen in Oestreich von einer abhängigen und inspirirter
Presse ausgingen.
Allein diese diplomatischen Bedenken sind hier durchans Nebensache. Das
Ereigniß, welches jetzt eingetreten ist, mußte gleich zu Anfang der Conferenzen
mit Bestimmtheit erwartet werden, wenn man nicht hätte annehmen wollen, daß
ans der einen oder ans der andern Seite eine bloße Großsprecherei ohne allen
Jlchalt und allen Zweck stattfand. Die Sache liegt vielmehr jetzt so einfach "und
naturgemäß, daß man den kriegerischen Eifer der CoalitionSblätter gar nickt be¬
greifen würde, wenn man nicht eben annähme, daß sie vorher blos auf Preußens
Wankelmuth speculirt haben.
Preußen hat im September mit Hannover und Oldenburg einen Zollverein
abgeschlossen, W welchem der Beitritt den übrigen deutschen Staaten vorbehalten
sein sollte. Es waren die Bedingungen dieses Beitritts im Wesentlichen festgestellt,
Modificationen wurden im Einzelnen vorbehalten. Nun bildete sich aber die
Darmstädter Koalition, welche sich nicht nur unter einander, sondern auch gegen
Oestreich verpflichtete, auf diese Bedingungen nicht einzugehen. Die Unterhand¬
lungen konnten also nichts ausdrücken als eine Frist, die beiden Theilen gesetzt
wurde, von ihren ehemaligen Verpflichtungen wieder zurückzutreten. Eine solche
Frist muß ein Eude nehmen, und da vor Ablauf des gegenwärtigen Zolltermins
nothwendiger Weise die ferneren Zollverhälluisse regulirt sein müssen, so kann man
nicht sagen, das; das Eude zu früh herbeigeführt worden ist. Daß aber in dem
Abbruch der Verhandlungen an sich keine Beleidigung liegen kann, liegt doch wol
ans der Hand. Preußen hat den Antrag auf einen neuen Zollverein unter be¬
stimmten Bedingungen gestellt, die Coaiitionöstaaten finden es ihrem Interesse nicht
angemessen, auf diese Bedingungen einzugehen, was soll denn also anders geschehen,
als daß die beiden Theile zunächst versuchen, sich jeder für sich zu constituiren? '
Das ist der Hauptpunkt, um den es sich gegenwärtig handelt. Für
den Septcmbervertrag haben' sich von den bisherigen ZollvereinSstaatcn außer
Preußen uur die thüringischen Fürstenthümer und die enclavirten Länder aus¬
gesprochen. Diese Staaten werden also nun zunächst die Aufgabe haben, ihren
Vertrag definitiv festzustellen, die durch den veränderten Umfang nöthig gewordenen
Modificationen eintreten zu lassen und sich über die Bedingungen zu einigen, unter
denen den übrigen Staaten der Beitritt vorbehalten bleiben soll.
Auf der andern Seite muß die Koalition jetzt endlich aus ihrer negativen
Stellung heraustreten. Ob sie sich bereits im Geheimen ans diesen Fall vor¬
bereitet, ob sie für den neuen Mittel- und süddeutschen Zollverein' bereits ein Pro¬
gramm entworfen hat, ist uns nicht bekannt. Wis in dieser Beziehung veröffentlicht
worden ist, beschränkte sich meistentheils auf unbestimmt vorschwebende Eventuali-
täten. Darüber muß uun etwas Definitives festgesetzt, es muß dargestellt werden,
wie die Schwierigkeiten der geographischen Lage, die namentlich für Sachsen so
bedenklich erscheinen, überwunden werden können. Gelingt es, sie wirklich zu
überwinden und einen Zollverein abzuschließen, der Bayern, Württemberg, Baden,
Sachsen und die beiden Hessen umfaßt, und der die Interessen der in diesem
Raum vereinigten deutschen Völkerschaften besser wahrt, als ein Zollverein mit
Preußen, so werden wir ein solches Resultat zwar im Interesse des allgemeinen
deutschen Verkehrs und im Interesse der bisherigen Ordnung des Besitzes, die
durch eine solche Veränderung aufs Stärkste alterirt werden muß, lebhaft beklagen,
aber wir sehen darin uoch keinen Grund, den Landfrieden in Deutschland aufzu¬
heben. Zwischen Preußen und Hannover hat bisher anch eine Zollgrenze be¬
standen, ohne daß aus der Grenze deshalb ein beständiger Guerillakrieg statt¬
gefunden hätte.
Sollte sich aber als Resultat ergeben, daß ein Mittel- und süddeutscher Zoll¬
verein mit allgemeiner Wahrung aller Interessen nicht abgeschlossen werden kann,
— und wir müssen gestehen, daß wir dieses Resultat noch immer für das wahr¬
scheinlichere halten — dann wird sich wol die Koalition auflösen und die einzelnen
Staaten werden sich früher oder später dem preußischen Verein anschließen. Es
scheint uns das im Ganzen der'naturgemäße Weg, und der frühere Zollverein
ist ja auch auf die nämliche Weise zu Stande gekommen.
Um aber das Verfahren Preußens zu rechtfertigen, muß mau die Sache nicht
lediglich vom commerciellen Standpunkt betrachten. Die Anträge der Koalition
gingen, gewiß ohne daß sich die Urheber derselben darüber ein klares Urtheil
gebildet hatten, geradezu darauf hinaus, Preußen unter die Botmäßigkeit
Oestreichs zu bringen, das heißt, Oestreich eine Controle über die inneren preu¬
ßischen Verhältnisse einzuräumen, ohne irgend welche Reciprocität. Nun sind
wir zwar überzeugt, daß auch in commercieller Hinsicht Preußen im Ganzen be¬
trachtet durch die neue Wendung uur gewinnen kaun, allein selbst wenn das
nicht der Fall wäre, so giebt es doch noch größere Interessen zu vertreten, als
die commerciellen, und diese vor Allem im Auge zu behalten, war die Pflicht der
preußischen Regierung.
Was aber die Coalitiousregiernngen betrifft, so scheint jetzt, da die Etiquette¬
frage beseitigt ist, der Zeitpunkt eingetreten zu sein, wo sie die von ihnen ver¬
tretenen Interessen zu Rathe zu ziehen und sich bei Kundigen Raths, darüber zu er¬
holen haben. Wenn die Interessenten sich bisher eines Ausdrucks ihrer Ueber¬
zeugungen enthalten haben, so konnten wir im Princip damit einverstanden sein,
denn einzelne Interessen, so wichtig sie auch sein mögen, können bei Staats¬
angelegenheiten nicht einseitig den Ausschlag geben; aber es handelt sich hier doch
uicht um eine gesetzliche polirische Einwirkung ans die Regierung, sondern nur
um eine Information, die der Würde der Krone keinen Eintrag thut, und deren
V ersäumniß später zu bitteren Folgen führen könnte.
— Moderner Jesuitismus. Roman von Th. König,
Verf. der „Reisebilder aus Ost und West." 2 Bände. Leipzig, Hermann Schultze. —
Der Roman spielt in deu letzten drei Jahren und beschäftigt sich mit sämmtlichen Wirre»
der Gesellschaft, der Politik, der Literatur ze. Er gehört also in die Klasse der modernen
Titanen, der Matadore, der Ritter vom Geist A. Der historische Vorwurf ist eine
Idee, die wir bereits in einem frühern Werke von Isidor Heller angetroffen haben, daß
nämlich ein Theil des Jesuitenordens, und darunter gerade die einflußreichsten Mitglieder,
sich von ihren alten Zwecken abgewandt und dem unbedingteste» Jlluminatismus in die
Arme geworfen hätten. Ob diesen Ansichten irgend ein Factum zu Grunde liegt, ist
uns unbekannt. Was wir von den Jesuiten sehen, scheint nicht besonders dafür zu
sprechen. Indessen nimmt das eigentlich Historische auch nur einen sehr kleinen Raum
in der Novelle ein; die Hauptsache sind die socialen Zustande. Der Verfasser ist nicht
blos ein Mann von Geist, sondern er besitzt auch ein im Ganzen richtiges Gefühl.
Er hat für den letzten Grund unsrer Verkehrtheiten, nämlich die Unsicherheit in den
sittlichen Grundbegriffen, welche die Menschen dazu treibt, die Maximen ihres Handelns
lediglich aus der äußerlichen Reflexion, oder auch aus der Stimmung zu entnehmen,
ein sehr scharfes, sicheres Auge; aber dieser Geist und dieses Gefühl zeigt sich lediglich
in den Reflexionen und Urtheilen, die er über seine eigenen Helden und über andere
Personen und Zustände fällt. Eigentlich schöpferische Kraft hat er nicht. Er weiß
zwar einzelne Züge aufzufinden, in denen sich eine aufmerksame Lebensbeobachtung, Em¬
pfänglichkeit für die Leidenschaft und psychologische Feinheit ausspricht, aber wenn er es
versucht, einen ganzen Charakter zu schildern, so mißlingt es ihm fast immer; darum
macht er sich es hänfig leicht, indem er diejenigen Motive, über welche man zum Ver¬
ständniß des Charakters gerade nähere Ausklärung erwarten sollte, gänzlich mit Still¬
schweigen übergeht. Fast alle seine Figuren sind jungdeutscher Natur, d. h. ein willen¬
loser Spielball entgegengesetzter Stimmungen und Empfindungen. Wenn wir auch hier
den schon mehrfach von uns angeregten Gedanken nicht weiter verfolgen wollen, daß
der Dichter die moralische Verpflichtung hat, sein Publicum durch Ideale zu läutern
und zu erheben, so liegt es doch aus der Hand, daß schon in Beziehung auf den ästhe¬
tischen Eindruck eine bloße Zusammenstellung von Charakteren in der Art des Immer-
mann'sehen Münchhausen nicht befriedigen kann. Unreife Charaktere verlangen, wenn sie
überhaupt genossen werden sollen, einen energischen Gegensatz, und diesen hat der Dichter
nicht aufzufinden gewußt. >—
Esther. Novellcnroman in zwei Bänden von Jda v. Düringsfeld. Breslau,
Trewendt und Graner. — Der wunderliche Titel soll bezeichnen, daß der Roman
eigentlich aus einer Reihe vou Novellen zusammengesetzt ist; wenn man aber die Ein¬
leitung ausläßt, die mit der Fortsetzung in sehr geringem Zusammenhange steht und
die zweckmäßiger als Episode hätte angebracht werden können, so ist im Roman die
nöthige künstlerische Einheit vollständig beobachtet. Wenn man dieses Werk mit dem
vorhergehenden vergleicht, so sollte man mitunter.auf die Vermuthung kommen, das
erste sei von einer Frau, das zweite von einem Manne geschrieben, denn Herr König
liebt es, mit seinen Empfindungen etwas zu coquettiren, und versäumt darüber die Er¬
zählung, Frau v. Düringsscld dagegen geht in ihrer Erzählung rücksichtslos vorwärts,
und wenn sie einmal ein Urtheil ausspricht, so trifft es in der Regel den Nagel auf
den Kopf. Die Geschichte ist im Ganzen sehr gut erzählt, nur leidet sie an zwei wesent¬
lichen Uebelständen. Einmal trägt sie zu sehr die Spuren leichter Arbeit, sodann ist
ihr Hauptgegenstand, die Heldin Esther, eine absolut incommensurable, oder bestimmter gesagt
verrückte Person. Sie soll als ein Ideal dargestellt werden und ist doch nur das Bild
einer ganz abnormen, der Natur der Dinge widersprechenden Geistesrichtung. Sie hat
nämlich eine so warme Liebe zu ihrem Bruder, daß sie bei jeder Geliebten desselben in
die Neigung verfällt, sie umzubringen, und zweimal auch ganz nahe an die Ausführung
dieses seltsamen Vorhabens streift, und diese Stimmung dauert eine ganze Reihe von
Jahren hindurch. Dergleichen psychologische Wirren wird man wol nicht aus irgend
einer Richtung der Zeit herleiten können, obgleich auch diese Geschichte in den letzten
Jahren spielt und hin und wieder an die ZcitvcrlMnisse anknüpft. Die Sprache der
Dichterin ist im Ganzen lobenswert!), nur geräth sie zuweilen auf den seltsamen Abweg,
wenn sie Engländer auftreten läßt, Anglicismen anzubringen, auch wo sich dieselben in
ihrer eigenen Sprache unterhalten. — Von derselben Dichterin liegt uns noch ein kleines
Bändchen in Goldschnitt vor: Am imonc. Ein Alpcnmärchen vom Genfersee (Breslau,
Trewendt und Graner), welches sich von der gewöhnlichen Literatur der lleurs tmimvos,
die seit Tieck's Zeit so überreich bei uns wurzelt, nicht wesentlich unterscheidet. —
Die Jakobiner in Ungarn. Historischer Roman von Franz v. Pulszky.
2 Bde. Berlin, Allgemeine deutsche Vcrlagsanstnlt. — Der Roman behandelt die an¬
gebliche Verschwörung des Bischofs MartinovitS in Ungarn, die dem Lande so blutige
Opfer kostete. Die Erzählung ist einfach und dem Gegenstand angemessen, die Local-
farbe vortrefflich und die sittliche Stimmung des Ganzen wenigstens im Allgemeinen so,
daß sie trotz des traurigen Inhalts versöhnt. Der eigentlich novellistische Theil ist
unbedeutend. —
Herzel und seine Freunde. Federzeichnungen aus dem böhmischen sehnl-
icher, vom Verfasser der „Südslawischen Wanderungen." 2 Bde. Leipzig, Hcrbig. —
Eine aus sorgfältiger Beobachtung beruhende Sittenschilderung, die, wie alle Copie der
Natur, sehr ansprechende und belehrende Züge enthält. Zunächst wird das Buch wol
für die Böhmen interessant sein, die sich selber darin wiederfinden, aber auch das größere
deutsche Publicum wird durch Anschauung der Sitte» eines fremden Volksstammes viel¬
fältige Belehrung und Unterhaltung darin finden können. Etwas bequemer hätte es
der Versasser dem Leser machen können, wenn er in seine Erzählung einen größern Fluß
gebracht hätte, was ohne Al'Schwächung der interessanten Details wol hätte geschehen
können. In mancher Beziehung erinnert das Buch an Kompert's Geschichten aus dem
Ghetto. Der Held des Romans ist nämlich auch wieder ein Jude, wie auch im „Modernen
Jesuitismus" die Judenfrage ein Moment bildet, und wie wir ihr in den später an-
zuführenden Werken noch mehrfach begegnen werden. Doch ist Kompert mehr beschaulich,
etwas sentimental, der Verfasser des gegenwärtigen Werks dagegen munter, frisch, leben¬
dig; er hat nicht viel Ruhe, ein Gemälde vollständig auszuführen, er geht immer aus
neue Details über. —
Wir kommen auf zwei Romane, die einer Klasse angehören, über welche wir nur
mit eiuer gewissen Befangenheit ein Urtheil abgeben, nämlich diejenigen, die von Damen
für Damen geschrieben sind. Wir wissen diese Klasse nicht anders zu bezeichnen, als
durch den vollständigen Mangel aller Ironie, aus dem eine uns ganz fremde Bildungs¬
stufe hervorgeht. Der eine derselben heißt: „Das Testament des Juden." Ein Roman
von Franzisca Gräfin Schwerin. 3 Bde. Königsberg, Sander. Hier sind die
Conflicte des Judenthums mit dem Christenthum der Hauptgegenstand, aber ganz vom
Standpunkt der allgemeinen Menschenliebe aus dargestellt, ohne jene Analyse, die gegen¬
wärtig doch zu eiuer erschöpfenden Darstellung nothwendig ist. Wohlthuend ist die
milde, freundliche Gesinnung. Ein zweiter Roman, über den wir eigentlich nur das
Nämliche sagen können, heißt: „Ein Erbvertrag." Von Auguste Bernhard.
(Breslau, Trewendt und Graner.) —
Wir kommen jetzt im Gegensatz aus einen recht männlichen Schriftsteller, auf unsren
alten Freund Gotthelf, von dessen „Erzählungen und Bildern aus'dem Volksleben
der Schweiz" der dritte Band (Berlin, Julius Springer) erschienen ist. Die einzelnen
Erzählungen sind sämmtlich in Taschenbüchern und Zeitschriften abgedruckt; sie machen
einen um so angenehmem Eindruck, da die Hauptschwäche des Dichters, die Unfähigkeit
zur größern Komposition, bei diesen kleinen Erzählungen wegfällt. Hin und wieder
stößt uns eine Versündigung gegen den guten Geschmack, und noch häufiger eine gewisse
Lüderlichkeit und Flüchtigkeit der Behandlung auf. zu welcher Gotthelf mehr Neigung
hat, als nöthig, aber das Ganze ist doch von einem so' gesunden, kräftigen und inten¬
siven Humor durchdrungen und trägt jedesmal die Spuren eines so festen männlichen
Charakters, daß wir immer mit neuem Behagen zu ihm zurückkehren. Es sind im
Ganzen neun Erzählungen. Von der einen derselben, „der Besenbinder von Nychiswyl",
einer in jeder Beziehung classischen Novelle, haben wir schon früher ein Fragment mit¬
getheilt. Sehr komisch und im Wesentlichen der Wirklichkeit durchaus entsprechend ist
die Geschichte vom deutschen Flüchtling. — Von demselben Versasser ist in demselben
Verlag in zweiter Auflage erschienen! „Die Wassernoth im Emmenthal, am 13. August
1837", eine ernste und in starken Farben gehaltene Erzählung, in der Gotthelf zeigt,
daß er auch mit dem Pathos umzugehen versteht. — In dieselbe Klasse der Dichtung
gehören: „Die Bilder und Geschichten aus dem schwäbischen Leben" von
Ottilie Wildern,meh. (Stuttgart, Krabbe). Auch sie sind meistens schon früher
in Zeitschriften veröffentlicht worden. Sie enthalten Genrebilder aus einer kleinen
Stadt, in denen sich die Verfasserin bemüht, auch die positiven Seiten des kleinstädtischen
Lebens zu entwickeln; „Bilder aus einer - bürgerlichen Familiengaleric"; „schwäbische
Pfarrhäuser", „Hcirathsgeschichten" u. s. w. Die Verfasserin zeichnet sich durch Be¬
scheidenheit und Gutmüthigkeit ans, und das Leben, das sie schildert, ist ein stilles,
heimliches; auf größern Kunstwerth macht sie keinen Anspruch. — Ferner sind zu dieser
Gattung die Volkskalender zu rechnen, in denen meistens die nämlichen Verfasser wieder
auftreten^ Es liegen uns drei derselben vor. Am größten angelegt ist Franz Hoff-
mann's illustrirter Volkskalender (Stuttgart, Hallberger), mit Erzählungen von Nieritz,
Rellstab, v. Horn, Hoffmann, Pfarrius, Heinrich König, Heinrich Pröhle u. s. w. Die
einzelnen Erzählungen ähneln sich untereinander sehr. Die vorwiegende Stimmung ist, wie sich
für dergleichen Schriften geziemt, Gutmüthigkeit. — Außerdem führen wir noch an
den Volkskalender von Trewendt (Breslau, Trewendt) und von Carl Steffens (Berlin,
Gärtner). So weit wir darin geblättert haben, lesen sich die Erzählungen ganz an¬
muthig, und außerdem sind alle sonstige Kalcnderrequisite darin vorhanden. — Von den
deutschen Volksbüchern (Magdeburg, Delbrück) ist das zweite Bändchen erschienen.
Es enthält die Erzählung: Enguerrand von Lamalgue, der letzte Traubadour der
Provence, von Georg Hcsekicl, dem bekannten Feuilletonisten der Kreuzzeitung. — Zum
Schluß führen wir noch an: Das Buch von Rübezahl. Des Bcrgeistes Fahrten
und Schwänke, neu erzählt von H. Klette. (Breslau, Trewendt und Graner). Die
Erzählungen sind nach alten Sammlungen sehr verständig und zweckmäßig bearbeitet.—
Da diese volkstümliche Literatur in neuerer Zeit einen unübersehbaren Umfang
gewonnen hat, so ist es ein sehr verdienstliches Unternehmen, dem Publicum und dem
Literaturhistoriker die Uebersicht durch ein vollständiges Verzeichnis, zu erleichtern. Ein
solches Verzeichniß ist so eben erschienen unter dem Titel: „Wegweiser durch die deut-
schen Volks- und Jugendschriften, herausgegeben von or. Carl Bernhard." (Leipzig,
Gustav Mayer.) Der Verfasser hat eine ganze Reihe von Schriftstellern zu diesem
Unternehmen vereinigt. ES ist. daraus eine bei der Schwierigkeit des Unternehmens
wirklich bewundernswürdige Vollständigkeit hervorgegangen, und der Verf. hat außerdem
das Verdienst, durch strenge principielle Ordnung den Gebrauch des Handbuchs erleichtert zu
haben. Die kleinen hinzugefügten Recensionen beziehen sich aus den religiösen Zweck,
den die Herausgeber bei ihrer Sammlung im Auge hatten, und gehen den Literarhisto¬
riker nichts an. Eine chronologische Ordnung, die für den Letztern vielleicht wünschens-
werther gewesen wäre, war mit zu großen Schwierigkeiten verknüpft und stimmte'auch nicht
zu den leitenden Gesichtspunkten des Herausgebers. Ein sorgfältiges Register macht
die Benutzung auch nach anderen Seiten hin bequem. —
BlcakhauS, von Dickens. Uebersetzt von Julius Ser/de. (Leipzig, I. I.
Weber.) Diese Ausgabe erscheint gleichzeitig mit der ^Lorckschcn, und zwar von dem¬
selben Uebersetzer. Der Unterschied ist nur, daß die Weh er'sehe Ausgabe splendider
gedruckt und mit Illustrationen versehen ist, die Lorck'sche dagegen unendlich wohlfeiler.
In der Lorck'sche» Ausgabe kostet dieses Werk 1 Thaler, in der Weber'sehen 3 Thaler
10 Sgr. Bis jetzt sind vier Hefte erschienen. Bekanntlich besteht das ganze Werk
aus 20 Heften. Ein Urtheil über den Roman behauen wir uns daher noch vor.
— Wir erwähnen zu¬
nächst zwei Bücher., die sich auf die deutsche Literaturgeschichte beziehen: Charlotte
v. Kalb und ihre Beziehung zu Schiller und Goethe, von or. Ernst
Köpke. (Berlin, Wilhelm Hertz.) Der Verfasser hat die früher nnr als Manuskript
gedruckten Denkwürdigkeiten dieser ausgezeichneten Frau, die namentlich aus Schiller den
wesentlichsten Einfluß ausgeübt hat, zur freien Benutzung erhalten, um sie der deutschen
Literaturgeschichte zugänglich zu machen, und er hat diese Aufgabe mit Einsicht und
Gewissenhaftigkeit ausgeführt. Was mir dabei noch zu wünschen hätten, wäre eine
größere Einfachheit in der Sprache, die ohne Verletzung der schuldigen Pietät wol hätte
angewendet werden können. — Ferner: Goethe'S Sprache und ihr Geist, von
Dr. Lehmann, Gymnasialdirector in Marienwerder. Supplement zu Goethe'S sämmt-
lichen Werken in 30 Bänden. (Berlin, Allgemeine deutsche Verlagsanstalt.) Der Ver¬
fasser hat seine Beobachtungen über verschiedene Eigcuthümlichl'alten des Goethe'schen
Styls nach einem für diesen Zweck sehr brauchbaren grammatischen Schematismus ge¬
ordnet und sie wenigstens zuweilen durch Parallelstellen aus anderen Schriftstellern er¬
gänzt. Bei der Aufmerksamkeit, die man jetzt in einer wesentlich unproductiven, zur
freien Schöpfung nicht sehr befähigten Zeit dem Organismus deS Sprachbaues schenkt,
ist dieser monographische Beitrag dankenswerth. Die allgemeinen Excurse, namentlich
in der Einleitung, und noch mehr die Citate, die nicht wesentlich etwas Neues sagen,
hätten in einem Werk, das einen wissenschaftlichen Charakter tragen'soll, füglich weg¬
bleiben können. Man hat nicht erst nöthig, Goethe aufzuputzen, wenn man daS
Publicum'von ihm unterhalten will. —
Wir haben vor einigen Wochen das neue Werk von Hinrichs über die Könige
angeführt. Gewissermaßen als ein Seitenstück zu demselben sichren wir heute an:
Völkerkunde. Charakteristik und Physiologie der Völker, von Professor Franken-
Heim in Breslau. (Breslau, Trewendt und Graner.) Im ersten Theil nimmt der
Verfasser die Einflüsse der Natur auf das menschliche Leben durch, im zweiten verbreitet
er sich über die Stammvcrschiedenhciien, im dritten geht er auf die concreten historischen
Erscheinungen der Völker über. Das Werk ist vorzugsweise, eben so wie das von
Hinrichs, für ein größeres Publicum bestimmt. Es hat weniger die Absicht, das Reich
der Wissenschaft zu erweitern, als die Resultate der Wissenschaft zugänglich zu machen.
Es ist sehr verständig geordnet, ohne Prätension geschrieben und enthält eine Reihe von
Anschauungen und Belehrungen, die zur Ausklärung des Volks über die Geschichte bei¬
tragen werden. Vor allen Dingen ist der liberale und dabei sehr besonnene politische
Sinn des Verfassers zu rühmen, der für seine Beobachtungen den Leitpunkt bildet.
— Wenn wir in diesem Buch mehr mit allgemeinen Gesichtspunkten zu thun haben,
so führt uus das Werk von Adolph Helfferich: Engländer und Franzosen,
eine Parallele, (Berlin, Wilhelm Hertz) in ein specielles Gebiet ein. Es ist ein hüb¬
sches, geistreiches Buch, das freilich in der Form seinen journalistischen Ursprung nicht
verläugnet (es ist zum großen Theil in einzelnen Aufsätzen im Morgenblatt erschienen), welches
aber auch in seinem leichten Ton den Ernst einer scharfen Beobachtung festhält.
Der Verfasser hat sich schon .früher durch seine „Briefe aus Italien" (Leipzig, Hinrichs)
bekannt gemacht. — In dieselbe Kategorie gehören zwei kleinere Monographien, von
Dr. Albert Heising (Berlin, Wohlgemuth): Die Deutschen in Australien,
und: Südaustralien. Ein Vortrag, gehalten in der Singakademie. Herr Helffrich
hat im Ganzen nur Verarbeitungen eines schon bekannten Materials gegeben; aus diesen
kleinen Schriften dagegen gewinnen wir ein sehr reiches neues Material über einen
Gegenstand, der bei der weitverbreiteten Wanderlust unsres Volks die größte Beherzigung
verdient. Wir haben schon selber einige Aufsätze über das Wesen der australischen Co-
lonisation gebracht, wir können hier, da sich ein Auszug schwer geben läßt, das Werk-
chen nur lebhast der Aufmerksamkeit des Publicums empfehlen. Vielleicht theilen wir
noch einige Fragmente daraus mit. — Von der „Landeskunde des Herzogthums
Meiningen von Professor Bruckner" haben wir seiner Zeit den ersten Theil an-
geführt; es ist jetzt vom zweiten Theil die erste Hälfte erschienen (Meiningen, Bruckner
und Renner); die zweite Hälfte soll noch im Lauf dieses Jahres folgen. Der gegen¬
wärtige Theil beschäftigt sich mit der Topographie. Diese Monographie zeichnet sich
dnrch erschöpfendes Studium, durch zweckmäßige Anordnung und Genauigkeit der Nach¬
richten so vorteilhaft aus, daß wir sie als eine werthvolle Vorarbeit für umfassendere
wissenschaftliche Darstellungen mit Wohlgefallen begrüßen. — Die Lorck'sche Buchhand¬
lung in Leipzig, die unter verschiedenen allgemeinen Überschriften bereits eine Reihe
werthvoller historischer Monographien theils in Originalarbeiten, theils aber vorzüglich
in Uebersetzungen herausgegeben hat, hat ein neues derartiges Werk erscheinen lassen:
Attila. Von Amcdve Thierry. Der Verfasser möchte jetzt der bedeutendste französische
Geschichtschreiber sein, und das Werk, welches zuerst in einzelnen Lieferungen in der
Kkvuo nos civux monäos erschien, zeichnet sich eben so durch Eleganz seiner Form, als
durch Gründlichkeit der Studien ans: eine Vereinigung, die bei unsren deutschen Geschicht¬
schreibern selten vorkommt. Man hat gegen die Zeiten der Völkerwanderung noch
immer daS Vorurtheil, daß sie wenig geeignet seien, das allgemeine Interesse in
Anspruch zu nehmen. Wie aber durch eine glänzende und geistvolle Darstellung das
Rohe und Unvermittelte des Stoffs aufgehoben werden kann, hat bereits Gibbon in
seinem großen Geschichtswerke gezeigt. Thierry leistet etwas Aehnliches. Eine Reihe der
wichtigsten culturhistorischen Erscheinungen, die auch mit einem gewissen romantischen
Interesse verwebt sind, kommt hier zur Geltung und gewinnt um so deutlichere Umrisse,
je dunkler der Hintergrund ist,, auf dem sie sich abzeichnet. — Die Übersetzung ist von
Dr,. Burckhardt. —
Die deutsche Götterlehre. Ein Hand- und Lesebuch für Schule und Haus.
Nach Jacob Grimm und Anderen von I. W. Wolf. (Leipzig, Vogel.) Der Zweck
des Werks ist bereits im Titel angedeutet. Er geht darauf aus, die wissenschaftlichen
Resultate der neuesten Forschungen zu popularistren. Dazu war es nöthig, einerseits
alle dunkleren Gebiete, über die nur unklare Hypothesen bestehen, zu vermeiden und nur
die wesentlichen Erscheinungen in's Auge zu fassen, andererseits das Einzelne so zu
gruppiren, daß wenigstens eine ungefähre Totalauschauung daraus hervorging. Beides
ist dem Verfasser gelungen, und das Publicum erhält dadurch eine ziemlich lebendige
Anschauung von einer Welt, die uns beiläufig doch ferner liegt, als Herr Wolf an¬
nehmen möchte. An ein lebendiges Eingreifen dieser nordischen Mythologie in unsre
Kunst glauben wir nicht, wenn auch neuerdings darin einige gelungene Versuche gemacht
sind. Darum darf aber das Interesse an einer Vorzeit, die sich immer wenigstens in
einzelnen Spuren noch fortgeerbt hat, und die an sich ein belehrendes Bild giebt, nicht
geringer sein. —
Der Verein zum Frauenschutz. Seine Entstehung, und die Gründung und
Entwickelung seiner Anstalten in Dresden. Von Amalie Marschner. Nebst einigen
tabellarischen Uebersichten vom Diakouus Riedel. (Leipzig, Gustav Mayer.) Der Verein
bildete sich zuerst im Jahr 18i3 in Rücksicht aus die beklagenswerthe Lage nachge¬
lassener Töchter ans den gebildeten Ständen. Es ging daraus im allmählichen Wachs¬
thum eine Anstalt hervor, die 18i6 mit Genehmigung der Regierung feierlich einge¬
weiht wurde. Eine Lehranstalt für Kinder, an die sich später auch' ein Institut für
Erzieherinnen schließen soll, bildet die materielle Grundlage der Anstalt, die der Natur
der Sache nach zwar nur eine geringe Ausdehnung erhalten konnte, die aber in sofern
ein erfreuliches Bild gewährt, als sie zeigt, wie viel Gutes eine mit Energie und lln-
vcrdrosscnheit gepaarte Menschenliebe erreichen kann. — Da wir hier einmal in die
uns eigentlich ferner liegende Sphäre des weiblichen Lebens gerathen sind, so wollen
wir noch eine zweite Schrift anführen, die auf den normalen Zustand des Weibes be¬
rechnet ist, wie jene Anstalt auf exceptionelle Verhältnisse: Die wirthschaftliche
Erziehung und Lebensaufgabe der Hausfrau (2 Bde. Leipzig, Gustav
Mayer), und sie sowol wegen ihres reichhaltigen Materials, als wegen ihrer verstän¬
digen, besonnenen und wohlwollenden Fassung den Leserinnen, die etwa den Grenzboten
ihre Aufmerksamkeit schenken, freundlichst empfehlen. —
Das Börsenblatt für den deutschen Buchhandel fährt in den Aufsätzen über
das literarische Eigenthumsrecht mit unverdrossenem Eifer fort. Da die Grenzboten
unter allen Blättern vielleicht dasjenige sind, welches am meisten geplündert wird, so
kann uns nur daran liege«, daß sich die Untersuchungen über diesen.nicht unwichtigen
Gegenstand immer weiter ausdehnen. Wir wollen diese Gelegenheit benutzen, um ein
Blatt anzuführen, dem wir nach sorgfältiger Erwägung aller Umstände den Preis im
Diebstahl zuerkennen müssen. Dieses Blatt, welches wir erst neuerdings in Berlin zu
Gesicht bekommen haben, heißt: „Die Zeit" und soll ein halb officielles Organ des
Ministeriums Manteuffel sein. Mit einer Mischung von Staunen und Bewunderung haben
wir die liebenswürdige Unbefangenheit angesehen, mit der dieses Blatt seitenlange Ar¬
tikel aus den Grenzboten nachdruckt, ohne sich die Mühe zu geben, auch nur ein Wort
daran zu ändern, und natürlich ohne die Quelle zu nennen. Da es uns aber einmal
diese freundliche Aufmerksamkeit schenkt, so erlauben wir uns, ihm einen frühern Artikel
über Herrn Nyno Quedl zur gefälligen Benutzung zu empfehle». Damit es ihn leichter
finden kann, Molken wir ihm auch den Titel angeben: Der ConstablcriömnS. Der Aus¬
satz würde den Lesern der „Zeit" gewiß viel Vergnügen machen.
Von August
Winter. (Göttingen, Dieterich.) — Ju einer Zeit, wo die preußische Regierung eine
Commission hat zusammentreten lassen, um eine Revision der Verfassung vorzubereiten,
wird dieses Buch nicht verfehlen, einen bedeutenden Eindruck zu machen. Mau nimmt
den Eindruck eines gründlichen, nach allen Seiten hin sorgfältig durchdachten Studiums,
einer erfreulichen Wärme für den Gegenstand und einer gewissen Freiheit in den Ge¬
sichtspunkten daraus mit. Außerdem, und das ist hier die Hauptsache, stimmt es wenig¬
stens dem Anschein nach mit den Ideen überein, die von der herrschenden rcaetionairen
Richtung in ihren Mußestunden ausgesprochen werden: theils in seinem Inhalt, da der
vorgeschlagene Wahlmodus sich dem früher in Preußen geltenden ständischen Princip
mehr nähert, als die jetzt zu Recht bestehenden Bestimmungen, besonders aber in seiner
Polemik; denn selten ist in einem politischen Werk der letzten Jahre über die konstitutio¬
nelle Partei härter geurtheilt worden. ES ist das der erste Vorwurf, den wir dem
Verfasser machen, denn einerseits identificirt er die sämmtliche constitutionelle Partei mit
dem einseitig aufgefaßten Schematismus' eines beliebigen constitutionellen DoctrinairS,
sodann vergißt er, daß er trotz seiner Abneigung gegen bestimmte Seiten des Constitu-
tionalismus dennoch in vielen Hauptfragen für die Constitutionellen gegen die anderen
Parteien eintritt. Er hat selber ein Gefühl davon, denn bei der Bildung seiner neuen
Partei, die er mit dem wunderlichen Namen „Genossen" tauft, rechnet er vorzugs¬
weise auf den bisherigen Constitutionellen. Von diesen hat er aber vorher mit ziem¬
lich dürren Worten erklärt, daß sie ans einer Mischung von Einfaltspinscln und Blöd¬
sinnigen bestehen, und wenn er auch leise andeutet, daß die Neaetionairö so wie die
Demokraten noch einfältiger und blödsinniger seien, so deutet er es eben nur an und
giebt dadurch auf die unbesonnenste Weise dem herrschenden System neue Waffen in
die Hände; denn daß er von dieser Seite ans eine aufrichtige Unterstützung nicht rechnen
kann, wird sich aus der Skizze seiner leitenden Ansichten ergeben. Außerdem machen
wir ihm deu Vorwurf, daß er in denselben Fehler verfällt, den er bei den Konstitutio¬
nellen se' eifrig rügt, daß er nämlich einem allgemeinen Schematismus zu Liebe die
individuellen Verhältnisse hintansetzt. Seine Verfassung soll sich auf das gesammte
Deutschland ohne Unterschied erstrecken, und wenn mau sein Buch liest, so sollte man
aus die Meinung gerathen, daß in Deutschland überall die nämliche Culturstufe herrscht.
Daß es in Deutschland zwei einander feindliche Kirchen giebt, die zugleich sehr ver¬
schiedene Lebensverhältnisse bedingen; daß Preußen in seiner Bureaukratie ein ganz
anderes Material sür den Aufbau seines künstigen Staatslebens hat, als Oestreich, und
daß politische Leidenschaften einmal vorhanden sind, die man nicht durch eine bloße Hin-
weisung auf einen bessern Gegenstand der Beschäftigung beseitigen kann, das Alles küm¬
mert ihn nicht im geringsten. Er ist, was er bei Anderen so leidenschaftlich tadelt, ein
abstrakter Idealist, ein eingefleischter Doctrinair.
Aber es ist in seinem Idealismus und seiner Dvctri» ein großer Fonds von Bie-
dung und Verstand, und wenn auch das, was er vorschlägt, im Einzelnen von ver¬
schiedenen Seiten bereits angedeutet worden ist, so dient die concrete Ausführung
seines Princips, auch wenn wir sie nicht als Schablone für die Ausmalung des künf¬
tigen Musterstaats gebrauchen können, doch dazu, es dem Publicum lebhafter zu ver-
sinnlichen. Und dieses Princip, wenn auch in einem zu ausgedehnten, wir möchten sage»,
zu übereilten Umfange geltend gemacht, ist allerdings das richtige.
Der Verfasser geht davon aus, daß der Uebelstand der bisherigen Repräsentativ-
vcrfassungeu theils in der Zufälligkeit der Wcchlfvrm, theils in der Isolirtheit der Volks¬
vertreter von den eigentlich productiven Beschäftigungen der Gesellschaft beruhe. Sobald
der Deputirte gewählt ist, hört er ans, zu seinem Wahlkreis in irgend welchem Ver¬
hältniß zu stehen. Das ist vollkommen richtig.
Diesem Uebelstande sucht der Verfasser zunächst durch eine dreifache Gliederung
des NcpräscntativwcscnS abzuhelfen. Er unterscheidet nach seiner eigenthümlichen Termi¬
nologie zwischen einer Gauverfassung, einer Landschaftsvcrfassung und einer Reichsver-
fassung. Der Gau entspricht bei ihm ungefähr dem, was man in Preußen Kreis nennt,
die Landschaft der Provinz. Schon die Gaue verwalten ihre localen Geschäfte selbst-
ständig, das niedere Schul-, Gerichts- und Polizeiwesen u. s. w., sie wählen ihr Ober¬
haupt, den Grafen (Landrath), die Grasen der verschiedenen Gaue bilden die Erste
Kamnicr des Landtags, die Zweite Kammer wird von den Ausschüssen der verschiedenen
Gautage und Stadttage gewählt. Diese Landtage verwalten die Angelegenheiten der
Provinz in derselben Art wie die Gautagc; sie wählen ihr Oberhaupt, den Fürsten
(Oberpräsidenten), und diese Fürsten bilden die Erste Kammer des Reichstags, so wie
die Zweite Kammer durch die Ausschüsse der Landtage gebildet wird. — Es sind das
nur die äußeren Umrisse, das Alles ist bis in'S Einzelne sehr genau specialisirt.
Die zweite Neuerung, die er vorschlägt, und dies ist der Kernpunkt seiner Be¬
trachtungen, ist die Wahlreform. Wähler sind nach ihm nur die selbstständigen Staats¬
bürger, das heißt diejenigen, die ein eigenes Geschäft und ein genügendes Auskommen
haben. Sie wählen aber nicht bunt durch einander, sondern in ständischer Gliederung,
mis Korporationen. sowol zu diesem Zweck, als aus national-ökonomischen Gründen
sollen daher die Zünfte rationell wiederhergestellt werden. Die Gutsbesitzer, die Bauern,
die Handwerker, die Kramer, die Geistlichen, die Lehrer, die Richter, Aerzte u. s. w.
sollen zunftmäßig organisirt werden. Jede Zunft hat selbstständige Verwaltung und
freie Entscheidung über die Aufnahme neuer Mitglieder; innerhalb derselben aber scheidet
sich eine Aristokratie von der Demokratie, und daraus ergiebt sich ein Wahlvcrhaltnifi,
wie es ungefähr bei den alten preußischen Landtagen der Fall war. Die Gutsbesitzer
wählen persönlich, die Banernschaftcn neben ihnen nur durch ihre Vorsteher, und eben so
ist das Verhältniß der Fabrikherren zu den selbstständigen Handwerkern. Der Gautag
besteht also etwa ano sämmtlichen Gutsbesitzern, aus den Ortsvorstehern der Dorfgc-
mcindcn, aus den Vertretern der Landstädte, aus den Vorstehern der Geistlichen-, der
Lehrer- und der Nichterzünste. ' Eben so besteht der Stadttag aus den großen Kauf¬
herren und Fabrikherren, aus deu Vorstehern der Kramcrschnst, der Handwerkerschaften
und der Feldbcsitzcrschaft, ans dem Oberpfarrer, dem Schuldircctor, dem (gleichfalls von
den Richtern gewählten) Oberrichter, dem Obcrarzt u. f. w. Auf das Detail wollen
wir hier nicht eingehen.
Man wird schon ans diesen Andeutungen sehen, daß uns in dieser Schrift all;
sehr reichliches Material sür's Nachdenken geboten wird, daß aber die zu große Allgemein¬
heit der Gesichtspunkte überall störend einwirkt. Wir wollen hier nur auf einzelne
Umstände aufmerksam machen. Auch wir halten die Vereinigung der gleichen Bcrufs-
stände zu Korporationen, damit der Einzelne sich nicht atomistisch verliert, so wie die
Vertretung dieser Korporationen zunächst in der Gemeinde und dem Kreis, dann indirect
in die höheren Regionen hinauf sür etwas sehr Wünschenswertes; aber eine solche Ein¬
richtung kann nur auf das Allerbchutsamste und Liberalste durchgeführt werden. Eine
strenge Zunftordnung, wie der Verfasser es will, von oben her decretiren, wäre ein viel
tollerer rcvolutionairercr Act, als irgend eine Charte Waldeck, wenigstens sür die Länder,
in denen bisher Gewerbefreiheit herrschte. Es würde einfach zur Folge haben, daß die
Hälfte der davon betroffenen Bevölkerung nach Amerika auswanderte. Schon jetzt fühlt
sich der Einzelne durch den Staat nach allen Seiten hin genirt; wenn nun eine zweite,
viel ärgere Beschränkung plötzlich einträte, so würde das eine Verstimmung hervorrufen,
deren Folgen gar nicht zu berechnen wären. Auf der andern Seite wird es den gegen¬
wärtigen Regierungen auch nicht im geringsten einfallen, die Gerichte, die Polizei, das
Schulwesen, ja die ganze Verwaltung und die Wahl der Obrigkeiten den Kreis- und
Provinziälständcn zu überlassen. Da also an eine unmittelbare Einführung der Zunft-
verfassung vorläufig nicht zu denken ist, da ans dieser aber das ganze System des
Verfassers beruht, so wird er sich wol damit begnügen müssen, sein Princip als lei¬
tenden Gedanken künftiger allmählicher Reformen festzuhalten, und da mittlerweile der -
Staat nicht stillstehen kann und den Interessen des Tages gleichfalls Rechnung getragen
werden muß, sich mit irgend einer der bestehenden Parteien zu verständigen. Es wird
das um so nothwendiger sein, da wenigstens gesetzlich in Preußen die Veränderungen
in der Kreis- und Communalverfassung nur mit Beistimmung der Kammern vor¬
genommen werden können, und da Herr Winter doch wol nicht der Ansicht sein wird,
der Zweck heilige die Mittel, und um einer guten Staatsorganisation willen könne
man allenfalls auch Recht und Gesetz mit Füßen treten.
Nur mit Bedauern haben wir unsre Ausstellungen so scharf ausgesprochen, denn
wir wünschen dem Werk ein allgemeines und eingehendes Studium, namentlich auch
von Seiten unsrer Partei, die gerade in der Frage der Kreis- und Provinzialvertre-
tung sich nur zu sehr in einseitige politische Richtungen hat treiben lassen. Wer auch
durch das Buch nicht überzeugt wird, Belehrungen wird er jedenfalls daraus schöpfen.
Auf die Ansichten über die Neugestaltung Deutschlands gehen wir nicht ein. Es
sind Ideen in's Blaue, wie sie im Jahre 18i8 zu Hunderten aus der Erde hervor¬
stiegen. Im Wesentlichen stimmen sie mit den großdcutscheu Doctrinen der Herren
v. Schmerling und Wuttke, und werden daher den östreichischen Politikern sehr bequem
sein, die klug genug sind, sich dnrch die Grobheiten, die gelegentlich auch ihnen gesagt
werden, nicht irren zu lassen. Die Lcstreichcr sind sehr concrete Politiker, den einen
Doctrinair Hetzen sie nach der einen Richtung, den andern nach der andern; ob diese
Doctrinairs unter einander übcreinstimnrcn, ist ihnen sehr gleichgiltig. Sie schätzen das
Schaf wie den Wolf, wenn sie es nur gebrauchen können.
— Von Arsvne Houssayc ist die dritte
Auflage der Gedichte erschienen. Er steht unter allen Dichtern Alfred de Müsset am
nächsten. Seine Poesie enthält jene Mischung von äußerstem Materialismus und Spin-
tualismus, wie sie durch Lord Byron angebahnt, durch die Vermischung von Voltaire
und Chateaubriand gefördert und durch Heine zu ihrem vollsten Ausdruck geführt wurde.
Es ist in dieser Gattung zuweilen eine große Feinheit des Geschmacks, aber auch fast.
^ immer ein gewisser kränklicher Hautgout. -—
Von G^rard de Nerval, dem Uebersetzer des Faust, ist ein wunderliches Buch
erschienen: Die Illuminaten oder die Vorläufer des Socialismus. Diese angeblichen Vor¬
läufer sind ein Wahnsinniger aus dem Bicötre, der sich für einen König hielt, der
Ubbo du Buauoy, der gegen das Ende der Regierung Ludwig's XIV. theils wegen
Ketzerei, theils wegen Schleichhandels verfolgt wurde, der Romanschreiber Retif de la
Bretonne, Cazotte, Cagliostro und ein gewisser Quintus Aucler, der das Heidenthum
wiederherstellen wollte.
— Die Gewandhausconcerte in Leipzig haben am letzten Sonntag,
vorläufig unter Direction des Kapellmeister David, ihren Anfang genommen. Als Con-
ccrtsängerin ist Frl. Agnes Bury engagirt. Die Ouvertüre zur Gcnoveva von Schu¬
mann und Beethoven's ^ nur — Symphonie haben die Orchesterlcistungcn eröffnet.
Wir wollen den Anfang der Concerte dazu benutzen, um dem Publicum einen Rath
zur Beherzigung zu geben. Das Wohlwollen gegen sämmtliche Kunstleistungen ist in
den letzten Jahren auf eine beunruhigende Weise gestiegen. Das Feuer für irgend eine
jugendliche schöne Sängerin, oder für irgend einen guten Freund hat sich zuerst geltend
gemacht, dann hat man der Billigkeit wegen auch andere Künstler mit demselben Eifer
applaudirt, zuletzt ist es so weit gekommen, daß wer nicht wenigstens zwei Mal heraus¬
gerufen wurde, als vollständig beschimpft und verachtet von dannen ging. Da nun das
Gewandhausconccrt am wenigsten der Ort sein kann, wo man diesem übermäßigen En¬
thusiasmus durch Zeichen entgegenarbeitet, die leicht mißverstanden werden könnten, so
sollte namentlich die Localkritik es sich zur Aufgabe machen, dergleichen auf'S Schärfste
zu rügen. Daß die Concertdirection nicht ungenügende Kräfte berufen wird, versteht
sich von selbst. Der Beifall muß daher nur ungewöhnliche Leistungen treffen. -— Ein
zweiter Unfug ist das sich immer steigernde Dacaporufen. Es ist in den meisten Fällen
eine Rücksichtslosigkeit gegen den Künstler, der seine Kräfte bereits in genügendem Maße
erschöpft hat, und eine Rücksichtslosigkeit gegen das übrige PnblicuM, das musikalische
Genüsse, namentlich virtuose Leistungen, nur bis zu einer gewissen Grenze ertragen
kann.
— Wir haben in einer frühern Nummer eine Zusammenstellung
von den Einnahmen bedeutender Künstler und Künstlerinnen gemacht. Als Gegensatz
dazu führen wir nach den Angaben der Allgemeinen Theatcrchrouik die Einnahmen an,
welche Wilhelmine Schröder-Devrient während ihrer Künstlerlausbahn hatte. In den
Jahren 1823—1830 erreichte ihr Contract kaum 3000 Thaler, dann nach dem großen
Erfolg in Paris erbot'sich Dresden zu folgendem Contract aus zehn Jahre: 4000 Thlr.
Gehalt, dazu Benefiz, für die ersten sechs Jahre mit 1000, für die übrigen vier mit
600 Thlr. garantirt, drei Monate Urlaub und nach Ablauf der zehn Jahre 1000 Thlr.
Pension. Nach Ablauf der ersten sechs Jahre wurde der Künstlerin auch für die fol¬
genden vier Jahre das Benefiz mit -1000 Thalern garantirt. Als diese zehn Jahre
um waren und die Schröder-Devrient Dresden auf ein Jahr verlassen hatte, wurde
ein »euer Contract auf sechs Jahre gemacht, mit demselben fixen Gehalt, aber anstatt
des Benefizes nur ein Spielhonorar von 20 Thalern per Abend. Ihre Pension wurde
dafür von 1000 auf 1200 Thaler erhöht. Nach Ablauf dieser sechs Jahre wurde
derselbe Contract auf fernere drei Jahre gemacht. Die Sängerin löste ihn nährend
dem mit Bewilligung der Intendanz. Sie bezieht also nur 1200 Thaler Pension.
Da verstehen es die modernen Künstlerinnen allerdings besser. — Die so eben ver¬
storbene königl. preußische Hvsschauspiclcrin Bertha Thomas, geb. Hausmann, war 1819
in Magdeburg geboren. Schon als Kind hatte sie in Düsseldorf Immermann'S Auf¬
merksamkeit erregt. 1837 trat sie zuerst in Düsseldorf auf; 18i6, wurde sie in Frank¬
furt engagirt, verheirathete sich 18in mit dem Schauspieler Thomas und wurde 1849 .
in Berlin engagirt.
— In Paris sind zwei neue Opern zur Ausführung gekommen. Die eine: ^Il!
si .j'ötais roll von Adolf Adam wird von der Kritik als ein höchst nachlässig ge¬
arbeitetes Werk bezeichnet, -in welchem die besten Nummern aus den Opern anderer
Komponisten entlehnt seien. Der Inhalt des Textbuches stimmt ungefähr mit dem
„verwunschenen Prinzen" überein. Der arme Fischer Zcphoris in Indien hat einer
schönen Unbekannten das Leben gerettet, von der er hört, daß sie eine Prinzessin sei;
er ist leidenschaftlich in sie verliebt, und schreibt vor seinem Einschlafen am Meeresufer
in den Sand die Worte: „Ach wenn ich König wäre!" Der wirkliche König von Indien
geht vorüber, liest jene Worte, und beschließt zu versuchen, wie sich der Fischer als
König eines Tages benehmen wird. Es folgt nun die gewöhnliche Scene, am Schluß
heirathet der Fischer, der sich sehr verständig betragen hat, wirklich seine schöne Un¬
bekannte, die Prinzessin Nemea. — Die andere Oper: lo (iaillmc! (3 Acte) ist
von Reder, und wird von der Kritik sehr gerühmt. Der Komponist ist 1807 in
Mühlhause» geboren, und ganz in der deutsche» Schule aufgewachsen. Er hat eine
Reihe von Sonaten, Trio's und Symphonien geschrieben, die zu dem Besten
gehören solle», was die französische Musik in dieser Branche geleistet hat. Endlich
versuchte er sich auf der Bühne, und ließ die komische Oper: la null. «Jo I>InvI
ausführen. Sie erhielt aber nun einen suoevs ä'vslimo, und wurde durch die Stürme
der Februar-Revolution vollständig beseitigt. Desto günstiger scheint der Erfolg des
gegenwärtige» Versuchs ausgefallen zu sein. Der Text ist einfach. Eine sehr glückliche
Familie wird - durch eine unerwartet reiche Erbschaft in Verwirrung gesetzt; man weiß
dem Ehemann den Verdacht beizubringen, der Erblasser habe mit seiner Frau i» einem
»»erlaubten Verhältniß gestanden. Zuletzt klärt sich über alles zur vollständigen Be¬
friedigung auf. — Da die neuere französische Musik durch jenes grelle Hervorheben der
Contraste, welches sich anch in der Poesie und Malerei dieses Volks wiederfindet, und
durch die einseitige Bevorzugung der Dcclamatio» aus Unkosten des Gesanges, sich
vielfach an der Kunst versündigt hat, so wäre es. jetzt, wo das Uebel durch kosmopoli¬
tische Ansteckung in Deutschland sich fast eben so verbreitet hat, eine passende Sühne,
wen» die Franzosen u»s in der Richtung auf echte, natürliche Musik vorangingen.
In den neuen Compendien der Literatur finden wir fast ohne Ausnahme die
Ansicht ausgesprochen, daß wir zwar in den anderen Gebieten der Dichtkunst seit
Goethe und Schiller keine erheblichen Fortschritte gemacht, daß wir aber in der
Lyrik jene Zeit bei weitem überflügelt hatten. Wir haben schon öfters die ent¬
gegengesetzte Meinung vertreten. Wir geben gern zu, daß in kleineren Ge¬
dichten sehr viel Gutes geleistet ist, obgleich wir doch kein Lied von Uhland oder
Heine wüßten, das wir etwa Goethe's Fischer an die Seite setzen konnten; aber
in größeren lyrischen Gedichten, in Gedichten von laugathmigcr Inspiration, wie
etwa Goethe's Braut von Korinth, Alexis und Dora, Bürger's Lenore, Schiller's
Götter Griechenlands, die Künstler u. s. w., können wir nicht finden, daß die
neuere Zeit etwas Lvbcnswcrthes producirt hätte; und in solchen größeren
Schöpfungen offenbart sich doch auch in der Lyrik vorzugsweise die Kraft der
Poesie.
Was die Dichter der neuen Schule vou unsren älteren Lyrikern unterscheider,
ist, daß sie niemals bei der Sache sind. Dies „bei der Sache sein",
was man gewöhnlich mit dem lateinischen Namen Objectivität bezeichnet, scheint
uns aber bei der Kunst die Hauptsache. Es ist in der Malerei eben so. Der
Künstler kann die brillantesten Farben und Linien anwenden, sie werden keinen
Eindruck macheu, wenn sie nicht der Sache angemessen sind, und wenn sie die
Einheit der Stimmung stören. Fast in keinem Zweige der Kunst wird aber die
Abweichung von diesem Gesetz so in's Große getrieben, als in der Lyrik. Man
gebraucht den Gegenstand fast lediglich dazu, eine Reihe brillanter Bilder, Re¬
flexionen, Gefühle daran anzuknüpfen, ohne sich im geringsten darum zu kümmern,
ob sie in irgend einem Verhältniß zum Gegenstand stehen. Daraus ergiebt sich
in. Beziehung auf die Form eine vollständige Slyllosigkeit, in Beziehung ans den
Inhalt ein breites coquettes Verweilen bei Nebensachen und eine leichtfertige
Hast in der Darstellung der Hauptsache, endlich in Beziehung auf die ideale
Färbung, auf die sittliche Grundstimmung, die den Gegenstand erst in daS
Bereich der Kunst zieht, eine an's Wunderbare streifende Unklarheit und Rat¬
losigkeit.
Man hat in früherer Zeit mit dem Ausdruck Subjektivität und Objectivität
viel Mißbrauch getrieben. Der wirkliche Dichter ist immer objectiv, das heißt, er wählt
die reale» Charaktere nud Ereignisse so, wie er sie für sein Ideal braucht, und
er wendet diejenigen Farben und Striche an, die dazu geeignet sind, diesem Ideal
Lebendigkeit zu verleihen. Goethe's lyrische Gedichte sind darin allerdings das
vollständigste Muster, und es mochte ihm auch nnter den großen Dichtern der
übrigen Völker keiner zur Seite stehen; aber auch bei Schiller's besseren Gedichten wer¬
den wir diese Objectivität nicht vermissen, und wenn wir auch z. B. in den „Göttern
Griechenlands", oder in den „Künstlern" durch den Glanz der Bilder etwas
betäubt werden, so werden wir doch zugeben müssen, daß dieser Glanz von dem
Gegenstand nicht zu trennen ist, und daß, wenn der Dichter diesen Gegenstand
überhaupt behandeln wollte, er ihn nicht anders behandeln konnte, als er's wirk¬
lich gethan. Wir haben immer das Gefühl der innern Nothwendigkeit, welches
der wesentlichste Prüfstein für den Werth eines Gedichtes ist. Heut zu Tage ist es
unsren Dichtern absolut unmöglich, sich aus längere Zeit in einen Gegenstand mit
Andacht zu vertiefen. Wenn sie nicht bei der Gelegenheit ihre Ansichten über Gott
und Welt, ihre Kenntnisse in der Naturwissenschaft und im Kontrapunkt, ihre
metaphysischen Grundsätze und die Reminiscenzen ans dem Salongeschwätz an¬
bringen können, so erscheint ihnen die simple Beschäftigung mit einer Begebenheit
oder mit einem Gefühl höchst verächtlich und gemein. In dieser Beziehung sollten
sie einmal ein Gedicht, ans welches man jetzt so geringschätzig herabsieht, wie etwa
die Lenore, studiren. Schade was um die Hurre dürre, hopp hopp hopp n.s. w,!
Von dergleichen einzelnen Geschmacklosigkeiten kann man leicht absehen, im Uebrigen
wird man aber eine Technik und eine Correctheit darin finden, von der unsre heutigen
Dichter keinen Begriff mehr haben. Jene alte» Dichter verehrten in der Poesie
die Kunst; sie begnügten sich nicht mit gelegentlichen Einfallen? sondern sie studir-
ten mit Ausdauer und Andacht die Gesetze ihres Schaffens. Wenn aber heut
zu Tage ein junger Dichter einiges Sprachtalent hat, so liest er den Byron, den
Faust, den Heine, Lena», Grün n. s. w. und wirst die Brocken, die ihm davon
übrig bleiben, wenn es hoch kommt, in einer neu erfundenen Manier zusammen,
in der Regel aber ohne alle Manier, wie es gerade fällt. Das ist aber nicht
der Weg, ans dem die Kunst vorwärts komme» kann.
Allerdings müssen wir noch hinzufügen, daß jene großen Dichter, namentlich
in ihren dramatischen Werken schon Vieles gethan haben, was diesen Verfall der
Kunst vorbereiten mußte. Schiller tritt in seinen Dramen nur zu häufig aus
der Sache heraus, wie z. B. in seinem Wallenstein, wo Max über die Astrologie seines
Feldherr» auf eine Weise reflectirt, die weder dem Geist der Zeit, noch der
Stimmung und dem Charakter des Stücks entspricht. Das ist schon ganz der
„höhere Standpunkt", die Vogelperspective, von der aus unsre jetzigen Lyriker ihre
Gegenstände auffassen. Goethe hat z. B. in seinem Faust der Nation ein Beispiel
gegeben, wie man durch ein Gedicht, welches eigentlich mir aus einer Reihe von
Fragmenten besteht, in dem der innere psychologische und ethische Zusammen¬
hang ein vollständiges Räthsel bleibt, und in dem eine Stimmung der andern
widerspricht, dennoch das Publicum elektrisiren könne. Der Unterschied gegen
die spätere Lyrik lag nur darin, daß alles Einzelne auf's Correcteste und Muster¬
hafteste ausgearbeitet war. Später wollte mau wo möglich in jedem einzelnen
Sonnett eine totale Weltanschauung geben. — Durch Byron ist dieses rhapsodische
Wesen der Poesie noch populaircr geworden, und Heine hat es durch seine
wunderbare Virtuosität auf die Spitze getrieben. Heine's Kunst besteht darin, daß
er im Wesentlichen frei von seinen Gegenständen ist, andererseits aber doch, wenn
er es will, sich mit großer Kraft und Jntensivität in sie vertieft. Jeder Gegen¬
stand hat seine verschiedenen Seiten, die ihn den verschiedenen Gattungen der
Poesie zugänglich machen. Wir wollen z. B. die Madonna nehmen, die uns
wegen des Werks, welches wir hier besprechen wollen, am nächsten liegt. In der
Madonna liegt einerseits etwas Göttliches, Erhebendes, wir dürfen nnr die
Sixtinische ansehen; andererseits etwas menschlich Rührendes, Gemüthliches,
wenn wir von ihrer Geschichte nur die ideale Seite auffassen; dann auch etwas
Entsetzliches und Schreckliches, wenn wir sie als Symbol einer fanatischen Glau-
benörichtnng, als Schreckbild für alle natürlichen Freuden des Lebens betrachten;
endlich auch etwas Komisches, wenn wir die Begebenheiten, die wir von ihr
wissen, in'ö Volkstümliche übersetzen. Alle diese Seiten können künstlerisch dar¬
gestellt werden. Heine aber versteht eS, alle diese Stimmungen unmittelbar ueben
einander anzuschlagen, und da er mit eben so großer Virtuosität sich der Rührung
wie des komischen Effects zu bemeistern weiß, so werden.wir im ersten Augenblick
geradezu verwirrt und betäubt, bis wir seine Handgriffe genauer in's Ange
gefaßt haben. Allem auch Heine läßt seinen Empfindungen wenigstens immer
einen gewissen Raum. Wir haben Zeit, uns zuerst in Andacht und Rührung
zu versetzen, und darum wirkt die plötzlich über nus stürzende Douche seiner
Ironie um so kräftiger. Bei den neueren Lyrikern ist es anders. Auch wenn
sie rühren wollen, sind sie nicht im Stande, ihre ironischen Einfälle zurück¬
zuhalten, und wenn sie spotten wollen, so quillt ihnen unversehens eine heilige
Thräne ans den Augen. Darin suchen zwar einige neue Kunstrichter das
Höchste, der Poesie, wir aber halten es sür die Spitze der Geschmacklosigkeit,
und jedes natürliche Gefühl wird uns darin beistimmen, denn bei solchem Ver¬
fahren hebt die eine Wirkung die andere aus, und es bleibt nichts zurück als
Verstimmung.
Wenn wir als ein Beispiel dieser neuen lyrischen Richtung hier ein Werk
von Rudolph Gottschall analysiren, so wollen wir dem Dichter selbst damit nicht
zu nahe treten. Er. ist einer der talentvollsten, er zeigt in einzelnen Stellen die
Fähigkeit, etwas Besseres zu schaffen, und er ist in seiner Verirrung so grandios,
daß man gerade darin bei seiner Jngend die Möglichkeit einer totalen Umkehr
sehen konnte.
Die Dichtung, ans die wir hier eingehen, hat den Titel: „Die Göttin.
Hoheölied vom Weibe." (Hamburg, Hoffmann und Campe.) Dieser doppelte
Titel ist nicht etwas Gleichgiltiges; er deutet bereits die doppelte Natur des
Werkes an. Die „Göttin" ist nämlich ein weibliches Individuum, welches ungefähr
wie Gnizkvw's Maha Guru durch eine sonderbare Verkettung der Umstände zu
der Einbildung verleitet wird, sie wäre eine Göttin. Zugleich spielt aber der
Nebengedanke hinein, daß ihre Geschichte ein Symbol von dem Loose des Weibes
überhaupt sein soll. Wir kommen darauf uoch zurück; hier geben wir vorläufig
die Fabel, die dem Gedicht zu Gründe liegt.
Wenn wir nicht irren, so ist es Fonanv, der in einer Novelle eine ähnliche
Geschichte behandelt. Ein frommes Mädchen wird zur Zeit der französischen Re¬
volution von den wilden Banden der Sansculotten gezwungen, bei ihrem unheiligen
Feste die Göttin der Vernunft darzustellen. Dieser unfreiwillige Frevel erschüttert
ihr Inneres so, daß sie wahnsinnig wird. Gottschall hat denselben Vorwurf
gewählt, aber er giebt ihm eine e!was andere Wendung. Marie, die Heldin
des Stücks, ist an einen Mann verheirarhet, der wegen seiner girondistischen
Gesinnung in den Kerkern des Konvents das Todesurtheil erwartet. Sie geht
zu den verschiedenen Koryphäen der Revolution, um Gnade für ihn auszuwirken,
endlich kommt sie zu Hebert und Chaumette, welche ihr die Freiheit des Gatten
versprechen, wenn sie die Göttin der Vernunft spielen will. Sie entschließt sich
zu diesem Opfer, welches sie zuerst als solches betrachtet, dann aber überlegt sie
in anticipirten Feuerbach'schen Ideen, daß eigentlich doch der Mensch die wahre
Darstellung der Gottheit sei, und daß also eigentlich in der göttlichen Verehrung
eines sterblichen Weibes gar kein Frevel, sondern etwas sehr Vernünftiges liege.
In dieser Exaltation macht sie auch das Fest mit; als sie nachher aber erfährt,
daß ihr Mann doch hingerichtet ist, als ferner Robespierre das höchste Wesen
wieder einführt und sie zur Abdankung zwingt, verliert sie den Verstand und
ergeht sich in eiuer Reihe wüster Visionen, z. B. sie prügelt sich einmal mit der
Madonna, bis sie endlich den Hungertod stirbt, um als reine Gottheit in die
Lüfte zu verschwebcn. Um diesem seltsamen Ereigniß die zweckmäßige Grundlage
zu geben, hat der Dichter uns auch ihre Vorgeschichte mitgetheilt. Marie wird
zuerst halb wider ihren Willen in ein Kloster gesteckt, aus demselben durch ihren
Liebhaber entführt, wieder zurückgebracht, in einen Kerker geworfen, daun durch
die Revolution befreit, worauf sie mehrere Jahre hindurch in glücklicher Ehe lebt
und nur durch den Tod ihres Kindes betrübt wird. Das Alles sind Momente,
deren ideellen Zusammenhang mit dem spätern Ereigniß und deren Anwendung
zu einer tiefern Lösung des psychologischen Problems man sich wohl vorstellen konnte;
allein es ist dem Dichter nicht gelungen, diesen Zusammenhang wirklich zu ent¬
wickeln, ja er hat nicht einmal den Versuch gemacht. Er benutzt nur die einzelnen
Ereignisse, um seinen Witz daran spielen zu lassen. Das Kloster z. B. wird voll"
ständig ironisch behandelt und übt auf die Seele der Heldin eigentlich gar keine
Wirkung aus. Mau könnte sich z. B. denken, es wäre dadurch eine tiefe Gläubig¬
keit in ihr Herz eingepflanzt, und wenn später auch die Leidenschaft und der ge¬
sunde Menschenverstand sie factisch aus diesem Kreise herausgerissen, so wäre doch
ein Nest der alten Gesinnung in ihrer Seele zurückgeblieben, der nachher bei dem
größten Frevel wieder zum Vorschein kommen und sie in den Wahnsinn treiben
müßte. Oder man könnte sich vorstellen, die strenge Klosterzucht hätte in ihr
einen Haß gegen das Christenthum und gegen das Princip der Entsagung über¬
haupt erregt und sie zu einer begeisterten Seherin gemacht, die ihre spätere, wenn
mich nur momentane göttliche Stellung als einen Triumph über die Kirche auf¬
faßte. In beiden Fällen wäre ein ideeller Zusammenhang der Vorgeschichte mit
dem Hauptcrcigniß hergestellt. Aber Keins von Beiden geschieht. Das Kloster
wie die Ehe ist genrehaft behandelt, das Eine wie das Andere läßt gar keine
Wirkung zurück, und man würde nicht begreisen, wie der Dichter überhaupt
daraus gekommen ist, die Vorgeschichte zu erzählen, wenn man nicht annähme, es
habe ihm dunkel vorgeschwebt, in der Marie ein Bild des Weibes überhaupt in
seinen verschiedenen hervorstechenden Phasen zu schildern. Abgesehen davon, daß
eine solche symbolische Verallgemeinerung einer individuellen Geschichte dem Begriff
der Kunst widerspricht, hätte auch in diesem Fall der Dichter seinen Zweck ver¬
fehlt, denn Marie ist eben so wenig wahre Nonne wie wahre FrciheitSheldiu;
sie ist ihrer Anlage nach ein gutes Ding, welches allerdings in seltsame Lagen
geräth, aber in Lage»!, die lange nicht hinreichen, ihre unerhörten Empstndnngcn
und Vorstellungen zu erklären; sie ist mit einem Wort ein Wesen ohne Leben,
ein bloßes Gedaukeudiug des Dichters.
Nun kommen wir aber auf einen andern Punkt, der noch viel mehr befremden
muß. Wir sagten vorher, eines der charakteristischen Merkmale der modernen Lyrik sei
die Unklarheit und Rathlosigkeit in Beziehung aus die ideale Auffassung. Davon
ist dieses Gedicht wieder ein merkwürdiges Beispiel. Betrachtet man die Geschichte
an sich, so ist doch wol die Absicht deö Dichters ohne Zweifel, eine psychologische
Krankheitsgeschichte zu schildern. Marie endet im Wahnsinn, sie redet in diesem
Wahnsinn nicht blos einen unerhörten Unsinn, sondern sie bewegt sich auch in den
scheußlichsten Vorstellungen, wie z. B. jene Prügelei mit der Madonna. Das ist
doch wol ein unglücklicher Schluß, und wir werden der Heldin, wenn wir überhaupt
Interesse an ihr nehmen, nnr unser Mitleid schenken können. In einem einleiten¬
den Vorgedicht, welches den Titel führt: „Das Weib", und im parabolischen oder
phänvmenologischen Styl gehalten ist/ werden die verschiedenen Stufen der Vergött¬
lichung des Weibes durchgenommen; zuerst Venus Anadyomene, dann Madonna
und Magdalene, endlich die Göttin der Vernunft. In diesem letzten? wird gesagt,
die erste Göttin der Vernunft sei zwar dem muthigen Beginnen erlegen, weil sie
zu schwach gewesen, aber: „Folgt ihr nach, ihr Jüngerinnen! Dringt kräftiger
zum Siege hin! .... Laßt euch durch Erd und Himmel tragen, und wird anch
zu des Abgrunds Thor die Seele ruhelos gestoßen, so zieht des Denkers Hölle
vor dem Himmel der Gedankenlosen. Des Weibes Ziel und Glück auf Erden wird
nur durch deu Gedanken klar.... Von keiner fremden Gnadcusvuue, durch eignen
Zauber nur verklärt, so sei als Venus, als Madonne, das Weib, das irdische,
verehrt!" Und wenn das geschehen sein wird: „So denkt der stillen Götterlciche,
die an der Zukunft Pforten lag .... dann flechtet in die Dornenkronen der
Rose Pracht, des Lorbeers Ruhm, die Göttin der Vernunft soll thronen in freier
Frauen Heiligthum!"
Wir wollen einmal vorläufig von dem Inhalt selbst absehen, aber wie in
aller Welt steht dieser Inhalt mit dem Gedicht in Verbindung? Marie hat sich
ja nicht freiwillig als freies Weib, als Prophetin, als Göttin aufgestellt, sie ist
eine treue Gattin gewesen, und nur durch den spitzbübischen Chaumette, um ihren
Gatten zu retten, zu jener unpassenden und unheiligen Rolle verführt worden.
Was hat sie also eigentlich gethan, worin ihr die Jüngerinnen nachfolgen sollen?
Sie ist dupirt worden und hat darüber deu Verstand verloren; das ist doch
gewiß kein sehr einladendes Vorbild.
Um nun aus die Sache selbst zu kommen, so wäre es wol endlich Zeit, dem
nachgerade sehr langweiligen Geschwätz von der Weiberemancipatiou ein Ende zu
machen. Man sollte glauben, wir lebten noch bei den Türken, oder wenigstens,
die katholische Weltanschauung, die den Sinnengenuß als Frevel bezeichnet, und
ihn durch das Verbot gerade um so verführerischer macht, habe noch Gewalt über
uns. Wir sind aber Protestante», wir haben das Fleisch bereits emancipirt, und
keinem Liebenden fällt es ein, in seiner Geliebten blos die Madonna spiritualistisch
verehren zu wollen. Der Dichter sagt: „Es wird ein glücklicher Geschlecht
zu einem Kranz die Blumen winden: Der Sinne Reiz und schönes Recht, der
Seele Schmelz und tief Empfinden!" und er unterstreicht diesen Gedanken, um
ihn noch besonders hervorzuheben. Aber wo in aller Welt lebt denn Herr Gott-
schall? Wir haben von einem gewissen Goethe gehört, der in seinen zahllosen
Gedichten nichts Anderes gethan hat, als diesen Reiz der Sinne und diesen
Schmelz der Seele mit einander zu versöhnen, und vor und nach diesem Goethe
haben die Dichter zu Hunderten dieselbe Melodie angestimmt, und was die Dichter
gesungen haben, das haben die anderen Leute gethan. Welchem Menschen auf
der Welt fällt es denn noch ein, zu läugnen, daß in der Liebe sich Geistiges und
Sinnliches ebenbürtig paare? Worin soll also die Emancipation der Sinne eigentlich
bestehen? Will Herr Gottschall vielleicht die Monogamie aufheben? Damit wird
er aber nicht eine dem Menschen angeborene Eigenschaft aufheben, die man
Eifersucht nennt und die es als ein Recht in Anspruch nimmt, den höchsten Ge¬
nuß des Lebens mit Niemandem zu theilen. Er wird ferner nicht die Noth¬
wendigkeit der mütterlichen Erziehung aufheben, die nur unter geordneten Ver¬
hältnissen möglich ist. Also wird es die menschliche Gesellschaft immer in ihrem
Interesse finden, ein Institut, welches unsrer protestantischen Ehe ungefähr ent¬
spricht, wieder einzuführen, und wenn sie Ausnahmen gelten läßt, die wir allerdings
auch statuiren, so läßt sie sie eben nur als Ausnahmen gelten. Wir sind also
keineswegs der Meinung, Herr Gottschall habe mit jenen Ideen etwas Entsetz¬
liches, Fürchterliches, sagen wollen und sich nur gescheut es auszusprechen,
sondern wir glauben nnr, daß er hergebrachte jungdeutsche Phrasen, bei
denen man absolut gar nichts denken kann, in wohllautende Verse und Reime
gebracht. Das ist aber für den Kritiker bei einem Dichter, dessen Begabung er
achtet, eine höchst betrübende Erfahrung.
Allein bei diesem einzelnen Punkt bleibt die Unsicherheit des Urtheils gar
nicht stehen. Es sind eine ziemliche Zahl von Episoden aus der Revolutions-
geschichte eingeführt: Danton, Marat, Robespierre, Charlotte Corday u. s. w.,
von denen Jeder in einer Art von Romanze seine Weltanschauung ausspricht.
Das ist eine Manier, die namentlich seit Lenau in unsren episch-lyrischen Gedichten
hergebracht ist. Sie beruht aber ans einem Verkennen des Wesens der Lyrik.
Im Drama dulden wir es, wenn die einzelnen Personen im Monolog die ab¬
scheulichsten und absurdesten Grundsätze aussprechen, weil die didaktische Bewegung
des Drama's diese Irrthümer des Verstandes und Herzens corrigirt oder un¬
schädlich macht; im lyrischen Gedicht dagegen wollen wir den Dichter, die Natur,
die Poesie selbst hören. Die Situationen des lyrischen Gedichts mögen so ver¬
worren sein wie sie wollen, die ideale Stimmung muß von allgemein menschlicher
Wahrheit sein.. Darum sind jene melodramatischen Ergüsse des Wahnsinns am
Schlüsse des Gedichts auch unstatthaft. Wir haben über Robespierre, Marat ze.
in neuester Zeit überflüssig viel psychologische Studien erhalten; wir wissen ganz
genan, daß sie alle Halunken waren und eigentlich sehr uninteressante Persönlich¬
keiten, wenn sie nicht die Ironie der Weltgeschichte in eine unnatürliche Stellung
versetzt hätte. Einzelne lyrische Betrachtungen über diese Persönlichkeiten können
unsre Erkenntniß und unser Interesse nicht fördern. Außerdem gehören sie hier
nicht im Geringsten in den Zusammenhang. Was wir aber dabei bemerken wollten,
ist das Schwanken des Urtheils im Dichter. Ihm imponiren diese Personen, ihm
imponirt auch die Idee der Revolution; andrerseits hat er aber wieder zu viel
gesunden Menschenverstand und zu viel Erfahrung, um sie unbedingt gelten zu
lassen. Statt nun das Eine an dem Andern zu corrigiren, läßt er die eine Em¬
pfindung in die andere spielen, und dadurch kommt nicht blos in sein Urtheil,
sondern selbst in seine Zeichnung etwas Unflates und nebelhaftes, wenn auch
einzelne Empfindungen und einzelne Züge mit wahrer Poesie ausgearbeitet sind.
Eben diese öfters hervortretenden Spuren von Poesie lassen uns die Verirrungen
des Dichters so lebhaft bedauern. Wir wollen als ein kleines Beispiel seines
Talents hier ein kleines Gedicht anführen, das die Empfindungen beim Eintritt
in's Kloster ausdrückt:
Marie, o lerne beten
Zum Gott der Schmerzen,
Er hat zertreten
Viel tausend Menschenherzen.
Es blutet aus heiligen Wunden
Der Welterrctter,
Wer soll gesunden,
Wenn krank die co'gen Götter?
Im bleichen Antlitz beben
Tod und Verderben,
O wer soll leben.
Wenn ewige Götter sterben?
Das ist sehr hübsch ausgedrückt, und so finden wir noch viele andere Stellen.
Indem wir nun aber auf deu Styl übergehen, tritt die Verirrung deö Geschmacks
wo möglich noch greller hervor, - als in Bezug auf die sittliche Auffassung. Am
meisten Styl finden wir noch in der Einleitung, weil man in einem Dithyrambus
eine gewisse Freiheit und Kühnheit der Bilder erträgt; in der eigentlichen Ge¬
schichte dagegen, wo uus zuerst Marie als ein unschuldiges, aumuthiges Mädchen
dargestellt werden soll, wendet der Dichter gleich von vornherein eine Heine'sche
Ironie an, die seinem Zweck widerspricht. Gleich die erste stille Neigung zu einem
blonden Kandidaten wird bespöttelt. Noch schlimmer ist es, als Marie zuerst ihre
Bestimmung mitgetheilt wird, in's Kloster zu gehen. Die Anrede, die hier an
sie gehalten wird, mußte entweder im Sinne ihrer Angehörigen gefaßt sein, oder
sie mußte die Empfindungen des Mädchens selbst wiederspiegeln. Das konnte
nun Furcht vor dieser düstern unbekannten Stätte sein, vielleicht mit etwas
Schwärmerei gemischt, Andacht und Schalkhaftigkeit, oder was der Dichter sonst
in ihrer Seele finden wollte. Statt dessen wendet er Bilder an, wie sie in dem
bekannten Wettgesang des Nomanzero, wo der erboste Rabbi ans den erbosten
Mönch schimpft, sehr wohl angebracht sind, die aber in die Seele eines jungen
Mädchen verlegt, einen geradezu scheußlichen Eindruck machen, z. B.:
Du wirst die Braut von Jesu Christ,
Durch himmlische Liebe verklärt:
Und nebenbei, was das Beste ist,
Ganz sorgenfrei ernährt!
Der tausend mit sieben Broden geletzt,
Gesättigt ein gläubiges Vertrau'»:
Er speist mit einem Herzen jetzt
Die Liebe von tausend Frau'n ....
Die Schönheit verwelkt in dem keuschen Serail,
Die Tugend, die ewige reift!
Der Körper wird hier wie ein lästiger Balg
Der Seele abgestreift! :c. ze.
In diesem Ton. der Ironie geht es im Kloster weiter fort. Dazwischen
kommen sehr hübsche Naturbilder, die nur auch durch die Reminiscenzen' der
neuen Dichter zuweilen gestört werden. So hat z. B. einmal Anastasius Grün
den Lenz einen Rebellen genannt, bei Gottschall ist Alles Rebell, der Wind, die
Nachtigall, der Champagner u. s. w. Die neue Manier, Naturgegenstände mit
Gegenständen der Cultur zu vergleichen, wie z. B. Herwegh die Eichen „grüne
Fragezeichen der Freiheit" nennt, wie Alfred de Müsset den Mond über einem
Kirchthurm mit dem Punkt über einem i vergleicht ze., 'ist das umgekehrte Ver¬
fahren der echten Poesie, da sie das Abstractere an Stelle des Concreteren setzt.
In einer Sonutagsschilderuug wird vou der Welt zuerst gesagt, sie liegt auf¬
geschlagen wie ein Gesangbuch da. Das ist an sich ein ganz artiger Einfall, der
aber übermäßig ausgedehnt wird, z. B.:
Der Morgenwind ist der Küster,
Der läutet frisch durch's All,
Er läutet die Wipfel des Waldes,
Er läutet den Wasserfall.
Das ist ein Bild, bei dem sich gar nichts denken laßt. Nachher wird die
Sonne mit dem Prediger auf der Kanzel verglichen. Die Nonnen ziehen in
einer Procession einher:
Sie kommen wie Schwäne am Ufer,
Seltsam einher gestelzt,
Obgleich manch Fcucrrädchen
Sich unter dem Schleier wälzt,
Und manche Korallenlippe
Ist lustig aufgeschürzt,
Als warte sie nur auf den Becher,
Den gern sie herunterstürzt!
Wir wollen davon absehen, daß ein sich wälzendes Auge nicht gerade etwas
Schönes ist, und daß wir uns uuter einer aufgeschürzten Lippe nicht viel denken
können, wir fragen nur: Was hat das Fcucrrädchen mit den Schwänen zu thun?
Worin liegt da ein Gegensatz? Wir fragen ferner, ob man sich anfschürzt, wenn
man trinken will? Die modernen Propheten werden diese Fragen freilich als Pe¬
danterie auslegen, und wir wissen sehr wohl, daß Correctheit der Bilder noch
lange uicht Schönheit ist, aber ohne Correctheit ist an Schönheit nicht zu denken.
— Nachher werden die Gesichter der Nonnen geschildert:
Bald breit das Gesicht wie ein Bette,
Wo schlummernd die Seele liegt
Und der Posaunenengel
Der Langenweile fliegt u. s. w.
Hier ist „breit" das einzige tczrtmm eomparailonis und doch gewiß nicht
ausreichend, zwei so heterogene Dinge mit einander zu verbinden. — Bei der
Schilderung eines Festes wird das Kloster mit einem alten Weibe verglichen,
welches sich zur goldenen Hochzeit herausputzt:
Es lächelt mit verliebten Blicken,
Ordnet die verstörten Locken,
Putze sich zur Walvurgisfeicr,
Wie die Hexe auf dem Brocken.
Die, Hexe ist nun wieder ein Bild, welches der leitenden Vorstellung störend
entgegenwirkt. — Später wird das Kloster in der Entführungsgeschichte, die
übrigens sonst gut erzählt ist, mit allein Möglichen verglichen:
Es spannt wie eine Fledermaus die Flügel,
Wächst aus dem Boden wie ein Maulwurfshügel,
Im Dunkel aufgewühlt von blöden Thieren,
Des lieben Gottes blinden Pionieren.
Dieser letzte Zusatz ist echt jungdeutsch. — Dann wird ein Strand geschildert:
Am Felsengrunde klagt und weint das Meer,
Es sterben die gebrochnen Fluthenherzen,
Doch ewig neue wälzt der Sturm einher.
Gebrochene Fluthenherzen für Wellen ist doch wol eine bloße Combination
von Worte». In einer andern Laudschaftsschilderuug grüßt die Sonne „die
Torso's in des Walds Antikensaal." Uns sind Baumstämme lieber als Torso's. —
Bei der Schilderung von Mcirat werden zuerst alle möglichen historischen und
mythologischen Reminiscenzen aufgeboten, um seinen Charakter zu schildern, die
eben als bloße Vergleichungen nicht dazu beitrage», ein Bild abzurunden, und die
zum Theil auch unrichtig sind, so wird er z. B. mit Caliban in Beziehung auf
die Anzündung eines Scheiterhaufens verglichen. Aber am charakteristischsten ist
folgender Vergleich:
So zog er ohne Ruh' die Sturmesglocken,
Der Glöckner an der Freiheit Notre-Dame,
Bis aufgescheucht mit wildgelösten Locken
Zerstörung, seine Esmeralda, kam!
- Abgesehen davon, daß Victor Hugo'sche Gestalten sich zu mythischen Typen
nicht recht eignen wollen, ist hier der Vergleich, wenn man die gemeinschaftliche
körperliche Häßlichkeit ausnimmt, in jeder Beziehung schief. Quasimodo hat die
Sturmglocken nicht aus Bosheit geläutet, durch diese Sturmglocken wurde die
Esmeralda nicht herbeigerufen, sondern sie war schon da, und wie die gute
Esmeralda dazu kommt, init dem abstracten Begriff der Zerstörung in Parallele
gestellt zu werden, begreift man vollends nicht. — Unpassend ist auch ein Zug,
den Gottschall bei dem Morde Marat's hinzudichtet. Er läßt ihn nämlich bei
dem Anblick der Charlotte Corday von sinnlicher Brunst ergriffen werden. Wenn
man historische Charaktere schildern will, so muß man sie auch historisch schildern. —
Ganz in's Wüste verliert sich die Bildersprache in dem letzten Theil. Noch lange
bevor Marie wahnsinnig wird, hält sie einen Monolog, in dem sie die Schreck¬
nisse der Weltgeschichte zusammenfaßt und dann die Frage aufstellt: „Wo schläft
denn Gott, nachdem er diese Welt zum Spiel wie eine bunte Seifenblase aus
thönerner Pfeife blies?" Aber das klarste Bild über die Art und Weise der
Ideenassociation gieb't folgende Stelle. — Marie tritt an das Paradebett der
Geschichte:
Den Schleier reiß' ich von den bleichen Zügen,
Die Tücher reiß' ich von den mürben Leibern,
Und all die alten Wunden bluten frisch!
Das ist das Kegelspiel der Weltgeschichte;
Das sind die Neune, die der Herr geschoben!
Ist's nicht genug des Spiels, ihr blut'gen Opfer?
Wir nehmen selbst die Kugel jetzt zur Hand,
Im eignen Spiele gilt der eigne Wurf!
Der Arm ist stark — Gold rolle seine Welten,
Wir selber rollen unsers Glückes Kugel'!
Um's Haupt der Wolfsschlucht Sturm und Wcttcrbraus,
Wo eine losgclass'ne Hölle jauchzt,
Wir rufen nicht: Hilf, Gott! Hilf, Samiel.
Die Todeskugel gießen wir allein,
Ein Freischütz ist der Mensch und soll es sein.
Was hat eine solche Sprache, eine solche Vertiefung in die Symbolik des
Kegelspiels, ein solcher Wortwitz mit der Kugel, die theils zum Schießen, theils
zum Rollen gebraucht wird, eine solche Anticipation des Freischützes, blos weil
dort auch Kugeln gegossen werden, für einen Zweck? Welche Stimmung des
Gemüths soll sie anregen? Wir finden keine Antwort. Die Bilder gehen mit
dem Dichter durch, der Dichter läßt ihnen völlig die Zügel, ohne zu sehen, wohin
sie ihn führen. — Von dem Schluß des Ganzen, wo Marie in wirklichen Wahn¬
sinn verfällt, reden wir nicht, da man von einem Delirium verständige und ästhe¬
tische Folgen nicht erwarten wird; aber wir stellen auch hier die Frage aus:
Was haben die modernen Dichter für Interesse daran, uns mit den Gedanken
und Empfindungen von Verrückten bekannt zu machen, zusammenhangslose Ein¬
fälle an einander zu reihen, dazu gehört keine erhebliche dichterische Begabung.
Wie der Wahnsinn als ein tragisches Motiv benutzt werden kann, haben wir an
einem andern Orne bei Gelegenheit einer Aufführung des Lear angedeutet. —
'
Beiläufig bemerken wir noch, daß der Dichter auch selbst in den Momenten
der höchsten Leidenschaft und des höchsten Entsetzens nicht umhin kann, seine
retardirenden Vergleiche anzuwenden, z. B.
Wie zögert die Minute hin
Und trägt, ein Pag' der Ewigkeit,
Die Schleppe ihrer Königin u. s. w.
Wenn wir uns nun den Gesammteindruck des Gedichts vorstellen und über¬
legen, wie es möglich ist, daß ein höchst verständiger und gebildeter Mann, ein
höchst begabter und talentvoller Dichter, der immer in einzelnen Spuren zeigt,
daß er schön zu empfinden und lebhaft und kräftig zu schildern versteht, in so
unerhörte Absurditäten verfallen kann, so wird man es wohl uns zugeben, daß
wir in dem leidenschaftlichen Kampf gegen eine verschrobene Richtung, die eben so
alle Kunst wie alle Sittlichkeit depravirt, vollkommen recht haben. Den einzelnen
Dichter trifft allerdings immer uur ein Theil der Schuld, denn eine allgemeine
Richtung des Denkens und Empfindens ist sehr mächtig; aber ganz freizusprechen
ist er doch eben so wenig, wie die Schüler von Hoffmanuswaldau und Lobenstein.
Die Propaganda, ihre Provinzen und ihr Recht. Mit besonderer Rücksicht
auf Deutschland dargestellt von Prof. Otto Meyer. Erster Theil. Göttingen,
Dieterich. 1832.
Wir können die Tendenz dieser Schrift nicht besser darstellen, als mit den
Worten des Verfassers selbst.
„Im Gebiete des Staats- und Kircheurechtes kommt es wissenschaftlichen
Untersuchungen zu, ueben Aufklärung ihres Gegenstandes noch eine höhere
Ausgabe zu verfolgen, die ihnen erst Farbe und Weihe giebt.. Ausschließlich von
gelehrtem Interesse auch in solchen Dingen geleitet sein wollen, wäre kaum ein
löblicher, gewiß ein leerer Anspruch. Es sei daher gestattet, Gesinnung und
Zweck auch dieser Schrift sogleich z>u bekennen.
Wenn ein Protestant über die römische Propaganda schreibt, so kann er nur
gegen sie schreiben. Ich habe meine Arbeit begonnen, um von der katholischen
Kirche die Seite darzustellen, ans welcher sie, neben Heidenthum und Schisma,
auch den Protestantismus in fester, geschlossener Schlachtordnung bekämpft; habe
mich aber dabei nicht lange bloß als Gegner gefühlt. Denn der tiefer dringen¬
den Forschung konnte das nicht entgehen, daß Rom in seinen Maßregeln gegen
die Evangelischen eine heilige Pflicht zu üben und die höchste Wohlthat mit Auf¬
opferung zu spenden wirklich überzeugt ist. Soviel es daher auch niedriges und
Verwerfliches im Einzelnen der Proselytenmacherei unwidersprechlich geschehen läßt:
seine eigene Grundgcsimmng dabei kauu allem von denen mißschätzt werden, welche
Pflichten überhaupt nicht mehr, sondern nur noch natürliche Regungen anerkennen
wollen. Ich meines Theils habe in aufrichtiger Achtung vor dem ehrenwerthen
Charakter seines Irrthums fortgearbeitet.
Doch können ehrenwerthe Irrthümer nichts desto weniger verderbliche sein: und
dieser ist es. Denn so sehr die katholische Kirche, seit der deutsche Mann Gottes
Luther gegen sie gekämpft hat, eben durch die Rückwirkung der Reformation sich
gereinigt haben mag: so verlangt sie von uns Protestanten doch noch ganz wie
sonst, daß wir Gottes Wort Lügen strafen und es vertauschen sollen gegen
Meuschensatzung. Wider derlei Ansinnen aber, einerlei ob sie in guter Meinung
geschehen, haben wir deu uus anvertrauten Schatz nach wie vor zu vertheidigen
und sollen darüber einst Rechenschaft legen.
Gerade im gegenwärtigen Augenblicke ist es besonders nöthig, daß wir uns
wehren; scheint aber so klar nicht erkannt zu werden, wie es sollte. Auch durch¬
kreuzen sich allerdings die Verhältnisse. Nach langen Jahren des Druckes, der
auf Christenthum und Kirche überhaupt gelastet hat, beginnt znerst die katholische
wieder sich zu erheben: uugebeugteu Muthes, geläutert, bereits im Besitze einer
Macht und deren Steigen mit steigender Kühnheit empfindend; eine imposante
historische Erscheinung. Diese Zeichen erwachenden kirchlichen Lebens mag auch
die evangelische.Kirche, die nicht minder gelitten hat, mit Freuden begrüßen.
Diejenigen aber, denen es wesentlich auf das Interessante, auf das Schauspiel
energischer Kraftentwickelung ankommt, blendet der Vorgang; und denen, die vom
Christenthum noch unberührt waren, und von der Geschichte nichts wissen, giebt er
die Idee, solche christliche Macht sei allein dem Katholicismus eigen. Andere
blicken entmuthigt und hoffnungslos auf den betrübten Zustand der meisten evan¬
gelischen Landeskirchen, welche uicht allem untereinander ohne vereinigendes Band,
sondern auch jede in sich selbst zerfahren und darin unbedingt ungünstiger, als die
katholische Kirche gestellt siud, daß halbgebildete, anspruchsvolle Rohheit sich in
ihnen ungehindert geltend macht, während beiden Katholiken diese wenigstens in
die gebührende Unterordnung verwiesen wird. Weil endlich die Solidarität der
radicalen Bestrebungen zu Tage liegt, so glaube» noch Andere politisch wenigstens
mit dem Katholicismus sympathisiren zu müssen, der, wie erwähnt, wirksamer als
die evangelische Kirche dazu thun könne, die zersetzenden Elemente im Staat nicht
auskommen zu lassen. Dabei vergessen sie, daß er in seinen eigensten Gebieten
der Revolution am wenigsten zu begegnen gewußt hat und daß ihm die Staats¬
form überhaupt als secundair und zufällig erscheint, wenn sie sich nur dem allein
göttlichen Rechte der Kirche fügt; daß ihm daher eine demokratische Republik, in
der die Kirche herrscht, ohne alle Frage lieber ist, als eine legitime Monarchie,
in welcher sie nicht herrscht. Das Beispiel des französischen Clerus ist sehr lehr-
reich; und diejenigen deutschen Legitimisten, die jetzt den Katholicismus begünsti¬
gen, erziehen sich in ihm einen bedeutenderen Gegner, als sie vermuthen.— Nicht
minder übersehen die evangelischen Freunde Roms, daß eine Maßregel, welche
Deutschland in der letzten Zeit zuweilen von seinen westlichen Nachbarn erwartet
hat, uus deutschen Protestanten von der katholischen Kirche jetzt schon begegnet.
Um nämlich diejenigen Kräfte, die ihr in ihrem Innern zuwiedcr sind, zu para-
lysiren, den getreuen Katholiken aber Muth zu machen, wirft sie sich mit aller
Macht nach Außen in den Eroberungskrieg, nicht allein gegen das Heidenthum,
sondern auch, und zwar besonders, gegen den Protestantismus: hier auf Tod
und Leben. Denn, wie neuerlich mehrfach und mit Recht bemerkt werden ist, hat
sie sich, in der Erkenntniß, daß die alternden und verkommenden romanischen
Nationen ihr länger keine Basis bieten können, schon seit einiger Zeit angeschickt,
sich wieder entschiedener auf die germanischen Völker zu stützen und ist nach ihren
in Nordamerika und Belgien gemachten Erfahrungen bereit, der nationalen Ge¬
sinnung, in welcher der Protestantismus wurzelt, so viel sie kann, entgegenzukom¬
men. Aber den Protestantismus selbst natürlich, der bisher die Religion dieser
Völkerfamilie ist, muß sie zu überwinden trachten. Gelingt ihr das nicht: so ge¬
lingt ihr auch nicht, noch länger bei Kräften zu bleiben, sondern sie muß sich
darein ergeben, mit den Romanen zu Grabe zu gehen. Daher die Rührigkeit
und Intensität ihrer Arbeit gegen die Protestanten. Mit England hat man be¬
gonnen, weil man in der bischöflichen Kirche, bei äußerer Macht, die innere
Schwäche kannte. Indeß man schätzt den Kampf dort gering. Wenn der Kirche
keine größeren Gefahren droheten, hat Cardinal Wiseman in der katholischen
Capelle zu Southwark gesagt, so würden kaum Märtyrerkronen zu verdienen sein.
Ein anderer Kampf aber stehe ihr bevor, mit ernsthafterer Feinden.
So wie einst England, vor mehr als tausend Jahren, seinen Bonifacius nach
Norddeutschland geschickt habe, dort den ersten Samen des Christenthums aus¬
zustreuen, so werde ihm auch vielleicht ferner der Beruf obliegen, beim Marsch gegen
die Hauptburg des Feindes auf dem brandenburgischen Sande
das Vordertreffen zu bilden. Dentschland sei immer noch der Feind.
In solchem Falle darf kein deutscher Protestant seinen Beitrag zur evangeli¬
schen Reaction zurückhalten: und so hat auch meine Arbeit der Wunsch beseelt,
meiner Kirche, die ich lieb habe, nach Kräften zu dienen. — —
Der erste Theil enthält in der Einleitung die historische Vorgeschichte, das
Missionswesen der Franciscaner und Dominicaner, der Jesuiten, die National-
collegien, die Stiftung der Propaganda und ihre Gesetzgebung. Im ersten Ka¬
pitel der eigentlichen Darstellung, die Kongregation, ihr Gebiet und ihre Arbeiter,
im zweiten Kapitel die einzelnen Behörden des Missionsorganismus, im dritten
die Provinzen der Propaganda mit Ausschluß der Mission gegen den Protestan¬
tismus. — Wir können sagen, daß wir selten ein historisches Buch in der neuern
Zeit mit so viel Interesse und Theilnahme gelesen haben. Die wissenschaftliche
Gründlichkeit und Besonnenheit, die doch von einer starken und festen Gesinuniig
getragen wird, macht einen höchst erfreulichen Eindruck.
Wir lassen noch einige Notizen über die Geschichte der Propaganda folgen.
— Die erste Anlage stammt von Gregor XIII. her, welcher für die Leitung der
verschiedenen Ordensmissionen unter den Maroniten, Slaven, Griechen, Aethiopiern
und Aegyptern eine ständige Commission aus drei Cardinälen bildete. Der eigent¬
liche Schwerpunkt des Misstonswesens lag aber damals theils in den Fortschritten
der Jesuiten in Asten, theils in der gleichfalls von ihnen geleiteten Gegenreformation
in Deutschland. Mit Gregor XV. kam ein Jesuitenzögling ans den Thron. Unter
ihm wurden auch die Jesuitenheiligen Loyala und Xaver canonisirt. Damals
verbreitete sich allmählich die Ansicht, daß in staatlicher wie in kirchlicher Beziehung
das Heil in der Centralisation zu suchen sei. In diesem Sinn gab bereits im
Jahr 1613 ein Provinzial der Karmeliter, Thomas a Jesu, offenbar mit still¬
schweigender Genehmigung seiner Oberen, den ausgearbeiteten Plan einer Central-
behörde für das Missionswesen heraus. In Folge dessen errichtete Gregor XV.
1622 eine Cardinalscongregatiou, der er die Leitung sämmtlicher Unternehmungen
zur Verbreitung des Glaubens, sowol unter den Ungläubigen, als unter den
Ketzern, nebst Allem, was damit im Zusammenhange, übertrug. Dadurch machte
er der individuellen Auffassung und Betheiligung, in welcher diese kirchliche Pflicht
bisher betrieben worden war, in sofern ein Ende, als er sämmtliche bisher selbst¬
ständig dafür thätige Factoren zu bloßen Mitteln in einer und derselben sie Alle
bewegenden Hand gestaltete. Durch dieses energische Zusammenwirken der be¬
deutenden Kräfte, entstand ein rascher Aufschwung des Missionswesens. Urbau VIII.
stiftete eine großartige (Zentralschule für die Misstonen, das eolleKmm Urbanum
Ah proplrtzariäii. fläs, 1627. Bei manchen der älteren Ordensmissionen gelang es der
Propaganda vollkommen, sich der Zügel zu bemächtigen, bei anderen, namentlich
bei den jesuitischen, erfolgten heftige Streitigkeiten. Im Anfang richtete die Pro¬
paganda ihre Aufmerksamkeit vorzugsweise aus China und Japan, später faßte
man den Norden in's Auge; und es ist bezeichnend für den Zusammenhang des
Systems, daß Christine von Schweden ihre 20,000 Scudi päpstlichen Jcchrgeldcs
aus den Einkünften des Kollegiums 6e proxag-anZa, unis zugewiesen bekam. Im
Laufe eines halben Jahrhunderts sehen wir sämmtliche Welttheile von dem ge¬
heimen Netz dieser merkwürdigen Anstalt umspannt, die überall eine gleich ener¬
gische und nach einem Plan geleitete Wirksamkeit entwickelte. Mit der französischen
Revolution begann ein neuer Kampf, der aber auch, wenn man die Details dessel¬
ben näher in's Auge saßt, trotz des Anscheins von momentaner Schwäche, den¬
selben zähen und entschlossenen Willen zeigt, den die Kirche seit ihrem Bestehen
niemals verläugnet hat.
Da die Ausklärung des Jahrhunderts, in ihrem reinsten Ausdruck betrachtet,
keinen stärkern Gegner hat, als die Kirche, die von ihren Ansprüchen noch keinen
aufgegeben hat, und da eine vollständige Kenntniß des Gegners als ein halber
Sieg zu betrachten ist, so halten wir dieses Werk für ein ungemein wichtiges und
wünschen ihm ein größeres Interesse und eine größere Verbreitung, als sonst mit
streng wissenschaftlichen Unternehmungen gewöhnlich verbunden zu sein pflegt.
Der beliebte Lustspieldichter hat sich auf seiner neuesten Rundreise durch
Deutschland überall der ehrenvollsten Aufnahme zu erfreuen gehabt. Es ist das
ein gutes Zeichen, daß die Theilnahme des deutscheu Volks für seine Dichter,
wenn sie ihm irgend gesunde Nahrung geben, doch nicht ausbleibt. Benedix
verdient diese Theilnahme in hohem Grade. Er entwickelt in seinen zahlreichen
Lustspielen einen unerschöpflichen Fonds von guter Laune und verständiger Ge¬
sinnung; er ist, was doch zum Wesen des Lustspieldichters gehört, sehr productiv:
so hat er uoch auf der Reise ein neues vieraktiges Schauspiel: „Mathilde, oder
ein Frauenherz," geschrieben, nachdem kurz vorher sein neuestes Lustspiel: „DaS
Lügen " eine so günstige Ausnahme gefunden hatte. Endlich bemüht er sich, seinen
Stoff und seine sittlichen Anschauungen ans dem wirklichen Leben des deutschen
Volks herauszuschöpfen. Das ist zwar ein sehr schweres Unternehmen, denn die
deutsche Gesellschaft hat seit Jffland's Zeiten keine übertriebene Fülle neuer und
gesunder Elemente entwickelt; aber es ist ein lobenswerthes und unerläßliches'
Unternehmen, denn so sehr wir in formeller Beziehung das Studium der franzö¬
sischen Lustspiele unsren Dichtern empfehlen, von denen der beste von Scribe noch
immer unendlich viel lernen kann, so würden wir es doch sehr bedauern, wenn
wir mit dieser Form auch den Inhalt der französischen Sittlichkeit aufnehmen
müßten. Es ist das ein Irrthum, in den unsre Lustspieldichter sehr häufig verfallen,
unter ander» neuerdings Frau Birch-Pfeiffer. Sie glauben, wenn sie französische
Namen und französische Masken einführen, auch ein eben so gutes Lustspiel zu
schreiben, wie die Franzosen. Benedix verfällt in diesen Irrthum nicht, und er
hat Recht daran, denn auch eine echte Komik kann nur aus dem innern Kern
unsres wirklichen Lebens hervorgehen, und wenn auch der Stoss widerstrebt, so
ist das für ein wirkliches Talent nnr noch ein größerer Sporn, durch kühne
Jdealistruug desselben zunächst auf die Bühne und dann auf das Leben zurück¬
zuwirken.
Nachdem wir so die Vorzüge unsres Dichters anerkannt haben, wollen wir
uns auch seine Schwächen nicht verhehlen. Zunächst seine nachlässige Komposition.
Wir gestatten in dieser Beziehung dem Lustspiel eine größere Freiheit, als der
Tragödie, aber in einer andern Beziehung ist auch wieder größere Strenge
nöthig. Der tragische Dichter kann seinem Publicum die verwegensten Voraus-
setzungen zumuthen, wie dies Shcckspeare so häufig gethan hat, wenn er nur aus
diesen Voraussetzungen richtig weiter baut; deu Lustspieldichter dagegen können
wir durch unsre eigene Erfahrung fortwährend controliren, und seine Motivirung
muß daher klar, durchsichtig und der Wirklichkeit entsprechend sein. Wir ertragen
im Lustspiel keine Voraussetzungen, die gegen die natürlichen allgemeinen Begriffe
verstoßen. Nun hat Benedix vor Kotzebue, der in der Regel sür jedes seiner
Stücke nur eine brillante Scene erfand und das übrige Stück nothdürftig an
diese Scene anreihte, zwar den Vorzug, daß er jedes seiner Stücke aus mehreren
solchen guten Einfällen zusammensetzt, aber darin liegt ans der andern Seite
wieder ein Nachtheil, denn die Intrigue, die von mehreren Brennpunkten bestimmt
wird, geräth dadurch noch mehr in's Unklare, Willkürliche und Widersprechende.
Dies ist ein Fehler, dem größere Strenge und Gewissenhaftigkeit in der Arbeit
abhelfen kann, denn an Erfindung fehlt es Benedix gar nicht, un'd wenn er die
Kritik nur sorgfältiger anwenden will, so kauu er aus vollem Holze schneiden.
Ein zweiter Fehler ist schlimmer. Bei dem phantastischen Lustspiel verlangt
man von den Figuren, die der Dichter erfindet, keine Uebereinstimmung mit dem
wirklichen Leben, wenn sie nur überhaupt lebensfähig sind und eine komische
Wirkung ausüben. Bei dem bürgerlichen Lustspiel dagegen ist es anders. Gegen
dieses Gesetz verstößt aber Benedix fast in jedem seiner Stücke, und das beruht
nur zum Theil auf Nachlässigkeit, zum großen Theil abe-r wol auf Unkenntniß
des wirklichen Lebens. Nun sind zwar die Sitten in Deutschland sehr verschieden,
aber gewisse Dinge kann man doch überall als feststehend betrachten. Die Schil¬
derung des Studentenlebens in dem „bemoosten Haupt" ist unrichtig, obgleich sie
durch einzelne Stichwörter die Studentenwelt gefesselt hat, und namentlich ist
das bemooste Haupt selbst eine ganz unmögliche Figur. Der Einfall des „alten
Magisters", mit einem jungen Wüstling auf Schläger loszugehen, ist nach unsren
bestehenden Verhältnissen geradezu eine Absurdität; und so finden sich fast in
jedem der Benedix'schen Stücke Züge, die mit dem wirklichen Leben nicht zu ver¬
einbaren sind, so z. B. in der „Hochzeitreise" der Famulus, wie denn überhaupt
der Dichter von den deutscheu Gelehrten, die er mit besonderer Vorliebe anzu¬
bringen pflegt, die geringste Kenntniß zu haben scheint.
Endlich möchten wir noch hervorheben, daß seinem Dialog wie seiner Sprache
überhaupt eine größere Feinheit und Eleganz zu wünschen wäre. Allerdings ist
von der sogenannten jungdeutschen Poesie nach der entgegengesetzten Seite hin so
schwer gesündigt worden, daß man schon eine einfache Sprache, in der wenigstens
gesunder Menschenverstand vorwaltet, als eine wohlthuende Reaction betrachten
kann; aber über das Niveau des ganz Gewöhnlichen muß doch die poetische
Sprache hinausgehen, und wenn wir auch zugeben wollen, daß in unsren Gesell¬
schaften kein besonders feiner Ton, oder eigentlich gar kein Ton herrscht, so ist
doch immer noch mehr Bildung darin, als man uach Bcnedix' Lustspielen schließen
sollte. Das hat einen doppelten Nachtheil. Einmal verkümmert es bereits im
gegcttwa'rtigeu Augenblick die Wirkung der vortrefflichsten Erfindungen, wie z. B.
eben in der Hochzeitreisc, wo. der Einfall ganz charmant ist, wo aber die Plump¬
heit und Dürftigkeit der Sprache alles Maß überschreitet — was freilich für das
gewöhnliche Publicum wol ganz bequem sein mag —; sodann wird es seinem
spätern Ruf schaden, denn sobald in Deutschland ein Lustspieldichter auftritt, der
Feinheit und Eleganz der Form mit erträglicher Erfindung verbindet, ist Benedix
absolut vergessen, wie Kotzebue und Jffland vergessen sind. Denn wir mögen
uns jetzt in die Verdienste dieser Männer hinein reflectiren, so viel wir wollen,
lesen oder scheu kann man ihre Stücke doch kaum mehr, obgleich der eine an
Reichthum der Einfälle, der andere an Solidität der Komposition unsre heutigen
Dichter bei weitem übertrifft, aber diese Sprache kaun kein Mensch mehr er¬
tragen, und es wäre zu bedauern, wenn Beuedix diesem Schicksale gleichfalls ver¬
siele, was bei ihm schneller eintreten würde, denn das Mißverhältnis) zwischen
dem Ton der Gesellschaft und dem Ton des Lustspiels ist heute viel größer, als
zu den Zeiten Kotzebue's.
Selten sind ausnehmende Verdienste von ansdauerudcrem Glücke begleitet
worden, als .beim Herzog von Wellington. Kaum in das Mannesalter einge¬
treten, vernichtet er die gefährlichsten Feinde der englischen Macht in Ostindien,
wendet dann sein nur im Kampfe gegen Halbbarbaren geübtes Schwert gegen
das gefürchtetste Heer Europa's, besiegt in sieben ruhmreichen Feldzügen uach der
Reihe die besten MarsclMe des Kaisers, und schlägt endlich, 46 Jahr alt, den
ersten Feldherrn und Kriegsfürsten der neuern Zeit in einer Schlacht, die der
Herrschaft desselben nach kurzem Wiederaufleben aus immer ein Ende macht.
Nachdem er für Europa so ausgezeichnete Thaten verrichtet, häugt er sein Schwert
ruhig über seinem Herde auf, und leistet seinem Vaterlande nun im Frieden uicht
minder ruhmwürdige Dienste. Obgleich ein Kind der alten Zeit, deren Einrich¬
tungen seinem Herzen theuer geworden, säumt er doch nicht, den Forderungen
der neuen Zeit nachzugeben, und zwar aufrichtig und mit voller Hand nachzugeben,
wenn sein klarer Blick ihm die Nothwendigkeit zeigt, denn er hat nie sich, nie
den Nutzen einer Partei, sondern stets nur das Wohl des Vaterlandes im Auge.
So steht er denn im hohen Greisenalter da als hochgeachteter Schiedsrichter über
allen Parteien, als bewährtester Rathgeber seines Fürsten, und steigt, von allen
Parteien ohne Ausnahme als der Nationalheld beweint, reich an wohlverdienten
Ehren in die Gruft. Werfen wir einen Blick auf das Leben des großen Mannes,
um in seiner Geschichte die Elemente seiner Kraft und seiner Größe zu suchen.
Der Herzog von Wellington gehört einer jener aus England eingewanderten
irischen protestantischen Familien an, die im steten Kampfe gegen die celtische
Nationalität und den Katholicismus das schroffe Torythum einsogen, das, ur¬
sprünglich auf treue Hingebung für den Freiheitbringer Oranier und die Grund¬
sätze der Reformation begründet, im Laufe der Zeit sich zu dem blinden Fanatismus
der Orangistenlogen ausbildete, und in finsterer Bigoterie das englische Torythum
weit hinter sich gelassen hat. 1728 erbte Richard Colley von Castle Carbery in
der Grafschaft Kildare, dessen Vorfahren im 16. Jahrhundert aus Nutlandshire
eingewandert waren, die Güter und den Namen seines Vetters Garret Wesley
ans Dangan Castle, ebenfalls englischer Abkunft. Dieser Richard Colley Wesley,
der später Baron Mornington wurde, hinterließ einen Sohn, dessen Gattin Anna
Hill, eine Tochter des Viscount Dungannon, ihm unter neun Kindern Arthur
Wellesley, (wie sich die Familie jetzt schrieb), den spätern Herzog von Wellington gebar.
Arthur Wellesley ist in einem Jahre mil seinem großen Gegner Napoleon
geboren, im Jahre 1769, aber man weiß weder Tag noch Ort seiner Geburt
mit Bestimmtheit: für erstem wird meistens der 30. April oder der 1. Mai an¬
gegeben, hinsichtlich des letztern schwanken die Angaben zwischen Dangan Castle,
dem Familiensitz, und Dublin. Der Vater, Lord Mornington, war ein fein¬
gebildeter Mann, von einigem Rufe als Musiker und Componist; der Mutter, die
schon 1781 Wittwe ward, werden ausgezeichnete Gaben des Geistes und des
Charakters nachgerühmt, welche der Erziehung ihrer Söhne eine höchst wohl¬
thätige Richtung gegeben haben, denn sie hat England außer dem Herzog von
Wellington noch zwei bedeutende Männer gegeben: ihren ältesten Sohn, den
Marquis von Wellesley, später Generalstatthalter von Ostindien und Vicekönig
von Irland, und den Diplomaten Lord Cooley. Arthur empfing seinen ersten
Unterricht in Eaton, wo so viele berühmte Namen der englischen Aristokratie ihre
erste Bildung empfangen haben, scheint aber keine besonders brillante Fähigkeiten
an den Tag gelegt zu haben, weshalb man ihn dem Militairstand widmete, und
nach Frankreich auf die Militairschule nach Angers schickte. Nach sechsjährigem
Verweilen in Frankreick) bekam er 1787 ein Fähndrichspatent im 73. Infanterie¬
regiment/ Die freigebige Unterstützung seines Bruders half ihn rasch über die
unteren Stellen hinweg — bekanntlich werden die Officierstellen in England ge¬
kauft — und nachdem er abwechselnd sowol in der Infanterie wie in der
Kavallerie gedient, wurde er 1793 Major im 33. Infanterieregiment, bei welchem
er auch als Oberstlieutenant und Oberst blieb. Nur einen Zug wissen wir ans
jener Zeit von ihm zu berichten, der mit der spätern Entwickelung seines Charakters
in schroffem Gegensatze steht. Er lebte, wie es die Sitte der Zeit unter dem
aristokratischen Theil der Officiere mit sich brachte, weit über sein Einkommen hinaus,
und geriet!) in so ernstliche Geldverlegenheiten, daß er in Dublin die Unter--
Stützung seines Hauswirths, eines Schuhmachers, in Anspruch nehmen mußte,
auch später die Ordnung seiner Angelegenheiten einem andern Dubliner Gewerbs-
mann in die Hände gab.
Letzterer Schritt wurde durch seine Verwendung im Auslande veranlaßt.
Zur Unterstützung der gegen die französische Republik ziehenden Alliirten war der
, Herzog vou Dort mit einem englischen Hilfscorps in den Niederlanden gelandet.
Die englischen Truppen hatten längst den uuter Marlborough's siegreichen Fahnen
erworbenen Ruhm verloren; schon hatte sich der Glaube festgesetzt, der Engländer
passe nicht zum Fechten auf dem Lande, sondern das Meer sei der einzige geeig¬
nete Schauplatz, wo er militairische Tugenden entwickeln könne. Deshalb verließ
man sich für den Landkrieg meistens auf gemiethete, namentlich deutsche Truppen,
und was von englischen Truppen vorhanden war, war sehr mangelhaft organisirt.
Ihre Taktik war veraltet, ihre Bewaffnung schlecht, und die Verpflegung machte
die Contrahenten reich, ließ aber die Soldaten fast verhungern. Mit solchen
Truppen trat Arthur Wellesley als Oberst des 33. Regiments 1794 seinen ersten
Feldzug an, und zwar ans demselben Schauplatz, der seinen letzten Sieg gesehen,
in Belgien. Die schlaffen Operationen der Alliirten konnten den Ungestüm der
Republikaner nicht aufhalten; nach der Niederlage der Oestreicher bei Flenrus
mußten sich die Engländer allmählich aus den Niederlanden im strengsten Winter
und durch ein ihnen feindlich gesinntes Land nach Westphalen zurückziehen, wo ein
preußisches Corps sie endlich ausnahm. Im Frühjahr 1796 schiffte sich das
englische Corps, durch Krankheiten und Desertionen geschwächt, in Bremerlehe nach
England ein. Oberst Wellesley hatte während des ganzen Rückzugs die Ehren¬
posten, die Arriöregarde, befehligt, und bei mehrfachen Gelegenheiten große Un-
erschrockenheit und Kaltblütigkeit an den Tag gelegt, und seine geschickten Dis¬
positionen als Führer einer Brigade werden besonders hevorgehoben.
Noch im Herbste desselben Jahres erhielt Wellesley mit seinem Regiment
eine neue Bestimmung nach Westindien; aber widrige Winde hielten die Transport¬
schiffe im Hafen zurück, und das 33. Regiment erhielt Gegenbefehl, nun nach
Bengalen zu gehen. Sein Oberst konnte es jedoch nicht gleich begleiten, denn
er bekam einen Krankheitsanfall — was ihm, der sich später bis in das höchste
Alter einer eisernen Gesundheit erfreute, in der Jugend öfter zustieß — und
konnte erst am Cap wieder zu seinem Corps stoßen. Im Frühjahr 1797 landete
endlich Arthur Wellesley in Calcutta, und hatte nun den Schauplatz betreten, wo
er den ersten Grund zu seinem Ruhm als Feldherr legen sollte.
Die englische Herrschaft über Ostindien — damals noch nicht so befestigt
wie jetzt — war gerade zu jener Zeit von einer großen Gefahr bedroht. Die
Franzosen waren zwar schon seit 1761 definitiv von der Halbinsel vertrieben, aber
ihr Einfluß auf die einheimischen, noch unabhängigen Fürsten war noch beträcht-
lich, und sie wühlten gerade jetzt, wo Bonaparte im Begriff stand, seine Expedition
nach Aegypten anzutreten, mit großer Thätigkeit und offenbarem Erfolge. Von
den einheimischen Fürsten war der Nizam von Deccan ein zweideutiger Aliirter
für die Engländer, Typpo Said, der Sultan von Mysore, ein geschlagener, aber
unversöhnlicher Feind, der, von dem französischen Directorium in Geheim unter¬
stützt, gewaltig rüstete, und ein vortrefflich ausgestattetes und gut disciplinirtes
Heer auf den Beinen hatte. Auf Seiten der Engländer war die Zahl der euro¬
päischen Truppen gering — etwa 4000 Manu — der Schatz schlecht gefüllt, die
Verhältnisse mit deu einheimischen verbündeten Fürsten gespannt. Zu diesen
Nachtheilen kamen noch das ungewohnte Klima, das die dünnen Reihen der
Europäer beständig decimirte, die beschwerlichen Communicationen, welche den
unbeholfen sich fortbewegenden europäischen Truppen nur schrittweises Vorrücken
erlaubten, während die einheimischen Feinde in ihrer leichtern Ausrüstung überall
und nirgends waren. Und dabei durften sich die Engländer nicht der gering¬
fügigsten Schlappe aussetzen, die unfehlbar das Ausehen ihrer Waffen vernichtet,
und ihre sämmtlichen Verbündeten zum Abfall gebracht hätte. Dennoch mußte
man sich zum Krieg gegen Typpo Said entschließen. Es war ein Glück
für England, daß es in dem einen Generalstatthalter, Lord Mornington, einen
vollendeten Staatsmann, und in dessen Bruder, dem Obersten Wellesley, einen
Militair besaß, dessen glänzende Begabung hier zum ersten Mal an den Tag
trat, und schwer in die Wagschale fiel. Er stieß mit seinem Regiment zu den
von dem Nizam gestellten Hilfstruppen, und befehligte dieselben als selbstständige
Division. Kaum konnte er sich eine bessere Gelegenheit, seine Begabung voll¬
ständig an den Tag zu legen, wünschen. Seine Stellung war unabhängig genug,
um ihm Gelegenheit zu geben, alle seine Talente zu zeigen; er war Mitglied der
dem Oberbefehlshaber beigegebenen politischen Commission; und er operirte nnter
den Angen eines Gouverneurs, dessen Scharfblick im Erkennen von Verdiensten
und Naschheit im Belohner für diesmal dnrch die Bande des Bluts einen neuen
Impuls erhielten. An vorleuchtenden Beispielen fehlte es nicht, denn in Ost¬
indien herrschte im Heere ein anderer Geist, als in England, und nnter Lord
Cornwallis hatte eine treffliche Schule von Officieren sich herangebildet, die der
commandirende General Harris mit Geschick zu verwenden wußte.
Schon in den Vorbereitungen zum Feldzuge hatten sich Oberst Wellesley's
organisatorische Talente glänzend geltend gemacht, und seine Division war durch
seine Anweisungen in ganz besonders kampftüchtigem Zustande/ In der Schlacht
von Malavelly erhielt sie die erste Feuertaufe. Wellesley sollte die Flanke des
Feindes umgehen, sah sich aber bald selbst angegriffen; mit richtigem Urtheil hatte
Typpo Said seine auserlesensten Truppen ihm entgegengeschickt, denn er konnte
hoffen, daß, wenn er das einzige hier befindliche europäische Regiment, das 33.,
über den Haufen rennte, die einheimischen Truppen, von panischen Schrecken
erfüllt, die Flucht ergreifen würden. Aber die Engländer empfingen die An¬
stürmenden mit einem so wohlgezielten Feuer, daß Alles in Verwirrung gerieth,
und ein rascher Angriff der Dragoner die Niederlage vollendeten. Bei der nun
folgenden Belagerung von Seringapatam entwickelte Oberst Wellesley ebenfalls
große Thätigkeit, blieb aber bei der Erstürmung in Reserve, und rückte erst in
die Stadt, um dort die Ordnung wieder herzustellen. Nach Beendigung des
Krieges — der bekanntlich Typpo Said Krone und Leben kostete — wurde
Wellesley Statthalter von Seringapatam und Mysore, und erhielt zugleich den
Oberbefehl über die Occupationstruppen. Einige Monate lang war er auf das
Erfolgreichste mit der Einrichtung der nen eroberten, einheimischen Fürsten an¬
vertrauten Provinzen beschäftigt, indem er Beamte und Ofstciere von jedem Range
anstellte, Wege ausbesserte, Communicationen eröffnete, die Beschwerden aller
Klassen von Bewohnern anhörte, und ihnen, wenn sie gerecht waren, abhalf. Diese
Thätigkeit wurde durch einen kurzen Feldzug gegen einen Räuberhäuptling Dhudiah
unterbrochen, der sich mit einer ansehnlichen, aus leichter Reiterei und Artillerie
bestehenden Truppe in einer schwer zugänglichen Gegend festgesetzt hatte, alle Unzu¬
friedenen um sich sammelte, und bei dem.schwankenden Charakter der orientalischen
Verhältnisse leicht so gefährlich werden konnte, wie der kaum vernichtete Feind, denn
selbst Hyder Ali war ursprünglich nicht viel mehr, als ein unternehmender Frei¬
beuter gewesen. Es war der erste Feldzug, den Wellesley allein leitete, und
dieser hatte die Genugthuung, nach zwei Monaten anstrengender Märsche und
geschickter Manöver den aalglatt entschlüpfenden Feind zum Stehen zu zwingen,
und durch einen einzigen kühnen Angriff zu vernichten. Als Trophäe brachten die
siegreichen Truppen die Leiche des in der Schlacht gefallenen Räuberhäuptlings
aus eine Kanone gebunden mit in das Lager. Der rasche Erfolg dieses an sich
unbedeutenden Feldzugs steigerte das Ansehen Wellesley's bei den einheimischen
Höfen, und bei der britischen Regierung sehr bedeutend.
Wir kommen jetzt zu einem Vorfall, welcher Wellesley's Selbstverläugnung,
diese unentbehrlichste Eigenschaft großer Charaktere, — in ein Helles Licht stellt.
Nelson's Sieg bei Abukir hatte Bonaparte's Armee in Aegypten vom Mutter¬
land abgeschnitten, und er mußte sich seine Hilfsquellen im Lande selbst suchen.
Aber man dachte den gefürchteten Schaaren der Franzosen auch von der ostindischen
Seite eine Armee entgegenzusetzen, und sie vom rothen Meere aus im Rücken
zu fassen. Fest entschieden hatte man sich für diesen Plan noch nicht, aber doch
einstweilen auf Ceylon ein Corps von S000 Mann unter Oberst Wellesley zu¬
sammengezogen, um es nach Umständen nach dem rothen Meere oder Mauritius
zu schicken. Mitten in dieser Ungewißheit befahl eine. Depesche aus England dem
Generalstatthalter, die Expedition nach Aegypten aus der Stelle vorzubereiten,
und gestattete auch ihren sofortigen Abgang, ohne weitere Instructionen von Cal-
cutta abzuwarten, wenn die Umstände es rechtfertigten. Eine Abschrift dieser
Depesche hatte auch der Gouverneur von Madras erhalten, der sie ohne weitere Be¬
merkungen Wellesley überschickte. Dieser erkannte aus der Depesche die Dring¬
lichkeit der Expedition, wußte, daß die unter seinem Befehl zusammengezogenen
Truppen die einzigen dazu verwendbaren seien, und daß man sie anch wirklich zu
diesem Zuge hatte verwenden wollen. Wartete er auf Rückantwort von Calcutta,
so gingen mehrere kostbare Wochen verloren, die Mousonwinde hörten ans, und
die günstigste Jahreszeit war ungenutzt vorübergegangen. Rasch entschlossen und
nur das Beste des Dienstes im Auge nahm Oberst Wellesley die ganze Ver¬
antwortlichkeit auf sich, schiffte sich mit seinen Truppen' ein, und schrieb an seinen
Bruder, er werde in Bombay anlegen, um dort weitere Befehle vorzufinden.
Dort angekommen hatte er die Kränkung, sich von dem Obercommcmdo abberufen,
und dnrch General Baird ersetzt zu sehen. Lord Mornington war gern zu der
Anerkennung bereit, daß sein Bruder ganz im Geiste der Depesche gehandelt habe,
konnte aber im Interesse des Dienstes ein so selbstständiges Auftreten eines bloßen
Obersten nicht ungerügt lassen, zumal er ein so naher Verwandter war. Eine
schon seit längerer Zeit datirende Spannung zwischen General Baird und Wellesley
machte das Verhältniß für Letztern noch unangenehmer, aber trotz dem trat er
willig in die zweite Stelle zurück, obgleich ihm die Rückkehr uach dem lucrativen
und ehrenvollen Posten von Mysore freigestellt war, und versicherte seinem Neben¬
buhler der aufrichtigsten und herzlichsten Mitwirkung. „Du wirst bemerkt haben,"
schrieb er privatim an seinen Bruder Henry, „wie viel mir dieser Entschluß ge¬
kostet hat, aber ich habe nie viel Werth auf den Gemeinsinn eines Mannes gelegt,
der uicht seine Privatansichten und Vortheile opfem kann, wenn es nothwendig
ist." Als er dennoch wegen plötzlicher schwerer Erkrankung die Expedition nicht
mitmachen konnte, überschickte er General Baird mit großer Zuvorkommenheit
eine von ihm ausgearbeitete Denkschrift über den im rothen Meer zu befolgenden
Operationsplan. Die Expedition traf erst am 10. August 1801, drei Monate
nach General Belliard's Capitulation, in Cairo ein; Oberst Wellesley aber kehrte
nach Mysore zurück, um bald einen würdigern und ausgedehntem Schauplatz für
seine Thätigkeit zu finden.
Nach dem Sturze Typpo Said's hatten die Engländer in Ostindien nur noch
einen Feind zu fürchten, die Mahratten, kriegerische Hindustämme an der mala-
barischen Küste, unter der nomineller Autorität des Peischwah, aber in Wirklich¬
keit einer Anzahl sast unabhängiger, mit einander rivalisircnder Häuptlinge ge¬
horchend, unter denen Seindiah in Malwah der bedeutendste war, der eine gut
disciplinirte und wohl mit Artillerie versehene Heeresmacht von 13—20000 Mann,
von französischen Offneren befehligt, in seinen Diensten hatte. Das ostindische
Gouvernement war dem Kriege abgeneigt, aber die Intriguen von Napoleon's
. Emissairen unter den einheimischen Stämmen zwangen es zu einem Entschluß, der
durch die Aufforderung des von seinen Vasallen bedrohten Peischwah beschleunigt
wurde. Zu diesem Zwecke sammelte sich an der Grenze des Punahgebiets ein
starkes Corps unter General Stuart, während ein anderes von 7000 Mann dem
Peischwah gegen Seindiah zu Hilfe gehen sollte. Den Befehl über letzteres
erhielt im Februar' 1803 Generalmajor Wellesley. Ein rascher und geschickter
Marsch gegen ,Punah genügte, um die wankende Autorität des Peischwah zu
befestigen, aber die Haltung der widerspenstigen Vasallen wurde täglich drohender,
und der Generalgouvemeur beschloß nun definitiv Seindiah's Macht zu brechen.
Die Leitung der schwierigen Unternehmung wurde ebenfalls General Wellesley
anvertraut. Mit einem Corps von 10,000 Mann einheimischer und englischer
Truppen sollte er seine Bewegungen so combiniren, daß keines seiner Detachements
einen Nachtheil erlitt, daß die besonderen Eigenschaften der englischen Truppen
aufs Beste benutzt, und die Schwierigkeiten indischer Kriegführung durch kluge
Voraussicht umgangen, oder durch kühnes Unternehmen überwunden würden.
Hier zeigte Wellesley zuerst seine merkwürdige Voraussicht und seiue ausnehmen¬
den Fähigkeiten. Der seinen Dimensionen nach so unbedeutende Feldzug gegen
Duudiah war ihm eine vortreffliche Schule gewesen, um die Eigenthümlichkeiten
der Taktik der Eingeborenen, die Nachtheile und Vortheile des Terrains, die
Stärke der Forts, den Lauf, die Tiefe und das periodische Steigen und Fallen
der Flüsse kennen zu lernen. Nach diesen Beobachtungen hatte er seinen Plan zu
einem Mährattenfeldznge entworfen. Er wählte eine Jahreszeit, wo die Führten
der Flüsse nicht gangbar waren, und wendete dieses Terrainhinderniß zum Vor¬
theil der Engländer dadurch, daß er für tragbare Boote und Schiffbrücken sorgte,
welche den Eingeborenen fehlten. Die Beweglichkeit seiner Armee vermehrte er
durch Anschaffung eines kräftigern und zugleich leichtern Schlags von Zugbüffeln.
Hinsichtlich der Forts, die stark genug waren, um ernste Besorgnisse einzuflößen,
und zu zahlreich, um alle regelmäßig belagert zu werden, rechnete er auf die schwache
Seite der Eingeborenen, denen eine glänzende Waffenthat gleich einen unaus-
löschlichen Respect vor der Überlegenheit der Europäer einflößt. Er befahl, eins
oder ein Paar ohne weitere Umstände zu stürmen, und die Besatzung bei ernst¬
lichem Widerstand über die Klinge springen zu lassen. Diese Taktik schlug an. Ein
Mahrattenhäuptling schrieb an einen Freund: „Diese Engländer sind seltsame
Leute, und ihr General ein wunderbarer Mann. Heute Morgen kamen sie hier
an, besahen sich die Mauern von Pettah, spazierten darüber hinweg, schlugen die
Besatzung todt und gingen zum Frühstücke. Wer kann ihnen widerstehen?" Die
Folge war, daß die stärksten Forts mit sehr geringem oder gar keinem Menschen¬
verlust genommen wurden. Es dauerte jedoch einige Zeit, ehe die verdächtigen
Häuptlinge die Maske fallen ließen, und noch länger, ehe man ihre Truppen zum
Stehen brachte. Endlich am 23. Sptbr. stieß Wellesley bei dem Dorfe Assaye
auf das ganze Heer der Mahratten des Deccan, 60,000 Streiter mit 100
Kanonen. Wellesley hatte nur 4S00 Mann bei sich, aber ohne seine andere
unter Oberst Stevenson zur Umgehung des Lagers dctachirte Division abzuwarten,
begann er sofort die Schlacht, die er allein mit dem Bayonnet gewann. Dieser
herrliche Sieg über eine gut discipliuirte, von europäischen Offtcicren befehligte,
und mit einer bedeutenden Artillerie versehene Uebermacht stellte das Ueber¬
gewicht Englands in Ostindien ans immer fest. Eine zweite Schlacht von Arganm
gegen den Radschah von Berar beendigte den ersten Mahrattenkrieg, ans dem
Wellesley mit unverwelklichen Lorbeeren gekrönt zurückkehrte.
--Unsere Campagne ist durch ein heißes Gefecht an der Grenze von
Marokko beendet worden. Am 13. Juni verließen wir Bel Abbes und am 23.
lagerten wir am Flusse Onad-Nhiss, einige Kilometer von der Stadt Argbal, in
deren Umgegend in unzugänglichen Bergschluchten viele Tausende von Arabern
schwärmten. Unser Zweck war, diese» Stämmen die Ernte wegzunehmen, da sie
für ihren Empörungsversuch eine exemplarische Züchtigung verdienten. Wir bildeten
eine Colonne von 3000 Mann, geführt von General Montauban. Am 24. i Uhr
Morgens begannen L00 Arbeiter das Korn und die Gerste zu schneiden, hinter
ihnen zu Pferde befanden sich 6 Escadronen Chasseurs d'Afrique, ein wenig weiter
das Gewehr beim Fuß, unser braves Regiment. Kaum hatte das Sicheln be¬
gonnen, so bedeckten sich die umgebenden Höhen mit Feinden, die vollständig
nackt, ihre Flinten schwingend, ein gräßliches Geheul ausstießen und Kugeln in
die Reihen der Arbeiter sendeten. Der General ließ die Chasseurs vorrücken,
und diese trieben die Araber in heftiger Verfolgung bis Argbal; die Araber ließen
ungefähr 200 Mann ans dem Schlachtfelde, während die Chasseurs nur geringen
Verlust hatten. Aber' unglücklicher Weise war dies nur der Beginn des Tages.
Als der General um 8 Uhr die Chasseurs noch nicht zurückkehren sah, gab er
unsrem Bataillon (in der Stärke von 300 Mann) Befehl, zu ihrer Unterstützung
nachzurücken. Um 9 Uhr erklommen wir felsige Anhöhen, hin und wieder mit
Stachelicher Gebüschen und Palmbäumen bewachsen, und stießen ans die Araber,
die wol 8—10,000 Mann stark die 600 Chasseurs umzingelt hatten. Diese, bereits
ohne Munition, kämpften mit dem Säbel in der Faust, ihre Pferde am Zügel
haltend. Wir warfen uns im Sturmschritt mit gefälltem Bayonnet auf die Araber,
die beim ersten Zusammenstoß wichen, und so erhielten die Jäger Raum, sich
zurückzuziehen; aber dies war nicht Alles, denn auch wir mußten unsren Rückzug
bewerkstelligen. Die Hitze war wahrhaft afrikanisch, unsre Entfernung von der
Colonne betrug 6 Kilometer aus einem sehr schwierigen Terr'ain; die Cavallerie
war znrückmarschirt, weil der Boden ihr nicht zu manövriren gestattete. Die
Araber umschwärmten uns zu Tausenden in nächster Nähe, ja bis an die Spitzen
unsrer Bayonnete drangen, sie vor. Nach einem zweistündigen Widerstand sahen
wir uns erheblich geschwächt, und da keine Unterstützung erschien, versuchte man
den Feind zu durchbrechen, und den Ouad Rhisö im Sturmschritt wieder zu er¬
reichen. Eine Section Voltigeurs wars sich auf deu Feind, ihr Muth öffnete
uns eine Bresche, aber wir sahen fast die ganze Section mit ihren Officieren vor
unsren Augen fallen. Nun stürzten wir uns in die Bresche, und dnrch einen
lebhaften Angriff mit Bayonnet und Kolbe gelang es uns, einen kleinen Zwischen¬
raum zwischen uns und den Arabern herzustellen. Der Rückzug begann; Jeder
schlug sich „aus eigene Hand", es war ein Gefecht von einem Felsen, einem Ge¬
büsch zum andern. Ich habe allein lo Schüsse gethan, mein Flintenlauf war so
heiß, daß ich ihn nur mit dem Niemenbügel berühren konnte. Jeder Mann war
von 6 Arabern verfolgt; hatte man einen Schuß abgefeuert, so setzte man
seinen Rückzug im Sturmschritt fort, warf sich hinter einen Palmbaum, um zu
laden, und fast jede Kugel verwundete oder tödtete. Ich-glaube, die Kaltblütig¬
keit steigt mit der Gefahr, denn der Tag war einer der schrecklichsten, die wir
seit 18i3 gesehen haben. Die Araber waren immer ans 30 Schritt hinter uns,
bevor wir Zeit hatten zu laden, waren sie uns auf den Fersen, verfolgten uns
mit Schüssen, mit dem Uataghan und selbst mit Steinwürfen. Endlich hörten
wir ein Gewehrfeuer, die übrigen Bataillone erschienen auf dem Schlachtfelds,
und von ihnen gedeckt kamen wir in's Lager zurück, nachdem wir die Hälfte unsres
armen Bataillons ans dem Platze gelassen hatten: 2 Officiere todt, ö verwundet,
124 Mann kampfunfähig. Der Verlust des Feindes soll enorm sein, denn unsre
Leute zielen gut. Die Affaire hatte vom Morgen bis i Uhr Nachmittags ge¬
dauert, während welcher Zeit wir weder gegessen, noch getrunken haben, und das
im Juni. — Der General bewillkommnete uns in einem prächtigen Tagesbefehl,
worin es hieß: ,,Chasseurs, Ihr verdankt Euer Leben dem tapfern "13. Bataillon
der Fremdenlegion, das dnrch seine Hingebung, 'seine Ruhe im Feuer und seine
Energie Euren Rückzug gedeckt und uns die Ehre des Tages gesichert hat." Zehn
Tage später rückten wir in Bel Abbes ein, die ganze Bevölkerung kam uns ent¬
gegen, und wir empfingen unsrer Adler, der eben von Paris gekommen war, beim
Donner der Kanonen und nnter dem Schalle der Musik unsres alten Regiments.
Wir knüpfen diese Betrachtungen, die eigentlich unsrer Aufgabe fern zu liegen
scheinen, und die wir auch nur so weit verfolgen, als sie auf die äußerliche Er¬
scheinung der Wissenschaft Bezug haben, an das so eben erschienene Werk eines
jungen Gelehrten: System der metaphysischen Grundbegriffe, von
Gustav Engel. (Berlin, Wilhelm Hertz.) -- sowol durch den Titel, als nament¬
lich durch die Vorrede wird sich der Verfasser, der in der letztern versichert, seine
Ansichten seien unwiderleglich und die 'wahre Grundlage aller echten Wissenschaft,
sehr schaden, denn man wird für Anmaßung nehmen, was doch nur Naivetät ist,
und was sich eigentlich bei jedem ernstem wissenschaftlichen Werk von selbst'ver¬
steht: denn man wird nicht etwas schreiben, von dessen Neuheit und Wahrheit
man nicht überzeugt ist. — Was den Inhalt betrifft, so entspricht derselbe dem
Titel nicht ganz, denn der Versasser giebt eigentlich kein System, sondern theils eine
Polemik gegen die metaphysischen Grundbegriffe Hegels, theils Andeutungen, wo
man die wahren Grundbegriffe zu suchen habe. Die Polemik ist zum Theil scharf¬
sinnig und treffend, und man wird dem Versasser wol darin beistimmen, wenn er
Hegel's Auffassung von dem Begriff eines Anfangs der Wissenschaft, der gar nicht
vermittelt sein soll, so wie die Herleitung sämmtlicher Begriffe bei diesem Phi¬
losophen ans einem Begriff, der mit dem Nichtbegriff identificirt wird, als un¬
richtig verwirft. An Stelle des reinen Seins setzt Herr Engel das Eins als
absoluten Grundbegriff, und sucht aus demselben die übrigen Begriffe herzuleiten.
Auf die Richtigkeit oder Unrichtigkeit dieser Ansicht im Ton der Schrift einzugehen,
würde hier nicht angebracht sein, da die Mehrzahl unsrer Leser kein Wort davon
verstehen, oder, wenn auch wirklich ein grammatisches Verständniß einträte, we¬
nigstens sich vergebens die Frage vorlegen würden, was für einen Zweck alle diese
Deductionen haben. Und weil das eine schwache Seite der ganzen neuern Me¬
taphysik ist, die als solche dem gesunden Menschenverstand vollständig klar gemacht
werden kann, so gehen wir hier flüchtig auf das Thema ein, indem wir es all¬
gemeiner fassen, als es der Versasser gethan.
Bei jeder andern Wissenschaft kann sich auch der Laie darüber orientiren,
womit sie sich eigentlich beschäftigt; bei der Philosophie ist es aber unmöglich.
Herr Engel wirft Hegel mit Recht vor, daß der Mangel einer Definition der
Wissenschaft ein Fehler sei, aber er verfällt in den nämlichen Fehler. Er
definirt Philosophie als das absolute Wissen, setzt aber sogleich hinzu, was diese
Definition eigentlich bedeute, könne man zu Anfang noch nicht wissen; es werde
sich das im spätern Verlauf ergeben. Da sind wir freilich ans dem Regen in
die Traufe gekommen. Wir wollen indeß die Definition festhalten und nach unsrem
gewöhnlichen Sprachgebrauch uns fragen, was man eigentlich darunter verstehen soll.
„Absolutes Wissen" kann sich entweder auf den Umfang oder auf die Me¬
thode des Wissens beziehen; es kaun entweder heißen, daß die Philosophie Alles
wissen soll, oder daß sie Alles, was sie weiß, mit absoluter Gewißheit wissen soll.
Nehmen wir^ die erste Bedeutung, so würde es keine Philosophie geben können,
denn ein Wissen, welches keine Schranke des Nichtwissens'kennt, ist ein Unding.
Alle Wissenschaften gehen zwar darauf aus, ihren Umfang beständig zu erweitern,
aber wenn sie anch sämmtliche sichtbaren Sterne gezahlt, ihre Größe gemessen
und ihre Schwere gewogen haben, so wird es doch immer noch Sterne geben,
die unsren Augen unsichtbar sind, und so nach allen Seiten hin. Aber selbst
davon abgesehen, würde die Philosophie immer uoch kein Privilegium des aus¬
schließlichen Wissens beanspruchen können, denn in den übrigen Wissenschaften wird
auch Vieles gewußt, ohne daß sie Philosophie wären.
Nehmen wir die zweite Bedeutung, so ergiebt sich derselbe Widerspruch.
Auch die anderen Wissenschaften haben ein absolutes Wissen in dem Raum, den
sie bereits erobert haben, und in dem, der sich noch ihrer Macht entzieht, streben
sie wenigstens nach absolutem Wissen. Die Mathematik weiß absolut, daß die
Quadrate der Katheten gleich dem Quadrate der Hypothenuse siud; die Me¬
chanik- weiß absolut, daß das Resultat zweier Kräfte vou verschiedener Stärke
und verschiedener Richtung auf einen Puukt hin durch die Diagonale des Parallelv-
grammms bestimmt wird; die Astronomie weiß absolut, was der Mond für Be¬
wegungen macht, das zeigen die Kalender; und um von den exacten Wissenschaften
abzugehen, die Philologie weiß absolut, was dieses oder jenes Wort bedeutet hat;
die Geschichte weiß absolut, daß diese oder jene Begebenheit in diesem oder jenem
Jahre vorgefallen sei. Der Charakter des absoluten Wissens kommt also allen
Wissenschaften zu, und wir werden bei der Philosophie immer wieder fragen:
Was ist es eigentlich, das sie absolut weiß?
Uns fällt dabei der Anfang des Platonischen Gorgias ein. Der Sophist
nimmt den Mund voll von den Vorzügen seiner Kunst, der Redekunst, welche
die Menschen befähigen soll, über Alles zu sprechen. Plato geht ihm darauf zu
Leibe und zeigt, daß, um über einen Gegenstand gut sprechen zu können, man
zuerst den Gegenstand kennen müsse, daß also die Redekunst, wenn sie ihre Ver¬
sprechungen erfüllen will, zunächst Kenntnisse von verschiedenen Gegenständen ihren
Schülern vermitteln müsse, und fragt nun weiter, welche Gegenstände es seien,
deren Kenntniß die Redekunst vermittele? Als der Sophist die Antwort schuldig
bleibt, nimmt Plato selber das Wort und antwortet auf die Frage, welche Kunst
die Redekunst sei: sie sei gar keine Kunst, sondern stehe ans einem Niveau mit
der Kochkunst, die zwar den Gegenständen einen eigenthümlichen Geschmack bei¬
zubringen wisse, aber selbst nichts Substantielles überliesere.
Wenn man die heutige Philosophie ansieht, so möchte man sich versucht füh¬
len, sie mit der Redekunst des Gorgias zu vergleichen; denn auch sie verspricht
ihren Schülern, ihrem Geist Macht zu geben über alle Dinge, ohne daß sie den
gewöhnlichen Weg der Erkenntniß nöthig hätten, und ihre Schüler weissagen auch
in der That über alle Dinge,- allein ihre Weissagungen treffen nicht ein.
So lange man also nicht ein bestimmtes Gebiet des Wissens gefunden haben
wird, welches die Philosophie beherrscht und welches sich von dem Gegenstande
anderer Wissenschaften unterscheidet, wird man ihr den'Namen einer Wissenschaft
nicht beilegen können. Uebersehen wir die Leistungen der neuern deutschen Philo¬
sophie, lassen die poetischen Inspirationen der Schelling, Schubert, Jacobi n. s. w.
völlig bei Seite und halten uns nur an Hegel, der mit dem Schein der strengsten
Wissenschaftlichkeit zu Werke geht, so finden wir in seinem System außer der
Logik eine Reihe von Disciplinen, die mit den Disciplinen anderer Wissenschaften
zusammen zu fallen scheinen. So ist z. B. seine Naturphilosophie dem Inhalt
nach nichts Andres, als ein System der Naturwissenschaft, nur anders geordnet
und auf eine andere Methode des Forschens gegründet, als die gewöhnliche
Naturwissenschaft. Dasselbe ist mit seiner Philosophie der Geschichte der Fall.
Wer wollte verkennen, daß die Wissenschaft aus diesen geistvollen und im großen
Sinn gedachten Apercus so manchen trefflichen Wink entnehmen kann. Die ein¬
seitige Beschäftigung mit der reinen Wissenschaft, die immer nur den nächsten
Schritt in's Auge faßt, verleitet leicht zu mechanischer Arbeit, und wer zu viel
das Mikroskop anwendet, verliert den Blick für die großen und ganzen Verhält¬
nisse. Ein geistvoller Mann, der von dem Ganzen der Wissenschaft eine unge¬
fähre Anschauung hat, wird daher Manches schärfer und größer auffassen, als der
in Detailstudien vertiefte Gelehrte. Allein so werthvoll diese Philosophien der
Natur und der Geschichte in andrer Beziehung sind, wissenschaftliche Bücher sind
es nicht, denn es fehlt ihnen gerade das charakteristische Kennzeichen, welches
Herr Engel von der Philosophie verlangt, das absolute Erkennen. — Dann treffen
wir wieder eine Reihe von Disciplinen, welche sich gleichsam auf einem mittlern
Gebiet bewegen, z. B. Aesthetik, Moralphilosophie, und was sonst in dieses Genre
schlägt. Auch diese Disciplinen werden sich einmal in die Formen strenger Wissen¬
schaftlichkeit fügen müssen; man wird ans physischen und psychischen Gesetzen
erweisen müssen, warum diese Ton- und Farbeverbiudung schön, warum diese
Maxime des Handelns gut oder böse ist, u. s. w. Vorläufig müssen sie noch
diesen wissenschaftlichen Charakter entbehren, weil uus noch eine ganze Reihe von
Vorbegriffen fehlen, die nicht aus der Logik oder Metaphysik, sondern aus der
Akustik, der Optik :c. herzuleiten sind. In diesen Gebieten ist die Philosophie
recht eigentlich zu Hause und entspricht ihrem Namen, der nicht Weisheit, sondern
Liebe zur Weisheit bedeutet. Sie wird aber auch hier immer mehr leisten, je
mehr sie sich die Methode der anderen Wissenschaften aneignet, d. h, je strenger
sie unterscheidet zwischen dem, was sie weiß, und dem was sie nicht weiß. — Was
endlich die Logik betrifft, so enthalt diese seit der Zeit, wo man von der blos formalen
Logik abgegangen ist und sie mit der Metaphysik Verbunden hat, eine Reihe sehr
verschiedener Begriffsverbindungen, die scheinbar aus einander hergeleitet werden,
eigentlich aber den verschiedenen Wissenschaften entnommen sind. Wenn man das
Gebiet der sogenannten exacten Wissenschaften übersteht, so ergiebt sich eine ziemlich
vollständige Reihe, die mit der Abstraction anfängt und immer weiter in's Con-
crete überleitet. In dieser Reihe werden zuweilen die nämlichen Begriffe, weil
sich allmählich ein immer reicherer Inhalt in ihnen vorfindet, in verschiedenem
Sinn gebraucht. So ist z. B. der Raum, wie ihn die reine Mathematik gebraucht,
ein viel abstracterer Begriff, als der Raum in der Astronomie; so gewinnt der
Begriff der Unendlichkeit, der in der Elementar-Mathematik etwas blos Negatives
ist, das NichtVorhandensein einer Grenze, in dem analytischen Theil der Mathe¬
matik wieder eine ganz andere Bedeutung. Wir können uns hier nicht ans das
Einzelne einlassen und bemerken nur, daß der Mathematiker in . der Fortbildung
seiner Begriffe naiv zu Werke geht. Er macht es gerade so, wie in der Ele¬
mentarmathematik, wo er zuerst z. B. eine bestimmte Definition von Potenzen
giebt, dann dnrch Rechnung ans negative und gebrochene Exponenten kommt und
von diesen beweist, daß auf sie dieselben Gesetze Anwendung finden, ohne sich im
geringsten dadurch irren zu lassen, daß diese Begriffe auf seiue erste Definition
nicht mehr im geringsten passen. Es ist ihm immer nur um den nächsten posi¬
tiven Schritt zu thun, das Ganze hat für ihn wenig Interesse. Wir haben
dieses aller Welt geläufige Beispiel gewählt, in der höhern Mathematik würden
sich noch viel schlagendere ausfinden lassen. Hier hat nun ein philosophischer
Kopf, was bei uns ungefähr so viel heißt, als ein synthetischer Kopf, der sich
der realen Grundlage des Wissens bemächtigt hat, eine sehr dankenswerthe Auf¬
gabe, indem er an dem Fortschreiten der Wissenschaft das Bild von dem Fort¬
schreiten des menschlichen Erkenntnißvermögens in seiner idealsten Gestalt studirt.
Er wird nicht fragen, was Raum, Zeit, Bewegung, Unendlichkeit u. s. in. ist,
denn das sind ganz leere Fragen, sondern wie in diesen Begriffen der menschliche
Geist in ganz nothwendiger Stufenfolge die Natur und ihre Entwickelung vom
Abstracten zum Concreten in sich selber reproducirt. Wenn auf diese Weise die
Philosophie, anstatt sich in stolzer Selbstgenügsamkeit zu wiegen, sich an die Reihe
der wirklichen Wissenschaften anlehnt, so wird sie dieselben auf eine fruchtbare
Weise ergänzen, indem sie zur Analyse die Synthese hinzufügt. Sie wird nichts
Anderes wissen wollen, als was die Wissenschaft weiß; sie wird es aber von
einem höhern, freiern Standpunkte anschauen. Es versteht sich dabei von selbst,
daß ein Philosoph nach unserer Definition kein anderer sein kann, als ein solcher,
der die Disciplin, über die er philosophiren will, in der gewöhnlichen wissen>
schastjichen Weise vollkommen beherrscht.
Alle diese Betrachtungen gelten nur von einer Zeit, in der die Wissenschaft
im höhern Sinne wirklich existirt; in Uebergangsperioden dagegen hat sie eine
viel größere Aufgabe; nur ist es eine große Thorheit, diese Aufgabe fixiren
zu wollen. Die Philosophie hat drei große Perioden gehabt. Die erste, wo
die Disciplinen des Wissens sich noch nicht von einander gesondert und wo auf
der andern Seite die idealen Vorstellungen (Mythen, Götterbilder?c.) sich noch
nicht zu allgemeinen Glaubenssätzen fixirt hatten. Man vergesse nicht, daß
Aristoteles lauge vor Euklid lebte, und daß dieser umgekehrte Weg der wissen¬
schaftlichen Entwickelung heut zu Tage nicht mehr möglich ist. — Die zweite
Periode war der Schluß des Mittelalters, wo sich über die ganze Welt ein Netz
von Abstractionen gebreitet hatte, die einerseits ans dem kirchlichen System,
andrerseits ans den aristotelischen Ueberlieferungen entsprungen waren. Von
diesem Alp haben große Denker, Bacon und seine Schule auf der einen, Car-
tesius, Spinoza u. s. w. auf der andern Seite, die Welt befreit; sie haben
dadurch die Wiederaufnahme der wirklichen Wissenschaft möglich gemacht, und
der Philologie, die nach einer andern Richtung hin dasselbe Bestreben verfolgte,
in die Hände gearbeitet. Die dritte große Periode der Philosophie war die
Zeit von Kant bis Hegel. Damals galt der Kampf der sogenannten Aufklärung,
die eine Art Nivellirsystem des Denkens aufgestellt hatte, wonach sich jeder Gebildete
Mühe geben mußte, so zu denken, wie der gemeine Mann, das heißt, so ein¬
fältig als möglich. Von dieser Trivialität haben uns unsere Philosophen im
Bunde mit unseren Dichtern befreit.
Wenn man auf diese Weise die Philosophie historisch betrachtet, so scheint
uns das keine unwürdige Vorstellung zu sein. Jene Heroen des Geistes erlangen
dadurch eine Stelle redenden großen Künstlern, neben den großen Völkcrführern,
neben den Propheten. Freilich, die Aristoteliker und die Cartestaner, Spinozisten,
Kantianer, Hegelianer :c. verlieren viel von ihrem Glanz, denn sie haben immer
nnr Duplicate gegeben, und die sind vom Uebel. Wenn Hegel in seiner Logik
den sogenannten gesunden Menschenverstand, der immer am klügsten zu sein glaubte,
wenn er vollständig gedankenlos war, durch die kühnste Sophistik, welche die
Welt gesehen hat, in Verwirrung setzte, so war das damals ein sehr nützlicher
Schreck; aber jetzt, nachdem der Schreck seine Wirkung gethan hat, sich noch mit
der Frage herumzutragen, ob das Nichtsein mehr oder weniger ist, als das Sein,
das Dasein mehr oder weniger, als die Existenz, und ob das Eins das
Erste ist, oder die Zwei, das scheint uns Kors Ze Saison; wenn jene Begriffs¬
spaltungen überhaupt einen Sinn haben sollen, so kann es doch nur der sein,
in der Anwendung dieser Begriffe auf Correctheit des Sprachgebrauchs zu bringen,
und dazu giebt es einfachere Mittel, als die absolute Wissenschaft.
(Historische Gemälde.) *) — Carl Begas.
Christi Verrath. Der Gegenstand ist ein ungemein dankbarer. Es ist der erste
Moment, in dem das längst Vorbereitete und Erwartete zur Entscheidung kommt.
Christi Leiden beginnt, er ist von einem der Seinigen seinen Feinden verrathen; die
übrigen Jünger sind menschlich schwach und verlassen ihn, — er steht mit seiner Idee
allein da und ahnt, daß er für sie den Tod leiden muß; — es mußte sich in und
um Christi Person alles innere Leben und alle äußere Handlung concentriren — daS
geschieht in dem Bilde nicht: der Moment ist aus einander gerissen und verliert seine
Prägnanz. Wir führen ihn uns in der Geschichte vor. Als Judas die verhängniß-
vollen Worte gesprochen hatte: „Gegrüßest seist du, Nadir," da ward der Erlöser
gefangen und gebunden (denn dadurch ward erst seine Person erkannt), da schlug
Petrus jähzornig dem Knecht des Hohenpriesters das Ohr ab, und die Jünger flohen.
— Dies geschieht hier alles nebeneinander ^— Judas küßt Christus, da stehn schon
die Kriegsknechte mit einem Strick hinter ihm, um ihn zu binden, da liegt schon
Malchus mit abgeschlagnem Ohr am Boden, und die Jünger sind in der lebhaftesten
Flucht. — Der Moment gewann dadurch an äußerer Bewegung, verlor aber alle
Einheit und Würde. — Alles, was hier schon geschieht, durste außer Judas verrä-
therischen Kusse erst vorbereitet werden, — ein Moment der höchsten Spannung, wo
die. von den Priestern rind Schriftgelehrten mitgebrachten Kriegsknechte bereit sind, den
Erlöser zu greifen; wo Petrus noch bei ihm steht, um, wenn die Feinde ihn binden
werden, mit dem Schwerte drcinzuschlagen; wo die anderen Jünger zaghaft und un¬
schlüssig dastehn. — Christus selbst trägt die milde Ergebung in sein Leiden, aber
nicht das überlegne Bewußtsein dessen, wofür er leidet, in seinen Zügen. Judas streift
nahe an die Caricatur, er ist der an Verbrechen gewöhnte Bösewicht, nicht der durch
Geiz und Selbstsucht gefallene, heuchelnde Jünger. — Dabei ist die Zeichnung und
Malerei meist roh, kurz das Bild ist im Ganzen ein verfehltes.
Christian Köhler. Die Königin Semiramis. bei der Toilette be¬
schäftigt, wird dabei durch einen in Babylon ausgebrochenen Volks¬
aufstand unterbrochen. — Das Bild macht äußerlich einen wohlthuenden Ein¬
druck, harmonisch gestimmte Farben, wohlgebaute Gruppen, Köpfe, Formen und Ver¬
hältnisse zeigen einen feinen Sinn. — Aber es fehlt alle Wärme des Lebens, überall
drängt sich uns die Absicht auf, es ist nichts Empfundenes, Alles reflectirt,— Semi¬
ramis selbst ist entschieden großartig beabsichtigt, — aber es bleibt dabei, und sie
macht hier nur eine imposante Stellung, eben so mehr oder weniger die sie umgebenden
Frauen, die auch zu absichtlich in eine Gruppe gebaut sind, — mir erinnern nur an
eine in weißem Gewände, zunächst dem Fenster, welche offenbar nur als eine Seite des
Dreiecks figurirt. — Dieses rein äußerliche Streben konimt noch in anderer Beziehung
unvortheilhaft zur Erscheinung, nämlich in einer gewissen, allgemein idealisirenden Form,
welcher der Kern des Charakters fehlt, und welcher durch eine zu unentschiedene Zcich-
mung vollends alle Bestimmtheit genommen wird. Wie sehr es dem Maler nur auf ,
allgemeine Wirkung zu thun war, zeigt sich noch in mancher Nachlässigkeit der Zeich¬
nung, z. B. in der ganz mißlungenen Verkürzung des linken Oberschenkels der Se-
miramis, die Köhler gewiß besser machen könnte.
Graff: Jephtha und seine Tochter. Das Bild macht gleich von vorn
herein einen wohlthuende» Eindruck/ Die Situation ist klar, einfach und correct wieder¬
gegeben, die künstlerischen Mittel find mit großer Bescheidenheit angewendet, die Farben
stellen sich in großen schönen Gruppen gegen einander. Costum, Gestchtszüge, und
was sonst dazu gehört, ist dem Sinn der Handlung entsprechend, aber nicht ängstlich
historisch. Die Nebenfiguren sind gerade mir so weit dargestellt, als sie zum Ver¬
ständniß deS Ganzen gehören, aus der einen Seite die wiederkehrenden Krieger, die ihre
Angehörigen wiederfinden, auf der andern die Jungfrauen, die dem Helden des Volks
in feierlicher Freude entgegengehen. Was die beiden Hauptfiguren betrifft, so hat der
Verfasser sich streng an die rnmittelbare Empfindung des Augenblicks gehalten. Der
Vater, der Jehovah das Erste, was aus seiner Thür ihm entgegentreten würde, als Dank-
opfer gelobt hatte, hat so eben die Tochter erblickt und bricht verzweifelnd zusammen.
Die Tochter, die mit ausgestreckten Annen in seine Umarmung eilte, bleibt Mr diesen
unerwarteten Gefühlsausbrnch betroffen stehen und sieht ihn mit aufmersamem Staunen
an. Vielleicht ist gerade diese Strenge in der Beschränkung der dargestellten Motive
Schuld daran, daß das Bild die meisten Zuschauer nicht so befriedigt, wie es eigentlich
verdiente. Man denkt sich bei der Geschichte des Jephtha etwas Romantisches, und
es ist nicht zu leugnen, daß der Hauptreiz auch in dieser Romantik liegt. Die meisten
Maler würden in Jephtha's Tochter eine sinnige schwärmerische Schönheit dargestellt
haben/wie man sich ein unschuldiges Opfer eben vorzustellen pflegt. Herr Graff hat,
und wahrscheinlich mit Vorbedacht, sich dieser Romantik enthalten; er hat gemeint, daß
das kräftige gesunde Weib ein Opfer sei, welches das meiste Mitleid verdiente. Ebenso
hat er in dem Helden selbst ein Moment darzustellen unterlassen, welches die meisten
anderen Maler mit besonderem Eifer hervorgehoben haben würden. Wenn wir uns
nämlich Jephtha auf seiner Rückkehr nach Hause psychologisch vorstellen, so muß doch
in seiner Seele ein gewisser vorahncnder Schauder aufgestiegen sein, eine Ahnung von
dem Bedenkliche», das in seinem voreiligen, ja selbst mit der bestimmten Aussicht auf
ein großes Opfer gegebenen Versprechen lag. Wenn man sich die Sache weiter
ausmalt, daß diese Vorahnung sich bei jedem Schritte weiter steigert, daß er immer
schneller vorwärts eilt, um zur Gewißheit zu gelangen, und daß diese ihm entgegen¬
tretende Gewißheit sich als das geheime Schreckbild seiner eigenen Vorstellungen erweist,
so daß er in starrem Entsetzen versteinert stehen bleibt, so wäre das nach unserer Ansicht
eine künstlerische Auffassung gewesen, die der Empfindung einen freiern Spielraum
gelassen hätte; und weiter müsse» wir gestehen, daß wenigstens ein Etwas in dem
Antlitz der Jungfrau mit dieser Stimmung hätte correspondiren sollen. Herr
Graff zeigt sie uns ernst, sast strenge, aber ihr Ausdruck ist nur der, bangen
Staunens. Wir hätten lieber gewünscht, daß dnrch einen elektrischen Schlag
sich in ihr augenblicklich das volle Verständniß von dem Entsetzen ihres Vaters
ausgeprägt hätte. Es giebt solche Momente im Leben, wo die Totalität der
Seele sich schneller bewegt, als die gewöhnlichen Gedanken, wo sie erkennt, ohne
zu begreifen, und die Darstellung eines solchen Moments scheint uns gerade für diesen
Gegenstand die Aufgabe zu sei». Wie weit sich eine solche Aufgabe auch mir an<
nähernd darstellen läßt, muß freilich dahingestellt bleiben; wir aber haben bei diesem
schönen Bilde immer das Gefühl, daß so etwas fehlt. Es würde dadurch in den dar¬
gestellten Zustand doch etwas mehr Abgeschlossenes kommen, und man würde nicht an
einen fixirten Moment denken. — Von demselben Maler ist noch eine Skizze auf der
Ausstellung, welche die größte Aufmerksamkeit verdient. Sie ist etwa für den Fries
eines Zeughauses oder etwas Aehnliches bestimmt und stellt in ihrer erhöhten Mitte
einen mittelalterlichen Kriegsfürsten dar, der an den Heerschild schlägt, um das Volk
zum Feldzug aufzubieten. Dieser Ruf ertönt durch alle Gaue und unterbricht die ver¬
schiedenartigen friedlichen Beschäftigungen. Wahrscheinlich hat dem Maler die meisterhafte
Schilderung aus W. Scott's Fräulein vom See vorgeschwebt, wo das Feuerkrcuz durch
die verschiedenen Districte des Hochlandes getragen wird und Alles in feuriger Hast sich
aufrafft, um dem Aufgebot zu folgen. Mau kann diesen Entwurf als einen in jeder
Beziehung gelungenen bezeichnen. Die einzelnen Gruppen, die sich in einer fast un¬
ermeßlichen Fülle entfalten, sind alle mit individueller Treue charakterisirt, und doch geht
ein frischer, feueriger Zug durch das Ganze, der eine vollständige Einheit vermittelt.
Dabei ist nicht die geringste Spur von jenem theatralischen gemachten Wesen, welches
sich bei dergleichen Situationen so oft wiederfindet. Alle Gestalten find wahr, einfach
gedacht und in wirkliches Leben gesetzt. Das Costum ist, wie es dein Zweck entsprechend
war, idealisirt mittelalterlich; die Erinnerung an eine bestimmte Periode ist vermieden.
Schade, daß dieser vortreffliche Entwurf durch seine ungünstige Stellung den aus¬
geführten Gemälden gegenüber sich meistens der Aufmerksamkeit entzieht.
Steinbrück. Eine Episode aus der Zerstörung Magdeburgs. (Edle
Jungfrauen reichen sich die Hände, um gemeinschaftlich in den Fluthen der Elbe einen
vor Entehrung schützenden Tod zu suchen.) — Das Bild macht äußerlich, im Bau
der Gruppen und dnrch ein unverkennbares Streben nach Idealität (durch die Farbe
freilich weniger) einen wohlthuenden Eindruck, aber wir werden nicht recht befriedigt,
auch hier finden wir eine gewisse Absichtlichkeit und bei aller Bewegung nicht überall
Leben. Dies gilt z.B. von den die Jungfrauen verfolgenden Kroaten, aber auch die
Gruppen der Jungfrauen kommen nicht zur rechten Bewegung des Lebens, manche
Stellungen haben etwas Arrangirtes, und dieses Absichtliche in so entsetzlichem Augen¬
blicke, das ist's, nicht das Furchtbare des Gegenstandes, was uns martert; — wenn
wir durch das volle Leben aller Gruppen und Figuren mitten in die Handlung hinein¬
gerissen würden, würden wir zur lebendigen Empfindung des Schrecklichen kommen und
darüber die Reflexion vergessen. Eine der Frauen springt bereits in die Tiefe, aber
es scheint, der Künstler hat es nicht gewagt, sie wirklich recht springen zu lassen; das
mußte er thun; sie ist nun in zu unentschiedenen Momente sixirt. Ob man
überhaupt Schwebende, springende u. f. w. malen dürfe, dies hier näher zu besprechen,
ist nicht der Ort, wir sind nicht so principiell, dergleichen aus der Reihe des Dar¬
stellbaren auszuschließen, wir meinen, wenn's gut gemacht ist, wird's so wirken, daß
man das Princip vergißt. — Schoner und fruchtbarer und dabei nicht minder ergrei¬
fend wäre der Vorwurf freilich geworden, hätte Steinbrück den unmittelbar vorher¬
gegangenen Moment gewählt, wo die Unglücklichen, zur äußersten Verzweiflung getrieben,
keinen Ausweg sehen, als den Tod in den Fluthen, dem sie mit festem Entschluß
zueilen, die etwa noch Unschlüssigen oder Zögernden dazu ermuthigend und mit fort-
reißend. Durch den Ausdruck dieses Entschlusses in allen Figuren wäre ein geistigeres
Element in die Handlung gekommen, während das Springen und Anschicken zum
Sprunge etwas Materielles hat. -— Doch darüber wollen wir mit dem Maler nicht
rechten, es ist doch manches Schöne in dem Bilde. Daß aber Steinbrück noch immer
neue Elfen malt, ist kaum verzeihlich; es sind zwei Elfenbilder von ihm auf der Aus¬
stellung: „Eintritt in's Feenreich" und „Wasserfahrt". Und doch wir würden,
sie vielleicht auch noch gern sehn, obgleich wir für die wiederauflebenwolleude Romantik
nicht begeistert sind; dann müßte aber alle der Reiz und Duft, alle der geheimniß-
volle Zauber der Natur über dem Ganzen verbreitet sein, der uns vermag, der gemeinen
Erde für einen Moment zu entrücken. Aber nichts davon: wir treten nicht in's Feen¬
reich, sondern in irgend ein ganz hübsches Stück Thiergarten oder dergleichen mit
Wasser, in dem recht niedliche nackte Kinder ihr Wesen treiben. Das war gut vor
zwanzig Jahren, wo man sich schon über jedes ziemlich gut gemachte Bild überhaupt
freute, mochte Malerei und Stimmung nun dem Gegenstande angemessen sein oder
nicht; jetzt verlangen wir mehr.
^ I. Schrader. Tod Leonardo da Vinci's in Fontainebleau.—Leonardo
da Vinci kam in seinem Alter an den Hof Franz II. von Frankreich, ward von ihm
in hohen Ehren gehalten und starb, wie erzählt wird, als der König ihn in schwerer Krank¬
heit besuchte und Leonardo sich ehrfurchtsvoll erheben wollte, in seinen Armen. —
Wir erwarten schon durch das Aeußere des Bildes in eine, der Situation angemessene
Stimmung versetzt zu werden; wir erwarten, daß, bei aller Jndividualistrung der
einzelnen Charaktere, doch ein Zug der Rührung und Trauer durchgehe, und zwar
einer Rührung und Trauer, wie sie Liebe und Ehrfurcht nur den auserwähltesteu Sterblichen
zollen. Das war die Aufgabe des Künstlers, wenn er das Poetische, das in seinem
Vorwurf lag, zur Erscheinung bringen-wollte. — Schrader's Phantasie hatte nicht die
Energie, mit diesem allgemeinen Gefühl jedes Einzelne zu durchdringen, er vermochte
nur, sich einzelne Charaktere neben einander zu denken, wie sie mit mehr oder weniger Theil¬
nahme (und zu den letzten gehört leider der König selbst) um den Sterbenden ver¬
sammelt sind, wie es wol im Leben in dergleichen Fällen geschehen mag, aber einer
künstlerischen Darstellung unwerth ist. — Ju der Mitte auf einem Lehnstuhl Leonardo
da Vinci erschöpft in den Armen des Königs; vor ihm knieend der Arzt, rechts von
dieser Hauptgruppe ein betender Geistlicher, noch weiter rechts und mehr zurück ein
Priester knieend und ein Chorknabe, der das Rauchsaß schwingt — links ganz im
Vordergründe ein Jüngling (etwa ein Schüler Leonardo's) in ängstlicher Spannung vor¬
gebeugt, weiter zurück links des Bildes ein älterer Freund oder Kuustgcnossc, das Haupt
in die Hand gedrückt, zwischen ihm und der Hauptgruppe, doch etwas weiter zurück zwei
Hofleute im Gefolge des Königs, im Hintergrund das verlassene Bett, allerlei Geräth-
schaften und eine Durchsicht in das Künstler-Atelier, in dem man das,Portrait der
Monna Lisa, mit dessen Ausführung sich der Künstler noch zuletzt beschäftigte, und die
Statue des Avollino, die er bei seiner Proportions-Lehre benutzte, erblickt. — Die
Figur Leonardo's ist gelungen; aber Franz durfte dem Kranken nicht eine blos ccremo-
uielle Freundlichkeit erweisen, denn so sieht der König aus. Der Arzt, mehr trübe re-
signirt, als gespannt, sich von der selbst nicht mehr geglaubten Wirksamkeit seiner letzten
Heilmittel überzeugend, sieht eher einem Quacksalber ähnlich, der plötzlich herbeigerufen
wurde, als einem Arzt, der einem ausgezeichneten und vom Könige geehrten Manu in
schwerer Krankheit beisteht. War es vielleicht die Absicht des Künstlers, hierdurch den
plötzlich tödtlichen Anfall anzudeuten, so war das weder schön, noch macht es die
Situation klarer. Die Hofleute im Gefolge des Königs mußten mit ehrfurchtsvoller
Würde in dessen Gegenwart und voll wärmerer Theilnahme in Gegenwart eines vom
Könige geliebten Sterbenden erscheinen; sonst mußte sich Franz zu diesem Gange andere
Begleiter wählen, eine vornehme Gleichgiltigkeit war hier am wenigsten um Platz, da
durch ehrfurchtsvolles Betragen des begleitenden Hofgesindes der königliche Besuch eine
noch ehrendere Bedeutung gewonnen hätte (und das war doch liier ein Haupt-
moment). Auf diese Weise wäre jedem Individuum sein Recht geschehen und doch alle
ins Ganze aufgegangen, während nun dem Bilde die poeiische Einheit und somit in
diesem Falle der poetische Inhalt mangelt. — Eben so wenig werden wir dnrch das
Aeußere des Bildes in die richtige Stimmung gebracht; — statt eines matten, gebrochenen
Lichtes, wie wir es in dem Zimmer eines schwer Kranken erwarten, fällt ein entschiedenes
breites Licht auf alle Figuren, und das Bild würde dadurch einen fast heitern Ein¬
druck machen, wenn nicht freilich die Farbenstimmung, wie in allen Bildern des Künstlers,
einen ernsten Charakter trüge. Das sonst verständige Arrangement zeigt hier und da
manches Absichtliche und Ueberladcne, so bliebe der Stuhl, auf dem Schwert und Mantel
des Arztes liegen, besser weg, es würde dann der Raum neben der Hauptgruppe bis
zu dem Geistlichen am Altare und dem räuchernden Chorknaben (die man auf diese
Weise ganz zu sehen bekam) sich hin vertiefen, wodurch die Hauptgruppe entschiedener
vor der eben erwähnten heraustreten würde; auch sind manche Anordnungen im Costum
störend: so passen die derben Lcderschnhe Leonardo's und die ziemlich schweren Stiefel
des Königs nicht zu seinem sonst eleganten Anzug. — Uebrigens hat, um auf das
Ganze zurückzukommen, Schröder alle Kraft der Technik zugewendet, und das Bild ist
mit einer Meisterschaft gemalt, die namentlich in deutschen Bildern selten gesehen ist und
die wir nicht genug anstaunen können. Um so weniger können wir den Wunsch unter¬
drücken, daß ein so begabter Künstler sein Streben mehr dem Inhalt, als den Mitteln
zuwenden möge, die ihm in so selten hohem Grade zu Gebote stehen. Wir glauben
allerdings, daß Schrader's Talent mehr Darstellungsvermögen, als poetischen Inhalt
hat; um so mehr ist es seine Pflicht, diesem sein ganzes Streben zuzuwenden und
seine Phantasie zur größtmöglichster Energie zu spannen. Daß Schrader hierin Be¬
deutenderes leisten konnte, das zeigen uns einzelne Figuren in diesem Bilde, wie Leonardo
da Vinci selbst, ferner der besorgt vorgebcngtc Jüngling im Vordergrunde, der ältere
Freund, der sein Gesicht abgewendet hat, vor Allem aber der Messe lesende Geistliche,
der bei seiner amtlichen Verrichtung sichtbar innerlich ergriffen ist. In Bezug auf
die sonst meisterhafte Malerei haben wir noch einen Wunsch: daß Schrader die Energie
seiner Behandlung mehr modificiren möge; es fordern, während manchen Theilen freilich
der breite Pinsclstrich angemessen ist, andere feinere Theile doch eine subtilere Behandlung.
Der überall angewandte derbe Strich drängt sich dem Auge sast mit einiger Coauetterie
auf und scheint mehr seiner selbst, als des dargestellten Gegenstandes wegen da zu sein,
der hiebei hin und wieder zu kurz kommt, so u. A. die behandschuhte Hand des
Königs. — — Die Ausführlichkeit unsrer Kritik entsprang aus dem lebhaften Wunsch,
daß ein so bedeutender Künstler sich nicht der Kunst entziehen möge, um sich der Virtuo¬
sität in die Arme zu werfen; er möchte dann die traurige Erfahrung machen,
daß seine Bilder beim ersten und zweiten Anblick angestaunt werden, dann aber mit
jedem neuen Anschauen den Beschauer kälter lassen.
Stille. Die Söhne Eduard's des Vierten werden von Richard
dem Dritten ihrer Mutter in der W estminsterkirche entrissen. — Uns
ist lange kein Bild zu Gesicht gekommen, das so sehr den Charakter eines ehemaligen
Düsseldorfer trüge. — Es ist eine lobenswerthe Absicht darin, aber es fehlt Leben,
Charakter und Ausdruck in der Figur: mir glauben ihnen allen nicht, sie machen
mehr oder weniger Stellungen, namentlich König Richard und der junge Prinz von
Wales. Am gelungensten ist die Figur der Königin, aber sie ist zu weichlich sentimen¬
tal, nicht die in innerste Tiefe erzitternde Muttersecle, die für ihre Kinder Alles fürchtet.
König Richard sieht aus wie ein malitiöser Mensch mit einem Zug von Ironi¬
schem, der zu seinem Vergnügen Kinder ängstigt; Nichts von dem festen Mark des
tapfern Kriegers, Nichts von der zähen Energie des überlegten Bösewichts. der durch
gransame List und schamlose Gewalt jedes Hinderniß beseitigt, das seinem kühnen Zweck
im Wege steht. — Dazu ist Zeichnung und Malerei zu zahm und kleinlich. Es scheint,
als ob Stille und manche Andere zu sest auf den früher leicht erworbenen (wenn auch
damals gerechtfertigten) Ruf bauen. Sie vergessen, daß die Kunst seit jenen zwanzig
Jahren gewaltig fortgeschritten ist; sie dürfe» es sich nicht zu bequem machen, sie müssen,
wie jeder Andere, mit vollster Anstrengung arbeiten, wenn sic die wankenden Trümmer
ihres meist schon gesunkenen Ruhmes stützen wollen. —
Steffens. Sophonisbe, .Gemahlin des numidischen Königs Masi-
nissa, ist im Begriff, Gift zu trinken, um nicht den siegreichen Römern
beim Einzuge des Scipio in die Hände zu fallen. — Sophomsbe steht da
in ihrem Entschluß fest, und nur vor der Bitterkeit seiner Ausführung noch einen Augen¬
blick zögernd. Sie erscheint gleich bemitleidenswert!) durch ihr Schicksal, als achtung-
fordernd durch die Entschlossenheit, mit der sie ihm begegnet. In Kopf und Gestalt
ist Wärme des Lebens und tragischer Ernst, der natürlich in jenem das herrschende Ele¬
ment ist, mit feinem Tact vereinigt. Dieser Tact ist's überhaupt, der in dem Bilde
so wohl thut. In Formen und Farbe ist der Charakter der Race angedeutet, ohne daß
sich eine zu scharf markirte Eigenthümlichkeit desselben unangenehm bemerkbar machte;
(im Gegentheil das Streben nach Schönheit ist unverkennbar), so anch in der ganzen
Umgebung und der Landschaft. Mit eben so richtigem Gefühl hat der Künstler das
Gesicht der weinenden Sclavin zu Sophonisbe's Füßen verhüllt; einen ästhetischen Ein¬
druck konnte das weinende Gesicht eisses Weibes von an und für sich unschöner Race
nicht machen, und alles Ergreifende mußte ein sich so sinnlich äußernder Schmerz gegen
die tragische Würde Sophonisbe's verlieren, welcher das jetzt in der Sclavin nur an¬
gedeutete Motiv einen wohlthuende» Kontrast gewährt. Der Farbcnto» des ganzen
Bildes hat etwas stumpfes, wie es dein Gegenstände angemessen, wie überhaupt das
Bestreben sichtbar ist, nach allen Seiten hin den Anforderungen des Gegenstandes zu
genügen. Vergleichen wir das Bild mit der Semiramis, so giebt dieser Vergleich
el» evidentes Beispiel, wie sehr ein Bild, das ohne poetischen Inhalt in.imposanter
Form auftritt, gegen eines zurücksteht, dessen poetischer Inhalt wirklich innen gefühlt,
und dessen Form vom Inhalt- beherrscht wird. —
Lentze. Uebergang des General Washington über den Delaware
am 26. December 1776. — Der Malersah sich genöthigt, da dieses Bild bei einem
in seinem Atelier ausgebrochenen Brande zum Theil beschädigt wurde, es noch einmal
zu. malen. Wir haben hier das unvollendet gebliebene, es ist fast nur untermalt.
Und dennoch bringt es uns in die rechte Stimmung. — In der trüben Winternacht,
die vortrefflich angedeutet ist, sehen wir auf einem Kahn Washington, umgeben von
einigen Führern und Soldaten, die zum Theil damit beschäftigt sind, hemmende Eis¬
schollen mit Stangen und Rudern wegzuräumen, sich den Uebergang über den Fluß
erzwingen, andere Boote folgen in der Ferne. In Washington's Ausdruck und Haltung
liegt ganz die gewaltige bewußte Ueberlegenheit und Energie in diesem Moment der
Entscheidung mit einem Zug gespannter Erwartung gemischt. Er, mit den beiden
Kriegern hinterher, die das Banner des freien Amerika in den Händen halten, bilden
eine vortreffliche mächtige Gruppe; eben so wirksam ist in ihrer Weise die Gruppe' der
in der Kälte zwar ein wenig zusammenkauernden, ihr aber doch im Bewußtsein ihres
Zweckes ruhig trotzenden Soldaten. Man traut ihnen allen etwas zu, es sind wirkliche
Helden der Freiheit, sie werden siegen. Köpfe und Gestalten sind charakteristisch und
lebendig gedacht und gegeben; bei einigen davon, welche bemüht sind, die Eisstücken ans
dem Wege zu räumen,, spricht sich die ganze Hast der Ungeduld aus, einige andere, und
dies sei unser einziger Tadel, sind etwas zu materiell mit dem sie hemmenden Element
beschäftigt, auch sie müßte der allgemeine Zug der Freiheit sichtbarer durchwehen. Es
wäre vielleicht günstiger gewesen, eben überwundene große Hindernisse anzudeuten, wo
dann nur noch wenige mit letzter gewaltiger Kraft von bedeutenden Eismassen abstoßen
konnten; etwa am Hintertheil des Bootes, welches dann wenigstens momentan einen
freien Zug gewann, der sich der Mannschaft hätte mittheilen können. Doch sind die
Borzüge des Bildes so bedeutend, daß wir uns gern mit unsrem Wunsche bescheiden,
denn die Hauptsache hat der Künstler erreicht, er hat uns in die Sache hinein
versetzt, und er hat es vermocht ohne Aufwand von Technik. (Fortsetzung folgt.)
— Wir haben in der letzten Zeit mit
großer Befriedigung das allgemeine Streben der Gelehrten wahrgenommen, mit der
Strenge der wissenschaftlichen Forschung auch jene Form zu verbinden, die ihre Dar¬
stellungen dem größern Publicum zugänglich machte. Namentlich ist das in der histo¬
rischen Forschung der Fall. Als einen werthvollen Versuch in dieser Richtung führen
wir heute eine historische Monographie an: König Philipp der Hohenstaufe.
Von or. Heiwrich Abel. (Berlin, W. Hertz.) Das Werk zerfällt in zwei Theile,
von denen der zweite, der dem ersten an Umfang nicht viel nachgiebt, die wissenschaft¬
lichen Belege und Begründungen enthält, während der erste sich blos mit der Darstellung
beschäftigt. Den wissenschaftlichen Werth des Werkes im Verhältniß zu früheren For¬
schungen festzustellen, überlassen wir natürlich den wissenschaftlichen Zeitschriften. Was
die Form der Darstellung betrifft, so ist sie, wenn wir von einer kleinen Neigung zu
rhetorischen Wendungen absehen, eine durchaus lobenswerthe. Die Charaktere sind fest
und bestimmt gezeichnet, die Ereignisse verständig gruppirt. Daß der Schluß des Buchs,
Philipp's Tod, keinen genügenden Abschluß macht, hat der Verfasser selber gefühlt, und
daher eine Fortsetzung versprochen. — Wir haben noch zwei Bücher von zwei Schrift¬
stellern, die ihrer Zeit großes Aussehen gemacht haben, die aber seit der Zeit ziemlich
verschollen sind, anzuführen: Geschichte der Reaction, von Max Stirn er (Berlin,
allgemeine deutsche Verlagsanstalt), und: Das Geheimniß des Worts, von
Ludolf Wienbarg (Hamburg, Carl Ane). — Der Erste wurde bekanntlich eine
Weile als höchste Spitze der Hegelianischen Philosophie gefeiert und verketzert; der
Zweite galt unter seinen Bekannten für den geistreichsten Mann des jungen Deutschland.
Herr Stirner ist diesmal von seinen trunkenen Freiheitsdithyramben vollständig abge¬
gangen; er giebt blos Materialien, dder bestimmter gesagt, Collectaneen, und
überläßt es dem Leser, was er daraus machen will. Von irgend welcher Verarbeitung
ist nicht die Rede. Herr Wienbarg dagegen vertieft sich in eine Mystik, die einen sast
beunruhigenden Eindruck macht. Er sucht nämlich aus der Natur der Laute eine Art
Ursprache herzuleiten, giebt eine Symbolik der Gaumenbuchstabcn, der Lippcnbuchstabcn
u. s. w., und benutzt dazu alte und neue Sprachen bunt durch einander, und das Alles
mit einem Ernst und einem Eiser, der zwar als das Gegentheil der alten jungdeutschen
Frivolität aufgefaßt werden kann, aber um Nichts gesunder ist.
— Wir führen einige Werke zur Bereicherung der
Länder- und Völkerkunde an. — Von Daniel B. Woods: Sechzehn Monatein den
Golddistricten (von Kalifornien). — Von Thomas Thomson: Der westliche Hima-
laya und Tibet. — Von Henry Schoolcraft: Historische und statistische Unter¬
suchungen über die Geschichte, Lage und Aussichten der Indianischen Stämme in den
Vereinigten Staaten. — Von Philip Henry Gosse: Assyrien, seine Sitten, Ge¬
bräuche, Künste u. s. w., nach den alten Monumenten dargestellt.— Von Sutherland:
Reisetagebuch aus der Baffinsbay in den Jahren 1850 und 51, von den Schiffen Lady
Franklin und Sophia, unter dem Commando des Sir William Penny. —
— In Berlin ist am 27. September zur Geburtstagsfeier Nungen-
hagens von Hermann Küster, einem Schüler Rungenhagen's und Grell's, ein
dramatisches Oratorium zur Ausführung gebracht worden: „Johannes der Evangelist."
Der Componist, von dem aus früherer Zeit zwei ähnliche Versuche vorhanden find:
„Die Erscheinung des Kreuzes," und „Hermann der Deutsche", hat damit eine neue
Gattung begründe» wollen, die das epische Element ausschließe, die singenden Personen
aber organisch in die Handlung des Ganzen versiechte, aber auf Action und Decora-
tion verzichte; sie solle den größeren und strengeren Kunstformen ihr Recht Wiedersahren
lassen, und ohne jeden musikalischen und dramatischen Effect (?!) ein wirkungsvolles
Ganze sein." Nach dem Berichterstatter der Berliner musikalischen Zeitung ist der
Versuch verfehlt, weil er aus dem religiösen Charakter heraustritt. --
Im zweiten Leipziger Gew.andhauscvncert wurde die Ouvertüre zur Euryanthe und
Spohr's Weihe der Töne ausgeführt. Als Virtuos trat ein Geiger, Herr Laub aus
Prag, auf; im ersten Concert hatte ein Harfner, Herr John Thomas aus London, sich hören
lassen. — Als Bemerkung erlauben wir uns heute die Bitte an die Inspektion zu
richten, mit dem Gas etwas weniger sparsam zu sein; der Mensch will doch gern sehen,
wo er ist. —
— Aus Wien erwähnen wir unter anderen Aufführungen: „Viel
Lärmen um Nichts" (Benedict: Herr Dawison; Beatrice: Frl. Neumann) und „Wallen-
stein's Tod;" in Vorbereitung ist u. A. das neue Stück von Otto Ludwig: „Die
Makkabäer." Otto Prcchtler hat ein neues Stück beendet: „DaS Urtheil der Welt."
— In Weimar wurde am 18. September Hebbel's „Agnes Bernauer" zum ersten
Mal gegeben, ohne erheblichen Erfolg. — In Berlin ist Calderon's „Leben ein Traum"
aufgeführt (Sigismund: Hr. Hendrichs; Rosaura: Frl. Viereck; Estrella: Frl. Fuhr).
— Als Bassist an Salomon's Stelle ist i» Berlin Hr. Steinmüller engagirt. — Die
neue italienische Oper scheint, mit Ausnahme des Frl. Fodor, die ihren alten Ruhm
behauptet, aus nicht sehr erheblichen Kräften zu bestehen. — In Hannover ist die fran¬
zösische Bearbeitung von Calderon's „Lautes Geheimniß": „Fächer und Handschuh" mit
großem Erfolg aufgeführt. — Die Tänzerin Frl. Lucile Grahn giebt Gastrolle»
in Wien. — Josephine Weiß, die Vorsteherin des bekannten Kindcrballcts, bat sich
im Oestreichischen ein Rittergut getauft. Sie muß also doch gute Geschäfte gemacht
haben. — Eduard Devrient wird, wie es heißt, schon im Oetober die Leitung der
Karlsruher Bühne übernehmen. — Wie Hector Berlioz berichtet, wird der Chef der
Claqueurs in Paris nicht von den Directionen, besoldet, sondern er zahlt denselben eine
ziemlich erhebliche Pacht. — Madame Ca stell an hat am 5. Oetober in Lissabon als
Nachtwandlerin debntirt. — Henriette Soutag ist am 8. September in New-Uork
angekommen und mit großen Huldigungen empfangen worden. — Heinrich Marschncr
bleibt dem Hannöverschen, Franz Dinge Ist ete dem Münchener Theater, erhalten,
beides zu unsrer großen Befriedigung. — Im Theater as la ?orde Le. IVlarlin wird eine
französische Bearbeitung von Shakspeare's Richard III. mit Musik von De Groot aufgeführt.
— Die Aufklärungen über die geheimen
Artikel des Septembc» Vereins, die neuerdings durch die Presse bekannt gemacht sind,
lassen uns auf den bedenklichsten Punkt dieser Angelegenheit mit größerer Beruhigung
blicken. Wir meinen die Stimmung Hannovers. Es zeigt sich, daß einerseits alles
Interesse dieses Staats aus Erhaltung jenes Vertrags gerichtet sein muß, daß anderer¬
seits kein rechtlicher Vorbehalt vorliegt, ihn zu brechen. Die hannöversche Regierung ist
aber nicht von der Art, diese beiden Umstände zu ignoriren. Da aus diese Weise Preußen
ruhig und sicher seinen Weg fortgehen kann, so sollten seine Anhänger jede überflüssige
Herausforderung, Alles, was nach Großsprecherei aussieht, vermeiden. Dahin rechnen
wir z. B. die Anforderung an die preußische Regierung, die, Circulation des Cvalitious-
PapiergeldcS zu verbieten. Was soll dieser Unsinn? Auch sollte mau nicht zu eilfertig
von der Verlegung der Leipziger Messe nach Berlin sprechen. Zwar sind auch wir
überzeugt, daß eine etwaige Zolllinie nördlich von Leipzig sür die Einwohner Leipzigs,
namentlich die Hausbesitzer, die bedenklichsten Folgen haben wird: vielleicht eben so sehr
dnrch den panischen Schreck, als durch die wirklich damit verbundenen Uebelstände. Denn
wenn erst einzelne Auswanderungen anfangen, so wird mau alle Häuser loszuschlagen
suchen, und daraus wird eine Kalamität hervorgehen, die über die Nothwendigkeit hin¬
ausgeht. Aber man soll die Sache nicht übertreiben; und im Uebrigen wirkt ja jede Kala¬
mität, die den einen deutschen Staat griffe, aus alle andere» zurück. Die Deutschen mögen
und sollen unter einander streiten, den» die Sachen stehen noch nicht so, wie sie stehen solle»;
aber sie mögen streiten, wie Männer, die sich eigentlich einander recht lieben wollen, und
nur noch nicht einig sind, wie. — Was die Coalitionsprcsse betrifft, so hat sie die
Entdeckung gemacht, bei dem Septcmbervcrein wäre es eigentlich ans den Sturz Man-
teuffel'S abgesehn gewesen; die Feinde der preußischen Regierung, d. h. die Liberalen
hätten auch dieses Werk des Unheils zu Stande gebracht, und jetzt stände die erstere
wieder im Bunde mit der Demokratie gegen die Landeshoheit. — Was wir doch sür
schlaue Intriguanten und gewitzte Verschwörer sind! Daß Herr von Manteuffel nur ein
Werkzeug in unsren Händen ist, dieses ist uns äußerst überraschend und schmeichelhaft. -—
Wir bespräche» vor einiger Zeit das Buch von Prof. Hinrichs:
„Die Könige" und theilten mit, daß es dem Herzog von Coburg-Gotha gewidmet sei,
als einem Fürsten, dem die Nation nicht genug Achtung beweisen könne; wir hören, daß
diese Widmung die freundlichste Aufnahme gesunden hat.
Nach neunjähriger Abwesenheit kehrte Sir Arthur Welleöley im September
1805 nach England zurück, belohnt mit dem Generalmajorspateut, dem Comthurkreuz
des Bathordens, und dem öffentlichen Dank von König und Parlament. Jetzt
erhielt er auch einen Sitz im Unterhause, wurde Secretair für Irland und ge¬
heimer Staatsrath, und war für die nächsten drei Jahre meistens im Civilstaats¬
dienste seines Vaterlands beschäftigt. Nur eine Expedition uach Bremen, die in
Folge von Napoleon'S Sieg' bei Austerlitz ohne alle Resultate blieb, nud eine
audere von größerer Erheblichkeit nach Dänemark, fallen in diese Zwischenzeit.
Wellesley zeichnete sich während der letzteren durch das glückliche Gefecht bei
Kioghe aus, wo er deu Dänen 1500 Gefangene und 1i Kanonen abnahm — der
erste Sieg des Sepoygencrals über europäische Truppen; auch übertrug man ihm
die Unterhandlungen wegen der Kapitulation von Kopenhagen.
Damals stand Napoleon ans dem Gipfelpunkte seiner Macht. Rußland war -
aus einem Feinde ein Verbündeter geworden, gelockt durch die trügerische Aussicht
mit dem Bezwinger Enropa's die Herrschaft über das Festland theilen zu dürfen;
Oestreich war niedergeschmettert, Preußen so gut wie vernichtet. Durch eine in
der Geschichte noch nie dagewesene Hinterlist hatte Napoleon sich der ganzen
pyrenäischen Halbinsel bemächtigt, die Bourbonen aus Madrid, die Brcigcmza's
aus Lissabon vertrieben, und seinen Bruder zum, König von Spanien gemacht.'
England stand allein noch ungebeugt da, aber die Waffen, mit denen es seinen Tod¬
feind zu bekämpfen gewohnt war, die Armeen der Koalitionen, standen ihm nicht mehr
Zur Verfügung. Jedoch die Unersättlichkeit Napoleon's brachte jetzt neue Streit-
kräfte auf die Bühne des Wettkampfs. Die Portugiesen und Spanier standen wie
ein Mann auf, eine französische Armee mußte bei Baylcn vor einem zusammen¬
gerafften Volköheer die Waffen strecke», König Joseph eiligst ans Madrid fliehen,
und Junot konnte sich nur mit Mühe in Lissabon halten. Den heldenmüthigen
Widerstand der Spanier beschloß England durch ein Hilfscorps zu unterstützen.
Sir Arthur Wellesley eilte in einer schnellsegelnden Fregatte der Expedition vor¬
aus, um die militärischen und politischen Verhältnisse vorerst genauer in Augen¬
schein zu nehmen; anch sollte er die ersten Operationen der Armee leiten, nachher
aber das Kommando Sir Harry Bnrrard übergeben, der wieder von Sir Hew
Dalrymple abgelöst werden sollte. Schon nach den ersten Besprechungen mit
den aufständischen Junten erkannte Sir Arthur die Lage der Dinge richtiger, als
das durch Bewunderung des Heldenmuthes der Spanier hingerissene englische
Publicum und das durch die Agenten der Junten getäuschte Ministerium.
Allerdings war das Volk haßerfüllt bis zum Fanatismus, und zum energischeste»
Widerstand entschlossen, aber der Aufstand war ohne alle Organisation, die von
den Patrioten ausgehobenen Truppen waren elend ausgerüstet, ohne Dis¬
ciplin, viel schwächer, als angegeben worden, und von unfähigen Führern
befehligt, die nationale Hartnäckigkeit und Eitelkeit jedem guten Rath unzu¬
gänglich machte. > Die Kapitulation von Baylen hatte allerdings ein französisches
Corps vom Kriegsschauplatz verschwinden machen, und den Süden befreit, aber
im Norden war die ungeheure Uebermacht der französischen Waffen noch ungeschwächt,
und hinter den Pyrenäen stand Napoleon mit einem Heere zu einem neuen Einfall
bereit. In Portugal gestalteten sich die Verhältnisse etwas günstiger. Seine geogra¬
phische Lage ließ die Communication mit England offen, die unmittelbare Nähe der
Flotte machte die Verpflegung von dem auögesangten Lande unabhängig, und hatte
man hier einmal festen Fuß gefaßt, so bildete das Land eine Art Brückenkopf, von dem
aus man nach Belieben nach allen Theilen Spaniens operiren konnte. Junot, von
aller Verbindung mit den anderen französischen Corps abgeschnitten, hatte nur
2S,000 Maun, von'denen er 10,000 in der unmittelbaren Nähe von Lissabon
halten mußte. 7000 Mann uuter Laborde bildeten ein fliegendes Corps, um
den Aufstand niederzuhalten und der drohenden Landung der Engländer zu be¬
gegnen; mit L000 Mann hielt Loisou den Norden, und der Nest war. dnrch
nothwendige Entsendungen zersplittert. Hierauf gründete Sir Arthur seinen
Operationsplan. Anfang August landete er mit 9000 Mann in der Mondegobay,
sah sich bald darauf durch eine andere Expedition verstärkt, und setzte sich am
9. August mit 13,000 Mann gegen Lissabon in Bewegung. Er marschirte die
Seeküste entlang, um in steter Verbindung mit der englischen Flotte zu bleiben,
denn er mußte nicht nur für die Verpflegung des eigene», sondern auch sür die
des aufständischen Heeres sorgen. Schon am 17. stieß er bei Roliya auf Laborde,
und" erfocht hier seinen ersten Sieg gegen die Franzosen. Nun wendete er sich
gegen Junot, der auf .den Höhen von Torres Vedras stand, und hatte schon alle
Einleitungen getroffen, ihn von Lissabon abzuschneiden oder zum schleunigen Rück¬
züge zu nöthigen, als die Ankunft Sir Harry Burrard's ihn in seinen Operativ-
um lähmte. Ohne vom Schiff an's Land zu gehen, befahl ihm dieser, bei Vimiero
Halt zu machen, um die Ankunft eines neuen englischen Corps unter Sir I. Moore
abzuwarten. Vergebens stellte Sir Arthur seinem Obern vor, welch günstige
Gelegenheit, Portugal vom Feinde zu befreien, damit ans der Hand gegeben
würde — er durfte nicht angreifen, und wurde um, wie er vorausgesagt, selbst
von Junot angegriffen, der aber eine vollständige Niederlage erlitt. Sie hätte
zur Vernichtung des französischen Heeres geführt, ohne die Energielosigkeit des
neuen unterdeß aus England angekommenen Befehlshabers, Sir Hugh Dalrymple,
dessen Respect vor deu französischen Waffen noch so unerschüttert war, daß er
mit Junot den Waffenstillstand von Cintra abschloß, der alle Vortheile wieder
aus der Hand gab, und um die,Räumung Portugals durch die Franzosen stipu-
lirte. Da Wellesley den Waffenstillstand ans Befehl seines Obern unterzeichnet
hatte, traf der erste Sturm der Entrüstung der englischen Nation ihn, aber die
darauf folgende Untersuchung sprach ihm nicht nur von allem Tadel frei, sondern
stellte seine Verdienste in das hellste Licht. Der „Sepoygeneral" verstand nicht
blos mit Halbbarbaren zu fechte»; er hatte die gefürchteten französischen Truppen
in offener Feldschlacht überwunden. Er verließ jedoch die pyrenäische Halbinsel,
hatte aber noch die Freude, seiue Verdienste durch ein Ehrengeschenk seiner Waffen-
gefährten anerkannt zu sehen.
Es zeigte sich bald, daß er der belebende Geist im englischen Heere gewesen
war. Seine Thätigkeit hatte die Franzosen ans Portugal vertrieben, und auch
auf die spanischen Patrioten ermuthigend eingewirkt. Nur noch einen Theil der ge¬
birgigen Districte nördlich vom Ebro hielten SO bis 60,000 Franzosen besetzt,
während die spanischen Streitkräfte, angeblich fast doppelt so stark, jene in einem
weiten Bogen von Bilbao bis Barcelona umschlossen, und 30,000 Mann Eng¬
länder zur Mitwirkung bereit standen. Aber die Vortheile der Verbündeten waren
mehr scheinbar als wirklich. Die spanischen Truppen waren zwar voll Enthusias¬
mus, aber sonst fehlte ihnen Alles. Die die Verwaltung des Landes leitenden
provinziellen Junten handelten alle unabhängig von einander, und eine Centrali¬
sation derselben wollte nicht gelingen. Die Folge davon konnte um Uneinigkeit,
Verwirrung, Ratlosigkeit, und ein durch die letzten Erfolge bestärkter Geist der
Insubordination sein. Die Franzosen dagegen hatten die ungeheuren Hilfsquellen
ihres Landes unmittelbar hinter sich; und Napoleon, entschlossen, dem Widerstand
der Spanier ans immer ein Ende zu machen, bereitete mit gewohnter Energie
einen seiner entscheidenden Schläge vor: die Armee hinter dem Ebro wurde rasch
auf 130,000 Mann verstärkt, und Napoleon selbst stellte sich an ihre Spitze.
Bevor noch Sir I. Moore mit seinen 28,000 Engländern die Spanier hatte wirksam
unterstützen können, waren diese wie Spreu vor dem Winde vor dem mächtigen
Anfall Napoleon's zerstoben, und Letzterer war schon am i. December wieder
Herr von Madrid, und richtete jetzt seine ganze Macht gegen Moore, der sich
eiligst und mit großem Verlust nach Corunna zurückziehen und dort einschiffen
mußte. Der Schluß des Jahres -18-10 sah die Franzose» wieder im unbestrittenen
Besitz der pyrenäischen Halbinsel mit Ausnahme Andalusiens und Portugals,
welches letztere noch 10,000 Engländer besetzt hielten, zu deren Vertreibung Soult
bereits bis Oporto vorgerückt war.
In England hatte sich die anfängliche Begeisterung des Volks für den spa¬
nischen Krieg in Folge der allgemeinen Niederlage der Patrioten und des zwar
ehren-, aber anch vcrlnstvollen Rückzugs der Engländer nach Corunna bedeutend
abgekühlt ; aber das Ministerium hatte endlich erkannt, daß hier die schwächste
Stelle von Napoleon's Macht sei, und war entschlossen, England von nun an als
Hauptmacht im spanischen Kriege auftreten zu lassen. Dazu konnten jedoch nicht
mehr als höchstens 60,000 Mann englische Truppen verwendet werden, während
Napoleon 300,000 seiner besten Krieger in Spanien lassen konnte, ohne anderswo
übermäßig geschwächt zu sein. Außerdem wurde die Kraft der englischen Negie¬
rung in diesem Kriege gelähmt durch eine nicht immer gewissenhafte Opposition
im Parlament, die mit Geld nud Mannschaften knickerte, und von der voraus¬
zusehen war, daß sie jeden kleinen Nachtheil im Kriege, selbst wenn er mir vor¬
übergehend war, gegen die allgemeine Politik des Cabinets benutzen würde.
Ein General von so vorsichtigem und zugleich so kühnem Charakter, wie Sir
Arthur Wellesley, war ganz der Mann für solche Verhältnisse, und es war daher nur
natürlich, daß man ihn zum Befehlshaber in dem nenzneröffnenden Feldzuge in Spa¬
nien wählte. Er selbst-zweifelte nicht im mindesten an seinem endlichen Erfolge. Er
kannte die ganze Stärke der strategischen Lage Portugals, das er abermals zum Aus¬
gangspunkt seiner Operationen zu machen gedachte, und hoffte in den gelehrigen und
fügsamen Portugiesen besseres Material zu einer nnter englischen Officieren zu organi-
sirenden Armee zu finden, als in den nnlenksamen und gegen Fremde mißtrauischen
Spaniern. Diese Hoffnung täuschte ihn nicht; denn es gelang seinem Geschick
und .seiner Ausdauer, in nicht sehr langer Zeit ein portugiesisches Corps von
1ö,000 Mann zu organisiren, das ihm stets eine sehr nützliche Hilfe war.
Die Sachen standen mißlich bei Sir Arthur's Ankunft im Tajo. Die eng¬
lischen Truppen waren entmuthigt und die Portugiesen mißtrauisch geworden;
Soult stand in Oporto mit 24,000 Mann, und Victor und Lapisse drohten mit
30,000 von Estremadura und Leon ans. Dieser Macht sollte WelleSlcy mit
20,000 Engländern und -is,000 Portugiesen die Spitze bieten. Rasch entschlossen
zieht er mit 2i,000 Mann zuerst gegen den gefährlichsten Gegner, gegen Soult,
der in sicherer Stellung hinter der starken Duervlinie seiner wartete. Angesichts
des Feindes geht der englische Feldherr über den Fluß, erzwingt durch das kühne
Manöver die Räumung der für fast unüberwindlich gehaltenen Stellung, und setzt sich
Abends in Oporto zum Diner nieder, das der feindliche Marschall für sich hatte be¬
reiten lassen. Nur nach großen Verlusten gelingt es Soult, sich mit Ney zu vereinigen.
Politische Rücksichten nöthigten Sir Arthur, nach dieser glänzenden Waffenthat
den Spaniern zu Hilfe zu eilen, und mit einer durch Gefechte und Krankheiten
decimirten, schlechtbekleidcten und schlechtbezahlten Armee gegen Madrid vor¬
zurücken. Vereinigt mit Cuesta schlug er hier die Augriffe der fast doppelt so
starke» Frauzosen bei Talavera in einer blutigen Schlacht zurück, und stellte damit
das relative Uebergewicht englischer Truppen über französische außer Zweifel.
Aber austatt Ruhm im Vaterlande, erntete er nur bittere Angrisse von der Op¬
position, und die City von London übergab eine Petition gegen „die Unbesonnen¬
heit, Ostentation und nutzlose Tapferkeit" des Feldherrn, dem Thiers mir die
phlegmatische Zähigkeit des Engländers zugesteht. Die Krone verlieh ihm 'die
Pairswürde unter dem Titel „Baron Dourv von Welleslcy, und Viscount Wel¬
lington von Talavera, und von Wellington in der Grafschaft Somerset;" aber das
Ministerium bedeutete ihn zugleich , daß er auf weitere Unterstützung vom Hause
nicht rechnen könne, und daß er die Verantwortlichkeit für den Krieg ganz
ans sich nehmen müsse.
Die Schlacht von Talavera veranlaßte Napoleon zu einer eben solchen Kraft-
anstrengung wie die von Vimiero. Neun französische Corps, zusammen 280,000
Mann stark, befehligt von den Marschällen Ney, Soult, Massena, Victor und
Mortier wälzten sich über die Pyrenäen, um die Unterjochung der spanischen Halb¬
insel zu vollenden. Wellington hatte ihnen im Felde nur SS,000 Manu entgegen¬
zustellen, wovon 30,000 Portugiesen waren, die BercSsvrd zu ausgezeichneten
Soldaten herangebildet hatte. Von Spanien war ans keine Unterstützung mehr
zu rechnen. Taub gegen Wellington's weise Rathschläge hatten sich die spanischen
Generäle in eitler Zuversicht den französischen Armeen gegenübergestellt, und
waren so total geschlagen ^worden, daß nur uoch Gibraltar und Cadix von den
Franzosen unbesetzt blieben. Die provisorische Regierung besaß weder Ent¬
schlossenheit, noch Aufrichtigkeit, das britische Heer litt Noth an Allem, und Wel¬
lington konnte um keinen Preis die spanischen Führer zu der geringsten Unter¬
stützung des Heeres vermögen, welches die letzte Schutzwehr der Freiheit Spaniens
war. Ultter solchen Verhältnissen, mit einer vom besten Geist beseelten, aber
numerisch schwachen Armee, ohne moralische Unterstützung und Aufmunterung aus
dem Vaterlande, ohne Geld oder Zufuhren ans dem Kriegsschauplatz begann
'Wellington deu Feldzug von 1810 gegen Napoleon's besten Marschall mit
80,000 Mann Truppen in erster Linie und 40,000 in Reserve.
In einer solchen Lage war die Defensive geboten. . Wellington zog sich
wieder noch Portugal zurück, und verschanzte sich hier in den unüberwindlichen
Linien von Torres Vedras. Dem ungeduldig nachrückenden Massena lehrte er
bei Busaco größere Vorsicht, und wich langsam weiter zurück, bis der Mar¬
schall, der schon die Engländer Portugal räume» sah, plötzlich vor deu uuau-
reisbaren Schanzen von Torres Vedras stand. Es waren drei Fortificaitons-
reihen, deren letzte die Einschiffung deckte, aber der Feind dürfte nicht einmal
einen Angriff auf die erste wagen. Einen Monat lag er davor, auf eine günstige
Gelegenheit lauernd, bis ihm die gänzliche Erschöpfung des Landes zum wider¬
willigen Abzug zwang. Während draußen die Franzosen fast verhungert waren,
hatte innerhalb der Linien durch Wellington's weise Fürsorge der größte Ueber-
fluß geherrscht, und mit frischen Kräften folgten nun seine Truppen den abgematteter
Franzosen, die nur die Hälfte ihrer Anzahl über die portugiesische Grenze zurück¬
brachten. Die Schlacht von Fuentes d'Ouoro führte deu Fall von Alucita herbei,
und Wellington schritt nun zu der Belagerung von Ciudad Rodrigo und Badajoz,
um sich den Weg nach Spanien frei zu machen. Es gebricht uns leider an
Platz, aus einander zu setzen, dnrch welche geschickte und kühne Manöver die
Einnahme der ersteren Festung angesichts einer zur Deckung aufgestellten überlegenen
Macht unter Marmont gelang, nud wie ihr nach wenig Wochen, am 7. April
1812, der Fall von Badajoz folgte. Der Weg nach Spanien war nun endlich
frei, und siegessicher brach Wellington aus seiner bisherigen Festung Portugal
hervor.
Die Bedürfnisse des russischen Feldzuges hatten die französischen Streitkräfte
auf der Halbinsel zwar etwas geschwächt, aber als Wellington nun über Alucita
und Salamanca mit 40,000 Mann gegen die Pyrenäen vorrückte, stürzte er sich
doch mitten unter 270,000 Mann/ Obgleich durch weite Entfernungen und Eiser-'
snchteleien der einzelnen Generäle am Zusammenwirken verhindert, konnte Marmont,
der ihm unmittelbar gegenüber stand, doch zu jeder Zeit eine der englischen
numerisch überlegene Macht zusammenbringen. Einige Zeit lang verging in Be¬
wegungen, ohne daß es zur Schlacht kam, aber mit rascher Benutzung einer
augenblicklichen Blöße des vorsichtig mauövrirenden Gegners siel Wellington am
22. Juli bei Salamanca über ihn her, und schlug ihn vollständig mit dem Ver¬
lust seiner halben Armee. Ju Folge dieses Schlages floh Joseph aus Madrid,
Soult räumte Andalusien, halb Spanien war vom Feinde befreit, und seine Haupt¬
stadt im Besitz Wellington's.
Die aus Andalusien und Madrid zurückgezogenen Corps sammelten sich jedoch
um Suchet in Valencia, und nachdem Wellington vergeblich Burgos belagert hatte,
rückten abermals 70,000 Franzosen unter Soult und Joseph gegen den Tajo vor,
während 44,000 unter Souham den Rücken der englischen Armee bedrohten. Vor
dieser Uebermacht zog sich Wellington wieder nach seiner Stellung am Agneda
zurück, und traf hier seine Vorbereitungen zum Feldzug von 1813. Daß er ent¬
scheidend werden mußre, ließ sich bereits voraussehen. Die Erfolge des vorigen
Feldzugs hatte das englische Ministerium endlich in Stand gesetzt, die Armee in
Spanien bis auf 70,000 Mann zu bringen. Napoleon mußte dagegen nach dem
unglücklichen Ausgange des russischen Feldzugs nicht nnr beträchtliche Streitkräfte
zur Verstärkung aus Spanien heranziehen, sondern die ganz veränderte Kriegs-
läge in Deutschland machte eine nachhaltige Unterstützung seiner spanischen Armee
zur Unmöglichkeit. Vor Allein aber war jetzt Wellington unabhängig im Ober¬
befehl, denn die Cortes in Cadix hatten ihn zum „donemUsLimo ut wclos 1o«
vAereitos <Z8pcmoi<z8" ernannt, ein Titel, der ihm zwar wenig Zuwachs an wirk¬
licher Stärke verschaffte, aber doch den Vortheil hatte,' daß'er nun seine Opera¬
tionen nicht erst mit den eigensinnigen und unfähigen spanischen Generalen ver¬
abreden mußte? Von der Ueberlegenheit seiner siegbewußten Truppen über die
durch die Unglncköschläge schon entmuthigten Franzosen war er überzeugt, und
erfüllt von Vertrauen auf sie und der Vorahnung des Siegs erhob er sich, wie
er abermals die spanische Grenze überschritt, im Bügel, schwenkte den Hut und
rief „Lebe wohl, Portugal!" So begaun er den Marsch, der ihn bald über die
Pyrenäen und durch ganz Frankreich über Calais nach der Heimath führen sollte.
Bisher war der englische Feldherr aus seiner portugiesischen Festung stets auf
einer der beiden großen Straßen von Salamanca oder Talavera hervorgebrochen,
nud auch diesmal ließen geschickte Demonstrationen eine ähnliche Marschrichtung
voraussetzen. Deshalb hatten sich die Franzosen auf der Nordseite des Duero
gesammelt, um der englischen Armee bei ihrem Marsch nach Salamanca in die
linke Flanke zu fallen. Wellington warf aber seinen linken Flügel unerwartet auf
einen unbewacht gelassenen Punkt über den Duero, ließ ihm nach einigen Demon¬
strationen vor Salamanca seine ganze Armee folgen, und stand nun aus den Ver.
bindungslinien der Franzosen. Ohne Kampf mußte Joseph Stellung nach Stellung
räumen, und wagte endlich bei Vittoria eine Schlacht, die" mit der gänzlichen
Niederlage seiner Armee endete, und sie in wilder Verwirrung in die Pyrenäen
warf. Noch einmal erscheint Soult, um das Gleichgewicht der Waffen wieder
herzustellen; Maya und Sorauen sieht abermals die Franzosen unterliegen, Se.
Sebastian wird mit Sturm genommen, am -10. November überschreitet Wellington
die Bidassoabrücke, und die englische Armee, die vor fünf Jahren sich mir mit
Mühe in den Felsen Portugals hatte behaupten können, betritt als Sieger Frank¬
reichs Boden. Mit der Schlacht von Toulouse horte der Widerstand Soult's auf,
denn schon war Napoleon im Norden Frankreichs Blücher's Energie und den ver¬
einigten Waffen der Alliirten unterlegen. So endigte der siebenjährige Krieg auf
der pyrenäischen Halbinsel.
Es steht fast wie ein Wunder aus, daß ein Feldherr um't einer Armee von
selten mehr als 30,000 Mann verläßlichen Truppen sich gegen 230 bis 330,000
Mann der erlesensten Truppen Europa's uuter berühmten Feldherren erst be¬
haupten, dann sie angreifen, und sie zuletzt überwinden konnte. Vieles läßt sich
jedoch durch die Umstände erklären. Die gewaltigen Armeen Frankreichs ließen
sich niemals zu einem Ziele vereinigen. Die Eifersüchteleien der einzelnen Generale
verhinderten jedes systematische Zusammenwirken, und die Schwierigkeit der Ver-
pflegung in einem schlecht cultivirten und feindlichen Lande machte das längere
Zusammenbleiben einer größern Trnppenmafse,. als der englische Feldherr ihnen
entgegenstellen konnte, unmöglich. Die Erfahrungen von Talavera und Salamanca
zeigten Wellington, daß seiue Armee bei gehöriger Vorsicht nicht leicht in offener Feld¬
schlacht den Kürzern ziehen würde, und der Uebermacht der Franzosen wurde
durch die politischen Verhältnisse und dnrch die Natur von Napoleon's Macht
eine feste Grenze gezogen. Ferner erschwerten sich die Franzosen ihre Lage selbst
sehr durch ihre Art und Weise der Kriegführung, und der unauslöschliche Haß
der Spanier that ihnen erheblichen Abbruch. Da bei den Franzosen der Krieg
den Krieg ernähren mußte, so mußten sie sich die Bevölkerung dnrch schonungs¬
lose Plünderung entfremden, und aus jedem Depot oder Magazin einen befestig¬
ten Posten machen. Die zahlreichen Guerilla's durchschnitten ihre Verbindungs¬
linien in allen Richtungen, und ließen ihnen außerhalb ihrer Quartiere keinen Zoll
breit Terrain. Verließen sie eine Provinz, so war dieselbe verloren; räumten sie
einen Posten, so war er ans der Stelle von Feinden besetzt, die im offenen Felde
uicht Stand halten konnten, die aber mit unbesiegbarer Hartnäckigkeit stets
ihre Flanken und ihren Rücken bedrohten. Wellington dagegen stand mit einer auf
einen Puukt vereinigten Armee in einer centralen Stellung, von wo er sich nach
allen Seiten bewegen konnte. Wie schwer sie anzugreifen war, zeigte Massena's
theuer bezahltes Unternehmen dagegen; und von jener Zeit an konnte er hier
ungestört seine Kräfte sammeln, und über Alucita und Salamanca gegen die
große Straße nach Frankreich, dnrch das Tajothal über Talavera gegen Madrid,
oder über Elvas und Badajoz nach Andalusien hervorbrechen, und während seine
Gegner ihre Communication sich nur mit Mühe, und auf Kosten einer bedeuten¬
den Schwächung ihrer Streitkräfte erhalten konnten, bot ihm jeder Hafen zwischen
Lissabon und Santander eine sichere Verbindung mit England, und stete Gelegen¬
heit, Zufuhr an Mannschaft und Kriegsvorrath zu erhalten. Dies Alles nimmt
jedoch seinen Siegen nur das Wunderbare; und es gehörte sein klarer Blick und
sein nicht zu beugender Muth dazu, um alle diese Vortheile, die Niemand sehen
wollte, zu benutzen. Er zuerst wies auf die ausgezeichnete Defensivlage Por¬
tugals hin; er erkannte zuerst die schwache» Punkte seines Gegners; er flößte
zuerst seinen Soldaten Vertrauen in sich und ihre Führer ein. Allerdings bot
das Kriegstheater den Engländern mehr vortheilhafte Gelegenheiten, als dem
Gegner, aber um sie zu benutzen, durfte keine einzige unvorsichtige Handlung die
Sicherheit der Armee gefährden, von der Alles abhing; durfte kein Mittel ver¬
säumt werden, um die Armee kampffertig zu erhalten, und sich einen nützlichen
Bundesgenossen ans den portugiesischen Recruten zu schaffen; mußte Versuchungen
widerstanden, eine feindliche öffentliche Meinung ruhig ertragen und Heraus¬
forderungen übersehen werden. Er führte den Krieg fast auf seine eigene Ver¬
antwortlichkeit, säumig unterstützt von dem dnrch eine factiose Opposition gelähmten
Ministerium, und selbst unter unaufhörlichen Intriguen und Hemmungen von
Seite des Volks, dessen Land er von der Fremdherrschaft befreien wollte. Von
vorn herein hatte er die innere Urgesundheit von Napoleon's Macht erkannt, und
ging.unbeirrt, bis er das Ziel erreicht hatte, vorwärts.
England und ganz Europa wetteiferten mit einander, die Verdienste des
großen Feldherrn zu belohnen. Talavera hatte ihn zum Baron und Viscount
gemacht; Ciudad Rodrigo zum Carl, Salamanca zum Marquis, Vittoria zum
Herzog; und da er alle diese Würde» während seiner Abwesenheit von England
erhalten hatte, wurden jetzt, als er zum ersten Mal im Oberhause erschien und
mit dem höchsten Rang unter deu Pairs Englands Platz nahm, alle seine Patente
nach der Reihe an einem Tage verlesen. Die Ehren, die ihm vom übrigen
Europa wurden, aufzuzählen, fehlt es uns an Platz. Noch deutlicher bezeichnet
die Höhe,, die sein Ruhm erreicht hatte, die einflußreiche Stellung, die er als
Gesandter Englands auf dem Kongreß zu Wien einnahm.
Noch sollte sein Schwert nicht ruhen. Den Streit der Diplomaten brachte
die abermalige Erscheinung Napoleon'S in Frankreich zum unerwarteten Ende.
Noch einmal rüstete sich Europa gegen den gemeinsamen Feind, aber um den
ersten Sturm auszuhalten, waren um Wellington und Blücher bei der Hand.
Wie sie bei Quatrebras und Ligny zurückgedrängt, vereint bei Waterloo dem
Gegner die letzte vernichtende Niederlage beibrachten, ist noch nicht vergessen, wol
aber hat man gestritten, wem eigentlich der Lorbeer für diesen Sieg gebühre.
Englische Stimmen haben Blücher einen „beiläufigen Ruhm" als zufälligen Ka¬
meraden ihres großen Feldherrn erwerben lassen; aber Blücher's Ruhm datirt
nicht erst von Waterloo, und Wellington hat nie so geringschätzig über die großen
Verdienste seines Kampfgenossen geurtheilt. Nicht Engländer allein und nicht Preu¬
ßen allein haben die große Schlacht gewonnen, eben so wenig Zufall oder Verrath,
wie französische Eitelkeit der Welt vorpredigt, sondern die eiserne Festigkeit des
Entschlusses Wellington's, von dem Schlachtfelds nicht zu weichen, es koste, was
es wolle, die zähe Tapferkeit seiner Truppen, der geschickt geleitete Rückzug der
Preußen von Ligny, der durch keine Niederlage und Hindernisse zu dampfende
Schlachteneiser Blücher's, der ihn schon am Tage nach einer verlorenen Schlacht
zum Siege eilen hieß, und der letzte, ungestüme Stoß der Preußen ans Flanke
und Rücken des schon zerbröckelnder französischen Heeres. So haben Beide
gleichen Theil am Siege, der Eine an seiner Vorbereitung, der Andere an seiner
Vollendung. Mit Waterloo schließt die militairische Thätigkeit Wellington's, und
seine politische, kaum minder bedeutende, beginnt, der wir noch einen letzten Ar¬
tikel widmen werden.
H. Hofmann: König Enzio im Kerker zu Bologna von seiner
Geliebten getröstet. Dieses Bild hat leider einen so schlechten Platz auf der
Ausstellung, daß man nur durch sehr künstliche Bemühung zu einer Stelle gelangt,
von der aus man es, ohne von allen Seiten durch Streiflicht geblendet zu werden,
und anch da nicht ohne Hindernisse betrachten kann. Wir können bei dieser Ge¬
legenheit nicht umhin, eine anch bei anderen Bildern vorkommende Ungerechtigkeit
zu rügen, mit der oft verdienstvolle Bilder jüngerer (namentlich nicht in Berlin,
einheimischer) Künstler behandelt werden, während mittelmäßige und selbst schlechte
Bilder aus irgend welcher Rücksicht, sei es für einen ehemals geltenden Namen
oder durch Connexionen, die besten Plätze erhalten. Wir fürchten, daß sich nicht
Alle diese Mühe gegeben, einen passenden Standpunkt aufzusuchen, und es ist
wahrlich schade,, da das Bild große Lorzüge hat. Gut ist namentlich Ausdruck
und Bewegung des jungen Königs, der nach dumpfem Brüten sein Haupt, das
in die Hand gestützt war, vom Lager erhebt, um vielleicht dem tröstenden Ge¬
sänge sein Ohr zu erschließen, wenn auch noch das ganze trübe Bewußtsein
seines unglücklichen Schicksals seine Züge beherrscht. In seiner Geliebten wünschten
wir mehr das Bestreben ausgedrückt, die Gefangenschaft Enzio's zu erleichtern und
zu versüßen; sie scheint selbst zu sehr in die Schwermut!) des Königs hineingezogen,
als daß wir glauben können, sie werde ihn sür einige Momente über sein Schicksal
hinwegsehen; ein wenig mehr von der Grazie liebevoller Bemühung, wenn auch
mit einem Zug von trübem Ernst gemischt; denn daß er jenen Ausdruck, den
wir angedeutet wünschten, nicht vorwalten ließ, darin erkennen wir einen sichern
Takt, wie wir überhaupt in dem ganzen Bilde die seine Absicht des Künstlers
ehren, wenn auch der Ausdruck derselben nicht überall unsrem Wunsche entspricht.
Von seiner Empfindung zeugt eben so sehr das gedämpfte kalte Licht, das in den
Kerker dringt und die Figuren nur matt beleuchtet, und die vortrefflich gelungene
Andeutung der feuchten Kerkerluft, als die harmonische Farbenstimmung, nament¬
lich in den Stoffen, die überall von gebrochenem und entschiedenem Ton, bei
Enzio einen ernstem, bei seiner Geliebten einen zartem Charakter tragen. Die
Zeichnung ist fast überall schön und außerordentlich delicat, die Verhältnisse edel,
nur wünschten wir hierin, namentlich bei Enzio, der gar zu schlank ist, etwas
weniger Eleganz, die anch in den Bewegungen der Glieder, z. B. in Enzio's
rechter Hand, nicht angenehm auffällt; das ganze Bild bekommt dadurch ein etwas
weiches und fast modernes Ansehn, wir wünschten ihm mehr Energie und Charakter.
I. P. Bähr, Iwan Wasiljewitsch dem Schrecklichen, Czar von
Nußland, wird von heidnischen Zauberern sein naher Tod ver¬
kündigt. Joao Wasiljewitsch sitzt auf einem thronartigen Sessel, vor ihm die
Zauberer, einer in der Mitte weissagend, zwei andere auf dessen beiden Seiten, einer
aus einem Becher Zanbertränke trinkend, welche die Sinne betäuben und ihn in den
Zustand versetzen sollen, welcher der Ausübung -seines Berufs günstig ist, und
in welchem ein anderer, der am Boden in krampfhaften Zuckungen liegt, sich be¬
reits befindet. Um den Czaren noch ziemlich viel Figuren, seine Familie, ein
Arzt und Andere seiner Umgebung. Die Meisten, die sich fragen, warum das
Bild nnr abstößt, werden schnell mit der Antwort, fertig sein: „Es ist der Gegen¬
stand, der uns zu fremdartig und zum Theil widerwärtig ist." Sie irren; denn
wenn wir auch den Gegenstand nicht zu den günstigsten rechnen, so konnte er
anders aufgefaßt und wiedergegeben, ein viel allgemeineres menschliches Inter¬
esse erregen und gewaltiger wirken. Es mußte von entschiedenem Eindruck
sein, wenn wir einen der entsetzlichsten Tyrannen, welchen die Erde je getragen,
sehen, dem in diesem Augenblick plötzlich und gewaltig Las Gewissen geregt wird.
Diese regende Kraft könnte freilich uicht repräsentirt werden durch abenteuerliche
Leute, aus denen zu sehr die Charlatanerie ihres Handwerks spricht, als daß
wir ihnen glauben konnte»; der Czar sitzt mehr tiefsinuend, als erschüttert und
im erwachten Bewußtsein seiner Verdammnis; da; dazu siud eine Menge von
-Nebenfiguren in dem etwas großen Raume zerstreut, die zum Theil mäßig und
den Eindruck des Ganzen eher schwächen als kräftigen. Man denke sich das
Bild mit wenigen Figuren, den Czaren, den Propheten, denn in dieser wür¬
digern Gestalt mußte der Zauberer auftreten, ein Bote himmlischer Strafe, der
uns in erhabenerer Begeisterung selbst für einen Moment an die Wahrheit seiner
Mission glauben macht; noch wenige der nächsten Umgebung des Czaren, die
mit erschüttert, erschreckt und entsetzt in größerer Prägnanz das ausdrücken,
was jetzt in ziemlich viel Figuren, wenn auch oft fein, (z. B. in dem Arzt und
der Gemahlin des Großfürsten) doch zu unentschieden und abgeschwächt gegeben
ist. Es scheint, der Künstler hat sich dnrch vorhandene historische Notizen ver¬
leiten lassen, manche Figur und Beziehung anzubringen, die eben nur historisches
Interesse, aber keinen poetischen Gehalt hat. Stellen wir uns mit auf den
Standpunkt des Künstlers, so müssen wir freilich gestehen, er HNt uus ein wirk¬
lich interessantes Gemälde jener Zeit gegeben, und so betrachtet sind namentlich
die Zauberer vortrefflich, und Manches in der Umgebung vou höchst charakteristischer
Durchführung. Der Künstler kauu aber uicht verlangen, daß wir sein Kunstwerk
cnlturhistorisch ansehn, wir wollen Menschliches, Poetisches, das uns erhebt
und erbaut.
Die Ausführung des Bildes ist zwar sorgfältig, hat aber in der Farbe zu
wenig Leben, Manches im Costum könnte reicher und prächtiger sein, es würde
das sowol uns mehr den Eindruck eines mächtigen Hofes geben, als den Kon¬
trast in der Erscheinung der Zauberer erhöhen. —
W. Streckfuß. Anna vou Oestreich. Die Wittwe Ludwig Xlil. führte
für ihren minderjährigen Sohn Ludwig XIV. die Regierung, ließ sich aber durch
ihren Günstling, den Cardinal Mazarin, beherrschen. Am Abend des K. Februar
hatte Mazarin ans Furcht vor der Rache des über seine Herrschsucht aufgeregten
Volkes Paris heimlich verlassen. Zwei Tage später wollte die Königin mit ihrem
Sohne dem Günstling folgen. Das Voll' erfuhr die beabsichtigte Reise und
suchte, wüthend darüber, das Palais Royal zu stürmen. Da nahm Anna von
Oestreich zu einem kühnen Entschlüsse ihre Zuflucht. Der schon zur Abreise ge¬
rüstete König mußte sich schnell entkleiden, in's Bett legen und schlafend stellen.
Anna ließ die Schloßpforten öffnen und führte selbst das Volk nach dem Schlaf-
gemach ihres Sohnes, dessen Anblick auf die Menge fast zauberhaft wirkte; denn
auch die wüthendsten Rebellen fielen ehrfurchtsvoll ans die Kniee.
Der Gegenstand ist also ein Betrug, der geschichtlich durch die Umstände
gerechtfertigt war, und sogar eine gewisse Achen^g vor der Geistesgegenwart und
Entschlossenheit der Königin einflößen kann; diesen aber zum Gegenstand eines
Bildes zu macheu, bewies wenig Takt; eine Mutter und ein Kind, die durch ver¬
abredete Verstellung einem leichtgläubigen Pöbel imponiren. Und gerade das
Kind ist es, welches die List ausführt, und wodurch? dadurch, daß es das, was,
diesem Alter den Reiz der Unschuld verleiht, wenn es wahr ist, erheuchelt; wir
sehen das Volk dem schlafenden Knaben in anbetender Verehrung gegenüber,
und wir wissen, „es ist Alles Verstellung!" Sollen wir uns freuen, daß die
Königin nud der junge König durch ihre List gerettet worden, und sie wegen
ihrer geistigen Ueberlegenheit bewundern? Dann müssen wir zugleich das um¬
stehende Volk auslachen und verachten. Das widersteht aberj unsrem Gefühl.
Es zeigt zu viel Gutmüthigkeit nud Pietät, und ist dazu noch hintergangen.
Unser Gefühl wird nach allen Seiten gezerrt, ohne befriedigt zu werden, und
wir bleiben kalt. Eben so wenig Takt, als die Wahl des Gegenstandes beweist,
zeigt auch die Auffassung desselben, wenn wir uns das Sujet einmal gefallen
lassen wollen. Es sind fast alle Figuren vou großer Lebendigkeit, aber es fehlt
alle Feinheit und Nuancirung des Ausdrucks. Am gelungensten ist der junge
König, aber Anna von Oestreich hat zu viel von imponirenden Stolz in Hal¬
tung und Antlitz, zu wenig den Ausdruck eines kühnen Geistes, der seine Ueber¬
legenheit in gefahrvollem Moment geltend macht, und mit einem Gemisch von
Spannung und Sicherheit, von Verstellung und Offenheit seinen Plan ausführt.
Das heranbringende Volk ist bereits in voller Anbetung und Entzückung über den
Anblick des jungen Königs. Es fehlen bei großer Lebendigkeit alle feinere
Nuancen und Uebergänge der Empfindung und deö Ausdrucks; Nichts von plötz¬
lichem unschlüssigem Innehalten im gierigen Andrängen, von erwachender Neue,
Scham und Zerknirschung über die wilde Absicht. Es würde dies zugleich die
Situativ» klarer machen, während wir ans dem Bilde, wie wir es hier sehen, nicht
ahnen können, was vorher geschehen. Und das war, wenn auch nicht deutlich
auszusprechen möglich, doch nöthig, ungefähr anzudeuten.
Endlich fehlt, obgleich das ganze Bild eine gewisse anerkennenswerthe Sicher¬
heit in Zeichnung und Malerei zeigt, auch hierin, namentlich in letzterer, die
Feinheit. Es ist jene Sicherheit, die nicht glaubt, daß sie fehlen kann, und daher
leicht an'S Rohe streift.
L. Gallait. Slavische Musikanten. Ein Knabe ans der Grenze deö Jüng¬
lingsalters, ein noch unerwachsenes Mädchen haben auf ihrer Wanderung in den
Steintrümmern eines längst verfallenen Gebäudes Halt gemacht. Das Mädchen,
von Müdigkeit und Schmerz erschöpft, ist ans den Boden gesunken, Kopf und
Schulter an das Knie des Knaben gelehnt; vom höchsten Ausdruck in Geberde
und Stellung, noch die letzten Thränen auf der Wange, noch das letzte Ausmalen
des Schmerzes, und schon will der Mund sich zu beruhigten Lächeln gestalten,
schon sind die Hände, von denen die eine durch ihren Druck die schmerzende
Wunde des Fußes betäuben wollte, und nnn von der kranken Stelle gewichen
ist, im Schlummer gelöst. Denn Schlaf hat angefangen, den Schmerz des armen
Kindes zu bewältigen; eS gelang ihrem Beschützer, ihn durch die Töne seiner
Geige herbeizurufen, die er nun in melancholischer Zufriedenheit verklingen läßt.
Er hat seine zarte Begleiterin für den Moment beruhigt, aber was wird weiter
aus ihr und ihm werden? Dieser Ausdruck der augenblickliche» Befriedigung ist
unendlich fein mit dem einer allgemeinen düstern Stimmung in dem Gesichte
des Knaben vereinigt, das läßt sich nicht beschreiben, desgleichen vermag nur die
bildende Kunst in einem Moment zu fixiren; gegen den tiefen, ergreifenden Ausdruck,
der in diesen-beiden Kindern liegt, würde die beste poetische Beschreibung matt
erscheinen. Dabei ist das Colorit von der größten Energie und Wahrheit, die
Stimmung tief, ernst und in der Umgebung, die hierin vortrefflich mitspricht und
ergänzt, was in den Figuren angedeutet ist, düster und ungewiß.
So wäre das Bild vollkommen, wenn der Schönheit überall in demselben
Maße wie dem Ausdrucke genügt wäre; doch hierin fehlt uns Manches, die Lage
des Mädchens könnte eben so ausdrucksvoll sein und dabei doch angenehmere Linien
bieten; namentlich thut die parallele Lage der Arme dem Ange nicht wohl; dann
könnte anch ihr Körper, den der Künstler mit richtiger Absicht ohne Hülle, ja
mager bildete, edlere und graciösere Formen zeigen; derLopf des Knaben ist zu
groß und schwer gegen den Körper, was namentlich den untern Theil des Ge¬
sichtes stört. Der Künstler verfuhr hier überall rein naturalistisch; aber eine
rein naturalistische Behandlung war diesem Gegenstande, der entschieden Schön¬
heit zuließ und forderte, nicht angemessen. Ja, wenn wir alle unsre Wünsche
aussprechen und die Kritik mehr in's Detail treiben sollen, so möchten wir auch
in der Farbe manche Töne harmonischer und graciöser; es sind im Fleisch manche
graue Töne durchgehend, die meist vortrefflich wirken, bisweilen aber doch heraus¬
fallen, und nicht in der Harmonie des Kolorits aufgehn. Diese Bedingung wäre
zur Vollkommenheit des Kolorits zu erfüllen, eine Vollkommenheit, wie sie z. B.
Titian und Paul Veronese erreicht haben.
Dies waren die Mängel, deren Beseitigung wir von einem so großen Künstler, -
wie Gallait, wünschten, um so mehr, da wir glauben, daß sie nicht in seinem Un¬
vermögen, sondern in einer zu sehr auf bloße Wahrheit und Lebendigkeit gerich¬
teten Absicht liege, welche der Schönheit höchstens den zweiten Preis ertheilt,
da er durch Ausdruck in Geberden, Formen, Farben seinen Bildern den
Stempel echter Kunstwerke aufdrückt.
Kolbe, Schlacht bei Antiochia. Der gewaltige Barbarossa
schreckt selbst im Tode noch die Feinde; seine Leiche, von den Fürsten
in die Schlacht getragen, entscheidet den Sieg. Der Gegenstand
scheint gewaltiger cvncipirt zu sein, als er dargestellt ist. Es ist ein gewisser
Zug in manchen Figuren, der aber nicht alle gleich durchweht; wir finden ihn
mehr in der den Trauerzug anführenden Geistlichkeit, als in den geleitenden Fürsten;
, war es die Absicht des Künstlers, sie nicht so leidenschaftlich, mehr in gehaltener
Würde erscheinen zu lassen, so mußte in diesen Mienen mehr tief verhaltener
Schmerz, mehr innere Begeisterung sprechen, die still gelobt, dem Beispiele des
gewaltigen Kaisers zu folgen, seiner.Größe nachzueifern, seinen Willen auszuführen.
Sie erscheinen diesem großen Moment gegenüber verhältnißmäßig gleichgiltig.
Daß Barbarossa die Feinde schreckt (wie der Titel des Bildes besagt), ist
übrigens nicht genügend ausgesprochen, wir mußten in Nebengruppen deutlicher
erkennen, wie sich die Schlacht zum Siege wendet. Unerkennbare Gruppen in
fernster Ferne konnten dies eben so wenig aussprechen, als ein einzelner Mohr,
dem ein, den Trauerzug mitanführender Mönch das siegende Kreuz entgegenhält,
und der sich scheu zurückzieht. Uebrigens ist der Mohr, der in solcher Ruhe des
Feindes einen befreundeten Leichnam fortschleppt, uumotivirt, (er hat etwas von
einer Coulisse) und der Mönch mit dem Krenz ist unschön, mehr fanatisch, als
begeistert. Außer jenem Wunsche, daß die Wendung zum Siege in einigen Neben¬
gruppen ausgesprochen wäre, möchten wir anch die Hauptgruppe, den eigentlichen
Trauerzug bedeutender und geradezu (wie wenig wir sonst für Anhäufung von
Figuren sind) fignrenreicher. An Erfindung von Motiven hatte es jenem so tüch¬
tigen Künstler, wie Kolbe, nie gefehlt; es mußten wenigstens mehr Figuren an¬
gedeutet und die vorhandenen massiver gruppirt werden; der Zug sieht für Bar¬
barossa etwas dürstig aus. Die Ausführung hat viel Rohes, aber dabei ist Etwas
von Mark und Charakter in dem Bilde, das wir manchem sonst besser ausge¬
führten wünschten. ^
De Biefve. Der Herzog v. Alba in Brüssel, im Jahre 1S68. Der Herzog
sieht zum Fenster hinaus, mit der rechten Hand einen Vorhang wegschiebend, die
linke auf den Griff des Degens gelegt; hinter ihm ein Cardinal. Ob Alba der
Enthauptung Egmont's und Horn's zusieht, ob einem ähnlichen Ereigniß, ist
gleichgiltig. Es kam dem Künstler darauf an, ein Paar charakteristische Figuren
neben einander portraitartig darzustellen, und dies ist ihm gelungen. Der Car¬
dinal hinter Alba, der, wie dieser, aufmerksam zum Fenster hinaussieht, hat ganz
die überlegte Ruhe dessen, der, wo es gilt, einem seiner Meinuugj nach großen
Zweck zu dienen, mit Bewußtsein das Individuum opfert. Alba ist über der¬
gleichen Reflexionen längst hinweg, ihm ist die bornirte Ruhe eines blinden Werk¬
zeugs, das in der vorgezeichneten Bahn weder rechts noch links weichen kaun;
das alles in den Weg sich stellende gleichgiltig wegräumt, mag's ein Sandkorn,
oder ein Menschenleben sein.
So wenigstens hat ihn der Künstler aufgefaßt, und so hat er ihn vortreff¬
lich wiedergegeben. Ein poetisches Interesse hat das Bild nicht, Farbe und
Wirkung ist von einer wunderbaren selbst bei den besten Meistern der belgischen
und französischen Schule selten gesehenen Vollkommenheit. In der Zeichnung
dagegen ist manche kleine Schwäche, namentlich ist die ans den Degen gelegte
linke Hand Alba's roh und ohne allen Charakter.
De Keyser. Christoph Kolumbus, begleitet von seinem Sohne Diego,
wird als Narr und Träumer behandelt.
,.Viele verlachten seine Pläne als Träume eines Verrückten, Andere ver¬
achteten ihn als einen Abenteurer; man sagt, daß selbst die Kinder, wenn er sich
blicken ließ, mit der Hand aus die Stirn deuteten, um den Sitz des vermeinten
Wahnsinns ihm zum Hohn zu bezeichnen." (Washington Jrwing.)
Kolumbus steht am Meere und blickt sehnsüchtig nach Westen, ein schöner
Kops, dessen Formen sich an das überlieferte Portrait anschließen, dessen bedeu¬
tender Stirn man mehr als gewöhnliche Denkkraft zutraut. Aber diese Züge hat
der Maler nicht mit gleich bedeutendem Ausdruck zu beleben vermocht; es liegt darin
nicht genug die bestimmte Sehnsucht, die sich ihres Ziels bewußt ist. Kolumbus
hat hier wirklich Etwas von einem sentimentalen Träumer, dessen Sehnsucht ohne
Klarheit ist; und man kann den Leuten, die weiter im Hintergrunde zurückstehn
und ihn auslachen, nicht so ganz unrecht geben.
Und dennoch ist Columbus selbst die gelungenste Figur. Sein'kleiner Sohn
Diego, dem der Maler durch das Bestreben, ihn bedeutend erscheinen zu lassen,
alles Kindliche genommen hat, geberdet sich gegen das seinen Vater verhöhnende
Volk wie ein schlechter Schauspieler; das Volk selbst eben so; die Leute machen
alle Stellungen, es ist Alles äußerlich, ohne inneres Leben und wirkliche
Empfindung.
Bei der großen Virtuosität de Keyser's, namentlich bei seiner höchst ge¬
schickten Pinselführung, hat doch seine Behandlung der Farbe etwas Zahmes und
Elegantes, das nicht gerade angenehm ausfällt, um so weniger, da es ans das
Kolorit, ja selbst ans die Zeichnung iufluirt. Man sieht, de Keyser kann vor¬
trefflich zeichnen (so sind z. B. die Hände des Cvlnml'us außerordentlich schön
gemacht); man sieht, er hat die Befähigung zum Coloristen und überhaupt zu
dem, was mau eigentlich „malen" nennt. Aber jenes Streben nach Eleganz hebt
jene Vorzüge zum Theil auf. Es geht etwas Weichliches durch dieses Bild, eS
fehlt Energie und Charakter. —
Witcamv in Antwerpen, Scene aus dem Vlämschcn Gedicht: „die
Geusen" von G. Tollens, 3. Gesang. Das Gedicht ist uns nicht bekannt, das
den Vorwurf lieferte. — Der Vorgang spricht sich ungefähr, wenn auch nicht in
allem Detail, recht deutlich aus. Es scheint, daß ein Führer der Geusen gefal¬
len: eine Leiche liegt ziemlich mitten im Bilde als Hauptfigur am Boden, über
ihm ein Geistlicher, der eine Leichenrede hält, welche die versammelten Führer
und Krieger zugleich zu weiteren Kampfe anfeuern soll. Es ist manche charak¬
teristische Figur in dem Bilde, es fehlt ihnen auch nicht an Leben; doch sind sie
mehr neben einander gestellt, als durch innere Nothwendigkeit verbunden, sie sind
mehr einzeln erfunden, als aus dem Ganzen herausgeschaffen. Zu einer der am
besten concipirten Figuren gehört der oben erwähnte Geistliche, der freilich in der
Ausführung manchen anderen nachsteht. Was das Bild beachtenswert!) macht, ist
das höchst energische Colorit; dabei ist es tüchtig und ohne Coquetterie gemalt.
Eine zu sehr aufs Charakteristische gerichtete Absicht, welche die Aesthetik ver¬
nachlässigt, macht sich namentlich geltend in der blauen Farbe des gefallenen Füh¬
rers, die geradezu ekelhaft ist; dabei ist sie nicht einmal wahr, ein Todter sieht
bleich, aber nicht blau aus. Freilich ist er nicht so weit gegangen, als Belle¬
mann, der dem nur sterbenden Bischof Remuclius blane Wangen malt.
Dieses Bild sei überhaupt nur als ein schlechter Repräsentant der belgischen
Schule erwähnt, so auch C vom ans in Brüssel, der den letzten Angriff Attila's
auf die vereinigten Westgothen und Römer in der Schlacht bei Chälons malt.
Er ist so klug, in den Katalog eine Menge historischer Notizen zu setzen und die
Namen der mitkämpfenden Fürsten und Führer zu nennen; denn aus dem Bilde
sieht mau Nichts davon, nur ein wüstes, unsinniges Durcheinander. Im Vorder¬
grunde sieht man bei näherer Betrachtung ein Paar einzelne Leute sich zu ihrem
Privatvergnügen herumschlagen, ein Pferd mit einer Lanzenspitze in der Seite
ans einigen Leichen spazieren gehen und dergleichen Blödsinn mehr. Daß aber
Herr Coomans dazu gesetzt (wenn er es selbst gethan): „Auf dieselbe Schlacht
bezieht sich Kaulbach's berühmter Carton" (nämlich die Hnnnenfthlacht), war nicht
klug. — Noch erwähnen wir schließlich eines zum Theil verdienstvollen belgischen
Bildes von Somers, König Carl I. von England wird im Gefängniß kurz vor
seiner Hinrichtung von seiner Familie besucht; bei dem Eintritte derselben weckt
her Gefängnißwärter den von Erschöpfung eingeschlummerten König. Namentlich
der Gefängnißwärter ist vortrefflich in Ausdruck und Bewegung, er berührt mit
dem Finger leise und in rücksichtsvoller Ehrfurcht den schlafenden König, um ihn
saust zu wecken. Er ist offenbar init besonderer Vorliebe behandelt und er¬
scheint eigentlich als Hauptfigur, was freilich ein großer Mißgriff war. Das
Gesicht des Königs liegt in so abgewandter Verkürzung, daß man eS kaum sieht;
die übrigen Figuren sind, wenn sie auch nicht befriedigen, doch gelungener. Zu
loben ist das Streben nach einem einfachen, gemäßigten Kolorit, das nur bis¬
weilen etwas zu grau ist. — Anselm Feuerbach in Paris „Hafis in
der Schenke", ist der Beachtung werth. Namentlich Hafis ist sehr lebendig
aufgefaßt. Doch zeigt das ganze Bild eine Neigung sür's Charakteristische und
Piquante auf Kosten der Grazie und Schönheit, der, obgleich sie dieser Gegen¬
stand doch vorzugsweise erfordert, durchaus nicht Genüge gethan ist. Wir kön¬
nen mit Hafis nicht mitsingen, seiner schönen, wie seiner ganzen Gesellschaft und
Umgebung fehlt der Reiz; er selbst bekommt dadurch Etwas von einem herunter¬
gekommenen alten Wüstling, den das erste beste Frauenzimmer mit nackten Hüf¬
ten zur Poesie stimmt. —
Das Bild neigt in Auffassung und Technik, die sehr gewandt ist, zu einer
gewissen Richtung der modernsten Franzosen, und hierin zeigt der Maler eine
Unselbständigkeit, die wir seinem Talent nicht wünschen.
Freilich immer besser als I. Niessen's „Singende Geschwister", der
wie die Venetianer malen will, ja „wie sie räuspern und spucken." Das, was
ihnen bei selbstständiger freier Behandlung eigenthümlich wurde und nicht gerade
zu ihren Vorzügen gehört, hat er ängstlich ohne Leben und Reiz nachgemacht.
Mintrov: Maria mit Jesus und Johannes war glücklicher, er hat
sich an die Rafael'sche Schule gelehnt und ein Bild gemalt, das nicht ohne Em¬
pfindung und Ausdruck ist, und in der äußern Form Styl und Natur wohl¬
thuend vereint.
Reichere in Magdeburg. Galilei vor der Römischen Inquisition.
Der Maler hat seinen Gegenstand durchdacht und mit anzuerkennenden Fleiß
ausgeführt, aber er war ihm nicht gewachsen. Galilei hat sein System ab¬
schwören müssen und spricht nun hinterher „und sie bewegt sich doch!"
Die Augen sind weit aufgerissen, die Hände und alle Glieder krampfhaft ge¬
spannt; das sind Alles Künste eines mittelmäßigen Schauspielers, der eine innere
Bewegung durch materielle Mittel darstellen will; nicht der Ausdruck eines
überlegenen Geistes, der von einer einmal erkannten Wahrheit durchdrungen ist
und, wenn er auch durch äußere Umstände gezwungen war, ihr einen Augenblick
untreu zu werden, sie dann um so entschiedener ausspricht. Ein Gegenstand,
bei dem es sich um ein gesprochenes Wort, um das Benehmen einer einzelnen
Person dreht, verlangt die schärfste Charakteristik und den entschiedensten Aus¬
druck eines innern Lebens in allen Figuren/ endlich eine sehr geschickte Anord-
mung und Verbindung der Gruppen, und vortheilhafte Vertheilung von Licht und
Schattenmasseu, wenn das Bild uicht monoton und uninteressant werdeu soll.
Dem Allem ist hier bei einem uicht zu verkennenden Streben nach Individualisi-
rung nicht Genüge geleistet, und wir bleiben kalt.
Ewald in seinem Bilde: (Galilei vertheidigt sein System vor der von
Pabst Urban Viti. eingesetzten Eongregation) befriedigt uns mehr, namentlich in
der Hauptfigur. Freilich war auch der Gegenstand günstiger; die Figuren er¬
scheinen hier in unmittelbarerer Beziehung zu einander. Doch das ist des Künst¬
lers Sache. Galilei erscheint hier, wie er mit der Begeisterung der aufrichtigsten
Ueberzeugung und mit der Sicherheit der unumstößlichsten Gründe sein System
vertheidigt hat und nun mit der Kühnheit bewußter Ueberlegenheit die Geguer
herausfordert, ihn zu widerlegen'. Es vermag uur die Bornirtheit Etwas zu ent¬
gegnen, zu beweisen nichts; es sei denn aus dem Buch Josua. Diese bornirten
Orthodoxen sind die eine Sorte seiner Gegner, die auch räumlich zusammen auf
eine Seite gebracht sind. Auf der andern stehen, während Galilei die Mitte des
Bildes einnimmt, diejenigen, welche sich noch auf wissenschaftliche Beweise ein¬
gelassen und zum Theil nachdenklich und wankend geworden scheinen. Die
Gegner sind im Ganzen, wenn sie auch wol ungefähr aussprechen, was sie sollen,
doch weniger gelungen, als Galilei selbst; auch merkt man im Arrangement und
Bau der Gruppen zu viel Absicht.
Leipzig, Brockhaus.
Wir haben mehrfach Gelegenheit gehabt, ans die Versuche neuerer englischer
Dichter zurückzukommen, die sich einerseits durch das Beispiel des deutschen Faust,
andererseits durch Shelley's Vorbild verleiten lassen, statt bestimmter Gestalten
und bestimmter Ereignisse nebelhafte Abstractionen darzustellen, mit denen sie
Himmel und Holle gleichzeitig zu umspannen hoffen. Wir müssen immer wieder
von Neuem eine entschiedene Mißbilligung dieser Experimente an den Tag legen.
Die Kunst kann uur da Etwas leisten, wo sie sich in einen bestimmten Gegenstand
vertieft und ihn mit jener warmen Liebe, die nur dem Endlichen zukommt, umfaßt.
Das vorliegende Buch ist im Wesentlichen, wenigstens seiner Anlage nach,
eine Reminiscenz aus dem Faust. Lucifer, der eine Held des Stücks, hat zwar
im Anfang die sonderbare Grille, sich in den lieben Gott zu verwandeln, denn
er hat die Welt geschaffen und sie unbedingt geleitet, während der eigentliche liebe
Gott (Agathodämon), der nach diesem Gedicht ein ziemlich dummer Teufel zu
sein scheint und von Lucifer tüchtig in die Schule genommen werden muß, müßig
zusieht; aber sobald die ersten allgemeinen Abstractionen, die Weltschöpfung :c.,
überwunden sind, und wir in das wirkliche Leben geführt werden, sehen wir die
alte wohlbekannte MephistvphelcSmaskc vor uns. Nun hat Goethe zwar unter
dieser Firma eine Reihe der vortrefflichsten und schlagendsten Einfälle in die Welt
gesetzt, aber einmal glauben wir nicht, baß es auch ihm gelungen ist, aus diesen
Einfällen einen wirklichen Charakter zusammenzusetzen, und jede Aufmhruug des
Faust, auch von den besten Künstlern, wird diese Ansicht bekräftigen; außerdem
aber halten wir es-auch für überflüssig, diesen an sich ziemlich uninteressanter
Charakter durch Duplicate zu vervielfältigen. Dieser gescheidte spitzbübische
Bediente, der immer Alles besser wissen will, weil er beim Kleiderputzen und
dergleichen Manches sieht, was Andere nicht bemerken, und weil er seinen Herrn
durch kleine Pfiffigkeiten betrügt, wird entschieden langweilig, sobald er seine
Livree auszieht. Eigentlich ist er nur eine Moliere'sche Lustspielfigur: auf den
Kothurn gehört er nicht. — Auf eine ähnliche Weise ist auch der andere Held
des Stücks dem Faust nachgebildet. Zwar hat er selber den Faust gelesen und
macht einen entschiedenen Unterschied zwischen sich und dem Helden der Vorzeit,
auch ist er eigentlich der liebe Gott, der nur von Mephistopheles in einen
Menschen verwandelt ist, und diesen Umstand vergessen hat, aber das Alles sind
doch nur Nebensachen, er bleibt immer nnr die alte Weltschmcrzfigur mit greisen¬
hafter Reflexion und knabenhaften Willen.
Daß an eine Einheit der Handlung, an einen innern Zusammenhang der Ereig¬
nisse unter diesen Umständen nicht zu denken sein wird, versteht sich von selbst. Auch
hier hat die gewöhnliche Faust'sche Schablone wieder zum Vorbild gedient. Als
Kunstwerk im Ganzen müssen wir also dieses Gedicht verwerfen, und lassen uus
auch nicht durch den Umstand irren, daß es sich nnr als erster Theil bezeichnet,
denn La es nicht die geringste Spannung hinterläßt, so würde auch ein glän¬
zender ausgeführter zweiter Theil die Fehler deö ersten uicht wieder gut machen.
Anders müssen wir aber urtheilen, wenn wir die poetische Kraft, die in
diesem verfehlten Versuch verwendet ist, ins Auge fassen. Hier finden wir ein
sehr bedeutendes lyrisches Talent, und einzelne Stellen, phantastische Natur-
schilderungen, aber auch Reflexionen sind vollkommen poetisch durchgeführt. Ob
der Dichter auch die größere Kraft besitzt, wirkliche Gestalten zu concipiren und
sie in's Leben zu setzen, können wir noch nicht beurtheilen, denn vorläufig hat er
sich nur unter Schatten bewegt. Auch sein Styl ist durch den Versuch, Goethe
nachzubilden, häufig verkümmert worden. Daß er aber, wenn er seiue eigene
Sprache redet, ein gutes und kräftiges Deutsch zu handhaben versteht, das
wollen wir an einem Beispiel zeigen, welches wir uicht aus einer der specifisch
poetischen Stellen wählen, sondern aus der einfachen, schlicht gehaltenen
Vorrede:
In jenem Zuge bin ich mit gegangen,
Der aus dem Römer nach Sanct-Pauli zog.
O, welche Zeiten schienen anzufangen
Und welches Ziel des Ruhmes schien zu hoch,
Als laut vom Dom dieselben Glocken klangen,
Aus deren Ton vordem die Kunde flog
In alle Welt: Das Reich ist neu geboren,
Der Christen Herr, der Kaiser ist erkoren!Wir sahn uns schon zur alt-ureigner Sitte,
Zur alten Form, vom neuen Geist verklärt,
Zum alten Ruhm als Herrschcrvolk der Mitte
Nach langem Zwischenreich zurückgekehrt,
Der halben Welt zum Trotz mit co'gen Kiele
Geeinigt durch ein mächtig Kaiscrschwert
Und mcergcmaltig wie die edeln Ahnen
Im Hansabund auf allen Oceanen.Durch Bomben, die in unsre Städte krachten,
Sind aus dem Traum wir jcich emporgeschreckt.
Der Meuchelmord, das Standrecht und die Schlachten,
Die deutschen Grund mit deutschem Blut befleckt,
Entsprangen unserm brunst'gen Einheitstrachten
Und haben ihm ein schnelles Ziel gesteckt.
Wir zogen ein, umjauchzt und hoch ergriffen —
Wir zogen aus — verfolgt und ansgepfiffen.In schnellem Rückschlag ^'-ug seitdem in Scherben
Der stolze Traum bis auf den letzten Nest.
Der Holste läßt sich gegen Rosas werben, '
Denn Deutschland selbst band ihm die Hände fest.
So kann der Däne schalten und vererben '
Wie's ihm gefällt und sein Erlösungssest
Begehr in zuversichtlich heiterm Spotte
Beim Ausverkauf der jungen deutschen Flotte.Und was geschieht? Man spricht von blut'gar Thränen,
Geweint um Deutschlands traucrvollcs Loos;
Im Stillen knirrscht wol Mancher mit den Zähnen,
Die Hände legt er feiernd in den Schoos;
Die Meisten aber, ach, die Meisten — gähnen,
Denn müde sind sie und gedankenlos.
Die Losung heißt nun wieder: Still gesessen
Und stumm gehorcht, so habt ihr was zu essen!
Und wer noch fühlt nach jenem heißen Rausche,
Der fühlt sein Herz so trosteSbaar und nüchtern;
Kein Hoffnungsschimmer, wo man immer lausche,
Nur Ueberdruß auf allen Angesichtern!
Gleichwohl sind Alle zu dem kühnen Tausche
Zu matt und nervenstumps und geistesschüchtern,
Durch den man sür des Friedens schlaff Behagen
Den Reiz gewinnt, zu wollen und zu wagen.Das hab' ich mitgefühlt und mitgetragen
Und manche Stunde hat es mir vergällt.
Doch unerschüttert fuhr ich fort zu sagen:
Auch das war gut!
Das ist ein sehr verständiger Optimismus, wenn er auch noch etwas weiter
geht, als der bekannte Optimismus der Grenzboten. Wir haben einmal von
dem grinsenden Pessimismus der Demokratie gesprochen, und das ist uns von
mancher Seite übel genommen worden, allein wir stellen uns die Sache so vor.
Wir machen beide einen Weg nach einem bestimmten Ziele. Daß der Weg
schauderhaft schlecht ist, und daß bei der allgemeinen Finsterniß und dem entsetz¬
lichen Unwetter wir im Einzelnen anch wol in der Irre gehen können, wenn
uns auch im Allgemeinen für unsre Richtung der Compaß nicht fehlt, darüber
sind wir vollkommen einig; aber wir suchen wenigstens in unsrer Richtung weiter
zu kommen und lassen uns nicht irren, wenn wir zuweilen seitab ans eine
Pfütze gerathen und wieder umkehren müssen. Der Pessimismus dagegen spricht
entweder wie Kotzebue's Johanna von Montfaucon: Es muß blitzen! das heißt,
es muß ein Wunder geschehen, und so lange bleiben wir ruhig, wo wir sind,
oder wenn er Pessimismus genug ist, um auch ein ein solches Wunder nicht mehr
zu glauben, so lacht er höhnisch gegen den Himmel, wie jener Knabe, dem die
Finger erfroren, und der schadenfroh ausrief: , Das ist meinem Vater schon ganz
recht, warum hat er mir keine Handschuhe gekauft! Dieses Letztere nennen wir
den grinsenden Pessimismus, und wünschten, daß er durch recht viele gläubige
Dichter, wie der Verfasser des Demiurgos einer ist, bekämpft werden möchte.
Wir konnten heute mit eigenen Augen sehen, was von den Ovationen, welche
Sr. Majestät der Kaiser -- pulste empersur ^ ^ — nach dem telegraphischen
Zeugnisse der Moniteur in den Provinzen erhalten. Was Jedermann, der dies
officielle Verschönernngstalent der französischen Regierungsjournale kennt, von
vornherein fühlte, gab sich durch den Empfang in Paris kund. Die Geschicklich-
keit der Arrangeurs kam dem patriotischen Eifer der Anhänger der gegenwär¬
tigen Regime zu Hilfe. Der Kaiser kann mit den Aeußerlichkeiten des Triumphes,
der ihm bereitet worden, zufrieden sein, weder sein Ehrgeiz, noch sein ästhetisches
Gefühl brauchten an dem Empfange, den ihm seine Administration bereitete, Etwas
auszusetzen. Es wurden mehr Meuschen in Bewegung gesetzt, mehr Maschinerien,
Decorationen und Aufputz verwendet, als je für eiuen Monarchen. Das französische
Decorationsgcnie hat sich selbst übertreffen, um dem Moniteur seine stereotype
Begeisteruugssprache zu entlehnen. Alles, was mit der Regierung oder mit der Polizei
irgend Etwas zu schaffen, öder von ihnen zu befürchten oder zu erwarten hat, that
seinen Enthusiasmus durch mehr oder minder glänzende Schaustückcund schmeichelhafte
Inschriften, Triumphbogen und Hnldigungösahneu kund. Von den Theatern an¬
zufangen, bis zum Personale deö kleinsten Marktes, Alles nahm an dem Feste,
das dem Retter der Gesellschaft bereitet werden sollte, thätigen Antheil. Die
Armee und die Nationalgarde, sowol von Paris, als von den Umgegenden von
Paris, rückten in vollem Sonutagsschmucke aus, und was Paris, die Vorstädte
und die umliegenden Ortschaften an Korporationen besaß, war durch Deputa¬
tionen mit fliegenden Fahnen, durch weißgekleidete Jungfrauen mit Blumensträußen
und Blnmeukörbeu vertreten. Wir bemerkten sogar eine Kaiserkrone von Veilchen,
die ein junges Mädchen auf einem grünsammctnen Kissen trug, und konnten nicht
umhin, an. das Lied vom Jnugferukranz aus Weber's Freischütz zu denken. Die
Minister, die Generalität, die Muuicipalcommissaire, der Senat, der gesetzgebende
Körper, die Mngistratur, der Klerus und — nun ja —und die Akademie schick-^
ten dem Kaiser der Franzosen ihre ergebensten goldgestickten Deputationen ent¬
gegen, und wie die>Patrie von heute Abend berichtet, es war uur Ein Schrei
auf allen Lippen, so wie nur Ein Wunsch in allen Herzen: Vtve I'smperenr!
vivs Napoleon III.! Die Dames ac la Kalte ließen sich zu Versen begeistern,
deren Pointe it kcwt, uno couronne a ton oeuvre sublime ist, wodurch dieses
vou der Revolutionszeit her in so merkwürdigem Andenken stehende Geschlecht
zugleich seinem eigenen Werke die Krone aufsetzte. Die edlen Frauen bewiesen
heute aufs Glänzendste, daß sie nicht lange Groll nachtragen können, und daß
sie Louis Napoleon sein Nichterscheinen ans dem Balle der Hallen großmüthig
verziehen. Die Thcaterdirectoren sämmtlicher Bonlevardtheater, die ^eaäemie
Impörmls as llwsiciuö und das IKeatrs Imperial cle l'opera, ooinique mit in-
begriffen, errichteten dem Kaiser, der seine Rolle so gut spielt, Triumphbögen
begreiflicher Bewunderung und pflichtschuldiger Huldigung. Ihre Balcous und
Fenster waren kaiserlich geschmückt, und die stattlich herausgeputzten Theater-
prinzessinnen warfen mit ihren kleinen Händchen dem kaiserlichen Prinzen Blumen¬
sträuße und Kußhändchen zu, während die reizenden Mündchen „vivs I'ömxöreur"
riefen. Die Großthaten des Retters der Civilisation waren auf den hölzernen
und papiernen Annalen der Boulevards gewissenhaft verzeichnet, und das
IdL-Arc. as I'amdissa comiyuö glaubte seiner Aufgabe nicht untreu zu werden,
indem es Virgil folgende Verse entlehnte:
ol pstrii, inäizetk8 et Komuls Vest-zcjUö mswr,
(Zugs l'useum libsrim et Komana pslstia serves,
Kuno ssltvm, overso ^nomen s'uourrere sseolo
o pi'oliiblte!
Was der römische Dichter vom -Neffen Cäsars sagte,, dies wandte der fran¬
zösische Schauspieldirector auf den Neffen des französischen Kaisers an. Die
Zeit der Citationen hat glorreich begonnen, und wir werden bald Gelegenheit
bekommen, unser classisches Latein zu wiederholen zum großen Aerger des
heiligen Univers, der seine Kirchenväter auf so heidnische Weise in den Hinter¬
grund gedrängt sieht. Ein anderer Boulevard-Lateiner hatte sich ein Wenig
blamirt, indem er schrieb: s»rvial. eoneiliat, statt servat et LonelliÄt, —
glücklicher Weise kam ihm ein Grammatiker zu Hilfe und das zudringliche i
wurde sorgsam verklebt, ^ve Laesar, Imperator, vox poMi vox vel, und andere
lateinische Sprüche wetteiferten an goldschriftlichc.r Beredsamkeit mit Aushebungen
aus Louis Napoleon's Rede von Bordeaux, welche der hiesigen Börse in süßer
Erinnerung bleiben wird. In der Kuh livoli erklärte ein kolossaler Adler aus
vergoldetem Gyps, durchaus- in die Tuillerien zu wollen, und weiter las man
unter diesem evangelischen Vogel die polizeiliche, dem heiligen Lucas entlehnte
Weisung: „81 on criait, pas, 1ö8 xierres crieraiknU" Allein die Armee, die
Nationalgarde und selbst die begeisterten Deputationen der hiesigen und der be¬
nachbarten Gemeinden nahmen sich diesen weisen Spruch eben nicht zu Herzen,
und sie schrieen nicht mehr, als alö'ilisirten nervösen Ohren zuträglich war. Wir
waren erstaunt, die leicht entzündbaren Franzosen nicht mehr hingerissen zu sehen
von diesem Pompe und von diesem prachtvollen Schaustücke. Wir erwarteten
Trunkenheit, wir glaubten, die zweihundert und etliche Kanonenschüsse, das maje¬
stätische Glockengeläute und der wirklich kaiserliche Aufzug werde es zu einer Kund¬
gebung bringen, die weiter geht, als das Gefühl, doch Alles blieb nüchtern. Wol
schrie man dem vorbereitenden Cäsar vom zweiten December Vive 1'ömpereur zu,
aber kaum war er vorüber, als tiefe Stille eintrat, als hätte man blos einem
Kommando gehorcht. Die eben nicht massenweise herbeigeströmten Zuschauer aber
verhielten sich mit wenigen Ausnahmen kühl und auffallend neutral. Der Kaiser
ritt ein herrliches Roß, ungefähr zehn Schritte seinem zahlreichen Generalstabe
und Gefolge vorauseilend, und er nahm sich gar nicht uustattüch aus. Heute
zum ersten Male hatte sein Gesicht eiuen heitern Ausdruck, und er schien sich wol
zu fühlen, wie ein Mensch, der nach langen Umwegen endlich an sein Ziel gelangt
ist. Er grüßte freundlich nach allen Seiten hin, und ließ seinen Araber fort-
während Cabriolen machen, was Reitliebhaber und manches Damenherz sehr für
ihn eingenommen haben mochte. Den jungen Mädchen lächelte er huldreichst zu
und nahm später in den Tuillerien die dargebrachten Geschenke, wie uns die
Stadtchronik berichtet, mit Anmuth und Güte entgegen. Sie sehen, ich bilde
mich schon im Hofstyle aus und schmeichle mir, mit der Zeit ein vollendeter Mei¬
ster in der officiellen Unterthänigkeit zu werden. Wenn das Herz von aufrichtiger
Unterthanentreue — les I'rcmeais 8ont <Ze8 suMs, erkent — erfüllt ist, wird es
dem Munde nicht schwer, den richtigen anständigen, hofgerechten Ausdruck zu
finden. Die gesammte Cavalerie ritt vor und- hinter dem Kaiser, und wir konn¬
ten nicht ohne — glauben Sie ja nicht unloyales oder rebellisches — Lächeln
an die Phrase der Rede von Bordeaux denken: „I'empu-e e'est la paix."
Mit diesen Truppen ließe sich schon ein anständiges Kriegcheu machen, und
vielleicht wird er sich trotz aller Reden und trotz aller Börseuillnsionen auch machen
müssen. Mein Diener ließ sich durch den: „maKmtiyüe coup ä'oeil" nicht ver¬
hindern, folgende national-ökonomische Betrachtungen anzustellen: „Man glaubte
nicht, daß man alle diese Mäuler und Mägen ernähren könne." Mr. Jean ist
ein Bauernsohn und betrachtet die Dinge zuweilen von der praktisch-finanziellen
Seite. Als gut kaiserlich Gesinnter beruhigte ich ihn mit dem Versprechen einer
baldigen Entlassung eines Theils der Armee, allein ich hatte nicht viel Erfolg bei
meinem ungläubigen Thomas. Also in den Tuillerien wären wir schon, obgleich
ich nicht zu sagen weiß, ob wir auch unser kaiserliches Nachtquartier daselbst auf¬
geschlagen. Doch der Umstand, daß die Mitglieder der Familie Louis Napo¬
leon's ihn dort erwarteten, deutet darauf an, daß man im Interesse der Bour-
bonen sein ode? soi, zu sehen gesonnen sei. Wo sollte auch der Kaiser wohnen,
wo geht's sich leichter hinein und von wo leichter — — doch halt, wir wollen
den heitern Tag nicht trüben durch cassandrische Sprüche und Reflexionen.
Bleiben wir beim Gegenstande des Tages und Vive Napoleon III., empereur
usf kraneais et roi ä'^Ixerie, oder Allgieriger König, wie ein Franzose schlecht
in's Deutsche übersetzte. Während wir hier schreiben am bescheiden flackernden
Feuer unsers Kamins, geht's draußen toll einher. Paris ist illuminirt! Wenn
ich sage Paris, so verstehe ^ich wieder die Theater und einige Restaurants, denn
die Bevölkerung wartet erst die feierliche Krönung ab, ehe ihr ein Lampion auf¬
geht über das endliche Ende der Republik. Bisher ist der Kaiser uoch immer
xrinee presiäsnt mit Ausnahme der Stadt score, wo das Kaiserreich von Mair's
Gnaden schon proclamirt worden. Die neugierige Menge wogt längs den Boule¬
vards hin und steht bewundernd vor den Aeußerungen ihrer patriotischen Mit¬
bürger, und der Schneider des Prinzen erhielt einstimmig die Palme des Bei¬
falls für seine geschmackvolle Beleuchtung. Der Mann muß gute Geschäfte
machen, denn was er mir an Beleuchtungen und Inschriften ausgiebt, ist schon
der Mühe werth. Als treuer (Kleider-) Anhänger seines Herrn macht er alle
Phasen des jungen uapoleon'schen Geschickes mit durch. Vom Schneider des
Exilirten avancirte er zum ttulleur 6u prös-äerit as la rspubliMo, um sich
später zum Kleidennacher des ^nnos presläont et as sei, maison umzubilden,
und um hoffentlich nächstens als tailleur ne her maßest« 1'emxersur et 6<z sa cour
die verdiente Belohnung seiner erleuchteten und viel beleuchtenden Ergebenheit
zu finden.
Das Kaiserthum ist also fertig, Sie mögen nun Thiers, den Schneider
Dnsantois oder die Tuillerien befragen, und es handelt sich blos um einige kleine
Förmlichkeiten, denen mit Hilfe deö Eiiibernfungöbereitcn Senats, der fertigen
Constitution (die wievielte s'it veins plait?) und des wohl vorbereiteten suM-azs
universal glücklich und leicht Genüge geschehen wird. Die Diplomatie hat auch
nichts dagegen einzuwenden, denn la ?ranetz est hati3tirit Und 1'emplrs e'est
1a paix, und eine Krone ist am Ende auch keine zu große Belohnung für die
großen Dienste, die Louis Napoleon der Sache der europäischen Monarchie ge¬
leistet hat, das muß man allen Ernstes zugeben.
Und nun schließlich uoch eine Bemerkung: Haben Sie bemerkt, daß die
Rede von Bordeaux nichts als ein geschickter und präciser Auszug der in Ihrer
Revue ausführlich resumirteu Brochüre ist? Die Flugschrift soll gestern aus¬
gegeben worden sein, ich habe sie noch nicht zu Gesichte bekomme».
?. 8. Erlauben Sie mir einen Druckfehler zu verbessern. Ich sagte Ihnen,
daß die 3^ Renten, Dank sei es der bereichernden Politik uuserer Regierung,
auf den Cours von 8ü gebracht werden sollen. Ihre Setzer machten 8 daraus,
was keiner, Sinu hat. Ein Börsenmann sagte mir heute, daß man in der Coursliste
schon auf 83 wäre. Die Rentiers dürfen daher kaiserlich gesinnt sein, und Louis
Napoleon hat daher Louis Philipp überflügelt, er hat Frankreichs Börse für
sich und hofft nebenbei auch die arbeitenden Klassen zu gewinnen. Ganz wie
der Brvchürenschreiber sagte: Louis Napoleon hat das ganze Volk ans seiner
Seite.
Ans Louis Napoleon's Politik seit dem zweiten December wollen wir in
einer nächsten Bricfschaft einen Blick werfen. Beim Eintritt des zweiten
Kaiserreichs dürfte eine solche Studie interessant und lehrreich zugleich sein.
Die Münzen des Kaiserreichs sind bereits geschlagen; unser Korrespondent
schickt uns zunächst einen Rechenpfennig, auf welchem die getreue Stadt Paris
dem Cäsar der Zukunft ihre Ergebenheit ausdrückt. Das Gold und Silber wird
nicht auf sich warten lassen. Wenden wir unsren Blick für einen Moment auf
die veränderte Lage Deutschlands, dieser neuen Wendung der Dinge gegenüber.
Napoleon hat feierlich erklärt, das Kaiserreich sei nicht der Krieg, sondern
der Frieden; die einzigen Eroberungen, die eS zu machen gedenke, seien die Noth-
leidenden, die erquickt, gehoben, mit der Welt versöhnt werden sollen; „kommt
her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid! ich will euch trösten!" spricht
der Kaiser. Derselbe Manu hat freilich vor einigen Monaten auch erklärt, das
Kaiserreich solle nicht aufgerichtet werden, wenn die Wuth und der Haß der Parteien
ihn nicht dazu zwängen. Aber die Liebe ist stärker als der Tod," stärker als der
Haß; sie hat den Prinzen, als er sich nach dem Weinban der südlichen Provinzen
erkundigen wollte, so unerwartet und so ungestüm überfallen, daß er sich der Sehn¬
sucht seines Volks nicht länger entziehen kaun. Das Kaiserreich wird hergestellt,
ohne daß der Haß der Parteien es zum Heil der Gesellschaft nothwendig machte.
Ganz ähnlich kann die Sehnsucht und die Begeisterung der Armee ihn auch ver¬
anlassen, die Eroberungen im Gebiet der' Nothleidenden einstweilen bei Seite zu
setzen, und seine Blicke auf die reicheren Gefilde von Belgien, .der Rheinprovinz
und Savoyen zu lenken.
Die Gefahr für Deutschland ist sehr groß, und es wäre ein schweres Un¬
recht, sie sich verhehlen zu wolle». Schon nehmen die belgischen Angelegenheiten
eine drohende Wendung. Glücklicher Weise ist' wenigstens vorläufig durch das
Scheitern der ultramontanen Combination die Gefahr beseitigt, daß hier eine
friedliche Eroberung stattfände. Sollte aber gerade diese Wendung den Conflict
auf dieser Seite beschleunigen, so ergeht die ernste Mahnung an die deutschen
Großmächte, eine Stellung einzunehmen, die allen möglichen Eventualitäten vor¬
beugt. Wir siud überzeugt, daß der Krieg unvermeidlich ist, wenn Deutschland
eine Bresche darbietet/ aber eben so überzeugt sind wir von der Klugheit Louis
Napoleon's, daß er jedes Unternehmen vermeiden wird, wenn ganz Deutschland
ihm gerüstet gegenübersteht.
Wir siud > stets für den Antagonismus zwischen Preußen und Oestreich ge¬
wesen; wir haben jede Partei in Preußen unterstützt, die danach strebte, den
Staat Friedrich des Große» dem Einfluß der Habsburgischen Politik zu entziehen.
Wir werden in dieser Richtung unausgesetzt fortfahren. Aber ein Anderes ist es
in Bezug auf die auswärtige Stellung unsrer Staaten. Dem drohenden Kaiser¬
reich gegenüber soll Oestreich und Preußen sich zu der innigsten Allianz verbunden,
und diese Allianz soll etwaige Pelleitäten der übrigen deutschen 'Fürsten im Keim
ersticken.
Eine solche Allianz, die sich uach unsrer Ueberzeugung auch auf die außer-
deutschen Provinzen Oestreichs erstrecken muß, soll keinen Einfluß haben ans die
innere Politik Preußens. Im Gegentheil soll hier »in so entschiedener das Princip
der Selbstständigkeit festgehalten werden, je offener man in Bezug auf die äußeren
Verhältnisse dem alten Alliirten entgegenkommt. Namentlich in der Frage, die
gegenwärtig in Betracht kommt, der Zollvereinsfrage, darf Preußen keinen Zoll
breit nachgeben.
Wir hatten im vorigen Heft die Ueberzeugung ausgesprochen, daß Hannover
nach den jetzt bekannt gewordenen geheimen Bedingungen des Septembervertrags
an einen Bruch nicht denken könne. Wir halten anch jetzt diese Ansicht fest, ob¬
gleich die eigenthümliche Form,' in welcher nach dem Schluß der Konferenz der
hannoversche Bevollmächtigte aus Berlin abberufen wurde, dagegen zu sprechen
scheint. Das Alles sind lediglich Nachwehen von der alten Antipathie der deut¬
scheu Staaten gegen Preußen, von dem man voraussetzte, es nehme zwar alle
Augenblicke eine herausfordernde Miene an, aber es gebe augenblicklich nach, so¬
bald man ihm Ernst zeige. Diesem dunkeln Gefühl folgend, hat man, ohne einen
bestimmten, klar ausgesprochenen Zweck, Preußen von allen Seiten in Verlegen¬
heit zu setzen gesucht, und wenn man jetzt überrascht ist, sich in Preußen geirrt
zu haben, so gebraucht man doch Zeit, sich in diese neue Auffassung zu finden.
Man wird aber sich darin finden, wenn Preußen fest bleibt.
Wir dürfen dem Ministerium eine bittere Wahrheit nicht verschweigen. Der
jetzige, wenigstens anscheinende Bruch des Zollvereins geht, Muigstens zum gro¬
ßen Theil, daraus hervor, daß es vor Ollmütz nicht zurückgetreten ist. Wir
wollen die Lage deS preußischen Staats vor der Ollmützer Zusammenkunft hier
nicht näher untersuchen; war aber Ollmütz nöthig, so mußte es einem Ministe¬
rium überlassen bleiben, das uoch intact war, das in der bisherigen politischen
Richtung Preußens keine Verpflichtungen übernommen hatte, das also nicht in
Widerspruch mit sich selbst treten konnte. Denn hätte sich das Vorurtheil der
übrigen deutschen Staaten, mau könne Preußew Alles bieten, nicht in dieser
Ausdehnung festgesetzt, dann hätte man gegnerischer Seits die- Eventualität,
Preußen könne doch einmal Nein sagen, ins Ange gefaßt, und sich danach ein¬
gerichtet, man hätte sich nicht ans alle Fälle die Hände gebunden.
Wie dem aber auch sei, die Vergangenheit lassen wir dahingestellt sein.
Staaten können viele Sünden begehen, ohne daß ihr Untergang die unvermeid¬
liche Folge wäre. Preußen kann auch jetzt uoch seinen Credit wiederherstellen,
wenn es sich in der eben so festen als besonnenen Haltung, die es zuletzt einge¬
nommen, behauptet: kein Nachgeben gegen jene verderbliche Buudeötagspolitik,
welche (denn das ist die Hauptsache im Bestreben der Koalition, nicht etwa Schutz¬
zoll oder Handelsfreiheit) die inneren Angelegenheiten Preußens vor das Forum
des Bundestags ziehen, d. h. Preußen zu Gunsten Oestreichs mediatisiren will;
dagegen offenes und rücksichtsloses Entgegenkommen in der äußern Politik, in der
Oestreich und Preußen jetzt nur ein Interesse haben. Wie Oestreich in Italien,
so ist Preußen ?am Rhein bedroht; das Eine muß für das Andere eintreten.
Wir können die besten Waffenbrüder von der Welt sein, aber in unsren
inneren Angelegenheiten wollen wir Nichts gemeinsam haben, denn jede Gemein¬
samkeit wäre Abhängigkeit von einem Staate, der wenigstens vorläufig des Bun¬
des mit der Kirche und der, polizeilichen Bevormundung bedarf, um existiren zu
können.
^ Das Interesse an den Zollvereinsangelegenheiten, das ohne¬
hin so lange suspendirt bleiben muß, bis man über die Vorschlage der östreichischen
Negierung an die Coalitiousstaatcu etwas Näheres vernimmt, wird gegenwärtig abgelöst
durch die Theilnahme an den nahe bevorstehenden Kammerwahlen. Man hat hin und
her darüber debattirt, ob die Constitutionellen sich mit den Bethmann-Hollwegianern
oder mit den Demokraten verbinden, oder ob sie sich isoliren sollen. Ihre Theilnahme
an der Wahl überhaupt ist wol nur von einigen müßigen Köpfen in Frage gestellt
worden. — Wir find der Ansicht, daß von Personen und FractionSbezcichnungeu hier
überall nicht die Rede sein darf. Die Aufgabe der nächsten Kammer ist eine genau
vorgezeichnete. Sie muß entschieden konservativ sein, conservativ gegen die überstürzen¬
den Experimente der Rcactiouspartei, die alle Tage auf einen neuen Einfall geräth,
und durch ein Paar eingefleischte Doctriuairs nach Belieben geleitet wird; conservativ
gegen den Bundestag und dessen Trabanten, die Preußen gern durch eine organische
Bundcsgcsetzgebuug in inneren Angelegenheiten (Presse, Ständewesen, Zölle u. s. w.)
mediatisiren möchten. — Wer anso durch seinen Charakter und durch seine Stellung
Bürgschaft giebt, daß er unabhängig ist und gewappnet gegen alle äußerlichen Einflüsse,
und daß er eine gut preußische Gesinnung hat, dem müssen die Liberalen ihre Stimme
geben, einerlei, ob er sich als eim Vetter des Herrn v. Bethmann, oder als ein Vetter
des Herrn v. Auerswald legitimirt. Denn es handelt sich diesmal nicht um Aufrichtung
eines neuen politischen Systems, wo es auf die Nuancen ankäme, sondern darum, zu
verhüten, daß uuter gesetzlichem Anschein die ganze Verfassung über den Hause» geworfen
wird. Eine in ihrer Majorität äußerlichen Einflüssen zugängliche zweite Kammer wäre
für Preußen das größte Unglück.
— Die Auswanderer/ Eine Erzählung von Talvj.
2 Bde. Leipzig, Brockhaus. — Die Verfasserin ist die bekannte Dame, die als Fräu-
lein v. Jacob uns so manche werthvolle Beiträge sür die Literaturgeschichte gegeben
hat, und die jetzt, wenn wir nicht irren, als Mrö. Robinson mit einem Amerikaner
verheirathet ist. Der gegenwärtige Roman ist in Beziehung auf die Sittenschilderung
aus Amerika vortrefflich, um so vortrefflicher, da er nicht in falsche Verallgemeinerungen
verfällt. Sie erklärt sehr richtig in der Vorrede, sie stehe zwar dafür, daß sich allge¬
meine Charaktcrtupeu, wie die von ihr geschilderten, in den Vereinigten Staaten häusig
vorfinden, aber sie wolle damit nicht die Totalität der amerikanischen Sitten erschöpft
haben. Sie hat außerdem das für eine Frau seltene Verdienst, so wenig als irgend
' möglich zu politisiren, und wo sie ein Urtheil abgiebt, ist es immer sehr besonnen und
sachgemäß. Bon dem eigentlich novellistischen Theil können wir nicht mit gleicher Be-
friedigung sprechen. Die Verfasserin versteht zwar, einzelne Züge des Herzens mit
großer Feinheit aufzufinden und wiederzugeben, aber zur überwältigenden Darstellung
einer Persönlichkeit scheint ihre Kraft nicht auszureichen. Zuletzt werden wir mit tra¬
gischen Ereignissen so zu Tode gehetzt, daß wir vollständig den Muth verlieren. Am
gelungensten in dem ganzen Werk dürste die Darstellung der Ncgersclaverei sein, die sehr
ernst, aber ohne Leidenschaft gehalten ist. —
Visitenbesuch eines deutschen Arztes in London. Herausgegeben von
Amely Bölle. 2 Bände. Berlin, Duncker und Humblot. — Dieses Werk, das zum
Theil in einzelnen Abschnitten im Morgenblatt erschienen ist, hat sich in der Composition
wol die Memoiren eines Arztes von Warren zum Muster genommen. ES besteht ans
einer Reihe von Krankengeschichten mit den daran sich knüpfenden psychologischen Erschei¬
nungen. Gegen das ganze Genre haben wir uns schon bei einer frühern Gelegenheit
ausgesprochen, denn wenn auch die Zusammenstellung von den Uebeln der menschlichen
Gesellschaft mit einem menschenfreundlichen Zweck verknüpft ist, so läßt sie sich doch
ästhetisch nicht rechtfertigen. Lassen wir "die Gattung aber einmal gelten, so können wir
diesem Versuch einen vielseitigen Werth nicht absprechen. Es finden sich einige gut
angelegte und befriedigend durchgeführte Charakterbilder darin, und überall spricht uns
eine warme Liebe zu den Menschen und eine Verläugnung aller eitlen Selbstbespiegelung
wohlthuend an. —
In der Lorck'schen Ausgabe der Werke Dickens' ist jetzt das dritte Heft von
Bleakhaus erschienen. — Gleichzeitig sind in derselben (von der vorher die literarhistorische
Einleitung und Copperfield erschienen ist) drei neue Bände hinzugekommen: zwei Bände
„Dombey und Sohn" und eine Sammlung der verschiedenen „Weihnachtsmärchen."
ES ist keine neue Übersetzung, aber der Uebersetzer, Herr Dr. Seybt, hat sie mit
großer Sorgfalt durchgesehn, die Fehler der ältern Ausgabe verbessert, und, wo es
anging, in den Ton des Ganzen mehr Schick und Haltung gebracht. Wir glauben
nicht zu viel zu sagen, wenn wir Julius Seybt als den besten Uebersetzer derartiger
Werke bezeichnen. Einzelne Flüchtigkeiten kommen wol vor, aber was die Hauptsache
ist, die poetische Nachdichtung der Eigenthümlichkeiten des englischen Humoristen und
dabei doch ein sehr verständiges Maß in dieser Nachbildung, das sich von den Ueber-
treibungen der meisten Uebersetzer (z. B. von den Versuchen, die Korruptionen der
Londoner Sprache durch deutsche DialcAe oder durch eine selbst gebildete Mundart
vollständig wiederzugeben) sorgfältig hütet das Alles findet sich hier mit einem sel¬
tenen Takt und einem feinen Verständniß der dichterischen Individualität verbunden. —
Ueber die schone Novelle „Dombey" haben wir uns schon ausführlich ausgesprochen,
können auch auf die literarische Einleitung der Ausgabe verweisen. Die Weihnachts-
gcschichten sind elegant ausgestattet, und eignen sich mehr wie irgend ein anderes Buch,
wenn wir etwa Andersen's Mährchen aufnehmen, zu Weihnachtsgeschenken. —
Vnvle loin's Litbiii, c,r llezro I.its in tief Slave stilles ok ^Möiieg, I?7
Ksrrl'et Leeoll er Llowv. — Dieser Roman hat nicht nur in den Vereinigten
Staaten, für die er recht eigentlich geschrieben ist, das ungeheuerste Aussehen erregt; er
ist auch in England, wo er erst seit etwa drei Monaten bekannt ist, in einer Auflage
von etwa 130,000 Exemplaren verbreitet. Diesen ganz unglaublichen Erfolg verdankt
er nicht seinem novellistischen Inhalt, sondern dem Ernst und der Leidenschaft, mit
welcher er die Sclaverei-Frage erörtert. Wir wollen gern zugeben, daß dieses Interesse
kein ganz reines ist, daß es vielmehr an die Begierde erinnert, mit welcher man die
Mysterien- Literatur und die Modelccture der Criminalgeschichten verschlang; aber es ist
doch nicht das allein. Mistreß Stowe hat sich nicht damit begnügt, eine Masse Gräuel-
scenen aus dem Negerlebcn zusammenhäufen; sie hat die ernsthaftesten Studien gemacht,
und die Sclaverei in ihrer Unsittlichkeit von allen Seiten beleuchtet. Sie schildert
wohlwollende, leichtsinnige und boshafte Selavenbcsitzer, und zeigt, daß auch unter den
besten Umständen die allgemeine Schuld eines in seiner innersten Wurzel unsittlichen
Instituts zugleich den Einzelnen trifft. Bon dieser Seite aufgefaßt, als gründlich
realistische Zeichnung und als eine mit Innigkeit und Wärme geschriebene Apologie
eines vielleicht voreiligen, aber doch im Laufe der Zeit nicht zu umgebenden Princips ist
die Schrift vortrefflich. Natürlich gehört Mistreß Stowe zu den Abolitionisten. Man
mag von der entgegengesetzten Seite noch so viel einwenden, die Gefahr, die mit der
Neger-Emancipation verbunden ist, die vollständige Zerrüttung des Eigenthums u. s. w.,
man wird dadurch doch die zähe Hartnäckigkeit der südlichen Unionsstaaten nicht rechtfertigen.
Denn die Negersclaverei ist kein Institut, das nur als ein vorübergehendes Uebel gefaßt
werden könnte, das eine allmähliche Verbesserung zuließe; es verführt vielmehr zu immer
größeren Uebelthaten, zu immer schlimmeren Verwickelungen, und je später man den
Versuch, etwas dagegen zu thun, hinausschiebt, desto schrecklicher muß einst die Krisis
werden. Wir treiben die Philanthropie keineswegs so weit, daß wir unsrer.Idee zu
Liebe auf das Haupt der Pflanzer ein göttliches Strafgericht herabwünschten, aber wir
müssen doch sagen, daß uuter allen abscheulichen Einrichtungen unsrer Gegenwart die
Negersclaverei die schändlichste ist, und daß wir vor einem etwaigen Ausbruch zwar
schaudern würden, aber nicht ohne ihn zu begreisen. Es handelt sich nicht blos um
die einzelnen Gräuel, die nie zu umgehen sind, wo der Mensch nicht blos zur Sache
herabgesetzt ist, wie in der antiken Sclaverei, sondern wo dnrch den Raceunterschied und
die, dadurch bedingte Jndelebilität des Sclavenstandcs das unheilige Verhältniß noch
verschärft wird; eS handelt sich vielmehr um die Unsittlichkeit des Ganzen, die sich
allen Einrichtungen jener Staaten aufprägt. Wo es von Gesetzes wegen bei den
strengsten Strafen untersagt wird, den Negern irgend welche Erziehung angedeihen zu
lassen; wo die sittlichen und gemüthlichen Verhältnisse unter den Negern selbst mit der
empörendsten Willkür zerrissen werden, wo mit einem Wort der ganze Stamm syste¬
matisch demoralisirt und geistig und physisch dcpravirt wird, ist eine Beschönigung
aus bloßen Zweckmäßigkeitsgründen nicht am Platz. Man kann auch den unwürdigsten
Zustand ertragen, wenn man ihn als einen vorübergehenden betrachtet, sobald er sich
aber durch seine eigene Natur verewigt, und nach allen Seiten hin Wurzel schlägt, wird
eine schreckliche Entwickelung kaum zu vermeiden sein. — Hier hätte das Christenthum
einmal eine würdige Aufgabe: nicht unter den Negern selbst; denn was sollte eS nützen,
einem Geschlecht, das unter die Thiere herabgedrückt wird, die Verheißungen des
Evangeliums zu verkünden? sondern unter den eigentlichen Trägern dieser Ungerechtig¬
keit, die endlich begreifen müssen, daß wenn das Evangelium die Mühseligen und
Beladenen tröstet, eS sie tröstet mit der Aussicht aus eine zukünftige Rache.
— Wir haben bereits die Gedichte Walters von der
Vogelweide, nach Lachmann's Ausgabe übersetzt von Weiske (Halle, Pfeffer), erwähnt.
Wir geben heute einige Proben von der Art und Weise, wie der Dichter sich gegen
die Kirche verhielt.
Wir klagen all »ut Wissens nicht, was Noth bereitet,
Weil u»S der Pabst selbst, unser Vater, hat verleitet.
Er geht voran mit väterlichem Beispiel nur:
Wir folgen ihm und nie kommt unser Fuß aus seiner Spur. ,
Nun merke, Welt, was mir daran so sehr mißsalle:
Geizet er, so geizen mit ihm alle;Lüget er, sie lügen mit 'ihm alle seineu Lug,
Und trüget er , sie trügen mit ihm seinen Trug.
Habt Acht, wers übel mir nimmt ohne Fug,
Bringt mit dem Alten dort den jungen Judas in die Falle.
Der Stuhl zu Rom ist jetzt erst recht gar schön gefahren,
Schlimmer als beim Zaubrer Gerbert einst vor langen Jahren:
Derselbe gab dem Teufel doch sich hin allein,
Doch dieser will sich und die Christenheit der Holle weihn.
Alle Zungen mußten Gott auftehn zu strafen
Und rufen ihm, wie lang er wolle schlafen?
Sie wirken wider seine Werk und fälschen all sein Wort,
Sein Kämmerer der stiehlt ihm seinen Himmelshort.
Sein Richter mordet hier und raubet dort,
Sein Hirt ist ihm zum Wolf geworden unter seinen Schaafen.
Juchheisa! mag der Pabst ins Fäustchen christlich lachen,
Wenn er zu seinen Wälschen sagt: „was kann ich Alle» machen!"
Was er da sagt, das hätt er besser nie gedacht.
Er prahlt: „zwei Deutsche hab ich unter eine Krone gebracht,
Daß sie das Reich zerreißen nun mit Kriegslasten!
Unterdessen füllen wir die Kasten.
Hab sie zum Opferstock gedrängt, ihr Gut ist alles mein,
Ihr deutsches Silber sährt in meinen wälschen Schrein,
Ihr Pfaffen esset Hühner, trinket Wein,
Und laßt für euch die Deutschen beten, singen, fasten."
Von neuen Gedichtsammlungen erwähnen wir: G edi este von Karl Binzer
(Kopenhagen, Schwarz). Gemüthlich naiv und im Ganzen ansprechend. Ferner: Welt
und Herz. Von Willfried von der Nenn. (Dresden, Schvnfeld.) Die Gedichte sind
zu einem wohlthätigen Zweck bestimmt und sind in ihrer Anspruchslosigkeit zum Theil
ganz gut. > Ferner: Drei Bücher Epigramme, von Kühn. (Berlin, Alexander
Duncker.) Als kleine epische Darstellungen nennen wir: Nur Jehan, von Her¬
mann Naumann (Breslau, Trewendt und Graner) und: Die Brüder, von Paul
Heyse (Berlin W. Hertz). — Beide behandeln ausländische Stoffe, das erste eine
persische, das zweite eine chinesische Sage. Die Geschichten sind in beiden interessant
genug, in Beziehung auf die Ausführung geben wir «dem zweiten entschieden den. Vor¬
zug. Schon der fünffüßige ungereimte Trochäus, den er für sein Werk- gewählt hat,,
se viel zweckmäßiger, als die pomphafte Ottavcrime des' erster». Jenes trochäische
Versmaß wird sich für ähnliche Dichtungen wol immer mehr bei uns Bahn
brechen, während die Stanze, wie- alle übrigen italienischen Versmaße, sich blos
auf das Gebiet der kleinen Lyrik beschränken wird. — Ferner gehört in dieses Gebiet
noch das Buch: Dichtungen nach dem Alten Testament, von Katharine
Dietz. (Berlin, Decker.) Von den drei Dichtungen ist die erste: Hagar, ein Balladcn-
epoS, eben so die zweite: Ruth, die dritte: Abraham'S Opfer, ist in dramatischer Form
gehalten. Wir halten es immer für ein mißliches Unternehmen, jene biblischen Ge¬
schichten, die in ihrer Naivetät so ansprechend sind, vollständiger auszuarbeiten. Wenn
man sie näher in's Auge faßt und mit unsren gewöhnlichen sittlichen Grundbegriffen in
Einklang zu bringen sucht, so entstellt man jene Bilder und wird doch dem Sinn der
neuern Zeit nicht gerecht. Die Dichterin hat sich in der Bemühung, ihren Stoff voll¬
ständig zu erschöpfen, noch dazu in unnöthige Sentimentalität eingelassen. So küßt in
der Einleitung die verstoßene Hagar dankbar Abraham's Hand. Das ist ein Zug, der
in der Bibel nicht vorkommt, und der dem Bilde nicht gerade einen bessern Anstrich
giebt, und zum Schluß sagt sie: „Zum Opfer ward das Herz der armen Magd; Je-
hovci, wer ergründet deinen Willen?" Aber nach der Bibel war die Austreibung der
Hagar nicht der Wille Jehova's, sondern der Wille der eifersüchtigen Sarah. Wenn
doch die modernen Christen nicht die Bibel verbessern wollten!— Vollends unerträglich
ist die dramatische Behandlung eines so entsetzlichen Stoffes, wie die Geschichte von
Abraham's Opfer. Auch hier ist die Bibel wieder verbessert, indem Satan in der Gestalt
eines schönen Jünglings mit leuchtender Stirn und hcllschimmcrndcm Gewände persönlich
auftritt und den Abraham zu verführen sucht, Gottes Gebot zu widerstreben. Wir
müssen gestehen, sür dieses neumodische süßliche Christenthum haben wir keinen großen
Geschmack. — Noch gehören in diese Kategorie: Blumen des bayrischen Hoch¬
landes, von'Leo nhardt Wohlmuth (Erlangen, Ente), recht niedliche reflectirende
Erzählungen in Balladenform; — Geist und Herz von Sophie George, heraus¬
gegeben von Elise von Hohenhausen (Bremen, Schlodtmann), anspruchlose Ergießungen
einer schönen und interessanten Individualität: und Gedichte von Carl Scriba
(3. Auflage. Friedberg, Scriba): Lieder und Romanzen, meist geselliger Natur. —
Die Gesänge der Serben von Siegfried Kappcr. Zwei Bde. Leipzig,
Brockhaus. — Schon lange Zeit hindurch, eigentlich schon seit dem Ausblühn unsrer
eigenen Poesie, hat uns die serbische Dichtung beschäftigt. DaS Serbcnland ist eins der
wenigen, wo die alte productive Kraft der Poesie im Volk noch nicht ausgestorben ist,
und unsre Schriftsteller thun daher recht daran, unsre Aufmerksamkeit immer wieder
dahin zu lenken, weil wir hier die im Geheimen nnbewnszt wirkende Kraft der Poesie
in einer günstig gelegenen Werkstätte belauschen können. In dem gegenwärtigen Werk
hat sich der Verfasser ein beschränktes Ziel gesetzt. Da die Lieder aus der eigentlich
historischen Zeit der Serben bereits anderweitig veröffentlicht sind, ^ so fängt er seine
Sammlung mit dem Ende des -ki. und Anfang des 13. Jahrhunderts an. Trotz der
kräftigen Gestaltung, in der die halb barbarischen Helden dieser Sagen auftreten,
weht doch durch sie ein Zug der Trauer, das Gefühl der Unterdrückung durch ein
verhaßtes Volk, und dieser Zug verfehlt uicht, das Interesse zu erhöhen. Der Ver¬
fasser giebt in der kurzen, aber sehr sachgemäßen Einleitung einige Andeutungen über
das Verhältniß der Urtexte zu den Uebersetzungen. Die Uebersetzer bedienen sich seit
Goethe des sür diesen Zweck sehr passenden fünffüßigen Trochäus, im Urtext dagegen
sind diese zehnsylbigen Verse ohne allen Rhythmus, denn das Vorherrschen des doppelten
Dactylus am Schluß kann man keinen Rhythmus nennen. Der Verfasser giebt auch
einige der noch immer volkstümlichen Melodien an, so weit man dergleichen Lante in
Noten übersetzen kann. Sie machen einen wahrhaft barbarischen Eindruck. Der erste
Theil ist ausschließlich episch; in dem zweiten waltet die Lyrik vor, und wir entdecken
in dieser Häufung wüster Barbarei manche sehr zarte, sinnige Zuge , die in diesem
Zusammenhang dem slawischen Volk vorzugsweise eigenthümlich zu sein scheinen. Auch
die Naivetät des Ausdrucks hat zuweilen etwas sehr Anmuthiges. Eine gewisse Ein¬
tönigkeit läßt sich bei alle dem nicht vermeiden, aber diese finden wir ja anch in unsren
eigenen Gedichtsammlungen wieder, und hier haben wir, was wir dort häufig ver¬
missen, eine kräftige, ursprüngliche »ut selbst in ihren rohen Auswüchsen interessante
Natur.
— Allgemeine Geschichte des Welt¬
handels von H. Scherer. Erster Theil. Von den frühesten Zeiten bis zur Ent¬
deckung Amerika'S. (Leipzig, Hermann Schultze.) Das ist ein gutes, vortreffliches Buch,
welches wir nach allen Seiten hin auf das Lebhafteste empfehlen können. Der Verfasser
tritt nicht als Gelehrter ans, sondern als praktischer Mann, der durch weite Reisen,
dnrch jahrelangen Aufenthalt in den ersten Handelsplätzen Europa's und in neuester Zeit
dnrch seine amtliche Stellung an der Börse zu Trieft sich Anschauungen und Erfahrun¬
gen über das Geschäftsleben gesammelt hat, wie sie, dem eigentlichen Gelehrten nicht
leicht zu Theil werden, die aber für ein solches Werk die Hauptgrundlage bilden
müssen. Mit vollkommen richtigem Takt verschmäht es daher der Verfasser, durch Zahlen
und Aehnliches zu imponiren. Er faßt immer mir die Hauptsache zusammen, gruppirt
sie aber so, daß eine deutliche Perspektive daraus hervorgeht, und daß auch der Un¬
geübte in die Natur und das innere Wesen des Weltverkehrs wenigstens einige Einsicht
erhält. Der gegenwärtige Band zerfällt in zwei Abschnitte, die durch die Periode der
Auflösung des römischen Reichs von einander geschieden werden. Beiden Abschnitten
geht eine allgemeine Einleitung voraus, welche die Bewegungen des Handels an die
hauptsächlichsten historischen Ereignisse anknüpft; alsdann werden die einzelnen Völker
durchgenommen, die man für den bestimmten Zeitraum als die Hauptträger des Handels
zu betrachten hat. Mitunter läßt er sich freilich auch in zu weit gehende geschichts-
philosophische Betrachtungen ein, allein wenn diese auch in der Regel nicht tief gehen,
so sind sie doch immer verständig und tragen wenigstens dazu bei, uns in den Gesichts¬
punkten des Verfassers zu orientiren. — DaS Material ist reichhaltig, aber in keiner
Weise überladen. Man kann das Buch bequem hinter einander fortlcsen, und
durch den deutlichen und klaren Styl, wenn dieser auch dnrch seinen Mangel an Correct-
heit an den Geschäftsmann erinnert, empfiehlt es sich als allgemeines Lesebuch. —
Geschichte Peter des Grausamen. Aus dem Französischen. Von
Prosper Merinit'-e. (Leipzig Lorck.) — Dieses historische Werk des berühmten
Dichters hat sowol in Frankreich, wie in England den lebhaftesten Beifall gefunden.
Die Zeit, die es behandelt, ist eine der bewegtesten, und wie wir uns heute ausdrücken
würde», der am meisten romantischen aus der spanischen Geschichte, und der Verfasser
hat bei allem Ernst des Studiums in der Behandlung sein altes novellistisches Talent
nicht verläugnet. Die Wahl dieses Buches für die „Historische Hausbibliothek" ist daher
vollkommen gerechtfertigt. —
Deutschland und die abendländische Civilisation. Zur Läuterung unsrer
politischen und socialen Begriffe. (Stuttgart, Karl Göpel.) — Was bei dem Buch zunächst
interessirt, ist die unglaubliche Virtuosität des Verfassers im Schimpfen. Wir Deutschen
haben zwar in dieser Kunst in den letzten Jahren viel, sehr viel geleistet, aber der
Verfasser verdient um so mehr eine hervorragende Stellung in dieser Beziehung, weil
er im Uebrigen nicht den Eindruck der Pöbeldcmokratie des Jahres 184-8 macht, son¬
dern im Gegentheil den eines gebildeten Mannes. — Natürlich müssen am meiste»
die Gothaer herhalten, weil diese Partei den meisten Ereignissen vom Römer an bis nach
Ollmütz exclusive wenigstens die Färbung gegeben hat. p. 302 wird von ihnen gesagt,
man wolle sie nicht kritisiren, „schon aus dem einfachen Grund, weil die Sprache für
eine solche Verbindung von Dummheit und Ehrlosigkeit keinen Ausdruck hat." Indessen
heißt es p. 3-14: „Nicht mit Unrecht schlug man indessen die Fassungskraft der Groß-
deutschen etwas niedriger an, als die der gothaische» Burgeoisie." — Von der
Demokratie, welcher der Verfasser angehört, wird zwar dergleichen direct nicht behauptet,
aber zwischen den Zeilen ist doch hinlänglich zu lesen, daß ihre Fassungskraft dem. Ver¬
fasser wenigstens nicht viel erheblicher scheint, als die der Klein- und Großdeutschcn.—
So viel von den parlamentarischen Parteien. Was die Regierungen betrifft, so wird
freilich Preußen am meisten lächerlich gemacht, aber anch von Oestreich wird gesagt
(p. 383): „es verstehe unter deutscher Einheit nur ein centraleuropäischcö Chincscnthum,
eine Croatisirung und Barbarisirung Deutschlands. Kann eine solche, glücklicher Weise
übrigens an unheilbarem finanziellem Siechthum kränkende Macht in einem europäischen
Conflict die deutschen Interessen vertreten?" Die kleinen Staaten endlich stehen noch unter
den Gothaer». — Auch die auswärtigen Mächte, England, Frankreich kommen schlecht
weg; Rußland wird noch mit der meisten Vorliebe besprochen, aber doch nur als der
Gipfel des Unsinns. — Die Hauptkrankheit unsrer Zeit (und darin stimmt er mit dem
Erfinder der „ Gcnossenpartei" nbcreüi), sucht er in der Herrschaft deS Romanischen
StaatsprincipS in Deutschland, des bureaukratischen oder kommunistischen, wie er sich
ausdrückt. -- Den Hauptfehler des Frankfurter Parlaments findet er darin, daß es sich
Nicht sofort eine unabhängige Parlaments - Armee gebildet, um dadurch die Executive
unmittelbar in die Hand zu bekommen. — Ja freilich! es macht sich anch so eine im-
provisirte Armee! Die Velleität war wol vorhanden, hat ja noch der Reichsregent
Raveaux an den „Reichsgeneral" Prittwitz Befehle erlassen! Es kommt nnr darauf ein,
ob solche Befehle ausgeführt werden. Die Verkehrtheit der Demokraten liegt immer in
der Überschätzung der Macht, welche das Parlament gehabt, und in der Unterschätzung
der fürstlichen Macht. Sie lassen sich von den Süddeutschen Verhältnissen irren.
Berlin war freilich rcvolutiouirt, aber Berlin ist nicht Preußen. — Einige Hoffnung sür
die Zukunft schöpft er daraus, daß das herrschende Staatsprincip bereits „in das
Stadium des Deliriums getreten" sei (p. 32-l). Er hält zwar daS vollständige Ans-
sterbc» der Civilisation im Abendland sür möglich, aber auch eine neue Revolution in
der elften Stunde. Zu diesem Zweck will er eine „nationale Bewegungspartei" bilden.
Die Männer der nationalen Partei sollen sich sy. 39i) „vom nutzlosen parlamentarischen
Kampf zurückziehen und durch Studium der Geschichte (!!) und der Volkswirthschaft
einer bessern Zukunft Deutschlands vorarbeiten." Eine sehr nützliche Beschäftigung! aber
wir fürchten, daraus gehen nur neue Gothaer hervor! „Vom Gebiet der Nationalöko¬
nomie aus läßt sich gegen die jetzigen Zustände Deutschlands eine weit wirksamere
Opposition machen, als in einer kleinen Kammer, wo die Regierung den besten Theil
ihrer Kraft gerade aus der Opposition zieht." Wo soll denn diese Opposition gemacht
werden, da die Regierungen die Macht haben, jede derartige Opposition im Keime zu
ersticken? „ES sollen ferner zwischen den Bcwegnngsmänncrn der deutschen Länder
Verständigungen u. s. w. u. s. w." — Die alte Leier!
— Die Dresdener Künstler haben Eduard Devrient, der vorher
als „Nathan der Weise" von der Dresdner Bühne Abschied genommen hatte, ein Fest¬
mahl gegeben, bei welchem die gemüthliche Theilnahme aller Anwesenden warmer war,
als es sonst bei ähnlichen Gelegenheiten wol zu sein pflegt. Sein Bruder Emil De-
vrient, der die Festrede hielt, bezeichnete seinen Verlust mit Recht als unersetzlich. Das
Fest war eines der gcmüthvollsten, deren sich die Dresdner Bühne erinnert; die all¬
gemeine Achtung, die nicht blos dem Künstler, sondern auch dem Menschen galt, sprach
sich unverkennbar aus. Wir hoffen, in Kurzem über seine neuen Unternehmungen in
Karlsruhe berichten zu können. —>
Bei einer Gastvorstellung in Leipzig haben wir Döring als Shylock gesehen.
Er zeichnete sich nicht blos, wie gewöhnlich, durch brillante Einzelheiten aus, sondern
er hatte auch die Grundstimmung der Rolle richtig getroffen. Trotzdem fehlt seinem Spiel
Etwas. Er verwendet eine übcrttiebcuc Menge materieller Mittel, und arbeitet seine
Gestalten nicht mit Einem großen Schnitt. Der Virtuos überwiegt den Künstler,
darum betäubt er mehr, als daß er überzeugt. Trotzdem ist das Talent so bewunderns¬
würdig, daß man es, namentlich bei unsrer Sterilität, immer sehr hoch halten muß.—
In der Friedrich-Wilhclmstadt (Berlin) wurde am 8. October zum ersten Mal
gegeben: „Die tranken Doctoren," Lustspiel in 3 Acten von Lederer (Verfasser von
„Geistige Liebe" und „Häusliche Wirren.") — Das neue Königstädtcr Theater von
Herrn Cerf ist am 1i. October eröffnet. — Fräul. Kroll hat auch für den Winter
die Concession zu theatralischen Vorstellungen erhalten. —
Zwei dramatische Versuche von Xaver Amiet liegen u»S vor: „Die Barrikaden¬
braut" und „der Dorsmaguat" (Basel, Schabclitz), die sich mehr dnrch leidenschaftlichen
Tyrannenhaß, als dnrch Poesie auszeichnen.
—- Wagner'S Tannhäuser ist am 6. October in Breslau, wie man
hört, mit großem Beifall aufgeführt. — In Berlin ist außer dem Tannhäuser, auf
Empfehlung der Prinzessin von Preußen, auch der Lohengrin angenommen. — Am
6. Oct. wurde in Hamburg Barbieri's neue Oper: „Nisida die Perle von Procida,"
zum erste» Mal gegeben. — Am 26. Angust wurde in Dessau ein Oratorium vom
Organist Seclmann: „Wolfgang von Anhalt" aufgeführt. — Adam hat für Fanny
Ccritto, die wieder in Paris engagirt ist, ein neues, sehr reiches Ballet componirt:
„Orpha." — I» London macht eine musikalische Negergesellschaft Aufsehen. Die Neger
scheinen sich jetzt künstlerisch zu emancipiren; die spätere Generation wird wol Jra
Aldridge zu ihrem Propheten erheben. — In Berlin sind bei Kroll wöchentliche Lon-
cvrls furieux eingerichtet, wo die nämliche Musik gemacht wird, wie in den Symphvnie-
Soirven. — Von den drei großen Opern Meyerbeer'S sind in Paris allein: Robert
der Teufel 333, die Hugucuottcu 222, der Prophet 127 Mal aufgeführt — Das
Gastspiel der Frau La Gränze in Brünn ist am 23. September durch eine große
Feuersbrunst gestört worden. — Sophie Eruvclli scheint in Frankfurt keinen sonder¬
lichen Erfolg errungen zu haben; diese deutsche Dame hat für gut gefunden, in einer
deutschen Oper italienisch zu singe». — Jetty Dresfz ist ans London in Wien an-
gekommen. — Am ü. October ist in München Verdi's Nabnconodosor mit großem
Beifall gegeben. — Der Aufenthalt Jenny Lind's in Nordamerika hat nach Ab¬
schluß der Rechnung einen Reingewinn von 6-10,000 Dollars (916.000 Thaler) ab¬
geworfen. Die Sängerin hat davon 302,000 Dollars 'erhalten, Herr Varuna, der
Eutreprcncnr, 308,000.— Heinrich Marschncr ist jetzt lebenslänglich, mit erhöhtem
Gehalt, in Hannover engagirt.
— Zunächst liegen uns zwei Gedichtsammlungen
vor, beide von nichtsrauzösischen Verfassern, die Lieder eines belgischen Handwerkers
(Lliimsons ä'^nioilii; Lwssv; vruxollvs, Dvlldsso) und die romantischen Versuche eines
Schweizers, der in seinem 23. Jahre verstorben ist (I'oösios elo I<'röclörio Noimoion,
leeuoillios pur ses amis. I^susannv). Die beiden Sammlungen haben einen sehr
entgegengesetzten Charakter, sind aber beide interessant. Der belgische Volksdichter giebt
uns Lieder in der Weise Bvrangcr's, der sein Vorbild gewesen ist, und den er in ein¬
zelnen Liedern vollständig erreicht, wenn auch manche sehr prosaisch abfallen. Er macht
den Eindruck einer schlichten, treuherzigen Natur, die sich nicht erst zu zwingen braucht,
um die Saiten anklingen zu lassen, die im Volke wiederholen. Bei den meisten
BolkSdichtern finden wir das Gegentheil. Wenn sie wirklich aus dem Volke hervorge¬
gangen sind, so streben sie in der Regel über ihre Sphäre hinaus, und im umgekehrten
Fall nehmen sie eine herablassende Miene an. - Unser Dichter vergöttert keineswegs den
Stand, dem er angehört ; er sucht ihn vielmehr zu veredeln und fortzubilden, aber nicht
von einem erhöhten Standpunkt, sondern mitten ans dem Volke heraus. In einzelnen
Gedichten (z. B. die Schwalbe) finden sich auch Anklänge an eine zartere, innige
Poesie. — Der Schwcizerdichtcr dagegen gehört der romantischen Schule an, jener
Lyrik/ die in neuester Zeit bei den Franzosen fast in's Ueberschwänglichc gerathen ist.
Sie behandelt »icht allgemein faßliche Empfindungen, sondern ganz individuelle, die
auf exceptionelle Naturen berechnet sind, und steht daher stets auf einem bedenklichen
Scheidewege. Aber die der Anlage nach gesunde Natur des Dichters bewahrt ihn vor
den bedenklichen Abwegen, in welche die meisten seiner Mitstrebenden verfallen. Das
größte dieser Gedichte ist ein halb beschreibendes, halb allegorisircndes über die Alpen,
welches sich durch einzelne Schönheiten sehr auszeichnet, als Ganzes aber einen ver¬
worrenen, unbefriedigender Eindruck macht. Das merkwürdigste unter d°en Gedichten
aber ist eine Ballade im Bürger'schen Zuschnitt: Die beiden Zecher. Es ist mit allen
Schauern der deutschen Mystik ausgestattet, und es ist eine kräftige, freilich zuweilen
grelle Farbe darin, wie wir sie bei den Franzosen selten finden. — Eine poetische Nach¬
bildung des Nibelungenliedes ist von Bourdillon erschienen um trsgisjue ävs lXi-
Kolons, on los IZoui'guiAnons Ä la vom- et'Mila, poömv trscluit «Zu luz'vis on
vivux üllomgml). — In der jetzt so beliebten Modewaare der genrehast dargestellten
Dorf- und Stadtgeschichtcn sind wieder massenhafte Lieferungen eingetroffen. Die renom-
mirtcsten Dichter scheinen in dieser Spielart mit einander wetteifern zu wollen. —- In
einem Werk über den Einfluß der französischen Literatur von —1850 auf den
Volksgeist und ans die Sitten, welches von der Akademie zu Chnlons den Preis er¬
halten hat, versucht Herr Manche de Lvisnc die Literatur zum Sündenbock aller Untu¬
genden zu machen, an denen gegenwärtig die Gesellschaft leidet. Es ist mit der gewöhn-
lichen Einseitigkeit der neu französische» Neactio» geschricbe». — El» interessanter Beitrag
zur neuesten Geschichte sind die neue» Studien über die französische Revolution von
Ernvuf, dem Schwiegersöhne Bignon's, der wahrend der Revolution mehrere diploma¬
tische Missionen auszuführen hatte. Das Buch beschäftigt sich mit den Ereignissen des
Jahres 1798 in der Schweiz, Italien und Acgypten. — Von dem großen Werk:
voeumons inöäits sur I'Iüstoiro <lo I<rimoo; xudlivs par orclro ein minislro no
I'inslruolioi, puvlicius, welches im Jahre 1834 zuerst durch Guizot angeregt wurde und
bereits nahe an sechzig Quartbände umfaßt, sind wieder zwei wichtige Bände erschienen,
der zweite Band vom Proceß der Tempelherren, von Michelet, der den lateinische» Text
des Verhörs der Ritter enthält, und der dritte Band der Statuten von Rheims. —
Von dem sehr interessanten Werk Fi guter's: Geschichte der wichtigsten moderne»
wissenschaftlichen Entdeckungen, ist der dritte Band erschienen, der die Geschichte der
Dampfmaschinen und Eisenbahnen behandelt. — Als einen interessanten literar-histo¬
rischen Beitrag führen wir von Charles Nisard die Biographien der berühmte»
Philologen LipsiuS, Scaliger und Casanbonuö an. Sie erscheinen in dieser Lebensbeschrei¬
bung, wo aus ihre wissenschaftliche Thätigkeit weniger eingegangen wird, in menschlicher
Beziehung ziemlich klein. — Ferner der erste Band der Geschichte der Maroniten in
Europa, vom Alterthum bis auf unsre Tage, von Charles Magnin. Sie war
früher in einzelnen Heften in der Ksvuo «los cloux monckos erschiene». — Endlich die
Statistik der Industrie von Paris, wie sie aus den durch die Handelskammer veran¬
stalteten Untersuchungen resultirt. Man erhält dadurch unter Anderem Aufschlüsse über
die Folgen der Fcbruarkrise auf die Industrie. Unter 342,530 Handwerkern, die
1847 beschäftigt waren, wurden 186,400, also über die Hälfte, entlassen, obgleich die
Manufacturistcn es sich die größten Opfer kosten ließen, sie zu erhalten. Die Geschäfte
der Wagcnmacher und Wvllcnsärbcr sielen um 90 Procent. Die Einnahme der
öffentlichen Vergnügungsorte belief sich 1847 auf beiläufig 11 Millionen Francs, im
folgenden Jahre ging sie nicht über 6^ Millionen hinaus. Die Untersuchung der
Mietwohnungen für die Armen hat sehr traurige Resultate ergeben. Man hat über
2000 besucht und überall sehr kleine Kammern gesunden, fast ganz ohne Tageslicht und
zum Theil lediglich mit einer zerbrochenen Bettstelle möblirt. Man fand in diesen
Mietwohnungen im Januar 1849 etwa 28,000 Menschen, etwa ein Viertel davon
Frauen; unter diesen belief sich nach der Aussage der Miether die Zahl derjenigen, die
einen sehr übeln Lebenswandel führte», aus 8,400. Der Preis des Aufenthalts in
diesen schmuzigen Plätzen ,ist 15 bis 20 Centimes für die Nacht. Ein Bild des
Elends und des Verbrechens geht ans diesen Untersuchungen hervor, welches die My¬
sterien von Engen Sue bedeutend übertrifft. Die zahlreichen Deportationen haben in
diese» Plätze» stark aufgeräumt.
Die Colonisation in Algier. Es liegen eine Reihe Hefte
der ^nnglos alö I» oolomsgtion ^.lMnoimo vor uns lMIIolin monsuvl 60 Kolonisation
trsnyilisv et 6ki'iMF>'i'L, publiv fünf Il> oürootion av IVl. Ilippolvtv ?out), die über
diesen wichtigen Gcgcnstattd von den verschiedensten Seiten interessantes Material bringen.
Wir gedenken nächstens nach Anleitung derselben Mittheilungen darüber zu geben. —
Der Humanitätsstrcit. Die Paradoxien, welche der Ubbo Gamma in seinem
vor rongour gegen die philologische Grundlage unsrer modernen Erziehung arg cbrach
hat, haben nach allen Seiten hin zu sehr ernsthaften Erörterungen Beranlassnng
gegeben. Natürlich stehen wir in diesem Streit — beiläufig eben so in dem Streit
zwischen den Realisten und Humanisten — ganz'entschieden aus Seite des Humanismus,
weil wir überzeugt sind, daß die Grundlage unsrer ganzen modernen Cultur, der
sittlichen wie der ästhetischen, das Alterthum ist, und daß die Erziehung, welche
doch vor Allem die Aufgabe hat, den vorhandenen Bildungsfonds dem Indivi¬
duum zu vermitteln, immer wieder aus die Quelle dieser Bildung zurückgehen muß.
Nur möchten wir den christlichen Vertheidigern der Antike empfehlen, nicht zu sophistisch
zu Verfahren. Ein sehr starker Gegensatz zwischen der moralischen Anschauungsweise
des Alterthums und dem, was man in den Schulen gewöhnlich christliche Moral nennt,
ist allerdings vorhanden; ja sie stehen sich wie zwei Extreme gegenüber. Wir glauben
nicht, daß die eine Cultur durch die andere unterdrückt werden soll, wir sind vielmehr der
Ueberzeugung, die eine müsse die andere ergänzen. Der Naivetät des Alterthums fehlte
die Poesie deS Schmerzes, die Freudigkeit des Opfers, die Hingebung einer Alles um¬
fassenden Liebe; die Idee der Persönlichkeit war noch durch kein Höheres vermittelt und
gemildert. Im Christenthum sind dagegen jene Ideen aus die Spitze getrieben, und die
Persönlichkeit ganz in'S Reich des Jenseits verwiesen. Wenn man nun das Christenthum,
wie es die ncuthcologischc Schule thut, blos in seiner historischen Erscheinung fassen
und festhalten wollte, so wäre allerdings an eine- Vermittelung dieser beiden Gegensätze
nicht zu denken. Wenn man aber dem Christenthum — und dies ist nach unsrer Ansicht
eine höhere Auffassung —- nicht blos eine befruchtende, lsondern anch eine sich selbst
entwickelnde Kraft zutraut, so würde der eine Gegensatz den andern verklären können.
Diese Auffassung dürfte aber nur im Protestantismus möglich sei». Was man gewöhn¬
lich religiöse Freisinnigkeit nennt, findet sich zwar bei den Katholiken häufiger: aber
diese Freisinnigkeit giebt daS Christenthum ganz auf; im Katholicismus ist man entweder
kirchlich, d. h. blind der Autorität unterworfen, oder unchristlich. Die Flüssigkeit des
Protestantismus, was sie auch sonst für üble Folgen haben mag, versöhnt diese starren
Kontraste, und darum glauben wir nicht zu viel zu sagen, wenn, wir auch in dieser
Beziehung den Protestantismus als den Träger der modernen Bildung auffassen. —
Die Demokratie. Das Ncdactionspcrsonal der Nationalzcitung ist entschlossn,,
sich an den Kammerwahlen nicht zu betheiligen; es glaubt annehmen zu dürfen, daß
auch unter seinen Abonnenten eine ähnliche Ansicht vorwaltet. Er verkündet diesen Um¬
stand mit einer gewissen würdigen Feierlichkeit, nachlässig -erhaben, und mit herablassender
Geringschätzung. Das RcdactionSpersonal ist überzeugt, daß die Augen von ganz Eu¬
ropa darauf gerichtet siud. Louis Napoleon und Kaiser Nicolaus haben keinen ander»
Gedanken, als: „was wird Herr I)r. Zabel, thun?" ES ergiebt sich daraus, fährt die
Redaction mit vornehmer Milde fort, daß die Demokratie die einzige lebensvolle und
thatkräftige Partei ist. — Aber das wußten wir ja längst! Die Großthaten der preußischen
Demokratie sind ja noch in Jedermanns Gedächtniß. Ein passiver Widerstand nach
dem Andern! Bis der Constabler kam! Und dazu den Mund voll genommen, wie es
seit deS ehrlichen Falstaff Zeiten nicht erhört gewesen ist. — Wenn es übrigens in den
Reihen der constitutionellen Partei vorgekommen ist. bei den neuen Wahlen auf demo¬
kratische Allianzen zu speculiren, so geschah das doch fast n»r in solchen Kreisen, die
aus der Demokratie hervorgegangen waren und sich in ihre neue Stellung noch nicht
recht finden konnten. —
F. L. Jahr. Der alte Turnmeister ist gestorben, 7i Jahr alt. Eine der selt¬
samsten Reliquien jener Zeit, wo man nur dann deutsch zu sein glaubte, wenn man sich
absurd geberdete. Er ist vielleicht darin am weitesten gegangen; seine Sprache glich
mehr der neuseeländischen, als irgend einer deutschen Mundart; und sein Wesen war
die rechte Mitte zwischen Student und Seiltänzer. Dennoch dürfen wir sein großes
Verdienst,' das Turnen angeregt zu haben, nicht vergessen, wenn man auch jetzt gelernt
hat, diese nützliche Körpcrübung weniger überschwänglich und mehr verständig auf¬
zufassen. —
Abd-el-Kader. Der alte kühne Häuptling wird endlich in Freiheit gesetzt werden.
Er verpflichtet sich, den Krieg gegen den Cäsar nicht weiter fortzusetzen. — Jeder
wahrhaft Gebildete wird an dieser neuen Wendung im Geschick eines der würdigsten
Helden unsrer Zeit den lebhaftesten Antheil nehmen. —
Neapel. Die entsetzlichen Bluturtheile in dem Hochverrathsproceß deuten mehr
auf das noch immer Problematische der neuen Zustände, als ans eine wirkliche Besiegung
der Revolution. —
Die Revolution in Tirol, 186 8. Im Jahre 1861 gab unter diesen Na¬
men ein Tiroler drei Hefte nach einander heraus. Im laufenden Jahre erschienen sie
vereint mit umständlichen Anmerkungen. Seinem Inhalte gemäß ist das Werk keine
tirolische Revolutions-Geschichte; Tirol hatte im Jahre 1848 keine Revolution. Nur
die Einflüsse ausländischer Ninsturzbewegungen auf das Land und seine Parteien werden
näher geschildert. Daraus erklärt sich die Benennung des Büchleins. Das 1. Heft
besteht aus vier Abtheilungen: Einleitung, Wünsche der Dentschtirolcr, Wälschtirol,
Schützenzüge. Das 2. Heft behandelt in drei Abschnitten die Stände, Parlaments-,
Land- und NeichstagSwahlen, die Niesenpctitivn. Im 3. Hefte finden sich nähere Erör¬
terungen über den constituirenden Landtag und die Jesuiten. Zur Zeit des Erscheinens
der einzelnen Hefte war bereits ein entschiedener Wechsel der Ansichten und Gesin¬
nungen der Tiroler vom Jahre 1848 hervorgetreten. Was damals in Frage gestanden,
war schon beantwortet, und das Streben des Verfassers, das Wesentliche der Bewegung
im Volke vom Jahre 1848 genau zu zeichnen, fand natürlich keine unparteiische Beur¬
theilung. Die Tiroler Zeitung sprach ein verdammendes Erkenntniß im Namen der
alten, neu wieder vorragenden Klasse über die liberale Tendenz des Verfassers aus.
ES wäre zu bedauern, wenn dieser genaue Kenner- unsrer Zustände durch die Opposition
der Gegner freier Ansicht und durch die Rückschritte, welche seither nachdrücklich ein¬
treten, von der Fortsetzung seiner geschichtlichen Anschauungen der neuesten Zeit sich
abbringen ließe. Wir. sehen aus seinen drei Heften erst den Anfang und die Hemmnisse
der liberalen Richtung; den daraus mit Wahrscheinlichkeit zu Stande kommenden Erfolg
und dessen Dauer wünschen wir von dem sreigesinnten Landsmanne mit gleicher Ge¬
nauigkeit geschildert zu erlialten, weil seine Richtung und Zweck — ohne die Bemer¬
kungen und Ausfälle stets zu billigen — uns im Wesentlichen wahrhaft historisch und'
zur richtigen Kenntniß des Landes und Volkes von Tirol als ein werthvoller Beitrag
erscheinen. Ans diesem Grunde glauben wir, hier nicht mit vielen Worten, aber mit
gewissenhafter Ueberzeugung, die durch fleißige Lesung seiner Hefte gewonnen wird, die
eigentliche Tendenz des Verfassers darstellen zu sollen.
Er hatte die Idee klar vor Augen, daß der künftigen Entwickelung Deutschlands Nichts
förderlicher sein könnte, als die genaue Kenntniß der Zustände und Phasen der Revo-
ludion vom Jahre 1848. Daraus cniwickclt sich am vollständigst«! und deutlichste»
der Charakter, die Lage und Bildung jedes Standes der Provinzen und was darauf
Einfluß übt; auf solchem Wege lernt man kennen, was der Zukunft frommt. Hätte
man eine unumwundene Ansteckung der Zustände Tirols vom Jahre 1809 gehabt,
hätte man gewußt, daß die geistliche Partei damals der Hebel des Aufstandes und
dessen innerste Triebfeder war, so würde sicherlich Kaiser Franz, der die Partei zwar
gebrauchte, aber nie zu hoch steigen ließ, das Land Tirol anders eingerichtet und gou-
vernirt habe», als es geschehen. In der ersten Hälfte seiner Regierungszeit waltete
noch ziemlich der Geist der Joscphinische» Aussicht vires «gor» vor. Die geheime
Geschichte des Aufstandes im Jahre 1809 muß erst noch geschrieben werden; wir
wissen nur Facta, die blos die Folgen der im Stillen arbeitenden Clique an's Licht
brachten. Nicht die Freiheit überhaupt, nicht deutsche Ehre und des Volkes alte Rechte,
nur der Druck, den die geistliche Partei des Landes damals von Bayern erlitten, gab
den Zündstoff zur Erhebung Tirols im Jahre 1809. Was seither versäumt, was
verschwiegen gehalten wurde, jene Zeitgeschichte der Wahrheit gemäß zu veröffentlichen,
es ist jetzt nach mehr als vierzig Jahren vielleicht unmöglich geworden, weil die mit-
handclndcn Männer zumeist hinwcggeschiedcn, die Handschriften verloren odcr ver-
steckt sind. Eben darum sollen unsre Zeitgenossen vom Jahre 1848 nicht das
Gleiche thun, man soll es auch- im übrigen Deutschland nicht verabsäumen.
DaS Werk selbst ist von einem Parteistandpunkte aufgenommen und eS wäre zu
wünschen gewesen, daß die Thatsachen einfach hingestellt worden wären ohne Einmengung
der Ansicht des Verfassers. Für den Geschichtschreiber ist indeß auch die Partciansicht
von Werth, und aus den Noten, die eine Menge Quellen enthalten, stellt sich gleichfalls
mich die Gegenansicht der Ultramontanen heraus. Diese Noten geben vorzugsweise ein
umfassendes Bild von der Ansicht, die im Feldlager der Finsterlinge von der Bewegung
in Deutschland zur Schöpfung eines deutschen Reichs herrschte. Es sind in jenen Noten
Urkunde» aufgenommen, wie der Brief des Erzherzogs Johann an die Geistlichkeit,
welche der Vergessenheit entrissen zu werden vcrdmicn. Merkwürdig sind die Auszüge
aus den Predigten. Reden im Ständcsaale, das Manifest des Grasen Brandes, womit
er zum Schühenzugc aufgefordert. Nur muß getadelt werden, daß in den Noten öfter
auf wichtige Urkunden nur hingewiesen ist, wie z. B. bei den Statuten des katholischen
Vereines, der Petition der Innsbrucker Bürger um Beibehaltung der Jesuiten und
Nedemtoristen (im September 1848, IX. Capitel). — Tirolern mag das geläufig sein,
nicht aber den Lesern im weiten großen Vaterlande.
Das Werk ist noch nicht vollständig und zu wünschen wäre, daß das Mangelnde
in einem weitern Hefte nachgetragen würde. — Ein Abgang ist serner. daß die han¬
delnde^ Personen oft gar nicht genannt, fondern blos angedeutet sind. Den Zeitgenossen
in Tirol mag dies genügen, nicht aber ihren deutschen Brüdern "außer Tirol, nicht
künftigen Geschichtschreibern. Der Verfasser hat manchmal anch mit auffallender Zurück¬
haltung sich geäußert; fast möchte man ihm eine ängstliche Rücksichtnahme und Scheu
vor unliebsamer Anfeindung zur Last legen. Der Geschichtschreiber soll nur dje folgen-
schwere Vergangenheit beachten; die Gegenwart und Zukunft ist nicht sein eigent¬
liches Feld.
So flüchtig die Eindrücke sind, die eine Fahrt mit der Eisenbahn von den
Gegenden zurückläßt, durch welche man mit der ruhelosen Eile eines Schnellzuges
hindnrchbranst, so werden doch Jedem, der von Hof in das Maiuthal hinabsteigt,
unvergeßlich schöne Landschaftsbilder sich darbieten, falls Wetter und Jahreszeit
ihn begünstigen und die Tagesstunde eine vortheilhafte Beleuchtung hinzufügt.
Ich erblickte sie zuerst in der warmen und vollen Nachmittagssonne eines der
letzten Augusttage. Die waldigen Bergzüge, die sich in wechselnden Linien, bald
weite Fernsichten öffnend, bald den Weg zu malerischen Schluchten verengert, zu
beiden Seiten der Bahn hinziehen, schillerten bereits in den mannichfachen Farben
des herannahenden Herbstes. Culmbach, am Fuße eines kegelartigen Hügels, dessen
Spitze mit einem alten Schlosse — jetzt zur Strafanstalt verwendet — gekrönt
ist, gelegen, gewährt einen überraschend pitoresken Anblick. Bei Lichtenfels mündet
das Mainthal in die weite fränkische Ebene. Diese Stadt liegt in einem breiten
Gebirgspässe, auf der südöstlichen Seite von dem Kloster Vierzehnheiligen über¬
ragt, während auf den westlichen Bergen jenseits des Mains die Thürme von
Kloster Banz in stolzer Schönheit sich erheben. Wendet man^von der nächsten
Station, die kaum eine Meile über Lichtenfels hinaus liegt, wie deun überhaupt
ans der bayerischen Bahn zum Mißvergnügen > eiliger Reisenden die Stationen
in sehr geringen Entfernungen aus einander folgen, seine Blicke auf diese gro߬
artige Scenerie zurück, so stellt sie sich noch ungleich schöner dar. Jetzt erst sällt
die kühne, weitherrschende Lage des Klosters Banz in die Augen. Die schrägen
Strahlen der allmählich sinkenden Sonne färbten, als ich es sah, seine prächtigen Ge¬
bäude, sowie die von Vierzehnheiligen aus den gegenüberliegenden Bergen und brachen
sich auf den Scheiben der zahlreichen Fenster; die ganze Gegend erglühte in der
Prächtigen Beleuchtung des Abends. Die Bahn verläßt später den Main, hier
noch einen ziemlich schmalen, seichten, überall, von Sandbänken durchschnittenen
Fluß, und wendet sich südwärts. An ihrer östlichen Seite ziehen sich in mäßiger
Entfernung die Abhänge der fränkischen Schweiz hin, während man nach Westen
hin die blauen Berge der Rohr dem Laufe des Mainstromes folgen steht. Bam-
berg liegt vor uns. Die User der Negnitz bedeckend und am Michaelsberge sich
herausziehend, der westlich über der Stadt sich erhebt und aus dessen Gipfel die
gleichnamige Kirche gebant ist, bildet die alte Bischofsstadt ein Gemälde von
wunderbarem Reize. Inmitten desselben auf einem Absatz des Michaelsberges
ragt der herrliche Dom mit seinen vier schlanken Thürmen empor; selbst von der
beträchtlichen Entfernung des Bahnhofes aus erräth das Auge den edlen Styl
und die schönen Umrisse dieses stolzen Gotteshauses. Auf der Südseite der Stadt,
in der Entfernung von einer halben Stunde, erhebt sich auf einem Berge die
Altenburg. Die Sonne, jetzt dem' Untergange nahe, überglänzte dieses Bild voll
wechselvoller Schönheit, und kleidete es in den Nahmen ihres röthlich-goldenen
Lichtes. Hinter Bamberg verflacht sich die Umgebung mit den weiter zurückweichenden
Bergen, und die hereinbrechende Dunkelheit entzog sie bald vollends meiner Be¬
frachtung. Als der Zug Erlangen erreichte, stieg jedoch der Vollmond im Osten
ans, und mir ward somit die Gunst, die Mauern und Thürme der ehemaligen
Reichsstadt Nürnberg zum ersten Mal in dem Zauber eines vollen und klaren
Mondlichtes zu erblicken.
Nürnberg und Danzig theilen den Ruf, unter deu deutscheu Städten am
getreuesten die Formen der mittelalterlichen Bauart bewahrt zu haben. Fand
ich auch, als ich am Morgen nach meiner Ankunft durch die Stadt schlenderte,
meine etwas Hochgespanuten Erwartungen in dieser Beziehung nicht ganz befriedigt,
so muß ich doch gestehen, daß ich keine Stadt kenne, die ein so harmonisches Bild
des altdeutschen Wesens gewährt, als Nürnberg. Es übertrifft hierin nach meiner
Ansicht Danzig bei weitem, obwol das Letztere in dem langen Markt und der
Langgasse eine so glänzende und großartige Ansicht gewährt, wie man sie in Nürn¬
berg vergebens suchen wird. Dagegen hat das Letztere den entscheidenden Vorzug,
viel weniger durch moderne Zuthaten beeinträchtigt zu sein, als Danzig. Dieses
hat schon in seiner Eigenschaft als eine der Hauptfestungen Preußens Vieles,
was mit dem mittelalterlichen Charakter in völligem Contrast steht. Nürnberg
behauptet deu seinigen mit viel größerer Treue. In den Haupttheilen
der Stadt sind mir nur drei Gebäude in's Auge gefallen, die davon ab¬
weichen, das Rathhaus, das Theater und die Egidicnkirchc, deren Entstehung
vom Anfang des 17. und 18. Jahrhunderts datirt. Allerdings habe ich an den
Privathäusern nicht so viel Merkmale des mittelalterlichen Styls gesunden, als ich
mir vorgestellt hatte. Erker, die übrigens hier vou feiner, zierlicher Bauart sind,
erblickt man bei weitem nicht an allen Häusern, vielleicht kaum an dem dritten
Theil derselben. Noch sehr viel seltener stößt man aus gothische Wölbungen der
Fenster oder Thüren. Auch die in vielen alten Städten herrschende Gewohnheit,
die Häuser mit den Giebeln nach der Straße hinauszubauen, findet sich in Nürn¬
berg im Ganzen nicht häusig. Die Rücksicht der Naumersparung, die anderswo
diesen Gebrauch hervorgerufen, hat hier offenbar weniger obgewaltet; die Haupt¬
straßen der Stadt sind überall von erträglicher, zum Theil von beträchtlicher
Breite, und eine solche Unzahl kleiner, abscheulicher Gäßchen, wie man an anderen
Orten damit heimgesucht wird, ist'hier nicht vorhanden. Die innere Stadt
Leipzigs und Frankfurts a. M., mit Ausnahme der Zeit, sind viel enger gebaut,
als Nürnberg. Die alten Reichsbürger an der Regnitz breiteten sich behaglicher
aus und fühlten sich doch Manns genug, ihre weitläufigen Mauern und Werke
in ihren zahlreichen Fehden mit Fürsten und Rittern zu vertheidigen. Der
mittelalterliche Charakter der Stadt bewährt sich aber darin, daß selbst diejenigen
Privathäuser, welche keine hervorstechenden Merkmale der Vergangenheit an sich
tragen, in ihrer allgemeinen Bauart dem Styl derselben homogen sind. Alle
Häuser sind aus Stein gebaut; die meistens kleinen und tief eingeschnittenen Fenster
zeigen die Solidität und Festigkeit der Mauern, die Jahrhunderte gestanden haben
und noch für Jahrhunderte Dauer versprechen. Die vielen öffentlichen Denkmäler
und Bauwerke, die schönen gothischen Kirchen, die zahlreichen zum Theil auf das
Reichste in gothischer Banart verzierten und ausgeführten Brunnen, die steinernen
Brücken, die stets in einem Bogen über die Regnitz gespannt sind, erfüllen
überall die Phantasie mit mittelalterlichen Vorstellungen, zu denen die Privat¬
häuser, die Straßen und Plätze gleichsam nur den passenden Nahmen abgeben.
Die große Reinlichkeit und Sauberkeit, die in allen besseren Theilen der Stadt
herrscht, trägt sehr dazu bei, deu angenehmen Eindruck derselben zu erhöhen; sie
erscheint dadurch in der That wie ein wohl erhaltenes und mit Sorgfalt gepflegtes
Bild der guten, alten Zeit, d. h. in sofern man diese alte Zeit als gut betrachten
will, wozu ich für meine Person mich nur in sehr bedingter Weise verstehen kann.
Was Nürnberg aber vor allen mir bekannten Städten voraus hat — und ich
glaube überhaupt, daß wol nicht viele etwas Aehnliches zu bieten habe» — sind
seine alterthümlichen Befestigungswerke. Dieselben sind noch so gut erhalten,
daß es von dem bayerischen Kriegsministerium uuter die „Wasserplätze" der
Großmacht gezählt wird. Nach modernen, militärischen Begriffen kann es freilich
entfernt keine Ansprüche darauf machen; Bayern rechnet aber, um nominell acht
Festungen zu besitzen, eine Zahl, die es vielleicht für erforderlich hält um als
Großmacht sich geriren zu können, mehrere halb verfallene Bergnester als solche, die
höchstens noch als militairische Rumpelkammern für abgelegte Monteuren und
ausgediente Trommeln zu benutzen sind. Also ist auch Nürnberg ein „Waffen¬
platz," obwol auf seinen ausgedehnten Mauern nicht ein einziges Geschütz zu er¬
blicken ist. Desto anziehender ist der Anblick der Mauern selbst. Rund um die
Stadt läuft ein tiefer, jedoch trockener, ausgemauerter Graben, über welchen
Brücken zu den Hanptthoren, Stege zu den kleineren Eingangspforten führen.
Die Stadt hat jetzt im Ganzen zehn Thore, wovon zwei erst neuerdings angelegt
sind. Die vier Hauptthore, das Spittler-, Frauen-, Läufer- und neue Thor sind
durch gewaltige Thürme geschützt, welche die Form einer aufgerichteten Kanone
besitzen; sie sind in der Mitte des 16. Jahrhunderts von Georg Unger erbaut.
Die Zahl der kleineren Thürme, die in geringen Zwischenräumen sich auf den
Mauern erheben, ist ausnehmend groß. Der obere Kranz der letzteren ist zum
großen Theil abgebröckelt oder manchmal auch gebrochen; an vielen Stellen be¬
finden sich jetzt öffentliche Etablissements darauf mit kleinen Gärten, in denen
die Nürnberger an heiteren Abenden sich des Biers und der hübschen Aussicht
erfreue». Es bedarf nicht der Erwähnung, daß gegen Belagerungsgeschütz die
Stadt nicht zwei Tage zu halten wäre, obwol sie noch immer Festigkeit genug
besitzt, einen Handstreich abwehren zu können. Vor 200 Jahren> ehe Vaubau
die Fortificationskuust reformirt hatte, war sie eine bedeutende Festung. Ich
glaube allerdings, daß Saragossa nicht ol?l fester war, als es unter Palafox
seinen heroischen Widerstand unsterblichen Andenkens leistete. Seitdem ich aber
die Nürnberger Bürgerwehr sah, fürchte ich nicht, daß es jemals zur Concurrentiu
dieses Ruhmes werden wird. Nürnberg hat nämlich noch eine Bürgerwehr; ob
sie eine unmittelbare Hinterlassenschaft seiner reichsfreien Zeit, oder eine Er¬
rungenschaft des Jahres 18i8 ist, welches letztere ich mit Hinblick auf Herrn von
der Pfordten bezweifeln möchte, weiß ich nicht. So viel ist gewiß, sie trägt eine
gutgesinnt-bayerische, blaue Uniform; ich sah an einem schönen Abend einen Trupp
davon durch die Straßen ziehen, und hinter einigen beleibten Wehrmännern
gingen kleine Straßenjungen, die ihre Gewehre trugen, wofür sie wahrscheinlich
einen halben Kreuzer erhielten.
Die Negnitz theilt die Stadt, ungefähr in der Richtung von Osten nach
Westen, in zwei fast gleiche Hälften und scheint stets ein gelber, trüber und
schmuziger Strom zu sein, da sie diese angenehmen Eigenschaften während meines
fünftägigen Aufenthaltes nicht ablegte, obwol das Wetter trocken und schön war.
In ältester Zeit beschränkte sich Nürnbergs Ausdehnung auf das nördliche Ufer
des Flusses. Nach dem Jahr 1130 wurde es erweitert und auf das südliche Ufer
ausgedehnt, und in einer zweiten Erweiterung, die 13S0 begann und 1i27 voll¬
endet wurde, erhielt es seine jetzige Gestalt.
Die größeren Hauptstädte Deutschlands, Berlin, Wien, München und Dres¬
den ausgenommen, bietet keine deutsche Stadt dem Besucher so viel Kunstschätze
dar, als Nürnberg. Wenn es den genannten Städten, was die Größe derartiger
Sammlungen betrifft, nachsteht, so behaupten die seinigen dadurch einen ganz
eigenthümlichen Charakter, daß sie in Bezug auf altdeutsche Kunst und Malerei
den ersten Rang einnehmen. Und Nürnberg hat das Recht, auf diese Besitz--
thümer stolz zu sei», mehr als irgend eine andere Stadt. In großen Residenzen
sind entweder ans Kosten des Staates, oder durch die Freigebigkeit der Fürsten
große Bauwerke aufgeführt oder Sammlungen und Galerien angehäuft. In
beiden Fällen sind es mehr oder weniger die Kräfte eines ganzen Landes, deren
'"'''^'^'"
Verwendung hier einer einzelnen Stadt zu Gute gekommen ist. Was Nürnberg
besitzt, ist eine rühmliche Erbschaft seiner großen Vergangenheit, und ist die kleine
reichsfreie Republik auch untergegangen im Lauf der Jahrhunderte, deren Ent¬
wickelung diese beschränkten Staatskörper zur Ohnmacht herabdrückte und endlich
vernichtete, so sind doch die Denkmäler jener Zeiten, welche die Schultheißen und
Staatsmänner Nürnbergs in den Nathversammlnugen der Kaiser eine gewichtige
Stimme führen sahen, den Enkeln als ein werthvolles Vermächtniß geblieben.
Ich muß, bevor ich in die Besprechung dessen eingehe, was meine Erinnerung
von der Besichtigung der Denkmäler und Kunstschätze Nürnbergs aufbewahrt hat,
ausdrücklich bemerken, daß ich mich nicht zu den „Kennern" rechne. Es ist dies
ein demüthigendes Eingeständniß, in einer Zeit, wo es eigentlich der gute Ton
mit sich bringt, über Musik, Sculptur, Malerei, Architectur— von der Literatur
versteht es sich von selbst — als Kenner sprechen zu können. Doppelt noth¬
wendig scheint es, wenn man seine Eindrücke hierüber dem Drucke übergiebt.
Ich habe indeß gefunden, daß Viele, die sich hierin die Miene von Kennern bei¬
legen und auch mit einer Anzahl Schlagwörter um sich werfen, die sie sich zu
diesem Behufe angeeignet haben, thatsächlich sehr wenig davon verstanden. Ich
ziehe es vor, freimüthig zu bekennen, daß ich Gemälde, Bauwerke, Statuen mit
den Augen und den geringen Kenntnissen eines Laien betrachte. Es scheint mir
indeß, daß auch die Ansicht eines solchen Platz finden darf. Die größten Meister
in allen Gebieten der Kunst haben stets mit dem Streben nach der Schönheit
der vollendetsten Ideale die Gabe der Popularität zu verbinden gewußt, d. h.
jener edlen Popularität, die nicht auf die groben Sinne der Massen wirken will,
sondern ihren Beifall und ihre Anerkennung in den weiten Kreisen der Gebildeten
sucht. Ein weiteres Anrecht beanspruche ich nicht, als was ich mit Allen theile,
die sich in diesen Kreisen bewegen. Ich habe diese Bemerkung vorausgeschickt;
denn es kann mir in der Folge begegnen, daß ich meine Ansichten in einer Form
wiedergebe, die mit der eines competenten Urtheils zusammenfällt. Ich entlehne
jenem Philosophen — ich glaube, es war ein Hegelianer —, der verzweifelnd,
seinen Schülern klar zu machen, daß Alles eigentlich Nichts, und Jeder somit'
eigentlich Keiner sei, ausrief: „die Sprache ist das größte Hinderniß der Philo¬
sophie", seinen Ausspruch, ihn dahin modistcirend, „die Sprache ist das größte
Hinderniß der Bescheidenheit." Er hat offenbar Viel für sich; denn woher wäre
man sonst geneigt, schweigsame Menschen für vorzugsweise bescheiden zu halten?
Ich kehre zu meinem Gegenstand zurück. Mein erster Besuch galt der
Lorenzkirche; sie ist unstreitig unter den Kirchen Nürnbergs die bedeutendste und
darf einen hervorragenden Platz nnter denen von ganz Deutschland be¬
anspruchen. Sie ist durchaus im germanischen Style gehalten. Dies ist ein be¬
deutender Vorzug, den nur Wenige der größeren Gotteshäuser, die wir ans dem
Mittelalter besitzen, mit ihr theilen. Der Ursprung der meisten fällt in eine
Zeit, die noch der Herrschaft des romanischen Styls angehörte. Unsre Vor¬
fahren waren Leute, die sparsam mit Zeit und Arbeit umgingen; sie fügten
die alten byzantinischen Kirchen in die großen gothischen Dome ein, die
sie, als der gothische Styl sich Bahn brach, erbauten. Die Lorenzkirche
wurde 1278 begonnen (30 Jahre nach der Grundsteinlegung des Doms
zu Cöln) und 1477 mit Vollendung ihres zweiten Thurms beendigt. Obwol
sie von bedeutenden Dimensionen ist, so war sie doch nicht in so kolossalen
Maßstabe entworfen, daß der noch unfertige Bau, als mit der Reformation der
religiöse Eifer, der die Epoche des Mittelalters belebt hatte, nachließ, von der
Wandelung der Zeiten überholt, und wie bei vielen andere» Kirchen die Arbeit
daran aufgegeben wurde. Die Höhe der Thürme ist etwa 300 Fuß. Sie sind
nicht in der feinen, durchbrochenen Arbeit, wie der Thurm des Straßburger
Münsters und der des Freiburgers, souderu massiv, mit spitzen Dächern, jedoch
mit reichen Verzierungen ausgestattet. Die Front ist besonders schön, sowol das
überaus feine und reiche Portal, als über demselben in einer Höhe von 82 Fuß
die Rose oder der Stern. Die Kirche ist 3l2 Fuß laug, 82 Fuß breit, und hat
drei Schiffe; das Mittelschiff ist'76 Fuß hoch. Sie ist aus einem röthlichen
Sandstein erbaut — der überhaupt zu fast allen Bauten in Nürnberg verwendet
wurde und noch verwendet wird — welcher im Laufe der Zeit eine fast schwarz¬
graue Farbe angenommen hat. Da sie inwendig, was sehr zu loben, nicht an¬
gestrichen ist, so giebt diese dunkle Färbung ihren weiten Räumen einen eigen¬
thümlich ehrfurchtgebietenden Zauber. Die Fcnstermalereien am Chor — sämmtlich
alt — sind von hohem Werthe; am höchsten wird das Vvlkammer'sche Fenster
geschätzt, den Stammbaum Christi darstellend; aus einem andern sind die
Dürer'schen Apostel nachgebildet. Unter den Kunstwerken der Lorenzkirche nimmt
das Sakramentshäuschen von Adam Kraft gewiß eine der feinsten und kunst¬
reichsten Steinarbeiten, die wir aus dem Mittelalter besitzen, die erste Stelle ein.
Es ist ein 64- Fuß hohes Gebäude, dessen verschiedene Abtheilungen Scenen aus
dem Leben Christi enthalten, während das Ganze von knieenden Figuren, dem
Meister und seinen Gesellen, getragen wird; es wurde im Jahre -1306 aufgestellt
und befindet sich an" der linken Seite des Chors. Altar und Kanzel sind neu
nach Zeichnungen von Heideloff. Dieser Architekt hat sich überhaupt für Her¬
stellung der Bauwerke Nürnbergs, für Ausschmückung seiner Privathäuser und
für die Wiedererweckung des Sinnes der Einwohner für altdeutsche Baukunst die
außerordentlichsten Verdienste erworben. Man stößt aller Orten aus die Beweise
seiner unermüdlichen Thätigkeit. Von der Decke des Chors herabhängend erblickt
man eines der schönsten Schnitzwerke von Veit Stoß, den englischen Gruß.
Obwol die in der Kirche enthaltenen Gemälde keineswegs den Meisterwerken
gleichzustellen sind, die man anderwärts in Nürnberg findet, so ist doch mehreres
schätzenswerthe darunter. Die 1i Heiligen und die Entdeckung des echten
Kreuzes durch die heilige Irene von Wohlgemut!), dem Lehrer A. Dürer's,
eine byzantinische Madonna, und eine im Chor befindliche Kreuzabnahme, die
einem Schüler Van Dyk's zugeschrieben wird, sind mir erinnerlich. Ueber den
kleinen Altären in dew Seitenschiffen befinden sich Holzschnitzereien von vorzüg¬
licher Feinheit; die Gesichter, die Hände sind mit einer solchen Wahrheit und
mit Beobachtung der kleinsten Züge wiedergegeben, wie man es kaum für möglich
halten sollte, daß es aus diesem Stosse geschehen kann. Ich entsinne mich unter
Anderem des heiligen Conrad und des heiligen Joseph. Den Letztern verdankt
die Lorenzkirche, wie mir erzählt wurde, einer kleine» Bilderstürmerei; der gegen¬
wärtige Seelsorger der Marthakirche, die 1800 der reformirten Confession ein¬
geräumt wurde, entdeckte bei seinem Amtsantritt in dem ihm anvertrauten Gottes¬
hause zu seinem Schrecken den heiligen Joseph. Derselbe wurde sofort hinaus
und auf die Flucht, wenn auch nicht, wie sein Urbild nach Aegypten, sondern
nur bis in die Lorenzikirche getrieben, die ihn gastfreundlich aufnahm. Wenn der
tapfere Hüter der Marthakirche die Seelen seiner Schutzbefohlenen vor allen
Gefahren und Verlockungen des Lebens mit demselben Erfolg bewahrt, wie vor
den Schlingen und Stricken des heiligen Joseph, so kann man ihm und seiner
Gemeinde nur aufrichtig Glück wünschen. Das Einzige, was innerhalb der
Lorenzikirche ihrem sonst streng gothischen Charakter widerspricht, ist ein Denkmal
der Markgräfin Sophie von Brandenburg im Rococo-Geschmack; es rührt aus
dem Jahr 1649 her. Obwol es eine Impietät ist, die Ruhe der Todten zu
stören, so kann man sich des Wunsches nicht erwehren, daß es hinweg¬
geschafft werde.
Die Lorenzkirche steht auf einem mäßig großen Platz und ist von allen
Seiten frei und dem Anblick zugänglich. Sie ist in jeder Beziehung auf das
Vortrefflichste erhalten. So mächtig und bedeutend aber der Eindruck ist, den
sie gewährt, so kann man doch die Wahrnehmung nicht zurückdrängen, daß es
nicht mehr der gothische Styl in seiner höchsten Reinheit und Vollendung ist,
dem man hier gegenübersteht. Es zeigt sich vielmehr einige Schwerfällig¬
keit, und ohne daß die Feinheit der Arbeit erreicht ist, die wir am Thurm des
Straßburger Münsters und am Kölner Dom bewundern, macht sich eine gewisse
Ueberladung fühlbar.
Zunächst der Lorenzkirche steht an architektonischem Werth die des heiligen
Sebald. Sie ist ungefähr von derselben Größe und Höhe und nach einem in
den allgemeinen Umrissen entsprechenden Plane erbaut, obwol sie an Schönheit
und Einheit des Styls die erstere bei weitem nicht erreicht. Da sie bedeutend
älter ist, so findet sich viel Romanisches an ihr; von außen ist sie viel roher und
schmuckloser. Das Schiff ist schwerfällig und gedrückt, und eine Mischung so
verschiedener Baustyle, daß ich mich nicht darin zurechtfinden konnte. Der alte
Küster, der mir als Führer und Cicerone diente, behauptete, daß Kunstverständige
es für eine Mischung von gothischem, byzantinischem und maurischen Styl
erklärten. Daß die beiden ersteren vorhanden sind, ist leicht ersichtlich; von
letzterem habe ich zu geringe Kenntniß, um es weder bestätigen, noch bestreiten
zu können. Der Chor dagegen ist rein gothisch und erhebt sich ans schlanken Bogen
bis zu einer Höhe von fast 80 Fuß. Diesen Theil der Kirche möchte ich fast der
Lorenzkirche vorziehn; es fehlt aber eben der gleichmäßige, gewaltige Eindruck des
ganzen Baues, der jene auszeichnet. Leider ist die Sebaldskirche im Innern gelb
angestrichen, statt wie die andere die röthlich-graue Farbe des Steins zu tragen.
Von den reichen Kunstschätzen, die sie enthält, ist vor Allem das berühmte Se-
baldsgrab von Peter Bischer zu nennen. Es ist das Hauptwerk dieses großen
Meisters. Ich entlehne dem Handbuch von Mainberger folgende Beschreibung
desselben: „Es ist aus 120 Centnern Metall von P. Bischer und seinen fünf
Söhnen in den Jahren 1S06-—1ö19 gegossen, in einer Höhe von 15 Fuß, einer
Länge von 8 Fuß 7 Zoll, und einer Breite von 4 Fuß 8 Zoll. Die an demselben
befindlichen Apostel sind -I Schuh 11 Zoll hoch. Ueber diesen stehen zwölf
Kirchenväter, dann sind noch mindestens 72 größere und kleinere Figuren, zum
Theil aus der Mythologie, zur Ausschmückung angebracht. Nach oben wölbt'es
sich zusammen und wird in drei Abtheilungen durch 43 Thürmchen und Zinnen
geschlossen. Auf der höchsten Spitze thront das Christuskind. Ueber dem mit
Gold- und Silberblech überzogenen, ü Fuß 10 Zoll langen, 1 Fuß 7 Zoll breiten,
1397 gefertigten Sarge sind Basreliefs, Scenen aus der Legende Sebald's dar¬
stellend. — Das Denkmal kostete 2042 si. 6 Pf. 21 Heller, da Peter Bischer für
den Centner 20 si. erhielt." Nach dem heutigen Geldwert!) erscheint dieser Preis sehr
gering. Der heilige Sebald ist übrigens zu diesem Denkmal nahgerade zur
rechten Zeit gekommen; wenige Jahre später und in dem protestantischen Nürnberg
würde der Eifer der neuen Lehre deu Kunstsinn zu sehr überwogen haben, um
den abgesetzten Schutzheiligen damit zu bedenken. Die einzelnen Figuren des
Denkmals sind sämmtlich von hohem Kunstwerth, vor Allem aber die zwölf Apostel.
Die Glasmalereien in der Kirche sind werthvoll, wie auch viele darin befindliche
Gemälde, obwol nnter den letzteren keines vom ersten Range sich befindet.
Eine Grablegung Christi wird als nach Dürer gemalt angegeben, wobei ich
jedoch nicht weiß, ob sie eine Copie eines seiner Gemälde, oder nach einer von
ihm herrührenden Zeichnung gemalt ist. Das Letztere ist mit einer Tafel der Fall,
gemalt von Hans v. Culmbach dem besten Schüler Dürer's; in der Mitte derselben
sind Maria, Katharina und Barbara, rechts Petrus und Laurentius, links Johannes
und Hieronymus. Die beiden letzten Figuren sind vorzugsweise schön und aus¬
drucksvoll. Culmbach's beste Leistungen finden sich überhaupt da, wo er Dürer'sche
Zeichnungen ausgeführt hat; seiue eigenen Composttionen halten gar nicht den
Vergleich damit aus. Eine Kreuzigung von Wohlgemuth ist noch erwähnenswert!).
Die Sebald'skirche ist außerdem reich an Arbeiten von Veit Stoß und Adam Kraft.
Von den anderen Kirchen Nürnbergs habe ich, mit Ausnahme der Egydien-
kirche, keine besucht. Sie sind mit den beiden vorhin besprochenen weder als
Bauwerke, noch, wie man mir sagte, in Betreff der darin enthaltenen Knnstschäize
zu vergleichen. Die Frauenkirche, die seit -1816 dem katholischen Cultus über¬
lassen ist, der seit der bayerischen Herrschaft hier wieder zahlreichere Bekenner
zählt, ist eigentlich nnr eine große Capelle, und zeichnet sich dnrch ein schönes,
dem großen Markt zugewandtes Frontespiz in reichem', gothischem Style aus.
Eine interessante Eigenthümlichkeit, die Nürnberg ans der Zeit seiner Blüthe
sich erhalten hat, sind die vielen zierlich und sein gebauten Brunnen, die in seinen
verschiedenen Plätzen und Straßen stehn, und viel dazu beitragen, die Erinnerung
an die Vorzeit zu erwecken. Den Vorrang unter diesen verdient bei weitem der
sogenannte „schöne Brunnen," an einer Ecke des großen Marktes befindlich. Es
ist derselbe eine kunstvoll ausgeführte Steinpyramide von 60 Fuß Höhe, in der
Mitte des 14. Jahrhunderts erbaut. In der untern Abtheilung befinden sich
sechzehn Figuren, von 5 Fuß Höhe, die außer den sieben Churfürsten eine seltsame
zusammengesetzte Gesellschaft bilden. Nämlich Chlodwig, Gottfried v. Bouillon,
Carl der Große, Judas Maccabäus, David, Josua, I. Cäsar, Hector und
Alexander. Eine buntere Zusammenwürfeluug von Zeitaltern und Völkern, historischen
und halb mythischen Charakteren ist wol kaum denkbar. Die Abtheilung über
ihnen enthält Moses und die Propheten. Ein anderer Brunnen, der hinter der
Frauenkirche am Obstmarkte liegt, ist mit der bekannten kleinen Bronzefigur geschmückt,
auf welche die Nürnberger großen Werth legen. Sie stellt einen Bauer vor,
der zwei Gänse unter dem Arm trägt und das „Gänsemännchen" genannt wird,
ist -hübsch und charakteristisch ausgeführt, und verdient daher wol, daß man einige
Schritte aus dem Wege biegt, um sie zu beschauen. Der Meister, von dem sie
herrührt, ist Pankraz Labenwolf, ein Schüler Vischer's.
Das Nürnberger Rathhaus steht in völligem Contrast mit der überall in
der Stadt vorherrschenden altdeutschen Bauart. Es ist in den Jahren 1616 bis
1619 erbaut und ganz in dem Geschmack jener Zeit, dem finstern und schwer¬
fälligen, sogenannten Jesnitenstyl gehalten. Obwol es durch seine Größe — die
vordere Fayade ist 275 Fuß lang — eine gewisse Wirkung hervorbringt, so
macht es anch inmitten seiner Umgebungen einen ungünstigen Eindruck. Ans
einem großen freien Platze müßte es in seiner Art imposant genannt werden; in
einer nicht sehr breiten Straße und der Sebalduskirche gegenüber verliert es
nicht nur selbst sehr, sondern beeinträchtigt anch das Uebrige. Ein altdeutsches
Stadthaus, wie es Leipzig und Breslau besitzen, würde ungleich besser an seiner
Stelle sein. Die Hofgebäude gehören noch dem frühern Rathhaus an, sind aber
ohne architektonische Bedeutung. Ein Ueberrest des letztern jedoch, der große
Rathhaussaal, dessen schmale Seite innerhalb der vordern Front liegt, ist.des
Besuches werth. Er ist auf eine Weise in den neuen Bau hineingefügt,'die
dem oberflächlichen Beschauer verborgen bleibt. Der allgemeine.Eindruck des
Saales ist tres seiner ziemlichen Größe — er ist 80 Fuß lang, 30 Fuß breit —
nicht bedeutend, da er theils in einem traurigen, höchst vernachlässigten Zustande sich
befindet, theils vou gänzlich reizloser Bauart ist. Die Decke, die aus einer großen,
runden und glatten Wölbung bssteht, ist von Holz. Und doch war er vor Jahr¬
hunderten der Schauplatz fürstlichen Glanzes; in Zeiten, als die Verfassung und
Einheit des deutschen Reiches noch nicht zu einem leeren Schatten herabgesunken
waren, wurden hier öfters die Reichstage abgehalten. In einer Ecke steht noch der
schmucklose Lehnsessel, von dunkelem Eichenholz, dessen sich die Kaiser bedienten.
Was den Saal indeß noch heute in hohem Grade Sehenswürdig macht, sind drei
lebensgroße Wandgemälde von Albrecht Dürer, die man auf einer seiner langen
Seitenwände erblickt. Zunächst dem Fenster ist die Allegorie, der „ungerechte
Richterspruch" befindlich. Einen Totaleindruck kann dieses Gemälde wol kaum
machen; an dem einen Ende ist auf einem Stuhle sitzend der Richter, vor ihm
ein knieender Jüngling, die verfolgte Unschuld darstellend, welche durch die verschie¬
denen Laster, die sie verfolgen, bedroht wird. Die letzteren sind in männlichen und
weiblichen Figuren personificirt, deren eben so geniale, als maßvolle Auffassung von
der Meisterschaft des großen Malers Zeugniß giebt.
Leider hat das Gemälde durch Risse, Flecken und theilweise Verwischung der
Farben sehr gelitten, und man scheint nichts für seine Restauration gethan zu
haben. Zunächst dem ungerechten Richterspruch ist eine Gruppe Musikanten, die
städtische« Musikbande zu Dürer's Zeit darstellend. Die Charakteristik der ein¬
zelnen Gesichter ist von glänzender humoristischer Wirkung. Den größten Theil
der Wand bedeckt ein Triumphwagen Maximilian's deö Ersten, mit, ich weiß nicht
mehr wie viel, Pferden bespannt, deren jedes Paar von einer weiblichen Figur
am Zügel gehalten wird: Der alte, eingeschrumpfte Kaiser — der dargestellte
Einzug fand, glaube ich, im Jahr 1316 statt — sitzt auf dem, dem Anschein nach
höchst unbequemen Fuhrwerk. Das gewiß sehr ähnliche Gesicht fällt dnrch seine
außerordentlich große Habsburgische Nase auf; von dem „letzten Ritter", dem
kühnen Jägerhaus der Martinswand, ist in diesem abgelebten, gebeugten Greise
keine Spur mehr übrig. Das Gemälde ist, wie schon aus dem Gegenstand ein¬
leuchtet, den beiden anderen nicht an die Seite zu stellen. Zwischen zweien der
Wandgemälde Dürer's hängt unter Glas in einem modernen Rahmen ein buntes
Kunstblatt; es enthält ein Gedicht König Ludwig's „an die Stadt Nürnberg",
das im Jahr 1839 im Auftrag der Commune von Heideloff mit Nandzeichnungen
illustrirt wurde. Zu jeder der 16 Strophen ist stets ein kleines Bildchen ange¬
fertigt. Sechzehn Strophen! ich habe sie sämmtlich durchgelesen; sie sind sehr
gut gemeint und sehr mühsam gereimt. An der Wand dieses Saals, der Jahr¬
hunderte, lang Zeuge der Macht und Größe der stolzen Reichsstadt war, machte
diese unterthänige Huldigung gegen ihre neuen Beherrscher einen traurigen, Ein-
druck auf mich; könnte einer ihrer starren Rathsherren sich aus seinem Grabe er¬
heben, ich weiß nicht was ihn mehr bekümmern würde, jenes schmeichlerische
Kunstblatt an der-Wand, oder der Anblick der bayerischen Hauptwache, die man
aus den Fenstern des Saals mit aufgepflanzten Kanonen neben der Sebalds-
kirche erblickt.
In den kleinen Rathhaussaal, der jetzt zu den Sitzungen des Gemeinde¬
raths benutzt wird, habe ich nur einen flüchtigen Blick durch die offene Thüre
hineingeworfen, da gerade eine Commission eine Berathung darin hielt. Seine
Dimensionen sind unbedeutend; indessen werden die Deckengemälde gerühmt. Im
obern Corridor ist eine kunstvolle Stukkaturarbeit, ein im Jahre 1ii6 abge¬
haltenes Gescllenstechen in Lebensgröße vorstellend.
Von der ehemals kaiserlichen Burg in Nürnberg hatte ich mir Vorstellungen
gemacht, die durch die Wirklichkeit nicht im entferntesten erreicht wurden. Sie
ist ein verwitterter alter Ban, verbunden mit einer Anhäufung vou Nebenge¬
bäuden, Thürmen, Mauern, die in der nordwestlichen Ecke der Ringmauer, auf
einer nicht sehr steilen, felsartigen Erhöhung gelegen find. Von außerhalb der
Stadt gewährt sie gerade durch die regellose Mischung ihrer verschiedenen Be¬
standtheile einen pittoresken Anblick. Von der Majestät eines Kaisersitzes ist aber
keine Spur zu finden. Die alten deutschen Kaiser scheinen überhaupt nirgends
besonders großartig gewohnt zu haben; vergleiche man dagegen das Hochmeister¬
schloß, die Marienburg, damit. Diese Nürnberger Burg würde sich ihr zur Seite
wie ein Schwalbennest neben einem Adlerhorst ausnehmen. Das Aeußere ist
immer noch viel imposanter, als das Innere. Die Säle, Gewölbe, Capellen,
durch die ich wanderte, haben nicht den geringsten Eindruck bei mir hinterlassen.
Der Theil der Burg, der wiederhergestellt ist und jetzt die königlichen Wohn¬
zimmer bildet, besteht aus fast lauter kleinen, niedrigen und schiefwinkeligen Zim¬
mern, von deren Einrichtung mau nichts sagen kann, weil sie sast völlig leer
stehen. Enthielte die Burg nicht eine Anzahl altdeutscher' Gemälde, worunter
einige von bedeutenden Meistern, so würde es kaum der Mühe verlohnen, Heraus¬
znsteigen. Leider find dieselben und gerade die besten unter ihnen zum Theil in
eiuer schauderhaften Unordnung in allerhand kleinen Gemächern, wie in Rumpel¬
kammern, nicht etwa aufgehängt, sondern eins neben und vor dem andern aufge¬
stellt. Unter diesen herumsuchend sand ich so in einem Winkel eine Venus von
Kranach, von eiuer wunderbaren Frische des Kolorits, und ein herrliches Bild
der 14 Heiligen, nach Angabe meines Führers von Holbein. Se. Georg und
besonders Se. Christophorus waren Figuren von einer seltenen Schönheit und
kraftvollen Charakteristik. Daß in eiuer Stadt wie Nürnberg, wo man sonst die
Kunstschätze der Vorzeit mit dem rühmlichsten Eiser hegt und bewahrt, eine so
offenkundige Vernachlässigung der werthvollsten Gemälde stattfinden kann, ist kaum
begreiflich. — Aus dem engen Schloßhofe steht eine uralte Linde, der Sage nach
von Kunigunde der Heiligen, Zacharias Werner'schen Andenkens, gepflanzt. Ein
300 Fuß tiefer, in den Felsen gehauener Brunnen ist außerdem noch bemerkens¬
wert!).
Nürnberg besitzt zwei Gemäldesammlungen von sehr bedeutendem Werth:
den königlichen Bildersaal in der Moritzcapelle, ein Geschenk des Königs Ludwig
an die Stadt, und die Galerie im Laudauerkloster, die zu der dort befindlichen
Kunstgewerbeschule gehört. Die Moritzcapelle ist ein schlichtes gothisches Gebäude,
neben der Scbaldskirche und sehr passend zu ihrer jetzigen Bestimmung eingerichtet;
die Ordnung des Bildersaals, der etwa ISO Gemälde zählen mag, ist musterhaft;
hier, wie in Allem, was König Ludwig für die Kunst gethan hat, ist ihm hoher
Geschmack und richtige Einsicht uicht abzusprechen. Die Sammlung besteht aus¬
schließlich aus Gemälden der byzantinisch niederrheinischen und cölluischen und der
oberdeutschen Schule; van Eyk, Hemling, Hemskerk, Dürer, Kranach, Amberger
und viele andere Meister siud darin vertreten. Ich bekenne nun offen, daß ich
für die ältere deutsche Malerei vor Dürer und Krauach wenig Empfänglichkeit
besitze; um den Kunstwerth und die Schönheit dieser Kompositionen von mageren
und steifen Figuren und oft barocken Allegorien zu würdigen, gehört eine Kenner¬
schaft, deren ich mich nicht rühmen kann. Ich zweifle jedoch uicht, daß sie großes
Verdienst besitzen, und ich habe sogar schon von sehr competenter Seite die An¬
sicht aussprechen. hören, selbst ein Genius, wie Dürer, bezeichne schon ein Ab¬
weichen der deutschen Malerei von der wahren Richtung der Kunst. Andere, die
eben so viel Autorität beanspruchen können, sehen in ihm wieder deren höchste
Vollendung; dies mögen die Kenner unter sich ausmachen. Ich für meine Person
gebe zu, aus deu älter» Gemälden Einzelnes von ergreifender Schönheit und
Tiefe der Auffassung gesunden zu haben; aber das Ganze ermangelt — für mich
natürlich nur — eines harmonisch-schönen, mit einem Wort, ästhetischen Ein¬
drucks. Die Vorliebe unsrer alten Maler z. B. für magere Figuren ist mir schwer
begreiflich; dies entspricht denn doch weder dem Ideal, noch der Wirklichkeit. Wenn
Rubens ans seinen Heiligenbildern uns Frauengestalten von niederländischer Ueppig¬
keit vorführt, so ist es leicht erklärlich, woher er die Originale dazu nahm. Aber
unsre Vorfahren boten doch gewiß den Malern ihrer Epoche nicht so magere und
sieche Vorbilder; ich glaube fast, daß die Ascetik des Christenthums jener
Tage und die Lehre von der Sündhaftigkeit des Fleisches dazu verleitete, die
Ideale göttlicher Tugend und Reinheit so darzustellen, daß der Beschauer von
keinem Nebengedanken irdischer Lust bei ihrem Anblick vom Gefühl der Andacht
abgelenkt werde. 'Die byzantinischen Gemälde zeichnen sich meistens durch eine
außerordentliche Feinheit der Gesichter aus; unter den weiblichen besonders sind
mehrere von einer so durchgeistigten Schönheit, als ich sie irgend gesehen habe.
Ein Bild der heiligen Elisabeth in der Moritzcapelle ist mir in dieser Beziehung
vor Allem aufgefallen; die Figuren, die zu diesen herrlichen Köpfen gehören,
, sind aber so steif, dürr und unschön, als man sich es nur vorstellen mag.
Zwei Gemälde in der Moritzcapelle sind unbestreitbar vom ersten Range:
Christus und die Ehebrecherin von Kranach und ein Loce Kvmo von Dürer. Die
Ehebrecherin auf dem Kranach'schen Bilde, das etwa halbe Figuren in Lebens¬
größe giebt, ist ein hübsches Weib, aus deren Gesicht das ganze Schuldbewußt¬
sein der Sünde spricht. Es ist nicht etwa veredelt durch deu Zug einer hohem
Leidenschaft der Seele, vielmehr tritt die Sinnenlust als Motiv des Fehltritts
unverkennbar hervor. Eine andere Anschauung des Ehebruchs hätte wol auch
nicht den strengen Sitten jener Zeit entsprochen; auch ist Kranach, wie mir we¬
nigstens aus den Bildern, die ich von ihm kenne, erscheint, weniger idealistisch
in seiner Auffassung, als ausgezeichnet durch seine kraftvolle Charakteristik und
schlagende Naturwahrheit. Ju dieser Beziehung ist die Figur der Ehebrecherin
unübertrefflich. Eben so vorzüglich sind aber die Gestalten der beiden Repräsen¬
tanten des jüdischen Pöbels, die mit Steinen in den Händen die Execution des
auserkorenen Opfers fordern; es sind zwei unsterbliche Typen der feilen Masse,
deren grausames Gelüste sich hier das Richteramt der beleidigten Sittlichkeit
anmaßt. Die Parallelen liegen zu nahe, als daß es nöthig wäre, sie zu ziehen.
Das Dürer'sche Bild läßt sich mit wenig Worten, schwer schildern; es genügt,
daraus zu verweisen. Von Kranach ist noch ein Genrebild, gleichfalls in halber
Figur und Lebensgröße, ein junges Mädchen, die einen verliebten Alten liebkost,
in dem alle seine vorhin erwähnten Eigenschaften glänzend hervortreten. Eine
Grablegung Christi von Dürer scheint aus der frühern Zeit des Meisters, vor
seiner italienischen Reise,, zu datiren.
Die Gemäldegalerie im (ehemaligen) Landauer Kloster ist ungleich größer als
der Bildersaal; sie hat freilich lange nicht so viel altdeutsche Gemälde, dafür
aber eine bedeutende Anzahl Italiener und Niederländer und deutsche Bilder
aus späterer Zeit. Mir ist die Zahl nicht mehr genau gegenwärtig,, doch glaube
Ich, daß sie die des Bildersaals um das Vierfache mindestens übersteigen dürste.
Die Localität ist bei weitem nicht so günstig; sie besteht aus einem Saal und
7 kleineren Zimmern, und wegen mangelnden Raumes hat man sogar die Korri¬
dore bis in die Treppenabsätze mit in Gebrauch gezogen. Die Bilder befinden
sich demzufolge theilweise in höchst unvortheilhafter Stellung und schlechter Be¬
leuchtung. Die Galerie war früher- auf der Burg; und jedenfalls sind die
Räume derselben, falls sie umsichtig benutzt werden, Heller und zweckmäßiger, als
die, worin sie sich jetzt befindet. Die Sammlung zählt mehrere Meisterwerke
ersten Ranges; zunächst sind die zwei lebensgroßen Bilder Carl's des Großen
und Kaiser Sigismund's von A. Dürer zu nennen. Sie sind von unvergleich¬
licher Schönheit und Energie der Auffassung und Ausführung. Carl der Große
ist uoch in voller Mannskraft dargestellt, Sigismund dagegen als ein hagerer
Greis mit seinen, listigen Zügen. Wir sehen den lebenslustigen und durch seiue
Galanterie berühmte» Monarchen hier in seinen letzten Lebensjahren vor uns.
Der Eindruck beider Bilder wird sehr beeinträchtigt durch den schwarzen, völlig licht-
losen Hintergrund, den sie offenbar später erhalten haben. Von dem berühmten
Hauptwerk Dürer's, den vier Aposteln, ist in Nürnberg nur noch eine sehr schöne
Copie (ich glaube von Martin aus Augsburg). Das Original ist bekanntlich in
München, sür welche Stadt es ein Herzog von Bayern schon im sechzehnten
Jahrhundert erwarb. Wer, wie ich, das letztere nicht gesehen hat, wird die
Copie im Landauer Kloster mit hoher Befriedigung betrachten; ich hörte jedoch
von kompetenter Seite, daß der Unterschied immer noch erheblich ist. Von
Kranach ist außer zwei kleinen Portraits von Luther und Melanchton eine
Venus, zu der eine Markgräfin von Ansbach das Vorbild gegeben haben soll.
Sie theilt mit der ans der Burg befindlichen die ausgezeichnete Frische des
Colorits, und wäre im Uebrigen, scheint es mir, derselben noch vorzuziehen. Bei
'beiden ist mir aber der Mangel der Plastik im Gliederban aufgefallen; die Ge¬
stalten haben etwas Plattes, das dem Auge unangenehm entgegentritt. Ich kann
aus der großen Zahl der Bilder mir noch das Wenige erwähnen, was aus einer,
nothwendiger Weise flüchtigen Beschauung sich mir eingeprägt hat. Von Dietrich
sind zwei kleine Gemälde „die Flucht nach Aegypten" und „die Geburt des
Heilandes", besonders aber das erstere durch den wunderbaren Effect der Be¬
leuchtung bemerkenswerth. Von Kymli, einem Schweizer, sind drei Portraits, eine
ältliche Frau, ein Mann und ein Kind, ausgezeichnet durch eine Feinheit der Malerei,
die auch die kleinsten Züge der Natur mit größter Treue wiedergiebt. Ein Paar
prächtige Thierstücke vou Snyders, mehreres weniger Treffliche, aber immer noch
Verdienstliche von einem seiner Nachahmer, und von Rubens ein Gemälde, einen
christlichen Stoss behandelnd (ich glaube die Vermählung der heiligen Katharina),
aber nur in zu derber, niederländischer Art, sind mir gleichfalls im Gedächtniß
geblieben. Vou mehreren italienischen Meisterwerken — so von Bildern
Guido Reni's — sind schöne Kopien vorhanden. Drei Vinceutiuo's, eine weib¬
liche Gestalt in halber Figur und Lebensgroß«, in drei verschiedenen Attitüden
darstellend, die jedesmal irgend eine Tugend versinnlichen sollen, sprachen mich
ausnehmend an; doch wage ich nicht zu behaupten, daß mein Geschmack daran
mich dieselben nicht überschätzen ließ. Das eine davon erinnert lebhaft an die
Tochter Tizian's. Eben so wenig will ich das Gefallen, das ich an einer Cleo¬
patra von Gläser und an zwei Bildern (Nymphe mit einem Satyr und Perseus
und Andromeda), deren Maler unbekannt sind, fand, unbedingt vertreten. Von
historischem Interesse ist ein großes Wandgemälde von Sandrart, das Gastmahl
darstellend, das im Jahre 1660 der Pfalzgraf Carl Gustav, später Carl X.
von Schweden, den Mitgliedern des Kongresses gab, der damals in Nürnberg
zur Execution des westphälischen Friedens gehalten wurde. Sämmtliche Figuren
darauf sind Portraits,' worunter viele bekannte und berühmte Persönlichkeiten,
unter anderen der Pfalzgraf selbst und Octavio Piccolomini. Zum letzten Mal
sah Nürnberg mit diesem Kongreß eine große Reichs- und Staats-Action in
seinen Mauern; es war der Abendglanz seiner ehemaligen Größe und politischen
Bedeutung.
Von den übrigen in der Knnstgewerbschule enthaltenen Sammlungen habe
ich nichts gesehen; doch glaube ich, daß die in ihr befindlichen Gypsabgüsse,
worunter ein vollständiges Exemplar der äginetischen Statuen, ein Erzguß von
Bischer, Apollo als Bogenschützen darstellend, und das zum Andenken Dürer's im
Jahre 1828 ans Arbeiten lebender Künstler gegründete Stammbuch wohl der
Besichtigung werth sind; das letztere besteht ans nahe an 300 Nummern, in
Oelgemälden (wol nur wenige), Bildhauerarbeiten, Kupferstichen und Hand-
zeichnungen. (Schluß folgt.)
Die Wiedereinsetzung der Bourbonen stempelte, den Sieg über Napoleon zu
einem Sieg der Legitimität über die Revolution. Aber man hatte den Kamp
begonnen im Namen nationaler Unabhängigkeit, und hatte, um ihn zu bestehen,
Elemente herbeigezogen und Hoffnungen geweckt, welche der Zeit eine entschieden
freisinnige Richtung gaben. Die Revolution war besiegt, aber ihre befruchtenden
Ideen wirkten noch fort und erhielten die Welt in Bewegung. Im Anfang
schien es, als ob die durch den Aufschwung der Völker von der Fremdherrschaft
befreiten Fürsten ihre Versprechungen halten und ihren Thronen eine sicherere Stütze
geben wollten, als die materielle der Bayonnette. Aber nach wenigen zögernden
Schritten ans dem Wege der Reform trat erst ein allgemeiner Stillstand ein, und
dann vereinigten sich die Mächte des Kontinents zu einer gemeinsamen Reactivns-
politik. England spielte eine mehr passive Rolle dabei und nahm später sogar
eine Oppositionsstellung ein, eine Veränderung, die nicht ohne Einfluß auf die
politische Laufbahn Wellington's blieb.
Der Antheil, den England an dem großen Kampf gegen Napoleon ge¬
nommen, wies ihm bei der nothwendig gewordenen Regelung der europäischen
Angelegenheiten eine hervorragende Rolle an. Mit Preußen und Oestreich vereint
hielt es Frankreich nach dem Frieden besetzt, und Wellington war einer der Be¬
fehlshaber der Occupationstruppen, und zeigte als solcher eine Versöhnlichkeit und
eine Nachsicht gegen die Franzosen, die sowol mit den berechtigten Ansprüchen
Deutschlands (z. B. in der Frage über die Rückgabe des Elsaß) als mit dem
jedenfalls zu entschuldigenden Grimme des preußischen Befehlshabers in Kollision
kam. Trotzdem wußten ihm die Franzosen wenig Dank dafür, und es wurden
sogar zwei Mordversuche auf ihn gemacht. Napoleon war niedrig genug, den
Urheber des einen derselben, Cantillon, in seinem Testamente zu bedenken. Nach
der Räumung Frankreichs wohnte der Herzog als Bevollmächtigter Englands dem
Congreß von Verona bei, wo die Propaganda des Absolutismus durch den Be¬
schluß, in Spanien zu Gunsten Ferdinand's VII. zu interveuircn, zuerst eine
active Haltung annahm. Die englische Opposition griff damals Wellington mit
großer Heftigkeit an, weil er entweder diese Verletzung nationaler Unabhängigkeit
thätig unterstützt, oder ihr unthätig zugesehen habe, aber er bewies, daß er seinen
ihm von Canning gegebenen Jnstructionen streng nachgekommen sei und von der
Intervention abgerathen habe. Mit dem Congreß von Verona schloß seine di¬
plomatische Laufbahn, auf der er, dem systematischen Absolutismus der Continen-
taldiplomatie gegenüber, als kluger praktischer Politiker stets zur Mäßigung und
zur Berücksichtigung der gerechten Wünsche der Völker rieth, weil nur auf diese
Weise die Ordnung dauernd zu erhalten sei.
'.In England, wo der Zündstoff nicht minder reichlich aufgehäuft lag, war der
Kampf der Parteien nicht weniger lebhaft als aus dem Festlande. Obgleich der
Zustand des Landes gebieterisch Reformen forderte, kannte doch das Toryministe-
riiim nnr eine reine ReprcsfiUolitik. Während die Verbreitung politischer Bil¬
dung und die immer stärker werdende Ueberzeugung, schlecht regiert zu werden,
neue Ideen im Volke gähren machte, war die Politik des Cabinets noch ganz
wie vor zwanzig Jahren auf das Princip entschiedensten Widerstandes und strenger
Härte gegründet. Die natürliche Folge davon war, daß das Volk, alles Ver¬
trauen in die Regierung verlierend, arglistigen Demagogen zur Beute fiel, und
sich zu chimärischen Aufstandsplänen und offener Gewaltthat verleiten ließ, denen
die Negierung mit Militairgewalt und mit dem Galgen begegnete. Der Herzog
vou Wellington, der als Feldzeugmeister Mitglied des Liverpool'schen Cabinets
war, trug seinen vollen Antheil an der Uupopularität des Cabinets, denn man
wußte, daß er der alten Toryschule angehörte, und sein Charakter als Militair
vermehrte nnr den Verdacht, daß er die Gewaltmaßregeln der Regierung dnrch
seine Billigung begünstige. Dennoch war er gerade dazu bestimmt, deu Ueber-
gang zu veränderten politische» Zuständen anzubahnen.
Der Eintritt Canning's und Huskisson's in das Cabinet hatte den unbe¬
dingten Toryismus desselben schon mit einer liberalem Beimischung modificirt,
und als Canning 1822 Staatssecretair des Auswärtigen wurde, sagte sich Eng¬
land allmählich ganz von der absolutistische» Solidarität der Continentalhvfe los.
Aber Lord Liverpool und Lord Eldon prägten doch der ganzen Politik des Ca¬
binets eine vorwiegend antiliberale und bigotprotestantische Tendenz auf. Eine
die Zeichen der Zeit sorgsam beobachtende, der Ueberzeugung zugängliche, obgleich
noch keineswegs zu Reformen entschlossene Gruppe bildete der Herzog von Wel¬
lington und Mr. Peel, der spätere Sir Robert Peel. Lord Liverpool's plötz-
liebes Erkranken führte die Katastrophe herbei. So wie seine NichtWiederher¬
stellung außer Zweifel war, ermächtigte der König Canning als den einzigen mög¬
lichen Mann zur Bildung eines Ministeriums. Canning war aber ein Liberaler
aus Princip und hatte sich zum Nachgeben in der Emancipationssrage verpflichtet;
außerdem war er nur eine Minorität in dem bisherigen Cabinet. Der Herzog
aber war mißtrauisch gegen liberale Principien, wollte nichts mit „politischen
Abenteurern", wie mau Canning und Huskisson nannte, zu thun haben, nud hatte
eine persönliche Abneigung gegen Canning. Kaum war daher derselbe zum Pre¬
mier ernannt, so reichte der Herzog mit der Mehrzahl seine Entlassung ein, legte
auch seine übrigen Stellen als Feldzeugmeister und Oberbefehlshaber des Heeres
nieder, und brachte wenige Monate später einen die Kornbill des neuen Ministe¬
riums verdammenden Beschluß durch das Oberhaus. Dieses Verfahren wurde
als factios bezeichnet und als eingegeben von dem Verlangen, selbst Premier¬
minister zu sein, welcher letztern Beschuldigung der Herzog mit der Erklärung
begegnete, daß er seine Untauglichkeit zu einer solchen Stellung vollkommen ein¬
sehe, und daß er verrückt hätte sein müssen, hätte er nur daran denken wollen.
Von dem Vorwurf der Factiofität muß man den Herzog freisprechen: mau konnte
nicht von ihm verlangen, eine Politik mit in Ausführung zu bringen, deren Prin¬
cipien er abhold war und deren Nothwendigkeit er noch nicht erkannte. Nie aus
Princip, sondern erst wenn sich die UnHaltbarkeit von bestehenden Verhältnissen
praktisch bewährte, konnte sich sein wesentlich conservativer Charakter zu Neue¬
rungen entschließen. Die Erklärung seiner Unfähigkeit zum Premierminister wurde
ihm aber nicht vergessen, als er noch 8 Monate später nach Canning's zu frühem
Tode und Lord Goderich's kurzem Ministerium doch als Premier vor das Parlament
trat. Der Herzog mit Peel und Goulbourn bildete den-Kern des Cabinets,
aber Huskisson und vier andere Canningiten saßen mit darin, und ihre Ansichten
gewannen bald Einfluß auf die allgemeine Politik des Ministeriums.
Drei wichtige Fragen forderten gebieterisch eine gesetzliche Lösung: die poli¬
tische Gleichstellung der Nichtprotestantcn, die Aufhebung der Kornzölle und die
Parlamentsreform. Die letztere Frage war damals am wenigsten weit vorgeschrit¬
ten, und es war im Unterhause keine Majorität dafür zu erlangen; daß der
Herzog über die beiden anderen Fragen, wie seine alten Freunde, die Tories, dachte,
wußte man. Der Conflict ließ nicht lange auf sich warten; gleich nach Beginn
der Session stellte Lord Rüssel einen Antrag auf Abschaffung der Testacte und
erlangte dafür eine Majorität von Stimmen. Das Cabinet, über diese Frage
getheilt, konnte gegen diese Opposition nicht Stand halten, die alten Partei¬
traditionen erwiesen sich als unpraktisch, und der Herzog fand für gerathen, trotz
des verzweifelten Widerstandes seines alten Freundes, Lord Eldon, nachzugeben,
und die Bill als ministerielle Maßregel durch das Oberhaus zu bringen. Aehnliches
geschah mit, einer Kornbill Huskisson's. Später kam auch die Nesormsrage an das
Parlament, aber hierin war Wellington nicht zum Nachgeben gewillt. Als bei
dem Antrage auf die Streichung der beiden Burgflecken Peuryn und East Ret-
sord von der Wahlliste Huskisson, obgleich noch Colonialminister, gegen das Ca-
binet mit Ja stimmte, erhielt er seine Entlassung, und ihm folgten Lord Dudley,
Lord Palmerston, Mr. Lcnnb und Mr. Grant, d. h. sämmtliche liberal gesinnte
Bestandtheile deö Cabinets, und für sie traten Lord Aberdeen, Sir H. Har-
dinge und Sir Murray ein, deren Namen mit denen Peel's und Goulbourn's
für die Bildung einer neuen, aus den alten politischen Traditionen herauf¬
wachsenden Partei charakteristisch geworden sind. Und mit diesem cousolidirten,
von zu liberalen Elementen gereinigten Cabinet gab Wellington das Princip der
politischen Rechtlosigkeit Andersgläubiger ein für alle Mal auf, und führte die
große Maßregel der Katholikenemancipation selbst durch.
Seit einem Viertel-Jahrhundert hatte die große Frage das Parlament be¬
schäftigt und immer größere Minoritäten für sich erlangt. Anfangs als eine Frage
abstracter Politik behandelt, hatte sie durch die Agitation O'Connell's und
der irischen Pristerschaft praktische Bedeutung erlaugt. Nicht mehr darum handelte
es sich, das Princip allgemeiner Duldung gesetzlich anzuerkennen, sondern darum,
wie ein Drittheil des Reichs, dessen katholische Bevölkerung, erbittert über die
Entziehung aller politischen Rechte, einen Bürgerkrieg zu entzünden drohte, in
Zufriedenheit nud Ruhe erhalten werden konnte? Seine Vorliebe für die prote¬
stantische Kirche hatte der Herzog nie verhehlt; hatte er doch offen vor den Pairs
erklärt, „es ist unsre Pflicht, die protestantische Religion nach besten Kräften zu
fördern, nicht nur wegen der politischen Beziehungen zwischen der englischen
Kirche und der Regierung, sondern auch weil wir in ihr die reinste Lehre und
das beste Religionssystem, das einem Volke geboten werde.» kann, sehen." Aber
darauf kam es gar nicht mehr an; die religiöse Frage hatte sich in eine nationale
verwandelt, 'und die Katholiken waren zu einer politischen Macht geworden, die
man entweder versöhnen, oder vernichten mußte. Es galt jetzt, durch das wüste
Geschrei der Agitatoren, durch die künstlichen Manöver schlauer Volksführer
hindurch die wahre Stärke des Feindes zu entdecken, die Gefahren des Wider¬
standes und des Nachgebens gegen einander abzuwägen. Des Herzogs klarer und
von keiner Leidenschaft getrübter Blick war ganz besonders zur Beurtheilung
solcher verwickelten Lagen geeignet. Im Unterhause war eine Majorität für die
Emancipation unzweifelhaft, und anch das Oberhaus hätte nicht widerstanden,
wenn die Maßregel von der Negierung selbst eingebracht wurde. Aber im Volke
war man in England nicht für die Katholiken, der König selbst war ent¬
schieden sür die Aufrechterhaltung des Uebergewichtes der protestantischen Kirche,
und das Cabinet war unter der Voraussetzung, daß es dieses Princip theile,
an's Ruder gekommen. Ein Staatsmann von den auf dem Continent landläufigen
Principien hätte sich mit Kanonen und Bayonetten geholfen, wenn die Polizei
nicht mehr ausreichte, aber Kanonen und Bayonnette reißen oft dem Staate noch
viel tiefere Wunden, als den Widerspänstigen, die sie bestrafen sollen, und Wellington
betrachtete die Frage der Katholikenemancipcitivn als eine Frage, wobei, so theuer
ihm die Herrschaft des Protestantismus im Herzen war, seine persönliche Ueber¬
zeugung sich vor den Forderungen des allgemeinen Wohles beugen mußte. So
wie der Herzog einmal seinen Entschluß gefaßt hatte, führte er ihn in höchst
charakteristischer Weise aus. Erstlich sollte die Concession, da sie einmal gemacht
werden mußte, aufrichtig und vollständig gemacht werden, um der Agitation keinen
Stoff zu weiteren Fortschritten übrig zu lassen. Zweitens durste der Feind nicht
durch vorzeitige Enthüllung des Kriegsplans etwa Nutzen ziehen, und der Plan
blieb ein strenges Geheimniß, bis die Stunde des Handelns kam. Nicht einmal
die höchsten Kronbeamten waren alle in's Vertrauen gezogen, und als nur sechs
Wochen vor der Eröffnung des Parlaments der Lordstatthalter von Irland, Lord
Anglesey, sich für die Emancipation aussprach, folgte die Strafe der Abberufung
seiner Indiscretion ans dem Fuße nach.
Endlich, am 3. Februar -1829, zerstreute die Thronrede alle Zweifel, und
die Ausführung ihrer Verheißungen ließ nicht ans sich warten. Der Herzog im Ober¬
hause und Sir R. Peel im Unterhause vertheidigte« die beschlossene Maßregel mit
männlicher, Offenheit und Entschiedenheit, und es war bei dieser Gelegenheit, wo
der Herzog, während er die möglichen Folgen des Nachgebens und des Wider¬
standes abwog, jeden Gedanken an letztern mit den denkwürdigen Worten zurück¬
wies: „Mylords, ich bin einer von denen, die vielleicht mehr Jahre als die meisten
anderen Menschen im Kriege verlebt haben, und hauptsächlich, kaun ich wol sagen,
im Bürgerkriege, aber das muß ich sagen, wenn ich dem Vaterlande durch irgend
ein Opfer nur einen Monat Bürgerkrieg ersparen to'unde, so würde ich gern
mein Leben darum geben." Gegen solche Argumente war nichts einzuwenden,
obgleich die Opposition sehr erbittert war; die Bill ging durch beide Häuser mit
starken Majoritäten, erhielt die königliche Zustimmung und wurde Landesgesetz.
Der Herzog bezahlte seine patriotische That theuer. Protestantische Vereine
jammerten über die Inconsequenz des großen Herzogs, — der König war ver¬
letzt, die Tories dem Ministerium entfremdet. Selbst mit alten Freunden ent¬
spann sich so bitterer Hader, daß ein Duell mit Lord Wiuchilsea, das glücklicher
Weise ohne ernstere Folgen blieb, nicht vermieden werden konnte. Vermehrte
Popularität entschädigte ihn nicht dafür, die Liberalen schrieben ihren Sieg
weniger seinem Entschluß, als dem Andrang von außen zu, und die große Masse
des Volkes hatte er in seinem protestantischen Bewußtsein verletzt.
Zwei von den wichtigen Fragen des englischen Staatslebens waren nun
gelöst, und, die dritte schien erst in entlegener Ferne zu drohe«. Anfang 1830
war die Reformbewegung noch ziemlich malt. Zwar saß ein neuer liberal gesinnter
König, Wilhelm IV. ans dem Thron; aber er hatte das Ministerium Wellington
beibehalten, und trotz seiner Freundschaft mit den Whigs noch keinen störenden
Einfluß auf das Cabinet geübt. Aber die Julirevolution änderte mit einem
Schlage die Lage der Sachen. Eine gewaltige Agitation entstand im ganzen
Lande, und die Führer der Reformbewegung traten mit einer Entschiedenheit auf,
die ihren festen Willen, ihr Ziel zu erreichen, an den Tag legte. Diesmal täuschte
sich jedoch der Herzog in seinem Urtheil über die innere Kraft und das letzte
Ziel der Bewegung. Die schon vorhandenen Elemente beurtheilte er mit ge¬
wohntem Scharfblick — er erkannte ganz richtig, daß die Parlamentsreform die
traditionellen Parteien auflösen, und eine Regierung in der bisher üblichen Weise
unmöglich machen werde. Aber daß an die Stelle der Negierung durch die
Parteien die Regierung durch die. öffentliche Meinung treten werde, sah er nicht,
weil er, so scharf sein Blick für das Vorhandene war, nichts weniger als ein
speculativer Politiker war. Er sah uach der Reform nur Anarchie kommen, weil
er die Expansivkraft der politischen und socialen Institutionen Englands unter¬
schätzte, und setzte der Reformbewegung daher den entschiedensten Widerstand ent¬
gegen. Damals stieg seine Unpopnlarität auf den höchsten Gipfel, der Pöbel
warf ihn in Piccadilly mit Steinen, und er mußte Aspleyhouse durch eiserne Laden
gegen augedrohte Angriffe schützen. Bei der Eröffnung des Parlaments erklärte
er ohne Umschweife, daß er jeder Veränderung des Repräsentationssystems den
entschiedensten Widerstand leisten werde, so lange er eine Stelle im Ministerium
bekleide, und in fünf Minuten war die Frage entschieden. Die Reform siegte,
und Wellington hörte auf, Minister zu sein. So lange die Frage noch vor
dem Parlament debattirt wurde, war seine Opposition unermüdlich; so wie aber
die Nefvrmbillj Landesgesetz geworden war, war die Frage für ihn abgeschlossen,
^ und das neue Gesetz war ihm so unabänderlich und so heilig, als wäre es eine
Verkörperung der Principien, die seinem Herzen am theuersten waren.
Die osstcielle staatsmännische Laufbahn des Herzogs war damit zu Ende.
Zwar wurde er uoch einmal Minister, als nach Lord Melbourne's Entlassung
Sir Robert Peel an's Ruder berufen wurde, und übernahm sogar bis zur An¬
kunft dieses Staatsmannes aus Italien nicht weniger als acht der wichtigeren
Cabinetsstellen provisorisch, und behielt das Staatssecretariat für die auswärtigen
Angelegenheiten definitiv; aber das Ministerium bestand nur fünf Wochen. Von da
an war er der beständige Rathgeber aller Regierungen, ohne eigentlich Mitglied
derselben zu sein, und keine Rolle paßte besser für seine politischen Fähigkeiten.
Er war nicht der Mann großer Conceptionen, welche neuen, noch ungebändigten
Kräften des Staats eine heilsame Richtung zu geben wissen, aber er konnte jede
einzelne, ihm vorgelegte Frage klar beurtheilen, und einen Beschluß der Negierung
mit unbeugsamer Entschlossenheit durchführen. In dieser Stellung zeigte er sich
nicht im mindesten engherzig. Er hatte zu viele Parteien sich auflösen sehen,
und hatte selbst dazu so viel mit beigetragen, als daß man bei ihm fanatische An-
hänglichkeit an eine bestimmte Partei hätte voraussetzen können, und der Gang
der Ereignisse gegen den Schluß seiner Laufbahn trug noch mehr dazu bei, die
alten Parteiunterschiede verschwinden zu machen. Obgleich ursprünglich ein Con-
servativer, war ^>er Herzog doch kein heftiger Gegner der Whigs. Er wußte,
daß, wie er sich bei Gelegenheit der Reformbill ausdrückte, „die Regierung der
Königin fortgeführt werden müsse," und die Regierung der Königin ließ sich viel
leichter mit dem Beistand, als uuter der, wenn auch stillschweigenden Mißbilligung
eines so ausgezeichneten Unterthans fortführen. So that er denn sein Bestes
bei Allen ohne Unterschied, und erfüllte seine Pflichten fast mit derselben Hin¬
gebung, mochte ein Whig- oder ein Toryministerium am Ruder sein, und in
allen Fällen, wo kein Anderer Rath wußte, wurde der Herzog von Wellington
in das Cabinet der Königin berufen. Aber er war nicht blos ein Rathgeber, —
er war auch eine Autorität. Er hatte nicht blos das allgemeine Recht, die
Wahrheit zu sagen, sondern ihm war auch das Vorrecht vorbehalten, die Krone
oder das Parlament zur Anerkennung derselben zu bewegen. Dadurch war er
sowol Peel, wie den Whigs ein unschätzbarer Bundesgenosse im Oberhause, und
stets, wenn die Privatinteressen der Pairie mit den allgemeinen Interessen des
Landes in Widerspruch geriethen, erhob, er seine gewaltige Stimme, und bewog
die Widerwilligen zum Nachgeben. Nur durch seinen Einfluß gelang es, die
Getreidebill im Oberhaus zur Annahme zu bringen.
Ein gesunder Sinn für das Wahre und Rechte, ein instinctmäßiges Pflicht¬
gefühl war die starke Grundlage des Charakters Wellington's. Nichts war blen¬
dend an ihm, sondern Alles war schlicht, solid und vou nachhaltiger, männlicher
Kraft. Enthusiasmus war ihm fremd, und er mißtraute ihm bei Anderen; er
meinte, er nehme sich nur schön im Buche aus; selbst von seinen Soldaten ver¬
langte er „Ruhe im Gefecht, nicht ungestüme Tapferkeit." Ueberhaupt war er
fern von jeder idealistischen Anschauung, ein reiner Praktiker anch im politi¬
schen Leben. Auf politische Consequenz und principielles Handeln gab er Nichts,
und er erkannte als Princip seines Handelns nur' das Wohl des Staates an.
„Wenn die Welt durch Principien regiert würde," sagte er, „so wäre Nichts
leichter, als selbst die größten Staatsgeschäfte zu leiten; aber in allen Fällen habe
ein weiser Mann nur die geringste von zwei Schwierigkeiten, die ihm aufstießen,
zu wählen." Aber freilich gehörte dieses strenge Pflichtgefühl, der hohe moralische
Standpunkt des Herzogs dazu, um hier uicht in Willkür zu verfallen und in
dürresten Empirismus zu vertrocknen. Im Grunde gab dieses hohe Pflichtgefühl
seinem Charakter mehr, als ihm der Schwung der Begeisterung geben konnte,
denn wenn ihm durch den Mangel des letztem auch alles Glänzende und den
großen Häuser Blendende abging, so besaß er dafür in jenem einen um so siche¬
rern und zuverlässigem Führer, den keine Leidenschaft über Ziel und Weg verblen¬
den konnte. Von Wichtigkeit für ihn war seine enge und langjährige politische
Freundschaft mit Sir R. Peel. Beider Charaktere und Stellung ergänzten sich
gegenseitig. Beide besaßen in einem ausgezeichneten Grade Vorsicht, Berechnung
und hohen moralischen Muth. Ohne das Gewicht von Wellington's Namen hätte
Peel dem bittern Hasse seiner zahlreichen Feinde kaum widerstehen können, und
ohne Peel's umfassenden Geist, ausgebreitete Kenntnisse und feines Gefühl für
die Wünsche und Bedürfnisse des Volkes hätte Wellington wol keinen so außer¬
ordentlichen moralischen Einfluß ausgeübt, oder eine so hohe Stellung als Staats¬
mann eingenommen.
Als Engländer hatte Wellington, obgleich Soldat, das große Glück, nie, wie die
militairischen Staatsmänner des Kontinents, in die gefährliche Versuchung zu kommen,
den mittelalterlichen Begriff eines Kriegsherrn auf das friedliche Amt eines Landes¬
fürsten überzutragen. Die nothwendige Grenze zwischen Militair- und Civilgewalt,
die man bei uns beständig zu verrücken liebt, ist in England längst und auf das
Bestimmteste gezogen, und kein Staatsmann länft dort Gefahr, mitten in die
friedliche Entwickelung des Staatslebens die Praxis des Kriegs zu versetzen. Der
Begriff von Fürst und Land ist ebenfalls in England längst eins geworden, und
Niemand wird dort in die schmerzliche Alternative gestellt, entweder seinem Für¬
sten, oder seinem Vaterlande untreu werden zu müssen. In sofern war allerdings
Wellington's Stellung günstiger, als die seiner Collegen auf dem Festlande, aber
immer giebt er ein belehrendes Beispiel, wie sich ein tüchtiger Feldherr, der dem
Größten seiner Zeit Nichts nachgegeben, in ein freies Staatswesen harmonisch
hineinschickt, und wie Kraft des Charakters und politische Weisheit sich nicht blos
im Widerstande und um des Widerstandes willen, sondern auch im Nachgeben
und im Erfüllen der Wünsche des Volkes zeigen können.
Die Zeiten, die schönen Zeiten sind vorüber, wo der Manu noch ans männ¬
liche Art sein Vergnügen suchte; wo er mit Speer und Messer, mit Wurfgeschoß
oder Büchse den Wald durchstreifte, den Bär im eigenen Lager angriff, und
dem Eber auf schäumendem Rappen durch Dickicht und Unterholz folgte.
Die schönen Zeiten der edlen, männlichen Jagd sind vorbei; jetzt höchstens
gehn die jungen Herren mit Jagdfrack nach neuestem Schnitt, und Miberen,
eng anschließenden Kamascheu, die Hände in einem Muff, den Hals dicht und
warm in wollene Shawls eingeschlagen, hinaus und stellen sich an (und Gott
weiß es, wie sie sich manchmal dazu anstellen). Die Bauern müssen ihnen dann
das arme, unglückliche, verrathene und verkaufte Wild herbeitreiben, und wenn
kein Unglück passirt, das heißt, wenn der Hahn wirklich aufgezogen, oder die
Sicherheit nicht vorgeschoben, oder die Flinte nicht verladen, oder das Zündhütchen
nicht „schändlicher Weise" herabgefallen, oder die Brille verloren ist, der Ge¬
wehrriemen nicht „gerade als man zielen will" über dem Lauf liegt, oder der
Schuß nicht nachbrennt, als man das Wild „so herrlich auf dem Korn hatte",
oder der Hase zu weit oder zu schnell läuft, oder wenn tausend andere Oder
und unvorhergesehene Zufälle nicht dazwischen kommen und besonders das Haupt-
Oder — ihnen keinen Strich durch die Rechnung macht, wenn sie nämlich nicht
effectiv fehlen — dann schießen sie wol ihr Häschen oder ihre unglückliche Ricke,
die sie in der Eile, „weil sie nicht aus den Büschen heraus wollte", für einen
Bock angesehen haben.
Das nennen sie nachher Jagd.
Die Otterjagd ist vielleicht die einzige, der, in England wenigstens, bis auf
unsre Tage viel Eigenthümliches und Kräftiges geblieben.
Noch halten sich manche Edelleute ihre Otternieuten und verfolgen Tage
lang mit einer, unsren Jägern gewiß unbegreiflichen Mißachtung jeder Feuchtig¬
keit das flüchtige Thier durch Bäche und kleine flache Ströme; ihre Blüthenzeit
ist aber auch vorüber, und wirklich interessante Jagden werden mit jedem Jahre
seltener.
Der Pomp und die Umständlichkeit der alten Jagden gaben an sich schon
dem Ganzen einen eigenthümlichen Reiz, und die Otterjäger hatten nicht allein
ihre verschiedenen Sitten und Gebräuche, sondern auch eine ganz besondere Tracht.
Ihre kurzschößigen Jacken waren grün, mit, Scharlach, ihre Pelzmützen mit Gold¬
bändern besetzt, und mit-Straußenfedern geziert. Stiefeln, ziemlich nach Art
unsrer jetzigen hohen Wasserstiefeln, reichten bis zu ihren Hüften hinauf, und
trugen oben goldene oder silberne Franzen. Ihre Speere zeichneten sich ebenfalls
durch ihre reichen Verzierungen und ihre geschnitzte Arbeit ans, und der Anblick
eines Zuges vollständig ausgerüsteter Otterjäger war zu gleicher Zeit so pitto¬
resk als imposant. Mit der Verringerung der Ottern hat aber auch zu gleicher
Zeit ihre Jagd sich vereinfacht; doch war selbst noch zu Ende des letzten Jahr¬
hunderts die Otterjagd in England eine der betriebensten und volksthümlichsten.
Regelmäßige Ottenneuten wurden gehalten, und die Landleute schienen damals von
ihren Otterspeeren so unzertrennlich, wie jetzt von ihren Spazierstöcken.
Zu eben dieser Zeit war übrigens der Otterspeer einfacher als er jetzt ist,
und er bestand nur aus einer gewöhnlichen, geraden Eschenstange mit einfachen
oder doppelten Harpunen oder Pfeilspitzen. Jetzt hat eine neuere und wol auch
zweckmäßigere Erfindung den gewöhnlichen Widerhaken verdrängt, und die Stahl¬
spitze ist so gearbeitet, daß sie erst dann, wenn sie in den Körper des Thieres »
getrieben ist, zwei Haken ausläßt, die es der verwundeten Otter unmöglich machen,
sich von der tödtlichen Waffe wieder zu befreien.
Ich schildere d. Gr. eine solche Jagd, der ich vor einigen Jahren selbst bei-
wohnte. — Es hatte sich also eine Gesellschaft von sieben Jägern zusammen¬
gefunden, um in einem kleinen Flusse, Namens Tiesic, eine am vorigen Abend
durch den Sauire selbst aufgefundene Otterfährte zu verfolgen und wo möglich den
schlauen Fischdieb zu erlegen.
Der Tiesie läuft eine lange Strecke durch flaches, etwas sumpfiges Laud,
dort aber, wo er zuerst seinen Lauf in wenn auch niedere, aber dennoch seine
Ufer steil begrenzende Hügel lenkte, dort hatte Mr. Halway die Spuren entdeckt,
und als am nächsten Morgen die Gesellschaft mit ihren Speeren und einer tüch¬
tigen Meute Hunde den Platz erreichte, bezeugten mehrere frische Gräten, die
an der linken Userbank unter einer kleinen Lindengruppe lagen, ihre Nähe.
Die Hunde wurden, kaum an dem Platz angelangt, schon unruhig, und nett
und Boney, ein Paar ausgezeichnete Otterfänger, schienen es besonders auf ein
kleines Schilfdickicht abgesehen zu haben, das sich der Lindengrnppe gegenüber befand.
Halway stimmte dafür, daß ein Theil der Jäger hinüber an's andere Ufer
waten,, und dort die Hunde unterstützen solle, es war aber noch beim Beginn der
Jagd und Alles—trocken, und da mo-indem denn Mehrere: „die Otter sei wahr¬
scheinlich an dieser Seite", wo ja auch die Gräten alle lagen und die meisten
Spuren waren; der gegenüberliegende Platz blieb also von den Jägern unbesetzt,
und am hohen Flußrande hingehend munterten sie durch Zurufe und den fröh¬
lichen Jagdschrei die immer hitziger und eifriger werdenden Hunde auf, den Feind
zu finden, damit sie ihn mit ihren Speeren verfolgen und erlegen könnten.
„S'ist nur ein Glück," meinte Dicksvn, einer von Halway's Nachbarn, „daß
sich die Otter nicht ein Paar hundert Schritte weiter'oben aufhält, der kleine
See dort würde alle unsre weiteren Versuche, ihrer habhaft zu werden, unnütz
gemacht haben, denn der Grund ist so schlammig, daß es wahrhaftig mit Lebens¬
gefahr verknüpft ist, sich nur bis an die Knie hineinzuwagen."
„Hahaha" lachte Merville, „davon weiß Dickson eine Geschichte zu erzählen.
Als wir das letzte Mal hier waren, stak er in dem Sumpfe drinnen und unsrer
Sechse haben mit Stricken und Seilen wol eine Viertelstunde lang gezogen, bis
wir ihn wieder heraus und aufs Trockene brachten."
„Ha — was hat nett dort?" rief Blower — ein anderer Gutsbesitzer aus
der Gegend — „Wahrhaftig, Halway, ich glaube, Ihr habt Recht, die Otter sitzt
da drüben, ich werde hinüber waten."
Er war im Begriff, seinen Entschluß augenblicklich in's Werk zu setzen^ aber
zu spät. Die Otter hatte wirklich in jenem Schilfdickicht gelegen und wahrschein¬
lich die um sie herumsuchenden Hunde vorbeilassen, und dann zurück zu dem schützenden
See schwimmen wollen, wo jede weitere Verfolgung vergeblich gewesen wäre, das
wurde aber durch die Aufmerksamkeit Boney's, der durch derartige Kunstgriffe schon
mehrere Male getäuscht worden und nicht gesonnen schien, sich auf's Neue anführen
zu lassen, vereitelt, denn er und nett hielten sich fortwährend ziemlich hoch im
Schilfe, und überließen es den anderen Hunden, den schlauen Feind aufzustöbern
und flüchtig zu machen.
Dieser sah auch kaum, wie jeder Versuch, das tiefe Wasser zu erreichen, vergeb¬
lich war, als er das dichte Schilf verließ und, über den hier mehrere hundert
Schritt breiten Wasserspiegel hinwegschwimmend, erst entschlossen schien, den Fluß
mit aller uur möglichen Schnelle stromab zu gehen, dann aber wieder links einbog
und in einem rechten Winkel eine seichte Stelle erreichte, wo das Wasser etwa
drei Fuß tief, den Hunden nicht erlaubte, Grund zu fassen, und die Otter selbst,
unter- dem dichteu Wurzelwerk und Rohr verborgen, vor ihnen geschützt blieb und
auch dann und wann, ohne fürchten zu müssen, entdeckt zu werden, an die
Oberfläche kommen, und Luft schöpfen konnte.
„Hier hilft kein Zaudern mehr" schrie aber Halway jetzt, selbst bis unter
die Arme in das Wasser springend — „von dort heraus bringen sie die Hunde
uicht, und wenn wir nicht mit unsren Speeren die Bestie heraustreiben, so können
wir die Jagd nur ausgeben."
Merville sprang dicht hinter ihm her, und auch Blower folgte, Dickson aber,
als er die drei der Stelle zu waten sah, während die Hunde einen Heidenlärm
vollführten und bellend und winselnd ihren Herren nachplätscherten, dachte bei
sich, daß zum Vortreiben vollkommen genug Menschen im Wasser säßen, suchte
sich daher eine seichte, kaum wenige Zoll tiefe Stelle aus, und schritt an das
andere User hinüber, no er aus einem vorragenden, steilen Felsblt)et die Jagd
übersehen und auch augenblicklich stromab das niedere Ufer wieder erreichen
konnte, wenn das verfolgte Thier, wie es fast nicht anders konnte, die Flucht
durch die weiter unterhalb liegende Stromschnelle und über einen kleinen Fall,
versuchen sollte.
Halway hatte übrigens Recht gehabt; die Hunde vermochten nichts gegen
ihren listigen Feind auszurichten, der nur dann und wann, in irgend einem un¬
gangbaren Gebüsch, die bärtige Schnarche über die Oberfläche des Wassers hob,
um die nöthige Luft zu schöpfen, »ut dann schnell und geräuschlos wieder un¬
tertauchte in sein sicheres Versteck.
Die drei Jäger fanden bald, daß auch sie hier ihre Hilfe leihen mußten,
langsam also, und in gleicher Linie das schmale und kaum hundert achtzig Schritt
lange Schilfdickicht durchwatend, stießen sie höchst aufmerksam in alle die Stellen
mit den umgekehrten Speeren hinein, uuter denen möglicher Weise der Fischdieb
verborgen liegen konnte. Schon näherten sie sich indessen dem Ende des seichten
Platzes und die Hunde singen an wieder zurückzusnchen, während Halway selbst
zu glauben begann sie hätten ihre Bente übergangen, als diese plötzlich, höchst
unverhofft zum Vorschein kam.
Merville hatte nämlich eben mit der Stange in ein besonders dichtes Gewirr
von Wurzelwerk und Wasserpflanzen hineingesühlt, als nett, der seinen Stand-
'
Punkt überhalb des Schilfbrnchs noch immer nicht verlassen, die Nase prüfend in
die Höhe hob und im nächsten Augenblick auch schon, eifrig schnaubend auf die
Stelle zuschwamm, wo Merville uoch immer stand, und deu Hund beobachtete,
da tauchten, uur wenige Schritte von ihm entfernt, einzelne kleine Luftblasen in
die Höhe, und er wußte, dort müßte die Otter sein. Die Tiefe des Wassers, in
dem er sich selbst befand, also schnell berechnend, schwang er den Speer hoch em¬
por, und stieß ihn mit rascher, sicherer Hand nieder ans den Grund des Flusses,
wo sich der listige Flüchtling verborgen hielt.
Aber wehe! in allem Eifer hatte er vergessen, den Speer, den er doch ver¬
kehrt in der Hand trug, umzudrehen, und als der mit ausgezeichneter Geschicklich-
keit geführte Stoß, denn Merville war ein guter Otterjäger, niederfuhr, kam er
in höchst unsanfte Berührung mit dem wirklich dort lauernden Thier, brachte aber
demselben leider keinen weiteren Schaden, als daß er es bedeutend erschreckte,
aus seiner bisherigen Sicherheit auf und zu dem höchst unbesonnenen Entschluß
trieb, die Rettung in der Flucht zu suchen.
Jnstinetmäßig wandte sich die Otter nun zwar stromauf, der sicherern Bahn
zu, hier aber begegnete sie den beiden offenen Nachen von nett und Boney, die
gierig nach ihr schnappend, ihre Beute schou gefaßt wähnten. So leicht sollte
ihnen aber der Sieg nicht werden.
Jene, die Seichtheit des Wassers fürchtend, in welchem sie, wenigstens an
dieser Stelle, nicht wagen durfte zu tauchen, schien schnell entschlossen das andere
Ufer des Flusses zu erreichen, und ehe Merville, der jetzt natürlich seine Waffe
schnell genug wandte, wieder festen Fuß fassen, und sich von seinem Schreck er¬
holen konnte, strich sie schon wie ein Aal, die ganze Länge des Körpers außer
dem Wasser zeigend, von der Schilfinsel sort, und schräg über den Fluß hinüber
dem steilen Vorsprung zu, auf welchem Dickson, an seine Waffe gelehut, dem
Kampfe bis jetzt behaglich zugeschaut hatte.
Kaum merkte dieser aber, wie sich der Schauplatz der Hetze auf seine Seite
verlegen würde, als er, so schnell ihn seine Füße trugen, von den Höhe herunter¬
sprang, und das Ufer gerade in demselben Augenblicke erreichte, in welchem
die Verfolgte das feste Laud betreten und, argbedrängt von den Hunden, wahr¬
scheinlich über die in den Fluß hiuauölausende Landspitze hinweg schlüpfen und
das aus der unteren Seite befindliche ruhige und tiefere Wasser erreichen wollte.
Durch den unvorsichtig auf sie Einstürmenden aber geängstigt, änderte sie ihren
Plan und wandte sich wieder; da schallte ein Triumphruf von der gegenüber
liegenden Seite und selbst Dickson hielt sie sür verloren, denn dicht, dicht hinter
ihr, kaum wenige Zoll von ihrer bärtigen Schnauze entfernt, schnappte Boney,
schon im Vorgenuß der ihn erwartenden Seligkeit, gierig mit den Fängern und
öffnete den weiten Rachen.
„Hurrah!" schrie Halway vom anderen User ans — Hurrah Hunde -- faßt
sie — faßt sie!"
Boncy hörte den Zuruf seines Herrn und fuhr, schwerlich noch einer An^
reizuug bedürfend, mit wildem Biß nach dem Nacken des Thieres, doch war es
nichts als Wasser, was ihm, im wahren Sinne des Wortes, im Maule zusammen¬
lief, die Otter tauchte in demselben Moment, als sie Dicffon schon zwischen den
Fängen des Hundes glaubte, blitzschnell nieder, glitt unter dem Bauche ihres
Feindessort, und schoß nun, wieder zur Oberfläche emporkommend, mit aller
ihr nur zu Gebote stehenden Schnelle stromab.
„Hinüber — hinüber noch Einer von Euch!" schrie Halway jetzt erregt —
„die Bestie will über den Fall hinunter und in die tiefe Stelle, kaum hundert
Schritte unterhalb. Fünf Ottern haben wir schon bis zu dem Platz verfolgt,
und dann regelmäßig aufgeben müssen. Jetzt mir'hinunter an die Fälle, so schnell
wir können."
Hawkins leistete dem Rufe Folge und watete schnell zu Dickson hinüber, die
Uebrigen jedoch glaubten ans der Seite, auf welcher sie sich befanden, am Ersten
zum Wurf kommen zu können und eilten Halway nach, der, so schnell es ihm
der weiche, schlammige Boden gestattete, uuter der Felswand fortlief, die hier
das Flußthal überhing und sein Bestes versuchte, einen kleinen mit hohem Schilf¬
gras bewachsenen Vorsprung zu erreichen, der sich, von mehreren Fichten über¬
schattet, gerade über dem Fall befand, .so daß die Otter, wollte sie hier durch,
dicht an ihm vorbeidefiliren mußte.
„Wie kam's, daß Ihr die Otter fehltet, Merville? rief er diesem zu, als er
ihn eben eingeholt hatte — „sie lag Euch doch dicht vor den Füßen."
„O zum Teufel — ich hielt deu Speer verkehrt."
„Unsinn" lachte Halway, „ein so alter Otterjäger, wie Ihr, wird mit dem
verkehrten Speer stoßen."
„Ich gebe Euch mein Wort darauf", betheuerte Merville im vollen Laufen,
um ueben dem schnellfüßigen Halway zu bleiben, der ihn schon zurücklassenwollte
— „ich fürchtete mit dem Widerhaken im Schilfe hängen zu bleiben und —"
„Dort ist sie," schrie Halway, und überflog mit einem Satze eine schmale sich
hier hineindrängende Bucht, arbeitete sich mit verzweifelter Anstrengung durch
das hohe Rohr, und stand im nächsten Augenblick, auf der ersehnten Stelle. Es
war aber auch die höchste Zeit, denn die Otter, durch das viele Tauchen ermü¬
det, hatte es aufgegeben, im Dickicht augenblickliche Zuflucht zu finden, und wußte
nun, daß in dem tiefen Wasser ihre alleinige Rettung lag; den Fall also einmal
passtrt, trug sie schou die Strömung des Flusses in wenigen Secunden dorthin,
und eine am rechten User liegende Schilsgrasecke nun dazu benutzend, die dicht
folgenden Hunde irre zu führen oder aufzuhalten, schnitt sie wieder hinüber,
und näherte sich re.ißmd schnell dem niedern Wassersturz.
„nett und Boney" mit der größeren Schwimmfertigkeit ihres Feindes wohl
bekannt, sahen kaum,, wie dieser in offener Flucht und den mit Speeren bewaffneten
Jägern so weit voraus, sein Heil suchte, als sie auch schon, wie verabredet,
dem ihnen am nächsten liegenden linken Ufer zuschwammen, dieses erreichten, und
nun schnellen, flüchtigen Laufes daraufhinstürmten, der schwimmenden den Weg abzu¬
schneiden. Dicht über dem Fall aber, von Dickson's wüthendem Schreien zum
Aeußersten getrieben, sprangen sie wieder, jetzt dicht hinter der Otter, in'ö Wasser,
während die Anderen der Meute ebenfalls in nur wenigen Schritten Entfernung
klaffend und winselnd folgten.
Wo die Otter zum letzten Male in's Schilf gekrochen war, hatte sie mehrere
junge Hunde verleitet, sie immer noch dort zu glauben, und eifrig nach ihr das
dichte Gestrüpp zu durchwühle«, was, Einem besonders, fast sehr schlecht bekommen
wäre, da Hawkins, der im ersten Augenblick, als er sich Etwas bewegen sah,
glaubte, es sei die Otter, schon zum tödtlichen Stoße ausholte, seinen Irrthum
aber noch glücklicher Weise zeitig genng einsah.
Schlimmer erging es Dickson, der, jetzt Nässe und Feuchtigkeit verachtend, in
das seichte Wasser sprang und mit der Linken den H»t um den Kopf schwenkte,
die Meute dnrch immer grellere und ohrcuzerreißcndere Töne zu fast wahnsinniger
Wuth antrieb, während er selbst der Jagd nachzukommen versuchte. Aber wehe
— der nächste Schritt, den er that, brachte ihn mit dem Fuß in ein tiefes seul,
koch — er verlor das Gleichgewicht, und verschwand im nächsten Moment unter
der über ihn wieder friedlich zusammenschießenden Fluth, wenig von den Jägern,
und uoch weniger von den Hunden beachtet, die wild und theilnahmlos vorbei-
stürmten.
Jetzt hatte aber auch die Otter den Fall erreicht, und glitt mit Blitzesschnelle
darüber hin — doch kaum zehn Schritt von ihr.entfernt, stand Halwah, den
Speer hoch erhoben und ruhig und kaltblütig den Zeitpunkt abwartend, der ihm
einen sichern Wurf gestatten würde, denn kaum dürfte er hoffen, seine Waffe in
diesem Augenblick mit Erfolg schleudern zu können. Er sollte auch nicht lange
harren — in der nächsten Secunde verschwand die Otter in den schäumenden
Sprudelwelleu, die hier seit Jahrtausenden gegen den Fall ankämpften, und gleich
darauf stieg sie korkähnlich wieder daraus hervor.
Dies war aber das einzige Moment, in dem Halway hoffen durfte, seinen
Wurf anzubringen; und er wußte das. — Schnell zuckte noch einmal der schon
gehobene Arm zu kräftigerem Schwunge zurück, und dann, von der starken
Hand gesandt, zischte er nieder in die schäumende Fluth, aus welcher eben das
bärtige Gesicht des armen, gehetzten Thiers aufgetaucht war.
Wie mit Zauberschnelle verschwand Otter und Harpune unter Wasser, jetzt
aber glitten auch, kühn und unerschrocken, die beiden Hunde über den Fall, und
als die zum Tode Getroffene zuckend und sich sträubend wieder an die Oberfläche
kam, erfaßten sie die treuen Rüden, und zerrten sie, winselnd und mit den
Schwänzen wedelnd ein's Ufer.
Dicksott war indessen ebenfalls seinem nassen Bade entstiegen, und Merville, der
jetzt, .freilich etwas spät, ans dem Kampfplatz erschien, half die Beute anf's Trockene
ziehen und wehrte die übrige Meute ab, die klaffend herbeistürmte und ihre Freude
wenigstens durch einige wohlangebrachte Bisse kund zu thun wünscht«.
Nach und nach versammelte sich nun die ganze Jägerschaar um das glücklich
erlegte Thier, und nachdem es gemessen war — es maß vier Fuß fünf Zoll
vom Kopf bis zum Schwanzende — zog sie jubelnd dem nicht weit entfernten
Farmhof Halway's zu, um sich dort bei Speise und Trank von den gehabten
Anstrengungen zu erholen.
Dickson aber und Merville waren an diesem Tage die beiden unglücklichen
Schlachtopfer aller Jägerscherze.
(S es l n ß.)
Lessing. Schützen, die einen Paß vertheidigen Lessing hat jede
Gestalt dieses Bildes mit einem innern Leben durchdrungen, das nicht viele ihrer
Figuren zu geben vermögen. Wir sehen die Schützen ans einer felsigen Anhöhe,
theils deu Feind, der unten durch einen Gebirgspaß ziehen will, aufmerksam be¬
trachtend, theils ans ihn schießend, theils ladend, zielend und in ähnlichen Be¬
schäftigungen. Auf einem noch etwas höhern und entferntem Gipfel ist eine
andere Abtheilung in ähnlichen Verrichtungen, während andere zu ihnen hinauf¬
steigen. Am Fußpnnkte dieses 'höhern Gipfels steht ein, wie eS scheint, vor¬
nehmer Gefangener, bewacht von einer Frau, die im Nothfall die Büchse, mit
der sie bewaffnet ist, gebrauchen wird. Das ist, wie gesagt, Alles vortrefflich
und lebendig dargestellt; aber die Figuren benehmen sich zu sehr wie eine
bloße Staffage in der Landschaft, sie sind durch keinen.innern Zusammenhang
verbunden, und doch, meinen wir, wäre es nicht so gar schwer gewesen, durch
irgend ein besonderes Interesse, das diese Gruppen plötzlich'gemeinsam beleben
konnte, einen für die Darstellung fruchtbarem Moment zu gewinnen. Will
Lessing uns das nicht zugestehen, so verlangen wir wenigstens ein entschiedenes
Hauptmotiv, wenigstens eine Hauptgruppe. Die Figuren stehen zu einzeln neben
einander, und ziehen auch nur so das Interesse auf sich.
Die ganze Stimmung des Bildes ist vortrefflich, und namentlich das Land¬
schaftliche meisterhaft; in der Behandlung der Figuren, namentlich des Costnms,
wünschten wir etwas mehr Realität; die Leute sehn fast durchgängig neu, wie aus
einer Theatergarderobe versehen ans: namentlich der Gefangene, der bei dem
Herumbalgen, das doch vermuthlich seiner Gefangenschaft vorausging, sein Costum
zu sauber erhalten hat; selbst die Bandroscttcn ans den Schuhen sind vollkommen
unversehrt. Dergleichen kleinen Zügen sollte Lessing mehr Aufmerksamkeit schen¬
ken; sie würden das innere Leben, welches in Ausdruck und Bewegung seiner
Figuren liegt, äußerlich zu plastischerer Erscheinung bringen.
Kraus. Ein Leichenbegängnis). Ein Leichenzug kommt durch einen Wald,
ein kleiner bescheidener Sarg, vor und um ihn einige alte Männer (Cantor,
Küster und dergleichen) und eine alte Frau, voraus junge Mädchen und Knabe».
Ein Verbrecher, der von irgend einem Individuum der Landmiliz oder dergleichen
transportirt wird, ist in der Enge des Waldweges gezwungen, zu warten, bis
der Leichenzug vorbeipassirt ist. Unter den dem Zug vorangehenden Kindern
fällt uns vor Allem ein halberwachsenes Mädchen auf, dessen blondes Köpfchen
eben so viel reizende Anmuth, als reine Unschuld zeigt. Der Künstler hat sie
absichtlich als Hauptfigur hervorgehoben; während alle Figuren hinter ihr be¬
schattet sind, trifft sie in der dunkeln Umgebung schon der volle helle Lichtstrahl,
sie sieht scheu uach dem am Wege wartenden Verbrecher, auf dessen Physiognomie
das Gepräge verstockter Bosheit und gemeinster Verworfenheit tief eingedrückt
ist. Wir kommen auf allerlei Vermuthungen, in welcher Beziehung diese beiden
Figuren zu einander, zu dem Todten, der eben hinausgetragen wird, und zum
ganzen Bilde stehen mögen. Wir denken dieses und jenes, und Nichts will
passen.
Der Grund liegt darin, daß der Maler selbst sich nichts dabei gedacht hat;
es lag ihm nur daran, zwei entschieden contrastirende Charaktere, das unberühr¬
teste, unschuldigste Geschöpf ju der Gestalt jenes Mädchens, und den verwahr-
losetsten, corrumpirtesten Bösewicht gegen einander zu stellen. Was thut nun das
Leichenbegängniß mit allen den lieben Kindern und singenden alten und jungen
Leuten dabei? Der Künstler wird uns die Antwort, schuldig bleiben müssen.
Er mochte uns den ganzen Leichenzug geben; dann mußte aber der Verbrecher
am Wege wegbleiben, der nichts mit ihm zu thun hat, als auf ihn zu warten.
Herr Kraus hat uns Figuren zusammengestellt, und zwar vortreffliche Figuren,
aber er hat die in ihnen enthaltenen Motive nicht in einen künstlerischen Zusam¬
menhang zu bringen gewußt. Er weiß nicht oder er hat es vergessen, daß ein
Kunstwerk aus einer Idee von innen heraus geschaffen werden muß, nicht aus
Motiven, die, wie im Leben, zufällig neben einander stehen. Gerade einem so
höchst talentvollen Künstler wie Herrn Kraus wünschten wir, daß er diesen ersten
aller künstlerischen Grundsätze beherzige, da er dann Außerordentliches zu leisten
vermöchte. Herr Kraus besitzt ein Talent, Physiognomien aufzufassen, das uns
auch in diesem Bilde bei jedem einzelnen Kopfe und jeder Gestalt von neuem
überrascht, und sobald wir erst über den Mangel in der Conception und Com-
pofttion hinweg sind, uns zur höchsten Befriedigung gereicht; dabei eine große
Lebendigkeit und Kraft der Darstellung bei einer gediegenen und gewandten Tech¬
nik, kurz der Künstler hat die vollste allseitige Befähigung, in seiner Richtung
Vorzügliches zu leisten, sobald es ihm gelingen wird, sich stets in genügender
Weise des Gedankens zu bemeistern.
Hansmann, Pariser Gamins. Der Hauptvorzug dieses Bildes besteht
wie beim vorigen in der entschiedenen Ausfassung der Physiognomien; nur daß
sich Herr Hansmann mit einem gewissen modernen Behagen im Häßlichen zu be¬
wegen scheint. Wir gestatten ihm uuter den kartenspielenden Gamins schon
Einiges hiervon; weshalb malt er aber vorn am Boden liegend ein so abscheu¬
liches Kind, das in jeder Beziehung verwahrlost ist? Zu den gelungensten Figuren
zählen wir den einen der Kartenspiclenden, der überlegt, welche Karte er spielen
soll; der Typus des behaglichen Tagediebes, auch der ihm in die Karten sehende
ist vortrefflich; sein Gegner, der dem vorigen offenbar überlegen ist, eine wahre
Galgeuphysiognomie, ist fast zu gelungen. Im Ganzen macht das Bild doch bei
aller Wahrheit und Energie der Darstellung, oder eigentlich eben darum einen
unerquicklichen Eindruck; ein Haufen verwahrloster Kinder, zu deren Zukunft wir
eben nicht viel Vertrauen haben können, ist kein Gegenstand, zumal für lebens¬
große Figuren, die uns das Unangenehme noch schlagender fühlbar machen.
Murillo's Betteljungen sind zwar nicht schön, aber anziehend durch eine gewisse
behagliche derbe Naivetät, die auf diesem Bilde bereits einen starken Zusatz von
Bosheit und Gemeinheit erhalten hat.
Wir erwähnen vorübergehend noch einiger Schlachtbilder. Zu den gelunge¬
neren zählen wir ein kleines Bild von
Steffeck, Gefecht zwischen preußischer Reiterei und östreichi¬
schen Fußvolk, von dem wir nur im Allgemeinen sagen, daß sowol die ganze
Situation, als jede einzelne Figur mit großer Lebendigkeit dargestellt ist. So auch
Hunden, preußische Cürassiere, durch ein feindliches Dorf
sprengend. Der Gegenstand ist außerordentlich einfach, so anch die Kompo¬
sition. Der Maler hat aber gewußt, jedem dieser sprengenden Reiter eine indi¬
viduelle, besonders lebendige Bewegung zu geben, die keine Einförmigkeit auf¬
kommen läßt.
Von zwei Schlachtbildern, welche das Gefecht bei Wiesenthal in Baden dar¬
stellen, von Nechlin und Kaiser, ist das von Nechlin, wenn es uns auch uicht
besonders behagt, das gelungenere; es ist hier wenigstens das Plötzliche in dem
Angriff des Prinzen mit seiner Kavallerie aus deu im Augenblick verwirrten Feind
klar ausgedrückt.
Kretzschmer, Prinz Waldemar in der Schlacht von Ferozesha,
dem Dr. Hofmeister Beistand leistend, ist in jeder Beziehung mittelmäßig.
Bleibtreu, Vernichtung des Kieler Turner- und Studenten¬
corps bei Flensburg, zeigt zwar noch eine gewisse jugendliche Unbeholfenheit
in der Komposition, namentlich in der Anordnung der Gruppen; aber die ein¬
zelnen Motive sind fast durchweg gut, einzelne Gestalten, z. B. der Führer des
Corps, vortrefflich. Was namentlich wohlthut, ist dieses: mau sieht, daß jede
Figur wirklich empfunden ist. Der Mangel des Bildes liegt nicht im Unver¬
mögen, sondern in der Unerfahrenheit.
Menzel, ein Concert auf Sanssouci 17 t>0. Menzel hat sein Talent
in eine Zeit verwiesen, deren Darstellung zwar der Schönheit nicht genügen kann,
dafür aber unendlich viel Anziehendes im Gebiete des Charakteristischen und Pi-
qnanten bietet. Aus diesem Felde bewegt sich der Künstler mit so vollkommener
Freiheit und Leichtigkeit, daß wir mit ihm bald darin zu Hause sind und über
der lebendigen Originalität seiner Figuren nicht zur Reflexion über Puder und
Perrücke kommen. Wie fein nuancirt ist die Aufmerksamkeit und Nichtanfmcrk-
samkeit aller Anwesenden aus das solo" des Königs ausgedrückt. Es
würde uus zu weit führen, wollten wir aller dieser vortrefflichen Figuren einzeln
gedenken; wir erinnern nur, nicht weil wir sie gerade für die beste halten, son¬
dern weil sie besonders schlagend ist, an den Lehrer des Königs, Quanz. Die
Lichtstimmuug ist eben so wirksam als harmonisch ausgedrückt, die Technik dem
Inhalt angemessen, da es bei einem Gegenstande, der einfache Schönheit aus¬
schloß, sich überall nicht sowol um feine Präcision der Linien, als um frappante
Wirkung handelt. Was wir bei Menzel'S Technik besonders anerkennen müssen,
ist dieses, daß die große Freiheit und Leichtigkeit derselben niemals der Feinheit
der Durchführung schadet, ein Zeichen, daß ihm die Technik und Mittel geblieben.
Sollen wir zum Schluß noch einen Tadel aussprechen, so wäre es der, daß der
Kopf der Markgräfin von Bayreuth durch einen bräunlich trüben Ton etwas aus
dem Uebrigen herausfällt. Lag ein besouders verschiedenes Kolorit in Absicht des
Künstlers, so ging er diesmal darin zu weit; auch ist der Kops weniger fein
modellirt, als die übrigen.
Meier heim hat eine ziemliche Anzahl von Bildern auf der Ausstellung
die wir, da sie im Ganzen denselben Charakter haben, zusammen besprechen.
Meicrheim hat sich einmal das naive Genre erwählt, in dem er der Liebling des
Publicums geworden, und in dem er allerdings nicht geringe Vorzüge hat. Seine
Bilder sind wirklich alle mehr oder weniger naiv empfunden, und in der Phan¬
tasie lebendig geworden; die bloße Naivetät wird aber doch mit der Zeit lang¬
weilig, wenn sie sich nicht in jedem Individuum anders gestaltet, und das ver¬
missen wir. Kinder und Alte haben selten rechte Originalität, sie sind meist
Repräsentanten der Allgemeinheit. Dies spricht sich anch in der Form aus,
die ebenfalls meist ohne rechten Charakter ist. Die Leute sehen alle nett und
gemüthlich aus, aber weiter wisse» wir nicht viel von ihnen. Wie wenig wir
für eine gewisse moderne Richtung eingenommen Sieb, die gerade das Absonder¬
liche und Piquante, was ihr in der Natur vorkommt, darstellt, eben so wenig können
wir dieses verallgemeinernde idealisirende Streben billigen, das den Personen ihr
individuelles Leben nimmt. — Die Technik ist übrigens dem geistigen Kern dieser
Richtung vollkommen angemessen; es geht aller Charakter und alles Detail
in eiuer zierlichen, glatten Behandlung unter; Nichts von dem Neiz des Lebens
in Formen und Farben, die wir bei so weit getriebener Ausführung verlangen
könnten.
Bei Becker ist es fast umgekehrt, wie bei Meierheim, seine Figuren sind
von höchst plastischer Wirkung, auch tragen sie äußerlich meist ein individuelles
Gepräge, seine Technik hat ungemein viel Reiz; aber seine Bilder sind bei
alledem im höchsten Grade uninteressant. Eine Wahrsagerin, eine Karten¬
legerin n. s. w. sind schon an und für sich nicht besonders tiefe Gegenstände;
dann verlangen wir aber wenigstens, daß der Maler dnrch Erfindung von neuen
und anziehenden Motiven sie interessant zumachen sich bemühe; er kann uns dann
immer uoch höchst erfreuliche Bilder geben. Davon sehen wir hier nichts, die
Leute stehn und scheu neben einander und thun wenig oder nichts. — Becker ist
eben nur ein Virtuos.
Geujz. Sclaveuverkaufssceue im innern Hofraum des Scla-
venmäkler-Hotels von Assuan an der ägyptisch-nubischen Grenze.
Uns ist lauge kein widerwärtigeres Bild zu Gesicht gekommen, und nur als ein
Beispiel enormer Geschmacksverirrung, und da es außerdem mit eiuer gewissem
Prätension auftritt, sei seiner gedacht. Das Bild hat ein sehr einseitiges Ver¬
dienst in eiuer guten Farbenstimmuug, in der es sich an einige Franzosen,
etwa an de la Croix und von älteren Malern etwa an Paul Veronese an-
lehnt. Damit ist aber denn auch alles Lob erschöpft. Der an und für sich
uicht sehr günstige Gegenstand des Bildes mußte durch irgend ein Motiv (wie
z. B. in Vernet's Sclavenmarkt) interessant und anziehend gemacht werden.
Hier haben wir uur eine Darstellung dessen, was die Meuschen am tiefsten
herabwürdigt:, Menschen, die andere Meuschen wie Vieh behandeln, oder
so von ihnen behandelt werden. In so abscheulicher Umgebung konnte Herr
Gentz freilich die nackte Sclavin, die er in die Mitte seines Bildes gestellt hat,
zur Hauptsache mache», aber sie gehört trotz dem noch lange nicht in die mensch¬
liche Gesellschaft, die stumpfste Thierheit liegt in diesen Zügen. Hätte Herr
Gentz seinen Figuren wenigstens den Reiz gemeiner Sinnlichkeit zu geben ver-
, möcht! — Nein, er giebt ihnen lieber eine gemeine Sinnlichkeit ohne Reiz.
Physiognomien und Körperformen sind durchweg unschön, was durch die meist
nachlässige Zeichnung sich noch unangenehmer geltend macht. Bei Darstellung
von Völkern anderer Zonen suche der Künstler sie uns verständlich zu machen;
er hebe das Anziehende ihrer Erscheinung stärker hervor, als das Abstoßende;
wenigstens hebe er die unangenehmen Eigenthümlichkeiten nicht stärker, als jene
hervor; das hat aber Herr Gentz offenbar gethan; daß alle Leute an der ägyp¬
tisch-nubischen Grenze so häßlich sind, glaube ihm ein Anderer. Behauptet er's
trotz dem, so mochte er sie in den Bildcratlas einer beschreibenden Erd- und
Völkerkunde zeichnen, aber in der Form eines Kunstwerkes durste er sie uns
uicht vorführen.
Girardez. Eine Frau mit zwei Kindern, vom Schneesturm im
Gebirge übereilt und von Mönchen gerettet. Eine der erstarrenden
Kälte nur noch mit Mühe widerstrebende Frau hat ein kleines Kind auf dem
Arme, ein älteres deutet auf die in der Ferne zur Rettung herbeieilenden Mönche. '
Die in halber Erstarrung bläulich gefärbten Gesichter und Hände, das gebrochene
Ange der Mutter machen eben keinen angenehmen Eindruck, doch hilft uus die
außerordentlich lebendige Darstellung schnell in die Situation hinein, so daß wir
über dem Ergreifenden das Unangenehme vergessen. Das Bild ist durchweg
von feinster Naturwahrheit in den Figuren sowol, als in der trüben, die Hand¬
lung vortrefflich erläuternden Schneestimmung der Landschaft.
Da unter den Landschaften der diesjährigen Ausstellung eine große Zahl
solcher ist, die uns in fremde Himmelsstriche führen; so unterziehen wir sie einer
gemeinsamen Besprechung. Es lassen sich viele Maler verleiten, alles Frappirende,
eigenthümlich Wirkende einer fremden Natur in Bildern darzustellen, ohne daran
zu denken, ob sie zugleich etwas allgemein Verständliches geben. Daher kommt
es, daß uns viele dieser Bilder zwar ein Interesse, aber oft nur ein wissenschaftliches
oder curiöses einflößen, der geringere Theil spricht verständlich zu unsrer Empfindung.
So geht es uus namentlich mit mehreren Bildern von Bellermann; es liegt
nicht in der Fremdartigkeit der dargestellte» Natur, weshalb wir bei ihnen nicht
warm werden; Bellermann hat sonst bisweilen, und auch auf einem Bilde unsrer
jetzigen Ausstellung (die Guachero-Hohle in der Provinz Cumana) uus die
Amerikanische Landschaft poetisch klar dargestellt. Es liegt in der zu starken Be¬
tonung mancher Eigenthümlichkeiten jener Zonen, in einigen Bildern geradezu in
einem zu bunten Kolorit, das übrigens durchaus nicht wahr zu sein scheint, da
> wir es in einigen vou Bellermann's früheren Bildern eben so wenig, wie in seinen
mitgebrachten Studien und Skizzen finden.
Geyer dagegen, in seinen Griechischen und Asiatischen Bildern hat seine
Aufgabe meist vortrefflich gelöst, aber die Bilder behagen uns uicht alle in gleichem
Maße, wir heben als besonders gut „Trapezunt, Athen, Philä, Ein Arabisches
Dorf, und Livadische Ebene" hervor; in einigen anderen ist Manches, das wir
nicht gerade schön finden; aber es ist uns wenigstens Alles wahrscheinlich. Hier
erwähnen wir auch eines sehr reizenden Bildchens von
Graeb, Theater von Taormina, das in kleinem Maßstabe eine höchst
delicate, aber verhältnißmäßig massive und entschiedene Behandlung zeigt.
Hieher gehört auch:
Hildebrandt, der uns mit bewundernswürdiger Virtuosität frappante
Licht- und Farbeneindrücke anderer Himmelsstriche zur Anschauung bringt. Wir
können nicht genug staunen über die Gewandtheit, mit der Hildebrandt über die
ihm zu Gebote stehenden Farbenmittcl verfügt; sein Nilufer ist von einer durch¬
sichtigen Farbengluth, die mau bis dahin nicht gesehen; aber nach diesem ersten
imposanten Eindruck folgt ein schwächerer und immer schwächerer; es ist Nichts
von schönen Linien, von wohlgeordneten Gruppen da, auf denen nun weiter das
Auge mit Vergnügen ruhen möchte. Mit dem Farbeneindruck ist's zu Ende.
Max Schmidt. Abend (Erinnerung von den Küsten des mittelländischen
Meeres). Wir geben zu, es möchte ein Anderer vielleicht das Wasser noch täu¬
schender, ein Anderer ti.e letzte Gluth der Sonne noch frappanter malen; doch was
thut das gegen die wohlthuende Harmonie dieser Farben, gegen die classische
Grazie in den Linien dieser Gebirge, gegen die anmuthigen, weichgeformten
Gruppen dieser Bäume; es braucht nicht mehr der antiken Staffage, um uns in
eine schönere Welt zu versetzen. Uns wird wohl in dieser Natur; denn es ist
die Natur, die vou deu allerlei Zufälligkeiten des Gemeinen befreit ist. Solche
Natur darzustellen, das ist die Aufgabe der schönen Kunsti
Dieses Streben, das sich in Max Schmidt's Bildern überall documentirt, ist's,
was wir an ihm verehren, wenn es auch nicht überall gleich vollkommen zur
Erscheinung kommt.
Pape. Am Vierwaldstättersee reiht sich dem vorigen als eine der besten
Landschaften an. Wenn auch der Gegenstand die reinste Harmonie und Grazie
aller Linien ausschließt, die hier in Bergen und Bäumen einen markirtern Cha¬
rakter annehmen, so finden wir sie in Colorit nud Stimmung in höchster Voll¬
kommenheit vou dem duftigen Blau über dem See bis zur warmen Gluth in
den Gipfeln der Kiefern.
Eine Anzahl vortrefflicher Landschaften hat Düsseldorf zur Ausstellung gesandt.
Gabe: ein Morgen im norweg'schen Gebirge, zählen wir zu den
ersten; bei einer sehr reichen Komposition herrscht die vollkommenste Einheit in
Massen und Farben. Das durch leichtes Gewölk verschleierte Sonnenlicht, das nur
matte Strahlen über die ganze Landschaft gießt, und selbst da, wo das Gewölk
sast zurückgewichen, nicht in alltäglicher Wärme strahlt, verleiht dem Bilde einen
eigenthümlichen Neiz.
Lau hat ebenfalls eine vortreffliche, höchst fein gestimmte norwegische Landschaft
gebracht, Eine andere von ihm „Norwegische Gletscher" scheint mehr wahr, als
anziehend. Es würde uus zu weit führen, wollten wir alle diese Landschaften
einzeln besprechen. Als vortrefflich führen wir noch an: Portmanu, neblicher
Morgen. Von Waldlaudschaften: Jansen, aufsteigendes Gewitter; Michely,
Westfälisches Dorf. Vor allen aber Kessler, Gewitterstimmung, ein außer-
ordentliches kräftiges Bild, das nur einen etwas zu bräunlichen Ton hat. Kessler
hat unter den jüngeren Düsseldorfern am meisten von Schirmer.
Von Schirmer selbst haben wir eine niederländische Landschaft, die vom klaren
Hauch der Natur frisch belebt ist. Eine andere Landschaft von ihm „Kloster Sancta
scholastica bei Subiaco" behagt uns weniger; wir sahen sonst wol Bedeutenderes
von Schirmer.
Endlich gedenken wir noch einer Marine: „Ne blieb er Herbstmorgen"
von Hunden und einiger Marinebilder von Melby, die meistens sich durch seine
und entschiedene Stimmung auszeichnen, wir heben besonders „Morgen nach dem
Sturme" (ein verlassenes Schiff) und „Morgen auf der Nordsee" hervor.
Und so schließen wir unsern Bericht, indem wir nnr noch bemerken, daß
wir Manches, was unerwähnt geblieben ist, nicht eben darum geringer achten,
als Anderes, was wir hier angeführt. Wir hoben Manches heraus, das, ohne
gerade eiuen besondern Vorzug zu haben, nur aus diesem oder jenem Grunde
auffiel; sei. es anch nur, daß es uns zu mancher wichtig scheinenden allgemeinen
Betrachtung aufforderte, auf die es uns neben der Erwähnung der hauptsächlichsten
Bilder mit ankam.
— Der Geburtstag des Königs von Preußen gab die Veranlassung
zu mehreren großartigen musikalischen Ausführungen. Im Opernhause war unter Dorn's
Leitung der „Titus" von Mozart nicht nur neu einstudirt. sondern auch mit den dem
größten Theile des Publicums unbekannten Recitativen ausgestattet. Der dadurch er¬
reichte Erfolg war ein ganz unerwarteter und befriedigender. Wir nehmen dabei die
Gelegenheit wahr, die Directionen der Bühnen aus eine gleiche Behandlungsweise des
Don Juan aufmerksam zu machen, dessen Musikstücke bei den meisten Aufführungen
durch schlechte Dialoge unterbrochen werden. Das Berliner Opernhaus hat schon längst
Mozart's Originalrecitative eingeführt, an anderen Orten sind sie nach mehrmaligen Ver¬
suchen wieder beseitigt worden, und man fährt immer noch fort, die Galerien durch die
gemeine Gerichtsdienerscene zu belustige». — Das Friedrich-Wilhelmstädtische Theater
brachte an demselben Festtage Lvrtzing's „Undine". In der Akademie der Künste
wurden zwei Kompositionen von Mitgliedern dieses Instituts ausgeführt: ein 8a!pun
t»o rvMm vom Musikdirector Bach, und eine Festcautatc vom Musikdirector Schnei¬
der. Die italienische Operngesellschaft führte „die Puritaner" von Bellini ans;
die Kritik spricht sich darüber nicht befriedigt aus.
In Frankfurt a. M. wurde am 13. October mit großem Erfolge Conradin
Kreutzer's nachgelassene Oper „Aurelia", mit der Bearbeitung von Carl Gell-
mick gegeben. Eine Wiederholung fand den 17. statt.
Im dritten Gewandhausconcerte standen auf dem Programme die Ouvertüre zu
den Abenceragen von Cherubini und „Im Hochland" von N. W. Gabe,'
im zweiten Theile die ö-I)ur Sinfonie (Ur. 4) von Robert Schumann. Der Sänger
Wehr hatte eine Arie aus dem Figaro von Mozart und Lieder von Schumann und
Schubert gemahlt. Fräulein Schönerstedt spielte das K-Vur Concert für Pianoforte
von Beethoven. — Die Concerte des Mnsikvcreins Eutcrpe werden unter der frühern
Direction Mitte November beginnen.
Unter den Novitäten der letzten Woche zeichnen sich aus: die Aquarellen, kleine
Tonbilder für Pianoforte von N. W. Gabe, Op. 19. Leipzig. Kistner, Hest 1,
20 Ngr. Heft 2, 2ö Ngr. Sie enthalten 10 Charakterstücke, die einzelnen in einer
Ausdehnung von 2 bis i- Seiten. Die Ueberschriften sind passend gewählt, und dem
jedesmaligen Inhalte angemessen. Die Stücke zeichnen sich sämmtlich aus durch natür¬
liche und gesunde Erfindung und zierliche, sorgfältige Ausarbeitung. Die Spielart ist
leicht, der Komponist hat es vermieden, mehr Noten niederzuschreiben, als zur Dar¬
stellung seiner Ideen unumgänglich nöthig waren. — In derselben Musikalienhandlung
erschien der vierhändige Clavicrauszug von Gabe'ö vierter Sinfonie (Op. 20, L-Vor),
er kostet 1 Thlr. 20 Ngr. Die Partitur und die Stimmen sind schon früher gedruckt.
— Noch wird erzählt von einer neuen Oper Gabe's: Die Braut von Louisiana.
Text von Schrader nach seinem gleichnamigen Romane.
Schumann's „Pilgerfahrt der Rose" wird in nächster Zeit in Dresden ge¬
geben werden. Die Partitur (8 Thlr. 20 Ngr.), der Clavicrauszug (i Thlr. 10 Ngr.)
und die Chorstimmen (1 Thlr. 10 Ngr.) sind von der Kistner'schen Musikalienhandlung
ausgegeben worden. — Schumann's neuestes Werk sind: vier Husarenlieder
von Lenau, dem Sänger Heinrich Behr in Leipzig gewidmet.
Spvhr's neunte Sinfonie: „Die Jahreszeiten", erscheint in Partitur und
Orchesterstimmen bei Schubert!) und Comp. in Hamburg. Eben da erschien die 2. Aus¬
lage von Spohr's Doppclsin foule für zwei Orchester.
— Noch ist aus den d. Bl. zugehenden Mittheilungen nicht
mit Sicherheit zu entscheiden, wie die beginnende Saison dieses Winters sür die deut¬
schen Theater sich gestatten wird, und ob in Schauspiel und Oper neue Talente und
interessante Arbeiten das Publicum beschäftigen werden. Für das Schauspiel sind
Agnes Bernanerin von Hebbel, die Diaconissin von Gutzkow und die
Makkabäer von Otto Ludwig die am häufigsten genannten Aussichten.
Die Aufführung der Agnes Bernanerin in Weimar hatte guten Erfolg. Dieser
wurde unterstützt durch eine vortreffliche Scenirung der wichtigen Turnicrsccnc, welche
Marr erfunden hatte. Das Stück wird wahrscheinlich auf den meisten großen Theatern
in Scene gesetzt werden, da es sich mehr den Bedürfnissen der Bühne anpaßt, als seit
der Maria Magdalena ein anderes Stück des Dichters that. — Die beiden anderen Stücke
erwarten ihre erste Aufführung und haben deshalb noch das Recht, unbcsprochen zu bleiben.
— Von Eduard Devrient ist das „Käthchen von Heilbronn" von Kleist für die
Bühne eingerichtet und den Bühnenvorständcn als Manuscript zugesandt, worden. Der
Bearbeiter spricht sich selbst folgendermaßen darüber aus: Der allgemein verbreiteten
Bearbeitung von Franz von Holbein, vom Jahre 1812, haben wir es zu danken,
daß das Gedicht auf der Bühne Fuß gefaßt hat, was dem Originale — trotz
vereinzelter glücklicher Versuche — nicht hat gelingen wollen. Aber das poetische
Verständniß ist seitdem im Publicum gewachsen, Kleist ist ein Liebling der Nation
geworden und lange schon wird eine neue Bearbeitung des Katheders allgemein ge¬
fordert, welche das Original in seiner Kraft und Lieblichkeit und in der Eigenthüm¬
lichkeit seines Geistes wiederherstelle, soweit es die unerbittliche Realität' der theatra¬
lischen Darstellung irgend zuläßt. Ich habe diese Bearbeitung versucht; die Recht¬
fertigung meines Verfahrens dabei muß die Arbeit selbst übernehmen. Nur bei einem
Punkte, der Enthüllung nämlich von Katheders Herkunft, muß ich in Erinnerung
bringen, daß es ein Wink Ludwig Tieck's (in seinen dramaturgischen Blätter») ist, den
ich dazu benutzt habe; ich fand, daß der seitliche Punkt nicht nur dadurch auf'S Beste
gelöst, sondern dem Stücke dadurch ein neues Interesse zugeführt würde/
Daß die treuere Wiederherstellung des Originales der Aufführung große Wirkungen
darbietet, welche das Theatcrpublicnm bis jetzt gar nicht kennt, daß daher bei einiger¬
maßen sorgfältiger Darstellung und Sceniruug das Stück eine ganz neue Anziehungs¬
kraft auszuüben verspricht, wird schon dem ersten Ueberblicke nicht entgehen." — Die Be¬
arbeitung selbst ist vortrefflich; ein Vergleich mit dem Original, so wie mit Holbein's
roher Arbeit ist Schauspielern, wie dramatischen Schriftstellern dringend zu empfehlen.
Devrient verspricht in solcher zeitgemäßen Bearbeitung älterer Stücke fortzufahren.
Keiner in Deutschland hat dazu so wie er das Zeug, möge ihm nnr nicht der Schlen¬
drian unsrer Bühnen die Lust rauben, dergleichen Arbeiten ferner zu unternehmen, bei
denen er außerdem seine Uucigcimützigkeit und Liberalität erweist.
Der afrikanische Tragöde, Jra Aldridgc, dieser Talma des Senegals, wie ihn be¬
geisterte Theatercorrespondentcn nennen, haust jetzt in der Schweiz, und es droht die
Möglichkeit, daß er auch über die deutschen Theater, die ihn noch nicht genossen haben,
ziehen und den Othello zur Freude Aller spielen wird, welche es mit der Naturwahr¬
heit auf der Bühne ernst nehmen. Wenn es außerdem einer strebsamen Direction noch
gelingt, eine Desdemona zu finden, die wirklich eine entlaufene Senatorstochter aus
Italien ist, so wird die Freude des Publicums vollständig sein, und wenn dieser sehr
achtungswerthe Herr Jra aus Girasfia gar noch die afrikanische Naturwahrheit so weit
triebe, aus diese Senatorstochter wirklich eifersüchtig zu werden und sie in allem Ernste
auf dem Theater umzubringen, so wäre das eine Höhe und ein Triumph der Kunst,
worüber die Theaterkritik in einen Taumel des Entzückens gerathen könnte.
Zugleich meldet die Berliner deutsche Thcaterzcitung, daß im Winter dieses
Jahres zu Fulda, welches sonst für eine ältliche achtungswerthe Stadt von gutem
Herkommen gilt, unter der Direction von Louis Reinhold zu einer Vorstellung „der
Kreuzfahrer" das Publicum durch unentgeldliche Auslosung eines schönen Lammes
und zweier Geheimnisse angereizt worden ist. — Beim schwarze» Mohr säugt's
a», beim weißen Lamm hört's aus.
— Zu den zahlreichen Werken, welche eine populaire Behandlung
der Naturwissenschaften erstreben, sind neuerdings: Asträa, Briefe über Astronomie an
eine Dame, von F. E. Bernhardt, mit Holzschnitten und einer Sternkarte, gekommen:
Hannover, Carl Nümplcr. 1833; und: Die Versteinerungen, deren Beschaffenheit,
Entstehungsweise und Bedeutung für die Entwickelungsgeschichte des Erdkörpers u.s.w.
von E. A. Roßmäßler, mit 7 lithographirten Tafeln und eingedruckten Holzschnitten.
Leipzig, H. Costenoble. 1853. Dieses Blatt ist geneigt, Alles mit Freuden zu begrüßen,
was die große» Erscheinungen und Gesetze des Naturlebens in weitem Kreise bekatznt macht.
Diese populairen Werke sind gegenwärtig das Feldgeschütz, mit welchem. Vernunft
und Bildung gegen Jesuiten, Pietisten und gegen Alle feuern, welche die Autorität
über die freie Bewegung der Geister setzen wollen. Deshalb sind auch die vorliegenden
eines guten Empfanges bei Kritik und Publicum sicher. Außerdem erfüllen sie in der
That, was sie im Titel und Vorrede versprechen; sie sind im bessern Sinne des Wortes
pvpulair. Das Buch Bernhardi's steht ungleich höher als das zweite. ES erscheint
uns ganz vortrefflich eingerichtet. Der Verfasser hat mit großem Geschick die schwierige
Aufgabe gelöst, eine schwer zugängliche Wissenschaft dem Verständniß auch der Frauen
zu öffnen, seine Darstellung ist klar und würdig, und der reiche Inhalt zweckmäßig
geordnet. Das nützliche Buch kann zum nächsten Weihnachtsfest angelegentlich empfohlen
werden. — Roßmäßler hat in seinem Buch über Versteinerungen ebenfalls den Ton
getroffen, welche daS Fremde und Schwierige am leichtesten in Ohr und Seele des Lesers
führt. Doch begegnet,es ihm zuweilen, daß er breit und rhetorisch wird, wo Kürze,
Einfachheit und Genauigkeit gefordert werden müssen. Gut ist z. B. seine Erklärung
des Begriffs „Versteinerungen", dagegen ist der eingeschobene Artikel „Versteinerung und
Antike", und das Gedicht am Ende, unnütz und störend, und die Darstellung des Systems
der Thier- und Pflauzenklasscn, welche für mündliche Vorträge allenfalls zu rechtfertigen .
war, nimmt in dem Buche zu viel Raum ein und ist für den Druck weder vollständig,
noch gründlich genug. Der Verfasser hätte sie besser in ein Schema aus zwei Blätter
zusammengedrängt und den ersparten Raum dazu benützt, etwas ausführlicher über die
Glieder und Lagerungen der großen Gebirgsgruppen zu sein. Die einzelnen Glieder
der Steinkohlengruppe, der Trias- und Juragruppc sind in ihrer Eigenthümlichkeit viel
zu wenig unterschieden. Gesetzt, eine Dame hätte das Werk von Unger, die Land-
schaftsbilder der Vorwelt vor sich liegen und suchte in dem vorliegenden Buch das Ver-
, ständniß der verschiedenen Perioden, welche aus den einzelnen Tafeln vorgestellt sind?
Es wäre ihr unmöglich, auch nur das zu finden. Die Leitmuscheln der einzelnen Glie¬
der hätten wol auch ausführlicher besprochen werden sollen, sie hätten sämmtlich eine
Abbildung verdient. Auch die Anweisung zum Sammeln von Versteinerungen wäre
dem Buch nicht so unnütz gewesen, als der Verfasser annimmt. Die Aufgabe desselben
ist offenbar nicht, die betreffende Wissenschaft selbst populair darzustellen, sondern viel¬
mehr das Interesse des Laien an diesem Gebiet der Wissenschaft anzuregen, ihm Aus¬
sichten zu eröffnen und eine summarische Uebersicht über gewonnene Resultate zu geben.
Diesen letztern Zweck erfüllt das Buch und dafür ist es als Lecture zu empfehlen.
Es ist dem Versasser des Kosmos gewidmet.
Von politischen B.: Bruch mit der Revolution und Ritterschaft. (Berlin,
W. Hertz.) — Der Verfasser dieses Büchleins mit dem wunderbaren Titel ist Valen¬
tin H über, der bekannte Vorkämpfer der „conservativen" Partei in den vormärzlichen
Zeiten. Wir haben damals im „Janus" seine Thätigkeit mit großer Aufmerksamkeit
beobachtet, und es ist uns immer so vorgekommen, als hätten wir es mit einem ge-
scheidter und auch gebildeten Mann zu thu», der aber von einer fixen Idee heimgesucht
wäre. Ueber viele .Dinge sprach er sehr verständig und auch zum Theil originell; kam
er aber einmal auf die Stichwmtcr „conservativ" oder „revolntionair", so ging die
Phrase mit ihm dnrch, er wußte nicht mehr, was er redete, er gerieth in Verzückungen
und sang Orakel. — Dieser Mann bricht jetzt mit seinen alten Verbündeten, der
„RittersckM", mit welchem Ausdruck er theils den Stand, theils die Partei der Kreuz-
zeitung bezeichnet. Er wirst der letztern vor, die Revolution, statt sie ernsthaft zu be¬
kämpfen, zum Vortheil ihres Standes ausbeuten zu wollen. Er sagt ihr sehr bittere
Dinge, wirft ihr Mangel an Ernst, an Bildung, an Sittlichkeit u. f. w. vor, und ver¬
weist die^Ritterschaft auf ihren „wahren Beltis", die Nackten zu kleiden, die Hungrigen
zu speisen u. s. w. Das wäre so weit recht gut, unseren Junkern kann wol einmal
ordentlich die Wahrheit gesagt werden, es wird ihnen nichts schaden. — Allein im
Allgemeinen werden wir uns doch in dieser Streitfrage auf Seiten der Junker stellen
müssen. Wahr ist es, sie stellen die Interessen ihres Standes über alles Andere; sie
lassen ferner diese Interessen über ihr gesäumtes Denken und Empfinden so übermächtig
werden, daß sie gar nicht mehr im Stande sind, eine andere Ansicht auch nur zu ver¬
stehen; wahr ist ferner, und das hätte ihr Gegner mehr hervorheben sollen, daß sie
auch ihrer Fahne nicht immer treu bleiben, daß sie, wenn es ihnen convenire, heute
Absolutesten sind, um ihre Gegner durch die Polizei zu unterdrücken, morgen Frondeurs,
wenn die Regierung von ihrem Stande irgend ein Opfer verlangt, u. s. w. Das ist
Alles wahr, aber selbst dieses einseitige, bornirte und zweideutige Staatsinteresse hat
immer noch mehr Leben in sich, und ist fruchtbarer für die Entwickelung des Staats,
als der Fatalismus, mit dem sich Herr Huber dem vormärzlichen (oder vielmehr dem
vorsebruarlichen, denn er will mit seiner Reaction über das Landtagspatent von 18i7
hinausgehen) Absolutismus in die Arme wirft. Wir müssen um so entschiedener dieses
aussprechen, da seit dem Gelingen des französischen Staatsstreichs die Zahl der Absolu-
tisten „aus Princip" sich täglich vergrößert, und da diese Stimmung gerade die richtige
wäre, um die wenigen Lebcnsrcste, die sich in unsrem Staatsleben noch vorfinden,
vollends in Stagnation zu versehen.
Napoleon und Graf von Kervegem. Nach dem Französischen. (Berlin,
W. Hertz.) — Eine anmuthige und gut erzählte Episode aus der Geschichte des „gro¬
ßen" Napoleon, mit etwas lcgitimistischcr Färbung.
Aus dem Leben eines sächsischen Husaren und aus dessen Feldzügen
1809, 1812 und 1813 in Polen und Rußland, von Theodor Goethe. Leipzig,
Hinrichs'sche Buchhandlung. 1853. Der Verfasser, preußischer Steuerrath a. D., machte
diese Feldzüge als Fourier mit und schildert seine und des sächsischen HusarenregimcntS
Abenteuer und Erlebnisse mit großer Aecuratcsse. Die Darstellung macht durchaus den
Eindruck der Wahrhaftigkeit. Einzelnes Interessante würde auch für die Kriegsgeschichte
der- betreffenden Campagnen zu entnehmen sein; das Hauptinteresse liegt in der genauen
Darstellung der persönlichen Erlebnisse eines braven Husaren. Dabei passirt freilich,
daß dem würdigen Veteranen Dinge anziehend erscheinen, welche unsre blasirte Zeit nicht
dafür halten wird. Jedenfalls wird das Werk den Kriegskameraden des Verfassers
und den zahlreichen Kameraden dieser Kameraden eine ansprechende Unterhaltung ge¬
währen.
Wer hat die Schlacht von Waterloo gewonnen? und wodurch hat sie Napo¬
leon verloren? sind zwei Fragen, welche man in den letzten Wochen im Gespräch
über des Herzogs v. Wellington's Tod und Verdienst oft aufwerfen horte. Die Be¬
antwortung derselben fiel stets sehr verschiedenartig aus: bald unterschätzte man die
Verdienste Blücher's, bald die Wellington's, und nicht Wenige fanden sich noch be¬
sangen in den von französischer Seite, namentlich Gourgaud und den Memoiren
Napoleon's mit eben so viel Eitelkeit als Mangel an Wahrheitsliebe verbreiteten
Fabeln, welche die Niederlage des französischen Feldherrn theils einer blinden Laune
des Schicksals, theils unverzeihlicher Fehlern oder gar Verräthereien einiger seiner
Untergeneräle zuschreiben. Letztere Ansicht sucht auch von Neuem der kaum aus dem
El gekrochene Nao-Bonapartismus in Frankreich geltend zu macheu, damit einige
Strahlen des fleckenlos gewaschenen Ruhms des großen Onkels auch auf den noch
sehr dunkeln des Neffen fallen möchten. Und man schickt sie mit einer Keckheit in
die Welt, als wären sie nicht schon längst durch die beglaubigten Aussage« unpar¬
teiischer Mithaudelnder auf das Gründlichste widerlegt. Deshalb wird es der Leser
wol nicht für unzeitgemäß halten, wenn wir die Hauptmomente jener wichtigen
Vorfälle, wie sie in den besten gedruckten Quellen niedergelegt sind, ihm heute
uoch einmal in's Gedächtniß zurückrufen, obgleich sie ihrem Wesen nach schon der
Geschichte, und nur durch ihr gegenwärtiges zufälliges Zusprachekommen dem Ge¬
biet der Tagespresse angehören. Es wird sich daraus zeigen, daß Napoleon's poli¬
tische Lage ihn zwang, Alles auf einen verzweifelten Wurf zu setzen, und daß außer
der Ueberzahl auch die Tapferkeit und das Kriegsgeschick seiner Gegner, ohne alles
Eingreifen der Göttin Zufall oder der Verrätherei, seine Pläne scheitern machte,
wovon wieder sein gänzlicher Sturz eine nothwendige Folge war.
' Als im Juni 181 i- die verbündeten Truppen das eroberte Frankreich geräumt
hatten, begaun alsbald zwischen den beiden extremen Parteien der Republikaner
und Absolutisten ein ^ wilder Kampf, in welchem der König Ludwig XVIII. zu
vermitteln suchte, ohne dadurch mehr als eine vergrößerte UnPopularität zu ge¬
winnen. Der Nationalstolz der Franzosen fühlte sich ohnedies dadurch verletzt,
daß ihnen ein König durch fremde Waffen eingesetzt worden, und die schon ge¬
reizte Empfindlichkeit des Volkes wurde noch erhöht dnrch taktlose Begünstigungen
der Geistlichkeit und der Emigrirten, und absichtsvolle Demonstrationen gegen die
Erinnerungen an die Kaiserzeit, in der nun einmal Frankreich seit einer langen
Reihe von Jahren seinen glorreichsten Nuhm gesucht hatte. So bildete sich alsbald
eine zahlreiche kaiserliche Partei, die zwar mit den Republikanern nicht identisch
war, aber als Angriffsmittel gegen das Königthum von ihnen unterstützt wurde.
Daher sank der Thron der Bourbonen fast vor dem bloßen Namen Napoleon's
zusammen, als derselbe die kühne Landung in Frejus wagte, das ganze Heer fiel
ihm begeistert zu, und schon am 30. März war er wieder im Besitz von Paris
und des französischen Throns. Aber so groß auch der Jubel war, mit dem Napo¬
leon empfangen worden, so konnte er doch nicht über die unsichere Grundlage
seiner Macht tauschen. Im Süden und im Westen entstanden royalistische
Aufstände, deren Bedeutung man daraus abnehmen kaun, daß in der Vendee
allein 23000 Maun unter Lamarque verwendet werden mußten; von den nörd¬
lichen Provinzen gesteht Napoleon selbst ein, daß in ihnen ein schlechter Geist
herrschte; die republikanische Partei hatte ihn zwar gegen die Bourbons ge¬
braucht, war aber keineswegs gemeint, ihm die alte unumschränkte Gewalt wieder
in die Hände zu geben, und trat ihm überall mißtrauisch entgegen, und selbst ehe¬
malige enthusiastische und angesehene Anhänger hielten sich fern von ihm. Nur die
unteren Klassen und die Armee hingen ihm an, und er war bis jetzt nur der sieg¬
reiche Chef einer Partei, der sich erst noch durch Erfolge die aufrichtige Aner¬
kennung des ganzen Volkes verschaffen mußte. Dennoch gelang es seiner Energie,
in zwei Monaten die Factionen wenigstens vorläufig zum Schweigen zu bringen,
die Civilverwaltung zu ordnen, und das auf 113,000 Maun geschwächte Heer
durch Herbeiziehung seiner verabschiedeten Veteranen auf 217,000 Mann zu brin¬
gen. Napoleon selbst giebt außerdem uoch Depots zum Belauf von 130,000 Mann,
und eine ^.renne; oxtraorclinaire von 196,000 Mann an, angeblich als Besatzung
der Festungen verwendet. Aber diese Angabe ist jedenfalls viel zu hoch, indem
später bei Paris sich nur 40,000 Mann frische Truppe» deu aus den Nieder¬
landen geretteten Trümmern anschließen, und die Festungen auch nicht so außer¬
ordentlich stark besetzt sein konnten, da Napp in das so wichtige Straßbnrg sich
mit seinem Corps hineinwerfen mußte, um es nur zu halte». Die feindlichen
gegen Frankreich zu verweudeudeu Truppenmassen beliefen sich ans 6—700,000 Mann,
von deuen aber blos 223,000 Mann in erster Linie in den Niederlande» standen,
die übrigen konnten erst später eingreifen; dennoch mußte Napoleon a» die spa¬
nische, die italienische und die Nheingreiize stark detachiren, deu» wenn ihn auch
nicht ein unmittelbar drohender Angriff dazu zwang, so that dies desto mehr die
unsichere Stimmung des Volkes, das er durch eine zu offene Darlegung seiner nu¬
merischen Schwäche, indem er außer dem Norden ganz Frankreich von Truppen
entblößte, nicht noch wankender machen dürfte. So kam es denn, daß er gegen
.die ihm kampffertig entgegenstehende Armee Wellington's und Blücher's von
220,000 Maun nur -130,000 Mann aufzuwenden hatte. Dennoch mußte er sich
mit dieser so bedeutenden Mindermacht zum Augriff entschließen, da er nur durch
glänzende Thaten die Begeisterung im Volke wecken konnte, welche allein im
Stande war, die Zwietracht der Factionen im Zaum zu halten. Auch mußte er
schnell und entscheidend siegen, damit der Keim der Uneinigkeit und Unentschlos-
senheit, der stets in großen Koalitionen liegt, durch die Furcht vor seinem Glück
und seinem Genie gezeitigt werde, und in seiner weitern Entwickelung zu ihrem
Zerfall führe, ohne daß er nöthig hatte, gegen ihre erdrückende Uebermacht einen
hoffnungslosen offenen Kampf zu beginnen. Ein halber Sieg verlängerte nur
deu Krieg, in welchem jeden Tag jene Uebermacht seiner Feinde großer wurde.
Diese Verhältnisse erklären die meisten Maßnahmen Napoleon's.
Das vereinigte englisch-preußische Heer war längst ans alle Eventualitäten
gerüstet. Schon Anfang Mai hatte Wellington und Blücher in Se. Tron be¬
stimmte Verabredungen über ihre Bewegungen getroffen, mochte sich nun Napo¬
leon zuerst gegen die Engländer oder die Preuße» wenden. Die Preußen stan¬
den im Maasthale und konnten sich innerhalb zwei Tagen bei Namur versammeln,
wenn ihnen ihre bei Charlervi an der Sambre und Ciney jenseits der Maas
aufgestellten Avantgardeucvrps Nachricht von dem Angriff der Franzosen gaben.
Wellington stand in einer sehr weit ausgedehnten Stellung, nach einigen Kri¬
tikern zu vorsichtig um seine rechte Flanke besorgt, zur Deckung von Brüssel vou
Mons bis an's Meer, und konnte nicht unter vier bis fünf Tagen sammeln.
Daraus entstand der Uebelstand, daß, als Blücher verabredeter Maßen nach dem
Angriff der Franzosen bei sondres Stellung nahm, die versprochene Mitwirkung
Wellington's nicht eintreten konnte. Die Engländer und die ihnen verbündeten
Niederländer, Hannoveraner ze. hatten 99,000 Maun, die Preußen uuter Blücher
113,000 Manu; außerdem waren ihm noch 20,000 norddeutsche Bundestruppen
zugewiesen, sie standen aber noch zu weit zurück (bei Trier), um irgendwie auf
die Entscheidung einzuwirken.
Schon vom 6. Juni, an feste sich die französische Armee gegen die nieder¬
ländische Grenze in Bewegung, aber erst am 14. erfuhr mau mit Bestimmtheit
in den beiden Hauptquartieren ihre Concentration hinter der Sambre. Blücher
versammelte seine Truppen sogleich bei sondres, mit Ausnahme des Bülow'schen
Corps', das seine Befehle durch ein Mißverständniß zu spar erhielt und einen
Marsch zurückblieb. Wellington, immer noch um seinen rechten Flügel besorgt, konnte
sich noch zu keinem entscheidenden Schritte entschließen, selbst als schon Ziethen
bei Charleroi angegriffen und zurückgedrängt worden war. Erst als die bestimmte
Nachricht ankam, daß Mons nicht bedroht werde, erhielten seine Truppen Befehl,
sich zu versammeln, und rückten die Reserven ans der Straße nach Quatrebras vor
den Wald von Svigne. Daß der Herzog von Wellington ans dem Balle bei der
Herzogin von Richmond von der Nachricht des Ausrückens der Franzosen über¬
rascht worden sei, ist eine reine Fabel. Er war vorher schon von Allem unter¬
richtet, hatte die nöthigen Befehle ertheilt, die Truppen in Bereitschaft zu halten,
und erwartete nnr noch Nachrichten aus Mons, um sie zu concentriren. Blos um
das Publicum nicht unnöthiger Weise zu beunruhigen, begab er sich auf den Ball.
Mit grauenden Morgen am 13. Juni drangen die Franzosen gegen das zur
Beobachtung an der Sambre bei Charleroi aufgestellte Corps Ziethen's vor, wel¬
ches sich fechtend langsam nach Flenrus zurückzog, wo es mit Anbruch der Nacht
ankam. Es hatte seinen Zweck erfüllt, den Marsch der feindlichen Armee um
einen ganzen Tag aufgehalten, und Blücher Zeit gegeben, seine ganze Macht, mit
Ausnahme Bülow's, bei sondres oder Ligny zu versammeln. Wellington da¬
gegen hatte, weil er durchaus erst Nachrichten von seinem rechten Flügel ab-
wartete, erst am 15. Mitternacht die Befehle zum Linksabmarsch ertheilt, und die
weit aus einander gezogene Stellung seines Heeres machte, daß er mit dem Gros
seiner Armee zu spät die Richtung nach Quatrebras einschlug, um Blücher wirk¬
sam Hilfe leisten zu können.
Am 16. Vormittags hatte Blücher mit 73,000 Mann eine Stellung hinter
dem Lignybache ans den Höhen von Se. Amand und Ligny und in den vor
der Fronte gelegenen Dörfern. Die rechte Flanke war Preis gegeben, weil man
auf eine sichere Unterstützung Wellington's mit 40 —50,000 Mann von dieser
Seite rechnete. Letzterer hatte blos 8000 Mann um Quatrebras stehen, die Re¬
serve hielt noch vor dem Wald von Soigne, und traf erst allmählich im Laufe
des Gefechts ein, so daß selbst gegen.Avend nur gegen i0,000 Mann versammelt
waren. Der Herzog selbst kam gegen 11 Uhr in Quatrebras an, recognoscirte
die Stellung des Feindes, und ritt zu Blücher hinüber, um sich mit ihm zu be¬
sprechen; er sagte ihm, in der Voraussetzung, daß die ganze französische Macht
gegen Ligny versammelt stehe, bis um vier Uhr Hilfe zu. Dies befestigte nnr
Blücher in seinem Entschluß, die Schlacht bei Ligny anzunehmen.
Napoleon stand nnr mit 73,000 Mann den 78—80,000 Mann Blücher's
entgegen. Aber die Stellung desselben hatte wesentliche Nachtheile. Die Höhen
von Flenrus, welche die Franzosen besetzt hatten, beherrschten die Abhänge der
preußischen Stellung. Von jenen heruuterrückendc Truppen waren außerdem
von Gehölz und stark durchschnittenem Terrain geschützt; und die von den Preu¬
ßen besetzten Dörfer, wenigstens die am weitesten vorgelegenen, befanden sich mehr
aus der französischen,' als auf ihrer Seite des Thals. Die Höhen von Se. Amand
und Ligny waren dagegen ganz offen und frei. Die selbst aus den höheren Punkten
derselben stehenden Truppen boten der hinter Fleurus aufgepflanzten Artillerie eine
sichere Zielscheibe, und jedes zur Unterstützung der Truppen in den ^Dörfern heran¬
rückende Bataillon konnte den Marsch nnr unter einem sehr mörderischen Feuer machen.
Nach englischen Quellen soll Wellington.den Fürsten Blücher auf diese Mängel auf¬
merksam gemacht, aber die Antwort erhalten haben, daß preußische Truppen deu
zu bekämpfenden Feind zu sehen liebten. Was die Qualität der Truppen betrifft,
so waren die Preußen zwar voll Kriegsfcuer, aber was kriegserfahren war, hatte
doch nnr zwei Feldzüge gemacht, und ein großer Theil bestand aus neuen For¬
mationen, die noch gar kein Feuer gesehen hatten; Napoleon's Armee von
war dagegen eine der besten, die er jemals gehabt hat, denn er hatte sie durch
die zahlreichen in Folge des Pariser Friedens zurückgekehrten Gefangenen ver¬
stärkt. Die französische Artillerie war an Zahl geringer, aber der preußischen in
der Ausbildung und außerdem durch den Vortheil der Stellung überlegen.
Auf die taktischen Einzelnheiten der Schlacht können wir hier nicht eingehen,
und es genügt auch zum Zweck unsrer Darstellung vollkommen, wenn wir nur
die allgemeinen Züge angeben. Der Hauptaugriff Napoleon's richtet sich zuerst
gegen die Dörfer Se. Amand, die Verbindung mit Wellington bedrohend. Die
Dörfer werden hartnäckig vertheidigt, gehen verloren, und werden wieder genommen;
da aber die zur Unterstützung herzueileuden Preußen auf ihren Anmarsch das feind¬
liche Kauoneufeuer aushalten müssen, kommen sie immer schon etwas gelockert an den
Feind, der ihnen ohnedies durch sein angebornes Talent sür den leicktcn Truppeudienst
im Dvrfgefecht überlegen ist. Die Preußen schlagen sich zwar mit der hartnäckigsten
Tapferkeit, erleiden aber unverhältnißmäßige Verluste, und müssen die Dörfer
räumen. Mittlerweile schlägt man sich in Ligny nicht weniger blutig, aber gegen
eine weniger zahlreiche Macht, während der linke preußische Flügel durch Demon¬
strationen beschäftigt wird. Da Blücher die Erhaltung seiner Verbindung mit
Wellington sür die Hauptsache ansieht, zieht er immer mehr Truppen von dem
linken Flügel und dem Centrum herüber, und geht einige Male zu Angriffsbewe-
gnngen über, ohne dauernde Erfolge zu erlange». So verzehren sich um Se.
Amand 28000 Manu preußische Infanterie gegen 24000 Mann Franzosen, in
Ligny 14000 gegen eben so viel Feinde, ohne viel Terrain aufzugeben, aber mit
bedeutenden Verluste in sechsstündigem Kampfe. Das 3. preußische Armeecorps
war zwar noch ziemlich intakt, aber man war nicht darauf bedacht gewesen, es zu
rechter Zeit zusammenzuziehn, und hatte es nun nicht bei der Hand, als Napo¬
leon den letzten entscheidenden Stoß ans Ligny vorbereitete. Napoleon von jeher
ein Meister in der sparsamen Verwendung der Truppen im Feuergefecht, hatte
noch 27000 Mann in Reserve, die er nnr zur Hälfte gegen das geschwächte Cen¬
trum sendet. Eben als sie sich in Bewegung setzen wollen, gegen 6 Uhr, zeigt
sich ein Trnppeucorps in der linken Flanke der Franzosen, wie es scheint, von
Qnatrebraö kommend, wol noch eine Stunde entfernt. Es konnten recht gut
Feinde sein, und Napoleon schickt Officiere zum Recognosciren hin. Fast zwei
Stunden vergehen, ehe die Nachricht zurückkommt, daß es Erlon's Corps ist,
welches, man weiß hente noch nicht aus wessen Befehl, von Frasne her hierüber
gezogen ist. Es soll nun den rechten Flügel der Preußen in den Rücken nehmen,
wird aber inzwischen von Ney dringend aufgefordert, umzukehren, was auch geschieht.
Da es noch so weit zurück war, konnte es ohnedies schwerlich vor nenn Uhr zum
Angriff kommen. Napoleon setzt jetzt die unterbrochene Bewegung der Garden
auf Ligny fort, wirft die Preußen aus Ligny und durchbricht das Centrum, nach¬
dem Blücher noch vergeblich eiuen Cavallerieangriff versucht hat, bei dem er selbst
beinahe in Gefangenschaft geräth. Die einbrechende Nacht begünstigt den Rückzug
der Preußen, den Thielemann deckte. Er ging ziemlich geordnet in Carrees vor
sich, was auch der geringe Verlust an Gefangenen und Geschütz beweist; erstere
betrugen einige 1000 Mann, letztere 21 Stück, die noch dazu meistens in der
Schlacht selbst in des Feindes Hand fielen. Das, was Blücher am meisten ge¬
fürchtet hatte, war nicht geschehen. Er war von Wellington nicht abgedrängt
worden, und machte sich bereit ihm über Wavre zuzuziehen.
Napoleon und die französischen Schriftsteller meistens, so wie deren Nachbeter
in Deutschland schieben die Schuld der geringen Erfolge auf dem Schlachtfelde von
Ligny ganz auf den Marschall Ney, der von Quatrebras aus eine Bewegung in
den'Rücken der Preußen habe machen sollen, um die Niederlage derselben voll¬
ständig zu machen, aber den Befehl nicht befolgt habe. Ueberhaupt wird diesem
Marschall Schuld gegeben, daß er seinen Angriff gegen Quatrebras nicht mit der
gehörigen Energie ausgeführt habe, und daher Ursache sei, daß eine Schlacht von
Waterloo überhaupt uoch geschlagen werden mußte. Dies führt uns von selbst aus
das Schlachtfeld von Quatrebras.
Bestimmter gesaßt lauten die Anklagen Napoleon's gegen Ney: Er habe
bei Quatrebras zu spät angegriffen, dadurch und durch zu geringe Energie die
Gewißheit, den Feind dort über den Haufen zu werfen, wie ihm Napoleon be¬
fohlen, zu Nichte gemacht, und einem andern ihm um halb 12 Uhr zugekommenen
Befehl, 10,000 Mann den Preußen nach Bry in deu Rücken zu senden, um
die von diesen verlorene Schlacht in eine vernichtende Niederlage zu verwandeln,
nicht gehorcht.
Um hier klarer zu sehen, müssen wir etwas zurückgreifen. Als Napoleon
das Avant-Gardecorps der Preußen ans Charleroi verdrängt hatte, und mit zwei
Dritteln gegen die Hauptmasse der Preußen bei Ligny zog, entsendete er den
Marschall Ney mit dem letzten Drittel, 43,000 Mann, gegen Quatrebras, um
dort Alles, was vou deu Engländern ankam, festzuhalten. Ney hatte, erst am
13. in Charleroi während des Gefechts angekommen, ganz unvorbereitet das
ihm zugedachte Kommando übernommen; nicht einmal seine Feldeqnipirnng brachte
er mit, und mußte erst zwei Pferde kaufen, um sich und seine Adjutanten beritten
zu machen. Er kannte Napoleon's Pläne nicht — nicht die Stärke der ihm gegen¬
überstehenden Streitkräfte, nicht die Beschaffenheit des Terrains, wo er Angesichts
des Feindes manövriren sollte. Auch, scheinen die ihm ertheilten Befehle ziemlich
confus gewesen zu sein, und der Disposition seines Corps sehlte es an Klarheit
und Bestimmtheit. Nachdem sich Ney bis zwei Uhr früh mit Napoleon besprochen,
eilte er, ohne zu schlafen, nach Gossclies zum Grafen Rente, und ließ dann durch
seinen ersten Adjutanten, Oberst Heymes, die verschiedenen Regimenter mustern,
um wenigstens einige Einsicht in die Zahl und Eigenschaften der Soldaten
und Officiere dieses einen Corps zu gewinnen. Mehr konnte er nicht thun.
Die Truppen waren den ganzen vorherigen Tag bis spät in die Nacht im Gefecht
oder aus dem Marsch gewesen, und mußten daher nothwendiger Weise erst aus¬
ruhen, essen, die Gewehre reinigen, sich wieder mit Munition versehen, und so
weiter — Beschäftigungen, die recht gut einen halben Tag in Anspruch nehmen
konnten. Außerdem waren zwar Ney jene 46,000 Manu zugewiesen, aber sie
standen noch weit aus einander, und wurden sogar zum Theil seinem Befehle ent¬
zogen. Erlon's Corps vou 24,000 Mann und das 'dritte Cavalleriecorps unter
Kellermann standen noch weit zurück bei Marchienne-an-Pont; Lefevbre Des-
nonetteö war zwar näher, erhielt aber durch Napoleon Befehl, sich dem Nest der
Garde anzuschließen. Rente, der der Nächste war, stand erst vor Gosselies, drei
Stunden von Quatrebras, und uur mit einer Avantgarde hatte Ney bis Frasne
vorauseilen können. Dieselben Verhältnisse, die Napoleon, der doch eben so viel
Gründe zur Beschleunigung hatte, abhielten, bei Ligny Vormittags anzugreifen,
fallen bei Ney eben so schwer in die Wagschale.
In Folge der Entziehung einer Division vou Rente's Corps (Girard), die
Napoleon an sich zog, und des langen Ausbleibens von Kellermann und Erlon
hatte Ney, als er um 2 Uhr seinen Angriff begann, nnr etwa 18,000 Mann zu
verwenden. Zwar standen ihm nnr 8, oder höchstens -10,000 Mann Engländer
entgegen, aber diese waren so zu sagen uur die erste Linie eiuer Armee vou 60
und nöthigenfalls 80,000 Mann, die sich colonnenförmig von Brüssel als Reserve
heranschob. Es war daher gar kein Wunder, daß Ney in den ersten Stunden
keinen erheblichen Eindruck machen konnte; dennoch gewann er Terrain, aber
schon trafen ans der andern Seite Reserven ein, welche das Gleichgewicht mehr
als wiederherstellten. Zwar erschien endlich anch der größte Theil von Keller-
mann'ö schwerer Reiterei ans dem Schlachtfelde, aber auch die Engländer erhielten
immer neue Verstärkungen, so daß ste zuletzt Ney das verlorene Terrain wieder
abnahmen, weil ste nach dem Einrücken der zwei Brigaden englischer Garde ent¬
schieden die Uebermacht erhielten. Erlon's Corps, das wenigstens das Gleich¬
gewicht wieder hätte herstellen können, bewegte sich, bald Befehlen Ney's, bald
Befehlen Napoleon's gehorchend, zwischen Frasne und Ligny hin und her, ohne
in's Gefecht zu kommen. Es geht daraus hervor, daß Ney in Quatrebras alle
Hände voll zu thun hatte, und daß das „über den Haufen wsrfen" einer gleich
starken Anzahl englischer Truppen unter Wellington, an dem sich schon so viele
französische Marschälle versucht hatten, keine leichte Sache war, die man zum Früh¬
stück abmacht, um dann noch zum Vesperbrod eine zweite Armee auf einem andern
Schlachtfelde mit verzehren zu helfen.
Man müßte in der That eine sehr geringe Meinung von Napoleons Feldherrngenie
haben, wollte man ihm zutrauen, daß er wirklich einen solchen Befehl gegeben,
obgleich er ihn selbst in seinen Memoiren als Anklagegrund gegen Ney anführt.
Er ist vielmehr als eine der vielen Unwahrheiten zu betrachten, mit denen der
gestürzte Kaiser in der Bitterkeit des Exils das von dem eigenen Hochmuth ver¬
schuldete Mißgeschick zu beschönigen suchte. Die documentarischcn Beweise stellen
die Sache anch ganz anders dar. In dem Ordrebuch des Marschall Soult (des
Generalstabchcfs) sind nur vier am 16. Juni Ney ertheilte Befehle verzeichnet. Erst
der dritte spricht von einer Entsendung nach Ligny, sobald Ney die vor
ihm stehenden Truppen geschlagen habe. Der Befehl ist von zwei Uhr
Nachmittag datirt, und erwähnt eines früheren ähnlichen mit keinem Wort. Die vierte
Ordre befiehlt bestimmt, gegen die Rechte der Preußen zu manövriren. Sie ist von
V^. Uhr datirt, konnte bei den drei Stunden Entfernung von Ligny bis Frasne
frühestens halb fünf bei Ney eintreffen, so daß dieser, da ein Armeecorps sich
doch nicht so schnell wie ein einzelner Mann herum drehen kann, schwerlich vor
^9 Uhr Napoleon Hilfe leisten konnte, selbst wenn er Truppen zum Detachiren
übrig gehabt hätte. Mau muß also Ney vo» jedem Vorwurf der Pflichtversäumniß
freisprechen. >
Kehren wir jetzt uach Ligny zurück, um zu sehen, was Napoleon selbst zur
Vervollständigung seines Sieges that. Der Kampf hatte so spät geendet und
die Truppen waren so ermüdet, daß für die Verfolgung während der Nacht uicht
viel geschehen konnte. Napoleon selbst ritt nach Flenrus, um zu schlafen, und
bestellte Grouchy nächsten Morgen, um mit ihm die weiteren Maßregeln zur Ver¬
folgung zu besprechen. Da aber die Truppen nach den großen Anstrengungen vom
13.—16. durchaus längerer Nuhe bedurften, nahm der Kaiser am 17. den Marschall
erst mit auf das Schlachtfeld, besichtigte die preußischen Positionen, sprach über
die politischen Zustände von Paris, und über alles Mögliche, nur nichl über die
Verfolgung des Feindes. Endlich gegen Mittag befahl er einige Bewegungen
gegen Quatrebras und ertheilte dann Grouchy die allgemeine Ordre, „Blücher
auf den Fersen zu folgen und seine Niederlage zu vervollständigen." Da Blücher's
Operationsbasis Namur wurde, so vermuthete man, daß er sich dorthin gezogen,
und diese Vermuthung wurde dadurch bestärkt, daß man früh aus der Straße
nach Namur eine preußische Batterie weggenommen hatte. Blücher aber hatte
den nie genug zu lobenden kühnen Entschluß gesaßt, sich von seiner Operations-
basis zu Itreuuen, und sich über Wavre mit Wellington zu vereinigen, um
gemeinsam die versprochene Hauptschlacht zu liefern. Daß Napoleon in der ihm
eigenen hochmüthigen Unterschätzung seiner Feinde an eine solche Möglichkeit gar
nicht gedacht hat, ist der Hauptgrund, daß er die Schlacht ohn Waterloo so
total verloren hat. Was Napoleon auch hier wieder in seinen Memoiren
über einen Grouchy ertheilten Befehl sagt, sich zwischen Blücher und Wellington
zu werfen, wird schon durch die Depesche Soult's an Ney vom 17. aus Fleurus
widerlegt, worin mitgetheilt wird, daß die Verfolgung auf den beiden Straßen
von Gembloux und Namur angeordnet sei. Zur Verfolgung waren Grouchy.
33,000 Mann untergeben, nämlich die Corps von Gerard und Vandamme, die
Diviston Teste, und die Cavallerie von Exelmans und Pajol. Die beiden Letzteren
waren schon früh gegen Namur und Gembloux aufgebrochen, aber die übrigen
Corps standen so weit zerstreut, daß sie Grouchy erst gegen Abend bei Point
dn jour vereinigen konnte. Wegen der grundlos schlechten Wege, denn ein
heftiges Gewitter hatte die ganze Nacht hindurch getobt, und der Re.geu den
fetten flandrischen Boden in Sumpf verwandelt, konnte auch Grouchy erst Nachts
10 Uhr Gembloux erreichen, wo er Halt macheu mußte. Ueberhaupt ließ sich
eine besondere Energie oder große Erfolge bei dem Verfolgen nicht erwarten;
zum Erstern fehlte es den Truppen an der nöthigen Frische; was sich am meisten
erholt hatte, mußte der Natur der Sache nach gegen den noch ungeschwächten
Wellington verwendet werden, während Grouchy's Mannschaften zum großen
Theil bis Abends zehn Uhr im Feuer gestanden hatten; hinsichtlich des Zweiten
ist zu berücksichtigen, daß die Preußen, durch Napoleon's Zögern bereits einen
bedeutenden Vorsprung hatten, und daß sie zwar geschlagen, aber vom besten
Geiste beseelt, zwar um ein Sechstel vermindert, aber in keiner Weise zer¬
rüttet waren.
Während nnn Napoleon Blücher wenigstens für die nächsten Tage abgethan
glaubte, wendete er sich mit den ihm noch übrigen 30000 Mann zu Ney und
rückte mit 72000 Mann auf der Brüsseler Straße dem langsam sich zurückziehen¬
den Wellington nach, der gegen Abend des 17. mit 68000 Mann eine Stellung
vor der Waldung von Sogue nahm. Die schlechten Wege und aufgeweichten
Felder hatten jedes lebhafte Drängen unmöglich gemacht, da an ein Manövriren
neben der Chaussee nicht zu deuten war, und die Ermüdung der Truppen in Folge
des anstrengenden Marsches und des den ganzen Tag niederströmendeu Regens
verbot jeden Angriff für diesen Tag.
Unsre Betrachtungen über die Schlacht von Waterloo, das Gefecht von
Wavre müssen wir auf einen zweiten Artikel aufsparen.
I^pa, heißt die Tatze; liipaö pakeü, ergreifen; lapa^ve, was gepackt wird.
Und wenn der Reisende, auf der russischen Grenze angelangt, in rascher Folge fünf
bis sechs Grenzwächter, drei Revisoren, den Controleur und den Commandanten
der Kosakeuwache vor sich erscheinen sieht, von denen jeder die Hand krampsig
aufsperrt und durch einen finsterglühcnden Blick sagt: „lege etwas hinein, Menschen¬
sohn, ohne unsre Freundschaft ist hier nicht durchzukommen", — so wird er ahnen,
daß das Wort I^apo^of eine gewisse amtliche Thätigkeit bezeichnet, ein energisches,
kurz angebundenes Verfahren, ohne Ziererei und Weitläufigkeit. — Der Beamte
will leben; die Regierung giebt ihm kaum so viel, als zu seinem Frühstück und
Abendbrod nöthig ist, also weist ihn die Regierung gewissermaßen an, wie ein Stoßvogel
Jeden, der mit ihm in Berührung kommt, zu packen, und ihm so viel zu entreißen,
als zu seinen übrigen Bedürfnissen nöthig ist. Diese berühmte Thätigkeit russischer
Beamten duldet auch kein Erröthen der Wangen; ja wenn Einer von Beiden, der
lapirende und der lapirte, durch Scham incommodirt wird, so ist es allemal der
leidende Theil. Der Beamte dagegen fühlt seine Berechtigung, und wenn er
anch hin und wieder bei stiller Ueberlegung erkennen muß, daß er dnrch solche
Industrie der Klasse der Bettler und Räuber zu nahe tritt, so weiß er doch auch,
daß der Staat ihn indirect gewissermaßen darauf angewiesen hat. Und dieses
Bewußtsein ist für den Russen ein eherner Schild, in dessen Schutz die Stirn nie
in's Glühen gerathen kann. Er nimmt seinen Raub entweder amtsmäßig, barsch,
oder gemüthlich und wohlwollend, aber er nimmt ihn unter alleu Umständen; und
geräth nur dann in sittliche Entrüstung, wenn der Reisende so unbehilflich und
grün ist, seine Mimik nicht zu verstehen.
Ein Deutscher will von Warschau abreisen, er braucht, um deu Paß zu erhalten,
Mehreres, z. B. einen Verhaltschcin von dem Polizeicvmmissariate seines Bezirks. Die
Schrift wird durch eine Art Schreiber besorgt. Daß diese Leute jede Entwürdigung
vertragen und verlangen, weiß der Reisende, und legt ihm daher unverweilt sein
^apove vordre Augen; allein bei dem Adjuncten des Kommissars, einem großen
Herrn, der dem Scheine den Stempel aufzudrücken hat, meint der Deutsche
so Etwas nicht wagen zu dürfen. Er begrüßt den Herrn in ehrerbietigster
Weise. .
„Herr Adjunct, wollten Sie die Gewogenheit haben, diesem Scheine den
nöthigen Stempel zu geben!"
Der Beamte sieht den Fremden starr an, mustert ihn mit schnellem Blicke
von oben bis unter, und obschon er bisher völlig ohne Beschäftigung gesessen,
ergreift er doch jetzt plötzlich die Feder, und schreibt in irgend welchen Acten; hebt
aber plötzlich wieder den Kopf empor, wirft einen zweiten düstern Blick aus den
Fremden, und sieht dann durch das Fenster. Durch diese Mimik will der wackere
Mann sagen: „ich sehe nicht, daß sich Deine Hand der Tasche zu bewegt, das
muß ich erwarten." Die Intelligenz des Andern ist leider nicht groß genug, dies
zu begreifen. Er schweigt, endlich erlaubt er sich zum zweiten Mal zu bitten.
. „Mein Herr, wollten Sie nicht so gütig sein, diesen Schein zu stempeln?"
Blitzschnell wendet der Russe das Gesicht gegen ihn, sagt kurz und barsch:
„ich habe noch nicht zu Mittag gegessen, mein Herr!" und sieht wieder durch das
Fenster.
Jetzt wird der Deutsche selbst verlegen und begreift den Mann gar nicht.
Er macht die gutmüthige Folgerung, der Hungrige solle zunächst zu Tisch gehen,
und 'ihm baun seinen Schein stempeln, allein der Russe'zeigt durch Nichts an,
daß er sich vom Bureau zu entfernen gedenkt. Zu dem ist es Nachmittag vier
Uhr. Nach langer Weile saßt der Fremde Muth, ihn zum driten Mal zu ersuchen:
„Aber, Herr Adjunct, Sie würden mich sehr zu Danke verpflichten, wenn Sie mir
den Schein stempeln wollten."
„Ich habe noch nicht zu Mittag gegessen," schleudert dieser mit demselben Tone
wie früher hin und läßt den Erstaunten verachtend hinter seinem Rücken stehen.
Jede Aussicht auf den Stempel schwindet. Plötzlich erhält der Deutsche von
hinten einen ziemlich unsanften Rippenstoß. Es ist jener Schreiber, der ihm den
Schein geschrieben hat. Der junge gutmüthige Mensch ist in des Reisenden
eigenem Interesse wüthend über seine Einfalt. „Zum Donnerwetter, wenn Sie
Reisen machen, so werden Sie doch wol einige Gulden herzugeben haben," flü¬
stert er. Jetzt erst versteht der Herr, welcher den Schein sucht, deu Herrn, welcher
den Stempel dazu hat, und erkennt, daß beim Nehmen die höheren Beamten
durchaus nicht anders behandelt sein wollen, als die niedrigsten; nur natürlich
mit dem Unterschied, daß sie mehr nehmen. —Der Reisende verläßt am andern
Tage Warschau, er muß am jcrusalemer Thor seinen Paß vorzeigen. Ein Thor-
anfseher trägt diesen in das Bureau des ThoriuspectorS. Nach einer Weile kehrt
der Aufseher ohne deu Paß mit der Meldung zurück: „l'im Insxxzetor proste
na 8lueÄg.me." Diese Nedeformel ist sehr zweideutig. Ohne die geringste
Lantändernng bedeutet sie zugleich: „Der Herr Inspector erbittet etwas zum
Hrühstück" und „Der Herr Inspector ladet Sie ein zum Frühstück." Dem höfli¬
chen Reisenden klingt die zweite Bedeutuug in das Ohr, er befreit sich aus der
seltsamen Verlegenheit, indem er den Aufseher in das Bureau zurückschickt und
dem Inspector sagen läßt: Man sei ihm für die Einladung zum Frühstück außer¬
ordentlich verpflichtet, allein es sei keine Zeit, die Pferde halten zu lassen und die
eilige Reise zu verzögern. Plötzlich erscheint der Inspector in der Thür mit
flammendem Gesicht, höchlich empört, und donnert in ziemlich gutem Deutsch:
„Was, was, ich lade Niemanden zum Frühstück ein; und verlange nur einen
Beitrag zu meinem Frühstück!" Nach dieser Erklärung verschwindet der erboste
Mann und schickt jenen Aufseher wieder herbei, damit er den Beitrag
in Empsaiig nehme. Man giebt ein Zweignldenstück und erhält den Paß. Das
ist I^po^e.
Die Profitka ist eine andere ärmliche Thätigkeit, welche sich allerdings
vorzugsweise auf das Heer und große Anstalten beschränkt, aber sie
ist dafür viel erhabener. Damit will ich nicht sagen, daß das l^povo immer
nur den kleinlichen Inhalt von einigen Gulden habe. Aber die Profitka steigt nie
zu der Kleinheit des I^xovs herab, welches in Pfennigen endet, da wo die
Stufenleiter des Bcamtenstandes sehr nahe beim gemeinen Bettlcrthum zu Ende
geht.
Nach einem kaiserlichen Ukas vom Jahre 1832, d. i. nach dem russischen
Gesetz, muß jedes Geschäft, welches von Privatpersonen für Staatszwecke auszu¬
führen ist, durch Licitation vergeben werden. Die Arbeiten für Staatszwecke sind
aber oft von bedeutendem Umfang, lassen daher auf großen Gewinn hoffen, und brin¬
gen dem Unternehmer außerdem Aussicht auf mauche Begünstigung in seiner
bürgerlichen Stellung und schmeichelhafte Ehrenbewcise. Daher ist der Zudrang
zu deu Licitationen immer sehr stark; doch liegt es in der Natur der Sache, daß
die Concurrenten vorzugsweise Juden und Deutsche sind. In Rußland kommt es
bisweilen vor, daß sich Edelleute, welche Güter besitzen und in der betreffenden
Sache zugleich als Producenten agiren können, in den Schwarm der Bewerber
mengen; in Polen geschieht dies nur selten.
Die Jagd nach Entreprisen beginnt aber lange vor der Licitation, ja die
Vorbereitungen sind viel wichtiger als der Licitationsact.
Kaum ist es bekannt geworden, daß die oder jene Entreprise zur Licitation
kommt, so zerbrechen sich die Bewerber sammt und sonders den Kopf, nicht wie
weit sie bei der Versteigerung hinaus oder hinab gehen wollen, sondern wie es
möglich ist, der würdigen Autorität beizukommen, welche den Zuschlag ertheilt.
Diese ist in der Regel ein Staatsrath oder General. Bei dem Festungswesen ist
es der General des Jngenieurcorps, bei Staatsamtsbauten der Chef der Schätz¬
commission, oder, der Generalbaudirector u. s. w. In den Provinzen ertheilte sonst
wenigstens bei Staatsbanten aller Art, Lieferungen sür's Heer :c., der Gubernator
den Zuschlag. Beamten dieser Grade ist nicht immer leicht beizukommen, wenig¬
stens erfordert das einiges Geschick. Der deutsche Bewerber wählt den Weg der
Empfehlung, geht zuerst zum Herrn Kreiscommissar und bittet diesen,
daß er ihn dem Herrn Vicepräsident empfehle und zuführe. Ist dies geschehen,
so bittet er den Vicepräsidenten in irgend einer fingirten Angelegenheit, daß er
ihn dem Präsidenten empfehlen und zuführe, den Präsidenten bittet er, ihn dem
Polizeimeister zu empfehlen, und kräftigt jede Bitte durch irgend ein passendes
Geschenk aus seinem Geschäft. Endlich durch Fürsprache von Stufe zu Stufe
emporgekrochen, langt der Schuft im Cabinet des Gesuchten an, und sucht
nun entweder durch seinen krummen Buckel und seine bescheidene Miene, oder durch
die Versprechungen zu imponiren, die er zu geben im Stande ist. Hat der
Mäcen eine Brauerei auf seinem Rittergute, so verspricht er ihm eine tadellose
Malzdarre aufzustellen mit quittirter Rechnung. Ist er ein Tuchfabrikant, so ver¬
spricht er die schönsten Tuchtapeten und so fort. Der Mensch hat ja stets
seine Bedürfnisse und Wünsche.
Mit den Deutschen verhandeln übrigens die hohen russischen Herren in solchen
Angelegenheiten nicht gern. Die Germanen find zu verzagt, zu täppisch, zu wenig
dummdreist und pfiffig. Der Jude ist ihnen viel lieber. Daher kommt es anch, daß
die Entreprisen gewöhnlich in die Hände der Juden fallen. Der Jude geht seinen
Weg niemals über die Menge Stufen der Chargenleiter empor, sondern er wendet
sich an den Kammerdiener oder die Maitresse des Herrn Generals., Es kommt
ihm gar nicht darauf an, fünf, sechs Tage nach einander von früh bis Abend
vor der Thür des Johann oder der Dirne zu stehen, wenn er sie endlich nur
sängt. Er kommt schneller und mit geringerem Kostenaufwand? vor den Gesuchten.
Der stolze Russe behandelt den Juden, wie es ihm am gemüthlichsten ist,
Menschen zu behandeln, nämlich als einen großen Lump, als einen Wicht, der
durchaus keine Rücksicht verlangen kann.,
„Was bringst Du, Lappe?"
„Wohl mir, der Herr fällt gar gratias. Groißmächtichster, aller gnädichster
Harr Hauptgeneral, jich bin getummelt — groißmächtichster, aller gnädichster Harr,
jich bin ein sehr aihrlicher Mann und trog den Kaiser, mairen groißen Harm, in
main Harz — jich — jich — main lieber Harr Hauptgeneral, großmächtich;
Harr". . . so geht es fort. Der General lächelt. Der listige Abraham, der
jede Miene mit Falkenaugen bewacht, bemerkt das und wird min noch um Vieles
possierlicher. Endlich hat sich der General zur Genüge an dem Narren gesättigt
und frägt herablassend in guter Laune: „Was willst Du also, Halunke?" (Der
Russe jeden Standes hat einen gewissen nationalen Trieb, seine Freundlichkeit
durch kräftige Worte zu beweisen. Koths-la (Lump), 8a,K,pe,x (Hundesohn),
Mut dort mirl und ähnliche Worte sind bei ihm eben sowol Liebkosungen, als
Schmähungen, je nach dem Ausdruck.)
Der Jude bringt jetzt mit kurzem Wort und einem Gedankenstrich sein An¬
liegen heraus. „Liebster Groißmächticher; die Entreprise — "
„Ach, die Entreprise willst Dn haben!"
„Allergroßmächtichster Harr Obergeneral, ich bin am Mann von gutem Ruf,
mache seit füfzehn Juhr maire Geschäfte als ain getraier Berger ohne Schmooch
(Betrug), diene aifrich und aihrlich maire Kaiser und —" „Hast dn Geld,
Lump?" — „Lieber Harr, jich biete Alles auf und noch darüber." — „Du hast
eine Kaution als Unterpfand für die Erfüllung der Verpflichtungen zu stellen—"
„Lieber Harr, das soll geschehen, jich werde Credite haben hai maire Freunde."
„Nun gut, so komm zur Licitation und biete nach Gefallen — "
„Lieber Harr, jich wollte —"
„Ach was — abgemacht!"
„Großmächtichster Harr Obersthanptobergeneral, nur noch ..."
„Ach was, —ich habe Dir gesagt: komm zur Licitation —also abgemacht —
und nun hinaus, Canaille, immer hinaus!
„Harr, lieb", nur uoch ain ainziches Wort, a Wort Gottes —-"
Der General merkt, wo hinaus, er frägt gutmüthig:
„Nun Du Hund , also?"
„Lieber Harr! Harr lieb! Allergnädigster! jich hob mir ä Schatz gesparrt mit
Müh und Schweiß. Es sind baare zähntoseud Rubel Bankspapier. Da hob ich
gestern zum lieben Gott gebeten: ,,Gott maines Vaters, willst Dn mir a mal
den Schatz entwenden, so trag ihn zu mairen großmächtichsten Harm Oberst-
hauptgeueral, denn der ist sehr gratias gegen mir und wird mir geben die Enlre-
pries zu dem geringen Preis von so und so viel."
Der Russe lacht über das Gebet des Juden. Endlich sagt er: „Nun gut,
Du sollst die Entreprise bekommen."
Jetzt explodirt der Jude mit Handküssen und stürzt fort. Noch an demselben
Tage trägt der liebe Gott jenen Schatz zum Herrn; denn der Jude ist ein
Menschenkenner, und weiß, daß damit kein Risico verbunden ist. Der deutsche Be¬
werber ist viel weniger muthig und versteht sich selten dazu, das Opfer früher zu
bringen, als er des Geschäftes vollkommen versichert ist.
Nun kommt es zur Licitation. Zwanzig Menschen treiben einander, während
jener Jude bis zu dem bereits vom Gönner bezeichneten Preise geht und dann schweigt
und überdie weiteren Bemühungen der Anderen in seinein Herzen lacht. Man
treibt sich endlich bis auf ein Minimum oder Maximum (je nach der Natur der
Sache), welches erstaunlich ist. Nun schweigt Alles, und die Licitation ist geschlossen,
aber der Zuschlag erfolgt erst nach einigen Tagen durch den General. Er wird
natürlich jenem klugen Manne zu Theil, obschon dieser keineswegs 'das äußerste
Gebot gethan hat. Das Gesetz erlaubt nämlich dem Vergeber der Entreprisen,
ohne Rücksicht ans das Gebot den Würdigsten aus der Zahl der Licitanten zu
wählen.
Nun ist Abraham daran, eine große Rolle zu spielen, denn jetzt kommt ein
Mann, der durch ihn ein Profitka erlangen will. Es ist der Herr Intendant.
Eine Kutsche fährt vor, der Bediente springt ab und ladet Herrn Abraham ein,
sogleich einzusteigen und sich zu dem Herrn Intendanten zu begeben. Abraham schreit:
„Wal mir, welche Göte von dem Herrn Juteudautchen! werde ihn sogleich
gehorchen," und hüpft in die Carrosse^ die seinem Stolz außerordentlich wohl thut.
Der Bediente knüpft alle Leder zu, damit Niemand den Juden in der Kutsche
bemerkt, und nun geht es fort zum Jntendanten.
„Abraham, Du hast die Entreprise von dem Herrn General bekommen."
„Gott hat mir dazu geholfen, allergnädigster Herr Intendant — warum?"
„Warum? das will ich Dir sagen. Du weißt, von mir hängt die Größe
Deiner Lieferung ab. Lasse ich Dich viel liefen,, so ist Dein Gewinn groß,
lasse ich Dich wenig liefern und helfe mir durch Sparsamkeit, so ist Dein Gewinn
gering, lieferst Du mir uicht genau uach Probe und uicht zur rechten Zeit, so
kaun ich Dir das Leben schwer macheu und Dich um die Entreprise bringen;
genug — wie denkst Du es mit dem Maß zu halten?"
Der Jude weiß sehr wohl, daß er sich durch reichliches Maß ebenfalls den
Umfang seiner Lieferung schmälert, allein der Herr Intendant ist zu fürchten,
und der Grundsatz von Leben und Lebeulassen zu respectiren. Abraham er¬
klärt also mit Freundlichkeit und einem wenig Stolz, daß er durchaus auf deu
Herrn Intendanten Rücksicht nehmen werde, dieser aber fordert eine genaue
Bestimmung, und der Jude verspricht, nicht gestrichenes, sondern gehäuftes Maß
-— oder wie sonst das Verhältniß sein mag — zu liefern. Doch versucht er
dabei, der Intendanten zu dem Versprechen zu bewegen, durch das gewonnene
Plus am Maß seiner Entreprise keinen Abbruch zu thun. Der Intendant
dagegen sucht deu Juden dazu zu bewegen, das gewonnene Plus ihm wieder
abzukaufeU Und gleichsam aus's Neue zu liefern. Es kommt zum Kampfe und
darauf an, wessen Überredungskunst am meisten Gewalt besitzt; die Profttka
wird aber von dem Intendanten erworben. Er gewinnt ein Quantum Material,
welches unter Umständen sehr bedeutend sein kann, und welches ihm in günstigerem
Falle der Lieferant selbst wieder abkaufen muß.
Die dritte Profttka in derselben Sache erwirbt der Garnisoninspector, oder
der Baumeister, oder wer sonst nach Beschaffenheit der Sache die Betheiligten
sind. Der Baumeister z. B. verfügt sich zum Intendanten, um sich über den
Verbrauch des gelieferten Materials zu einigen. Nach dem Gesetz muß vou
denjenigen, welche das Material verwenden, ein Anschlag eingereicht und, nach--
dem derselbe von einer Commission geprüft worden, so streng nach demselben
gearbeitet werden, daß vom Material weder etwas übrig bleibt, noch mangelt.
Ju Rußland duldet man dergleichen Ungenauigkeiten, mögen sie anch durch die
lobenswertheste Ersparnis) entstanden sein, nicht, und das russische Rechnungswesen
besitzt für Ersparnisse keine Rubrik. Beispiele sind stets angenehm.
Vor zwei Jahren übernahm ein gewisser Herr C. die Ausführung eines
Baues, welche der frühere Baumeister nicht erlebt hatte. Aus Ehrlichkeit lieferte
er nach Vollendung des Baues deu ungeheuren Ueberschuß des von dem Staate
diesem Baue zugetheilte» Materials ab. Die Oberen des Bauuntcrnehmeus waren
über seine Ehrlichkeit im höchsten Grade erbittert und behaupteten, er habe nicht
nach dem Anschlag und leichter gebaut als sein Vorgänger; der Entrepreneur
dagegen bewies, daß sein Vorgänger ein Spitzbube gewesen. Dadurch aber
wurden seine Vorgesetzten noch erbitterter, machten eine Anklage, und C. wurde,
weil er nicht nach dem Anschlage gebaut, von seiner Thätigkeit entfernt. Sein
Beweis, daß der Anschlag ein spitzbübischer gewesen, und zu dem Bau das ver¬
anschlagte ungeheure Materialquantum unmöglich habe verwendet werden können,
wurde nicht angenommen, da — der Anschlag von einer sachkundigen Commission
gut befunden war und daher keinen Zweifel zuließ. — Doch zur Sache!
Der Baumeister begiebt sich zum Intendanten. Dieser frägt: „Wie viel
brauchen Sie vou dem Material für einen solchen Kühlt- oder Flächenbetrag?"
„Herr Intendant, es ist schlimmer, nicht auszukommen, als etwas übrig zu behal¬
te»." Freilich, bestätigt der Intendant, dem eine große Forderung lieber ist, als
eine kleine, weil sie eine große Lieferung veranlaß! und die große Lieferung
ihm ein großes Ausmaß (Ueberschuß) bringt. „Ich verstehe, Herr Intendant.
Ich brauche also nach genauester Berechnung auf so und so viel Nanni so so viel
Material."^
„Donnerwetter, Baumeister, die Forderung ist ungeheuer!" „Genau
berechnet, Herr Intendant! Und sollte gegen Erwarten eine Kleinigkeit übrig
bleib'en, so wissen Sie, daß ich stets ehrlich genug bin, Ihnen durch einen gewissen
Antheil einen Beweis davon zu geben."
„Nun gut, Baumeister. Allein Ihre Forderung ist sehr hoch und ich fürchte,
daß Sie bei der Begutachtungscommisfion nicht durchkommen werden."
„Warum nicht, Herr Intendant, wenn die rechten Personen — wenn Sie
gefälligst.
„Welche Personen würden Sie am liebsten bei der Commission sehen, das
heißt, welche würden Sie für die fähigsten halten?"
„Die drei Personen für die Commission — Nun, z. B. Herr Jazkow. .."
„Das ist Ihr Schwiegervater?" „Allerdings, Herr Intendant, und dabei ein
vortrefflicher Mann." „Gut, und die zweite Person?" — „Vielleicht Herr
Kobalak." — „Ist der nicht ein Vetter von Ihnen?" — „Hin —in der That —
ich glaube—wenigstens ein weitläufiger Verwandter, — aber ebenfalls ein herr¬
licher, Mann." „Meinetwegen; aber das dritte Commissivusglied?" „Wenn es
Ihnen, Herr Intendant, etwa beliebte, den Herrn Kabeleff . . ." „Teufel,
Ihren Hausfreund und Whistgcuosseu!"
„In der That, Herr Intendant, unsre gegenseitige Achtung ist so fest be¬
gründet, daß sie der Freundschaft ähnlich wird. — Ehrenmänner sind jederzeit
achtbar."
„Ich werde' mir die Namen notiren."
Das Material ist so durch diese Prvfitka auf einen vielleicht zehnfachen Preis
gestiegen. Allein keine Person, sondern der Staat trägt die Last dieser Vertheile-
ruug, und der Staat ist nicht blos so blind, daß er nicht sieht, was ihm die
Last vergrößert, sondern auch so stark, daß er die ungeheure Vergrößerung seiner
Bürde nicht merkt. Das nennt man Prvfitka. ' Es ist ein feines, polirtes, vor¬
nehmes Wort.
Wer nach Polen reisen muß — wer nicht muß, geht ohnedies nicht hin —
der möge diese beiden Wörter in dem Wörterbuch seines Gedächtnisses notiren,
um den Geschäftsverkehr dort zu verstehen. Wer ein ehrlicher Mann ist, und
für Unrecht hält, die Schlechtigkeit Anderer dadurch zu befördern, daß er mit ihnen
in ihrer Sprache spricht, dem sei dringend gerathen, unter allen Umständen
keinen Geschäftögewiun in Pole» zu suchen.
Mau muß den Nürnberger» die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß sie
für ihre Verga»gerben sowol, als für die ausgezeichnete» Männer, dere» Thaten,
Arbeiten und Werke der Stadt zu Ente gekommen sind, eine hohe Pietät hege».
Das Bedenken an Letztere wird durch Monumente oder Gedenksteine der Gegen¬
wart zurückgerufen; Plätze und Straße» führe» noch heute nach ihnen ihre Name».
Man hat einen Dürer'splalz, Dürer'östraße, eine Haus Sachs Straße, eben so
eine Grübel'sstraße, zum Gedächtniß des Volksdichtcrs dieses Namens, der im
vorige» Jahrhundert blühte und -1809 starb. Die Häuser, i» de»e» diese Männer
lebte», sind durch Gedenktafeln bezeichnet. Dürer, der.unter deu bedeutenden
Geistern, deren Werke Nürnberg zur Zierde und deren Namen ihm zum Nnbnie
gereichen, die höchste Stelle einnimmt, ist in neuerer Zeit durch ein schönes
Standbild von Erz geehrt, das am 21. Mai 1840 auf dein gleichnanngeu Platte
enthüllt wurde. Das Modell ist vou Rauch, deo vorzüglich gelungene Erzguß
von Burgschmiet. Auch ein Dürer'sbrunnen ist 'ans dem Maxplatze 1821 von
Heideloff erbaut. Auf dem Egydienplatz befindet sich vor dem Gymnasialgebäude
eine steinerne Bildsäule Melanchthon's von Burgschmiet; sie wurde 1826 am
23. Mai bei dem dreihnndertjährigen Jubiläum des Gymnasiunis errichtet, zu
dessen Gründung Melanchthon deu Rath gegeben hatte.
Dieser lebhaftem Erinnerung an die Vergangenheit ist in Nürnberg auch die
Ueberlieferung der Häuser zu denken, in denen historisch berühmte Männer zur
Zeit ihres Aufenthaltes i» der Stadt wohnten. So wird das Sorz'sche Hans
als das bezeichnet, in dem Wallenstein 1630 und später 1669 der Hauptvvll-
bringer seines Sturzes, Octavio Piccolomini, gewohnt haben; das Platner'sche
Hans, gerade über der Egydienkirche, beherbergte Gustav Adolph. Das An¬
denken an den Letztern ist in Nürnberg, wie es scheint, sehr lebendig geblieben;
anßer daß er als der große Vorkämpfer des Protestantismus dieser altprotestan-
dischen Stadt geehrt wird, hat er den besondern Anspruch auf die Dankbarkeit
der Nürnberger, sie vor dem Schicksal Magdeburgs bewahrt zu haben. Denn
allem Ermessen nach hätte ohne seine mächtige Hilfe Wallenstein Nürnberg keine
größere Schonung bewiesen, als Tilly jenem.
Der Johanniskirchhof, etwa eine starke Viertelstunde vor der Stadt, auf
deren westlicher Seite am Ende der sogenannten Johannisvorstadt gelegen, ist
von so besonderem und merkwürdigem Charakter, daß er eine Erwähnung ver¬
dient. Es ist wol fast durchgängig Sitte, die Kirchhofe durch Sträuche und
Banmanlagen zu zieren. Die Gräber, die mit grünem Rasen bedeckt sind und
auf denen durch die Hände der Zurückgebliebenen Blumen gepflanzt werden, der
letzte Zoll der Liebe und des Schmerzes, sind gleichsam die Beete dieser traurigen
Gärten. Die düstre Nähe des Todes und der Vergänglichkeit wird so gemildert durch
die blühende Natur und die Seele des Besuchers, ja der herbe Kummer des Leidtragen¬
den gesänftigt, durch das duftende und liebliche Gewand, das die letzte, dunkle Hei¬
math des Menschen verhüllt. Anders der Johanniskirchhof. Er bietet dem
Beschauer nur eine weite, einförmige Straße länglich viereckiger Steine dar, die
fast in der Form kolossaler Särge die Gräber bedecken. Zwischen diesen Grab¬
steinen wandelnd, aus denen die Wappenschilder derer, die unter ihnen ruhen,
aus Erz zuweilen kunstvoll und in den reichsten Verzierungen gearbeitet, liegen, fühlt
man den kalten Athem des Todes sich entgegenbringen, fast als ob man in einer
Gruft unter Särgen weilte. Die Fläche dieses öden, aber imposanten Friedhofs
wird nur unterbrochen durch die Johanniskirche, eine Begräbnißcapelle der Holz-
schuher'schen Familie und ein großes, dem Ritter Alexius Münzer gewidmetes
Monument. Als ich den Gottesacker betrat, warf die Abendgluth ihre letzten
Strahlen auf ihn. Der alte Todtengräber gesellte sich zu mir und führte mich
unter den Gräbern umher, mir die einfachen Denksteine zeigend, welche die Gräber
Albert Dürer's, Hans Sachs', Grübel's und anderer berühmter Nürnberger decken.
Er schloß mir auch die Holzschuher'sche Capelle auf; sie ist in einfachem deutschen
Style, schon im 14. Jahrhundert erbaut und enthält im Innern eine Grab¬
legung Christi von Adam Krafft in lebensgroßen Figuren, so wie mehrere ver¬
dienstliche Schnitzarbeiten. Ich erfuhr von dem alten Mann, daß der Name
dieser Familie, die unter den alten Patriziergeschlechtern Nürnbergs mit die erste
Stelle einzunehmen scheint, sich davon herschreibt, daß der Ahnherr, der den
Grund ihrer Bedeutung legte, Holzschuhe angefertigt hatte. Die Sitte jeuer
großen, sargähnlichen Grabsteine ist noch heute in Nürnberg, wie ich mich aus
mehreren von ganz neuer Arbeit überzeugen konnte. Jemand, dem ich meine
Verwunderung über diesen Gebrauch ausdrückte, sagte mir, er stamme aus den
ältesten Zeiten der Stadt her, in denen sich der große Stadtwald bis nahe an
die Thore zog. Man habe damals die Gräber mit diesen mächtigen Steinen
belegt, um sie vor dem Aufscharren durch Wolfe zu behüten.
Die Umgebungen Nürnbergs sind von keiner hervorragenden, landschaftlichen
Schönheit; zwar erblickt man von den Promenaden die blauen Berge, welche den
Saum des Horizontes umziehen. Sie sind jedoch zu weit entfernt und nicht hoch
genug, um einen wirksamen Eindruck zu erzeugen. Gleichwol bietet z. B. der
, Blick von der Burg hinab, der bis zu ihnen hin über eine fruchtbare Ebene und
die dunkeln Massen des Stadtwaldes schweift, ein ganz angenehmes Bild. In
der nächsten Nähe hat die Stadt einige sehr hübsche Vergnügungsorte und An¬
lagen, wie unter anderen die Haberwicse, welche an der Westseite sich am rechten
Ufer der Pegnitz hinzieht, die hier, ein ganz stattlicher Fluß, ihre trüben, gelb¬
lichen Wasser langsam dahinfließen läßt. Die sehr alten Bäume sollen zum Theil
schon 1484 gepflanzt worden sein. Der beliebteste Lustort der Nürnberger aber
ist die Rosenau; dieselbe liegt dicht an der Stadt an der südwestlichen Ecke der
Ringmauer, und besteht in einer schönen, parkähnlichen Anlage, die in einem
Thalgrunde neben einem großen Wasserbassin gelegen ist. Hier versammelt sich
des Abends die feine Welt, um sich von der bayerischen Militairmusik Garten¬
concerte geben zu lasse», Bier zu trinken, — denn dies thun fast durchgehends
auch die Damen — und sich an der buntfarbigen Illumination, womit die Estrade
des Orchesters geziert wird, zu erfreuen. Nebenbei läßt man öfters Raketen und
'Schwärmer in die Lust steigen, wie denn überhaupt die Nürnberger für Feuer-
werke passionirt scheinen. Am letzten Abend meines Aufenthaltes wurde ein wirk¬
lich sehr splendides in einem Garten gegeben, der unmittelbar der Rosenau gegen¬
über am innern Rande des Stadtgrabens liegt und einer geschlossenen Gesellschaft
gehört. Eine große Menschenmasse füllte den äußern Fahrweg. Der helle Mond¬
schein fiel ans die spitzen Dächer, auf die verwitterten Mauern und alterthümlichen
Festungsthürme, und vermischte sein sanftes Licht mit den grelleren Strahlen,
welche die Leuchtkugeln warfen, die von Zeit zu Zeit den kühn aufsteigenden
Raketen entfielen. Aus dem Grunde der Rosenau tönten die italienischen Melo¬
dien des Orchesters herauf, die buntfarbigen Lampen schimmerten durch die
Bäume, und zuweilen zischten auch von dort Raketen und Schwärmer in den
dunkeln Nachthimmel. Dieses fröhliche Leben in dem pittoresken Nahmen der
alten Mauern, die eine denkwürdige, für immer zu Grabe getragene Vorzeit in
die Seele rufen, das Alles in dem magischen Doppellicht des Mondes und der
künstlichen Sterne, die unaufhörlich auftauchten und verschwanden, gewährte ein
eigenthümlich reizvolles Bild, das nur zu erzeugen ist, wo so wirksame Contraste
einander begegnen.
Eigentliche Promenaden in dem Sinne wie Leipzig, Frankfurt oder Breslau
besitzt Nürnberg nicht; es hat seine Mauern behalten, deren Abtragung in jenen
Städten diese Anlagen hervorrief, und ist nicht rings von zusammenhängenden Vor¬
städten umgeben, die das Bedürfniß derartiger Anlagen inmitten der Stadtbezirke
fühlbar machen konnten. Seine sogenannten Vorstädte, die vor einigen seiner
Thore befindlich sind und deren Aussehen ziemlich dürftig ist, gleichen weht ab¬
gesonderten Flecken. Um die Mauern selbst läuft ein Kiesweg, der nur an
wenigen Stellen von Anlagen umgeben ist, die klein und noch ziemlich jung und
unbedeutend sind.
Ich würde mich ihres Vorhandenseins nicht mehr erinnern ohne ein Placat,
das ich an einem der Bänme angeheftet sand. Es rührte von dem hohen Senat
her, dem in Nürnberg die Leitung der städtischen Polizei obliegt. Wer die Ge-
müthlosigkeit kennt, wodurch sich in Norddeutschland die Polizeiverwaltungeu aus¬
zeichnen, die trockene und gebieterische Kürze ihrer Gebote und Verbote, ja wem
die härtere Prüfung auferlegt worden, in irgend welche Verhandlungen mit
diesen Wächtern des öffentlichen Wohles zu kommen, der wird sich die Rührung vor¬
stellen können, mit der ich eine Bekanntmachung las, in welcher eine hohe Po¬
lizeibehörde zum Publicum in dem weichen und liebevollen Tone eines Pfarrers
zu seiner Gemeinde spricht, geschmückt mit allen lyrischen Zuthaten eines soge¬
nannten blühenden Styles. Der Anschlag beklagte sich über die Beschädigung
der Anlagen, ermahnte zu deren Schonung, und warnte vor eventueller Strafe.
Zu diesem Zweck ergoß er sich aber in einen Vortrag von der Länge zweier gu¬
ten Druckseiten etwa in dem von „lieblichen Schmuck des Frühlings", „Wouue-
mondcn", „Helden Sprößlingen des erwachenden Lenzes." Die Rede war, als
ob das poetische Wörterbuch der weiland Negnitz-Schäfer dazu in Contribution
gezogen wäre. Es war ein Polizeiplacat i» idyllischer Form, die sich stellenweise
bis zu einer Art von prosaischen Dithyrambenschwung steigerte, eine Ode an den
Frühling in ungebundener Rede. Der Gegenstand der Begeisterung, einige noch
sehr kümmerliche Sträucher und Bäume standen sehr beschämt darüber, daß man
so viel Aufhebens um sie mache, in der Runde. In einer Ecke dieses" ergreifen¬
den Gedichtes stand „Quedl"; wirtlich „Quedl", es war keine Täuschung, wie
ich anfangs zu meine.in Troste glauben wollte. Die ganze Frühlingöpoeste des
hochlöblichen Senats war an mir verschwendet; nicht jede Erinnerung an die
Heimat!) ist angenehm, und vom Ufer der Spree, wie von dem der Garonne,
können auch Klänge in die Ferne dringen, die dem Ohr nicht „süß" ertönen.
Wenn man von dem heutigen Nürnberg das Interesse abzieht, das die Ver¬
gangenheit ihm Übermacht hat, so bleibt für den Fremden wenig, ja kaum noch
irgend etwas übrig. Die Stadt ist keineswegs unbelebt und öde, wie manche
der alten Städte, die im Mittelalter sich eines hohen Flors erfreuten, und. jetzt
zu einem hinsiechenden Dasein verurtheilt sind; aber es mangelt ihr doch jeder
großstädtische Zug. Selbst der Fremdenverkehr steht in keinem Verhältniß zu
den vielen Sehenswürdigkeiten, die man hier findet, und. ist mit dem belebten
Treiben der rheinischen Städte in gar keinen Vergleich zu stellen. Franken mit
seinen malerische» Landschaften und schönen, alten Städten ist nicht das Mvdeland
der Touristen. Die Meisten, die überhaupt diese Straße einschlagen, haben weitere
Reisepläne im Sinne und würdigen, von der Ungeduld uach ihrem Endziel vor¬
wärts getrieben, es kaum eines flüchtigen Blickes. Die Gewerbthätigkeit in Nürn¬
berg ist freilich noch immer bedeutend; zahlreiche Fabriken und Manufacturen
werden hier betrieben. Damit die Fabrikindustrie aber allein einer Stadt ein gro߬
städtisches Gepräge geben kann, in»ß sie im größten Maßstabe Vorhemde» sein,
und das ist doch hier uicht der Fall. Die Mannichfaltigkeit der Thätigkeit ist
bemerkenswerthe.r, wie der Umfang. Dasselbe ist mit dem Buchhandel der Fall;
er betreibt ein kleines Geschäft. Denkt man so an die Verlagöhaudlungeu in
Leipzig, oder anch an viele derselben in Berlin, Brauuftbweig, Hamburg, Frank¬
furt a. M., Stuttgart :c>, so muß es komisch erscheinen, wenn mau auf dem
Schilde einer Nürnberger Firma liest „Verlags- und Spielwaaren-Handlung."
Die Eisenbahn hat in mancher Beziehung Nürnberg Schaden gebracht; ein ge-
winnreicher Transpvrthandel mit Gütern, der vorher durch Frachtfuhrwerk nach
allen Theilen Deutschlands, nach Oestreich und der Schweiz betrieben wurde,
ist ihm dadurch verloren gegangen.
Nürnberg nimmt eine Mittelstellung unter den jetzigen deutsche» Städten
ein; ihr ist ein günstigeres Loos geworden, als.denen, die mit deu Resten frü¬
hern Wohlstandes eine traurige Existenz hinfristend, uur uoch das Bild verfal¬
lener Größe^bieten; eden so wenig aber hat es sich des Stromes der neuen
Interessen so bemächtigen können, um gleisen Schritt mit denen zu halten,
welche die großen Brennpunkte unserer heutige» Cultur, die gewaltigen Herde der
Industrie oder Träger des Handels geworden sind. Es hat sich sür seinen An¬
theil so viel zu erringen gewußt, um in seinen Mauern eine behagliche Wohl¬
habenheit zu erhalten; es zehrt nicht blos von den Erinnerungen seiner Ver¬
gangenheit, sondern wirklich noch von den sehr reellen Vermächtnisse» derselben,
es ist mehr relativ, als absolut zurückgekommen. Für sich betrachtet ist es noch
immer eine wohlhabende, gewerbthätigc, belebte Stadt. Aber es steht jetzt unter
den Städten Deutschlands entschieden in zweiter Reihe, wahrend es einst einen
der ersten Plätze unter ihnen einnahm. ES hat den Charakter einer Provinzial-
stadt und kommt in mancher Beziehung norddeutschen Provinzialstädten von ge¬
ringerer Größe und Bevölkermig »och nicht gleich. Nach den Wahr»ehmuuge»
zu schließe», die ein Fremder während eines Aufenthaltes von noch nicht einer
Woche machen kann, hat sein geistiges und politisches Leben eine» ziemlich be¬
grenzten Horizont. Allerdings besitzt es'drei politische Tagesblätter, von denen
sogar der Nürnberger Korrespondent einige Verbreitung in Nvrddeutschlnnd hat.
Die anderen sind der Nürnberger und der Fräiikische Courier. Die beiden ersteren
gehören einem ziemlich vorgerückte» Liberalismus a», find verständig redigirt,
gebe» aber doch nur ein geringes Material. Der Fränkische Courier ist ein de¬
mokratischer Eiferer von wirklich spaßhaften Caliber. „Die chenlenden Organe der
Reaction", „die Henker", kurz die ganze Phraseologie der Clubbs von 1858
grassirt noch in seinen Spalten; gegen Bourgeois, Constitutionelle und Gothaer
hegt er natürlich in der Fülle seines demokratischen Bewußtseins eine unerme߬
liche Verachtung, der die pomphafte Trivialität seiner Ausdrucksweise eine gro¬
teske Komik verleiht. Es ist wahr, die Nationalzcitnng steht auf demselben Stand¬
punkt und ist in ihrer aschgrauen, Schablonenhaften Doctrin eben so langweilig,
wie der ehrliche Courier, der kuirrschend mit heiserer Entrüstung seine Verwün¬
schungen ausstößt. Sie docirt, er flucht, sie zuckt die Achseln, er ballt die Fäuste,
sie ist der demokratische Professor, er der demokratische Biertrinker Aber sie ist
wenigstens manierlich und soll mau schon gelangweilt werden, so ist es immer
noch besser im Gesellschaftszimmer, als in der Kneipe. Ich brauche nicht hinzu¬
zufügen, daß der Nürnberger Spießbürger den Courier mit wahrer Andacht zu
seinem Seidel Bier liest, entzückt von dessen Gesinnungstüchtigkeit ist, und seine
sittliche Entrüstung nicht blos an der Schändlichkeit der Heuler, sondern auch an
dem Verrath und der Feigheit der Bourgeois und Gothaer letzt.
Von auswärtigen Zeitungen habe ich an keinem öffentlichen Orte eine andere/
als das Frankfurter Journal gefunden, das die Lücken, welche man bei Lecture der
Localprefse empfindet, auszufüllen nicht sehr geeignet ist. Lesecabinette, wie man
sie im Norden mit den Konditoreien vereint trifft, sind dort gänzlich unbekannt.
Zwar besteht ein Museum, das eine größere Auswahl politischer und literarischer
Zeitungen bieten soll; dies gehört jedoch einer geschlossenen Gesellschaft an, und
bedarf es daher einer besondern Einführung, weshalb es sür einen Fremden, der
ohne Bekanntschaften und mir für kürzere Zeit sich in Nürnberg aufhält, so gut
wie nicht vorhanden ist. Der Schluß von diesem Mangel auf die geistige Reg¬
samkeit und allgemeiner Bildung der Einwohner ist gerade kein günstiger; und
in der That merkt man einen erheblichen Unterschied darin zu Guufieu Nord¬
deutschlands. Das bayerische Regiment ist der aufstrebenden Intelligenz überhaupt
nicht günstig, und die Nürnberger haben noch aus den letzten Zeiten ihrer reichs¬
städtischen Unabhängigkeit, in der jeder höhere Inhalt des öffentlichen Lebens in
pfahlbürgerlicher Engherzigkeit aufgegangen war, die Gewohnheit, sich auf einen
engen Kreis und die Interessen des Alltagslebens zu beschränken. Dazu kommt,
daß ihr jetziges Staatswesen, das bayerische, ihnen Nichts bieten kann, was ein
reges Interesse an öffentlichen Angelegenheiten zu wecken vermöchte. Eine kleine
Staatswirthschaft kann in ihren Angehörigen einen kräftigen Gemeingeist und
einen hohen Grad öffentlicher Theilnahme erzeugen; aber dann muß sie ihren
natürlichen Sympathien entsprechen, oder durch.althergebrachte, noch lebendige
Bande sie an sich fesseln und den bürgerlichen Freiheiten einen weiten Spielraum
gehalten. Ein Staat kann nen hinzugetretenen Theilen, die vielleicht in wich¬
tigen Beziehungen ihm nichts weniger als gewogen sind, lebhafte Anhänglichkeit
und warmen Antheil an seinen Geschicken einflößen, wenn er ihnen zur Entschä¬
digung dessen, was sie verloren, ein großes und reiches Staatsleben zu gewähren
im Stande ist. Preußen hat die Aussicht, die Antipathien seiner katholischen Rhein¬
land? zu überwinden und sie mit seinen alten Provinzen zu verschmelzen, wenn
seine Regierung eine nationale und freisinnige Politik adoptirt. Bayern wird
schwerlich je das Gleiche mit seinen protestantisch-fränkischen Besitzungen erreichen;
seine staatliche Bedeutung ist zu gering, um seiner Bevölkerung ein Interesse am
Staat zu verleihen, wo dies nicht, wie in den altbayerischen Landen, einen Hebel
in der strengkatholischen Gesinnung findet, und die Großmachtsträume des Herrn
vou der Pfordten werden wohl Träume bleiben. Man kann es den Nürnbergern
daher nicht verdenken, wenn ihr bayerischer Patriotismus mir lau ist, und was
den deutschen betrifft, so sind die Dinge nicht darnach geartet, ihm irgend welche
Nahrung zu geben. Materiell befindet sich die Stadt bei Bayern nicht schlecht
und verdankt der Verbindung mit ihr die Ordnung ihres ganz zerrütteten Staats¬
haushaltes, durch die 1819 erfolgte Uebernahme ihrer Schulden, die bis aus
18"/<> herabgesunken waren, auf die Staatsschuld, eine Wohlthat, die freilich mit
dem Beitritt zu einem andern größern Staatsganzen wohl auch nicht ausgeblieben
wäre. Von unserm norddeutschen Standpunkt müssen wir es tief beklagen, daß
Preußen seine fränkischen Gebiete, die ihm mit althergestammter Treue anhingen,
aufgegeben hat, und diese protestantischen Lande katholischem Scepter unterworfen
sind. Nürnberg z. B>, das 1806 eine kaum nennenswerthe Zahl von Katholiken in
seinen Mauern'hatte, zählt deren jetzt schon 7000, das ist etwa ISpCt. seiner
Einwohnerschaft. Sollte übrigens der Zollverein, wie es den Anschein hat, ans
einander brechen, so würden Nürnberg und Franken die Folgen schwer davon
empfinden, und sicherlich in ihren bayerischen Gefühlen, soweit sie vorhanden
sind, durch diese Leide» für die Münchener Großmachtssucht nicht gestärkt
werden.
Ich schied vou Nürnberg mit der Ueberzeugung, daß mau sehr wohl thut,
mindestens zwei Tage auf eine genane Besichtigung seiner zahlreichen Kunstschätze
und mittelalterlichen Bauwerke zu verwenden, zugleich aber, falls man nicht Pri¬
vatverbindungen hat, um seinem fernern Aufenthalt Rejz zu geben, weise han¬
delt, nicht länger zu verweilen, um nicht neben so viel interessanten Eindrücken die.
Erinnerung an ausgestandene Langeweile mitzunehmen. Das ganze gastliche Le¬
ben der Stadt bietet, wie gesagt, keine geistigen Genüsse und, das gute Bier
ausgenommen, auch keinen materiellen. Die bayerische Küche ist überhaupt nach
meinem Geschmacke schauderhaft, und die Gasthöfe mit den rheinischen und nord¬
deutschen nicht zu vergleichen. Die sogenannten Cafes sind noch ungleich schlechter.
Fleischsuppe ist, wie es scheint, eine Delicatesse, die Gemüse werden wie Suppen
gekocht, die man ans diese Weise zweimal, erhält, während man schon an der
ersten mehr, als genug hat; was man an Stelle der Mehlspeisen giebt, ist mei¬
stens ein mir unbegreifliches Etwas, das nach Nichts und zugleich doch abscheulich
schmeckt, und will man sich, auf alle Table d'hote-Freuden oder Couvert-Genüsse
verzichtend, auf ein einfaches Cvtelett oder Beefsteak beschränken, so kommt man
vollends ans dem Regen in die Traufe. Ich wurde das erste Mal durch die
Erscheinung eines Kalbscotelettö in eine freudige, aber nur kurze Täuschung ver¬
setzt; das Aeußere war geschickt und trügerisch nachgebildet, mit einem wirklichen
Cotelett jedoch hatte es nicht mehr Ähnlichkeit, als die Dampfschiffe, welche die
Chinesen den englischen nachmachten, mit den wirklichen Dampfschiffen. Sie
sahen eben so aus, hatten aber keine Maschine und wurden nicht mit Dampf ge¬
trieben. Mein Kalbscotelett war, wie ich bald entdeckte, uur eine Zusammen¬
setzung fleischähnlicher Bestandtheile, für einen norddeutschen Gaumen ungenießbar. -
Das Komische bei alledem ist, daß die Bayern, wie alle Süddeutschen, mit tiefem
Mitleiden ans Preußen, namentlich auf Berlin, als ein wahres Land der Hunger¬
leider blicken, und glauben, daß man es beinhnen, wenn man von dort käme,
nnn mal recht gut habe. Bei der großen Billigkeit der Lebensmittel mag dies
für die ärmere Klasse nicht unwahr sein; wer aber auf eine uur etwas gebildetere
Küche Anspruch macht, bereite siel) auf harte Entbehrungen vor. Das Bier,
das wir übrigens in Berlin und Leipzig fast besser trinken — denn das eMdirte
wird stärker gebraut — obwol es ein wohlthuendes Gefühl ist, es für ein Drittel
des Preises zu haben, kann allein dafür nicht entschädigen; man mag vielleicht
im Bier seinen Kammer ersäufen können, aber nicht seinen Hunger.
In voller Mondbeleuchtung sah ich Nürnberg zum ersten Mal und verließ
es, als die frühesten Strahlen der Morgensonne seine Thurmspitzen vergoldeten.
DaS mächtige Bahnhofsgebäude ist im altdeutschen Geschmack ausgeführt und
steht somit in voller Harmonie mit dem Eindruck der Stadt und ihrer alterthüm¬
lichen Mauern. Ich fuhr mit dein ersten Frühzug, der nach Hof hinauf ging,
verließ ihn aber in Bamberg, um dieser Stadt, vor Allem jedoch ihrem herr¬
lichen Dom einen halben Tag zu widmen. Ich wanderte durch die Straßen,
ungefähr der Richtung folgend, in der ich vom Bahnhof ans die Thürme des
Doms gesehen hatte; die Stadt gewährte ein lebhaftes und anziehendes Bild,
das indeß nichts mit dem gemein hatte, das ich in Nürnberg gefunden. Der
Charakter ihrer Bauart gehört einer spätern Zeit an, dem 17. und 18. Jahr¬
hundert. Das Rathhaus, aus einer kleinen Insel der Regnitz gelegen, die von
beiden Seiten sein Fundament umspült, ist von außen mit etwas verblichenen
Frescobildern in der Nococomanicr bedeckt. Da es in den Frühstunden eines
Markttages war, so füllte die Hauptstraßen dichtes Getümmel und reger Verkehr;
erst als ich mich der Gegend des Domes näherte, wurde es einsamer. Als ich
von der Stadt heraufsteigend den weiten Platz erreichte, dessen eine Seite er
bildet, gewahrte ich zuerst seine großartige Vorderfront. Ich verzichte darauf, die
Erhabenheit des Eindrucks zu schildern, den sie aus mich machte; zum ersten Mal
sah ich den romanischen Styl in seiner vollendeten Schönheit. Der Dom ist
von gelbem Sandstein gebant, der im Lauf der Jahrhunderte eine etwas unent-
schiedene Schattirung bekommen hat; seine immer noch helle Farbe harmonirt
vortrefflich mit dem freien und heitern Charakter des ganzen Baues, dessen
lange Seite, welche den Platz begrenzt, mit ihrem unvergleichlichen Portal der
gewaltigen Wirkung der Vorderfront mindestens gleichkommt. Wenn die strenge
Hoheit des germanischen Styls, seine düstre Ascetik das Herz mit Gefühlen einer
geheimnißvollen Ehrfurcht und Andacht erfüllen, so verbindet der romanische mit
dem Grandiosen eine heitere Schönheit, welche die Seele gleichsam beflügelt und
nach oben trägt. Ich stand lauge verloren in den Zauber dieses Anblicks, ehe
ich in das Innere des Doms trat. Der erste Eindruck desselben ist nicht weniger
großartig; es hat drei breite Schiffe, deren mittelstes, von einer Höhe von mehr
als 80 Fuß, von seinen beiden Enden-volle Beleuchtung erhält. Das Innere
des Hauses ist von der schmucklosesten Einfachheit; in der Mitte befindet
sich das Grabdenkmal Kaiser Heinrich's II., des Gründers der Kirche, von pcm-
schem Marmor; die Basreliefs an den Seiten enthalten Scenen aus dem
Leben des Herrschers und seiner Gemahlin, der heiligen Kunigunde, unter
anderen die Feuerprobe, die der eifersüchtige Monarch, dem die Kirche wegen
seiner Begünstigung der Geistlichkeit den Namen des Heiligen gab, seine
Gattin bestehen ließ, um eines ungerechten, ehelichen Verdachtes willen.
Die Seitenschiffe enthalten alte byzantinische Steinarbeiten, im Hauptschiff be¬
findet sich eine Nciterfignr, die, entsinne ich mich recht, Kaiser Conrad, den ersten
Hohenstaufen darstellt. Unter dem Mittelschiff nach dem Eingange zu ist eine
Krypte, mit uralten Grabdenkmälern, deren Ursprung bis in's zehnte Jahrhundert
zurückreicht. Der Dom wurde im ersten Viertel des eilften, in dem damals noch
vorherrschenden romanischen Style erbaut. Leider wurde er 60 Jahre später
theilweise durch den Blitz zerstört, und, da indessen der germanische Styl sich zu
bilden begonnen hatte, in diesem hergestellt. Hauptsächlich ist dies sichtbar in den
Wölbungen der Schiffe, an der Hinterfront und an der' obern Hälfte der vier
Thürme, deren jeder über 300 Fuß hoch ist. Da die germanische Banart damals
aber noch in ihren Anfangsgründen war, so ist der Contrast nicht sehr in die
Augen fallend und stört die Einheit des ganzen Baus uur wenig. König
Ludwig hat sich durch die Restauration des Innern großes > Verdienst erworben;
er ließ eine Menge Verzierungen und Sculpturen im Geschmack der Rococo-Zeit,
womit mau den Dom verunstaltet hatte, hinwegnehmen und gab ihm dadurch
seine ursprünglich edle Einfachheit wieder. Seine Fenster sind ohne Glasmalereien,
da der König, weil es zur Zeit der Gründung so gewesen, nicht zugab, daß
welche angebracht wurden. Ueber zwei Seitenaltären befinden sich neuere Ge¬
mälde. Eine Seitencapelle hat eine.Grablegung Christi vou Caracci, ein be¬
deutendes Bild, aber mit dem von van Dyk in der Egydienkirche nicht in Ver¬
gleich zu stellen. Von außen ist der Dom an einer seiner langen Seiten mit
Gebänden umgeben; die Hinterfront ist, wenn auch nicht angebaut, doch so dicht
port eiuer Mauer begrenzt, daß der Anblick behindert ist, der übrigens den der
vordern Seite lange nicht erreicht. Ans dem Platz steht außerdem der frühere
bischöfliche, jetzt königliche Palast, ein mächtiges Gebäude im Renaissancestyl, und
zwischen ihm und dem Dom die frühere kaiserliche Burg, klein, aber ein interessantes
Denkmal der Vorzeit. Die Erzbischöfe residiren in einiger Entfernung auf einem
kleinen Platze, in einem ansehnlichen Gebäude, das aber Nichts von der fürst¬
lichen Pracht dessen besitzt, das ihre Vorgänger als geistliche souveraine be¬
wohnten.
Die weitherrschende Länge der Michaelskirche auf der Spitze des Berges
verlockte mich heraufzusteigen, und in gewisser Beziehung ist sie der Besichtigung
nicht unwerth. Besonders ist der Gegensatz zum Dom interessant. Dort die
höhere Einfachheit einer glaubensmächtigen Zeit, hier die schwülstige Ueberladenheit,
flitterhaste Pracht und weichliche Sinnlichkeit, wie sie den Katholicismus des
vorigen Jahrhunderts charakterisiren. Die Michaelskirche ist von den Bischöfen
jener Epoche in der vollsten Ueppigkeit des Nococogeschmacks ausgeschmückt
worden. Diese Gemälde in der süßlichen und sinnlichen französischen Art, gold-
strotzende Sculpturen, die heilige Jungfrau im Costum einer Hofdame vou
Versailles, eine abgemagerte Christusfigur umhangen mit einem carmoisin-seidnen
Mantel -— ein Geschlecht konnte hier seine Andacht suchen, welches mit dem
Raffinement des Genusses selbst die Buße umgab. Auf deu plumpen Pfeilern
sind kleine Fresken, neuerdings aufgefrischt, die Leiden und Prüfungen des heiligen
Otto, dessen Grab in de.r Kirche ist, bei seiner Bekehrung der Pommern darstellend;
diese gänzlich rohen Abbildungen sonderbarer Legenden erscheinen neben dem ver¬
feinerten Ungeschmack des Uebrigen vou einer forcirten Naivetät. Die vornehme
Welt mochte sich an ihnen erbauen, wie sie heutzutage in anderer Beziehung,
wenn sie der Salvnnovelle müde ist, die Dorfgeschichte zur Hand nimmt.
Ich stieg noch zur Altenburg hinaus, die eine halbe Stunde südlich vor der
Stadt liegt; die Burg selbst hat nur ein historisches Interesse. Philipp von
Schwaben siel hier vou der Hand Otto's von Wittelsbach. Das Zimmer, in
dem der Kaiser, beim Schachspiel sitzend, ermordet wurde, wird gezeigt, und auf
dem jetzt gedielten Fußboden ist mit einem rothen Kreuz die Stelle bezeichnet,
wo er zu Boden gefallen sein soll. Man hat von der Höhe besonders, wenn
man den runden Thurm ersteigt, eine wahrhaft herrliche Aussicht. — Unter sich
die Stadt vom Michaelsberg zum User der Regnitz herabfallend, die malerisch
gezackten Berge der fränkischen Schweiz zur Rechten, vor'sich das weite, frucht¬
bare Mainthal, die blauen Umrisse der Rohr am nördlichen Horizont, nach allen
Seiten einen freien Blick in weite Ferne, das wundervolle Ponorama des
Frankenlandes breitet sich vor den Füßen des Beschauers aus. Noch einen letzten
Blick aus dieses sonnige Landschaftsgemälde, das sich schon mit den Farben des
Herbstes zu schmücken begann, und bald darauf entführte mich dje dampfschnaubende
Locomotive nach anderen Gegenden.*)
Gelehrt und gearbeitet, — geschlagen und getrunken wird hier zu Land Jahr
aus Jahr ein — aber sonst ist seit geraumer Zeit hier herzlich wenig passirt, das
Stoff zu einer einigermaßen klangreichen Korrespondenz hätte geben können. Und
jetzt? Nun, wenigstens ist doch ein Paar Tage einige Abwechselung, einiges Leben
in die stille Ferienzeit gekommen, statt der heimischen Professoren haben wir fremde
reden hören und sie mit unseren Ferienstudeuten in höchster Gemüthlichkeit kneipen
sehen, kurz, wir haben die Ehre gehabt, in den Tagen vom 29. Sept. bis 2. Octbr.
die dreizehnte Versammlung der deutschen Philologe», Schulmänner und Orien¬
talisten in unseren Mauern zu sehen, und erheben nun auch deu Anspruch, daß
diese merkwürdige Begebenheit, die den Glanz der alten Georgia Angusta mit etwas
frischem Firniß überzieht, dem übrigen Deutschland nicht vorenthalten bleibe.
Sie werden mir also schon gestatten müssen, das Vaterland für einige Augenblicke
mit seinen Schulmeistern zu behelligen, um die es sich sonst leider nur zu wenig
kümmert. Und doch müßte es ihnen so dankbar sein! Ihnen, die zum Schlüsse
ihrer Verhandlungen, echte Deutsche, auf das „ganze, gemeinsame Vaterland"
ein begeistertes Hoch anstimmen konnten, hoffende und vertrauende Gläubige, ohne
daß Scham oder Schmerz ihre Stimmen erstickte. O ihr naiven nud unpraktischen
Menschenkinder! — Unpraktisch? mit Nichten; praktischer waren sie als die ge¬
wiegten Staatsmänner, die jetzt die norddeutschen Staatsschiffe und Kähnlein
lenken: sie haben sich vou Oestreich beschicken und für nächstes Jahr nach Wien
einladen lassen, die angebotene Bruderhand auch freundlichst geschüttelt, aber die
gemachten Anträge höflichst zu den Acten a,ä rökerenäum gelegt, unter allgemei¬
nen, von jeder Seite dankbarlichst aufgenommenen Versicherungen der Geneigtheit
und des tiefsten Bedauerns, den jenseitigen Wünschen zu entsprechen, resp, ihnen
für jetzt nicht entsprechen zu können, neben der fördersamsten Bereitwilligkeit ihnen
baldthunlichst bei anderer Gelegenheit einmal nachzukommen; kurz, sie haben sich
mit Glanz aus einer diplomatischen Verhandlung mit Oestreich gezogen; um
ihre Bereitwilligkeit gegen dasselbe zu zeigen, haben sie mit Uebergehung der mit
vorgeschlagenen Städte Stuttgart und Dessau zum Orte der nächsten Zusammen-
kllnst Altenburg, möglichst nah der östreichischen Grenze, gewählt. Da wird sich's
zeigen, wie groß das Interesse der Oestreicher ist — und sind sie erst in größe¬
rer Zahl wiederholt zu uns gekommen und haben gezeigt, daß sie nicht blos vou
uns becourt und becomplimentirt, sondern wirklich mit uns verbunden sein wollen,
— nun, dann wollen wir gern auch einmal zu ihnen kommen, aber bedächtig,
ohne Ueberstürzung! Doch da sind wir schon bei der nächsten Versammlung, ehe
wir noch eigentlich von dieser geredet haben.
Man kennt den Zuschnitt und Apparat dieser Vereinigungen hinlänglich, um
sagen zu dürfen, daß es hier im Allgemeinen war, wie anderwärts eben auch:
man stümperte sich durch die Verhandlungen am Vormittage durch, um am Mittag
und Abend anregenden und fröhlichen Verkehrs mit den Fachgenossen sich erfreuen
zu können. Nicht als ob nicht auch die Stunden der Verhandlung Interessantes
und Treffliches geboten hätten — aber im Ganzen verstehen es unsre Gelehrten
nicht, die rechten Themata sür solche Vorträge auszuwählen, und vor Allem, ent¬
behren sie der weisen Selbstbeschränkung. Statt allgemein interessanter Dinge
werden Sachen aus den begrenztesten Studienkreisen genommen, statt anregende
Gedanken zu gebe», die fruchtbare Discussionen hervorrufen könnten, stoppelt man
dürres Detail zusammen, die freie, lebendige und lebendig machende Rede weicht
sast durchgehends der steiferen, pedantischen Vorlesung; statt einer viertel oder
halben Stunde nimmt man eine volle, wenn es geht, anderthalb Stunden die
Versammlung ohne Gnade in Beschlag — und Wenige sind, die den Muth haben,
den Ströme» dieser Alles überfluthendcivGelehrsanikcit entrinnend, ein Frühstücks-
local aufzusuchen. Was half es, wenn ein so gelehrter und scharfsinniger Mann,
wie Herr Director Ahrens aus Hannover, volle anderthalb Stunden eine Vor¬
lesung über die gemischten Dialekte der griechischen Lyriker hält, die mit einem
solchen Detail von Citaten und Coujecturen angefüllt war, daß die gründlichsten
Kenner der griechischen Dichtkunst nicht Alles im Kopfe haben konnten, und daß
selbst diesen zuletzt schwindlich davon zu Muthe wurde — Anderen, die nicht diese
Studien im speciellsten getrieben hatten, natürlich schon viel früher —? oder
was nützt es der Versammlung und der Wissenschaft, wenn Herr Gerlach aus
Basel alljährlich mit einem dickleibigen Hefte auftritt und einen neuen Beweis von
der Wahrheit des Ausspruchs von Gottfried Hermann giebt, daß die Zahl derjeni¬
gen sehr groß sei, die gegen Verkehrtes eben so gläubig, als gegen Rechtes ungläubig
sind? Es ist, als hätte Niebuhr nie gelebt, wenn man diesen Galimathias von
für historisch" gehaltenen Mythen über Italiens älteste Bevölkerung und Roms Ur¬
geschichte, den man schon bis zum Ueberdruß gelesen hat, sich nun noch muß vor¬
lesen lassen, gemischt mit der wunderlichsten Kritik historischer Ueberlieferungen —
wie denn dieses Mal unter anderem Erörterungen über den germanischen Ursprung
der Etrusker zum Besten gegeben wurden? oder ist es endlich schicklich, wenn der
Schluß der Versammlung um ein Uhr angesetzt ist und nach demselben die' Mit-
guater sich noch einmal zu einem Mahle versammeln wollen, um zum großen Theile
noch denselben Nachmittag abzureisen, wenn man bemerkt, wie Präsident und Vice-
präsident, von denen der letztere noch mit einigen Worten die Verhandlungen schlie¬
ßen will, ängstlich zischeln, wie die Versammlung ungeduldiger und ungeduldiger
wird, nicht vou der Tribüne zu weichen, um zur Befürwortung der nationalgriechi¬
schen Aussprache in ihrer Anwendung auf das Altgriechische noch einen und immer noch
einen Laut abzuhandeln? bei aller Achtung und sonstiger Sympathie für Herrn Ellissen
müssen wir bekennen, daß wir ihm, dem im.parlamentarischen Leben Gewiegten, dem
gewandten, geistreichen, witzigen Redner — Eigenschaften, die auch dieserVortrag kei¬
neswegs verläugnete — einen solchen Mangel an Takt am wenigsten zugetraut hätten.
Die gediegensten und ansprechendsten Vorträge hielten sich auch in bescheidenen Grenzen.
Hervorzuheben sind hier Preller's, Oberbibliothekars in Weimar, in schnellem,
buntem Wechsel fast ex tcmpoes gegebene reiche Mittheilungen über seine in die¬
sem Frühjahre mit dem trefflichen Göttling und einem jungen Jenaer Aesthetikns,
der schließlich das Heimweh bekam, unternommene Neise nach Griechenland, und
Lauge's,' eines jüngern hiesigen Docenten, feine und originelle Andentungen über
Ziel und Methode der syntaktischen Forschung, die auch sür die Syntax Möglich¬
keit und Nutzen statistischer Beobachtungen nachwiesen, wie sie von anderer Seite
kürzlich für die Lautlehre angeregt sind. Interessant war es auch, in Besprechung
äschyleischer und sophokleischer Stellen die Art des Vortrags und der Behand¬
lung der alten Tragödie durch zwei ausgezeichnete Lehrer und Gelehrte, Schö-
mann aus Greifswald und unsern Schneidewin, kennen zu lernen und zu verglei¬
chen: bei jenem überwiegt das Element methodischer, die Schwierigkeiten nach
allen Seiten plan darlegender, mit gemessener Polemik erörternder und in ruhi¬
ger Erwägung die Resultate fixirender Interpretation, dieser legt den Hauptnach¬
druck ans die kritische Erörterung und. bewährte , anf's Neue seine Meisterschaft
durch einige glänzende Verbesserungen der verderbten Ueberlieferung des Textes
der Elektra; den reinsten Genuß aber vou Allem, was dargeboten wurde, ge¬
währte ein in der Formgebung bis in's Einzelnste vollendeter, von dem Gefühle
der ganzen Versammlung getragener Vortrag von Ernst Curtius, dem Begleiter
Otfried Müller S auf dessen letzter Neise durch Griechenland. Sinnig knüpfte er
die Erinnerung an den geliebten und großen Todten an eine Beschreibung der
Stätte seines Grabes und an die, ans genauer Bekanntschaft mit dem Lande selbst
hervorgehende Erörterung der Stelle des sophokleischeu Oedipus ans Kolonos,
die diese Localitäten schildert. Eröffnet und zum größern Theile geleitet — ein
Theil der Leitung hatte der Präsident „willig unwilligen Herzens", wie Homer
sagt, dem Vicepräsidenten Schneidewin nach sonst üblichen Brauche überlassen —
wurden die Verhandlungen vom Professor Hermann; die Formalien wurden rite,
obwol in einiger Breite dabei absolvirt, die gleichfalls etwas gedehnte Einleitnugs-
rede behandelte die Fortschritte der Philologie in den letzten fünfzehn Jahren
in einem encyklopädischen Umrisse, der aufs Neue die bewundernswerthe Vielsei¬
tigkeit deö Redners in's Licht stellte. Warmer und erquicklicher war das kurze
Schlußwort Schneidewin's, ein Aufruf pro aris el, locis an das Geschlecht der
Philologen, durchdrungen von dem Hauche lebendigen Eindringens in das Alter¬
thum und von inniger, edler Begeisterung für dasselbe. Beide vereinigten sich in
freundlichem, bei jenem mehr würdevollem und gehaltenem, bei diesem ungezwun¬
genen und herzlichem Entgegenkommen gegen unsre Gäste, und selbst Ewald, der
sonst unnahbare, der Vorsitzer der Orientalisten, mühte sich, so unbequem es ihm
werden mochte, ihnen dnrch Gastlichkeit gegen seine morgenländischen Genossen
beizustehen.
Alles, was Aufnahme und Bewirthung der Versammlung betraf, war mit
zweckmäßiger Umsicht und Benutzung der vorhandenen Mittel eingerichtet. Die
Sitzungen fanden in den schönen Räumen der Aula statt; auch für die orientalische
und die pädagogische Section, die sich mit der vielbesprochenen Frage des grie¬
chischen Unterrichts ausschließlich und bis zur Ermüdung der Mitglieder beschäf¬
tigte, waren passende Localitäten gewonnen; die Bibliothek und die sonstigen
Sammlungen waren mit bereitwilliger Liberalität zugänglich gemacht; die Wirthe,
die die Versammlung an den verschiedenen Mittagen und Abenden bei sich auf¬
nahmen, hatten ihre Locale festlich geschmückt: der aus der illustrirten Zeitung
bekannte Kronenwirtl) sogar mit Transparenten, lateinischen Scherzversen, ja, er
ging in seinem Eifer so weit, einmal bei der Tafel sich das Wort zu er¬
bitten und ein Kärtlein mit griechischem Spruch als Andenken zu verthei¬
len. Und warum hätte nicht auch er bei Tafel reden sollen, bei der so Viele
sprachen, Berufene und Unberufene? Unberufen auch Du, juristisch-Polititische
Große, einst die Zierde echt constttutioneller Studcuteufractionen, Clubs,
Ministerien und Zeitungen, treuer Aegidi, Du allezeit zum Sprechen und
Schreiben bereiter Nichtphilvlog, Nichtschulmann, Nichtorientalist, berufen vor
Allen der Heros deutscher Philologie, allgeehrt und allwillkommen, Both,
der des alten und des jungen Göttingens in feinem Vergleich gedenkend, letzterem
„ganz unpolitisch" ein Hoch brachte — zum Verdruss« freilich des ehrlichen Gerlach,
den er schon am Morgen in der Versammlung ob seines Aberglaubens katechisirt
und schnell zu halbem Rückzug gebracht hatte: aber bald erholte sich dieser, um
auch seinerseits einen langathmigen Toast auf die Georgia Augusta abzulesen, —
denn ihr galt er offenbar, nur wurde er mit merklicher Ausbiegung am Schlüsse
zum Toaste auf den Präsidenten. Am harmlosesten waren die Kneipereien mit
den Studenten im deutschen Hanse vor dem Thore, wo der Beweis geführt wurde,
daß Göttingen an der Theorie des alten Michaelis.mit Recht festhält, in dessen
vierbändigen „Raisonnement über die protestantischen Universitäten in Deutsch¬
land" es heißt, daß es nicht blos der Bequemlichkeit der Studirenden, sondern
-auch dem Vortheil des Landes gemäß sei, „daß auf einer Universität eine Va¬
rietät von solchen Bieren, als die Studirenden bei Tische trinken wollen, in hin¬
länglicher Güte und wohlschmeckend vorhanden sei," und daß der deutsche Gelehrte
anch noch zu singen und zu zechen und mit der Jugend unbefangen fröhlich zu
sein versteht — scharfe Kritiker konnten freilich auch hier die stets geübte und zu
anderer Natur gewordene Schärfe nicht unterdrücken; aber keiner verdarb den
Spaß, und selbst die gegenseitigen freundschaftlichen Hänseleien unsrer jungen
Leute, die sie mit wenig Witz und viel Behagen an das Forum der Oeffentlichkeit
brachten, fanden hier wenigstens Verzeihung. Eine andere Lustpartie, die die
ganze Gesellschaft vereinigen sollte, eine von der Stadt Göttingen veranstaltete
Fahrtpartie nach der schonen Ruine Hardenberg, wurde zwar nicht ganz gestört,
aber doch getrübt durch das schlechte Wetter, das in jenen Tagen hier fortwäh¬
rend herrschte. Aber der gute Wille, die geschickte Veranstaltung traten auch
nnter den ungünstigen Umständen so deutlich hervor, daß sich Niemand die Laune
verderben ließ.
Die Versammlung selbst war nicht eben zahlreich; im Ganzen zählte das Ver¬
zeichnis 87 Mitglieder: Hermann an der Spitze, am Schlüsse Wiese, den jüngst-
creirten Berliner Ministerialrath, dem es erst spät gelungen war, sich der Wucht
der neuen, ans ihm lastenden Geschäfte ans kurze Zeit zu entledigen; aber sie
zählte außer den hiesigen Notabilitäten viele Namen guten Klanges. Außer den
schon Genaunten seien z. B. uoch Trendelenburg und Gerhard ans Berlin, Bern¬
hards) und Eckstein aus Halle, Rost und Wüstcmanu ans Gotha, Petersen und
Ullrich aus Hamburg, Wex ans Schwerin, Steinhart ans Schulpforta, Haase
aus Breslau, Krüger aus Braunschweig, Fleischer aus Leipzig, Holtzmann aus
Karlsruhe, Halm aus München, Classen aus Lübeck, Lübker aus Parchim, Fleck¬
eisen aus Dresden, G. Curtius aus Prag u. s. w. genannt, um zu zeige«, daß
wir trefflicher Gäste uns zu rühmen hatten. Einer derselben, der ehrwürdige
Schulrath Grotefend ans Hannover, der vor jetzt einem halben Jahrhundert den
ersten folgenreichen Schritt zur Entzifferung ' der Keilschrift that und noch jetzt
rüstig diesen Studien obliegt, wurde vou den Orientalisten in einer Adresse
geehrt, in der Versammlung der Philologen feierlich begrüßt; eine zweite Be¬
grüßung dnrch eine zierlich stylisirte, lateinische Adresse galt dem nestorischen Greise
Mitscherlich, dem Senior unsrer Universität, eine dritte dem trefflichen Lobeck in
Königsberg, der im Laufe des Jahres sein fünfzigjähriges Doctorjubiläum ge¬
feiert hat. Deu schönsten und frischesten Gruß erhielt Bökh durch ein lautes
Hoch, ans er am Vorabende unter den im Saale der Krone Versammelten
erschien. — In wem aber der Versammelten hätte nicht auf's Neue das Gefühl
um den unauslöschlichen Verlust sich mit erneuter Stärke erhoben, den die Georgia
Augusta wie die Wissenschaft durch Otfried Müller's Hintritt erlitten hat? und wer
betrat die Räume des den Gästen willig geöffneten literarischen Museums, einst
seines, von ihm selbst erbauten Hauses, gerade in diesen Tagen nicht mit gesteiger¬
ter Wehmuth? in jugendlicher Blüthe hatte er in den Tagen der Göttinger
Säcularfeier an der Stiftung des Philologenvereins Theil genommen — jetzt,
wo derselbe zuerst in Göttingen seinen Sitz ausschlug, sollte er ihn, der nun kaum
in die Jahre des hohem Mannesalters eingetreten sein würde, nicht mehr an der
Stelle finden, die Jeder ihm neidlos zugestanden hätte! Die Erinnerung an ihn
rief Hermann wach im Eingange seiner Rede; belebt wurde sie durch Curtius,
durch Preller, der gleichfalls von der weit hinleuchtenden Marmorstelle seines
Grabes sprach, und sie zog sich wie — doch den rothen Faden muß man sich
selbst abschneide».
Der erste Act der Wahlen ist vorüber. Er hat. unter die Berliner Bürger
einiges Leben gebracht, d. h. etwas mehr, als wir von der politischen Gleich-
giltigkeit vermutheten, und viel weniger, als es selbst bescheidene Anforderungen
bei der Wichtigkeit gerade dieses Wahlacts wünschen mußten. Die Betheiligung
an den Wahlen war etwas größer, als beiden letzten derartigen Acten, und wird
auch wol im Großen und Ganzen die Regsamkeit in den Provinzen übertreffen;
doch dürfte sie hinter der Schätzung der Rat.-Zeit., daß fast die Hälfte de^
Berechtigten Theil genommen, noch um ein Bedeutendes zurückbleiben. Die
Demokraten haben als Partei nicht mitgewählt, sich aber in einigen Wahl¬
bezirken stark betheiligt, in denen dann natürlich liberale Kandidaten, Konstitutio¬
nelle und Demokraten, leicht durchgesetzt wurden. Eine Urwasi hat" für Jeder¬
mann, der die Zustände seiner Zeit aufmerksam verfolgt, viel Interessantes; da zeigt
sich die Maschinerie des Polizeistaats in voller Thätigkeit; alle Räder und Rädchen
sind im Gange. Fragt man den Einzelnen nach den Gründen der Abstimmung,
die im vertraulichen Gespräch meistens mit großer Offenherzigkeit angegeben werden,
so tritt die ganze Misere unsrer Zeit zu Tage. Der Polizeistaat hat seine tausend
Polypenarme in alle Kreise der Gesellschaft erstreckt, »ut die Zahl derer, denen
es völlig gleichgiltig ist, ob sie es durch eine liberale Abstimmung mit der Polizei
verderben, ist so gering, daß man solche Personen mit der Laterne suchen muß.
Die Schaar der Beamten, vom Minister bis zum niedrigsten Subalternen, die
Lehrer, die zahlreichen Klassen der Gewerbtreibenden, die einer Concession be¬
dürfen, alle diejenigen, die bei öffentlichen Unternehmungen, Lieferungen u. tgi.
betheiligt sind, oder, denen Aussicht auf Theilnahme an solchen vortheilhaften Ge¬
schäften eröffnet wird, bis zu dem Particulier, der sich seine nächste Sommerreise
nicht dadurch verbittern will, daß er in Ermangelung einee Paßkarte mit einem
Passe reisen muß, bilden eine unendliche Kette mehr oder minder abhängiger
Personen, in denen die Rücksicht auf den eigenen Vortheil kaum noch einer ander¬
weitigen Anregung, Warnung oder Drohung bedarf, um maßgebend zu wirken.
Unter solchen Umständen ist es um so höher anzuschlagen, daß sich bei den dies¬
maligen Wahlen ziemlich allgemein die Tendenz kund gab, keine Beamten zu
zu wählen; und in dieser leisen Dämmerung eines politischen Bewußtseins wird
man immerhin einen Fortschritt erkennen, wenn er auch bei weitem noch nicht
genügend ist, ein günstiges Endresultat der Wahlen zu sichern. Nach der Be¬
rechnung der Kreuzzeitung treten unter den Wahlmännern 170 königliche Beamte
neben ö00 Gewerbtreibenden, Künstlern und Fabrikanten und 2i8 Kaufleuten
auf. Freilich sind anch unter den Gewerbtreibenden viel abhängige Personen;
allein diese Distinction scheint für den Urwähler zur Zeit noch zu sein gewesen
zu sein.
Was die politische Färbung der Wahlmänner betrifft, so darf die liberale
Partei in Berlin nicht gerade alle Hoffnung aufgeben. Von deu vier Wahlkreisen,
in welche die Stadt zerlegt ist, stehen die Liberalen im zweiten am günstigsten,
im dritten am ungünstigsten. Doch haben sie überall einen ziemlich compacten
Kern, auf dessen Anziehungskraft es ankommen wird. Kandidaten sind, während
ich dieses schreibe, definitiv noch nicht aufgestellt. Kühne wird, wie ich höre, in
allen vier Kreisen genannt; v. Patow in den drei ersten. Hansemann, der dnrch
die Begründung der überaus segensreich wirkenden Discontocasse einen großen
Theil seiner Popularität wiedergewonnen hat, findet im zweitem Kreise viel An¬
klang; ans Pochhammcr richtet man im zweiten und dritten seine Aufmerksamkeit.
Dannenberger, der bei der letzten Berliner Wahl gewählt wurde und sich in der Kammer
der'Linken anschloß, bei der Pairiefrage aber von der Majorität der liberalen Partei
sich trennte, hat auch jetzt im zweiten Kreise günstige Aussichten. Außerdem
nennt man unter den liberalen Wahlmännern hier nud dort Ulsert, Riedel u. A.
Die definitive Feststellung der Kandidaten wird schwerlich vor dem Anfang der
nächsten Woche stattfinden, wenn die Stimmung der einzelnen Wahlkreise besser
bekannt ist; bis dahin tauchen auch vielleicht audere Namen ans. Die Gegner
werden wahrscheinlich die Minister aufstellen. Ob es möglich sein wird', Geppert
zu entrinnen, läßt sich noch uicht absehen.
Der Harkort'sche WahlkatechiSmns, der übrigens hier in Berlin nicht sehr
verbreitet zu sein scheint, ist deu Gegnern sehr verdrießlich gewesen; man hat durch
Verbreitung des Gerüchts von seiner Confiscation die Circulation der Schrift zu
hemmen gesucht. Doch kann nach preußischen Gesetzen hier weder eine Confiscation,
noch ein Verbot stattfinden; eine Confiscation deshalb nicht, weil die Schrift nicht
in den Buchhandel kommen sollte nud gekommen ist, und weil sie auch nirgends
an öffentlichen Orten ausgelegt wird; und die Befugniß des Ministers des Innern,
im „Ausland" gedruckte Schriften zu verbieten, ist aus dem ministeriellen Preß-
gcsetzentwurf von beiden Kammern beseitigt und auf Zeitungen beschränkt worden.
Demnach würde die Verbreitung des Wahlkatechismus erst dann strafbar werden,
wenn seine gerichtliche Verurtheilung publicirt wäre; die Gerichte werden aber an
der sehr vorsichtig gehaltenen Schrift Nichts auszusetzen finden.
Die Wahlen haben übrigens zu neuen Maßregelungen Veranlassung gegeben.
Das größte Aufsehen erregt die Ausweisung des Freiherrn v. Hilgers, der während
der letzten Kammersession den Wahlkreis Altenkirchen vertrat und wegen seiner
Abstimmungen bei dem Preßgcsetz seines Amtes als Landrath enthoben wurde.
Er hat seitdem in großer Zurückgezogenheit hier gelebt; auch ist ihm ein Grund
der Ausweisung nicht mitgetheilt und eine Unterredung mit dem Polizeipräsiden¬
ten abgeschlagen worden. Wie ich höre, hat auch l>r. Haym, der zu einem
Familienfest auf einen Tag von Halle herübergekommen war, Unannehmlichkeiten
gehabt. Ferner vernehme ich ans ziemlich guter Quelle, daß der Landrath des
Kreises Soest, Herr v. Bocknm-Dolfs, Mitglied der constitutionellen Partei,
seines Amtes enthoben ist. Als die Gemeinde-, Kreis-, Bezirks- und Proviuzial-
ordunng vou 18ö0 publicirt war, machte sich Herr v. Bocknm mit solcher Umsicht
an die Ausführung dieser Gesetze, daß zu einer Zeit, in der an anderen Orten,
z. B. in dem damals unter den Auspicien des Herrn v. Westphalen stehenden
Regierungsbezirk Liegnitz, noch nicht einmal die erste» einleitenden Schritte gethan
waren, im Kreise Soest die Gemeinde- und Kreisordnung zur Zufriedenheit der
Kreisinsasseu durchgeführt war. Unter den 33z Kreisen des preußischen Staats
ist der vou Herrn v. Bockum verwaltete der einzige, in dem eine Kreisvertretnng
nach dem Gesetz von 1860 gebildet ist; und dieser anstößige Eiser des Landraths,
der es ganz außer Acht gelassen hatte, sich aus etwaige „Wendepunkte" einzurichten,
ist um so verdrießlicher, als die Restauration, die andern Orts nur den Ausbau
zu hindern hat, im Kreise Soest etwas bereits Fertiges zerstören muß, bei dem
sich überdies die Einwohner notorisch wohl befinden. Daß der einzige Versuch
zur Durchführung der von den Junkern so verschrienen Kreisordnung leicht geglückt
und zur Zufriedenheit der Betheiligten aufgeschlagen ist, ist ein höchst ärgerlicher
Vorfall. Jetzt wird Herr von Bockum sicherlich einen Nachfolger erhalten, der
die durchgreifende Energie besitzt, das Aufgebaute im Dienste der Restauration
wieder einzureißeu, — zu so widersinnigen Worlcombinationen zwingt uns die
Abnormität unsrer Zustände.
— Die großartige musikalische Trilogie Naimondi's scheint nachhal¬
tigen Einfluß in Italien zu erlangen. Der Haupttitcl des Werks ist Joseph; die
Drei, das Ganze bildenden Oratorien heißen Potiphar, Pharao und Jacob.
Raimondi war früher selbst in Italien nur wenig bekannt, obgleich er so viele Werke
kirchlichen und dramatischen Inhalts geschrieben hat, wie die berühmten Italiener Pae-
siello, Piccini n. s. f., welche am Ende des vorigen Jahrhunderts ihre Kompositionen
in unzählbarer Menge über die ganze civilisirte Welt ausbreitete». Raimondi ist zu
Rom den 20. Den. 1786 geboren, Seine Eltern lebten in .wenig günstigen Verhält¬
nissen, und als er in seinem zwölften Jahre den Vater verlor, nahm sich seiner eine
Verwandte^ an, die ihm von einem Geistlichen die nothwendige Vorkenntniß zum geist¬
lichen Stande beibringen liesi. Die Neigung des Knaben zur Musik vereitelte diesen
Plan, und die nachgebende Tante schickte ihn 1800 auf das Conservatorium der?jM
«Zol Ilirelrim zu Neapel, wo Barbara und Tritto seine Lehrer wurden. Sechs
Jahre blieb er dort, bis auf einmal Mangel an Unterstützung ihn zum Fortgehen nö¬
thigte. Mittellos wanderte er zu Fuß von Neapel nach Rom zu einem Oheim, der
ihn zwar anfangs freundlich aufnahm, doch wegen eigener Dürftigkeit ihn bald zu der
reichen Tante nach Florenz schicken mußte. Bei dieser ehemaligen Gönnerin kommt er
krank an; sie nimmt ihn nicht auf, da er immer noch Priester zu werden sich weigert,
sondern schickt ihn in das Spital Lauts Mris Moos. Als er wieder genesen, eilte er,
nur mit den spärlichsten Mitteln zur Reise versehen, zu seiner in Dürftigkeit lebenden
Mutter nach Genua. Hier fing er an zu arbeiten, zum ersten Male seiner eigenen Kraft
vertrauend, und gleich seine ersten Werke erregten Aufsehen. Nach Florenz berufen, schreibt
er für das Theater ig ?ergols die Musik zu einem Drama. Später wird er nach
Neapel berufen, und hier componirte er für das Theater 8su Lgrlo die Oper, „das
Orakel von Delphi." Aber in der ernsten Oper machte er wenig Glück, dagegen zeigte
sich bald sein großes Talent für die komische. Sein bestes Werk dieser Gattung ist
II VeiMZIio, zuerst 1831 zu Neapel, und dann auf allen Theatern Italiens ausge¬
führt. Seinen wirklichen Ruhm verdankt er jedoch nicht diesem Talente, und es ist nicht
zu läugnen, daß seine dramatischen Werke durch Erfindungsgabe und Fantasie nicht so
glänzen, als die seiner Zeitgenossen vom Jahre 1830 an. Seine eigentliche Sphäre
ist die Kunst der mannichfaltigsten Combinationen der Töne; er ist ein contrapunktischcs
Genie. Diese außerordentliche Begabung wurde auch bald in Italien anerkannt und
er erhielt einen Ruf als Director des Konservatoriums nach Palermo. Dort lehrte er
18 Jahre, allein seine Stellung trennte ihn von der Musikwclt des Festlandes von
Italien. Als vor einigen Jahren Sicilien durch politische Unruhen zerrüttet wurde, ging
er nach seiner Vaterstadt Rom, und componirte daselbst das große Oratorium Joseph,
dessen Texte ein Sicilianer, Joseph Sapiv, geordnet hat. Bei der Aufführung
wurden die drei Oratorien jedes von einem besondern Kapellmeister dirigirt, von den
Herren Salesi, Bataglia und Terziani. Erst die Aufführung des letzten Aktes, die
Vereinigung der drei Oratorien zu Einem, leitete Naimoudi selbst, und bei den wun¬
derbaren Effecten des Ganzen kannte der Ausbruch der Bewunderung keine Grenzen
mehr. Raimondi hatte das Bewußtsein seiner Kraft bis in sein 67. Jahr in sich be¬
wahrt, aber er vermochte nicht diesen ungeheuren Erfolg zu ertragen, er erlag der Last
der Lorbeern — er sank in Ohnmacht und erhielt erst in einsamem Zimmer die Be¬
sinnung wieder.
Raimondi fing in seinem 22. Jahre an zu schreiben, und seitdem hat er den
Theatern Italiens zwei und sechzig Opern, und die Musik zu 21 großen Ballets
von zwei und drei Akten geschrieben. Noch großartiger und umfassender ist seine Thä-
tigkcit als Kirchcneomvonist; er schrieb ö Oratorien (ohne das letzte), 4 Messen mit
großem Orchester, 2 achtstimmige Messen mit zwei Orchestern, eine doppelchörige Messe
im strengern Stil, 2 Keciuiem mit großem Orchester, ein KecMöm acht- und zum
Theil 16 stimmig, i Vespern mit Orgel und Orchester, viele Complete, ein 16 stimmiges
Lrscio, eint^iberg, ein 5 stimmiges I«z venin, 3 Lladal nater, 2-3- und istimmig,
3 Msorers i - und 8 stimmig, eins derselben mit Orchester, 3 Isntum orzo, 2 Lita¬
neien, mehrere i- - und 8stimmige Psalmen mit Orchester, die sieben Worte Christi
am Kreuze 3 stimmig, 2 Sinfonien, welche jede besonders, und beide zusammen gespielt
werden können, die 156 Psalmen David's i -, ö-, 6-, 7- und 8 stimmig im Palestnna-
Stil, allein eine Sammlung von 13 Foliobänden; ferner eine Sammlung von Gencral-
baßstudien (Mailand bei Nicvrdi); ein wissenschaftliches Werk über combinirte Compo-
sitionen mit 12 Beispielen (Neapel, bei P. Tramatcr); zwei Fugen in Einer; ein
theoretisches Werk in zehn Beispielen (zu Rom gedruckt); eine Sammlung ksiümsnU,
bestehend aus 96 Grundbässen mit 3 verschiedenen Beglcitstimmcn auf jedem (2 Theile,
Neapel bei Clausctti); j- vierstimmige Fugen in verschiedenen Tonarten, welche zu einem
einzigen 16stimmigen vereinigt werden können (gedruckt in der Typographie liboring zu Rom;
6 vierstimmige Fugen in verschiedenen Tonarten zu einer 25 stimmigen Fuge verbunden
(Rom, ebendaselbst); eine Fuge von 6i, in 16 Chören getheilten Stimmen; 16 vierstimmige
Fugen; endlich ein Fugcnwerk (bei Nicvrdi), enthaltend 2i> vier bis achtstimmigc Fugen,
unter denen wieder vier sind, welche man zu einer einzigen verbinden kann! —
Technische Studien für das Pianosortespicl zusammengestellt von
Louis Plaidy, Lehrer am Conservatorinm der Musik zu Leipzig. Leipzig, bei Breit-
kopf und Härtel, 2 Thlr. Das Werk ist vornehmlich für Solche bestimmt, welche die
Anfangsgründe bereits überschritten haben, doch würde es unter Leitung eines verstän¬
digen Lehrers auch bei Anhängern vortheilhaft angewendet werden können. Es enthält
nicht, wie dies die frühere Ueblichkcit in den Pianoforteschulcn war, abwechselnde Finger¬
übungen und Etüden oder denselben Zweck verfolgende einzelne Stücke, sondern es giebt
in wohlgeordneter, logischer Folge diejenigen Finger« und Handübungen, welche zur
Erreichung eines vollständigen Spiels unumgänglich nothwendig sind. Angebahnt ist
die Methode schon vor längerer Zeit und von verschiedenen Lehrern, am meisten durch
die I. Knorr'sehen Untcrrichtswerke,- aus denen wir besonders die „Materialien für
Pianofortespiel, bei Breitkopf und Härtel" hier aufzählen, da sie uns eine
vortreffliche Ergänzung zu dem Plaidy'schen Werke darbieten. Dem scheinbaren Nach¬
theil dieser Methode, daß sie nämlich nur leere Fingerfertigkeit erziele, hingegen die musi¬
kalische Ausbildung durch das mangelnde Erlernen von schönen Musikstücken vernachlässige,
ist dadurch abgeholfen, daß die Vertreter dieser Methode die technische Ausbildung über¬
haupt nur als Mittel zum Zweck betrachtet wissen wollen,' und daß sie ferner ihren Bü¬
chern ein genaues, stufenweise geordnetes Verzeichnis? von guten und zweckerfüllcnden Kom¬
positionen beifügen. Unter die vielen Vorzüge des Plaidy'schen Werks gehört anch die¬
ses zwar nicht sehr umfangreiche, aber äußerst verständig geordnete Verzeichnis; von Clavier-
compositionen, welches auf der einen Seite die Mängel des Knorr'sehen (in seinem Leit¬
faden), aus der andern wiederum die Weitschweifigkeit des Czerny'sehen übertrifft. Die
den Notenbeispielen vorangehenden, nachfolgenden und zwischenliegenden Bemerkungen zei¬
gen von großer Sachkenntniß und Erfahrung, und ob manche unter ihnen den gebildeteren
Musikern größerer Städte nicht ganz neu erscheinen dürsten, so muß man mit Recht dar¬
auf aufmerksam machen, daß für solche das Werk am wenigsten geschrieben ist, weil die¬
sen durch das Leben in bewegteren, intelligenteren musikalischen Kreisen von selbst sich
höhere Anschauungen erschließen. Größere Wirkungen wird dieses Buch noch erreichen
in Kreisen, denen ein höheres ernsteres Musikleben durch die Umstände entzogen ist; be¬
sondern Nutzen aber dürste es sür die Lehrer im Allgemeinen haben, die dnrch Mangel
an Gelegenheit, oder oft auch durch geistige Trägheit verhindert sind, über ihr Instru¬
ment und die richtige Methode, dasselbe zu betreiben, nachzudenken. Die Trockenheit
der gegebene» Nvtcnbeispiele wird durch die beigefügten Bemerkungen vollständig paraly-
sirt; sie sind anregend, leicht faßlich geschrieben und wol dazu geneigt, einen für sein
Fach eingenommenen Lehrer anzuspornen, nach den in dem Buche in Aussicht gestellte»
Resultaten mit Eifer zu streben und die Schüler lebhast aufzumuntern. , Das Konser¬
vatorium der Musik zu Leipzig hat das Werk als Lehrbuch angenommen, u»d wir mei¬
nen, daß schon in diesem Umstände eine Gewährleistung seiner Tüchtigkeit zu erblicken ist.
Ferdinand Hiller wird als städtischer Kapellmeister nach Cöln zurückkehren. Die
Direktion der städtischen Gesellschaftsconcertc hat bis dahin der königl. Musikdirektor,
F. Weber, in die Hand genommen. In dem am 26. Octvb. stattgefundenen ersten
Concerte wurden aufgeführt die Ouvertüre zu Tannhäuser von R. Wagner: Beethoven's
Eroica (Ur. 3); der 98. Psalm von F. Mendelssohn-Bartholdy für 8stimmigen Chor
und Orchester. Der berühmte Bassist Form es (ein geborner Kölner) sang die Arie
des Raphael aus Haydn's Schöpfung (Nun scheint ein voller Glanz Zc.) und eine Arie
aus Händel's 'Messias (Dunkel lag/ans den Völkern). Theodor Pixis spielte ans
der Violine die „ungarischen Lieder" von Ernst und eine Transscriptivn über eine Melodie
NiedermcUer'S auf Lamartine's Ode I.K ?»6te in Form einer Fantasie mit Begleitung
des Orchesters und einer obligaten Harfe, von eigener Composition.
Der tüchtige Componist Vierung ans Frankfurt a. d. O. hat die Musikdircctor-
stelle des Gesangvereins und der Liedertafel zu Mainz erhalten.
— Von der „Geschichte der Oper und des Königl. Opernhauses in
Berlin", von Louis Schneider, ist eine billige Ausgabe erschienen, welche dringend zu
empfehlen ist. Der Verfasser hat mit großem Fleiß und seiner bekannten Liebe zu
allem Detail der Kunst, einen Stoff bearbeitet, welcher für den Künstler und den
Historiker gleich wichtig ist. — Bei dieser Gelegenheit mögen sich die Schauspieler
und die Theaterfreunde Deutschlands wieder einmal an die vielbekannte Persön¬
lichkeit des gewesenen Schauspielers Schneider erinnern, der neben einem komischen
Talent von nicht großem Umfange und neben seinen kleinen Seltsamkeiten ein so
lebendiges Gefühl für alles Schöne in der Kunst und ein so warmes Herz für
seine Mitkünstler besaß, wie Wenige. Die Anzahl jüngerer Kollegen, welche durch
L. Schneider freundlich Unterstützung und Förderung erhielten, ist sehr groß; Bogumil
Davison Verdanke ihm sein Engagement in Hamburg und die Befreiung ans
drückender Lage. Mögen seine College» das jetzt nicht vergessen. Unermüdlich
thätig war der Schauspieler Schneider für Alles, was dein Theater zur Ehre und zum
Ruhm gereichen konnte. Die schöne Idee eines allgemeinen deutschen TheatcrpcnsionS-
sonds stammt vo» ihm, er hatte einen Plan dazu sehr genau mit alle» Einzelheiten
ausgearbeitet, hatte die betreffenden Ministerien in Berlin dafür gewonnen, und die
Einrichtung des Instituts war ihrer Verwirklichung nahe, da zerstörte kleinlicher Sinn
unter seinen Kollegen und später die politischen Verhältnisse dem thätigen Manne das
Unternehmen. Es wäre sehr zu wünschen, daß Herr Schneider, der bekanntlich königl.
preußischer Hofrath und Vorleser geworden ist, diesen Plan mit Allem, was dazu gehört,
der Oeffentlichkeit nicht vorenthielte. Wir haben jetzt in Deutschland einige Bühnen
mit einsichtsvoller Leitung, und wenn anch die gegenwärtigen Zeitverhältnisse noch nicht
geeignet sind, das große Unternehmen zu realisiren, so sollte doch der Gedanke daran
lebendig erhalten werden, denn von seiner Dnrchsiihrnng hä»ge Vielleicht mehr als von
jeder andern günstigen Einwirkung die Hebung -des Schauspielcrstandcs ab.
In Breslau ist der ,,Tannhäuser" mit großem Erfolg gegeben worden. Die Oper
scheint diesen Winter über viele Theater gehen zu wollen.
Für Julie Grife in Petersburg ist Sophie Cruvelli, welche d. Bl, im vorigen
' Jahre während, ihres Engagements in Paris öster beurtheilt hat, engagirt worden.
'
In dem Hofoperntheater zu Wien wird unter der Direktion Cornets die neue
Oper „Indra", von Putlitz und Flotow, im nächsten Monat gegeben werden.
Ein neues Zaktigcs Lustspiel von Max Kurnick: „Ein Mann, oder das Wagniß
der Liebe", wird als leichte, aber wirksame Arbeit gelobt.
— Schleswig-Holsteins Geschichte in drei Büchern von
Georg Waitz. (Zweiten Bandes erste Hälfte. Göttingen, Dieterich'sche Buchhand¬
lung.) — Der gegenwärtige Abschnitt beschäftigt sich mit der Periode der schlcswig-
holsteinschcn Geschichte, in welcher die Herzogtümer, obschon das eine Lehn des deut¬
schen, das andere des dänischen Reichs war, sich beinahe in jeder Beziehung einer völ¬
ligen Selbstständigkeit erfreuten und zugleich in Verfassung und Regierung auf das
Engste unter sich verbunden waren. Dieser Zeit äst früher nur eine sehr geringe Auf¬
merksamkeit geschenkt worden, weil man bei dem einseitigen Streben, die politische, in
einzelnen Brennpunkte» sich zusammendrängende Geschichte darzustellen, für die innere
rechtliche und gesellschaftliche Entwickelung der Völker wenig Sinn hatte. Der Ver¬
fasser hat mit einem Fleiß, wie er immer noch zur Ehre unsrer - Nation in unsren
Gelehrten vorkommt, die Materialien dazu gesammelt und sie aufs Gründlichste durch¬
arbeitet. Sein Werk hat als ein monographischer Beitrag zur Culturentwickelung des
deutschen Volkes eine hohe wissenschaftliche Bedeutung. Wir aber müssen gestehen, daß
für den Augenblick für uus das politische Interesse überwiegt. Wir wissen sehr wohl,
daß im gegenwärtigen Augenblick die wohlgemeintesten Ermahnungen, die gründlichsten
Auseinandersetzungen und der feurigste Patriotismus uicht den geringsten Einfluß hat,
unsere deutschen Regierungen von der unheilvollen Bahn abzuwenden, die sie in Be¬
ziehung auf die Herzogthümer eingeschlagen haben. Im Jahre 1846 legte der
deutsche Bundestag einen sehr energischen Protest gegen das Attentat der dänischen
Regierung ein, Schleswig seinem Verband mit der deutschen Provinz Holstein zu ent¬
reißen und es dem dänischen Reich einzuverleiben. Heute unterzeichnen zwei deutsche
Großmächte ein Potocoll, in welchem eine viel schlimmere Eroberung Dänemarks gut¬
geheißen und garantirt wird, die Eroberung Holsteins. Gegen alles früher bestehende
Staatsrecht und mit der schreiendste» Verletzung aller deutschen Interessen wird uns
also eine der für unsre Entwickelung wichtigsten Provinzen entrissen, der Angabe nach
auf immer, und die Form, in der diese Staatsvcrändcruug ausgeübt wird, ist fast noch
verletzender, als die Sache selbst. Der König von Dänemark legt seinem dänischen
Reichstag die von den Großmächten garantirte Thronfolgeändcrung vor, und als in
diesem Reichstage selbst die Bemerkung gemacht wird, das; vielleicht von Seiten der
Herzogthümer ein Einspruch geschehen könne, antwortet der Minister des Königs, das
wäre vollkommen gleichgiltig. Also vollkommen reckt- und schutzlos sind zwei unsrer
besten Provinzen einer fremden Krone, einem fremden Volk Unterthan geworden. Wir
wissen sehr wohl, was das Recht der vollendeten Thatsachen bedeutet, und hegen über
unsre nächste Zukunft nicht die geringste Illusion; allein wir halten es doch für noth¬
wendig, die öffentliche Aufmerksamkeit immer anf's Neue wieder auf diesen Punkt hin¬
zulenken, damit man keinen Augenblick vergißt, daß wir doch in unsrer Zukunft noch
heilige Pflichten zu erfülle» haben. —
Geschichte der schönen Literatur in Spanien, von Georg Ticknor.
Deutsch mit Zusätzen herausgegeben von Nicolaus Julius. 2 Bde. Leipzig,
Brockhaus. — Die romantische Schule hat viel dafür gethan, die spanische Literatur
in Deutschland wenigstens in den Kreisen, auf die sie Einfluß ausübte, populär zu
machen; sie hat aber für die wirkliche Kenntniß derselben im Ganzen wenig gethan, da
sie gleich von vorn herein von falschen Tendenzen ausging. Weil sie nämlich in der
spanischen Literatur dasjenige fand, was in Deutschland fehlte und was sie dunkel als
deu Hauptvorzug einer Nationallitcratur empfand, obgleich sie selber redlich das Ihrige
dazu beitrug, es für Deutschland unmöglich zu machen, den innigen Zusammenhang der
Kunst mit den sittlichen, religiösen und politischen Vorstellungen der Nation und in
Folge dessen einen ausgeschriebenen Styl, so ließ sie sich dadurch auf eine Weise impo-
iliren, daß sie eigentlich alles unbefangene Urtheil verlor. Nicht nur wurde das poetische
Talent der vorzüglichste» spanischen Dichter, namentlich Calderon's, und ihre Bedeutung
fiir die Weltliteratur viel zu hoch angeschlagen, sondern es sah fast so aus, als ob uus
Form und Inhalt Calderon's zum Muster aufgestellt werden sollte. Diese leichtsinnige
Arbeit, in welcher der Intrigue und der Fabel zu Liebe alle Wahrheit und Natürlichkeit
der Charaktere aufgeopfert wurde, sollte uns als Vorbild dienen, und nicht blos die
Begriffe von Ehre und Liebe, wie sie sich im Kampf zwischen den Gothen und Arabern
ausgebildet hatten, sondern anch die schändliche, wahrhaft verabscheuenSwürdige spanische
Bigotterie, wie sie sich in einer entsetzlichen Mischung von Blutgier, Wollust und Ge¬
dankenlosigkeit in Calderon ausspricht, sollte die Basis unsrer neuen Religion werden.
Zwar dachten die Herren Schlegel, Werner, Hoffmann ze. wol nicht im Ernst daran,
die Inquisition und die Autodafes wieder in Deutschland einzuführen, auch ging ihre
Religiosität, so krankhaft und verschroben sie war, wol nicht so weit, die sittliche Grund-
anschauung in der'„Andacht zum Kreuz" vollständig als maßgebend anzunehmen; allein
das Verwerfliche in ihrer Stellung zu den katholischen Dichtern war eben, daß sie sich
von einem rein äußerlichen, oberflächlichen ästhetischen Wohlgefallen leiten ließen und an
dem Kern der Dichtung, ihrem sittlichen Fonds, gleichgiltig vorübergingen. Hoffmann
z. B., obgleich er niemals fo weit ging, den Glauben seiner Väter abzuschwören, war
doch im höchsten Grade über die günstige Aufnahme entzückt, welche die „Andacht zum
Kreuz" bei den Bambergern fand, und beklagte es tief, daß nicht mehr katholische
Elemente in Deutschland vorhanden wären, um diese große Tragödie zu würdigen. Auch
beeiferten sich die Schüler der neuen Lehre (z. B. Schütz, Zedlitz ze.), dnrch mehr oder
minder gelungene Exercitien die spanische Poesie aus unsren Theatern einzubürgern. —
Durch alles dies hat die Auffassung der spanischen Literatur bei uns ein ganz falsches
Licht gewonnen, und fleißige, verständige Arbeiten, wie die des ehrlichen Butterweck,
reichten uicht aus, dem allgemeinen Strom des Enthusiasmus Widerstand zu leisten.
Wir bemerken beiläufig, daß etwas von dieser Neigung sich anch in die sonst mit vollem
Recht sehr hoch gestellte Geschichte des spanischen Theaters von Schack eingeschlichen
hat. — Es ist nicht anzunehmen, daß sich jetzt, wo man doch allmnlich anfängt, auch
fremdartige Erzeugnisse des Geistes nicht mit überschwänglicher Phantasie, sondern mit
unbefangenen Blicken anzuschauen, eine ähnliche Verirrung noch einmal bei uns eintreten
sollte. Wir werden jetzt die spanische Literatur als den höchst reichen und interessanten
Ausdruck von dem Geist einer Nation, die zwar theils dnrch ihre Lage, theils dnrch
eine Kette unglückseliger Ereignisse in die schlimmsten Befangenheiten verstrickt wurde,
die aber auch im Vergleich mit den übrigen gebildeten Nationen eine seltene Begabung
verrieth, würdigen können, ohne daß es uus einfiele, unsrerseits spanisch denken, empfinden
und dichten zu wollen. — In diesem Sinn ist das angeführte Buch die bedeutendste
Grundlage einer neuen wissenschaftlichen Erkenntniß. — Georg Ticknor wurde 1791
zu Boston geboren und zum Advocatenstaud bestimmt. Das Werk der Frau v. Stael
über Deutschland, das ihm in dem einzigen Exemplar zukam, welches den Verfolgungen
Napoleons entging, machte ihn aus die ^deutsche Literatur aufmerksam. In Folge dessen
ging er nach der Universität Göttingen (181ö), wo er zwei Jahre studirte und sich
dann in Italien, Spanien, Portugal und England aufhielt. Nach seiner Rückkehr 1819
wurde er als Professor der Literatur an der Universität Cambridge bei Boston ange¬
stellt, welche Stelle er bis 1835 bekleidete. Nach 1833 hat er noch eine neue drei¬
jährige Reise durch Europa gemacht. Bereits bei seinem ersten Aufenthalt in Spanien
hatte er sich mit Hülfe kundiger Männer eine sehr reichhaltige und auserlesene spanische
Bibliothek angelegt, die er seit der Zeit mit rastlosem Eifer vermehrte. Ein solcher
Besitz ist nothwendig, um in einer im Ganzen wenig zugänglichen Literatur jene um¬
fassende und stets fortgesetzte Erkenntniß zu erwerben, die unumgänglich ist, wenn man
nicht der Phantasie freien Spielraum über das Wissen verstatten will. Er hat sich
eine Belesenheit in der spanischen Literatur erworben, wie man sie sonst in andern
Gebieten nur bei den classischen Philologen und bei unsern Germanisten antrifft. Um
sein Werk richtig zu würdigen, muß man stets seine Grundtendenz im Auge behalten.
Er wollte ein kritisch gesichtetes Material gewinnen in einem Gebiet, welches gerade in
seinen tieferen Beziehungen noch ein unentdecktcs Land war. Es war darum nöthig,
daß er Vieles vollständiger erzählte, durch Stellen belegte und in seinem Zusammen¬
hang einzeln erörterte, was man ans bekannteren Gebieten durch Andeutungen abmachen
kann. Bei der fabelhaften Productivität der spanischen Schriftsteller und bei der Noth¬
wendigkeit, wenigstens über das Meiste, was sie geschrieben, zu referiren, ist es leicht
begreiflich, daß an eine historische.Kunstform, wie man sie jetzt namentlich auf dem
Gebiete der Literaturgeschichte' zu erstrebe» Pflegt, nicht zu denken war. Auch wollen
wir nicht behaupten, daß ihn in der Auswahl seiner Mittheilungen, und namentlich
seiner Citate eine fest ausgeprägte, zweifellose Methode geleitet habe. Im Allgemei¬
nen ging er wol daraus aus. das weniger Bekannte und Zugängliche mitzutheilen,
aber auch selbst dieser Grundsatz konnte nicht strenge durchgeführt werden. Die
Aufgabe konnte überhaupt nur approximativ gelöst werden, und wenn man
davon ausgeht, so kommt anch in dieser Beziehung Ticknor ein sehr großes Verdienst
zu. Sein Hauptverdienst aber bleibt die kritische Feststellung des Materials. — Ob
seine Urtheile überall zu billigen seien, darüber sind die englischen Kritiker, bei denen
sich die romantische Schule etwas mehr als billig Einfluß verschafft zu haben scheint,
verschiedener Ansicht. Im Ganzen glauben wir, daß er seine Stellung vollkommen
begriffen hat. Zwar hält er streng an seinem amerikanischen sittlich-religiösen Princip
fest, und es fällt ihm daher nicht ein, sich in seinen Gegenstand ans die Weise zu ver¬
lieren , wie es unsre Romantiker gethan. Auf der andern Seite aber ist er im höchsten
Grade empfänglich auch für diejenigen Vorzüge, die seinem Princip fern liegen, und
seine Unparteilichkeit ist über jeden Vorwurf erhaben. Die pragmatische Analyse, die
er von einzelnen der bedeutenderen Erscheinungen giebt, ist musterhaft, und namentlich
stimmen wir ganz mit seiner Würdigung Lope de Vega's und Calderon's überein, bei
welchem Letztern er sich übrigens weniger aufhält, da er hier mit Recht eine größere
Bekanntschaft voraussetzt. Jene Dichter waren vor dem Richterstuhl der Geschichte nicht
allein schuldig, soweit das ganze Volk schuldig war, sie sind noch weiter gegangen! sie
haben, indem sie auf die Neigungen des Publicums speculirten, den Fanatismus einerseits
und die Frivolität andererseits noch über das gewöhnliche Maß hinausgetrieben und da¬
durch selbst in ihrer Zeit einigen Anstoß gegeben. Auch in dieser Beziehung stauben sie
tief unter Shakspeare, dem sowol in der absolutistisch-frivolen, wie in der puritanischen
Sittlichkeit seiner Zeit ein ziemlich bedenklicher Stoff überliefert wurde, der diesen Stoff
aber, wie es der wahre Dichter soll, durch seiue höhere Auffassung gereinigt und ver¬
klärt hat. — Ticknvr's Werk ist nicht zur Lecture, sondern zum Studium bestimmt.
Vielleicht wird in späterer Zeit, wenn die Wissenschaft erst eine breitere Grundlage ge¬
wonnen haben wird, ein Werk möglich sein, welches beide Anforderungen vereint; für
jetzt war es nicht möglich. — Der deutsche Herausgeber hat durch eine Mittheilung
von Erweiterungen und Zusätzen, die ihm theils vom Verfasser selbst zugesandt, theils
neueren Arbeiten entnommen sind, z. B. der spanischen Übersetzung des Werks, mehreren
Romanzcnsammlungen ze., so wie mehreren selbstständigen Abhandlungen von Ferdinand
Wolf und ihm selbst: Zusätzen, die fast ein Drittel des ganzen voluminösen Werks ausmachen,
seiner Uebersetzung den Werth einer Originalarbeit gegeben. So ausgestattet, wird es
wesentlich dazu beitragen, unsre unbefangene Würdigung einer fremden Literatur und
damit' unsre Selbstkritik zu fördern.
Morgens Kaffee mit marmorhartem deutschem Schiffsbrod, gegen welches sich
Commißbrod Semmel zu sein dünkte, Mittags Erbsen und Pökelfleisch, Abends
Thee und Schiffsbrod, und am folgenden Tage die Wiederholung und dann
wiederum Wiederholung, und hierauf einmal Bohnen oder Sauerkraut, und dann
Erbsen und abermals Erbsen, in dem düstern Zwischendecke eines dentsck ameri¬
kanischen Auswauderungsschiffeö.— Reichlicher, schmackhafter und wohnlicher, als wir
es durch unsre geleisteten Arbeiten verdienten, und sicherlich eben so gut, wenn
nicht besser, als es für den gezählten Preis verlangt werden konnte, war Bo-
arding und Lodging, wie es von einem amerikanischen Capitain auf einem ame¬
rikanischen Schiffe deutschen Bürgern, welche Deutschland verließen, um in Amerika
eine neue Heimath zu begründen, gereicht wurde; — Boardiug und Lodging war
wiederum die Losung, als wir amerikanisches Festland betraten, und am folgen¬
den Tage, als sich die zahlreiche Reisegesellschaft nach allen Richtungen zerstreut
hatte, schloß ein kleiner Theil derselben in der „Stadt Mannheim", Toulouse
Street, New-Orleans, den Bvarding-und-Lodging-Contract: ö Dollar die Person
wöchentlich.
Der Anblick eines New-Orleans'schen Markthauses mit seiner Umgebung läßt
den neuen Ankömmling ahnen, was er in seinem Boardiug zu erwarten hat.
Unter einem auf Säulen ruhenden Dache, gegen Regen geschützt, aber dem freien
Zutritt von Lust und Licht nicht verschlossen, liegen die mannichfaltigsten Waaren
zum Verkauf. Lange Reihen von Fleischbänken, daneben Geflügel, Wildpret und
Fische, Backwerk und Getränke, Gemüse und Früchte laden, mit einander wett¬
eifernd, zum Beschauen, Kaufen und Genießen ein. Wenn ich des Morgens kurz
nach Sonnenaufgang'langsam dem Markte zuschleuderte, lebten die Straßen schon
von einem bunten Gemische von Menschen, welche mit ihren Einkäufen beladen
nach Hause zurückkehrten. Dieser und Jener trug in der Hand eine verlöschte
Laterne, und hier und da suchten unter dem Dache des Markthauses brennende
Lampen mit dem Tageslichte zu wetteifern. Die Tafeln der Verkäufer waren
theilweise schon geleert und kündigten mir unzweideutig an, daß der Markt seinem
Ende entgegengehe, und daß, wer gut kaufen will, früher aufstehen müsse, als
ich. Ich bin daran gewöhnt, sogleich nach dem Aufstehen meinen Kaffee zu mir
zu nehmen; solche Gewohnheiten schließt man mit der Zeit in. sein Herz und läßt
nicht gern davon ab; nun war aber Kaffee und Frühstück in meinem Bvarding-
hause um 9 Uhr festgesetzt, was half also die liebe Gewohnheit? ich mußte mich
darein fügen, wie ich mich in manches Andere hatte fügen müssen, und war da¬
her in die bittere Nothwendigkeit versetzt, meinem raisonnireuden Magen für einige
Stunden Trost und Hoffnung einzusprechen. Aber freudig war die Ueberraschung,
als mir neben den mannichfachen Knchensorten ein großer messingener Cylinder
entgegenstrahlte, welcher zu gleicher Zeit nach Belieben Kaffee oder Chocolade
hervorsprudelte. Ein Picayune (ö Cent) wanderte aus der Börse in die Hand
des Cafetier, und dafür wurde Appetit und Durst durch eine Schale siedend¬
heißen Caffees, und der kleine Antheil Hunger durch so viel Kuchen gestillt, als
ich zu bedürfen glaubte.
Der Gemüsemarkt war spärlich im Vergleich zu den Märkten der deutschen
Städte, aber reichlich gegen die meisten Städte des nördlichen Amerika's. Dieser
Umstand findet seiue Erklärung darin, daß die Englisch-Amerikaner keine besonderen
Liebhaber dieser Speisen sind, während die Franzosen und Deutschen, welche sich
in New-Orleans in ziemlicher Anzahl vertreten finden, sich mehr zu denselben hin¬
gezogen fühlen. Im Allgemeinen weichen die Gemüse wenig von den deutschen
ab; die verschiedenen Kohlarten, Salat, Sellerie und Rüben sind am stärksten
vertreten, daneben, obgleich die erste Hälfte des Februar uoch uicht vorüber war,
grüne Erbsen und Kvizet Mark,o<Z8 oder süße Kartoffeln; letztere stehen in keiner
Weise zu unsren Kartoffeln, den sogenannten Iri-zd McüvW in verwandtschaftlicher
Beziehung, sondern sind die, Georginen ähnlichen Knollen einer Convolvulusart.
Nach IrisK Matoss dagegen wär wenig Nachfrage, da die Kön-et M-roch
in jeder Beziehung die Stelle derselben vertreten und dem Gaumen der Ameri-
rikaner, eben so wie dem der Deutschen und Franzosen, nachdem sie sich an den
süßlichen Geschmack gewöhnt haben, mehr zusagen. Völlig neu waren für mich
die violetten Früchte der Lg-A-Ma, einer Solanum-Art, welche von der Gestalt
eines Hühnereies häusig eine Länge von 6 Zoll erreichen. Sie werden in Schei¬
ben geschnitten, in Mehl gehüllt und in Butter gebraten, und fehlen selten auf
der Tafel der südlichen Amerikaner, welche sie aber wol weniger wegen ihres
Wohlgeschmacks, als ans Gewohnheit genießen. Die orangerothen Früchte einer
andern Solanum-Art waren als Salat weit wohlschmeckender. Dagegen konnte
ich an den länglichen, grünen Früchten einer Malven-ähnlichen Stande, welche
gekocht von so schleimiger Beschaffenheit sind, daß sie Faden ziehe», und in
diesem Zustande mit Essig und Oel vielen Amerikanern für besondere Delicatesse
gelten, nie einen besondern Geschmack finden. Der auf den Speisetafeln der
Amerikaner nie fehlende spanische Pfeffer war auch auf dem Markte in bedeutender
Auswahl anzutreffen. '
Was meine Aufmerksamkeit aber besonders in Anspruch nahm, das
war die reiche Auswahl von Südfrüchten und die geschmackvolle Anordnung,
in welcher sie sich dem Beschauer darboten. Niemals sah ich sie, wie bei
uns sast stets der Fall ist, wie Kraut und Rüben hingeworfen, vielmehr waren sie
zierlich in regelmäßigen Formen von Pyramiden oder als goldene Mauern, der
Größe und Qualität nach geordnet, aufgebaut; neben den südlichen Apfelsinen
prangten die nordischen Reiuetteäpfxl in einer Große und von einem Wohlgeschmacke,
wie man sie in Deutschland kaum finden mochte; daneben Feigen, Rosinen, Man¬
deln, Bmzilnnts, Peccanuts, Haselnüsse, Kastanien; auch die Beannnts, eine
Hülsenfrncht, welche geröstet der Kastanie und dem Cacao an Wohlgeschmack nahe
steht; die mehlige» Bananen und vor Allem die Cocosnüsse durften nie fehlen.
Die Verkäufer waren weiße Männer und gelbe, braune und schwarze Männer
und Frauen, Mischlinge vou Negern und Weißen oder Indianern, hier und da
indianische Weiber, welche Wurzeln und medicinische Kräuter, oder Körbe und
Fächer aus den Blättern der Palmito zum Verkauf anboten. Die Käufer waren
weiße Herren in schwarzen Leibröcken, den Handkorb am Arme, oder farbige
Männer und Frauen, einige der letztere» stattlich herausgeputzt, andere in schmuzige,
abgetragene Kleidungsstücke gehüllt. Die Sprache, welche man an den Tischen
der Verkäufer hörte, war hier rein englisch, dort der breite Negerdialekt, dort
französisch, hier hoch-, da platt-, dort schweizerisch-deutsch, hier und da spanisch,
und an einigen Stellen cinz'elne Worte aus dem Munde der Rothhäute — kurz
ein Gemisch der verschiedensten Mundarten, welches unwillkürlich an den babyloni¬
schen Thurmbau erinnerte.
Die Breaksast-Stunde nahte: mit hungrigem Magen, voll von Erwartung
der. Dinge, die da kommen sollten, passirte ich die Austerläden mit ihren hohen
Hausen von Leckerbissen, die kleinen, ärmlichen Gewölbe, in welchen-geröstete Kasta¬
nien zum Eintritt einluden, und die Ausstellungen von Pökelknochen, den Lieblings¬
speisen der Schwarzen. Mein Appetit war durch die mannichfachen Anschauungen
in hohem Grade angeregt, und sicherlich war es kein leichtes Werk, ihn zu be¬
friedigen; aber ich muß zur Ehre meines Bvarding gestehen: die Wirthin hatte
geleistet, was in ihren Kräften stand, und Gaumen und Magen hätten die Gour-
mandise besser studirt haben müssen, wenn sie durch Kaffee, Eierspeisen, gebratene
Austern, geröstete Bauanen und eine Auswahl verschiedener Braten nicht hätten
befriedigt werden können. Vollständig gesättigt, vielleicht vollständiger, als die
Regeln der Mäßigkeit vorschrieben, erhob ich mich, nicht ohne vorher den Ent¬
schluß gefaßt zu haben, Mnftig meinem Appetite mit mehr Energie entgegenzutreten.
Denn erst, nachdem ich des Guten fast zu viel gethan hatte, als das Klirren der
Schüsseln und das Rasseln der Messer und Gabeln nach und nach verhallt war,
als Einer nach dem 'Andern schweigend nach dem Hute griff und sich entfernte,
als Hand und Mund ihr Morgenwerk beendet hatten und dem Geiste überließen,
für das Uebrige zu sorgen, versetzte ich meine Gedanken vierundzwanzig Stunden
zurück in den dunkeln Raum des Steerage, zu gelbem Kaffee und schwarzem
Schiffsbrod, unter die heitere, jetzt aus einander gesprengte Reisegesellschaft des
James Edward. Zehn Wochen magere Schiffskost bildeten gegen eine Stunde
New-Orleans'sches Boardiug einen Contrast, den eine gewöhnliche Menschennatur
nur schwierig auszugleichen vermag; doch „Einmal ist kein Mal" gab mir zur
rechten Zeit Trost und Hoffnung, und deu Vorsatz der Mäßigkeit, den ich
seitdem gewissenhaft festgehalten habe. So entwöhnte ich mich allmälig
von Erbsen, Pökelfleisch und Schwarzbrod, und in demselben. Grade lernte
ich die nahrhaften Suppen, die grünen, frischen Gemüse, die Eierspeise« und
Austern, die Puter-, Hühner-, Hirsch-, Kalb-, Hammel- und Rinderbraten, die
Fische und Krebse, die Nüsse, Aepfel, Apfelsinen, Mandeln und Bananen, womit
vornehmlich die Mittagstafel der Stadt Mannheim reichlich besetzt war, meinem
Magen zuträglich machen, und hatte dadurch deu unermeßlichen Vortheil,
daß ich eben so wie von der leidigen Seekrankheit, so auch von der noch
leidigem und gefährlichen Landkrankheit der frischen Einwanderer verschont blieb.
Mancher meiner Reisegefährten erzählte mir später, wie er und seine Bekannten
lange von diesem Uebel heimgesucht wurden, und als ich einige Wochen später
in Galveston landete, ward mir die Trauernachricht überbracht, daß derselben
Familie, welche schon während der Seereise ihr jüngstes Kind in die Fluchen
des Meeres hinabsenken sehen mußte, im Laufe einer Woche die übrigen fünf
Kinder auf amerikanischem Boden von der Landkrankheit dahingerafft wurde».
Das war der Anfang, der neuen Laufbahn, das Glück, von welchem Vater, Mutter
und Kiuder geträumt, der Hoffuungsauker, der ihr Lebensschiff gegen Wind und
Wetter schützen sollte.
Am 21. Februar, einen Tag vor dem großen amerikanischen Nationalfcste,
Washington's Geburtstage, verließ ich mein Boardiug und Lodgiug und bestieg
das Dampfschiff Portland, um von New-Orleans zunächst nach Galveston zu
fahren, und von da eine Excursion in das Innere von Texas zu unternehme».
Da ich allein reiste und übrigens sowol in New-Orleans als in Galveston
ziemlich unbekannt war, da ferner meine Finanzen sich eben nicht in einem blühen¬
den Zustande befanden, so zog ich es wiederum vor, die Reise im Deck zu unter¬
nehmen. Ich hatte dadurch deu Vortheil, 12 Dollars in der Tasche zu behalten,
und ob man mich für einen Gentleman oder sür sonst Etwas ansah, war mir
unter den damaligen Verhältnissen ziemlich gleichgiltig. Die Passage in der
Cajüte kostete 20 Dollars; dafür erhielt man 2 bis 3 Tage eine raffinirte
Beköstigung und ein besonderes, mit einem guten Bette ausgerüstetes Schlaf¬
zimmer, während man sich als Deckpassagier für 8 Dollars der Erlaubniß er¬
freute, im unteren Deck zwischen.Kisten, Säcken und Hunden ein Plätzchen auf-
zusuchen, daselbst die mitgenommenen Provisionen zu verzehren, und während der
Nacht, wenn man so glücklich war', eine unbesetzte Stelle zu finden, sich auf dem
harten Fußboden auszustrecken; aus besonderer Zuneigung ließ mich wol der
gelbe Cajntenkoch diesem oder jenem Deckpassagier einige Tassen heißes Wasser,
oder von den Ueberbleibseln der Cajütentafel eine süße Kartoffel zukommen; das
contractmäßige Boardiug bestand aber in kaltem Trinkwasser, wovon man so viel
nehmen durfte, als man wollte.
Die Passagiere waren meist Californienfahrer, welche beabsichtigten, znerst
von New-Orleans nach Galveston, von da wiederum mit Dampfschiff nach Jndia-
nöla und hierauf zu Lande nach San Antonio zu gehen, um mit einer daselbst
zusammenkommenden Gesellschaft die beschwerliche Landreise zu. unternehmen. Die
Meisten warm Amerikaner, d. h. in Amerika geborene, englisch sprechende Weiße,
doch waren auch einige Deutsche und französische Creolen nnter der Zahl. Nach¬
mittags vier Uhr verließen wir den Hafen von New-Orleans, jenen Wald von
Masten und Schornsteinen, und hatten den andern Morgen, als wir von unsren
Lagern aufstanden, den Mississippi im Rücken und das Festland an der rechten
Seite, aber zu fern, als daß wir es mit bloßen Augen unterscheiden konnten.
Die Entfernung von New-Orleans bis zur Mündung des Mississippi, dem
Balize, wird 110 engl. Meilen gerechnet, und von da bis Galveston 360 ; da
nnn die Geschwindigkeit eines Dampfschiffes im Durchschnitt 10 engl. Meilen in
der Stunde beträgt, so hätten wir in 47 Stunden unsren Weg zurücklegen können.
Unsre Ankunft in Galveston wurde aber durch einen am dritten Nachmittage
eintretenden starken Nebel verzögert, so daß wir nur wenige Meilen von Galveston
entfernt, um uicht etwa auf Sandbänke zu gerathen, Anker werfen mußten; erst
am 24. Februar, Morgens 11 Uhr, konnten wir landen.
Von den verschiedenen Elementen, ans denen die Deck-Reisegesellschaft
bestand, zeigte nur ein Deutscher einige Verwandtschaft zu mir. Er hatte sich
2V2 Jahre in New-Orleans aufgehalten, sprach aber dessen ungeachtet noch gar
uicht englisch — ein Umstand, der darin seine Erklärung fand, daß er sich früher
durch einen längern Aufenthalt in Paris eine ziemliche Fertigkeit im Gebrauche der
französischen Sprache angeeignet, und in New-Orleans, wo man fast mehr fran¬
zösisch als englisch spricht, das Bedürfniß einer andern Sprache nicht gefühlt
hatte. Seiner Profession nach war er Horndrechsler, hatte sich aber während
seines Aufenthaltes in Amerika ans Mangel an hinlänglicher Beschäftigung in
manchen anderen Arbeiten versucht, indeß im Ganzen mehr verloren als erworben.
Dieser blieb mein Neisefährte bis in das Innere des Landes. Außer ihm suchte
sich noch ein anderer Deutschet, der früher in Deutschland Kaufmann, dann aber
in Louisiana und Texas als Farmer, Arbeiter, Gauner u. s. w. sich umherge¬
trieben hatte, an mich anzuschließen; da mir sein Charakter immer mehr und mehr
verdächtig vorkam, so lieh ich ihm spater 10 Cent und wurde ihn auf diese
Weise los.
Mit diesen Beiden nahm ich, als wir in Galveston landeten und gezwungen
waren, einige Tage auf ein Dampfschiff zu warten, welches uns von Galveston
nach Houston bringen sollte, um recht sparsam leben zu können, als Lodging ein
Waarenhaus ein. Der Fußboden war zwar gedielt, aber durch die Fugen sah
man das Meer; die Hinter- und Seitenwände bestanden ans Bietern, die Vorder¬
seite aus Latten. So lagen wir Drei, und außerdem ein junger amerikanischer
Schulmeister mit seiner hübschen Frau, und ein Farmer ans Arkausas mit Frau
und Kindern, die ihre Heimath verließen, um in Texas bessere Wohnplätze auf¬
zusuchen, zwischen Surupfässeru und Mehltonnen. Als ich den folgenden Morgen
erwachte, hatte ich mich mit meiner Steppdecke, die zu gleicher Zeit die Stelle der
Unter- und Oberbetten vertreten mußte, im Syrup herumbewegt. Zu unsrem
Aerger kam nun noch der Capitain des Dampfschiffes, dem dieses Waarenhaus
gehörte, und befahl uns drei Deutschen, unser Lodging zu räumen, während er
den beiden amerikanischen Familien aus Galanterie gegen die Damen gestattete,
noch längere Zeit darin zu bleiben. Hieraus verjagt gingen wir in ein anderes
Dampfboot, das unterdessen von Houston angekommen war, und brachten wirklich
hier, ohne wieder vertrieben zu werdeu, die Nacht hin, freilich wo möglich noch
erbärmlicher als früher, da der Fußboden eher einem Moraste, als einem gedielten
Decke ähnlich sah. Wir trugen aber alle diese Unannehmlichkeiten mit Gleich¬
muth und Humor, in dem Bewußtsein, daß wir Geld sparten. Außerdem hatte
es für mich, zumal da mich in Galveston keine Seele kannte, einen ganz
besondern Reiz, auch einmal zu erfahren, wie Kleider und Geldbeutel Leute
machen.
Das Galvestou-Houston-Dampfboot, welches wir jetzt betreten hatten, gewährte
Deckpassagieren noch weniger Bequemlichkeit als das New-Orleans-Galvestou-
Dampsschiff, indem man nicht einmal einen Platz finden konnte, um dem durch
die langen Mühsale >und Entbehrungen ermüdeten Körper einige Ruhe zu ver¬
schaffe». Der Preis für die Deckpassage war IV2 Dollar, für die Cajüte
3 Dollars. Mau rechnete 8 Stunden für die ganze Fahrt, und wir hofften dar^
nach, da wir ungefähr 3 Uhr Nachmittags Galveston verließen, gegen 11 Uhr
Abends in Houston einzutreffen. Doch auch jetzt wiederum stellte sich ein neues
Hinderniß in den Weg. Gegen 8 Uhr, als ich mich so eben auf meinem Koffer,
dicht neben der Maschine ein wenig niedergelassen hatte, zweifelnd, ob ich ver¬
suchen sollte, die Nacht schlafend oder wachend zuzubringen, hörte ich über und
neben mir ein Paar rasch auf einander folgende gewaltige Schläge, und geriet!)
in neue Zweifel: sollte ich die Flucht ergreisen, od'er sitzen bleiben? Da kam mir
die Maschine zu Hilfe: sie blieb stehen und ich blieb sitzen. Bald stellte es
sich heraus, daß die Achse des einen Schaufelrades gebrochen war. Einige
Stunden suchte man nun den Schaden wieder gut zu machen; da dies aber nicht
gelang, so wurde bei Anbruch des folgenden Tages mit einem Schaufelrade weiter
gefahren.
Sogleich, nachdem das Dampfboot gelandet hatte, beeilte ich mich, einen in
Houston ansässigen Freund, deu ich auf der Reise von Deutschland nach Amerika
kennen gelernt hatte, auszusuchen, um ihn in Betreff der Fortsetzung meiner Reise
und des Boardiug und Lodging in Houston zu befragen. Nach einem kurzen
Aufenthalte begleitete mich mein Freund S. zurück uach dem Dampfboote, wo
mein Reisegefährte, der Horndrechsler, das Gepäck bewachte. Wir luden unsre
.Koffer aus eine zweiräderige Drap und bezogen das von S. uns empfohlene
Houston-House, wo wir nach amerikanischer Sitte Boarding und Lodgiug vorher
veraccordirteu, und 75 Cent ü, Person für den Tag festsetzten.
Da von der Zeit unsres Einzuges, etwa 10 Uhr Morgeus, bis zum Mittags-
essen noch einige Stunden todtgeschlagen werden mußten, so hielt es S. für
das Zweckmäßigste, mich zu „triten" lroal,, bewirthen) und mir zugleich bei¬
läufig Gelegenheit zu geben, einen gebildeten Deutschen, der in wenigen Jahren
ein tüchtiger Amerikaner geworden sei, kennen zu lernen. A. war der Wirth
einer Schenkstube, die mau in Amerika allgemein mit dem ehrbaren Name LxoKanKe
belegt. S. tritete mich mit einem Glase Ale, und dann der Wirth mit einem
Glase, ich weiß nicht mehr, ob mit Rothwein oder sonst Etwas u. s. s.; es ge¬
sellten sich sodann noch andere Deutsche und Amerikaner hinzu, vou denen jeder
die übrigen tritete, während sie von mir als Fremdling keine Erwiderung der
Bewirthung annahmen. Dabei entspann sich zwischen mir und dem Wirthe ein
Gespräch, das uns bald zu einander führte. A. hatte ungefähr in derselben Zeit,
als ich in Halle die Naturwissenschaften cultivirte, in Berlin Jura studirt, und
kannte so Manche von meinen Uuiversitätsfreunden, die entweder von Breslau
nach Halle, oder umgekehrt übergegangen waren; in Folge eines Duells, bei
welchem er sich betheiligt hatte, wurde er von Breslau relegirt, und da aus diese
Weise der Fortsetzung seiner Studien ein Hinderniß in den Weg gelegt war, so
-hatte er es für das Räthlichste gehalten, nach Amerika auszuwandern, vorher
aber sich mit seiner Braut zu verheirathen. Er versicherte mir, daß er in einem
Jahre 300 Dollars zurückgelegt habe, und daß er dieses Geld nächstens verwenden
wolle, um deu Grund zu einem Geschäfte, das ihm mehr zusagen würde, zu legen.
Als ich ein halbes Jahr später wiederum ans einer Reise Houston passirte, war
die Schenkstube geschlossen; A. hatte eine Mädchenschule gegründet; ich besuchte
ihn in seiner Wohnung und lernte seine Familie kennen: ein Bild vou häuslichem
Glück, gegründet auf Liebe, Thätigkeit und Bescheidenheit.
Das Houston-House war ein Gasthaus mittleren Ranges, welches vielleicht,
wenn es in Deutschland wäre,, in seinen Einrichtungen sonderbar erscheinen
könnte, auf einen Deutschen aber, der im Zwischendecke eines Anöwandererschiffes
die See und nach der Landung andere fremdartige Schicksale passiren muß, keinen
besondern Eindruck machte. Daher kaun ich mich nicht erinnern, daß ich früher
jemals eine Sylbe darüber gesagt hätte, und erst jetzt, wo mich nur deutsche Gast¬
höfe umringen, fällt mir der Unterschied auf.
Der amerikanische Gasthof hat zur ebenen Erde, wie ein öffentliches Ver-
kaufslocal, sein unmittelbar auf die Straße ausmündendes Schenkzimmer, mit
einem Schenktische (bar), dahinter verschiedene Flaschen und Gläser, mit verschie¬
denen Getränken angefüllt, wobei Brandy und Wasser die Hauptrollen spielen.
Ueber dem Schänktische hängt eine Tafel mit der Aufschrift ,M eroclit", und
nicht weit davon auf einem Nebentische liegt ein großes Buch, in welches die
Schulden eingetragen werden; im Vordergrunde stehen einige Stühle, welche sich
die Gäste nach Bedürfniß aus dem Speisezimmer hervorgeholt haben. Das
Schenkzimmer oder der Zsrroom ist der Aufenthaltsort derjenigen Gäste, welche
im Gasthause logiren, und die auch eigentlich nur allein von den Stühlen Ge>
brauch machen, während die Trinkgäste an dem Bar herumstehen, und sich aus
den Flaschen, die ihnen auf ihre» Wunsch von dem LarKoepsr gereicht werden,
so viel zulangen, als sie wünschen. Jedes Glas kostet meist 3 Cent, in einigen
Localen 10 Cent. Die Gläser sind von der Form und der Größe unsrer kleinen
Wassergläser. Einen solchen Tumbler füllt der Gast sich selbst ungefähr bis zum
8ten oder neu Theile mit dem vorgesetzten Getränk, und gießt nach Belieben Wasser
hinzu. Dabei wird wacker getritet und eben so wacker revanchirt. Nach,einem
Aufenthalte, der nicht viel mehr'Zeit in Anspruch nimmt, als das Einschenker,
das Austrittkett in einem Zuge und einige Worte über Geschäfte und Politik
erfordern, verläßt man dann stillschweigend das Local, um entweder den Ge¬
schäften nachzugehen, oder um die Operation in einem andern Larroom z»
wiederholen.
Die Gäste schlafen, sobald sie uicht in Begleitung von Damen sind, oder
sobald sie sich nicht eine besondere Lvgirstube ausbedungen haben, in einem ge-
meinschaftlichen Schlafzimmer, in welchem lange Reihen von Bettstellen, die oft
nur ans 2 Böcken bestehen, aufgestellt sind; über diese sind Gurte oder Lein-
wand ausgespannt, und auf letzteren liegt eine Matratze von ,Mo88"; zur Be¬
deckung dienen wollene Flauclldecken oder baumwollene Steppdecken.
Wie überhaupt der Amerikaner praktischer ist als der Deutsche, so ist er es
auch in der Wahl der Mittel, seinen Körper gegen den Einfluß der Wärme und
Kälte zu schützen. In Texas und in allen südlichen Staaten hat man Feder¬
betten nicht nöthig, oder man wendet sie nur in Krankheitsfällen an; dagegen
hat Jeder für die Nacht eine Auswahl von wollenen oder baumwollenen Decken,
so daß er nach der Temperatur der Lust die Dicke oder die Anzahl, die ihm
gerade hinreichend erscheint, um comfortabel zu schlafen, willkürlich bestimmen
kann; ist die Hitze sehr groß, so vertritt ein leinenes Tuch die Stelle aller Be¬
deckung. Der Deutsche hingegen, wenigstens in den meisten Theilen unsres
Vaterlandes, macht zwischen Winter und Sommer keinen Unterschied, und schwitzt
daher im Sommer unter den dicken Federbetten, oder friert und trägt eine Er¬
kaltung davon, wenn die Füße im Schlafe die Bedeckung abwerfen, oder wenn
er die Federn von dem obern Theile des Körpers nach unten schüttelt.
Denselben Sinn sür Comfort zeigt der Amerikaner in seiner Kleidung. Im
Winter trägt der Farmer seinen blauen Flanellrock, während sich der Städter
gefütterter Röcke und Mäntel als Schutzmittel gegen die Kälte bedient; kommt
aber der Sommer, dann holt er seinen gestreiften baumwollenen Rock hervor,
und schämt sich nicht, da er nun einmal den Frack liebt, dieselben leichten und
hellen Zeuge auch zu diesem Kleidungsstücke zu verwenden; blau und weiß ge¬
streifte, oft ganz weiße Fräcke sind daher keine Seltenheit; ja er geht in der
Verwirklichung seines Sinnes sür Bequemlichkeit und Zweckmäßigkeit noch weiter:
er legt nicht allein in seiner Behausung, sondern in allen öffentlichen Localen,
sowol.in Gasthäusern, als in Material- und Galanteriewaarenhandlungeu, die Obcr-
bedecknug ganz ab, und wandelt in Hemdeärmeln einher; und dann rümpfen die
Damen wegen Verletzung des Auslandes eben so wenig die Nasen, wie in Deutsch¬
land, wenn sie an den Händen die vorderen Theile der Hemdeärmel als Mcmchetten,
oder durch die ausgeschnittene Weste die Chemisette sehen, vt>er wenn sich uns
die Arme der Damen ohne alle Bedeckung präsentiren. Dient nun eine zweck¬
mäßige Kleidung am Tage und eine entsprechende Bedeckung während der Nacht dazu,
die unangenehmen Einflüsse der Temperatur zu schwache«, so wenden die Herren
eben so wie die Damen gegen die Einwirkung der directen Sonnenstrahlen Sonnen¬
schirme an, nur daß erstere sich zu diesem Behufe der Regenschirme bedienen, die
sie zu Fuß und zu Pferde, bei Regenwetter und Sonnenschein als treue Begleiter
mit sich führen. Auch die Fächer, die theils sehr sein und kostbar sind, meist
aber von wohlfeilen Stoffe, den großen runden Blättern einer kleinen Palme,
durch die Hände der Indianer verfertigt werden, pflegen von Damen und Herren
ohne Unterschied in Wohnzimmern, öffentlichen Verkaufslocalen und Kirchen in
Bewegung gesetzt zu werden, und verbreiten vornehmlich in den heißen Mittags¬
stunden, die man meist der Ruhe widmet, angenehme Kühlung.
Die Bettstellen sind meist zweischläfrig, aber dann ziemlich so breit als lang,
und die zugehörigen Betttücher sind in einem Stück gewebt; auch die ein¬
schläfrigen Bettstellen sind größtentheils so breit als bei uns die zweischläfrigen.
Sie haben über sich'einen Himmel, an welchem Vorhänge Gefestigt sind. Während
diese in Deutschland, wo sie jetzt jedoch ziemlich aus der Mode gekommen sind,
den Zweck haben, neugierige» Augen den Zutritt zu verwehren, und daher von
ziemlich dickem Zeuge verfertigt sein müssen, sind sie in den südlichen Staaten von
Amerika allgemein und durch das ganze Jahr hindurch, mit Ausnahme der wenigen
Wintermonate in Gebrauch, von dünnen, durchsichtigen Stoffen, und so eng an
die Bettstelle und den Himmel anschließend, daß nicht die geringste Oeffnung
bleibt, wodurch die kleinen Blutsauger, die berüchtigten Muskito's, durchdringen
könnten. Diese Muskito's sind von der Größe unsrer Mücken, aber so zudring¬
lich und blutdürstig, daß mau ohne die genannten Vorkehrungsmaßregeln wol
schmerlich ruhig schlafen möchte. Sie halten sich gewöhnlich in der Nähe großer
Gewässer und Sümpfe ans, verbreiten sich aber von diesen aus mehrere Meilen
in das Land; in denjenigen Theilen von Texas, die nicht dicht an Flüssen liegen,
weiß mau von diesen Landplagen wenig. Da daS Bett zu dem vorzüglichsten
Mobiliar der Amerikaner gehört, und, wenigstens bei den weniger bemittelten
Klassen, meist in der Wohnstube die Stelle eines Sopha's vertritt, so vereinigt
sich in der geschmackvollen Form der Bettstelle und des Himmels und in der Vor-
zügliclckeit und Schönheit der Steppdecken ^juilts), welche oft ans künstlich an
einander gesetzten Läppchen von einem Kreise unter sich befreundeter Damen ver¬
fertigt werden, so wie in der Feinheit des Stoffes, aus dem der Musquetoebar
gewebt ist, ein großer Theil des Luxus des sonst so einfachen Amerikaners.
Die Matratzen find mit einem eigenthümlichen Stoffe gefüllt, den ich in
Deutschland nie gesehen habe, und der bei bedeutender Wohlfeilheit das Seegras
an Güte weit übertrifft und namentlich in Bezug auf Elasticität deu Roßhaaren
wenig nachsteht. Dies ist das,, was man in Amerika allgemein mit dem Namen
„IVloss" bezeichnet; keineswegs ist es aber mit den eigentlichen Moosen verwandt
und uicht einmal kryptogamisch, sondern verdankt seinen Namen nur dem Umstände,
daß es ähnlich wie Moos oder Flechten schmarotzend an Bäumen wächst, eine
den gemeinen Flechten ähnliche grünlich - blane Farbe und (freilich nur für den
oberflächlichen Beobachter) ähnliche Verzweigungen und Blätter zeigt. Dieses
,,Moos," zur Gattung '1'iIIiin<l8la gehörend, blüht im Mai mit kleinen unschein¬
baren, gelblich-grüne», dreiblättrigen Blüthen; seine Früchte sind längliche Kapseln,
die mit drei Klappen aufspringen. Indem es in dicken, oft 3—6 Fuß langen,,
aus vielfach verschlungenen und verzweigten Fäden bestehenden. Massen von den
Aesten der Bäume, vornehmlich der Eichen und der Magnolien, wie ein grauer
Mantel herabhängt, und das Laub der Bänme oft ganz den Blicken des Beobach¬
ters entzieht, verleiht es den Wäldern des ganzen, Südens von Nord-Amerika
bis etwa zum 32. Grade N. Br. einen eigenthümlichen, eintönigen, ja traurigen
Charakter und verhindert das Gedeihen dxr Wälder dadurch, daß es die Feuchtig¬
keit zurückhält und den Jnsecten mannichfache Wohnplätze gestattet; Alles zusammen
befördert in auffallender Weise die Fäulniß und Vernichtung. Daher sind die
Urwälder dieser Staaten uicht durch die Frische und Ueppigkeit des Lebens, sondern
vielmehr durch die mannichfaltigen Bilder des Vergehens und des Todes gro߬
artig; nur die niedrigen Kräuter und Gebüsche, die Schlinggewächse, der wilde
Wein, welche ihre Ranken bis ans die höchsten Spitzen der Bäume Hinanstreiben
und diese noch überwölben, und am Boden mit ihren armdicken Stämmen oder
ihren stachlichten Zweigen dem Wanderer den Zutritt verweigern, wuchern in
dunkelem Grün, und verursachen die seuchte, drückende Schwüle, welche Leben
über die vegetabilische Natur, aber Siechthum und Tod über die Menschen breitet
welche mit Axt und Pflug der Cultur die Bahn brechen, und zuerst Meuschen-
hütten da bauen, wo nur Würmer und Reptilien -ihre Stätte hatten.
Farmer und Neger, die beim Urbarmachen der Wälder hinlänglich Gelegen¬
heishaben, „Moos" von den gefällten Bäumen zu sammeln, verschaffen sich einen
Nebenverdienst dadurch, daß sie es zum Behuf der Matratzen zubereiten, und in
dieser Form in den Städten verkaufen. Zu diesem Zwecke muß die graugrüne,
der Fäulniß unterworfene und im getrockneten Zustande spröde Rinde entfernt
werden, so daß nur der holzige Kern, einen dünnen, elastischen Faden bildend,
zurückbleibt. Man gräbt das Moos daher in großen Massen in die Erde und
läßt die Fäulniß auf die Rinde einwirken, oder man sucht durch Kochen mit
Wasser dasselbe Resultat -zu erzielen. Nach dieser Vorbereitung wird es gezupft
und auch wol geklopft, um die Unreinigkeiten, welche aus Erde, Laub, Holz,
Früchten und vornehmlich aus dem erdigen Staube der Rinde bestehen, zu ent¬
fernen, und in der. Gestalt von langen, dunkelbraunen verzweigten Fäden zum
Stopfen der Matratzen verwendet. Möglicher Weise könnte dieses Product als
Handelsartikel, zum Ersatz d^r theuren Pferdehaare, einmal eine Rolle spielen;
bis jetzt haben sich wahrscheinlich die Höhe des Arbeitslohnes in Amerika, oder
sobald es erst in Europa bearbeitet werden sollte, der Mehrbetrag der Fracht,
welche sich ungefähr auf 1 Cent oder etwas mehr auf das Pfund belaufen
könnte, als Hindernisse für die Einfuhr in Europa entgegengestellt. Ein Matratzen-
machcr in New-Orleans erzählte mir, daß er eine kleine Ladung dieses Mooses
nach Paris gesandt, aber durchaus kein Geschäft damit gemacht habe.
Sobald man sich nun des Morgens von der Matratze erhoben hat und unter
dem Mnsquetvebar hervorgeschlüpft ist, geht man hinunter in die Hausflur oder
wol gar in den Hof, wo an der Wand mehrere Waschbecken in einem mit
Höhlungen versehenen Brete stehen; darüber hängen lange Handtücher, deren
Enden zusammengenäht sind, so daß sie wie eine Rolle ans einer horizontalen
Stange, an welcher sie hängen, herumgedreht werden können, und daß jeder
der Gäste das reinste Fleckchen aussuchen kann. Dieser Apparat kommt aus¬
schließlich den Inhabern des gemeinschaftlichen Schlafsaales zu, während die Be¬
wohner der einzelnen Zimmer besondere Waschbecken und Handtücher zur Be¬
nutzung haben.
Um 7 Uhr wird mit einer Glocke das Zeichen zum Breakfast gegeben. Wie
durch einen Zauberschlag ist der Speisesaal mit Gästen angefüllt; Jeder sucht
möglichst rasch einen Platz zu bekommen; der Wirth präsidire an dem einen Ende,
die Wirthin oder ein Adjutant des Wirths an dem andern Ende der Tafel.
Ersterer schneidet das Fleisch, meist Beefsteak, aber daneben auch andere Sorten,
und läßt die Mehl- und Eierspeisen herumgehen, letztere ist die Herrscherin über
die Kaffee- und Theekanne. So schnell als möglich sucht Jeder die erste Tasse
hinunterzugießen, reicht schweigend der Wirthin die geleerte Tasse, welche sie
wiederum füllt, und ißt mit einer Hast, daß man glauben möchte, es handele
sich um Leben und Tod. Diese Eile im Essen ist allerdings den Amerikanern
eigenthümlich, aber der Deutsche, ohne Selbstgefühl und stets der Nachahmer
fremder Nationaleigenthümlichkeiten, legt sich in seiner Sucht, als Amerikaner zu
erscheinen, mit Energie auf die Einübung' dieser Fertigkeit, und übertrifft seiue
Lehrmeister. In einem Zeitraume von ö bis 8 Minuten ist ein deutsch-ameri¬
kanisches Frühstück beendigt. Das Mittags- und Abendessen stimmt ziemlich mit
dem Frühstück überein, nnr daß bei ersteren eine größere Auswahl von Fleisch¬
sorten stattfindet, während die Kaffeekanne auch oft paradirt, und bei letzterem der
Thee die Stelle des Kaffees vertritt. Kaffee und Thee trinkt der Amerikaner,
und natürlich auch der Deutsch-Amerikaner, anders als der Deutsche; Beide freilich
lassen ihn durch die. Kehle zum Magen gelangen, aber während der Deutsche mit
wenigen Ausnahmen aus der Obertasse trinkt und sich der Untertasse nur bedient,
um die Obertasse hineinzusetzen und den Tisch nicht zu beflecken, vertritt die Ober¬
tasse bei dem Amerikaner die Stelle einer Privatkanne, aus welcher er eine ge¬
ringe Quantität des Getränkes in die Untertasse gjeßt; diese setzt er sodann an
den Mund und leert sie aus. Daher sind erstere beträchtlich größer als die
deutschen, ohne Henkel und von der Form kleiner Terrinen. Zucker wird viel
genossen, aber sast nur als Muscovado oder Farinzucker, da die Zuckerraffination
in Amerika noch in der Wiege liegt, und feiner Zucker daher hoch im Preise steht.
Von diesem Boarding and Lodging der Königin des ost-texanischen Handels
schweift die Erinnerung hinüber nach Westen in das endlose Prairiemeer.
Nachdem wir mehrere Tage lang kahle und üppig grüne Grasflächen durch-
wandert und nur selten am Rande eines Baches einige schmale Reihen von Bäu¬
men und in weiter Entfernung hier und da ein niedriges, hölzernes Farmer¬
häuschen mit seinem eingefenzten Felde zu Gesicht bekommen hatten, langten wir
an dem breiten, mit dichtem Urwalde bewachsenen Brazosbottom an. Diese Bottom-
Wälder sind weit dichter und üppiger als die hochliegenden Wälder, und der
Boden derselben ist, nachdem er urbar gemacht ist, besonders für Zuckerbau sehr
geeignet. Den Eingang in diesen Wald bildete ein sehr tief fließender Bach;
über denselben harte der Brazos-Fährmann, der nebenbei Boardingkeeper ist, eine
hölzerne Brücke bauen lassen^ und eben so hatte er durch den dichten Urwald eine
mehrere Meilen lange Straße durchgeschlagen — Alles dies auf seine eigenen
Kosten, um dadurch die Möglichkeit, sein Geschäft ausüben zu können, zu erlangen;
denn die Fähre über den Fluß ist nutzlos, sobald nicht zugleich ein Weg durch
den Wald geöffnet ist. Außerdem trieb ihn aber die Concurrenz dazu, den Weg
so viel als möglich fahrbar zu machen; denn einige Meilen nördlich bei San
Felippe führt eine andere Fähre über den Brazos, und die Reisenden wählen
natürlich die Straße, welche vornehmlich für das Fuhrwerk am leichtesten passirbar
ist. Dessen ungeachtet war der Boden an einigen Stellen so morastig, daß die
Räder des Wagens, den wir zufällig am Rande des Bottoms trafen, oft über
einen Fuß tief einsanken, und wieder an anderen Stellen, wo das Wasser weniger
und die Sonne mehr Zutritt gehabt hatte, waren die Fahrgleise so tief und dabei
der Boden so hart, daß wir genöthigt waren, die Gleise mit Baumästen aus¬
zufüllen, um den Wagen hindurch zu bringen. Endlich, als der Abend ankam,
hatten wir den Brazos und somit die Fähre erreicht, aber den ganzen Tag nicht
mehr als 6- 8 englische Meilen zurückgelegt. Da wir an diesem Tage nicht weiter
kommen konnten, so beschlossen wir, bei dem Fährmanne, einem geborenen,
Amerikaner, zu übernachten.
' Unter der Galerie des einfachen Blockhauses saß die Lady, ein rundes
Frauchen mit einem nichtssagenden Gesichte, ziemlich unsauber gekleidet und ein
kurzes Thonpfeifchen im Munde; neben ihr,spielte ein. eben so unsauber gekleidetes
Kind; sie selbst war beschäftigt, zwei Stücke Leinwand zusammenzunähen. Da
sie sehr oft das Nähen unterbrach, um den Rauch ihrer Tabakspfeife zu betrachten,
so konnte man schließen, daß ihr die Arbeit viel Mühe machte. Bei unsrer An¬
näherung blieb sie ruhig sitzen., und als wir sie möglichst freundlich begrüßten,
nickte sie ein klein Wenig mit dem Kopfe. Trotz unsrer eifrigen Bemühungen,
unsunit ihr zu unterhalten, gelang es nur schwer, ein Ve8 Sir oder 8ir,
oder wenn unsre Bemerkungen ihr zu gelehrt oder unamerikanisch erschienen, ein
bloßes 8ir? dann und wann hervorzulocken. Da fiel es meinem Reisegefährten,
dem Drechsler, ein, eine Spieldose heimlich aufzuziehen und in der Tasche must-
ciren zu lassen. Dies war ihr Etwas, das durchaus über ihren Horizont hin¬
ausging; sie horchte, staunte, lachte und machte ihrem Herzen nun durch vieles
Fragen Lust. Sie wollte durchaus die Nusiodox ihr Eigenthum nennen, aber
der Preis von 10 Dollars war ihr nnerschwingbar, und so fing sie an, Vorschläge
zum Täuschen zu machen. Bald waren weiße Arbeiter und Neger mit ihren
Kindern, so wie die Familie eines benachbarten Grobschmieds um uns, oder viel¬
mehr um die Nusiebox versammelt: Alles war Freude und Staunen. Unterdessen
war der Mann gekommen. Er lud uns ein, uns mit ihm an das Kamin zu"
setzen, in welchem ein Holzblock von nicht nttbedeuteuden Dimensionen loderte.
Der Gegenstand der Unterhaltung war aber nicht etwa Politik oder Farmerwirth¬
schaft, sondern die Nugiebox. Die kleine runde Frau bestürmte den Mann mit
Bitten, die Masiewx zu kaufen; aber auch er konnte nicht helfen; Geld hatte er
nicht, wie er sagte, oder wollte wenigstens den verlangten Preis nicht zahlen,
und von anderen Gegenständen war nur etwa ein Ochse oder eine Kuh von
gleichem Werthe, und diese wollte natürlich mein Kamerad als schwierig trans¬
portable Gegenstände nicht annehmen. So blieb die Sache beim Alten.
Als Zeugniß für den vortrefflichen Charakter dieser Lady erzählte mir der
Grobschmied folgende Anekdote. Ihr Mann, der Fährmann, besaß einen Neger¬
sclaven, einen körperlich wohlgebildeten Menschen von einnehmenden Aeußern und
wirklich gentlemanartiger Haltung, dieser hatte sich mit .einer Negerin, die
ebenfalls im Besitz deö Fährmanns war, verheirathet, und ans dieser Ehe war
mit der Zeit eine ziemlich starke Familie hervorgegangen. Die Herrin war ans
irgend einem Grunde dieser Familie nicht gewogen und warf wol auch ein nei¬
disches Ange auf sie, weil sie durch Melonen und andere Erzeugnisse, die sie auf
dem ihnen angewiesenen Feldchen zogen, bisweilen einige Cents erwarben. Um
sich der Mühe, wiederum neidisch zu werden, zu entheben, schnitt die Lady eines
Tages die unreifen Melonen der Neger ab und raubte thuen so die Aussicht auf
den geringen Nebenverdienst. Ihr Mann machte ihr nun wegen ihres Benehmens
Vorwürfe. Da sie glaubte, es sei ihr Unrecht geschehen, so verließ sie Abends
heimlich das Hans ihres Mannes, ließ sich,.über den BrazvS fahren, klagte ihren
jenseits des BottomS wohnenden Aelt.ern ihre Noth, und erklärte, sie wolle sich
von ihrem Manne trennen. Der Vater jedoch, ein strenger und vernünftiger
Mann, gewährte ihr kein Nachtquartier, soudern schickte sie sogleich wieder zurück.
An der Fähre angekommen, rief sie bittend und flehend über den Fluß hinüber
nach ihrem Manne; dieser ließ sie aber jenseits des Brazvs die ganze Nacht
hindurch warten, und nahm sie erst am folgenden Morgen als bußfertige
Sünderin in sein Hans ans. Diese..Lection soll sie ein wenig verständiger gemacht
haben. —
Nachdem wir zur Abendmahlzeit unsern Kaffee, Maisbrod, gebratenen Speck
und gesalzenes Schweinefleisch, diesmal bei Tafelmusik, verzehrt hatten, legten wir
uns nieder. Nach amerikanischer Sitte waren die Betten zweischläfrig, und ich mußte
mit meinem Reisegefährten zusammenschlafen; das Bett stand dicht am Fenster,
welches während der Nacht nicht geschlossen werden konnte; die Nacht war feucht
und kalt, und wir hatten als Bedeckung nur eine einzige Steppdecke; eine Folge
davon war, daß ich, des amerikanischen Landlebens noch ungewohnt, von einem
heftigen Schnupfen und Husten befallen wurde, von dem ich mich erst nach meh¬
reren Wochen wieder befreien konnte; aber während dieser Zeit härtete ich meinen
Körper gegen solche Einflüsse so ab, daß ich später, obgleich ich mich wei
größeren Unannehmlichkeiten unterziehen mußte, nie wieder ähnliche Einwirkungen
erfahren-habe.
Um zu beweisen, wie nahe Wellington cun Räude des Verderbens gestanden,
wenn der Verräther Grouchy seine Schuldigkeit gethan hätte, und wenn Blücher
anständig genug gewesen wäre, sich bei Ligny für vollständig geschlagen zu halten,
und seinen Rückzug nach Namur zu nehmen, wie es Napoleon voraussetzte, haben
die Franzosen auch noch die Fabel erfunden, daß Wellington, außer Stande, seinen
Rückzug weiter fortzusetzen, die Stellung bei Mont Se. Jean in der letzten Noth
eingenommen, und riskirt habe, im Falle einer Niederlage gegen die ungangbaren
Desileeu des Waldes von Svigne geworfen zu werden, wo sicherer Untergang
seiner Armee geharrt hätte. Es ist recht Schade, daß eine so affectvolle
Gruppirung der Möglichkeiten nicht der Wahrheit geniijß ist. Die Stellung von
Mont Se. Jean, anstatt ein verzweifelter Nothbehelf zu sein, war schon lange
vorher wegen ihrer Vorzüge als militairische Position ausgesucht. Schon vor
Beginn der Feindseligkeiten hatte Wellington das ganze Terrain zwischen der
Grenze, und Brüssel von Ingenieurs bereisen, und die zur Annahme einer
Schlacht am meisten geeigneten Positionen aufnehmen lassen. Unter Anderen
hatten Capitain Pringle und Oberst Wells bereits am 8. Juni an Ort und Stelle
eine Karte vom Schlachtfelde von Waterloo entworfen, und in diese Karte zeichnete
der Herzog während des Rückzugs am 17. die von den englischen Truppen ein¬
zunehmenden Positionen ein. Ueberhaupt.war es von Haus aus Wellington's
Vorhaben, sich bei Waterloo zum zweiten Mal zu setzen, wenn man von Ligny
zurückweichen müsse. Was den angeblich undurchdringlichen Wald von Soigne
betrifft, so muß schon der Umstand, daß ein so vorsichtiger Feldherr, wie Lord
Wellington, nach reiflicher Erwägung sich vor demselben einer überlegenen Macht
entgegenstellt, gegen die französische Angabe argwöhnisch machen. In der That
war, wie sachkundige Zeitgenossen, z. B. Müffling, der als preußischer Commissär
in Wellington's Hauptquartier verweilte, berichten, der Wald von Soigne durch¬
aus kein Hinderniß eines Rückzugs, sondern im Gegentheil vortrefflich geeignet,
ihn zu decken. Er war, wie alle flandrischen Holzungen in jener Gegend, ein
hochstämmiger, offener Buchenwald ohne Unterholz, also der Vertheidigung durch
leichte Infanterie besonders günstig, von drei guten Chausseen, »ud auch anderen
für Reiterei tauglichen Nebenwegen durchzogen. Wäre daher auch der Herzog
zur Räumung seiner Stellung gezwungen worden, so konnte er ruhig seine Artillerie
und seine Reiterei ans den drei Chausseen durch den Wald gehen lassen, während
eine einfache Besetzung desselben dnrch Tirailleurs jede Verfolgung gehemmt hätte;
denn es ist gewiß nicht leicht, entschlossene Soldaten aus eiuer offenen Buchen¬
waldung zu vertreiben, wo jeder Baum einem Scharfschützen Schutz gewährt;
und wo die gänzliche Abwesenheit von Unterholz die fteieste Umsicht gestattet, dem
Feinde daher keine Gelegenheit zur Umgehung, dem Angegriffenen aber jede zum
rechtzeitigen Rückzüge läßt. Unter den Maue.rü von Antwerpen konnte dann
immer noch die Ankunft der Oestreicher und Russen abgewartet werden.
Vor dem Walde von Svigne hielt Wellington einen mäßigen Landrücken
besetzt, der sich vou rückwärts Papellote bis an die Straße von Nivellcs sast halb¬
mondförmig erstreckt, und dessen Mitte von der großen Straße von Genappe nach
Brüssel durchschnitten wird. Das Terrain dacht sich sanft nach vorn ab, und aus
diesem Abhang und in der Tiefe lagen S00 bis 1000 Schritt vor der Front ans
dem rechten Flügel die Meierei oder das Schloß Hougoumout, in der Mitte an
der Chaussee die Meierei La Haye Sainte, und vor dem linken Flügel La Haye,
sämmtlich als vorgeschobene Posten zur Vertheidigung eingerichtet, und den Zugang
zu der eigentlichen Stellung ans der Hohe mehr oder weniger beherrschend. Letzteres
war vorzüglich mit La Haye Sainte und Hongonmont der Fall. Außer den vor¬
geschobenen Posten war nur der Abhang mit Tirailleurs besetzt, die Masse der
englischen Armee stand hinter dem Kamm, dem Auge des heranrückenden Feindes
gänzlich entzogen. Die Stärke des englisch-Mitten Heeres betrug 68,000
Mann, darunter jedoch nur etwa 23,000 Engländer. Von "den übrigen gehörten
die 6000 Mann starke englisch-deutsche Legion zu Wellington's besten Kerntruppcn,
die 7—8000 Braunschweiger und Nassauer waren ebenfalls gut, die Hannoveraner
waren uoch ganz junge Truppen, die Niederländer durch die Beimischung belgischer
Conscribirter nicht ganz verläßlich.
2300 Schritt weiter südwärts erhebt sich ein ganz ähnlicher Höhenzug, der
ebenfalls halbmondförmig östlich von Frischermont bis vor Hongonmont geht.
Hier stellte Napoleon seine 72,000 Mann in zwei Treffen, mit den Garden als
Reserve, auf. Seine Rückzugsstraßeu waren die Chausseen vou Charleroi und
Nivelles hinter seiner Mitte und in seiner linken Flanke. In seiner rechten Flanke
führten zwei Wege von Wavre über Se. Lambert, und einer über Cvuture in den
Rücken seines rechten Flügels und die Nückzugsstraße schon beherrschend nach
Planchcnoit.
Schon am 17. hatte Wellington die Zusage von Blücher erhalten, daß dieser
ihm den folgenden Tag mit dem größten Theil seiner Armee zu Hilfe ziehen
wolle, und ehe am 18. noch ein Schuß gefallen war, traten Patrouillen vom
Bülow'schen Corps mit den Vorposten des äußersten linken Flügels in Verbindung,
und verkündeten die nahe Ankunft der Bundesgenossen. Damit war Wellington
seine Rolle in dem großen Schlachtendrama vorgezeichnet. Ihm fiel der defensive
Theil zu, er mußte alle Vortheile des Bodens anf's Aeußerste erschöpfen, und
die gänzliche Zertrümmerung der durch seinen hartnäckigen Widerstand zerrütteten
französischen Truppen den frisch heranrückenden Preußen überlassen, die er als
seine letzte, den Kampf entscheidende Reserve betrachten mußte.
Nach Napoleon's eigener Angabe zögerte er mit dem Angriff bis gegen
11 Uhr, um erst den von dem Regen der vorhergegangenen Nacht durchnäßten
Boden abtrocknen zu lassen, damit die Kavallerie ungehinderter manöverircn könne.
Natürlich galt es, zuerst die vorgeschobenen Punkte zu nehme», und zu dem Ende
setzte sich Rente gegen den rechten, Erlon und Lobau gegen die Mitte, und zwei Divi¬
sionen des. 1. Corps gegen den linken Flügel der Engländer in Bewegung. Letzterer
Angriff war nur eine Demonstration, dagegen entspann sich ein sehr heftiges Ge¬
fecht ans dem rechten Flügel um Hougonmont, das jedoch trotz großer Verluste
beständig in den Händen der Engländer blieb. Der Hauptangriff galt dem
Centrum mit drei Divisionen, und findet zwei Stunden später statt. Eben sollte
er beginnen, als Napoleon ans den Höhen von Lambert die herannahenden Preußen
unter Bülow gewahrt, zu deren Abwehr er die Cavalleriebrigade Domont in
seiner rechten Flanke vor dem Holze von Paris einen Haken bilden läßt. Seiner
Meinung nach von dieser Seite hinlänglich gesichert, ließ er jetzt den Angriff auf
das Centrum beginnen. Wirklich gelang es deu Franzosen, eine Brigade der
holländischen Division Perpvucher über den Haufen zu werfen, aber Platon treibt
'sie zurück, und die englische. Cavallerie richtet fürchterliche Verheerungen unter
ihnen an, bis Milhaud's Kürassiere zu Hilft eilen. Mehrere Stunden lang wogt
das Gefecht um La Haye Sainte; die Angriffe auf das Centrum werden mit
der größten Wuth und besonders nnter verschwenderischer Verwendung von Ca-
'vallericmassen auf französischer Seite fortgesetzt, so daß diese oft die ganze Front¬
linie der englischen Position in Besitz hat, und in dichteu Schwärmen um die
festgeschlossenen Carros herumwogt. Aber immer noch halten Hougoumvut und
La Haye Sainte aus, Ney's Infanterie ist von dem stundenlange» Kampfe er¬
schöpft, und schon sammeln sich die Preußen immer drohender in Napoleon's
rechter Flanke, so daß er ihnen ein ganzes Corps unter Lobau entgegenschicken
muß. .Nun beschließt Ney, seine letzte Division Donzelet gegen La Haye Sainte
zu verwenden, das Baring init seinen wackeren deutschen Schützen vertheidigt, bis
er buchstäblich keine Patrone mehr zu verschießen hat, und sich den Rückzug mit
dem Nest seines tapfern Häufleins mit dem Bayonnet bahnen muß. Die Weg¬
nahme dieses wichtigen Punktes bereitete neue Stürme auf das englische Centrum
vor, welches Ney abermals durch ungestüme Cavallerieangriffe zu durchbrechen
sucht, und wozu er nicht nur die Kürassiere von Milhaud und die Division von
Lefevbre Desnonettes, sondern auch Kellermann und Guyot verwendet. Damit
war bis auf die Garde die ganze französische Armee in's Gefecht gebracht, und
dennoch blieb es im Centrum immer noch bei einem verzweifelten Anstürmen gegen
die wie Mauern stehenden englischen, braunschweigischen und uassanischen Carres,
während die Preußen immer mehr im Rücken der rechten Flanke anrücken.
Dauernde Erfolge konnte Ney um so weniger erringen, als es ihm an Infanterie
fehlte, um die von der Cavallerie erstürmten Positionen zu behaupten. Meistens
ist man der Meinung, daß die Engländer nur, diese Zeit auf das Aeußerste er¬
schöpft gewesen wären, und da sie deu Franzosen Nichts mehr entgegen zu setzen
hatten, ans den Punkt gestanden hätten, die Schlacht verlieren zu müssen. Aller¬
dings waren die ersten Tressen Wellington's stark decimirt, Regimenter waren zu
Bataillonen, Bataillone zu Compagnien geworden; aber es waren immer noch
einige frische Truppen da, wie die- Division Chassve, die 10. englische Brigade,
die Cavalleriedivision Cvllaert u. s. w. Bei der großen Zerrüttung der fran¬
zösischen Streitkräfte und der vorteilhaften Stellung der Engländer genügten sie
wenigstens, vor einem nachtheiligen Rückzug zu retten.
Wir müssen uus jetzt, ehe wir die Katastrophe der Schlacht beschreiben, erst
zu den auf dem linken Flügel Wellingtons anrückenden Preußen wenden. Als
am 17. Blücher seine vier Corps bei Wavre versammelte, nud sich vom Feinde
gar nicht verfolgt sah, beschloß er sofort den.Rechtsabmarsch- mit seiner ganzen
Armee. Bülow mit dem vierten Corps sollte zuerst über Se. Lambert gegen
Planchenoit vordringen, das zweite ihm folgen, das dritte über Couture ebenfalls
gegen Planchenoit rücken, Ziethen dagegen den linken Flügel Wellington's unter¬
stützen, also 70,000 Mann in die rechte Flanke und den Rücken Napoleon's
geworfen werden. Das dritte Corps wurde jedoch, als es abrücken wollte, von
dem Erscheinen Grouchy's in Wavre festgehalten. Das Bülow'sche Corps hatte
seinen Marsch schon um 7 Uhr früh angetreten; kaum aber war die Avantgarde
dnrch Wavre hindurch, so entstand in dem eine einzige Straße bildenden Städtchen
ein Feuer, das den Marsch des übrigen Corps mehrere Stunden laug aushielt.
So kam es denn, daß die preußischen Vortruppen schon früh um 11 Uhr mit
Wellington in Verbindung treten konnten, ohne daß das Hauptcorps nachrückte,
da von dem gezwungenen Stillstand desselben ununterrichtct die Avantgarde ihren
Marsch fortgesetzt hatte. Endlich konnte sich Bülom wieder in Marsch setzen, aber
es war keine leichte Sache, das neue Schlachtfeld zu erreichen. Schon vor Se.
Lambert war wegen der schlechten Wege der Marsch höchst mühsam; aber in den
noch grundloseren Defileen der Lahne wurde es noch viel ärger. Mit jedem
Schritt sanken die Marschirenden bis über die Knöchel in den Schlamm; die
Pferde glitschten alio und stürzten; Kanonen und Fuhrwerke blieben im Morast
stecken, und die Truppen mußten selbst Hand anlegen, um sie wieder herauszu¬
arbeiten; denn der fette Boden dieser Niederungen war durch die starken Regen
der vorhergehenden Tage in einen Brei verwandelt, und jede Diviston machte die
Wege für ihre Nachfolger ungangbarer. Aber die geduldige Ausdauer der
Preußen war ebeu so groß wie ihre Tapferkeit, und beständig durch Blücher's
energische Zusprache angefeuert, setzten sie unermüdlich ihren mühseligen Marsch
sort, und endlich zwischen i—ö Uhr Nachmittags debouchirle die Spitze des
Hauptcorps aus dem Walde über Frischermont. Sofort besetzte das schlestsche
Husarenregiment, unterstützt von zwei Jnfanteriebataillonen, das Gehölz von
...^
Paris, den Anmarsch der übrigen Brigaden erwartend. Sie blieben wegen der
immer schlechter werdenden Wege ziemlich lange ans, als aber Blücher von der
Höhe die steigende Noth des englischen Centrums sah, befahl er Bülow mit seinen
zwei Brigaden Lobau anzugreifen, der mittlerweile den rechten französischen Flügel
verstärkt hatte. Bald laugen noch zwei Brigaden an, und der Angriff beginnt
gegen fünf., war aber wegen der zu sehr ausgedehnten Front von Smohain bis
Planchenoit nicht kräftig genug. Dennoch muß Lobau Anfangs bis jgegen Belle
Alliance zurückweichen, und Planchenoit geht verloren, wird aber von Duhesme wieder
gewonnen. Das war um die Zeit wo Ney, seinen 'glücklichen Angriff auf La
Haye Sande machte.
Jetzt vielleicht uoch, gewiß aber früher hätte ein anderer Feldherr als
Napoleon die Schlacht abbrechen, und von seinen Gardenreserven gedeckt, den
Rückzug antreten können. Aber es war eben das Verhängnis) von Napoleon's
politischer Lage, daß er lieber das Aeußerste wagen mußte, als die Entscheidung
länger aufschieben durfte. Nicht nur jede Niederlage, sondern jeder unvollständige
Sieg ermuthigte und stärkte die ihm feindlichen Parteien in Frankreich, und jeder
Tag Aufschub führte die erdrückende Uebermacht des ganzen bewaffneten Enropa's
dem Kampfplatz näher. Deshalb mußte er die letzten Kräfte anspannen,um wenigstens
die Heere der beiden Nationen, die sich stets am eifrigsten im Kriege gegen ihn
gezeigt hatten, kampfunfähig zu machen.
Vor sich in der Tiefe sah Napoleon, wie Ney nach der Wegnahme von
La Haye Sainte von Neuem, gegen das englische Centrum anstürmt, und wendete
nnn den Blick nach Planchenoit, wo zwei Divisionen der jungen Garde unter
Duhesme die Preußen mit Uebermacht wieder Heranstreiben. Aber weiter hinten
glänzt das ganze Gehölz von Paris von feindlichen Bayonetten; und längs des
Wegs von Wavre in der Richtung auf Smohain, und im Rücken des englischen
Heeres gegen Papelvtte rücken neue Colonnen heran. Ehe sie ankommen, gilt
es einen letzten Versuch zu machen, die Engländer über den Haufen zu rennen.
Von den zwölf noch vorhandenen Bataillonen Garden werden acht zum Angriff
bestimmt; ihnen soll sich anschließen, was von Erlon's und Rente's Corps an
Infanterie noch übrig ist, und die nothdürftig gesammelte Kavallerie als Reserve
folgen. Während dieses Ungewitter sich gegen die englische Armee zusammenzieht,
trifft auch Wellington Vorsorge ihm zu begegnen. Die Ankunft Ziethen's auf
seiner jucken Flanke erlaubt ihm, die beiden dort stehenden englischen Cavallerie-
brigaden nach dem Centrum und dem rechten Flügel zu ziehen, wo nun auch
Chassee in die Linie rückt. Ein fürchterliches Geschützfeuer lichtet die Bataillone
Wellington's. Botschaft nach Botschaft um Verstärkung schicken ihre Führer an
den Feldherr», aber immer lautet die Antwort: „Verstärkungen habe ich nicht
mehr — ihr müßt aushalten, und Alles wird gut gehen!" Ermuthigend reitet
der Herzog von Bataillon zu Bataillon, und findet Alles zum äußersten Wider-
stand gefaßt. Er wußte, daß es der letzte Anfall sein mußte, denn schon erkennt
er aus der Richtung des Feuers, daß die Preußen sich vou Neuem in Planchenoit
festgesetzt haben.
Endlich setzte sich die gewaltige Angriffscvlonne, von Ney persönlich ange¬
führt, in Bewegung; an Hougoumont vorbei rückt die Garde heran, hinter La
Haye Sande hervor bricht Dvnzelet und Rente, und weiter rechts entfaltet sich
Erlon zum Angrisse, von der ganzen noch verfügbaren Kavallerie gefolgt. Wirk¬
lich erreicht die Garde den Höhenrücken, um dessen Besitz heute schon so blutig
gekämpft worden ist, aber bereits erschüttert von dem englischen Geschützfeuer,
kann sie dem Bayvnettangriff der englischen Garde nicht widerstehen, und wird
wieder in den Grund hinabgeworfen, wo ein Angriff von Vivian's Husaren sie
vollends in Verwirrung bringt. Schon hat Ziethen den rechten französischen
Flügel ganz zusammengeworfen, und nun brechen auch die Preußen aus Plauche¬
noit hervor, während die ganze englische Linie vorrückt. Keine Reserve ist mehr
vorhanden, um sich dem zugleich in der Front, in der rechten Flanke und im
Rücken stattfindenden Angriff entgegenzusetzen, das Geschütz steht verlassen aus
dem Felde, die Kavallerie ist in eiuzelue Schwadronen aufgelöst, und die allge¬
meine Verwirrung reißt die paar Bataillone Garde mit in ihrem Wirbel fort.
Mit den Worten: korn est peräu! sauve cjui peut I sprengt Napoleon, fast
als einzelner Flüchtling, von seinem letzten Schlachtfeld.
Die Engländer rücken gegen die keinen Halt mehr lernenden Franzosen vor,
bis sie fast in das Geschützfeuer der Preußen gerathen, und nnn auf der Höhe
von Planchenoit Halt machen. Bei Maison Rouge treffen die beiden siegreichen
Feldherren zusammen, und verabreden hier die weitere Verfolgung des zertrümmer¬
ten Heeres, die Blücher übernehmen soll.
Mit einem Hurrah sprengte die preußische Reiterei an Vivian's Brigade
vorbei, in die ungeordnet fliehenden Massen der Franzosen. Wie sehr der
10stündige Kampf sie zerrüttet hatte, sah man an der reißend schnell eintretenden
und vollständigen Auflösung dieses schönen Heeres. Ans dem Schlachtfeld allein
nahmen die Engländer 1ö0 Kanonen weg, und ganze Reihen Gewehrpyramiden,
welche die Infanterie im panischen Schrecken hatte stehen lassen. Die Ernte der
Preußen war nicht weniger reichlich, das ganze übrige Geschütz, die Parks, fast das
ganze Gepäck der Armee, und die Feldequipage des Kaisers fiel ihnen in die Hände.
Er selbst kounte sich nur durch einen Sprung aus dem Wagen von der Ge¬
fangenschaft retten, und, reitet in einem Zuge nach Charleroi, wo er vergebens
einige Flüchtlinge zu sammeln sucht. Kaum nach einer Stunde Ruhe treiben ihn
schon die preußischen Husaren weiter fort Die ganze französische Armee war
vernichtet, Dank der unermüdlichen Energie, mit der die Preußen die Verfolgung
die ganze Nacht hindurch bis zum grauenden' Morgen ohne anzuhalten fort-
setzen. Gneisenau selbst führte unmittelbar hinter den Reiterschwärmen ein
Füsilierbataillon voran, ein dessen Spitze er auf eines der erbeuteten Kntschpferde
Napoleon's einen Tambour gesetzt hatte, dessen ununterbrochenes Trommelwirbeln
die Franzosen immer wieder ausscheuchte. Nur el» gemischtes Corps von 3000
Mann Infanterie und Kavallerie mit den Generälen Jerome, Soult, Morand,
Colbert, Petit, und Pelee de Morvau erreicht am 21. früh Laon, 20
Meilen vom Schlachtfeld. Alles Uebrige sammelt sich erst später einzeln, und selbst
Napoleon behauptet, vou der ganzen Armee nur 25,000 Manu zusammengebracht
zu haben, was nach dem gewöhnlichen Charakter seiner Aussagen, und der voll-'
ständigen Zerrüttung seines Heeres nicht glaubhaft ist. In der Schlacht selbst
gingen an Todten, Verwundeten und Gefangenen 31,000 Mann verloren.
Wie Ney für Ligny, so muß in Napoleon's Memoiren und bei den franzö¬
sischen Schriftstellern Grouchy für Waterloo als Sündenbock Dienen. Er ist
allein daran Schuld, daß Blücher sich von dem Schlage bei Ligny hat erholen,
und Wellington zu Hilfe eilen können, und er ist ferner noch an dem Verlust
der Schlacht von Waterloo dadurch Schuld, daß er einen ihm von Napoleon
zngefertigten Befehl, in die rechte Flanke der französischen Armee zu rücken und
Bülow über den Häuser zu werfen, nicht befolgt hat, oder dadurch, daß er nicht
aus freien Stücken seine Verfolgung Blücher's aufgegeben und in der Richtung
des Kanonendonners auf das Schlachtfeld marschirt ist. . .
Wir verließen Grouchy in Gemblonx, wo er spat Nachts am 17. angekommen wcir.
Daß er so weit hinter den Preußen zurück war, deren sämmtliche vier Corps sich an
demselben Abend schon bei Wavre sammelten, daran war hauptsächlich Napoleon's
Zögern Schuld, wie wir früher gezeigt haben; aber es läßt sich auch so kaum voraus¬
setzen, daß er mit seinen 33,000 Mann dem noch etwa 66,000 Mann starken Blücher,
für den ein frisches Corps von 36,000 Mann (Bülow'S), bei Wavre, drei Meilen
weiter zurück, zur Aufnahme bereit stand, etwas Besonderes hätte anhaben können.
Erst in Sart-ä-Walhain am Morgen des 18. erfährt Grouchy mit Bestimmt¬
heit, daß sich die ganze preußische Armee nach Wavre gewendet hat, und nun
schlägt er auch diese Richtung ein. Aber jetzt dröhnt um 11 Uhr der Kanonen¬
donner von Waterloo herüber, und die Generäle Excelmans und Gerard dringen
in Grouchy, in der Richtung des Kanonendonners abznmarschiren, und auf dieses
Schlachtfeld zu eilen. Der Rath war leicht von denen zu ertheilen, welche die
Verantwortung für seine Befolgung nicht zu tragen brauchten; aber Grouchy, der
den bestimmten Befehl hatte, sich den Preußen an die Fersen zu heften, glaubte
mit Recht, nicht von demselben abweichen zu dürfen, was ihm nur erlaubt gewesen
wäre, wenn er ohne bestimmten Zweck auf der Straße uach Wavre marschirt wäre.
Wenn er, wie ihm Napoleon befohlen, die ganze preußische Armee beschäftigte,
während Napoleon Wellington schlug, hatte er mit seinen 35,000 Mann weit mehr
ausgerichtet, als ihm bei Waterloo jemals möglich gewesen wäre.
Den einen Fehler beging Grouchy, daß er blos auf einer Straße gegen
Wavre marschirte, weshalb sein letztes Corps erst spät daselbst ankam; dennoch
erschienen seine Vortruppen schon gegen drei Uhr an der Dyle, als Thielemann mit
seinem Corps bereits im Abrücken nach Coutoure begriffen war, nun aber Halt
machen ließ, und die sehr starke Stellung von Wavre mit seinen Truppen besetzte.
Wir schreiben hier keine Geschichte des Feldzugs von 1815, und beschränken uns
darauf, zu bemerken, daß Thielemann mit seinen 15,000 Mann das doppelt so
große Corps von Grouchy durch geschickte Benutzung des allerdings sehr vortheil-
haften Terrains und durch die große Tapferkeit seiner Truppen diesen und für
einen Theil des folgenden Tags festhielt, bis die Nachricht von dem Verlust der
Schlacht von Waterloo die Franzosen zum Rückzuge bewog. Wir haben es hier
blos mit dem Ausbleiben Grouchy's von dem Schlachtfelde von Waterloo zu thun.
Napoleon selbst giebt zu, daß ein angeblich am 17. Abends an Grouchy
abgeschickter Befehl, der dessen ganze oder theilweise Mitwirkung bei Belle Alliance
gesichert habe, trotz eines am andern Morgen abgeschickten Duplicats seine Be¬
stimmung nicht erreicht habe, und wir können diesen daher ganz aus dem Spiele
lassen. So bleiben uns uur noch die zwei einzigen schriftlichen Befehle übrig, die
Soult am 18. Grouchy zugefertigt hat. Der erste derselben ist von 10 Uhr,
unmittelbar vor Beginn der Schlacht datirt, und wiederholt nur den Befehl, den
Preußen nach Wavre zu folgen; er wird Grouchy getroffen haben, als er trotz
G6rard's Vorstellungen seinen Marsch in der alten Richtung fortgesetzt hatte,
ratistcirtc also gewissermaßen seinen Entschluß. Der zweite Befehl, datirt von
1 Uhr Mittags, meldet in einer Nachschrift die Ankunft von Bülow's Corps,
und befiehlt Grouchy, diesem in die Flanke zu fallen, und sich mit Napoleon's
rechtem Flügel in Verbindung zu setzen. Im besten Falle konnte dieser Befehl
Grouchy erst um vier Uhr erreichen, wo er schon mit Thielemann engagirt war,
ohne dessen Stärke zu kennen. Er konnte doch nicht diesem unbekümmert den
Rücken zndrehen, und geraden Wegs nach der Lahne marschiren! Aber selbst in
diesem Falle konnte er, da er zwei Meilen Angesichts des Feindes marschiren
mußte, nicht vor neun Uhr bei Napoleon eintreffen. Um diese Stunde aber war
die Schlacht schon vollständig entschieden.
Aber Napoleon's Generalstabschef rechnete gar nicht darauf, daß Grouchy
den Befehl so zeitig erhalten werde. Die preußischen Patrouillen der Vorhut
von Bülow's Corps machten die Wege in der rechten Flanke der Franzosen bereits
so unsicher, .daß Soult dem die Depesche überbringenden Officier befehlen mußte,
über Gembloux und Quatrebras zu reiten, und also einen Umweg von sieben
Meilen zu machen. Deshalb empfing Grouchy diesen Befehl erst nach sieben Uhr
Abends, wo er ihm keine Folge mehr leisten konnte. Man muß überhaupt
danach denken, daß Napoleon in der Voraussetzung, Wellington zu schlagen,
anch noch im glückliche» Falle, wenn bei Wavre Alles gut ginge, nur zur mög¬
lichsten Verstärkung seiner Erfolge Grouchy habe bei der Hand haben wollen,
bei er ja nicht vor Mitternacht eintreffen konnte. Das ist die ungeschminkte
Geschichte des Ausbleibens Grouchy's und seines Verraths.
summiren wir noch einmal die Resultate unsrer Zusammenstellung, so finden
wir, daß die eigene schwankende politische Stellung Napoleon's zu Frankreich und
zu Europa ihn nöthigten, Alles auf einen kühnen Wurf zu wagen, und aus
seinen Operationen das Element der Vorsicht ganz zu streichen; daß er in dem
umsichtigen und klaren Charakter Lord Wellington's, und in der energievollen
und zuversichtlichen Kühnheit Blücher's gerade zwei Gegner fand, welche sich von
dem Blendwerk seiner Macht und der Waghalsigkeit seiner Operationen nicht ein¬
schüchtern ließen; daß sein Hochmuth ihn den moralischen Zustand des preußischen
Heeres nach der Schlacht von Ligny und die Energie seines Führers unterschätzen
ließ, und ihn verlockte, zum Zertrümmern Wellington's vorzuschreiten, ehe er seiue
Flanke und seinen Rücken gesichert hatte; und endlich, daß ein seltenes Zusammen¬
wirken beider Heere und Heerführer, des englischen und des preußischen,, und
eine Vereinigung von ausharrender Tapferkeit und feurigem Ungestüm, zuletzt die
Uebermacht der Alliirten aus dem entscheidenden Punkte zu einem absolut ver¬
nichtenden Schlage befähigten. Am wenigsten Schuld an Napoleon's verdientem
Unglück sind diejenigen seiner Generäle, auf die er mit dem ihm eigenthümlichen
Mangel an Edelmuth und Wahrheitsliebe Anklage auf Anklage gehäuft hat.
Neue (3te) Auslage seiner Werke in sechs Bänden, mit seinem Bildnisse. Leipzig,
Weidmaim'sche Buchhandlung, 1852.
Die neue Auflage enthält im ersten und zweiten Bande die Reise um die
Welt nebst den „Bemerkungen und Ansichten", im dritten und vierten die Poesien,
im fünften und sechsten das biographische Material, Briefe Chamisso's, Bemer-
kungen und Ergänzungen von Eduard Hitzig und von dem neuen Revisor Fried¬
rich Palm. Vermehrt ist sie gegenüber der zweiten durch einige Gedichte, eine
sorgfältige Revision der biographischen Notizen, mehrere Briefe und eine voll¬
ständige Umarbeitung des sechsten Theils, welcher die letzten zwanzig Jahre
Ehamisso's schildert. Ein Aufsatz über malayische Volkslieder und eine chrono¬
logische Uebersicht der Dichtungen sind ebenfalls dankenswerthe Zusätze. Es ist
nicht die Absicht der folgenden Zeilen, eine Kritik seiner Gedichte zu geben, son¬
dern an das zu erinnern, was ihn mit Recht zu einem Lieblingsdichter unsres
Volkes gemacht hat.
Adelbert v. Chmuisso, Sohn von Louis Marie Grafen v. Chamisso, Vicomte
v. Ormond, Seigneur von Boncourt u. s. w. u. s. w., ans einem uralten lothrin¬
gischen Geschlecht, geboren Ende Januar 1781 auf dem Schlosse Bonconrt in der
Champagne, starb im Jahre 1838 am 21. Angust zu Berlin an der Spree als
Custos am botanischen Garten, als Lieblingsdichter der Leute zwischen Rhein und
Oder, als ein preußischer Bürger im edelsten Sinne des Wortes, als Katholik von
echt protestantischer Gesinnung, als der treueste, gemüthlichste und beste Deutsche
von der Welt. Die Persönlichkeit eines solchen Mannes würde der allgemeinsten
Theilnahme werth sein, auch wenn er nie einen Vers gemacht hätte.
Als Chamisso nenn Jahre alt war, entfloh seine Familie der französischen
Revolution und wurde uach Irrfahrten und vielem Trübsal in's Prenßenland ver¬
schlagen. Dort wurde Adelbert 1796 Edelknabe der Gemahlin Friedrich Wilhelm >>,,
1798 Officier bei einem Infanterieregiment in Berlin. Seine Familie kehrte nach
Frankreich zurück, er blieb in Berlin. So trat er um das Jahr 1803 in ein
inniges Freundschaftsverhältniß mit einer Anzahl junger strebender Männer, nnter
denen Eduard Hitzig, Varnhagen von der Ense, Neumann, Theremin, Koreff,
später die bekanntesten wurden. Fichte protegirte den Kreis. Bald daraus
wurde Fvuquti dem Jünglinge befreundet. Die Freunde bildeten in der Weise
der damaligen Zeit eine Verbrüderung, welche sich scherzend der Bund vom
Nordstern nannte, und die schwärmerische Innigkeit, mit welcher damals solche
Freundschaftsbündnisse strebender Geister geschlossen wurden, verlieh auch diesem
Verhältniß Farbe und einen Reiz, welcher für die Edleren unter den Mitgliedern
nie verloren ging. Der Musenalmanach, welchen die jungen Dichter im Jahre
180» und den folgenden Jahren Herausgaben, ist jetzt vergessen; was wir aber
nicht vergessen sollen, ist die Bedeutung, welche der kleine Bund vom Nordstern
auch für uns hat. Der Geist und Ton, welche in ihm lebten, war in der That
ein Fortschritt gegen die Tendenzen der romantischen Schule, obgleich das kritische
Urtheil und die Poesien derselben auf die Versübungen der jungen Männer einen
großen und dauernden Einfluß ausübten. Es war ein Verein von ehrlichen, tüchtigen
und rechtschaffenen jungen Leuten, frei von der Überspanntheit und dem Mysticis¬
mus der Schule. Nicht allein klarer urtheilen, gebildeter und seiner empfinden, als die
gemeine Menge, war die Tendenz dieses Kreises, sondern vor Allem brav sein,
seine Pflicht thun, arbeiten und verständig leben. Schon im Jahre 1806 schreibt
Chamisso an einen der Freunde, welcher als Officier in einen Conflict der Pflichten
gekommen und uach Frankreich gegangen war: „Du scheinst Deinen alten Dienst
aufgeben zu wollen, es sei denn, aber ich Dein Freund ermahne, beschwöre Dich,
durch , die ehrliche Pforte hiuauszuwaudelu, auf daß nicht die Gemeinheit einen
Laut des Tadels über Dich erheben möge. Fordere bei Zeiten Deinen ehrlichen
Abschied/und bleibe nicht, wie schon einmal, über Urlaub," und dieselbe Gesinnung
zeigt der Dichter bei jeder andern Gelegenheit. So schrieb er einige Jahre
später an Varnhagen: „Apropos, Schulden, das ist ein Wort des Mißtons.
Solide Männer, wie es an dem ist, daß wir welche sein sollen, dürfen unter
keinerlei Vorwand mehr brauchen, als sie haben. Das ist meine Idee über
Schulden. Andererseits will mir bedünken, als schwärmtest Du zu sehr bei Leuten
umher; habe Sitzefleisch und arbeite." Immer regiert ihn, wie die besseren seines
Kreises, der Grundsatz, zuerst ehrlich sein und dann feinfühlend. Man ist gegen¬
wärtig gewohnt, so etwas, wenigstens in der Theorie, als selbstverständlich voraus¬
zusetzen, damals aber war bei den jüngere» Talenten die Ueberschwänglichkeit des
Gefühls so groß, nud die Verwirrung, in welche alle sittlichen Grundsätze des Lebens
durch die Verirrungen der Schule gekommen waren, so vollständig, daß viele
literarische Größen haltlos hin und her getrieben und durch Sophistik und Un¬
klarheit zu den größten Immoralitäten und Schlechtigkeiten verführt wurden; man
denke an Zacharias Werner, an Heinse, Lenz u. s. w. Damals war eine solche
Reaction des gesunden Menschenverstandes und der ganz gemeinen Sittlichkeit
in der Kunst von der größten Wichtigkeit, und die respectabeln Personen, welche
sie für uns darstellen, sind als die Vorläufer derselben Richtung, welche dieses
Blatt seit Jahren mit größtem Eifer vertritt, zu betrachten. — Manche ans dem
Kreise gingen ihm verloren. Theremin wurde fromm, Koreff wurde Modearzt in
Paris und lebte noch lauge, als er für seine Jugendfreunde bereits gestorben
war. Aber der Kern der alten Genossenschaft, Eduard Hitzig, Chamisso und der
bewegliche, geschmeidige Vanihagen mit allem Besseren, was sich ihnen anschloß,
haben auf solcher tüchtigen Gesinnung ihr Leben aufgebaut. Sie haben sich nicht
alle Konsequenzen gezogen, welche uns den Jüngeren zu ziehen leichter wird.
Ihr Geschmack, ihre Bildung wurde noch mächtig bestimmt durch die Doctrin und
die Poesien der Schule, aber im Kern ihres Lebens erhielten sie sich gesund
und rein; wo sie handelten, wo sie die Welt beurtheilten, waren sie in Harmonie
mit den großen Grundwahrheiten des menschlichen Lebens. Ein zweiter Grund¬
satz des Kreises war, dadurch die Herrschaft über das Leben zu gewinnen, -daß
sie etwas Tüchtiges, praktisch Brauchbares ans sich machten, vor Allem etwas
Ordentliches lernten. Mit welchem Ernst kümmerten sich die jungen Dichter um
Prosodie und Wohlklang ihrer Verse! Sie schreiben einander Briefe wegen eines
schlechten Versfußes oder eines unklaren Ausdrucks, sie sind dabei bescheiden; als
sie den ersten Jahrgang des Musenalmanachs herausgegeben haben, schreibt Cha¬
misso an Varnhagen, der den schnellen Einfall gehabt hatte, Kritiken heraus¬
zugeben: „Freund, laß Dir sagen, wir sind Jungen, die da kauen lernen, und
lehren zu wollen und aburtheilen zu wollen, würde mir sehr spaßhaft vorkommen;
ich erinnere mich des Distichons recht gut:
Das, was sie gestern gelernt, das lehren sie heute schon wieder,
O was haben die Herrn doch für ein kurzes Gedärm!
und nichts weniger als die Schlegel sind gemeint. Lerne Dein ABC."
Unsrem Dichter selbst wurde das Lernen nicht leicht gemacht. Er hatte in
seiner Jugend kaum eine Schule besucht, und es fehlte ihm selbst die solide Grund¬
lage für das Wissen, welches ein erträglicher Gymnasialunterricht giebt. Dieser
Mangel hat ihn sein ganzes Leben lang schwer gedrückt, denn er verurtheilte ihn
dazu, fast überall Dilettant zu bleiben. Aber Mühe hat er redlich auf seine
Bildung verwendet, mit eisernem Fleiß warf er sich auf das Griechische, — er lerute
den Homer und die Tragiker verstehen, später auf das Lateinische, — er hat mehrere
lateinische Abhandlungen geschrieben; noch später lernte er Englisch und übte sich
in den übrigen romanischen Sprachen. Endlich, erst als er in den dreißiger
Jahren war, erfaßte er das Studium der Naturwissenschaften, die Wissenschaft,
in welcher er sich das Bürgerrecht gewann und Förderndes zu Tage brachte.
Eine dritte löbliche Eigenschaft der Verbrüderung zum Nordstern war die
fröhliche, gemüthvolle Geselligkeit, welche den Kreis belebte. Mit drolliger Laune,
lustigen Geschichten und treuherziger Behaglichkeit verkehrten die Jünglinge uuter
einander. Der empfängliche ^Chamisso gab sich dem Entzücken dieses Gesellen¬
verkehrs ganz hin. Dort hat er sein berühmtes Tabakrauchen zu der hohen
Virtuosität ausgebildet, die ihn bis an sein Lebensende ausgezeichnet hat; dort
entwöhnte er sich aber auch von mancher Rücksicht, welche die exklusive Gesellschaft
von dem Menschen, der sich darin wohl fühlen will, fordert. Und obgleich er,
der französische Edelmann, Formen und Convenienz feiner Kreise wohl zu be¬
obachten wußte, wenn es daraus ankam, so fühlte er sich doch darin genirt und
machte sich gern von ihnen los, wo er irgend konnte. Er widersprach sehr ener¬
gisch, wo Toleranz besser gewesen wäre, schwieg hartnäckig, wo er hätte reden
sollen, verfocht gewagte Behauptungen und kleidete sich am liebsten, wie es ihm
bequem war, ohne die Leute zu fragen, ob ihnen der Schnitt seines Rocks passend
erschien. Darin wurde er ziemlich früh ein Original, welches seine Freunde
manchmal in kleine Verlegenheiten setzte. Wenn er später als Student botani-
siren ging, wandelte er durch die Straßen Berlins in seltsamem Aufzuge, der
seine Begleiter bewog, mit ihm durch obscure Gäßchen zu ziehen und die Heer¬
straßen zu vermeiden. Als er bei Frau v. StaÄ auf den Schlössern lebte, wohin
sie der Zorn Napoleon's verbannt hatte, wurde ihm das Tabakwnchen auch in
seiner Stube nicht gestattet, weil eine Engländerin, welche seine Nach¬
barin war, sich darüber beklagte, da ging er trotzig wie ein Stachelschwein
in die geheimsten Räume des Hauses und räucherte von dort das Haus ein.
Als er auf dem Rurik die Reise um die Welt machte, und die russischen Ma¬
trosen sich weigerten, dem Gelehrten die Stiefeln zu putze», trug er kaltblütig
drei Jahre laug ungeputzte Stiefeln. Als die erste Nachricht von der Juli-
revolution nach Berlin kam, lief er, damals schon ein würdiger Herr, im größten
Neglige, ohne Hut, in Pantoffeln, durch die Stadt zu seinem Freunde Hitzig,
und als er einst in seiner Zärtlichkeit für die Südsee-Insulaner erklärt hatte, er
halte es sür höchst comfortabel, im Sommer ganz ohne Bekleidung spazieren zu
gehen, hielten ihn seine Freunde für den Mann, der so etwas im botanischen
Garten zu Nenschöneberg wol unternehmen könne. Alle diese kleinen Drolligkeiten
waren aber mit so viel guter Laune verbunden und standen ihm so natürlich, daß sie
wahrscheinlich von den Genossen seiner Jugend mehr gepflegt, als bekämpft wurden.
Neben der guten Laune und den Scherzen des Jugendkreises erblühte aber auch
eine Innigkeit und Wärme der Freundschaft, die noch jetzt für uns etwas Rüh¬
rendes hat. Seine Börse mit den Freunden theilen, keine Freude ohne sie ge-
nießen, Alles, was der Eine geschaffen, gefühlt und erlebt hat, den treuen Ge¬
fährten zur Theilnahme und Kritik vorlegen, das war Gewohnheit und Gesetz.
Diese edle und reine Zärtlichkeit, mit welcher die jungeu Männer an einander
hingen, hat am allermeisten dazu beigetragen, uusern Chamisso zu einem Deutschen
zu machen. Auf allen seinen Irrfahrten blieb Berlin und das Herz der Freunde
der Angelpunkt, um welchen sich sein Leben drehte. Dort hatte er kennen gelernt,
was oft in der Welt verkannt, oft gemißbraucht und zertreten worden ist, und
was wir selbst gerade jetzt zu unterschätzen geneigt sind, das deutsche Gemüth,
und es war ihm ein größerer Schatz geworden, als alles Andere, was ihm sein
Schicksal geschenkt hatte. Es stand ihm über seinem Frankreich, ja über der
Liebe zu seiner Familie. Schon im Jahre 1804 wollte er den preußischen Sol¬
datendienst aufgeben, der damals sehr unerfreulich war, und auf eine sächsische
Universität gehen; er schrieb deshalb an seine Mutter, sie antwortete ihm mit
dem Achselzucken einer vornehmen Französin und dem Zorn einer frommen Frau,
welche die Wissenschaft nur erträglich findet, wenn sie dem vornehmen Mann amü-
sant oder nützlich ist, und abscheulich, wenn sie zur Aufklärung und zum
religiösen Zweifel führt. Diesen Brief theilte der junge Chamisso einem
der Freunde mit und schrieb dazu: „Empfinde Du nach Alles, was zu sagen mir
ekelt und Dir zu sagen unnütz ist. — Aber' wir bleiben uns getreu und nah und
fest und fester umschlungen in ernstem, heiligem, ruhigem Gefühle der Freund¬
schaft." — Mehr als einmal zog ihn sein Herz und die Verhältnisse nach Frank¬
reich hin, und immer wieder erkannte er dort, daß er nicht mehr Franzose sein
könne, daß er ein Norddeutscher geworden sei. Seine Familie wollte ihn fest¬
halten und ihn mit eiuer reichen Dame verheirathen, er schlug es aus und ging
fast ohne Subsistenzmittel nach Berlin zurück; die Negierung Napoleon's wollte
ihm eine Professur an einer höhern Lehranstalt in Frankreich geben, er ging nach
Berlin und wurde dort Student; die StaÄ hatte eine Zeitlang Lust, ihn in ihrer
Nähe festzuhalten, er erkannte sehr richtig, daß er zu der Französin nicht passe,
und ließ sich' durch keine Caprice oder Eitelkeit verblenden. Als er Mit dem Rurik
nach Nußland zurückkehrte, hatte er eine förmliche Angst, daß man ihn dort an¬
stellen könne, und lief schnell wie Peter Schlemihl mit seinen Siebenmeilenstiefeln
nach Berlin zu seinem Freunde Hitzig zurück.
Man merkte dem Franzosen noch lange den Ausländer an; einzelne kleine
Gallicismen hat er bis an sein Ende behalten. Er gab sich sehr viel Mühe,
und hatte lange zu kämpfen, bevor er ein gutes Deutsch schreiben lernte, in
seinen Jngendgedichten tadelten und strichen die Freunde ihm fortwährend fran¬
zösische Wendungen. In der Unterhaltung war er nicht wortreich, bis an sein
Lebensende nicht; aber die charakteristische Bedeutung und die zarteste gemüth¬
liche Nuance der Vorstellungen, welche den deutschen Wörtern zu Grunde liegen,
hat er schnell und vollständig begriffen. Der Styl seiner Prosa war in seiner
Jugendzeit oft wunderlich, er gebrauchte eine Zeitlang die Participien im Ueber¬
maß und schrieb gedrängter und abgerissener, als für das schnelle Verständniß
bequem war. Immer aber, schon in seiner Jugend, liebte er die deutsche Sprache
mit Leidenschaft, viel mehr, als das Französische. Und wenn er außerhalb Frank¬
reichs für sein Geburtsland immer warme Sympathien hatte, so wurde ihm in
Frankreich selbst doch das französische Wesen oft widerlich, und die französische
Sprache nennt er in seinem ehrlichen Zorne einmal, als ihn die Verderbtheit des
damaligen Frankreich geärgert hatte, eine canaillöse Sprache.
Bevor Chamisso seinen Entschluß ausführen konnte, den preußischen Militär¬
dienst zu verlassen, kam das Jahr 1806 und zwang ihn, gegen sein eigenes Vater¬
land zu,.,Felde zu ziehen. Seine Familie, die legitimistisch war, hatte nichts
dagegen, daß er gegen Napoleon kämpfen half, ihm selbst aber war der Gedanke
sehr schmerzlich. Er bat deshalb um seinen Abschied, bevor die Campagne los¬
ging; er wurde ihm abgeschlagen. Unter Lecocq hatte er die schimpfliche Ueber¬
gabe von Hameln mitzumachen. Der Bericht, welchen er davon an Varnhagen
schickt (Bd. ö, S. 184.), ist sehr merkwürdig, er zeigt die tiefe, sittliche Empö¬
rung nicht nur des edeln Chamisso, sondern des ganzen braven Corps, welches
dort durch einen unfähigen Menschen verrathen wurde. Er wurde als Officier
Kriegsgefangener und erhielt einen 'Paß nach Frankreich, wohin ihn Familien¬
angelegenheiten dringend riefen. Dort waren unterdeß seine beiden Aeltern
gestorben, er fühlte sich verlassen, das Land, das Volk war ihm fremd geworden.
Voll Sehnsucht nach seinen Freunden kehrte er nach Berlin zurück; aber auch
dort fand er Alles traurig verändert, die Freunde zersprengt, verstimmt, von dem
finstern Ernst des wirklichen Lebens ergriffen. Da kam für Chamisso eine böse
Zeit. Er war ununterbrochen thätig, beschäftigte sich besonders mit italienischer
Sprache und Literatur, ertheilte auch Privatunterricht; aber seinen Studien fehlte ein
fester Halt, die Universität Berlin war damals noch nicht errichtet, und er, der Franzose,
der frühere preußische Officier, der sich sogar vor einer militärischen Commission
wegen der Schande von Hameln rechtfertigen mußte und glänzend rechtfertigte,
lebte ohne Stand und Geschäft, wie er selbst schreibt, und irre an sich selbst. Da
drängten ihn seine Geschwister, nach Frankreich zurückzukehren, ein alter Freund
der Familie bot ihm eine Professur am Lyceum zu Napoleonville an, und im
Januar 18-10 verließ er Berlin wieder und ging zum zweiten Male nach Frank-
reich. Dort fand er mittlerweile die ihm angebotene Stelle aufgehoben, und sollte
warten, bis die neue ihm versprochene frei würde. Unterdeß wurde er in den
Kreis der Frau v. Stael gezogen und lebte bei ihr und ihren Freunden bis
zum Sommer des Jahres 18-12, in der ersten Zeit mit Studien über ältere
französische Literatur und mit einer Uebersetzung der Vorlesungen von Schlegel
beschäftigt, später, als die Feindin Napoleon's von dem Zorn des Mächtigen nach
der Schweiz gedrängt worden war, und dort allein, gebeugt, fast verzweifelnd,
von den meisten ihrer Freunde verlassen und verrathen hauste,, da hielt der treue
Chamisso es für unrecht, die Unglückliche zu verlassen, der es unerträglich war,
ohne Anregung, Anerkennung, und ohne'Seelen zu sein, welche vou ihr abhingen.
Diese Zeit seines Lebens hat Chamisso selbst immer für sehr interessant gehalten.
Er bildete einen merkwürdigen Gegensatz zu den Persönlichkeiten, mit denen er
zusammen lebte. Vortrefflich und höchst ergötzlich sind seine Schilderungen dieser
Menschen. August Wilhelm v. Schlegel, als artiger, eitler, eifersüchtiger Egoist, ganz
in dem Cliquenwesen seiner Schule besangen, ein Tyrann für die kleinen Gefühls¬
capricen seiner Freundin, die StaÄ selbst ein imponirender Geist, unsrem Cha¬
misso vielfach überlegen, edel und ehrlich in ihrem Empfinden, aber oft wunder¬
lich in ihrer Erscheinung, kleiner Emotionen und vieler Anerkennung bedürftig,
und um sie herum ein Kreis von sehr verschiedenen Persönlichkeiten, die alle
durch eine wunderliche Hausordnung zusammengehalten werden, im Stillen gegen
einander intriguiren, in dem Conversationszimmer sich nur schriftlich unterhalten
durch kleine Zettel, welche Eins dem Andern zusteckt, und alle mündlichen Er¬
klärungen und Explications, deren es sehr viele gab, in einer Allee des Gartens
abmachen müssen. Diese geistreiche Kolonie zieht von Schloß zu Schloß, immer
von Napoleon oder durch andere rohe Wirklichkeiten verjagt. So -haben sie sich
auf dem Schlosse Chaumont mit zweifelhafter Berechtigung einquartiert, und
auf einmal kommt der Eigenthümer, der nach der Meinung der StaÄ Fußbäder
im Mississippi nimmt, aus Nordamerika zurück, pocht an die Thür seines Schlosses,
und will mit Bonne, Kindern und großem Train einziehen. Die StaÄ bittet
ihn zu Tische. Er zieht wieder ab und läßt den Ansiedlern drei Tage Zeit, nach
einem andern Schlosse zu wandern. Die drollige Laune Chamisso's und seine
unendliche Gutherzigkeit waren in diesem Kreise sehr angebracht, sowol um ihn
zu schildern, als in ihm auszudauern.
Endlich im Jahre -18-12, in der Schweiz, fängt Chamisso an Pflanzen zu
sammeln, legt sich ein Herbarium an, und wirft sich mit allem Eifer ans das Studium
der Naturwissenschaften. Er geht nach Berlin zurück, läßt sich als Student bei
der medicinischen Facultät einschreiben, secirt in der Anatomie, und fühlt sich selig,
endlich einen Beruf gefunden zu haben und mit einigen seiner Jugendfreunde
leben zu können. Die großen Kämpfe der nächsten Jahre verfolgt er mit warmem
Interesse, nicht ohne manchen geheimen Schmerz, denn noch kämpften in ihm die
Erinnerungen an sein Vaterland, die in der Ferne wieder lebendig geworden
waren'. Bei diesem Zwiespalt in seinem Innern war es ihm oft Bedürfniß, sich
zu isoliren und zu zerstreuen, und so schrieb er 1813 für die Kiuder von Eduard
Hitzig das Märchen „Peter Schlemihl." Endlich im Jahre 181-3 faßte er den
schnellen Entschluß, die russische Entdeckungsreise des Rurik uach dem Nordpol
als Naturforscher mitzumachen. Von den Jahren 181Il—1818 saß er unter den
Russen, eingestand in die kleine Brigg, unter Verhältnissen, die vielleicht jedem
Andern unerträglich vorgekommen wären. Er aber war schon ein so guter Deutscher
geworden, daß er mit größter Gemüthlichkeit und bester Laune Alles überwand.
Uebel,- alles Neue hatte er, mit 3i Jahren der älteste Mann der ganzen Equi¬
page, die allerjngendlichste Freude. Ueberall verstand er sich wohl zu sühlen,
und in seiner einfachen und behaglichen Weise mit jeder Art von Einge-
bornen sich zurecht zu finden. Immer sah er zumeist das Gute im Menschen
und ertrug mit Milde das Unvollkommene und Schlechte. Es war ihm
— mit einigen Ausnahmen — wohl unter seinen Russen, er freute sich über
die Spanier in Chili und Kalifornien, er schenkte, in einen Schlafrock von
Rennthiersell gewickelt, den Aleuten seinen Tabak und rieb sich mit ihnen die
Nase, er botanisirte rauchend nnter den Spießen der Südsee-Insulaner, und
schloß die berühmte innige Freundschaft mit dem 'braunen Polynesier Kadu auf
dem Natal Archipel. Während der ganzen Reise aber dachte er fortwährend an
seine Freunde in Berlin, und nach drei Jahren Abwesenheit trat er an einem
Herbsttage zu Ednard Hitzig in die Stube, fiel ihm um den Hals, brannte seine
Cigarre an und erzählte den Kindern des Freundes vom Nordpol und den Sand-
wichinseln mit derselben Behaglichkeit und objectiven Ruhe, mit der er ihnen sonst
Märchen und Schwänke erzählt hatte. Von da ab wurde er ein Bürger Berlins.
Er erhielt eine Anstellung am botanischen Garten, heirathete, erzog seine Kinder,
gab eine Reihe von Jahren den Musenalmanach heraus, und theilte seine Zeit
zwischen naturwissenschaftlichen und linguistischen Arbeiten, seiner Poesie und dem
liebevollen Verkehr mit seinen Freunden. Es war ihm beschieden, fast zwanzig
Jahre das ruhige Glück eines Mannes zu genießen, der sich in seiner Familie
und Heimath wohl fühlt. Aber noch vor seinem Tode hatte er den Schmerz,
seine liebenswürdige Frau zu verlieren; ein Jahr später folgte er ihr nach, viel
beweint von seinen zahlreichen persönlichen Freunden und betrauert von der ganzen
Nation, der er ein Liebling geworden war. In den Fieberträumen vor seinem
Tode hat er Französisch gesprochen und manchmal im Dialekt der Südseeinseln,
so oft er wach war, redete er Deutsch. Gezählt und gerechnet hat er immer in
französischer Sprache, aber in der deutschen hat er geliebt.
Ein solches Leben, viel bekannt durch die wiederholten Ausgaben seiner
Werke, ist wol berechtigt, die Sympathien der Deutschen in Anspruch zu nehmen.
Es spiegelt sich wieder mit allen seinen Eigenthümlichkeiten in den Gedichten.
Vieles haben ihm schon seine Freunde und Zeitgenossen gegen seine Methode,
poetisch darzustellen, eingewendet, sie haben ihm in's Gesicht gesagt, daß er zu
sehr nach Effecten strebe, daß er oft „packende" Wirkungen auf Kosten der
Schönheit suche u. s. w. Manches hat auch die kühle Kritik unsrer Zeit an
seinem schönen Talent auszusetzen. Aber das Alles hat ihn nicht verhindert, einer
von den auserwählten Lieblingsdichtern unsres Volkes zu werden, denn auch da,
wo er gegen die hohen Gesetze der Schönheit, welche er selbst so sehr ehrte und
zu befolgen suchte, verstoßen hat, da, wo falsche Wirkungen und eine gewisse
Sentimentalität zu bemerken sind, ist die Ursache der Fehler eine Eigenthümlich¬
keit der Seele, welche der Deutsche am meiste» liebt, weil'sie seinem eigenen
Wesen angehört, jenes liebevolle, weiche, leicht erschütterte und über seinen Em¬
pfindungen träumerisch brütende Gemüth; dasselbe Gemüth, dessen Regungen
unsre europäische Nachbarschaft so lange kritisirt und verlacht, bis sie sich ein¬
mal in hinreißender Kraft und Größe zeigen; dann unterwerfen sie wol die
übrige Welt.
Das deutsche Volk hat keine Geschichte, auch das preußische hat keine, die
über den großen Churfürsten auf der Spreebrücke hinausgeht; und doch hat kein
Volk mehr als das deutsche daS Bedürfniß, zu lieben und zu verehren. Was Wunder,
daß bei uns die hellen Gestalten einer jetzt abgeschlossenen Literaturperiode zu
nationalen Helden geworden sind; daß Goethe, Schiller, Uhland, Chamisso und
ihre Zeitgenossen sür uns noch eine andere Bedeutung haben, als die englischen
und französischen Dichter für ihre Zeitgenossen. Sie sind für unser Leben, was
man in blinder alter Zeit Hausgötter oder Schutzpatrone nannte, sind die Freude
und der Stolz des Deutschen, in denen er sein eigenes Wesen verschönert und
.verklärt wiederfindet. Und deshalb sind alle diese Männer in ihrer Wirkung aus
die Nation nicht uur zu messen nach dem künstlerischen Werth ihrer Schöpfungen,
sondern noch mehr nach der Bedeutung, welche sie ans das Gemüth ihres Volkes
ausgeübt haben. Und von diesem Standpunkt ist Adelbert Chamisso einer der
bedeutendsten Dichter seit Schiller, und einer, dessen gute, liebenswerthe Persön¬
lichkeit verdient, daß sich ein ganzes Volk ihrer erfreue.
— Wenn ich heute in einer Charakteristik der
Wahlen fortfahre und die wahrscheinliche Gestalt der künstigen Kammer in einigen all¬
gemeinen Umrissen zu zeichnen versuche, so sehe ich schon, daß Viele vornehm übel das
kindische Treiben lächeln werden, das mühsam die einzelnen Sandkörnchen zu einem
armseligen Häuschen zusammenkehrt, unbekümmert darum, daß es von dem nächsten
Windstoß wieder aus einander geweht werden wird. „Was sollen die Wahlen? was'
die Kammern? Da liegt die Entscheidung nicht," — rusen sie mit bedeutungsvoller
Aposiopcse. Mag sein! Kind dieses Landes, folge ich den Agonien des nach dem Re¬
volutionsfieber in eine beunruhigende Schwäche gefallenen Volkes mit der instinctiven
Pietät, mit der ein Sohn am Krankenbette des Vates steht; da lauscht man aus jeden
Athemzug.'
Bei den Berliner Urwähler äußerte sich das dunkle Bewußtsein von der Noth¬
wendigkeit einer Umkehr aus unsrer jetzigen innern und äußern Politik und die däm¬
mernde Einsicht in das Wesen einer Wahl durch den bescheidenen Wunsch, man möge
keine Beamten wählen. Daß diese Tendenz für das Resultat der Wahlen maßgebend
war, habe ich Ihnen bereits neulich geschrieben; mit der großem Anzahl unabhängiger
Wahlmänner gewann auch die liberale Partei an Aussichten. Unter den Wahlmänncrn
trat die Sonderung nach politischen Grundsätzen natürlich in schärferen Umrissen hervor,
wie sehr man sich anch bemühte, in den Vorversammlnnge» Discussionen rein politischer
Art zu vermeiden. Obgleich ich nun sehr wohl weiß, daß die durchschnittliche Bildung
der Wahlmänner viel hoher zu veranschlagen ist, als die der Urwähler, so hat mich
doch die tiefgehende und sehr weit verbreitete Abneigung gegen die junkerlichen Bestre¬
bungen nicht wenig überrascht. Das Bewußtsein der Gefahr, die uns von dieser
Seite droht, ist auch den Kreisen ziemlich klar geworden, die es seit zwei Jahren
als eine Haupt-Klugheitsrcgel betrachtet haben, sich von aller Politik sern zu halten;
und wie ich höre, ist diese Seite unsrer politischen Situation auch an anderen Orten
mit Erfolg geltend gemacht worden. Hat doch selbst der Stadtrath Aug. Moritz in
Stettin, der sür die beste Schrift gegen den Constitutionalismus Prämien aussetzte, jetzt
anerkannt, daß man an der Verfassung festhalten müsse, um den Anforderungen der
Ritterschaft entgegentreten zu können! Und da sage man noch, daß zu unsrer Zeit nicht
Zeichen und Wunder geschehen, während dock) selbst die Blinden sehend werden! Wir
würden somit in der Stimmung, sowol der Urwähler, wie der Wahlmänner, eine,
Klärung, einen Fortschritt zum Bessern zu constatiren haben, selbst wenn die Wahl
selbst ein für uns ungünstiges Resultat gehabt hätte. Der Wunsch, das Bürger-
thum der Ritterschaft gegenüber vertreten zu lassen, wurde am Abende vor dem
Wahltage im erste» Wahlkreise von der ministeriellen Partei geschickt benutzt, die
Wähler irre zu leiten, und die Wahl des Herrn v. Manteuffel M sichern; zu diesem
Behuf wurde die alte Behauptung wieder aufgewärmt, daß der Herr Ministerpräsident
eigentlich der entschiedenste Gegner der junkerlichen Bestrebungen und das liberalste Mit¬
glied des Ministeriums sei; daß man diesen Damm gegen das Junkerregiment stützen
müsse, u. f. w. — Herr v. Patow, der zweite Candidat der liberalen Partei, sei
übrigens in den anderen Kreisen aufgestellt, würde auch unfehlbar im zweiten gewählt
werden, man würde sich also der Unbequemlichkeit einer Nachwahl aussetzen, wenn man
bei dieser Candidatur beharre. Das leuchtete Vielen ein, die sich nicht mehr genau
daran erinnern, daß schon oft in kritischen Perioden der Liberalismus des Herrn
v. Manteuffel in derselben Weise angepriesen worden ist, ohne daß man je eine thatsäch¬
liche Spur desselben entdecken konnte. Am Wahltage selbst wurde im entscheidenden
Moment, »ach Kühne's Wahl, das Gerücht verbreitet, daß v. Patow bereits im zweiten
Kreise gesiegt habe. Das gab den Ausschlag. Herr v. Manteuffel, der bei der Vor¬
wahl nur 112 Stimmen erreicht hatte, während die liberalen Candidate» Kühne,
v. Patow und Bock 243—274 Stimmen erhielten, siegte mit großer Majorität. Von
den Gewählten sind Kühne, v. .Patow und Riedel als Mitglieder der Linken bekannt;
Stadtrath Bock wird sich wahrscheinlich auch einer oppositionellen Fraction anschließen;
v. Manteuffel, v. Prittwitz sind ministeriell; Gamet und wahrscheinlich auch Dr. Rost
conservativ. Die Abneigung gegen das Junkerthnm hat ihren bestimmtesten Ausdruck
in den Wahlen v. Patow's und Riedel's gefunden; der Wunsch, die specifisch städti¬
schen Interessen vertreten zu sehen, sicherte die Wahl der Stadträthe Bock und Rost;
und daß man dem Ministerium, unter dessen Auspicien der Zollverein zerfällt, in der
Doppelwahl Kühne's den Mann entgegenstellte, der unter den Lebenden am thätigsten
für die Begründung des Zollvereins wirkte, ist eine thatsächliche Kritik unsrer Handels¬
politik. Für Kühne, der (abgesehen von der Wahl in Duisburg) zweimal gewählt ist,
und für v. Patow, der für Königsberg in d. N. angenommen hat, müssen Neuwahlen
vollzogen werden.
Was das allgemeine Resultat der Wahlen betrifft, so ist es für die liberale
Partei etwas günstiger ausgefallen als sie erwartete. Sie hatte für Berlin sehr geringe
Aussichten, und nach den Nachrichten, welche man über die Art und Weise, wie die
Regierung in der Provinz Preußen die „Leitung der Wahlen" in die Hand nahm, von
dort erhielt, erwartete die Linke aus jener Provinz nur ein Contingent von vier bis
fünf Abgeordneten. Indeß hat sich gezeigt, daß die Selbstständigkeit und der Muth der
einst so harten und frischen ostpreußischen Männer noch nicht vollständig gebrochen, daß
der patriotische Sinn noch nicht vollständig in Pessimismus, Lethargie oder Servilismus
untergegangen ist. Namentlich hat der Gumbinncr Wahlkreis trotz seiner sehr künst¬
lichen und wohl durchdachten Zusammenlegung, seine drei Kandidaten, Bräuer,
v. Saucken-Julienfelde und Simson, nach tapferen Kampf zum Siege geführt. Daß
die Königsberger Liberalen sich fast sämmtlich der Wahl enthalten haben, wird von
vielen Seiten sehr hart beurtheilt werden; indeß, wenn man die Cinzelnheiten über die
dermalige Lage der Stadt erfährt, — Dinge, die schon deswegen für eine öffentliche
Mittheilung nicht geeignet sind, weil sie keinen Glauben finden würden >—, so urtheilt
man viel milder.
Die liberale Partei wird in der künftigen zweiten Kammer etwa über sechzig und
einige Stimmen disponiren; sie hat also nicht, wie die Kreuzzeitung, die überhaupt
während der Wahlen eine sehr ängstliche Natur verrieth, einen Zuwachs gewonnen,
sondern eine numerische Einbuße erlitten. Dagegen sind in dieser Minorität sehr be¬
deutende Kräfte vereinigt; wir nennen v. Patow, Kühne, Wentzel, v. Linke, Simson,
Harkort, Gras Schwerin, Riedel, Kislar, Bürgers, R. v. Auerswald. Auch die beiden
Westphalen, die am Schlüsse der vorigen Session mit Herrn v. Patow so wacker gegen
die neuen Gemeindcordnungs-Entwürfe stritten, Schulenburg und Schulte, erblicken
wir in einer Zeit, in der diese Fragen zur Entscheidung kommen sollen, mit Freuden
unter den Gewählten. Aus demselben Grnnde würden wir es für sehr wünschenswert!)
halten, daß durch die Nachwahlen noch die Herren Dr. Veit, Lette, v. Rönne in Berlin,
Schubert in Königsberg, und v. Vinke-Olbendorf in die zweite Kammer kommen möchten.
Da wir in der Minorität sind, können wir um so weniger auf die Waffen verzichten,
welche eine reiche Erfahrung und wahrhaft praktische Kenntnisse diesen Männern in die
Hand gegeben haben. Der Nestor der liberalen Partei, v. Brünncck, einer der wenigen
noch kräftigen Zeugen jener unvergleichlichen Zeit, in der die Agrar- und Communal-
Verhältnisse Preußens in schöpferischer Weise durch Stein reorganisirt wurden, scheint
für die erste Kammer bestimmt zu sein.
Berichtigung.—
Die in Leipzig erscheinende Zeitschrift: „Die Grenzboten enthält in Ur. 22 ihres
laufenden Jahrgangs Seite 2ö6 f. unter der Ueberschrift: „Deutsche Diplomatie. Aus
Rom." einen Artikel, in welchem unter Beziehung aus zwei ausführlich reserirte Fälle
das Seiten der Königl. Preußischen Gesandtschaft zu Neapel in denselben eingeschlagene
Verfahren einer tadelnden Kritik unterzogen wird.
Der jenen beiden Fällen zum Grunde liegende Thatbestand ist jedoch ein wesentlich
anderer, als der in Ur. 22 der Grenzboten berichtete.
, Was nämlich den eingeführten der gedachten beiden Fälle anlangt, so verhält
sich derselbe thatsächlich folgendermaßen.
Im März dieses Jahres kam ein rheinischer Kaufmann, Namens Peters, mit dem
Dampfschiff von Sicilien in Neapel an. Es wurde ihm jedoch von der Königl.
Neapolitanischen Polizeibehörde die Erlaubniß zur Ausschiffung ans dem Grunde ver¬
weigert, weil ein Individuum gleiches Namens sich an der letzten sicilianischen Revolution
betheiligt hatte. Ein ganz gleiches Verfahren ist Seiten der Polizeibehörden des
Königreichs beider Sicilien auch den Angehörigen anderer Staaten gegenüber, namentlich
auch bei Engländern beobachtet worden, wenn sie gleiches Namens mit derartigen Com¬
plicen waren, und durch ihre resp. Gesandtschaften sich nicht legitimiren konnten. Die
Königl. Preußische Gesandtschaft zu Neapel, welche von dem den pp. Peters betroffenen
Mißgeschicke durch einen Freund desselben unterrichtet worden war, that unverzüglich
bei der Polizeibehörde Schritte, um die Erlaubnis; zur Ausschiffung für Peters zu er¬
langen. Da 'die Polizeibehörde Schwierigkeiten hiergegen erheben zu müssen glaubte,
wendete sich der Gesandte alsbald an den Königlich Neapolitanischen Minister der aus¬
wärtigen Angelegenheiten, welcher daraus sofort mit größter Bereitwilligkeit an die
Polizeibehörde die Weisung veranlaßte, den pp. Peters ausschiffen zu lassen. In Folge
dieser Weiterung verzögerte sich die Ausschiffung des pp. Peters um ein Paar (nicht,
wie die Grenzboten berichten, um 8) Tage, während deren er auf einem andern, im
Hafen liegenden Dampfschiffe bleiben mußte. Völlig unwahr ist die in den Grenzboten
befindliche Angabe, daß er „längere Zeit unter Räubern und Mördern auf einer Insel
gefangen gehalten und nach seiner Freilassung aus dem Lande gewiesen worden sei."
Im Gegentheil hat er nach seiner Ausschiffung frei und ungehindert seine Geschäfte in
Neapel betrieben und ist alsdann nach seinem Belieben abgereist. Ansprüche ans Ent¬
schädigung wegen der ihm bei seiner Ausschiffung gemachten Weiterungen hat pp. Peters
weder erhoben, noch hätte er sie nach Lage der Sache erheben können. Dem Königl.
Preußischen Gesandten hat er aber für die ihm von selbigem zu Theil gewordene
schleunige und wirksame Unterstützung wiederholt seinen Dank ausgesprochen.
Der Thatbestand des zweiten in den Grenzboten mitgetheilten Falles ist folgender.
Ein Student der katholischen Theologie, — nicht, wie die Grenzboten sagen, ein
großer Grundbesitzer und Baron, — reiste von Neapel nach Rom auf dem Wege über
San Germano wegen geringer Geldmittel zu Fuß. Unterwegs wurde er, seiner.Angabe
nach, von Räubern ausgeplündert. Der nächsten Polizeibehörde kamen seine Aussagen
hierüber und über seine Persönlichkeit, wegen seines äußerst ärmlichen Ausschns und, da
er völlig geläufig italienisch sprach, um so mehr verdächtig vor, als er keinen Paß zu
produciren vermochte. Sie verfuhr daher nach ihrer allgemeinen Instruction, d. h. sie
arrctirte ihn und brachte ihn nach Neapel, um dort die Richtigkeit seiner Angaben zu
constatiren. Leider erfolgte dies nicht mit der erwünschten Promptheit, so daß seine
Freilassung erst in Folge.der entschiedenen Verwendung des Königl. Preußischen Ge¬
sandte» erfolgte. Daß diese letztere nicht früher eintrat, hatte seinen Grund darin, daß
der Arrcstat sich erst spät an den Gesandten gewendet hatte. Nach seiner Freilassung
wurde dem Studenten von der Gesandtschaft jede zu einer sichern und bequemern
Weiterreise nöthige Unterstützung angeboten, von ihm jedoch solche abgelehnt. Nur mit
einem geringen Darlehn und einem Reisepaß versehn, begab er sich wiederum zu Fuß
auf dem Wege über Terracina nach Rom. Auf eine Entschädigung Seiten der Königl.
Neapolitanischen Regierung machte er keinen Anspruch.
Um übrigens Verzögerungen, wie sie in den vorliegenden Fällen vorgekommen
sind, für die Zukunft vorzubeugen, ist von der Königl. Preußischen Gesandtschaft bei
dem Pvlizeidepartement des Königreichs beider Sicilien der früher stets beobachtete
Gebrauch in Erinnerung gebracht, worden, wonach die Gesandtschaft von der Arrestation
von Individuen, die Preußische Unterthanen zu sein behaupten, sosort benachrichtigt
werden soll.
— Briefe über Staatskunst. Berlin, W. Hertz. — Wir
haben in der letzten Zeit mehrfach Gelegenheit gehabt, politisch-doctrinaire Schriften von
den verschiedenartigsten Standpunkten anzuzeigen, und in der Regel keine große Freude
daran gesunden. Die gegenwärtige ^Schrift ist das Schamloseste, was seit lauger Zeit
in dieser Art geleistet ist. Der Verfasser oder der von ihm fingirte Briefsteller richtet
seine politischen Betrachtungen an einen Freund und Duzbruder, der so eben zur Re¬
gierung eines kleinen Staats berufen ist. Er fordert denselben auf, dahin zu wirken,
daß sein Fürst das dem Volk gegebene Wort breche und die Verfassung aufhebe. Es
ist interessant genug, zu hören, wie er dies motivirt. „Schon, oben machte ich meiner
Indignation Luft über die politischen Contractjuden, welche die fürstliche Ehre, deren
Ausschreibung ihr ganzer Gerichtshandcl zum Zweck hatte, endlich als Instanz anzu¬
rufen frech genug sind. Den Falstaffs fürstlicher Ehre und Ritterlichkeit gehört die
Schenke und ein Gelächter. Wem aber sollte die Thräne der Scham aus dem Auge
eines fürstlichen Heißsporn Perry nicht brennend in die Seele fallen? Leider ist es
nicht anders, uicht allein der gerade, offene Weg des Rechts und der Sittlich¬
keit, auch der lichte Kranz der Ehre liegt erst jenseits der demüthigenden Schmer-
zensstraße eines Wortbruchs. Diese zu gehen, bedarf es freilich den Muth eines
Ritters Christi, der es laut bekennt: Weil ich mein Wort gab, meine fürstliche
Ehre zu gefährden, darum muß ich die Schmach tragen, es zu brechen, damit
sie lauter wieder hervorgehe." — So haben wir doch nun einen Begriff von der
„christlichen" Auffassung des Eides: denn es handelt sich nicht blos um ein Wort, sondern
um einen Eid: — „So wahr mir Gott helfe und sein heiliges Evangelium." In die
weiteren politischen-Tiraden einzugehen, lohnt nicht der Mühe; was brauchbar darin ist,
gehört anderen Schriftstellern an, unter andere» muß auch Riehl's in vieler Beziehung
anerkennenswerthes Buch „über die bürgerliche Gesellschaft" die Schmach erleben, daß
es hier als Muster citirt wird. Aber auf einen Punkt wollten wir doch unsre Freunde
aus dem Bürgerstande, die sich in ihrer Todesangst vor den Londoner Jakobinern der
tollsten Reaction verkaufen, aufmerksam machen. Unter den Heilmitteln, die der Ver¬
sasser der bedrohten Gesellschaft anempfiehlt, steht in der ersten Reihe die Wiederher¬
stellung der Ritterschaft als eiuer geschlossenen Corporation. Zu diesem Zweck soll die
Gesetzgebung über die Veräußcrlichkeit der Güter aufgehoben werden; dem Bürgerlichen
soll es nicht erlaubt sein, ein Rittergut zu erwerben, oder, wenn er es erworben hat, es
zu behalten, wenn er nicht von der Ritterschaft seines Kreises in den Adel aufgenommen
wird und sich verpflichtet, sein Gut in ein Fideicommiß zu verwandeln. — Möchten
dock) unsre ultraconservativcn Freunde aus diesen und ähnlichen Ansichten lernen, was
ihnen bevorsteht, wenn sie fortfahren, durch Schweigen oder auch durch Handeln der
Reaction in die Hände zu arbeiten. — Man hat ausgesprengt, das Buch rühre von
Heinrich Leo her; aber wenn wir diesem Fanatiker auch in Beziehung aus den Inhalt
alles Mögliche zutrauen, so können wir doch nicht glauben, daß er in seinem Styl zu
einer so saloppen Form, zu einem so brutalen Cynismus, zu einer.so widerwärtigen
Coquetterie mit jungdeutschen und burschikosen Phrasen herabgesunken ist. Der Ver¬
fasser wird wol eiuer von den Berliner Scribenten sein, die aus das liierarische Cabinet
aspiriren, und um nur überhaupt gehört zu werden, noch den Chor des gewöhnlichen
Servilismus überbieten zu müssen glauben.
Die Tauchnitz'sche Ausgabe englischer Schriftsteller. — Wir haben
öfters Gelegenheit gehabt, trotz der Verirrungen, die durch das Uebergewicht der Phan¬
tasie über den Geschmack auch in der neuern englischen Literatur gang und gäbe ge¬
worden sind, immer noch auf diese Literatur als aus diejenige hinzuweisen, in der sich
der meiste gesunde Menschenverstand und das natürlichste Rechtsgefühl geltend macht. In
der Literatur wie in der Politik kann ein enger Anschluß an England uns nur zum
Segen gereichen. — Die Tauchnitz'sche Buchhandlung hat sich daher ein großes Verdienst
erworben, daß sie die englische Literatur, die in ihren Originalen sür die Bibliothek
eines deutschen Gelehrten nicht zu erschwingen ist, in wohlfeilen, dabei sehr gut aus¬
gestatteten und sast correcten Ausgaben dem Publicum zugänglich gemacht hat. Da
sie nach unsrem Vertrage mit England die englischen Verleger entschädigen muß, so ist
der Preis von einem halben Thaler sür den Band gewiß sehr billig. Was wir noch
zu wünschen hätten, wäre eine größere Rücksicht aus die wissenschaftliche Literatur, in der
jedenfalls gegenwärtig in England Bedeutenderes geleistet wird, als in der Belletristik. Wir
haben z. B. schon einmal die Frage ausgestellt, ob es nicht möglich wäre, Grote's Geschichte
Griechenlands, die keineswegs blos für den Gelehrten, sondern sür Jeden, der über¬
haupt politischen und historischen Sinn in sich trägt, geschrieben ist, in diese Ausgabe
aufzunehmen. — Wir theilen hier die letzten Lieferungen dieser Ausgabe mit. Zuerst
ein Reisewerk von Eliot Warburton: „Ine oresovnt -mal tuo eross; or, romsnos
sua roslities ok esstern travol (Der Halbmond und das Kreuz; oder Wahrheit und
Dichtung einer Reise im Orient)." Zwei Bände. Der Titel soll keineswegs eine
Mischung von Anschauung und Erfindung ausdrücken, er bezieht sich nur auf die Form
der Darstellung. Diese elegante und höchst graziöse Form hat dem Werk, welches im
Uebrigen sehr ernst gehalten ist, in England eine große Popularität verschafft; es hat
in kurzer Zeit die achte Auflage erlebt und wird auch in wohlfeileren Ausgaben unter
das Volk verbreitet. Die Reise des Verfassers geht durch Egypten, Nubien, Kleinasien,
Palästina, die Türkei und Griechenland, und giebt überall neue Anschauungen und
lebendige Schilderungen. Ferner der Roman der Mistreß Stowe, den wir vor einigen
Wochen besprochen haben: „Vnols loin's vlibin," Die Verfasserin hat für diese Aus¬
gabe (in zwei Bänden) eine eigene Vorrede geschrieben, in welcher sie die menschenfreund¬
lichen religiösen Grundsätze, die sie bei ihrer Schrift geleitet haben, auseinander setzt.
Ueber den fabelhaften, an's Wunderbare streifenden Erfolg dieses Buchs habelr wir uns
schon verbreitet; er scheint aber noch größer zu sei», als wir es angegeben haben,
wenigstens versichert uns ein glaubwürdiger Buchhändler aus der zuverlässigsten Quelle,
daß in einer einzelnen englischen Ausgabe vicrmalhuudcrttauseud Abzüge gemacht sind.
In Deutschland sind bereits einige zwanzig Uebersetzungen erschienen oder ange¬
kündigt. Etwas zu diesem Erfolg trägt freilich die krankhafte Neigung zu gräulichen
Dingen bei, durch welche auch die Mysterien so sehr verbreitet sind. Im Allgemeinen
aber hat er doch eine solidere Grundlage; er beruht aus einer gerechten sittlichen Ent¬
rüstung. — Von dem neuen Roman von Dickens: „Llesli Iiouse", den wir auch be¬
reits mehrmals angeführt haben, ist der erste Band erschienen. Er umfaßt die ersten
fünf Monatshefte. Der ganze Roman wird also in vier Bänden erscheinen.— Eben so
viel Bände soll Bulwer's neuestes Werk enthalten: „N^ novoi; or, varieliss in
Knglisli Mo. Kz? kisistrslus Lsxton." Drei Bände davon sind bereits erschienen.
Bekanntlich kommt er zuerst in einzelnen Lieferungen in Nggs?ins heraus-.
Bulwer ist trotz seiner vornehmen Geringschätzung der Masse den Einflüssen- der öffent¬
lichen Stimmung sehr ausgesetzt. Der letzte Roman, den wir von ihm besprochen haben,
„die Caxtons", war offenbar unter dem Einfluß der Dickens'schen Popularität geschrieben;
in dem gegenwärtigen erkennen wir neben Dickens noch Thackeray, ja selbst noch etwas
von der Carlyle'sehen Schule heraus. Den Vorzug, welcher die besten seiner früheren
Romane auszeichnete, die strengere Composition, als bei englischen Romanen sonst
gewöhnlich zu sein pflegt, hat Bulwer diesmal ganz aufgegeben. Die Form ist lose,
Ereignisse, Dialog, Humor und Reflexion drängen sich bunt durch einander. Seine
Stimmung und seine Laune haben sich nicht gerade gebessert, seitdem der wackere Ba-
ronet die Fahne des Liberalismus im Stich gelassen und sich mit den Vollbluttories
verbunden hat. Aber ein sehr feiner Beobachter der Welt bleibt er doch bei allen
Schwächen, und da er in der sogenannten guten Gesellschaft mehr zu Hause ist, als
irgend einer der englischen Romanschreiber, so kann man über die englischen Zustände
sehr viel aus ihm lernen. — Einen weitern Bericht über die beiden letzteren Werke
behalten wir uns vor, sobald sie vollendet sein werden.
Als Neuigkeiten der englischen Literatur fügen wir hinzu: eine metrische Uebersetzung
der Luise von Voß, von James Cochrane herausgegeben. — Die große Ausgabe der
Werke von Robert Burns in i Bdn., besorgt durch Robert Chambers, und mit
einer sorgfältig ausgearbeiteten Biographie ausgestattet, ist jetzt vollendet.— Von dem
bekannten Irischen Novellisten, -Charles Lever. erscheint j ein neuer Roman: „IIis
voää ?galt7 -^dro-za." — Nathaniel Hawthorne, jener amerikanische Dichter,
von dem wir vor einiger Zeit eine Charakteristik gegeben haben, hat einen neuen Roman
geschrieben: „Ine Klitlikälile Komanoe", der die Fehler und Vorzüge seiner früheren
Werke in vollem Maße wieder vereinigt. Der Roman idealisirt die Tendenzen von
Brook-faren, jenen Versuch der jungen amerikanischen Socialisten, ihre schwärmerischen
Ideen in's Werk zu setzen, und eine der Hauptpersonen des Romans, Zenobia, bezieht
sich auf die Prophetin dieser Schule, Margarethe Futter, die wir gleichfalls geschildert
haben. Wir finden eine Menge geistvoller Ideen und sinniger und gemüthlicher Schil¬
derungen darin, und wenn auch die Grundstimmung des Werks, jene weiche, trauervolle,
pietistische Resignation, welche die Schule Shelley's nicht wieder los wird, uns nicht
gerade erfreulich ist, so glauben wir doch das Werk ungefähr eben so der Aufmerksamkeit
empfehlen zu dürfen, wie etwa Thackcray's Schriften. Thackeray ist ihm zwar an
Reichthum der Weltkenntnis?, an Feinheit und Sauberkeit der Zeichnung bedeutend über¬
legen, dagegen hat Hawthornc mehr Poesie, mehr Intensität des Gemüths und mehr
Farbe. sowol dieser Roman, als der frühere, „Das Haus mit sieben Giebeln", könnten
wol in der Tauchnitz'schen Ausgabe Aufnahme finden. — Die Opposition. welche in
Frankreich von Seiten der Geistlichkeit gegen den philologischen Unterricht erhoben ist,
giebt auch in England zu mannichfachen Besprechungen Veranlassung. Die bekannte
Schrift des Ubbo Charme: „I^s ver ronZour <Zos sooietös moclsrnes" ist in's Eng¬
lische übersetzt unter dem Titel: „?agamsm in Läuoalion." Natürlich ist Alles, was
sich in England zu den gebildeten Klassen zählt, einstimmig in der Verurtheilung
dieser Doctrinen, hinter denen doch mehr Ernst steckt, als man gewöhnlich annehmen
möchte.
— Das- große Requiem von Hector Berlioz wurde am 22. October
in Paris in der Se. Eustachius-Kirche aufgeführt. Es geschah dies zu Ehren des
,Baron Frsmont, der sich als Beschützer der Künste in Paris große Verdienste er¬
worben hat. Sein Testament enthält eine Schenkung von 18,000 Franks jährlichen
Renten, die zum Besten der Kunst und der Künstler aufgewendet werden sollen. Der
allgemeine Verein der Schriftsteller, Musiker, Maler ze. bezieht eine Rente von
1630 Franks; außerdem sind von ihm mehrere Preise für Musiker und Maler ge¬
stiftet. Eine große Anzahl von musikalischen Vereinen lieh ihre Kräfte zur Ver¬
herrlichung dieser Feierlichkeit, und selbst das Konservatorium, Ander an seiner Spitze,
hatte sich nicht ausgeschlossen. Berlioz dirigirte das ans 600 Personen bestehende
Orchester, Tilmont den Chor, Roger sang das Sanctus. Die Zeiten scheinen sich
überhaupt günstiger sür den französischen Komponisten zu gestalten; nicht nur, in London
erlebte er große Triumphe, auch Deutschland beeilt sich, ihm seine Ergebenheit zu be¬
zeigen, die er persönlich anzunehmen gedenkt. Er wird nämlich den 13. November in
Weimar eintreffen, um daselbst seiue von Franz Liszt cinstudirte und schon im vorigen
Jahre ausgeführte Oper, Benvenuto Cellini, zu hören. Bekanntlich wurde diese Oper nur ein¬
mal, im Winter des Jahres 1837, in Paris ausgeführt, und blieb dann so lange unter
den Partituren des Komponisten vergraben, bis Liszt sich ihrer annahm und mit deut¬
scher Uebersetzung im März 1832 in Weimar zur Aufführung brachte. In einer andern
musikalischen Aufführung werden die Sinfonien mit Chören: Romeo und Julia
(geschrieben ungefähr 1838) und Faust, (zuerst voriges Jahr in London einstudirt)
dem Publicum mitgetheilt werden; der Komponist wird sie selbst dirigiren. —
Im vierten Gewandhausconcerte wurde an Orchestcrwerken die 8te Sinfonie (? vur)
von Beethoven und die Concertouverture von Jul. Rietz Dur) aufgeführt.
Concertmeister Raimund Dreischock spielte das ?is-woll Concert für Violine von Ernst
und eine Fuge moll) für Violine allein von Joh. Seb. Bach; Fräulein Westcr-
strand aus Stockholm sang Arien aus der Nachtwandlerin und Zauberflöte^, daun zu¬
letzt einige schwedische Lieder. — Im fünften Concerte standen auf dem Programme die
K-moll Sinfonie von Mozart, Beethoven's Fantasie für Pianoforte, Chor und
Orchester, dje Clavierstimme von N. Nadeckc vorgetragen, und Mendelssohn's Chöre zu
Racine's Athalia. —
In Dresden kam in einem, zum Besten deö Theaterchor-Pensionsfonds veranstalte¬
ten Concerte ein interessantes Stück vor: eine Cantate von Beethoven für Solo, Chor
und Orchester, genannt der glorreiche Augenblick, geschrieben im Jahre 4813 zu
einer Feierlichkeit während des Wiener Congresses. Diese Cantate ist bald nach ihrem
Entstehen nur noch an einigen Orten aufgeführt worden; seitdem ist sie aber liegen
geblieben, und der Dresdner Capelle bleibt somit das Verdienst, dieses von allerhand
sricdensscrtigen Phrasen und devoter Ausdrücken geschwängerte Werk der Vergessenheit
entrissen zu haben. Die Eigenthümlichkeiten Beethoven's treten in jeder Zeile hervor,
doch ist das Werk unter seine schwächeren zu zählen,- einige Sätze desselben ausgenommen,
z. B. die Arie für Sopran und das Violinsolo in ö Dur. In demselben Concerte
wurde auch eine italienische Arie von Majo (lebte in den letzten Decennien des vorigen
Jahrhunderts) für Tenor vorgetragen, die Zeugniß ablegt von der großen Tüchtigkeit
dieses Komponisten, in welcher aber auch zu gleicher Zeit deutlich zu erkennen ist, wie nahe
Mozart den Italienern jener Zeit verwandt ist, wie sie allein die ganze Grundlage
seiner ersten Opern, in manchen Fällen sogar auch des spätern Titus, gewesen sind. —
Die bekannte Suite für Orchester (v Dur) von Joh. Seb. Bach, seit grauen Jahren
in Leipzig schon ein Repertoirstück des Gewandhauses, wurde an demselben Abende zum
ersten Male in Dresden gespielt. —
Der Tannhäuser von Nich. Wagner macht im Dresdner Theater volle Häuser
und clektristrt das Publjcum. Im Dresdner Anzeiger ist darüber ein lebhafter Streit
zwischen den Anhängern und Gegnern Wagner's entstanden, der oft in niedrige
Schimpfreden ausartet. Die freimüthige Sachscnzeitung ist entrüstet über die dem
Mairebellen wiederfcchrnen Huldigungen. —
In Copenhagen ist eine neue romantische Oper, Flucht und Gefahr, von
Henrik Rung mit so großem Beifall aufgeführt worden, daß sie schon über 20
Wiederholungen erlebt hat. Der Komponist ist Singmeister am Königl. Theater daselbst,
und genießt schon längere Zeit große Achtung in seinem Vaterlande wegen seiner Ro¬
manzen und Gesänge. Die Oper ist mit der deutschen Bearbeitung von Edmund
Lobedanz dem königl. Theater in Berlin vorgelegt worden. Schon früher gab man
daselbst von ihm die Musik zu Henrik Hertz's „Svend Dünn's Haus." Bei Breitkopf
und Härte! in Leipzig wird nächstens ein Heft seiner Romanzen mit deutschem Texte
erscheinen.
— Die Bibel in Bildern von Julius Schmorr
von Karolsfeld. Leipzig, 18ö2. Verlag von Georg Wigand. Eine Sammlung
von 240 Blättern, aufzugeben in 30 Lieferungen jede zu 8 Blättern. Prachtausgabe
für jede Lieferung 4 Rthlr., Volksausgabe 10 Sgr. Erste Lieferung mit einer Vor-
rede: über den Beruf und die Mittel der bildenden Künste, Antheil zu nehmen an der
Erziehung und Bildung der Menschen, nebst einer Erklärung über Ausfassungs- und Be¬
Handlungsweise der Bibel in Bildern von Julius Schmorr. — Ist es erlaubt an einem
Werke, was mit solcher Begeisterung und solchen Anstrengungen von Seiten des Künstlers
wie des Verlegers an's Licht gefördert wird, Etwas auszusetzen, so würde das eben
die Ausfassungs- und Behandlungsart betreffen. Der Künstler hat die Darstcllungs-
art des Michel Angelo und Raphael gewählt und trägt sie, die diese Meister bei Aus¬
schmückung von Kirchen und Palästen anwandten, über aus die Blätter eines Volksbuches.
So spricht er in einer ftcmdklingcnden, nur dem Kunstgebildctcn verständlichen, pathe¬
tischen Sprache, nicht in den ungesuchten klaren und treffenden Ausdrücken, die an den
Familientisch des schlichten Bürgers gehören, und dort mehr zum Herzen als zum Ver¬
stände sprechen. Einem Werke, was die schöne Bestimmung hat. Jugend und Volk zu
erziehen, wäre eine etwas populaircre Darstellungsweise zu wünschen.
'
Jules Gailhabaud's Denkmäler der Baukunst. Unter Mitwirkung von
Franz Kugler und Jacob Burckhardt, herausgegeben von Ludwig Löste.
400 Tafeln und über 90 Bogen Text. 4 Bände cartvuirt. gu t. Preis -100 Nthlr.
Joh. Aug. Meißner's Verlagsbuchhandlung. Hamburg 1832. — Ein Sammelwerk,
welches in charakteristischen Beispielen eine gedrängte Uebersicht der Geschichte der Bau-'
kunst aller Volker giebt und so, indem die Architektur als Mutter und Trägerin aller
schönen Künste einen gerechten Maßstab für Entwickelung und Blüthe der Kunst im
Allgemeinen darbietet, das beste Material zur Verbreitung geschichtlicher und künstlerischer
Kenntnisse in weiteren Kreisen auf vollständigere und genügendere Art durch Bild und
Wort gewährt, als irgend ein anderes uns bekanntes ähnliches Werk. Die Zeichnung
ist durchgängig so correct und doch so ansprechend, der Stich so solid und dabei elegant,
daß die Ausführung Nichts zu wünschen übrig läßt. Der den Bildwerken beigegebene
Text ist, soweit 'er in dem französischen Originale gründlicheren Bedürfnisse genügte,
übersetzt oder bearbeitet, wo dieses aber nicht ausreichte, durch deutsche Original^Aufsätze
oder Auszüge aus umfangreichen deutschen Monographien vervollständigt worden. Eine
Uebersicht des Inhaltes möge von dessen Reichhaltigkeit einen Begriff geben. Erster
Band: Denkmäler aus alter Zeit. I. Abtheilung Celtische (10 Tafeln). II. Pelas-
gische (9 Tafeln). III. Aegyptische (19 Tafeln). IV. Griechische (25 Tafeln). V. In¬
dische (t Tafeln). VI. Persische (3 Tafeln). VII. Etruskische (7 Tafeln). VIII. Rö¬
mische (33 Tafeln). Zweiter Band: Denkmäler des Mittelalters. I. Altchristliche
(14 Tafeln). II. Mcrowingische und Karolingische (II Tafeln). III. Arabische
(13 Tafeln). IV- Byzantinische (6 Tafeln). V. Denkmäler des romanischen Styls
(78 Tafeln). Dritter Band: Denkmäler des Mittelalters. VI. Abtheilung: Denkmäler
des gothischen Styls (79 Tafeln). Vierter Band: Denkmäler der neuern Zeit. I. Ab¬
theilung: Denkmäler des Kenaissanoö-Styls (51 Tafeln). II. Denkmäler des 17.
und 18. Jahrhunderts (16 Tafeln). III. Denkmäler des 19. Jahrhunderts (6 Tafeln).
IV. Anhang. Mexicanische Denkmäler (12 Tafeln).
Der Ticino, welcher dos Königreich Sardinien von den italienischen Pro¬
vinzen seiner k. k. apostolischen Majestät trennt, ist nur ein kleiner Fluß, und
doch bildet er gegenwärtig eine gar gewaltige Scheidelinie. Selten habe ich.
einen so jähen Gegensatz zwischen zwei Nachbarstaaten gefunden, wie jetzt beim
Uebergange von östreichischen auf sardinisches Gebiet. Und doch ist das Volk
jenseit und diesseit der gelben Wasser des Ticin dasselbe, es spricht eine Sprache,
hat gleiche Lebensgewohnheiten und Sitten, nährt gleiche glühende Hoffnungen,
gleich tiefen Haß. Der Bauer der Lombardei würde mit ruhiger Miene den
k. k. Gensdarmen, den irgend ein Unglück träfe, hilflos umkommen lassen, nicht
einmal weibliches Mitleiden könnte den tiefen nationalen Haß besiegen, selbst der
Räuber und Mörder wird von seinen Landsleuten nur selten ihren fremden Be¬
schützern verrathen, wenn es aber gilt, die kecken sardinischen Schmuggler zu
unterstützen, oder gar irgend einen geächteten Flüchtling der Polizei zu verbergen,
dann ist der Longobarde in Feuer und Flammen, er besiegt seine Indolenz und
vergißt sogar seinen Eigennutz. Ist aber die sardinische und lougobardische Be¬
völkerung, soweit letztere ihre Gesinnungen äußern darf, aus denselben Stoffen,
so sind die oberen wie niederen Behörden derselben desto mehr verschieden. Alle
Personen, mit denen der Reisende in den k. k. Provinzen Italiens zusammen¬
kommt, sind fast durchweg uicht Söhne derselben. Das an 100,000 Mann starke
Heer, dessen Soldaten in starken Patrouillen Wachen und unzähligen Posten
überall, selbst in den kleinsten Städten, sich zeigen, sind größtentheils Slaven,
Ungarn und Deutsche. Die italienischen Truppen stehen jetzt sämmtlich in
Böhmen, Gallizien und Ungarn, dagegen vorzugsweise viel böhmische, gallizische,
mährische und steyerische Regimenter in Italien. Selbst die grün und rosen-
rothen Gensdarmen, mit ihren preußischen Pickelhauben und französischen selben
Fangschnüren, sind größtentheils Welsch-Tyroler, da sie der italienischen Sprache
mächtig sein müssen, doch anch Böhmen, Deutsche, Kroaten; nur selten eigentliche
Italiener/ Gleiches ist bei den Post-, Steuer- und Polizeibeamten der Fall.
Das Volk selbst in allen seinen Ständen, mit Ausnahme derjenigen, die unmittelbar
darauf angewiesen sind, von den Fremden zu leben, wie Gastwirthe, Lohnbediente,
Vetturine, Kofferträger und Bettler, wird sorgfältig jegliche Berührung mit
denselben vermeiden, zumal wenn es den Deutschen in ihnen erkannte. Selbst auf
höfliche Fragen an anständige Personen, nach Straßen und Plätzen u.s.w. erhält
man in Mailand häufig gar keine Autwort, kein Longobarde wird sich im Post¬
wagen, Kaffeehaus, Theater mit einem Deutschen so leicht in ein Gespräch ein¬
lassen, ja das Erscheinen eines Deutschen reicht hin, ein ganzes Kaffeehaus
verstummen zu machen, eine Wirthsstube sogar zu leeren. Es sind in Mailand
einige Kaffee- und Gasthäuser, die nur vou Officieren und Beamten besucht
werde», und selten wird ein Italiener dieselben betreten, ja viele werden es ver¬
meiden, an denselben anch nur vorüber zu gehen. Selbst das weibliche Geschlecht,
vornehm wie gering, theilt mit wenigen Ausnahmen diese Zurückhaltung gegen
die Oestreicher und Alle, die sie mit denselben in Zusammenhang glauben. Der
stattlichste Grenadier soll in Mailand oder Brescia nur mit der größten Schwierig¬
keit ein italienisches Dienstmädchen zur Geliebten bekommen können; die Dame
Von Stande wird sehr selten mit einem Officier sprechen, oder gar tanzen.
Habe ich doch anf dem Lago-Maggiore gesehen, daß ein sehr artiger östreichischer
Officier einer jungen schönen Dame aus einer vornehmen italienischen Familie
bei dem Einsteigen von dem Dampfer in das 'stark schwankende Boot behilflich
sein wollte, diese aber mit verächtlicher Geberde seinen Arm zurückschob und in
italienischer Zunge sagte: „ich habe Ihre Hilft nicht verlangt, mein Herr", und
so wartete, bis der Bootsführer ihr behilflich sein konnte. Solche und ähnliche
kleine Züge, die den unheimlichen Zustand in den italienischen Provinzen Oest¬
reichs genügend charaktensircu, wird mau überall in Menge finden.
Ganz anders, sobald man das sardinische Gebiet betreten hat. Zuerst fällt
dem Reisenden auf, daß er kaum ein Viertheil so viel Militair- und Civil-Uni¬
formen erblickt. Die zahlreichen Infanterie- und Kavallerie- Patrouillen auf der
Landstraße haben aufgehört, die Thore der kleinen Städte und Flecken sind nicht mehr
mit Piquets besetzt. Nur die Gensdarmerie ist ziemlich zahlreich. Ein zwangloser
fröhlicher Verkehr, wie der Italiener ihn so sehr liebt, herrscht zwischen der be¬
waffneten Macht und dem Bürgerthum, von einer Absonderung, einem gegen¬
seitigen Haß zwischen Beiden keine Spur. Soldaten sitzen in den Schankstnben
und trinken lachend und scherzend mit den Bauern oder Handwerkern aus der¬
selben „Lottisslig" den dunkeln rothen Wein, Officiere plaudern in den Kaffee¬
häusern unbefangen mit Civilisten, wandern Arm in Arm mit ihnen umher. Man
sieht, Kriegerstand und Bürgerthum sind hier demselben Volke entsprossen, von
gleicher nationaler Gesinnung beseelt.
Das sardinische Heer ist in seiner äußern Haltung wie in seiner Znsammen¬
setzung ein sehr tüchtiges, das den Vergleich mit keiner andern europäischen
Armee zu scheuen braucht. Die Infanterie hat in ihrer Uniformirnng und ge¬
wandten militairischen Haltung sehr viel Ähnlichkeit mit der preußischen. Was
die Leichtigkeit des Exercirens und die Schnelligkeit aller Bewegungen anbetrifft,
so dürfte sie sich mit der östreichischen Linien-Infanterie vollkommen messen tonnen,
ja diese vielleicht übertreffen. Bei Ertragung von Strapazen und Ausdauer im
Marschiren aber siud die älteren, langgedienten Soldaten der meisten slavischen
Infanterie-Regimenter Oestreichs den Sardiniern offenbar überlegen. Einen
Vorzug besitzt das sardinische Heer, es ist ganz ans einer Nationalität hervor¬
gegangen. Es liegt mir fern, die vielen und nicht geringen Vorzüge, welche die
k. k. Armee unbestritten besitzt, irgendwie im mindesten herabsetzen zu wollen.
Sehr viel geschieht jetzt für das Heer Oestreichs, die Hauptstütze des Kaiser¬
staates, so daß man wol mit Recht etwas Tüchtiges von demselben erwarten
kann. Die große Verschiedenheit der Nationalitäten aber, die in demselben
dienen, und sich doch dabei bitter unter einander hassen, wird stets eine schwache
Stelle desselben bleiben, der selbst bei dein besten Willen nicht abzuhelfen
ist. Bei den Officieren macht sich diese Nationalitätseifersucht nicht geltend, dort
herrscht im Gegentheil ein so inniges Verhältniß, wie man es in keinen anderen
Heeren findet. sind doch besonders jetzt, wo man sehr wenige Ungarn, Ita¬
liener und polnische Edelleute als Officiere in der Arme hat, fast ein Viertheil
Ausländer, die keine andere Heimath als die kaiserlichen Fahnen kennen. Desto
schärfer tritt der Nalioualitätenhaß nnter der Mannschaft hervor. Der Böhme
verachtet den Deutschen und haßt den Ungarn und wird von diesen Beiden wieder
mit ungünstigen Augen angesehen. Der Ungar steht schroff allen Anderen gegen¬
über, in denen er die Besieger seines Vaterlandes erblickt, und nicht geringern
Haß hegt der italienische Soldat gegen alle seine polnischen, deutschen, böhmischen
und arvalischen Kameraden, mit welchen er jetzt gezwungen den gleichen Rock
trägt. Gerade dieser geringe kameradschaftliche Sinn läßt die Soldaten der ver¬
schiedenen Nationalitäten sich im Felde nicht gegenseitig unterstützen, er hat bewirkt,
daß die k. k. Armee bei d«in'letzten Feldzügen in Italien und Ungarn vcrhälmiß-
mäßig so ungeheure Verluste erlitten hat. Es ist unglaublich sast, welche Opfer an
Menschen manche Regimenter weniger in den Feldschlachten, als bei anderen Ge-,
. legenhciten verloren haben, und ist dieser Verlust in seiner vollen Stärke nie,
auch nur annäherungsweise bekannt gemacht worden. Der italienische Soldat ist
nicht erzürnt darüber, wenn seine böhmischen Kameraden recht viele Verluste
erleide»; der Böhme, der im Lazareth zum Krankenwärter commandirt ist., läßt
sich die Sorge für die Deutschen oder Ungarn gerade nicht allzu angelegentlich
sein, und so geht es fort. Selbst die strengsten Befehle der Officiere können
dergleichen Mißverhältnisse nicht ausgleichen, wenn es an gutem Willen, an
eigenem Interesse der Mannschaft fehlt. Ein zweiter Uebelstand, der sich aus
diesen verschiedenen Nationalitäten ergiebt, ist, daß die Soldaten oft so sehr
geringe Anhänglichkeit an ihre Officiere haben und denselben so fern gegenüber¬
stehen. Besonders jetzt, wo die ungarischen und italienischen Regimenter fast
durchgängig von fremden Officieren befehligt werden, tritt dies scharf hervor. Es
giebt in den ungarischen Regimentern, namentlich bei den ganz neu organisirten
Husaren-Regimentern, junge deutsche Rittmeister, denen die in Oestreich allmäch¬
tige Protection ein bevorzugtes Avancement verschaffte, die sich kaum auf das
Nothdürftigste mit den Soldaten ihrer Schwadron unterreden können^ Zwar ist
in letzter Zeit ein erneuter Befehl gegeben, daß jeder Officier die Sprache des
Regiments, bei dem er diene, auch sprechen müsse, doch fehlt es an der pünkt¬
lichen Ausführung desselben. Bei den vielen Versetzungen, die besonders bevor¬
zugte Officiere, welche man rasch cwanciren lassen will, von Regiment zu Regiment,
erfahren, bleibt ihnen selbst beim besten Willen kaum Zeit und Muße, die mannich-
fachen Sprachen und Dialekte auch nur einigermaßen zu lernen. Welche viel¬
fachen Uebelstände es aber im Felde herbeiführt, wenn der Officier die Sprache
der Leute, die er befehligen soll, nicht sprechen kann, zumal wenn diese keinen
besondern Enthusiasmus für die Sache habe», bedarf keiner Auseinandersetzung.
In der sardinischen Armee ist dies nicht der Fall, sie ist ganz aus einem
Gusse. Dazu verbindet noch ein festes Band dieselben und dies ist — leider —
der glühendste Haß gegen Oestreich/ Von diesem Haß sind Alle, Alle, ohne
Ausnahme beseelt. Der älteste General wie der jüngste Tambour, der aristo¬
kratischste Edelmann wie der demokratischste el-elevant, Freischärler tragen denselben
mit gleicher Stärke in ihrer Brust. Man sagt uns nach, wir Deutschen mit
unsrem kalten ruhigen Blut verständen weder heiß zu lieben, noch zu hassen, und
wahrlich von diesem intensiven, Alles durchdringende« Haß, wie er im Volke und
in der Armee Sardiniens herrscht, kann man sich bei uns kaum einen Begriff
machen. Gegen die Oestreicher wieder zu kämpfen, ist der einzige Wunsch Aller,
für dessen Erfüllung man vieles Andere mit Freuden hingeben würde. Unablässig
werden die beschwerlichsten Waffenübungen vorgenommen, und den ganzen Tag
wird in allen Garnisonen auf eine Weise exercirt und marschirt, wie man sie in
Potsdam nicht strenger sehen kann. Und wenn die etwas weichlichen Piemon-
tesen der Ebene sich dabei ermattet zeigen, und der lebhafte verwöhnte Geruche
sich langweilt, dann bedarf es nur einer leisen Andeutung, daß man in den Waffen
geübt sein müsse, um den hoffentlich bevorstehenden Kampf mit Ehren zu bestehen,
und neuer Eifer beseelt Alle. Solcher Geist herrscht überall im Heere Sar¬
diniens.
Aber diese Kriegslust gegen Oestreich, so gewaltig sie auch ist, übertäubt
doch nicht die Stimme der ruhigen Besonnenheit. Man hat in den für Sar¬
dinien unglücklichen beiden Feldzügen von 48 und 49 einige sehr bittere Er¬
fahrungen machen müssen, deren Eindruck für die kommenden Zeiten nicht ver¬
loren gegangen ist. Die erste dieser Erfahrungen ist die, daß Sardinien allein
für sich unmöglich einen Kampf mit Oestreich beginnen, und noch viel weniger
auf die Länge aushalten kann; der sardinische Staat zählt an 3 Millionen Ein¬
wohner, und kann bei der größten Anstrengung nur eine Armee von höchstens
33—36,000 Mann Landtruppen in's Feld stellen; der östreichische aber von 38 Mil¬
lionen läßt leicht 300,000 Soldaten marschiren. Dieses große Uebergewicht der
k. k. Armee macht natürlich die Besiegung der sardinischen, wenn diese allein auf
sich angewiesen wäre, ganz unzweifelhaft. Was hälfe es letzterer auch, wenn sie
das östreichische Heer selbst in der blutigsten Feldschlacht völlig geschlagen hätte,
da dieses auch den größten Verlust durch Heranziehung von Reserven schnell wieder
ergänzen kann. Man hat dies in den Feldzügen von 48, besonders aber von
49 deutlich gesehen. Trotz des feurigen Muthes und einer erträglichen Waffen¬
tüchtigkeit, welche schon damals selbst die Feinde rühmend anerkannten, ist die
sardinische Armee jedesmal völlig besiegt worden, weil sie in der Minderzahl und
ohne Reserven kämpfen mußte, welche letzteren die Oestreicher ungeachtet vieler
für sie ungünstigen Verhältnisse immer herbeiziehen konnten. Auch im Jahre 48
war die östreichische Armee stärker wie die regulairen Truppen, d'le ihr gegen¬
über im Felde standen. Ich will hierdurch nicht die unbestreitbaren großen Verdienste
des Marschalls Radetzky, der damals allein die aus einander fallende Monarchie
gerettet hat, verringern. Gerade daß er "es verstand, unter so schwierigen und
hemmenden Verhältnissen doch ein tüchtiges und überlegen starkes Heer zu ver¬
einigen, ist sein und seines Generalstabs größtes Verdienst. Die zweite ernste
Lehre, die man in jenen Jahren erhielt, war die, nicht allzu viel ans Volksbegei¬
sterung, die sich mehr in Worten wie Thaten zeigt, zu bauen, und die Hilfe von
Freischaaren und ähnlichen undisciplinirten Truppen nicht hoch anzuschlagen.
Diese „^roeiati" und Parteigänger haben nach der einstimmigen Versicherung
der sardinischen Officiere ihnen mehr geschadet als genützt. Es war nie mit
Sicherheit auf dieselben zu zählen, und wenn auch nicht immer der Muth fehlte —
bei Vielen soll auch dies der Fall gewesen sein — so doch stets die nöthige
Disciplin, ohne welche es im Kriege einmal nicht geht. Jeder Anführer einer
solchen Schaar hat lieber auf eigene Faust operirt, wie sich den Befehlen des
Obercommandos gefügt, und die einzelnen Untergebenen sind dem Beispiele ihrer
Führer gefolgt. Ist doch der Italiener' noch ungleich redseliger und aufgelegter
zum Nenommiren und Aufschneiden, als der Deutsche. — „Ein Paar Ba¬
taillone von unsren LörsaKlic-rc; (Bergschützen) und einige gute schwere Batterien
haben den Oestreichern mehr geschadet, wie alle diese Haufen von Freischaaren
mit ihren rothen wallenden Federn auf den CalabreserHüten, mächtigen
Bärten und klappernden Säbeln." Dies ist der Refrain aller Betrachtungen über
die letzten Kriege, welche sardinische Officiere anstellten. Sie verachten jetzt ein
wenig die Begeisterung des Volks. Dasselbe Volk von Mailand, das im Anfang
des Krieges von 1848 die sardinischen Truppen mit übcvschwäuglicher Begeisterung
aufnahm, verschloß denselben später bei ihrem nothgedruugeueu Rückzüge die Thore, ,
verweigerte ihnen fast die Lebensmittel, höhnte den nach der muthigsten Gegen¬
wehr, in der er sich selbst wiederholt der größten Todesgefahr ausgesetzt hatte, besieg¬
ten König Karl Albert. Dieser Eindruck ist im sardinischen Heere nicht verloren
gegangen, und hat dasselbe mit Recht mißtrauisch auf die Hilfe gemacht, die das
patriotische Italien ihnen leisten würde.
Benutzen wird man freilich bei einem möglichen Kriege gegen den Kaiser¬
staat gewiß den allgemeinen tiefen Haß des italienischen Volkes. Aber man sieht
sich nach einem festern und sichern Bundesgenossen um, und diesen glaubt man
jetzt in Frankreich und zwar in dem Heere desselben gefunden zu haben. Es ist
unverkennbar, daß im sardinischen Heere jetzt eine große Zuneigung zu dem
französischen herrscht, die, erst in den letzten Jahren entstanden, immer noch im
Zunehmen begriffen ist. Man glaubt, daß die Franzosen die mächtigsten und
sichersten Bundesgenossen der Sardinier in dem Kampfe gegen die östreichischen
Heerestheile sein werden, und würde sehr gern vereint mit ihnen in den Krieg gehen.
Daß Louis Napoleon als Kaiser der Franzosen, über kurz oder lang, einen Kampf
mit den östlichen Mächten beginnen müsse, ist die allseitige Ansicht in der sardi¬
nischen Armee. In diesem Fall wünscht man die Avantgarde der Franzosen in
Italien zu sein, und hofft, daß Frankreich die nicht geringe Unterstützung, die ihm
dadurch wird, wohl zu würdigen verstehe. Der Italiener hat überhaupt vielfache
Aehnlichkeit mit dem Franzosen und wird sich stets noch am meisten zu diesem
Nachbar hingezogen fühlen. In der Lombardei kann man dies noch deutlich ver¬
spüren. Dieselbe ist wahrlich vom Kaiser Napoleon nicht glimpflich behandelt
worden, und hat große Opfer an Geld wie Menschen für die Kriege desselben
hingeben müssen. Trotzdem steht die Zeit der Napoleonischen Herrschaft uoch
bei dem ganzen Volke im besten Andenken, und wird sehnlichst zurückgewünscht.
Oestreichs Regierung hingegen hat seine italienischen Provinzen in materieller Hinsicht
bevorzugt und ungemein viel für Handel, Industrie und Ackerbau derselben ge¬
than, und doch sind 80,000 Maun Truppen nothwendig, die kaiserlichen Doppel¬
adler daselbst zu schützen. Hätten jetzt die lombardisch-venetianischen Provinzen
wieder Aussicht, einem italienischen Vice-Königthum unter Frankreichs Schutz
anzugehören, ich bin überzeugt, mit allgemeinem Jubel würden sie diese Nachricht
begrüßen.
Ans jede Weise suchen Franzosen und Sardinier das Bündniß zu befestigen,
besonders Louis Napoleon läßt in kluger Berechnung der Vortheile, die ihm da¬
durch erwachsen, kein Mittel ungebraucht. Französische Officiere aller Grade steht
mair jetzt sehr häusig in den sardinischen Garnisonsorten, wo sie mit ihren dor¬
tigen Kameraden, in dem freundlichsten Verkehr leben und sich sehr angelegen
sein lassen, dem militairischen Stolz Letzterer zu schmeicheln, und besonders das
Benehmen des Heeres in den letzten Kämpfen gegen Oestreich zu rühmen. „Auf
gute Waffenbrüderschaft im Kriege;" „auf Wiederkehr der Tage von Marengo,
Austerlitz und Wagram, wo die Italiener und Franzosen zusammen kämpften,"
solche und ähnliche Trinksprüche, nicht ohne Bedeutung, werden häusig aus¬
gebracht. Auch an französischen Orden und anderen Auszeichnungen fehlt es nicht,
und wenn höhere sardinische Officiere nach Frankreich kommen, werden sie überall außer¬
ordentlich ehrenvoll aufgenommen. Haben doch schon förmliche gegenseitige Muste¬
rungen stattgefunden, und ein französischer Divisions-General inspicirte noch in
diesem Herbst die militairischen Kräfte Sardiniens mit großer Genauigkeit, wie
auch wieder dem sardinischen General Marmora zu Ehren in Frankreich Regi¬
menter ausrücken mußten.
Daß man von östreichischer Seite diese Hinneigung Sardiniens zu Frankreich
mir nicht geringem Mißtrauen sieht, ist natürlich. Man möchte dieselbe zu
hintertreiben suchen, vermag aber kein wirksames Mittel zu ergreifen. Ist doch
auch die französische Diplomatie jetzt so beliebt am sardinischen Hofe, daß überall
französische Gesandten die sardinischen an den Orten, wo diese fehlen, ersetzen
müssen. Vor dem Jahre 1848 geschah dies größtentheils durch die östreichischen
Gesandtschaften. Daß übrigens der Zuwachs, den Frankreichs Macht, bei einem
etwaigen Kriege mit dem Osten, an dem sardinischen Heere erhält, kein geringer
wäre, leuchtet wohl ein. Die Linieninfanterie Sardiniens ist in sehr gutem, voll¬
kommen schlagfertigen Zustande. Ganz vortrefflich sind die sogenannten Ker-
saKUeri (Bergschützcn), von denen jetzt jede Infanterie-Brigade ein Bataillon
besitzt. Großentheils aus den gewandtesten Söhnen der Hochgebirge Savoyens
zusammengesetzt, und auf sehr leichte und zweckmäßige Weise bewaffnet und
uuiformirt, siud diese Ler^Alwri, eine Truppe, die es vollkommen mit den tyro-
lerischen und steirischen Jägern Oestreichs aufnehmen kauu.
Ganz vortrefflich sowol in Ausstattung an Rossen und Geschützen, wie auch
an praktischer Ausbildung der Mannschaft und geistiger Befähigung der Officiere,
ist die Artillerie, die man der französischen gleichstellen kann.
Nicht so viel Gelegenheit, sich auszuzeichnen, ward der Reiterei. Italien
mit seinem oft sehr coupirten Terrain bietet selten der Reiterei ein günstiges
Feld für massenhaftes Auftreten, und selbst die weiten Ebenen der Lombardei
find in Folge ihres sorgfältigen Anbaues zu sehr mit Wassergräben durchschnitten,
oder oft auch mit Bäumen und Hecken besetzt, als daß viele große Cavallerie-
Augriffe auf ihnen geschehen konnten. So hat in den letzten Kriegen die Ka¬
vallerie auf beiden Seiten verhältnißmäßig am wenigsten gethan, und in bedeu¬
tenderen Gefechten nie den Ausschlag gegeben. Dieses Gefühl, einen geringern
Rang in der Wehrkraft des Landes einzunehmen, drückt sich auch in der sardi¬
nischen Reiterei aus, obschon sie, wie überall der Fall, .die elegantesten und von
Aussehn ritterlichsten Officiere besitzt. Dazu kommt, daß der Italiener, gleich
seinem Nachbarn, dem Franzosen, im Allgemeinen kein guter Reiter ist. Seiner
leichten, quecksilberartigen Natur sagt der Dienst zu Roß und noch weniger die
Wartung und Fütterung desselben, die besonders aus Märschen und im Kriege sehr
viel Unbequemes hat, uicht sonderlich zu. Auch eine gute Remontirnng der Reiterei ist
für die sardinische Regierung schwierig und kostspielig, da die Pferdezucht des
eigenen Landes nicht dafür ausreicht, und man für große Summen Rosse aus
dem fernen Norddeutschland kommen lassen muß. Dem Auge gewährt die sar¬
dinische Reiterei einen stattlichen Anblick. Die Rosse derselben sind groß nud
gut genährt, die Leute kräftig und von hübschen Gesichtszügen, und die einfach ge¬
schmackvolle, knappe Uniform steht ihnen sehr gut. Daß aber die militärische
Tüchtigkeit dieser Kavallerie den k. k. Reiterregimentern, den polnischen Uhlanen,
böhmischen Cuirassieren und ungarischen Husaren widerstehen kann, möchte ich
bezweifeln. Oestreichs Reiterei ist entschieden die stärkste Seite seiner militärischen
Macht, und Frankreich, Sardinien, ja auch Preußen möchten es bei den größten
Anstrengungen hierin schwerlich erreichen. Dies weiß man recht wohl im Kriegs¬
ministerium in Turin, daher man dieselben nicht vermehrt, sondern die Kosten
lieber für Vermehrung der LorsaxUen und Verstärkung und Verbesserung der
Artillerie verwendet. Eine gut bespannte, rasche Artillerie mit weithin reichenden
Zwölfpsündern, selbst für den Felddienst, und gewandte, ausdauernde, gut zielende
Jäger, mit den besten Büchsen der neuesten Erfindung bewaffnet, darauf kommt
es bei allen ferneren Kämpfen in Italien vorzugsweise an. Hierin hat die sar¬
dinische Armee ihre Hauptstärke.
Im vortrefflichen Zustande ist anch das Geniewcsen und Alles, was dazu
gehört, alle militairischen Bildungsanstalten und Kriegsschulen. Früher hat man
sich die desfallsigen Einrichtungen in der preußischen Armee unbedingt zum Muster
genommen, und sardinische Officiere siud wiederholt in Berlin gewesen, dort zu
lernen. Seit dem Jahre 1830, wo man vergebens hoffte, mit Preußens Heer
vereint gegen Oestreichs Oberherrschaft zu kämpfen, hat das Vertrauen auf die
militärische Thätigkeit desselben leider einen gewaltigen Stoß erhalten. Man hat sich
jetzt anch in allen derartigen militärischen Einrichtungen die französische Armee
zum Muster genommen, und statt nach Berlin gehen die sardinischen Officiere
jetzt »ach Paris zu lernen. Ich könnte überhaupt bei dieser Gelegenheit noch
Manches über den Eindruck, tru Preußens Benehmen im Herbst 1860 und die
Schlacht bei Bronzell unter deu sardinischen Officieren hervorgerufen haben,
anführen. Wohlthuend und unserem Stolze schmeichelnd sind die Urtheile
gerade nicht.
Eine eigenthümliche Reserve des Heeres, im Fall dasselbe zum Kampfe
gegen Oestreich ausrücken müßte, bildet die zahlreiche Nationalgarde Sardiniens.
Ich gehöre nicht zu den Bewunderern von Nationalgarten und ähnlichen In¬
stituten, und glaube, daß mau mit denselben schwerlich jemals Feldschlachten
gewinnen wird.' Wo aber eine solche nationale' Begeisterung und zugleich ein
solch tieser nationaler Haß herrscht, wie durchweg bei allen Ständen in Sardinien,
da bildet eine gut organisirte Nationalgar'de eine Reserve des Heeres, die den
nothwendigen Dienst im Innern des Landes vollkommen tüchtig versteht. Das
ganze sardinische Heer kann bis ans den letzten Mann in's Feld rücken, das
k. k. östreichische muß in jedem größern Orte, und besonders in jeder Festung der
italienischen Provinzen, bedeutende Garnisonen zurücklassen, um sich zu sichern.
Dies ist kein geringer Nachtheil. Auch als Besatzung der Festungen und zur
Vertheidigung derselben im Fall einer Belagerung wird die sardinische National-
garde die besten Dienste leisten, die Disciplin derselben ist nicht schlecht, denn
auch ihr haben die Jahre 1848 und 18i9 die blutige Lehre gegeben, daß eine
bewaffnete Truppe ohne Disciplin keinem Lande und keiner Sache auch uur den
mindesten Nutzen leisten wird.
Von nicht geringer Bedeutung ist bei einem Kampfe auch die Flotte Sar¬
diniens. Dieselbe hat, große wie kleine Schiffe zusammengerechnet, ungefähr
SSO Kanonen am Bord, und in Kriegszeiten ungefähr 3300 Mann zur Bemannung,
die Matrosen derselben sind größtentheils Genuesen, die besten Seeleute, welche
Italien besitzt. Sehr unterrichtete und praktisch und theoretisch ausgebildete
Mäuner soll man unter den sardinischen Seeofstcieren finden, wie mir ein eng¬
lischer Marine-Officier, dem wohl ein Urtheil hierüber zustand, wiederholt ver¬
sicherte. In den Jahren -I8t8 und i.1849 war die sardinische Flotte der öst¬
reichischen weit überlegen, und vermochte Trieft zu bloquiren, ohne daß uur ein
k. k. Kriegsschiff dagegen zu kämpfen wagte. Seit jener Zeit hat Oestreich für
seine Flotte sehr viel gethan, und weder Geld noch Kosten gescheut, dieselbe zu
vermehren und zu verbessern. Wie weit ihm dies gelungen ist, vermag ich selbst
nicht genau zu beurtheilen, mein Gewährsmann hatte aber keinen hohen Begriff
von den Kriegsschissen der Adria. Er behauptete, die Schiffsmannschaft sei von
lässigen, widerspänstigen Geiste beseelt, da sie größteutheils aus Italienern bestände,
die nur gezwungen dienten, und wenig Vertrauen zu den deutschen und slavische»
Officieren zeugten, die man ihnen in den letzten Jahren statt der vielfach compromit-
tirten Italiener gegeben habe. Auch seien unter den östreichischen Seeofstcieren viele,
die früher im Landheere gedient hätten, gar keine Erfahrung vom Seedienst be¬
säßen, und noch keine weiteren Fahrten wie von Venedig nach Trieft oder nach
Pola ans dem Meere gemacht hätten. Trotzdem, daß die k. k. Flotte der sardi¬
nischen jetzt an Schiffen überlegen sei, und besonders bessere und neuere Dampfer
besäße, behauptete er doch, daß letztere vollkommen dem Kampfe mit ersterer
gewachsen sein würde. So das Urtheil meines ruhigen, leidenschaftslosen Capi-
talus. Von demselben kriegerischen Geiste und nationalen Eifer wie das Heer
ist auch die Flotte Sardiniens ergrissen.
Eine weitere Bedeutung bei einem Kampfe Frankreichs gegen Oestreich
gewinnt die sardinische Armee noch dadurch, daß sie den Stamm abgeben wird,
um den sich andere italienische Heerestheile, versammeln werden. Der Widerwille
sämmtlicher Italiener gegen die jetzt auf dieser Halbinsel herrschende östreichische
Suprematie ist so groß, daß es den Staaten, die sich derselben am meisten
unterworfen haben, Toscana, Modena und dem Kirchenstaat, bei den eifrigsten
Anstrengungen noch immer nicht gelingen will, nur einige Bataillone irgendwie
zuverlässiger Truppen aus Landeseingebornen zu bilden. Es braucht nur ein
Corps von 20,000 Franzosen in Italien einzurücken, um die leicht zu erhitzende
Phantasie der Italiener dnrch einige feurige Proclamationen zu erregen, und Schaaren
von Römern, Modenesen, Toscanern, abgesehen von den Lombarden, werden den
Reihen der sardinischen Armee zusteuern, und dieselben um manche tausend Maun
verstärken. Auch Neapels Heer, das ans Befehl des jetzigen Königs den östrei¬
chischen Truppen als Bundesgenossen dienen mußte, dürfte denselben wenig
Nutzen bringen. Es sollen auch nnter den neapolitanischen Truppen arge national-
italienische Gesinnungen herrschen; dazu sind die Erinnerungen an König Murat's
Herrschaft noch nicht ganz verschwunden, und wie in der Vergangenheit Alles in
glänzenderen Licht als in der Gegenwart erscheint, so soll das Volk und das
Heer Neapels jetzt häufig und gern an jene Zeiten zurückdenken; französische
Officiere von den Occupationstruppen in Rom sollen ans einer Reise in Neapel
allgemein mit so lebhaftem Interesse aufgenommen worden sein, daß man Aller¬
höchsten Orts nichts weniger wie, zufrieden darüber gewesen ist. Uebrigens
kann der König von Neapel im Fall eines Kriegs Frankreichs gegen Oestreich
letzterer Macht ein nur geringes Truppencorps zur Hilfe senden, denn die Gäh-
rung, besonders auf Sicilien, soll noch so bedenklich sein, daß nur eine starke
Militärmacht von fremden, angeworbenen Truppen dieselben für den Augenblick
zu unterdrücken vermag. Kein Soldat wird diese Vortheile der Position Sar¬
diniens überschätzen. Italienische- Recruten und Neapolitanische Ueberläufer sind
eine Hilfe von zweifelhaftem Werth, aber ganz außer Rechnung darf man sie doch
nicht, am wenigsten von östreichischer Seite, lassen.
Dies sind im Wesentlichen die Zustände des sardinischen Heeres, des besten,
welches Italien besitzt. ^Nan steht, es ist noch immer, trotz der zweijährigen
Niederlagen, ein nicht zu verachtender Feind. Nur die Zustände, wie sie sind,
habe ich hier gegeben, weder zu ihrem Lobe, noch Tadel das Mindeste selbst hinzu¬
gefügt. Daß man dieselben aber sowol in Paris, wie in Wien genau kennt, ist
entschieden. Zahlreiche Beobachter aus beiden Hauptstädten sind im Königreiche
Sardinien gegenwärtig und versäumen nicht, ihre Erfahrungen einzusenden.
So lange Frankreichs Heer nicht das Signal zum Kriege giebt, ist dieser italie-
mische Haß gegen Oestreich ungefährlich, ertönt aber der erste französische Kano-
nenschuß, so lodert er aufs Neue mit verheerender Wuth auf. Weil man dies
aber in Wien recht wohl weiß, ist man friedlich, sehr friedlich gegen den künstigen
französischen Kaiser gesinnt. Mag Kaiser Nikolaus auch noch so drängen, und
seinen Nestor Nesselrode sogar nach Neapel senden, dort selbst ein Bündniß ab¬
zuschließen, gerade seiner italienischen Provinzen wegen wird Oestreich sich nur
im allergrößten Nothfall zu einem Kriege mit Frankreich entschließen. Es liegt
hierin eine nicht geringe Bürgschaft, daß der Friede noch nicht sobald gestört
werden wird, wenigstens von Seite der östlichen Mächte.
In dem nächsten Artikel noch Einiges über die inneren Verhältnisse des
sardinischen Staates.
Es ist eine charakteristische Eigenthümlichkeit der modernen Bildung, daß sie
mit Wanne, ja mit Leidenschaft das Schöne in der Natur aufsucht, und wo es
nicht vorhanden ist, in sie hineinzubildcn strebt. Die Ausbildung unsrer Land¬
schaftsmalerei , die Richtung der Gartenkunst auf Laudschaftsgärten, auch die ver¬
schiedenartige Darstellung landschaftlicher Eindrücke und Stimmungen in den Schulen
der deutschen lyrischen Poesie können als Beweis dienen, wie originell dieses Streben,
das menschlich Schöne in den Bildungen der Natur zu erkennen, bei dem jetzt
lebenden Geschlecht ausgebildet ist. Ju dem Bestrebe», durch kunstvolle Anlagen
das Schöne da, wo es in der Natur fehlt, zu schaffen, ist man bei großen und
kleinen Gartenanlagen nicht stehen geblieben, sondern hat das Bedürfniß gefühlt,
größere Räume, ganze Gegenden und Landschaften nach den Regeln der Schönheit,
welche der Mensch in sich trägt, umzubilden. Zuerst in der Theorie. Es ist
Vieles und darunter einiges Gute über Landesverschöuerungen geschrieben worden*),
.dann aber auch in der Praxis. Am leichtesten ist die Verschönerung der Landschaft
natürlich da geworden, wo die Natur selbst das Beste gethan hatte. In anmu¬
thigen Gebirgslandschaften war die Verbindung schöner Bergformen, lebendiger
Gewässer und einer frischen Vegetation bereits vorhanden und lockte die Besuchen¬
den an. Hier galt es nur, Wege zu bahnen, welche die schönsten Punkte zu¬
gänglich machten, diesen Wegen den Charakter der Ungezwungenheit zu- geben,
Fernsichten zu öffnen, wo sie durch Gebüsch verdeckt waren, einzelne schöne Bäume
und groteske Felsen in das beste Licht zu stellen, kurz, der Natur bescheiden und
respectvoll zu Hilfe zu kommen. Größer und umfangreicher konnte die Thätigkeit
des Menschen da werden, wo die Natur wenig geboten hatte, und wo großer
Grundbesitz und souveraine Herrschaft über ausgedehnte Bvdenflächen umfang¬
reiche und planvolle Anlagen erlaubten. Dick ist in dieser Beziehung in Deutschland
geschehen, besonders in der Nähe von Residenzstädten oder Bädern. Z. B. in
den frischen Thälern des Odenwaldes, in der Nähe von Darmstadt, in der
Brühl hinter Mödling, im Helmeuthal bei Baden, und um den Leopolds- und
Kahlenberg, die letzteren in der Nähe von Wien, ferner in den westlichen Bergen
des Thüringer Waldes bei Eisenach, in der sächsischen Schweiz, in der Umgegend
von Berlin, noch mehr in der Umgegend von Hamburg, am planvollsten und
großartigsten in der Umgebung von Potsdam, wo durch zahlreiche Anpflanzungen,
Bauten und Anlagen die alte kärgliche und düstere Vegetation der Mark verdrängt
worden ist und fast jedes im Bereich dieses Verschönerungskreiscs liegende Ge¬
bäude mit seiner Umgebung eine Zierde der Gegend ist. Doch was anch
geschehen ist, noch viel mehr bleibt zu thun übrig, auch da, wo großer
Grundbesitz und Reichthum der Menschen und anmuthiges Detail der Natur diese
Thätigkeit leicht und lohnend macht.
Aber die Verschönerung einer Landschaft läßt sich nicht nur durch Anlagen in
großem Style und mit den umfassenden Geldmitteln bewirten, welche nur einzel¬
nen Bevorzugten zu Gebote stehen, auch in kleineren Kreisen bis in die unterste
Schicht unsres Volkslebens hinab kann sehr viel, ja vielleicht das Meiste für
Verschönerung einer Landschaft gethan werden. Jedem Rittergutsbesitzer, jeder
Gemeinde einer kleinen Stadt oder eines Dorfes ist die Möglichkeit gegeben, ihren
Wohnort und seine Umgebung in anmuthiger und reizender Weise durch schöne
Naturformen zu schmücken. Diese Thätigkeit im Kleinen kann allerdings nicht die
Grundzüge einer Landschaft umformen, wie das in einzelnen Gegenden mit
großem Kostenaufwande vielleicht der souveraine Herr versuche» mag, aber sie
vermag fast in allen Fällen auch der reizlosesten Gegend einen Strich von Anmuth
und Behaglichkeit zu geben und dnrch die große Anzahl kleiner freundlicher Bilder
das zu ersetzen, was dem Ganzen an imponirenden Formen oder schönen Linien
fehlt. Ja diese Thätigkeit der Kleinen in kleinem Maßstabe wird für ein ganzes
Land viel wichtiger sein, als die großartigen Anlagen Einzelner, denn sie wird
das Leben der ganzen Bevölkerung verschönern und schmücken. Ueber diese
Art von Landesverschöneruug als» mögen einige Bemerkungen folgen.
Der erste Grundsatz, welcher bei dieser Art von Verschönerungen festgehalten
werden muß, ist der, daß das Schöne nur in Verbindung mit dem Nützlichen
erreicht werden kann, daß das Schöne das Nützliche nicht wesentlich beeinträchti¬
gen darf, daß aber fast alles Nützliche auch ohne große Opfer schön gemacht
werde» kann. Die Geldmittel, welche in den kleinen Kreisen des Lebens für die
Verschönerung einer Landschaft und ihrer Theile verwendet werden können, sind
in der Regel gering, ja sie werden zuweilen nur uach einzelnen Thalern zu be¬
rechnen sein; aber auch mit den allerkleinsten Summen kann sehr Erfreuliches
geleistet werden, und wenn Tausende von kleinen Hausbesitzern auf dem Lande
jeder nur wenige Groschen jährlich auf die Verschönerung ihrer nächsten Umgebung
wenden wollen, so vermögen sie doch der ganzen Landschaft, in welcher sie wohnen,
ein erfreuliches Aussehn zu geben.
Ein wesentlicher Theil der Landschaft sind die Wohnungen der Meuschen selbst
nud alle Bauten, durch welche unser Leben in der Natur sichtbar wird. Es
wird also nöthig sein, bei den Wohnungen der Menschen anzufangen. Leider
herrscht gerade in den Formen der menschlichen Wohnung in den meisten Ge¬
genden Deutschlands bei Stadt und Laud eine vollständige Barbarei, und Alles,
was bis jetzt von den Staatsregierungen für die Geschmacksbildung der Bauhand¬
werker und der Beamten, welche Bauten zu beaufsichtigen haben, geschehen ist,
hat sich noch als sehr unzureichend erwiesen. In den meisten großen Städten
fängt es jetzt an besser zu werden. Aber in den kleinen Städten bilden häßliche
kastenartige Vierecke, manchmal mit unförmlich hohen Dächern, mit einer fürchter¬
lichen Regelmäßigkeit der Fenster und Schornsteine die Zeilen der Straße, oft
durch grellen und rohen Farbenanstrich noch häßlicher gemacht. In den Dörfern
des fruchtbaren Flachlandes stehen die Häuser in Gassen zusammengedrängt, rohe
Balken, häßliche Lehmwände und zerbrechliche Thorfahrten beleidigen das Auge.
Oft ist selbst der Obstbaum, als Nachbar des Hauses, noch eine Seltenheit.
Allerdings sind manche Gegenden aufzunehmen. Die Formen des schönen
Schweizerhauses, diese zierliche und solide Holzarchitektur, erscheinen auch in vielen
Berglandschaften des südlichen Deutschlands, in manchen anderen Gebirgsgegenden
sind einfachere, aber doch malerische Formen der Hänser heimisch. Das Dach fällt
breit auf beiden Seiten über die Mauer herab, die Gicbelfroute steht auf die
Straße zu, die Vorderwand ist gebrochen, und der obere Stock überragt den
untern; vielleicht läuft sogar an den Seiten wie beim alten Schweizerhaus eine
hölzerne Galerie um den obern Stock. Auch das alte Baucrhans des sächsischen
Stammes, dieser große, solide, stämmige Ban, ist mit den alten Bäumen auf
seiner Giebelseite ein charakteristischer Schmuck der flachen Landschaft, in welcher
es daliegt wie eine riesige braune Gluckhenne, welche uuter ihren Flügeln eine
große Menge lebendiger Wesen wärmt und bedeckt, ja selbst in den fruchtbaren
Bruchgegenden der Mark und der östlichen Nachbarprovinzen hat eine glückliche
Vertheilung des Bodens dem Bauer erlaubt, sein Gehöft mitten in sein Feld zu
bauen, und die Gruppen der geradlinigen Gebäude, welche, soweit das Auge
reicht, in der hügellosen Landschaft zerstreut sind, werden anmuthig, so oft sie mit-
einzelnen Obstbäumen oder Linden geschmückt sind; dann bilden die runden grünen
Gipfel der Bäume den nöthigen Gegensatz zu den geraden Linien, zu den rothen
Ziegeldächern und weißen Wänden der Häuser. Aber das sind Ausnahmen.
Gerade in den fruchtbarsten Thallandschaften Deutschlands, z. B. in der Gegend
von Magdeburg, ist der Anblick der dichtgedrängten Lehmwände in den baumlosen
Dörfern widerlich. Eine Verschönerung der Landschaft muß mit einer Verbesserung
dieser Gebäude anfangen. Das Haus des Dorfes sollte mit seinen Nebengebäu¬
den zusammen eine Gruppe bilden und von den Nachbarhäusern getrennt stehen,
auch die Häuser der kleinen Leute sollten mit einem, wenn auch kleinen Garten¬
raum umgeben werden, schon die Rücksicht auf Feuerssicherheit macht eine solche
Einrichtung höchst wünschenswert!). Der Styl neuer Privathäuser, welche auf
dem Lande gebaut werden, kann allerdings von der Staatsregierung nicht vor¬
geschrieben werden, es ist ihr aber doch möglich, einen bedeutenden Einfluß darauf
auszuüben, indem sie die Bauhandwerker, Maurer- und Zimmermeister, so wie
die kleineren Architekten, Bauinspectoren u. s. w. unermüdlich darauf hinweist,
den landesüblichen Formen so viel als möglich die einfachsten Verschönerungen anzu¬
passen, den Bauuuteruehmern von dem Ausbau in der Zeile abzurathen, die vor¬
dere Giebelfronte des Hauses auf die Aussichtsseite zu stellen, die Vorsprünge der
Dächer zu vergrößern, den Oberstock oder Giebelraum vortreten zu lassen, die
einfachsten Decorationen, aus Holz geschnitten, am First und Giebeldach anzu¬
bringen, auf einen passenden Anstrich des Hauses zu halten u. s. w. Am meisten
kann dadurch gewirkt werden, daß man den Bauhandwerkern der Dörfer selbst
mit Ausdauer einschärft, welche Formen hübsch, und welche häßlich und nicht zu
dulden seien. Denn diese haben als kunsterfahrene Männer den größten Einfluß
auf die Ansichten ihrer Gemeinde über Schönes und, Häßliches bei Bauten. Wo
aber das Alles nicht möglich ist, bei den häßlichsten Lehmwänden, in den ärmsten
Gegenden läßt sich mit den allergeringsten Kosten der schönste Schmuck eiues
Dorfhauses anbringen, denn das Haus läßt sich auf den in's Auge fallenden
Seiten mit Schlingpflanzen umkleiden; die traurigste Lehmwand gewinnt dadurch
ein freundliches Ansehn, und von dem weißen Kalkanstrich und dem grauen Dach
sticht das lebhafte Grün der Kletterpflanzen vortrefflich ab. In allen Gegenden,
welche nicht an hoher Lage ober rauhen Seewinden leiden, ist der Weinstock der
beste Schmuck der Bauernhäuser. Unsre Weincultur hat uns mit einer Anzahl
frühreifender Sorten beschenkt, welche fast überall wohlschmeckende Trauben geben.
Eine sehr geringe Unterweisung der Knaben und jungen Leute in der Dorfschule reicht
hin, Allen die Bedeckung des Weinstocks im Winter und den Fähigeren die Geheimnisse
des Nebeuschnitts beizubringen. Härter, als der Weinstock, von eben so schnellem
Wuchs und noch malerischer, ist die schönste Kletterpflanze Deutschlands, der
wilde Wein (^mpelopsis quinquololiÄ, Jungsernwcin, Fuchswein); er färbt im
Herbst seine Blätter roth, umzieht schnell und eifrig große Flächen, und dauert
in der strengsten Kälte' ohne Schutz aus. Epheu und eiemiM8 sind weniger zu
empfehlen, weil sie langsamer wachsen. An der Nordseite ist freilich der Epheu
am besten zu gebrauchen. Außer diesen perennirenden Pflanzen ist vor Allem
der Anbau weitrankender Kürbisse zu empfehlen, es ist sehr leicht, die langen
Ranken bis auf das Dach zu ziehen, und ein Dorf gewohnt sich schnell, die
wunderlichen und in der Wirthschaft nützlichen Früchte zu pflegen.
Oft werden die Kletterpflanzen in Gestalt einer Veranda (Pergola, große an
den Seiten offene Laube) am besten die Einförmigkeit unterbrechen. Ueberhaupt
sind diese Art Lauben in vielen Fällen mit Vortheil anzubringen und stets an-
muthig, da sie auf die natürlichste Weise Schatten geben, wo Bäume nicht statt¬
haft siud. Sie können als Vorhalle die Thür beschatten, oder als Galerie um
das Haus laufen, oder auch als schattiger Verbindungsweg durch den Garten
und über den Hof führen. Die Kletterpflanzen können ferner als Guirlanden
von Baum zu Baum ranken, oder an den Stämmen hinauf klimmen. — Die
nächste Verschönerung betrifft den Hos oder den Vorplatz, wenn letzterer kein
Garten ist. Er sei vor Allem geebnet und rein. Der Viehhof sei durch Hecken
oder ein Geländer abgeschlossen, wenigstens bis an den Eingang des Wohnhauses.
Wo in einem Dorfe Häßliches nicht dnrch Schlingpflanzen zu verstecken ist,
z. B. Düngerstätten, da reichen einige Flieder- und Jasminsträucher-Hecken, oder
eine Gruppe niedriger Bäume in der Regel hin, die der Einzelne oder die Ge¬
meinde setzen läßt. Ueberall muß die weibliche Bevölkerung eines Dorfes so viel
Frende an der Natur haben, daß sie am Hanse, im kleinen Garten auf hübsche
Blumen hält. Alle diese kleinen Verzierungen des Dorfes sind fast ohne Kosten,
nur durch Unterweisung der Kinder in der Schule zu erreichen. —
Das Hauptgebäude des Dorfes ist die Kirche, und die größte Zierde des
Kirchthurms in der Landschaft ist eine schlanke Spitze, welche sich stattlich über
der Häusergruppe erhebt. Die dicken unförmlichen Dächer von Bretern und Zie¬
geln an den Thürmen müssen nach und nach bei Reparaturen entfernt werden,
und wo ein Neubau *) stattfindet, sollen Pfarr - und Schulhaus mit der Kirche
zu einer Gruppe vereinigt werden. Liegt das Dorf an einem AbHange, so wähle
mau für die Kirche den höchsten Platz.
Eine besondere Berücksichtigung verdienen die aus dem Mittelalter, oder
einer spätem Zeit stammenden Landschlösser und Edelhofe, deren nächste Um¬
gebung sich oft in einer beispiellosen Vernachlässigung befindet. Man fülle die
versumpften Wallgraben ganz oder theilweise zu, und bilde einen natürlich ge¬
formten Teich daraus; oder man trockne sie aus, forme aus dem häßlichen Graben
eine thalähnliche Vertiefung, die sich mit leichter Mühe in einen schönen Garten oder
wenigstens in eine die Umgebung nicht schauderte Obstanlage verwqndeln läßt. —
Der Garten führt uns in die freie Landschaft.
Der Styl neuer Gebäude von größeren Ansprüchen richte sich in allen Fällen
nach dem Charakter der Landschaft, in welcher sie stehen. Das Unpassende eines
burgähnlichen Gebäudes in einer bebauten baumlosen Ebene, oder in einem lachen¬
den Wiesengrunde wird Jedermann einleuchten, und schon Viele werden empfunden
haben, daß ein auffallendes alltägliches Gebäude in einer wilden Gebirgsland¬
schaft wirkt, als ob das schöne Bild durch einen Klecks verunstaltet sei. Die Beför¬
derer landschaftlicher Schönheit, Verschönerungsvercine, Behörden oder Eigenthümer
können uicht genug darauf sehen, daß in vielbesuchten Gegenden keine störenden
Gebäude errichtet werden").
Ruinen und alterthümliche Bauwerke werden von unsrer Zeit mit Vorliebe
aufgesucht und oft mit großen Opfern erhalten. Allerdings sind künstliche
Ruinen im Allgemeinen zu tadeln, da ihre Wirkung oft in feinem Verhältniß zu
den Opfern steht, welche ihre Errichtung fordert, und das Absichtliche in ihnen
leicht ihre ganze Umgebung von poetischem Zauber entkleidet. Aber es giebt
anch Ausnahmen, wo durch die geschickte Errichtung ruinenhafter Gemäner.eine
schöne, durch kein anderes Gebäude mögliche Wirkung hervorgebracht wird. Ein
unbedeutender Thurm mit einigem Mauerwerk kann, nicht auf den hohen Berg¬
gipfeln, aber auf den hervortretenden Kronen der Vorberge eine Zierde der ganzen
Gebirgslandschaft werden. Wie denn in Gebirgen alle Gebäude eine viel größere
Wirkung hervorbringen, deshalb aber auch Mit viel mehr Rücksicht auf schonen
. Effect behandelt werden müssen. Aber immer noch sehen wir in Deutschland viele
Ruinen der Zerstörung preisgegeben, oder durch neue unpassende Gebäude und
störende Umgebung verunstaltet. Besonders sind die in Deutschland nicht sehr
häufigen Kirchen und Klosterruinen in der Regel noch nicht von unpassender
Umgebung befreit und zur vollen Wirkung ihrer Formen gelangt**).
Aus den Gebäuden treten wir in die Landschaft. Wo die Gegend anmuthige
Formen und lebhafte Farben bereits aufweist, wird die einzelne Gemeinde oder der
Grundherr leichte Mühe haben. Man wird am Waldesrand einzeln hervorspringende
Bäume von schöner Formlänger schonen, als die Forstcnltur verlangt, wird hier
und da die gerade Linie des Waldessaumes durch kleine, der Forstwirthschaft
gerade nicht schädliche Einschnitte unterbrechen, wird das einförmige Grün der
herrschenden Holzart am Rande durch Bäume von entgegengesetztem Charakter
unterbrechen z. B. Kiefern durch Birken, Tannen durch'Buchen beleben und
umgekehrt, wird da, wo kahle häßliche Hügel in »»schönen Linien das Auge ver¬
letzen, ohne Opfer den Raum ersparen für einzelne Baumgruppen, und wird die
Wege gMgbar erhalten, ohne daß sie gartenmäßig gepflegt sein dürfen. Aber
auch da, wo das natürliche Grün der Landschaft, Wiese, Weide und Wald durch
Ackercultur ganz verdrängt ist, und wo die geraden Linien der Beete und Felder
überall herrschen, kann man noch verschönernden Schmuck hereinbringen, der hier
gerade am nöthigsten ist. Wo noch einzelne Bänme aus der Väter Zeit im
Felde stehen, möge man sie sorgfältig schonen. Ein wilder Birnbaum, selbst ein
Paar Kiefern oder Fichten und unverschnittene Weiden schmücke» die Thalland¬
schaft; in ihr wird das Auge müde, weit in die Ferne zu sehen, es haftet gern
an einzelnen Punkten der Nähe, welche hier doppelte Wirkung haben. Wo eine,
Quelle entspringt, ist es leicht, durch einige Steine und ein kleines Gebüsch dem
Wanderer einen Sitz und Schatten zu bereiten. Vor Allem aber sehe man
darauf, das Dorf selbst und die Hänser als die hervorragendsten Pnnkte der Gegend
durch Anpflanzung von Obstbäumen zu schmücke», seist bei jedem Dorfe se»d
wenig benutzte Gemeindeflächcn, wo solche kleine Anlagen überdies nützlich werden.
Wo ein Raum im Dorfe selbst ist, vor dem Wirtshaus, auf dem Platz, halte man
auf die alten Linden, wo sonst die Alten zu plaudern und Mädchen und junge Bur->
sehen zu singen und zu tanzen pflegten. Ist beim Dorfe el» Teich vorhanden, so
sorge man wenigstens dafür, daß das baumlose Ufer auf vorspringenden Stellen
durch Baumgruppen und Gesträuch verschönert wird, so daß vom Wege aus die
größte Fläche des Wassers sichtbar bleibt. Auch Bäche, Flüsse und Wehre kann
die Gemeinde oder der Gutsherr leicht zu einem Schmuck der Gegend machen,
wenn sie die Ufer mit Gebüsch bepflanzen, vielleicht an der einen Seite durch
schattige Bäume dem Fußpfade Schutz geben.
' Alle zum Betriebe des Ackerbaues unbrauchbaren wenig ergiebigen Strecken
sollten beholzt werden. Ist die Bodenfläche uneben, so beflanzt man vorzugsweise
die Anhöhen und Thalwände, wodurch die Hohen scheinbar großer und die Thäler tiefer
werden. Kleine Gehölzpartien werden als Buschholz behandelt und mit Scho¬
nung der schönsten Bäume alle sechs bis zehn Jahre abgetrieben. Befinden sie
sich an Wegen, wo sie die Aussicht hindern, so schlägt man zeitweise einen Schlag
ab, läßt aber dabei einzelne Bäume und Büsche an den Rändern stehen, damit
der Schlag nicht ganz kahl werde. Verwächst die Aussicht wieder, so wird ein
anderes Stück niedergeschlagen. In traurigen, unfruchtbaren Gegenden ist es
sehr anzurathen, die Landstraßen durch solche schmale Holzsäume einzufassen und
aus gleiche Weise zu behandeln. Werden im Laubhochwalde Schläge eingerichtet,
so sehe man darauf, daß die stehen bleibenden Stämme sich einigermaßen gruppiren,
besonders bei Lichtschlägen, und daß die schönsten Bänme in der Nähe der Wege¬
stehen bleiben. Soll - Nadclhochwald in der Nähe einer Straße abgetrieben
werden, so lege man einige'Jahre vorher eine Vorpflauzuiig vou Buschholz an,
damit der Anblick des nackten regelmäßigen Schlages verborgen werde. In
Gegenden, wo Wiesen vorherrschend find, die meistens zugleich zur Holzzucht be¬
nutzt werden, und Weiden, Pappeln, Eschen und Erlen tragen, suche man die
Reihen zu vermeiden, welche die Landschaft durchkreuzen, und stelle diese Holzarten
in Gruppen zusammen. Dadurch wird, nebenbei bemerkt, der Holzwuchs und
die Grasnutznng vermehrt.
Besondere Rücksichten nehme man auf die Pflanzungen in der Nähe der
Gebäude, da diese die Wirkung der Häuser verstärke» oder schwächen könnten.
Zu langen, geradlinigen Dachflächen passen pyramidale Bäume, z. B. lombardische
Pappeln, Tannen u. a. in., zu gothischen Gebäuden dagegen mit gebrochenen
Dächern und vorstehenden Spitzen eignen sich die runden Kronen besser. Spitze
Bäume verderben die Wirkung gothischer Gebäude und der Thürme. Will man
in einer gewissen Entfernung liegende Gebäude, besonders Thürme, höher er¬
scheinen lassen, als sie sind, so pflanze man keine hochwachsenden Bäume, am
wenigsten aber pyramidale, z. B. Pappeln, daneben, sondern niedriges Gebüsch,
welches von sern wie Wald aussieht. Wenn neue Pflanzungen angelegt werden,
so sollte man hier und da aus eine malerische Mischung der Bäume Rücksicht
nehmen. Kleine. Partien von Nadelholz zwischen Laubholz sind, wie schon be¬
merkt, ungemein schön, eben so Lärchen und Birken zwischen Nadelholz. Mischt
man aber stellenweise die verschiedenen Laubholzbäume durcheinander, (jedoch stets
in Partien) so kann der Wald eine wunderbare Schönheit erreichen. Eine der
größten Zierden im Vorholz sind die Holzarten, welche im Herbste eine rothe
Färbung annehmen, z. B. Elzbeere, Süßkirsche», rother Ahorn, Scharlacheichen,
Spindelholz, Schneeball, Berberitzen u. a. in. Zur Belebung der Winterlandschaft
dienen gelbe und rothe Weiden, sowie Nadelholz. —
Die Wege sind Has Mittel, die Schönheit der Landschaft zu genießen,
können aber auch dieselbe erhöhe», indem sie Dinge trennen, die in einander
übergehend nicht gut aussehen würden, oder indem sie eine große einförmige
Fläche theilen. Noch häufiger aber verderben sie die Landschaft, indem sie
als lange gerade Linien auftreten, denn die gerade Linie ist der größte Feind
landschaftlicher Schönheit, und nur durch die Menschen in die Natur gebracht.
Da störende gerade Wege aber in der Regel nicht fortzubringen sind, so mache
man sie durch unregelmäßige Scitenpflanznngcn unsichtbar oder weniger auffallend.
Auch die Biegung der Wege darf freilich nie gezwungen und mit großen Um¬
wegen verknüpft sein. Regelmäßig bepflanzte Wege oder Alleen bringen dem
Bilde der Landschaft zuweilen mehr Nachtheil als Nutzen. Indeß da Schatten
ein Bedürfniß ist, und die Bepflanzung der Wege den Obstbau fördert, so
mögen sie immerhin zu den Verschönerungsmitteln gerechnet werden. Das Wich¬
tigste ist freilich die Wahl der Bäume. Wo Obstbämue nicht fortkommen oder
nicht schön genug sind, wähle man Linden, Platanen, Eichen, Kastanien, Tulpen-
bäume, Spitzahorn n. a. in. Unter den fruchttragenden Bäumen sind Wallnu߬
bäume und eßbare Kastanien die vorzüglichsten. Pappchi schaden den Feldern zu
sehr, geben wenig Schatten und sind selten schön; am wenigsten die lombardischen
Pappeln, die leider überall angepflanzten schattenlosen Wächter der Heerstraße.
Nur wenn eine durchaus reizlose Gegend verborgen werden soll, leistet eine lange
Pappelallee, zuweilen gute Dienste, da sie, schräge gestellt, wie eine spanische
Wand wirkt.*)
Für die Verschönerung der Siädte dnrch Gartenanlagen ist in Deutschland
bereits viel gethan. Die Anlagen von Frankfurt a. M., Hamburg und anderer
Orte, so wie die öffentlichen Plätze in Berlin sind vor Allem zur Nachahmung
empfohlen. Hier noch einige Winke, die der vielfach begangenen Fehler wegen
nicht unnütz sein werde». Das Eigenthümliche solcher Stadtanlagen ist, daß sie
sich häufig zwischen verschiedenen Stadttheilen sehr in die Länge, aber wenig in
die Breite ausdehnen und sehr unregelmäßige Umrisse haben. Man hat daher
an deu meisten Orten mit Recht den landschaftlichen Gartenstyl in Anwendung
gebracht, häufig aber die Regeln der Gartenkunst zu streng beobachtet. Bei
dem Plane ist zunächst darauf zu sehen, daß Licht und Schatten nach der Oert-
lichkeit vertheilt wird, indem man ersteres aus die breiten, die Schattemnasse aber
auf die schmalen Stellen bringt. Auf diese Art wird der breiteste Raum in seiner
ganzen Größe gezeigt, die geringe Breite anderer Stellen aber dnrch dichte Be¬
pflanzung verborgen, so daß die Anlagen viel freier und großer erscheinen, als
sie wirklich sind. Obschon Schatten das erste Bedürfniß einer Stadtpromenade
ist, so dürfen doch die Schattenpartien nur einen verhältnißmäßig kleinen Raum
einnehmen, damit die Luft sich rein erhält und frei circuliren kann, und die Nachbar-
gcbäude nicht darunter leiden. Es muß darauf Rücksicht genommen werden, daß
schöne Häuserreihen und die vorzüglichsten Gebäude von der besten Seite gesehen
werden können. Prachtgebäude, Thürme, Thore und andere auffallende Gegen¬
stände sollten deu Hintergrund besonderer Bilder bilden. Die Wege haben in
Stadtanlagen viel mehr Bedeutung als in Gärten. Die Verbindungswege zwischen
verschiedenen Stadttheilen müssen entweder gerade, oder dürfen nur wenig gebogen
sein, damit man nicht zu Umwegen gezwungen ist. Dagegen können die eigent¬
lichen Promenadenwege wieder mehr Windungen machen, als in großen Park¬
anlagen sür schön gilt, damit die Promenade möglichst ausgedehnt werden kann.
Neben den Hauptwegen müssen zahlreiche Seitenwege das Ausweichen erleichtern.
Wenn es möglich ist, so sollte man auf besondere sonnige Winterwege Rücksicht
nehmen, und diese auf der Nordseite mit immergrünen Bäumen bepflanzen. Außer
den zur Zierde dienenden, oder um öffentliche Gebäude, Kaffeehäuser u s. w.
angebrachten Plätzen müssen noch besondere Neit- und Spielplätze vorhanden sein;
wenn eine Stadtanlage ihren Zweck erfüllen soll, so muß vor Allem auch für
das Wohl der Kinder gesorgt werden. Fließendes oder auch stehendes frisches
Wasser ist in einer solchen Anlage stets angenehm, besonders wenn es sich zu
einem seeartigen Teiche ausdehnen kann; dagegen vermeide man sorgfältig stehen¬
des Wasser, wenn kein hinreichender Zufluß und Abfluß vorhanden ist. Bei der
Wahl der zu pflanzenden Holzarten sehe man auf solche, welche sich früh belauben,
und vermeide die spättreibenden so viel als möglich, bringe wenigstens keine Massen
davon an. Dasselbe gilt von solchen, die im Herbst die Blätter zu zeitig ver¬
lieren) z. B. Kastanien, obschon diese schön sind. Schädliche, übelriechende,
dnrch Samenwolle belästigende oder gar giftige Pflanzen dürfen gar nicht in der
Anlage verwendet werden. Blühende Sträucher siud häufig, aber nicht nahe an
Wegen anzubringen. — Ganz anders siud regelmäßige Plätze in der Stadt selbst
zu behandeln. Hier darf die architektonische Form auch in die Gartenanlagen
übergehen, und es wird nur selten lobenswerth sein, eine zweckmäßige Anlage
darauf auszuführend) Freilich sind gar zu künstliche Formen auch nicht zu em¬
pfehlen, und vor Allem darauf zu scheu, daß die Communication so wenig wie
möglich erschwert wird.
Am meisten kann sür die Verschönerung einer Landschaft geschehen durch die
Erziehung und das Beispiel. Behörden und Vereine haben kein Recht und keine
Macht über die Einzelnen. Wenn aber der Schönheitssinn schon im Kinde ge¬
weckt wird und von einflußreichen Personen den Erwachsenen ein gutes Beispiel
gegeben, so werden sich die guten Wirkungen schnell zeigen. Wenn z. B. ein
Gutsbesitzer oder eine Gemeinde jährlich 10 Thaler auf die Verschönerung des
Dorfes verwenden, so lHnen sie nach unsrem Recept in 10 Jahren das hä߬
lichste Dorf in ein hübsches verwandelt haben.
Unter diesem Titel hat der bekannte ultramontane Abgeordnete zur zweiten
Kammer in Berlin, August Reichensperger, eine kleine Schrift veröffentlicht,
in welcher er an Stelle des jetzt herrschenden antikisirenden oder experimentirenden
Geschmacks in der Baukunst die Rückkehr zum Styl des Mittelalters empfiehlt. Wir
glauben unsre Leser darauf aufmerksam machen zu müssen, da die Schrift vieles
Beherzigenswerthe enthält. Zwar müssen wir gestehen, daß wir es für viel
zweckmäßiger halten würden, zwei Dinge, die nicht zusammengehören, nicht zu
verwechseln. Herr Reichensperger kann keinen Augenblick das Interesse seiner
Kirche aus den Augen lassen, er bringt beständig ultramontane Gründe für
seinen Geschmack vor, der sich doch eigentlich nnr aus Gründen der Zweckmäßig¬
keit und der Schönheit rechtfertigen sollte. Wir verdanken gerade dem römischen,
mittelbar dem päpstlichen Einfluß die Renaissance, und wenn uns die Gothik
wirklich wieder zum Papstthum'zurückführen sollte, so würden wir nicht sehr em-
fänglich dafür sein. — Aber es fehlt dem Verfasser auch nicht an Gründen
von allgemeinem Interesse. Als Ideal stellt er dasjenige Bauwerk auf, „in
welchem die zweckmäßigste Einrichtung mit der dauerhaftesten Aus¬
führung und bedeutungsvollsten Anordnung, in welchem Klarheit und
Einfachheit mit Reichthum und lebenvollem Wechsel, Folgerichtigkeit
mit Freiheit in der Art sich verbunden und geeint finden, daß eine harmo¬
nische Gesa.mmtwirkung entsteht, worin das Einzelne, wenn auch in sich
noch so vollendet, doch immer dem Ganzen sich unterordnet, das Ganze aber
seine Bestnnmuug, so wie überhaupt die ihm zu Grunde liegende Idee in
unzweideutiger, charakteristischer Weise zu erkennen giebt." — Diesem Ideal ent¬
spricht nach seiner Ansicht am meisten die mittelalterliche Baukunst, deren Hcmpt-
gesch ist, „daß an einem Bauwerke kein Glied vorkommen darf, wel¬
ches nicht durch die Grundconstruction bedingt ist und einen be¬
stimmten Zweck in derselben zu erfüllen hat."— „Mau trete vor einen
irgend bedeutenderen mittelalterlichen Ban, dessen ursprünglicher Plan nicht durch
spätere Einschiebsel alterirt worden ist, und man wird sofort gewahren, wie der
Grundriß in allen seinen Dispositionen nach dem Zwecke und der Idee des
Ganzen um einen festen Kern herum sich gestaltet; wie sodann der Aufriß mit
logischer Nothwendigkeit aus dem Grundrisse erwächst und wie jede Gliederung
und jedes Ornament nur als eine höhere Entwickelung der nothwendigen
Constrnctionstheile erscheinen, gleichsam als deren consequente Fortbildung in das
freie Gebiet der Schönheit. Wie die Blätter eines Baumes in lebcnvotter, un¬
endlicher Mannichfaltigkeit den Aesten entwachsen und doch immer Gesetz und
Wesen des Stammes an sich tragen, so das Stab- und Maßwerk, die Spiere
und Rosetten, die Blätter und die Blumenkronen einer Cathedrale des Mittel¬
alters. Da ist nichts wahrzunehmen, was nicht auf eine innere Nothwendigkeit
oder doch ans einen bestimmten Zweck hindeutete, während es zugleich den Adel
des Kunstschönen an der Stirne trägt. So die Strebepfeiler mit ihren Gesimsen,
Wetterschlägen, Spitzsäulen und Wasserspeiern, so die freistehenden Fialen, die
Strebebogen und die Arkaden, so die Bogen und die Gewölbe mit ihren Kappen
und ihrem Gurtwcrke — kurz Alles, von den Neigungswinkeln der Thurmspitzen
und Dächer an, bis zu den Beschlägen der Thore herab, zeigt das Be¬
streben, das Technische und Mechanische zum Vehikel der Kunst
zumachen und das Schöne ans dem Nothwendigen erwachsen zu
lassen.
Jene hochgethürmten Strebepfeiler, welche den gothischen Kirchenbau
umragen, erfüllen dnrch ihre stolze Höhe zugleich einen praktischen Zweck, indem
dadurch der Druck auf die Gewölbewiderlagen verstärkt und folgeweise deren
Wirkung erhöht wird; die Strebebogen, welche die Bestimmung haben, den
Schub der Gewölbe auf die Strebepfeiler zu übertragen, sieht man zugleich zum
schönsten, originellsten Schmnckwerke sich gestalten; die Brechungen, Vorsprünge
und Abfaseruugcn dienen gleichfalls nicht minder dem Schönheitszwecke durch
das wechselnde, phantastische Spiel von Licht und Schatten, welches sie hervorbringen,
als dem technischen Bedürfnisse, indem sie theils als Stütze dienen, theils die Massen in
unmerklicher Weise beseitigen, wie dieselben bei zunehmender Höhe überflüssig werden,
oder gar im Wege stehen. Die steilen, spitzwinkeligen Bedachungen erwecken dnrch
ihre Form diejJdce der Vergeistigung, des steten Aufschwunges nach Oben; sie ent¬
sprechen aber auch zugleich den klimatischen Verhältnissen unsres Himmelsstriches
am meisten und bieten den Angriffen der Elemente am wirksamsten Trotz. Der
überall wiederkehrende, so überaus elastische, allen Verhältnissen sich auschmie¬
gende Spitzbogen gestattet, indem er den Druck auf die Stützen möglichst loth¬
recht wirken läßt, die größte Höhe bei geringster Masse und Spannung, und
bringt zugleich, in Verbindung mit den auf- und abpülsirenden Gurten und
den auf den schlanken Pfeilern schwebend gehaltenen Wölbungen, jene magische
Perspective hervor, die uns beim Eintritt in die Tempelhalle an den Boden
fesselt. Das mannichfaltige Sprossenwerk in den Fenstern zeigt die schönste
Abwechselung wie das sinnvollste Formenspiel; es kommt aber zugleich nicht minder
einem praktischen Bedürfnisse entgegen, indem es den weitgespannten, kühnen
Fensterbogen als Stütze und den lichtdurchwirkten Prachtteppichen ans Glas als
Rahmen dient. — Alle Profilirungen sind an den größeren mittelalterlichen
Bauwerken stets mit Rücksicht auf die Gesetze des Sehens so angelegt, daß mög¬
lichst viele Punkte in's Ange fallen; alle Gliederungen tiefen sich in die Wand¬
flächen ein, um uicht als nutzlose Auswüchse zu erscheinen und den Grundcharakter
des Ganzen möglichst wenig zu beeinträchtigen; sie sind aber auch wieder uicht
so tief eingelassen, daß sie den betreffenden Coustructiouslheil schwächen, oder
denselben auch nur scheinbar ans seinem Zusammenhange reißen könnten. Die
Vorsprünge sind der Regel nach abgeschrägt, um dem Wasser freien Ablauf
zu gestatten; die Gesimse siud so angebracht, daß sowol die Fugen des Mauer-
werks, als die Fnndamentirnng des Baues gegen die Einwirkung des Regens durch
sie geschützt werden; die einzelnen Wertstücke erscheinen in einer Art geordnet, daß
die Fugenlinien mit den architektonischen Linien nicht in Concurrenz treten,
vielmehr sofort als etwas rein Zufälliges sich zu erkennen geben, aus welchem
Grunde denn auch, so wie wegen der größern Solidität des Mauerwerkes, niemals
besonders große Steinblöcke verwandt wurden; die Fenster-Pfosten und Ge¬
wände zeigen eine ähnliche Verbindung des praktischen mit dem ästhetischen
Zwecke, indem ihre Construction und zierlich bewegte Gliederung sowol auf das
Einfallen des Lichtes, als auf die möglichste Durchbildung,und Belebung der
Masse berechnet siud. Ueberhaupt zeigt die gothische Baukunst überall, daß sie
wesentlich constructiv ist." — Dasselbe gilt von der Auswahl des Bau¬
materials. — „Heutzutage weiß mau durch Mörtel und Tünche aus Allem
Alles zu machen. Der gebrechlichste Ziegelbau wird unter ihrem Bei¬
stande in einen florentinischen Fclscnpalast verwandelt; der Gyps zaubert jede
Mauer und jeden Balken in eine strahlende Wand oder Säule von Marmorstein
und Porphyr um; die Steinpappe (neuester Erfindung!) und das Papier wäckv
wissen den Bildnermeißel durchaus entbehrlich zu machen, wie die Tüncher-Chablone
die sichere Hand des Meisters!" — Die mittelalterliche Baukunst dagegen strebte
überall nach Wahrheit. — „Wo die Natur blos die Ziegel bot, da wußte das
Genie dieser Meister dieselben nicht weniger künstlerisch zu ordnen und zu gestalten,
als anderwärts den Tuff- und deu Quaderstein. Die Backsteinbauten des nörd¬
lichen Deutschlands und Italiens sind in ihrer Art ehe« so bewundernswerth
und künstlerisch vollendet, als die kolossalsten Marmorconstrnctionen Griechenlands,
eben weil sie nicht mehr scheinen wollen, als sie wirklich sind."--Nach
einer ziemlich grellen Darstellung der heutigen Baumethode wird im Gegensatz
von den mittelalterlichen Baumeistern angegeben, daß sie ihre Häuser nicht von
außen hinein (»in der Fa<?abe einen glatten und symmetrischen Anstrich zu geben),
sondern von innen heraus bauten, so daß die Fayade das Product des Jünen-
baues wurde, wie der Aufriß das Product des Grundrisses. Auch in den Pri-
vatgebäuden des Mittelalters „entwickelt sich Alles durchaus natürlich, -gleichwie
nach einem organischen Gesetze; jeder Theil, der größte wie der kleinste, giebt
durch seiue Erscheinung sofort seine Bestimmung und den Grad seiner Bedeutung
zu erkennen, nichts ist verkleistert und maskirt; endlich aber gestaltet ein natür¬
liches Kunstgefühl die Einzelheiten zu einem malerischen, ausdrucksvolle» Ganzen,
welches überdies möglichst mit der Umgebung in Einklang gesetzt wird."
„So mußten sich z. B., umgekehrt'wie solches die heutige Baukunst lehrt,
die Fenster in Bezug auf Gestalt, Größe, Zahl und Anordnung nach derNaum-
vertheilung im Innern richten; die Gesimse, wo solche überhaupt das Material und die
Mauerstärke zuließen, erfüllten durch ihre Gestalt wirklich ihren Zweck, Regen
und Feuchtigkeit von der Mauer abzuhalten, und waren nicht wie die akademi¬
schen bloße Masken; die Treppen lagen in besonderen, den ganzen Bau über¬
ragenden Thürmen, sowol geschützt gegen Feuergefahr, als wohlerlcuchtet und die
freie Bewegung im Innern nicht hemnleud; die Kamine traten kräftig und ent¬
schieden aus den Wänden und Dächern und brachen so, wie die eben gedachten
Treppenhäuser, nicht blos die Monotonie der großen Flächen, sondern sie boten
mich einen weiten Spielraum für ornamentale Motive aller Art dar. Während
auf unsren, dem Wind und Wetter preisgegebenen Balkonen Niemand, wenigstens
Niemand vom schönen Geschlechte, sich blicken lassen darf, ohne Gefahr zu laufen,
hinweggezischt zu werden, gereichte dem mittelalterlichen Wohnhause der Erker
zur schönsten Zierde von Außen und von Innen, wie zur höchstem Annehmlichkeit
und Bequemlichkeit. Die Decken der Gemächer wurden nicht durch allerhand
Kleisterwerk zu einer monotonen Fläche gestaltet, vielmehr blieben auch sie dem
obersten Grundsatze der Wahrheit getreu, indem die Balkenlagen klar hervor¬
traten und das Gerippe zu der Vertäfelung bildeten, welche das angenehmste
Spiel von Licht und Schatten zeigte, und dem Holzschnitzer und Kunstschreiner
Gelegenheit zur Bethätigung seines Talentes bot. Alles, von der phantastisch
gestalteten Wetterfahne an, bis herab zum Klopfer an der Hausthüre und zur
Vergitterung über derselben, zeigte sich entschieden als das, was es sein sollte,
nur. immer durch Ausführung und Anordnung in das freie Reich der Kunst
gehoben. So gestaltete sich, im Gegensatze zu unsren modernen Häusern, die
eigentlich nur wie Häuserfutterale aussehen, ein lebendiges, bedeutungsvolles,
in sich einiges, organisch gegliedertes Ganzes, aus welchem die Abstammung, die
äußere Stellung, die Lebensweise, ja — durch die fast nie fehlenden Heiligenbilder,
Sprüche und Embleme — der Glaube seines Erbauers und Inhabers sich
erkennen ließ. Die keck aufgegiebeltcn oder zinnengekrönten Reihen solcher
Behausungen, von welchen eine jede, bei aller Uebereinstimmung im Grundtypus,
doch stets ein entschieden individuelles Gepräge trug, überragt von den öffentlichen
Bauwerken, den Versammlungsorten freiheitsstolzer Bürger, und von den luftigen,
um die Wette aufsteigenden Thürmen, bildeten dann die unvergleichlichen Städte,
mit denen besonders unser,Vaterland prangte/' — Eben so in den Bauerhäusern.
„Auch aus diesen Holzconstructionen springen die allgemeinen, leitenden
Principien der christlich-germanischen Architektur in die Augen. Die ganze
Anordnung paßt auch hier überall sich dem Materials an; das Gefüge tritt stets
unverhohlen hervor; die Ballen, Sprossen und Riegel gestalten sich, indem sie
zugleich ihre coustructiveu Zwecke erfüllen, zu sinnvollen Ornamente, welches
noch dnrch mannichfaches originelles Schnitzwerk gehoben wird. Wie beim Steinbau
nahm man stete Rücksicht ans die Gesammtwirkung und lief; jeder Einzelheit ihre
individuelle Geltung und Bedeutung, so jedoch, daß sie dem Charakter des Ganzen
sich unterordnete."
Auf die Vorschläge des Verfassers gehen wir hier nicht näher ein. Zwei
derselben werden wol unbedingte Billigung siudeu: 1) daß mau gegen die noch
bestehenden alten Bauwerks mit größerer Pietät verfahre, 2) daß von Seiten
des Staats in Akademien und anderen öffentlichen, Anstalten das Verständniß und
der Sinn für diese ausgestorbene Kunst wieder vermittelt werde. Die übrigen
Vorschläge scheinen uns noch nicht hinlänglich klar durchgebildet zu sein,, doch regen
sie zum Nachdenken an, und wir machen unsre Leser, die sich aus den angeführten
Proben von der Sachkenntniß des Verfassers wohl überzeugt haben werden, darauf
aufmerksam. —
Nur noch eine kleine Bemerkung. Herr Reichensperger kann nicht stark genug
seinen Zorn ausdrücken, daß man statt der Crucifixe und Heiligenbilder nicht
blos aus Schauspielhäusern, sondern in den Gcrichtshallen u. s. w. Sphinxe,
Genien und andere heidnische Ornamente anbringt. Ungeschickt genug, das geben
wir zu; aber jene Sphinxe u. s. w. sind eben nichts als Ornamente: tragen sie
nichts zur Heiligung bei, so stören sie anch nicht. Bei den Heiligenbildern und
ähnlichen Emblemen dagegen würden wir an Scenen erinnert werden, die wir
im Interesse Aller gern vergessen möchten: an die Feldzeichen Alba'S, Tilly's, an
den dreißigjährigen Bruderkrieg; ferner an die Inquisition und die Folter. Lieber
die Sphinxe! sie sind im Aegyptischen Schlaf und thun uns keinen Schaden; die
Fahnen Tilly's wollen wir nicht über den Stätten aufpflanzen , wo Recht gesprochen
werden soll.
Neben der constitutionellen Partei steht in der Opposition die Fraction
Bethmann-Hollweg. Sie hatte sich während der vorigen Session in der ersten
Kammer aus Mitgliedern der Rechten gebildet, denen durch die ständische Neacti-
virung, und uoch mehr dnrch die Art, wie man sie zu rechtfertigen suchte, der
Geist des jetzt herrschenden Systems nahe geführt war. Unterstützt von den
Anhängern der Fraction Mälzte, die schon früher schwache Versuche gemacht
hatte, sich ans dem bloßen Miuisterialismuö zu eiuer Art selbstständiger Stellung
emporzuwinden, hat die neue Fraction mit Ausnahme einer abermaligen Ver-
trauensanwandlung in Bezug aus das Ministerverantwortlichkeitsgcsetz und einer
seltsamen Abirrung bei der Disstdentensrage, sich während des verflossenen Win¬
ters wacker gehalten; und dnrch die neuesten politischen Ereignisse kann sie in
ihrer Ueberzeugung von den verderblichen Wirkungen des herrschenden Systems
nur bestärkt sein. In der zweiten Kammer waren ihr nur sehr vereinzelte Ele¬
mente geneigt, wie die Abgeordneten Landfermanu, v. Font u. A. Um so mehr
mußte sie bei den Neuwahlen ans Verstärkung bedacht sei». Aber sie hat über
großes Mißgeschick zu klagen. Von der an und für sich genügen Anzahl ihrer
Anhänger in den früheren Kammern ist.der größte Theil nicht wieder gewählt
worden, wie die Herrn Matthis, Graf Uork, v. Gruner; und die Trümmer der
Fraction Mätzke sind vollends ganz aus einander gesprengt. Eben so sind ihre Ver¬
suche, neue Anhänger in die Kammern zu bringen, mißlungen; die Grafen Pour-
tales und Goltz, der frühere Kultusminister Eichhorn u. A. sind nicht gewählt.
Es ist demnach fraglich, ob Graf Fürstenberg-Stammheim, v. Bethmann-Hollweg
und v. Font überhaupt eine Fraction in der zweiten Kammer zu Stande bringen
werden; in der jetzt aus einander fliehenden Partei Geppert sind einige Elemente
dazu vorhanden, die des lauwarmen Wassers, mit dem sie bisher durch die
Tagesordnungen der Herr» Geppert und v. Eynaru gespeist wurden, herzlich
überdrüßig sind und gleichwohl durch alte und befestigte Vorurtheile von der
constitutionellen Partei fern gehalten werden. Doch in der Kunst der Propa¬
ganda ist die Fraction Bethmann-Hollweg wo möglich noch unerfahrener, als die
Constitutionellen. Daß der frühere sächsische Staatsminister, Herr v. Carlowitz,
sich eiuer bestimmten Fraction anschließen wird, bezweifeln wir; sollte er sich mit
den Anhängern des Herrn v. Bethmann vereinigen, so dürfte er zugleich eine
geeignete Persönlichkeit sein, eine Verständigung mit der constitutionellen Partei
Behufs gemeinsamer Schritte anzubahnen.
Daß wir das Wahlmißgeschick der benachbarten Fraction nicht mit Gleich-
giltigkeit ansehen, versteht sich von selbst. Wäre sie mit einem auch extensiv
respectabeln Kern in die Kammern getreten, so hätte sie vielen schwächlichen
Gemüthern, die sich davor ängstigen, Mitglieder der Linken genannt zu werden,
einen Halt und zugleich die Gelegenheit geboten, ihren eigentlichen Ansichten
einen angemessenen Ausdruck zu geben. Unglücklicher Weise sind bei der Wahl
gerade solche Elemente übergangen, welche die junge Partei vor Erschlaffung und
vor dem Faulfieber der Tagesvrduungen bewahren konnten. Dazu kommt, daß
durch das Wahlmißgeschick Talente brach gelegt sind, die in einer Kammer sehr
am Platze wären; Matthis ist, wie sehr man ihm auch sonst abgeneigt sein mag,
ein bedeutender Dialektiker und in der Rede gewandt; v. Grüner ist in die Ge-
heimniße der Bnndestagspolitik tief eingeweiht und nnter den preußischen Diplo¬
maten vielleicht der beste Kenner des Frankfurter Terrains und der östreichischen
Taktik; Pourtales endlich scheint in jeder Beziehung ein Mann von ganz hervor¬
ragenden Gaben zu sein, die sich in der Kammer bald geltend machen würden.
Wir glaubten, daß die constitutionelle Partei ohne Bedenken für die Wahl der
beiden zuletzt genannten Männer hätte thätig sein können.
Da anzunehmen ist, daß auch nnter den mir unbekannten Personen einige
zur Linken halten werden, so wird die gestimmte Opposition in der zweiten Kam¬
mer mit Ausschluß der Polen und Ultramontanen es vielleicht ans achtzig und
einige Stimmen bringen. Dieser Minorität gegenüber steht eine formidable
Phalanx von NeactionairS, die in zwei ungleiche Hälften zerfällt, in die Männer
der Kreuzzeitung, und in die Bureaukraten.
Daß das preußische Ministerium keine politische. Partei hinter sich hat, ist
bekannt; es sucht darin sogar einen besondern Ruhm. Dagegen erscheint es an
der Spitze der gesammten Beamtenwelt, der sich eine nicht unbeträchtliche Zahl
von Schmarotzern, die nach ihrem Vortheil angeln, anschließt. Die Beamtenwelt
ist dieses Mal, namentlich durch die Wahlen auf dem platten Lande, so stark ver¬
treten, daß selbst der Negierung bange zu werden scheint; allein in diesem Dilemma
kann ihr nicht geholfen werden; wenn ihr Wunsch, möglichst viel sichere Stimmen
in den -Kammern zu haben, erfüllt wird, so zieht sie gerade dadurch ihre dienst¬
eifrigsten Organe ans den Provinzen zurück und die Provinzen athmen ans.
Der Einfluß der Landräthe scheint da, wo er mit einiger Energie geltend gemacht
wird, zur Zeit unwiderstehlich zu sein, und wer unsre Gesetzgebung genauer kennt,
wird sich darüber nicht wundern. Unter den Gewählten figuriren etwa neunzig ac¬
tive Regierungsbeamte und Militairs, worunter fünfzig Landräthe. Dazu kommen,
als Landwehr ersten Aufgebots, weniger abhängig und darum weniger zuverlässig,
30 städtische und ständische Beamte'(worunter -I-I Bürgermeister), und 48 Juristen,
nnter denen sich 6 Staatsanwälte und -12 Kreisgerichtsdircctore» befinden. Von diesen
circa -170 Staatsbeamten, die in einem größern oder geringern Abhängigkeitsverhält-
niß stehen, gehören nur wenig über zwanzig den liberalen Fractionen an. Rech¬
net man von dem Nest noch diejenigen ab, die bei etwaigen Disharmonien sich
entweder zur Kreuzzeitungspartei, oder zu den Ultramontanen schlagen werden, so
bleiben dein Ministerium immer noch ungefähr hundert sichere Stimmen,' d. h. es
ist eine Koalition sämmtlicher politischer Fractionen erforderlich, wenn das Mini-
sterium eine erhebliche Niederlage erleiden soll. Wenn die Ultramontanen und
Polen sich mit den Liberalen bei einer Abstimmung vereinigen, wird die Wage
schwanken. , Natürlicher Führer der ministeriellen Partei ist Herr v. Kleist-Retzow,
dessen Stellung zum Junkerthum bekanntlich zweifelhaft geworden ist, seitdem er
die Lust der Bureaukratie athmet; und die Kreisgerichisdircctoren Nöldechen und
Breithaupt werden als Berichterstatter und Amcndemeutssteller an Fruchtbarkeit
die Kaninchen übertreffen müssen. Ausgezeichnete Denkschriften, wie sie die Linke
in der vorigen Session über die ständische Neactivirnng, die Gemeindeordnung,
die Lage der Presse lieferte, wie v. Patow's Bericht über den niederländischen
Handelsvertrag oder Cießkowski's Denkschrift über die Begründung einer polnischen
Universität, wird man in der künftigen Session überhaupt vergeblich erwarten.
Die schriftlichen Arbeiten werden voraussichtlich durch die ausgesuchteste Lang¬
weiligkeit zu wirken sich bemühen.
Die eigentliche KrenMtungSpartei ist aus den Wahlen nicht so stark hervor¬
gegangen, wie wir vermutheten und sie selbst gehofft zu haben scheint. Die
zweite Kammer zählt zwar etwa 160 Vertreter des ländlichen Grundbesitzes; aber
von diesen gehört nicht die Hälfte zur eigentlichen Kreuzzeitnngspartei. Vieles lies
mit ihr mit, so lange die große Differenz, die sie von der Bureaukratie trennt,
noch uicht zu Tage gekommen war; jetzt läßt sie sich nicht mehr vertuschen. Die
Pairiedebatten haben zu viel enthüllt, und die Kreuzzeitung ist mit ihren Oppo-
sitionsvcrsnchen ein Jahr zu früh gekommen. Jetzt ist die Junkerpartei wenig
oder gar nicht stärker, als die constitutionelle. Doch wird sie einen gewaltigen
numerischen Zuwachs erhalten, sobald sich innerhalb des Ministeriums das Züng¬
lein zu ihren Gunsten zu neigen scheint. Diesen Wendepunkt zeitig zu erkennen,
und tapfer zu benutzen, wird keine leichte Aufgabe für das Beamtenthum sein;
die Desertion, die dann stattfinden wird, muß eine Umgestaltung des Ministeriums
im junkerlichen Sinn oder seine vollständige Bekehrung zu den Ansichten des
Herrn von Westphalen zur Folge haben, Nach allen Antecedentien zu schließen,
ist das Letztere das Wahrscheinlichere, wie eifrig auch das Correspondenz-Bureau
das Gegentheil versichert.
Viel böser sieht die Differenz mit den Ultramontanen aus, die in der
künftigen Kammer eine Partei von dreißig und einigen Mitgliedern unter der
Führung der beiden Reichensperger, Osterrath's, Braun's und Robben's bilden
werden. Der Cultusminister ist ans einem härtern Stoffe gearbeitet, als seiue
College«, und eine Nachgiebigkeit seinerseits nicht wahrscheinlich. Dennoch wird
man gut thun, im Auge zu behalten, daß eine principielle Differenz zwischen
den leitenden Kreisen der evangelischen Kirche und, den Ultramontanen uicht
obwaltet. Wenn mau in der evangelischen Kirche den Glauben aus Ueberzeugung
d. i. den Grundsatz freier Forschung durch deu Autoritätsglauben ersetzt, schneidet
man dem Protestantismus die Berechtigung seiner Existenz ab, räumt der Kon¬
fession, deren Dogma den Vorzug eines ehrwürdigen Alters voraus hat, ein
natürliches Uebergewicht ein und setzt sich zu gleicher Zeit außer Stande, deu
Katholiken ihre unmittelbare und ungestörte Verbindung mit Rom, die ans der
Anerkennung des AutvritätSpriucipü in kirchlichen Dingen als eine unvermeidliche
Consequenz sich crgiel't, zu verweigern. Der allerdings durch zahlreiche Häkeleien
bis zu einer gewissen Bitterkeit gesteigerte Conflict zwischen dem jetzigen evange¬
lischen Kirchenrcgimeut und deu Katholiken entbehrt so sehr eines natürlichen
Grundes, daß die schärfer blickenden Führer der Ultramontanen die im Univers
ihre Stimme ertönen lassen, die Herrn Stahl und Gerlach schon längst als ihre
Bundesgenossen bezeichnet haben. Die Stellung des Kultusministeriums scheint
uns deshalb in dieser Frage zu wenig haltbar zu sein, als daß wir uns nicht
nach einigen Kontroversen ans ein friedliches Abkommen gefaßt machen sollten,
durch welches die katholische Kirche Alles erhält was sie wünscht, und in der
evangelischen die Dissidenten in erster Linie, die kirchlichen Univnisten in zweiter,
der freien Behandlung des preußischen Kircheureg'laeues anheimgegeben werden.
Aber auf diesem Gebiete ist der Reaction ihr Ziel gesteckt
— Kritische Schriften, zum ersten Male gesammelt und mit
einer Vorrede herausgegeben von Ludwig Tieck. Vier Bde. Leipzig, Brockhaus. —
Die beiden ersten Baude dieser Sammlung sind bereits vier Jahr alt, die beiden folgen¬
den sind mit Zugrundelegung der dramaturgischen Blätter von 1826 und mit Aufnahme
der später hinzugekommenen kritischen Aufsätze durch Eduard Devrient um gesammelt.—
Ueber die beiden erste» Bände haben wir seiner Zeit bereits referirt. Sie enthalten
vorzugsweise die Vorreden zu den verschiedenen Ausgaben, die der Dichter veranstaltet
hat, jedoch auch einige selbstständige Aufsätze. Der beste dieser Aufsätze ist der über
Heinrich'von Kleist, um welchen sich Tieck theils durch Herausgabe seiner Werke, theils
durch fortwährende Anregungen und Erläuterungen, ein nicht hoch genug anzuschlagendes
Verdienst erworben hat. Die beiden folgenden Bände beziehen sich fast ausschließlich
auf's Theater und sind von großem Interesse sowol für die Kenntniß der damaligen
BühneuverlMnisse (in den ÄOger Jahren), wie auch zur Einsicht in die Stellung, welche
Tieck der neuern Literatur gegenüber einnahm. Während er in her ersten Zeit seiner
dichterischen Wirksamkeit mit der Schlegel'sehen Schule gemeinsam die Fahne der Romantik
aufpflanzte, ist in diesen kritischen Blättern die Romantik, die eben aus der Nachahmung
jener Schule hervorging, der hauptsächliche Gegenstand seiner Polemik. Zwar ist der
Werth der verschiedene» Aufsätze nicht gleich. Manche Rücksichten, namentlich auf die amt¬
liche Stellung bei der Dresdner Hofbühnc, haben darauf eingewirkt, Manches ist auch
sehr flüchtig hingeworfen, und zuweilen gehen die alten Sympathien mit den neu erwor¬
benen Ueberzeugungen durch; aber im Ganzen ist die Polemik mit vielem Geschick,
Sachkenntniß und Ueberzeugung geführt, und auch wo wir mit dem Einzelnen nicht
einverstanden sind, können wir noch immer viel daraus lernen. Am wenigsten befriedigen
diejenigen Aufsätze, in denen Tieck nach der Weise seiner frühern Aesthetik seinen Gegen¬
stand von verschiedenen Seiten beleuchten läßt, indem er Personen von verschiedenen
Gesichtspunkten fingirt, welche durch die Unterredung die Einseitigkeit der einzelnen An¬
sichten aufheben sollen. Es kommt bei dieser Art von Kritik nicht viel heraus. Ungleich
zweckmäßiger verfährt der Kritiker, wenn er mit seiner eigenen Ueberzeugung, seinem
eigenen Princip dem Gegenstand scharf zu Leibe geht und es der übrigen Literatur
überläßt, etwaige Einseitigkeiten, die trotz der aufrichtigsten Unparteilichkeit eintreten kön¬
nen, auszugleichen. — In vieler Beziehung erinnern diese kritischen Blättern an Börne,
dessen Theaterrecensionen ungefähr in die nämliche Zeit fallen, die nämlichen Stücke
behandeln und wenigstens im Ganzen genommen auf das nämliche Resultat führen; aber
wenn Börne durch die Lebhaftigkeit seines Styls, durch die Mischung von Gemüthlichkeit
und Leidenschaft in seinem Wesen und durch die unbeschränkte Popularität seines Instinkts
in d'en meisten Fällen einen schlagendem Eindruck macht, so stehen die Aussähe Tiecks
für den Einsichtigen unendlich höher, denn Börne ist reiner Naturalist, er giebt seinen
Stimmungen den freiesten Spielraum, ganz gleichgiltig, ob diese von einem ästhetischen
oder einem andern Eindruck herrühren, und wenn sich anch der bedeutende gesunde Men¬
schenverstand, der sich selbst in seinen Paradoxien selten verläugnet, von Zeit zu Zeit in
treffenden Einfällen geltend macht, so würde es doch schwer sein, aus irgend einem
seiner polemischen Ausfälle eine allgemeine Regel zu ziehen, die für die Ausübung und
Beurtheilung der Kunst fruchtbar werden könnte, und das ist doch bei der Kritik die
Hauptsache. Tieck dagegen strebt überall nach der Aufstellung irgend eines allgemeinen
Princips; er betreibt sogar die Urtheile im Einzelnen ziemlich lässig, dagegen geht er
sehr sorgfältig zu Werke, wenn er die allgemeine Regel daraus zieht. Wenn sich auch
hin und wieder in ))lese Regel eine persönliche Vorliebe einschleicht, die mit der reinen
Kritik nichts zu thun hat, so wird uns doch jedesmal dadurch eine Handhabe geboten,
unsre eigene Ansicht zu messen und sie entweder zu berichtigen, oder sie berichtigend auf
die empfangene Kritik einwirken zu lassen. — Auffallend ist die Uebereinstimmung zwi¬
schen beiden Kritikern bei der Beurtheilung des Hamlet, dem beide eine größere Abhand¬
lung gewidmet haben. Wenn auch bei Börne die Abneigung gegen die Figur des
Hamlet vorzugsweise aus seiner Abneigung gegen die Unentschlossenheit der deutscheu
Politiker hervorging, deren Conterfei er in diesem wunderbaren poetischen Gemälde
erblickte, während sie bei Tieck aus einer fast zu großen Anspannung des Scharfsinns
zu erklären ist, so bleibt doch das Resultat dasselbe. Die herkömmliche Vorstellung von
dem Verhältniß der Dignität, in dem die einzelnen Personen dieser Tragödie zu ein¬
ander stehe», wird geradezu auf den Kopf gestellt. Tieck's Auffassung hat in jener Zeit
eine große Sensation erregt und im Ganzen wenig Billigung gefunden. Wir finden,
daß sie, wenn mau gewisse Voraussetzungen gelten läßt, namentlich die Voraussetzung
eines leitenden, festgehaltenen Plans beim Dichter, sehr scharfsinnig ausgearbeitet ist, und
daß sie ebenso gut als eine Erklärung gelte» kann, als irgend eine andere/nur ist es
auffallend, daß Tieck, der seine Hypothese als die ni»zig mögliche Rechtfertigung des
Shakspeare'schen Plans begreift, nicht auf die weitere Ueberlegung kommt, daß in dem
Organismus eines Drama's, welches fast unmittelbar nach seinem Entstehen so uner¬
hörte Mißverständnisse provocirt, irgend etwas Fehlerhaftes sein müsse, und daß.nament¬
lich von der gerühmten Durchsichtigkeit des dramatischen Plans keine Rede sein könne,
wo man jede der handelnden Personen auf die entgegengesetzte Weise aufzufassen veran¬
laßt wird. — Weit wichtiger und interessanter für uns sind die Betrachtungen über den
Zustand des deutschen Theaters. Tieck hat die Uebelstände desselben mit großem Scharf¬
sinn und seinem Tact herausgefunden, und es liegt eine gewisse Ironie darin, wenn
diese Uebelstände vorzugsweise aus das herauskommen, was von der romantischen Schule
so lange Zeit als Evangelium aufgestellt und was später von Tieck bei dem Einfluß,
den er in Berlin ausübte, wenigstens gelten gelassen wurde. Der vierte Band schließt
nämlich mit einer Reihe kleiner Aufsätze, in denen die Berliner Versuche, die griechischen
Tragödien und die englischen und spanischen phantastischen Lustspiele mit Unterstützung
der Musik aus die Bühne zu bringen, mit großer Anerkennung besprochen werden. Er
freut sich darüber, daß der Sinn für das Schöne zu allen Zeiten derselbe sei, und
daß man in der Mark die Tragödien des Sophokles mit eben so viel Behagen genießen
könne, wie vor zweitausend Jahre» in Athen, und doch ist diese angebliche Universalität
des Geschmacks, diese Gleichgiltigkeit gegen die nationalen und zeitlichen Voraussetzungen
der Hauptgrund für die Styllosigkeit und Verwilderung der deutschen Bühne, und Tieck
hat das auch vollkommen richtig gefühlt; aber es ist, wie wir vorher andeuteten, die
alte Vorliebe hat das Uebergewicht über sein kritisches Urtheil gewonnen. — In den
dramaturgischen Blättern finden wir zwar überall auch die Fortsetzung gegen den gemei¬
nen Realismus des bürgerlichen Drama's, den Tieck früher als Romantiker mit Recht
bekämpft; aber der Kampf gegen die Überschreitungen dieser Romantik tritt bedeutend
in den Vordergrund. Es ist eine wahre Freude, die Überlegenheit zu verfolgen, mit
der dieser feine Kopf die Ausgeburten der Schicksalstragödie in ihre grenzenlose Hohlheit
und Nichtigkeit zerlegt. Nun ist es aber nicht seine eigene Schule, aus der er die Quelle
dieser Verirrungen herleitet, sondern Schiller. Gegen Schiller steht er überhaupt in
einem ganz eigenthümlichen Verhältniß. Er hat eine geheime Abneigung gegen Schiller,
obgleich er gegen die Verdienste dieses Dichters keineswegs blind ist; und weil er das
fühlt, zwingt er sich jedesmal, wo er anf Schiller zu sprechen kommt, und das geschieht
fast auf jeder dritten Seite, zu einer gewissen Rührung und Begeisterung, die zuweilen
einen komischen Eindrnck macht. Er redet von ihm nie, ohne ein epilnston vrntms
anzuwenden, z. B. „unser Schiller", „der edle Schiller", „der ausgezeichnete Dichter
Schiller" u. s. w., und zwar jedesmal, um irgend einen kleinen Hieb aus den guten
Schiller einzuleiten. Zum Theil mag das Rücksicht aus das Publicum gewesen sein,
für welches er schrieb und das sich seinen Schiller nicht ungestraft verlästern ließ, zum
Theil aber auch ein sehr ehrenwerther Kampf gegen seine eignen Neigungen. Uebrigens
hat ihn diese Abneigung keineswegs verleitet, dem Dichter Gerechtigkeit zu versagen.
So ist z. B. 'seine Abhandlung über den Wallenstein, wenn wir von dem wunderlichen
Einfall absehe», der Dichter hätte nach Art des Shakspeare den ganzen dreißigjährigen
Krieg behandeln sollen, ein kritisches Meisterwerk, und alle Vorzüge und Fehler dieses
Trauerspiels werde» mi) dem größten Scharfsinn ein's Licht gezogen. Worin aber sür
uns die Ironie in diesem Verhältniß liegt, ist die verschiedene Begründung desselben zu
verschiedenen Zeiten. Ursprünglich war Schiller den Romantikern unbequem, weil er von
allen Dichtern am meisten rationalistisch war, wett er am unbefangensten,' offensten und
leidenschaftlichsten in die herrschenden Ansichten des Zeitalters einging, eines Zeitalters,
gegen welches vorzugsweise der Kampf der Romantik gerichtet war. In den dramatur¬
gischen Blättern dagegen wird Schiller vorzugsweise als Romantiker angegriffen. Tieck
bezieht sich mit seinen Vorwürfen namentlich auf die Jungfrau von Orleans und auf
die Braut von Messina, und spricht wahrhaft goldene Worte gegen dieses Bestreben,
die Mirakel zu übertreiben und dem Publicum zuzumuthen, im Interesse der Aesthetik
aus seinen natürlichen und vernünftigen Voraussetzungen herauszutreten. „Ist es denn
recht," fragt er, „alles Nationale, Angewöhnte und Unerzogene, alle Gesinnung und
Ueberzeugung diesem Bühnenschmuck zu Gefallen aufzugeben?" -— Und weiter: „Soll
denn die Romantik der Tragödie etwa darin bestehen, daß ich mich passiv den bunt
wechselnden Eindrücken überlasse, Zusammenhang, Wahrheit, Begründung nicht so genau
verlange." — Vortrefflich! Aber was haben denn die früheren Verehrer Calderon's
gethan, als sie dem deutschen protestantischen Publicum zmnuthetcn, sich von der wahn¬
sinnigen Bigotterie in der „Andacht zum Kreuz" erbauen zu lassen? Was hat der Dichter
des „Alarkos" gethan, als er uns den noch wahnsinniger» spanischen Begriff von Ehre
octroyiren wollte? Was hat Tieck selbst in seinen Lustspielen, auch in der „Gcnoveva"
gethan, als er die Dämonen aus allen Welttheilen znsammenbcschwor, um der aufge¬
klärten Barbarei den Sinn für das Uebernatürliche und Mystische wieder zu schärfen? —
Wir sagen das Alles nicht, um das Verdienst dieser kritischen Blätter irgendwie zu
schmälern, aber es wäre doch gut gewesen, wenn Tieck diesen Bruch mit früheren falschen
Vorurtheilen offen ausgesprochen hätte. — In der Polemik gegen Calderon, wenigstens
gegen die Verehrer Calderon's, ist er ganz rücksichtslos, und es ist eine wahre Freude,
zu beobachten, wie der protestantische Geist sich bei diesem Manne geltend macht, den
man früher in Verdacht hatte, zu den Abtrünnigen zu gehören. — Diese Polemik
gegen die Romantik, d. h. gegen die Unwahrheit und Unverständlichkeit in den Motiven,
ist der leitende Grundgedanke der dramaturgischen Blätter. Mit demselben hängt zusam¬
men die Polemik gegen die Einmischung des OpernwcscnS und Drama, gegen das Ueber-
'gewicht, das man den Decorationen und Costümen giebt mit Beeinträchtigung der eigent¬
lichen Handlung; ferner gegen das Virtuosenthum, das durch Verbindung unnatürlicher
Contraste gewaltsame Effecte hervorzurufen strebt, gegen die Steigerung der Sinnlichkeit
durch Anwendung der Musik, bunter Auszüge, Tänze u. s. w.; gegen die blumenreiche
Dictio», die durch sinnlichen Klang das nothwendige Medium des dramatischen Ein¬
drucks, den Verstand, übertäubt; gegen die coqucttc Kindlichkeit und die Verbindung des
Grausamen mit dem Kleinlichen u. s, w. Das Alles ist uns aus der Seele gesprochen,
und wenn auch in den Vorschlägen, die er zur Verbesserung der Bühne macht, sehr
häusig eine große Unsicherheit in Beziehung auf die Technik der Bühne fühlbar wird, so
ist die Anregung doch immer lobenswerth, und Manches wird auch durchdringen, z. B.
die Ansicht von der Nothwendigkeit eines allgemeinen idealen Thcatercvstums, welches
nur große Zeitgruppcn charakterisirt, wie man ja auch in der gute» Malerei ein ideales
Costum beobachtet. — Ju den einzelnen Urtheilen ist manches Verfehlte. Auch die roman¬
tische Vorstellung, daß Lessing eigentlich kein Dichter gewesen sei, ist wieder hervorgesucht.
Aber im Allgemeinen könnte es nur den heilsamsten Einfluß haben, wenn Theaterdichter.
Schauspieler und Recensenten ans diesen Auffassungen eines Mannes, der auch in sei¬
nen Irrthümern Geist entwickelt, ein ernsthaftes Studium machten.
Geschichte der Literatur der Gegenwart. Vorlesungen über deutsch?,
französische, englische, spanische, italienische, schwedische, dänische, holländische, flämische,
russische, polnische, böhmische und ungarische Literatur von dem Jahre 1789 bis zur
neuesten Zeit. Von Dr. Theodor Munde. Zweite, neu bearbeitete Auslage. Leipzig,
Simion. — Die erste Ausgabe dieses Werks kündigte sich als eine Fortsetzung der
Vorlesungen von Fr. Schlegel an, und war auch ungefähr in der Form derselben ge¬
halten, das heißt, es waren diejenige» Erscheinungen, welche der Verfasser für die
wichtigsten hielt, hervorgehoben und ausführlich besprochen, die Nebensachen waren nur
ganz oberflächlich berührt. Die »nun Bearbeitung verfolgt eine entgegengesetzte Tendenz.
Es kommt ihr nämlich auf Vollständigkeit an. Schon der Tiiel giebt uns eine ziem¬
liche Reihe von Völkerschaften, von jeder derselben wird eine ziemliche Anzahl von
Schriftstellern angeführt mit mehreren Werken. Es ist dadurch in das Ganze ein
Mißverhältnis? eingetreten. Wir begreifen sehr wohl die Berechtigung eines Werks,
welches sich mit der ausführlichen Darstellung der Hauptsachen begnügt, eben so die Be¬
rechtigung eines Werks, welches den Zweck hat, ein rationell verarbeiteter, zweckmäßig
gruppirter Bücherkatalog zu sein, der vielleicht durch äußerliche, sinnlich greifbare Formen
das Wichtige vom Unwichtigen scheidet und wesentlich zum Nachschlagen bestimmt ist.
Zwar leistet daS Convcrsationslexicon darin schon Vieles, allein eS bliebe einem geschick¬
ten, eben so gelehrten, als einsichtsvollen Sammler für die Bequemlichkeit des Publicums
darin noch viel zu thun übrig. Aber beide Zwecke mit einander zu verbinden, ist eine
sehr mißliche Aufgabe; sie konnte nur so gelöst werden, daß der Verfasser das Wichtige
vom Unwichtigen streng unterschiede, das Erste im Text ausführlich behandelte, und das
Andere in Anmerkungen folgen ließe. DaS hat Herr Munde nicht versucht. Er hält
die geschlossene Form von Vorlesungen sest, wirft Wichtiges und Unwichtiges bunt
durcheinander und giebt, wahrscheinlich von dem Umfang seiner Lecture geleitet, bald
eine ausführliche Charakteristik, bald blos die Angabe von ein paar Büchern (auch
diese niemals vollständig), mit ein paar Büchertitel», mit schmückenden Beiwör¬
tern ausgestattet. Die Vollständigkeit des Werks ist also nur eine scheinbare; denn
wenn auch die meisten Schriftsteller der neuern Zeit darin vorkommen, so erfahren wir
doch nur von einigen etwas Genaueres. Namentlich gilt das von der gesammten aus¬
ländischen Literatur. — Die literarischen Ansichten des Verfassers setzen wir als bekannt
voraus. In der ersten Ausgabe sprach er dieselben »»befangen aus, i» der »enen Be¬
arbeitung bemüht er sich dagege», nach allen Seiten hin ohne Unterschied Artigkeiten zu
sagen. Das wird zwar den meisten Lesern sehr bequem sein; ob es aber anch nützlich
ist, ist eine andere Frage; uns scheint unser Zeitalter bei seiner übersteigerte» Produc-
tion im Verhältniß zu seiner dürftigen Schöpferkraft gerade eine sehr ernste, eindringende
und rücksichtslose Kritik zu bedürfen, denn el» paar Dutzend neue Duodez-Lyriker oder
Duodez-Novellisten a»fz»mu»dem, ist kaum mehr nöthig, aber die Spreu vom Weizen
zu sonder», wäre heutzutage eine sehr nothwendige Arbeit. — Doch lasse» wir das
dahingestellt sein. Jeder Literarhistoriker hat das Recht, sich eine Aufgabe nach seiner
Weise zu setzen. Dagegen wolle» wir ans einige Irrthümer aufmerksam machen, die sich
selbst aus der alten Ausgabe »och erhalte» haben und die wol hätte» vermiede» werde»
sollen. So wird von Tieck als ausgemacht behauptet, er sei zur katholische» Kirche
übergetreten (p. 116); dasselbe wird von Brentano erzählt (p, 307), obgleich der
Erstere sich ziemlich rücksichtslos über den Katholicismus ausgesprochen und der Letztere
nie einer andern Kirche angehört hat. p. 317 liest der Verfasser in Görres' Schrift:
„Europa und die Revolution", die Ansicht, daß die Reformation ein zweiter Sünden-
fall sei. Diese Ansicht wird aber in jenen? Buch von Görres noch als eine falsche und
einseitige bezeichnet. — Auch bei vielen ästhetischen Urtheilen kommt man zu der Ansicht,
daß hier irgend ein factischcs Mißverständniß obwalten müsse. So lesen wir p. iOi-
folgenden Passus: „So schrieb der geniale Felix Pyat seine Komödie: „DioAvue"
ganz und gar, in classischer Manier, die hier in der Form und Behandlung mit Strenge
und Reinheit geltend gemacht wurde. In dieser feinen und edlen Begrenzung machte
der innere Ueberschwang einer weltvcrachtcnden und mit dem Bestehenden kämpfenden Ge¬
sinnung nur um so mehr Effect, der es theilweise sogar bis zu einer gewissen Erhaben¬
heit bringt." Wenn man dieses Urtheil liest, so steht einem geradezu der Verstand still.
Abgesehen von den griechischen Namen, die darin vorkommen, ist das Stück in Form
und Inhalt eine auf den Geschmack der rohesten Vorstadttheater berechnete rührende
Posse, die mit dem Bajazzo ganz in der nämlichen Reihe steht. Ob hier irgend eine
Verwechselung, vielleicht mit Angler, stattfindet? — p. 820 wird in dem. „Kehama"
von Southey ein Ebenbild des deutschen Faust gesucht. Wo auch nur eine entfernte
Verwandtschaft zwischen diesen beiden stattfinden soll, ist absolut nicht zu begreifen. —
p. 7i- wird von Schleiermacher gesagt, er habe in seinen „Monologen", die in den
„Reden über die Religion" nur angedeuteten Principien wissenschaftlich durchgeführt; aber
fo gut wie die Monologe könnte man etwa auch Tiedge's Urania ein wissenschaftliches
Buch nennen. — Wir haben hier anf diese Mißgriffe aufmerksam gemacht, über die
ein verschiedenes Urtheil gar nicht stattfinden kann. Den sonstigen Ansichten des Ver¬
fassers die unsrigen entgegenzusetzen, wäre hier nicht am Ort. — In der Vorrede
meint Herr Mundt, er habe die neuere Form der Literaturgeschichte eigentlich erst ange¬
regt, und die meisten, wenigstens viele der neueren Bearbeiter derselben hätten ihn benutzt;
aber seitdem das Werk von Gervinus erschienen ist, dürste das doch wol zu viel be¬
hauptet sein. — Einige Male kommt der Verfasser auch auf die wissenschaftliche Litera¬
tur zu sprechen, ohne erhebliche Berechtigung. — In dem Styl ist noch Vieles von der
belletristischen Form der ältern Ausgabe geblieben (so z. B. „die Revolution ist der
Mythus der neuen Zeit, ihn deuten und die in ihn eingegrabenen Widersprüche ver¬
söhnen, heißt die alte Sphinx in den Nbgruud schleudern und den freien Menschen auf
den Thron der Menschheit setzen." — „In der Literatur treten die handelnden Par¬
teien als schaffende Begriffe anf, und darum haben wir es hier mit der Fülle eines
schon gestalteten Lebens zu thun, in dem wir unsre Kämpfe als Resultate wiederfinden.
Es ist der Idealismus der Volkskraft, der uns in der Literatur durchdringt.") Diese
und ähnliche hochklingenden und wenigsagendcn Gemeinplätze hätte der Verfasser bei der
Haltung der späteren Zusätze wol ausmerzen können.
Neueste lyrische Poesie. — Weihnachten kommt heran, und mit ihm die
zierlich eingebundenen Miniaturausgaben mit Goldschnitten, in welchen lyrische Gedichte,
Märchen, Erzählungen u. s. w. enthalten sind. Wir beginnen mit dem deutschen
Musenalmanach, herausgegeben von Christian Schad. (Dritter Jahrgang, Würz¬
burg, Stahel.) Wir finden in demselben fast alle berühmten und unberühmter lyrischen
Dichter vertreten, deren Werke gegenwärtig gangbar sind, so wie sämmtliche Landschaften
Deutschlands und der umliegenden Orte bis zur Bukowina. Am wenigsten vertreten
ist Bayern; dagegen hat aus Franken Friedrich Danaer einige recht niedliche
epigrammatische Lieder geliefert, in denen der alte Kampf gegen die Heiligen rüstig
sortgesetzt wird. .Ans Schwaben sind ziemlich viel Beitrage von den alten Celebritäten,
besonders von Carl Mayer, eingeliefert. Auch Justinus Karner hat ein stylistisch
ganz gut ausgearbeitetes Gedicht geschickt, dem nur leider die Pointe fehlt. Auch ein
ungcdrnckteö Gedicht von Hölderlin steht darunter. — Unter den östreichischen Dich¬
tern zeichnen sich, abgesehen von den alten Berühmtheiten, Vogt, Seidl u. s. w.,
Alfred Meißner und Moritz Hartmann aus. Die norddeutschen Dichter nehmen
natürlich den größten Raum ein. Wir nennen darunter Emanuel Geibel, von dem
z. B. eine ganze Reihe von Weinlicdern vorhanden sind, Robert Nein ick, Leopold
Schefer (mit einem sehr hübschen erzählenden Gedicht), Friedrich Hebbel, wenn
dieser sich nicht mittlerweile in einen Oestreicher verwandelt hat, Adolf Böttger,
Rudolph Gottschall, Friedrich Bodenstedt (allerliebste Kleinigkeiten), Ludwig
Bechstein u. s. w. Von Hebbel sind eine Reihe von Epigrammen, die sich eigentlich
von Prosa meistens nur durch die ungenauere grammatische Construction unterscheiden.
Wir theilen eins dieser Epigramme mit, welches den Titel führt: „Selbstkritik meiner
Dramen."
Zu moralisch sind sie! Für ihre sittliche Strenge
Stehn wir dem Paradies leider schon lange zu fern,
Und dein jüngste» Gericht mit seinen verzehrenden Flammen
Noch nicht nahe genug; reuig bekenne ich dies!
Was die arme Welt doch schlecht ist! — In einem andern Epigramm droht er
seinen Recensenten mit fürchterlicher Rache und behauptet zum Beleg seiner Kraft, der
Dichter Lessing habe den Recensenten Götze der ewigen Schande preisgegeben. Unsres
Wissens hat das nicht der Dichter Lessing gethan, sondern der Kritiker Lessing
durch eine meisterhafte, in allen Punkten wahre und zugleich witzige Recension. — —
Als eine andere Sammlung führen wir an: Liederchronik deutscher Helden.
Aus vaterländischen Dichtern zusammengestellt von Adolf Böttger. (Leipzig. Hcrbig.)
Also eine chronologisch geordnete Anthologie, wie wir vor einigen Wochen eine topo¬
graphisch geordnete Anthologie angeführt haben. Die Sammlung ist im Ganzen recht
zweckmäßig, wenn auch die Zusammenstellung von allen möglichen Dichtern, von Klopstock
bis aus Parucker, zuweilen einen curiosen Eindruck macht. — — Sodann: Gedichte
von Hoffmann von Fallersleben. (Vierte Auflage. Hannover, Nümpler.) Hoff-
mann ist durch die leichte Art, mit der er in seinen Unpolitischen Liedern sehr ernsthafte
Fragen behandelte, bei unseren Gutgesinnten einigermaßen in Verruf gekommen. Wir
denken anch nicht daran, seine poetische Thätigkeit in allen Punkten zu rechtfertigen,
aber es bleibt doch immer ein höchst liebenswürdiger Dichter, dem die Sprache der Natur,
welche Andere sich mühsam ankünsteln müssen, feci zu Gebot steht. Viele unter diesen
kleinen Melodien siud eben so zart als kräftig.--Hafiz in Hellas. Von einem
Hadschi. (Hamburg. Hoffmann u. Campe.) Wir haben es hier mit einem sehr feinen
poetischen Kopf zu thun, der gesunde Sinne, eine sehr lebhafte Phantasie, Formtalcnt
und eine große Receptivität der Empfindung besitzt. Er hat auch Gedanken, wie man
sie nicht gerade auf der Heerstraße trifft, und z. B. sein Gedicht, „das Symposion im
Himmel", zeigt, daß er sich über die Realität der olympischen Göttergestalten keineswegs
tänscht. Aber wenn er einmal nach Hellas pilgern will, warum pilgert er gerade als
Hadschi? Zuerst haben uns die Philologen die erotische Poesie der Griechen vermittelt,
und das war sehr zweckmäßig, denn wir mußten uns erst daran wieder gewöhnen, stark
sinnlich zu empfinden u»d anzuschauen, waS wir über unsere» theologischen Beschäftigungen
fast ganz vergessen hatten. Als die griechische Poesie trivial geworden war, kamen
neue Propheten und eröffneten uns das sinnliche Leben des Orients. Der größte
Säuger der griechischen Schule stimmte auch in diese neue Weise ein und hat uns
manche kostbare Schätze geboten. Auch das mar wieder sehr zweckmäßig. Aber nun
Beides durch einander zu vermischen, griechische Plastik und orientalische Ueberschwäug-
lichkeit, das ist doch ein etwas gewagtes Unternehme», und so schön wir uns zuweilen
durch diese sinnigen Anschauungen angeregt fühlen, so müsse» wir doch gestehen, daß
uns das Ganze etwas zu bunt vorkommt. ^- Endlich: Fürst Lazar. Epische Dichtung
nach serbischen Sagen und Heldcugesnugen, vou Siegfried Kapper. (Zweite Auslage.
Leipzig, Herbig.) Wir haben von demselben Verfasser vor Kurzem „serbische Volkslieder"
angezeigt. In dem gegenwärtigen Gedicht ist der Sagenkreis behandelt, der sich auf
die Schlacht von Kossvwo bezieht. Der Verfasser hat die einzelne» serbischen Romanzen
theils durch Zusätze, theils durch Bearbeitung in einen epischen Zusammenklang verwebt,
was zwar der historischen Treue Abbruch thut, aber doch für das größere Publicum
zweckmäßig ist, denn da der kräftige kriegerische Ton vnd die lebendige Phantasie der
serbischen Volkslieder durch diese Bearbeitung keineswegs abgeschwächt sind, und da der
Zusammenhang bei jene» Naturklängc» das Unbedeutendste ist, so geht der Gewinn weit
über den Verlust hinaus. Diese Nachbildungen der epischen Poesie eines Naturvolks
siud uus auch darum von Interesse, weil sie unsre Dichter anregen können, von der
unfruchtbaren raffinirten Mystik des Herzens abzulassen und sich auf wirkliche Stoffe zu
werfen. —
Die deutschen Einheitsbestrebungen in ihrem geschichtliche» Zusammen¬
hange, dargestellt von Karl Klüpfel. Leipzig, G. Mayer. — Endlich einmal ein
politisches Werk, welches wir mit unbedingter Anerkennung begrüßen können, nicht blos,
weil es den leitenden Gedanken unserer Partei mit großem Ernst und entschiedener
Wärme ausspricht und ihn festhält, auch unter den ungünstige» Umständen, die
es gegenwärtig wol begreiflich mache» können, wenn auch sanguinische Politiker a» der
Zukunft Deutschlands zu zweifeln anfangen, sondern vor Allem, weil es diese» leiten¬
den Gedanken mit der Gewissenhaftigkeit eines deutschen Gelehrte» im Lauf der ganze»
deutschen Geschichte verfolgt, und so auch in Zeiten scheinbaren Stillstandes in der
dialektische» Entwickelung eben dieses Gedankens, einen stetige» Fortschritt enthält. In
andere» Fälle» würde» wir eS nicht sür gerathen halten, eine Abstraction zum Gegen¬
stand einer historischen Darstellung zu mache», aber hier, wo der Gedanke die eigent¬
lich bewegende Kraft der Geschichte ausmacht, war dieser Mittelweg zwischen politischem
Raisonnement und historischer Darstellung vollkommen berechtigt. Nur eine Kleinigkeit
haben wir daran auszusetzen. Unzweifelhaft hat die Partei, in der sich seit dem Jahre
1848 die deutschen Einheitsbestrebungen eonsolidirteu, und deren geschichtliche Elemente
der Verfasser sehr scharfsinnig analysirt, sich erst allmälig zu der Klarheit entwickelt,
die sie wenigstens in Bezug aus das zu erreichende Ziel hoffentlich nicht mehr verliere»
wird Sie war vo» Anfang an darüber nicht völlig klar, und sie hat sich daher man-
nichfach ans Abwege Verleiten lassen. So war z. B. der Verfassungsentwurf der Sieb-
zehner-Commissio», der zwar ein deutsches Kaiserthum ausrichte» wollte, aber es im
Unklaren ließ, ob dieser neue Bau auf dem Fundament des österreichischen oder des
preußischen Staats aufgeführt werden sollte, eine arge Verleugnung des ersten unter
allen politischen Grundsätzen, daß man nämlich erst einen Stoff haben muß, ehe man
daran denkt, ihm eine Form zu geben. In der spätern Zeit waren die Gegner unsrer
Partei daher nicht ganz im Unrecht, wenn sie uns vorwarfen, wir hätten zuerst eine
Verfassung gemacht,'und dann für dieselbe den passenden Staat gesucht. Der Ver¬
fasser scheint anch diese Mißgriffe sehr wohl zu fühlen, aber er spricht es nicht offen
aus, und gerade das sollte von unsrer Seite jetzt, wo wir doch mit der augenblick¬
lichen Politik nicht viel zu thun haben, ganz rücksichtslos geschehen, da.unsre Partei, so
viele Mißgriffe sie sich auch im Einzelnen hat zu Schulden kommen lassen, als Ganzes
eine strenge Selbstkritik nicht zu scheuen hat. — D°er Verfasser führt die Einheits-
bestrebungen auch bis anf die neuesten Zvllverhandlungcn fort, und auch hier können
wir ihm fast überall beitreten. Wir empfehlen es also allen Gleichgesinnten mis eine
wissenschaftliche Begründung unserer Ansichten. —
Eine Berichtigung. — Herr Professor Ulrici macht uns darauf aufmerksam,
daß sich in dem polemischen Artikel in. Heft 37 ein factischer Irrthum eingeschlichen
hat. Es ist »änlich behauptet worden. Ulrici sei der Ansicht Vehse's über die Be¬
deutung Falstaff's beigetreten; dies ist aber nicht der Fall, und das Mißverständniß,
welches wir hiermit zurücknehmen, ist nur ans einer Stelle des von uns angefochtenen
Artikels erklärlich, welche eine zu weite Ausdehnung zuließ. Wenn Herr Professor
Ulrici hinzufügt, daß er in allen wesentlichen Punkten mit den von uns ausgesproche¬
nen Ansichten übereinstimmt, und daß der Unterschied nnr in der Form, nur in der
speciellen Beziehung seines Artikels liegt, so können wir über diese Uebereinstimmung
mit einem Mann, der so gründliche Studien über Shakspeare gemacht hat, nur Bc-
fricdiqnng empfinden. — Uebrigens hat in dem neuesten Heft der Allgemeinen Monats¬
schrift für Wissenschaft und Literatur, Professor Pott in Halle den Begriff des Roman¬
tischen vom philologischen Standpunkt auseinandergesetzt, und dadurch wesentlich zur
Aufklärung desselben beigetragen. —
Die T auchnitz'sehe Ausgabe englischer Schriftsteller. — Wir fügen
unsrem neulichen Bericht zwei neue Werke zu. Zunächst den 15. Band der llouselrM-
vorcls von Dickens. Housvlrolci-woräs würde man im Deutschen etwa mit „Unter¬
haltungen am häuslichen Herd" übersetzen. Der englische Dichter versteht darunter Be¬
lehrungen über Geschichte, über Politik, über die Angelegenheiten des öffentlichen und
Privatlebens für daS Volk, d. h. für alle Klassen der Gesellschaft gleichmäßig ein¬
gerichtet, namentlich aber für diejenigen Klassen, die nicht zu den sogenannten ästhetisch
Gebildeten gehören. Ferner komische und erbauliche Erzählungen, Schwänke, Beschrei¬
bungen u. s. w., kurz, was man bei uns in den Kalender» zusammen zu bringen
pflegt, nur mit dem Unterschied,. daß in England die geistvollsten Männer sich dazu
hergeben und nicht etwa blos aus dem Volk novellistischen Stoff für ästhetische Thee-
cirkcl ziehen, auch nicht von oben herab wie von der Kanzel zu unmündigen Kindern
reden. Das Werk ist auf das Musterhafteste durchgeführt, und unsere deutschen Kalendcr-
schriststellcr sollten einmal dies Buch in die Hand nehmen und daraus lernen, wie man
geistreich sein kann und doch populair, gemeinnützlich und doch nicht langweilig, fromm
und doch nicht pietistisch, verständig und doch nicht altklug. — Ferner ist erschienen
der neue'Roman von Thackerap: Kislor^ ak llsm^ ^saoma, in zwei Bänden.
An sauberer, feiner Arbeit und an geistvollen Reflexionen steht unter den englischen
Schriftstellern, dem Verfasser keiner gleich. Wäre er in seinen Kompositionen strenger
und künstlerischer, und ließe er sich nicht durch seine resigniren Stimmung verleiten,
über seine saubern Figuren eine etwas dumpfe Atmosphäre zu breiten, wodurch dieselben
von ihrer plastischen Kraft viel einbüßen, so würde er vielleicht der erste Romanschreiber
Englands sein. Er hat sich diesmal im historischen Roman versucht. Die Geschichte
spielt nämlich zur Zeit der Königin Anna und behandelt die jakobitischcn Conflicte.
Wir behalten uns vor, den Dichter, den wir bisher noch nicht unter unsere englischen
Portraits aufgenommen haben, ausführlicher darzustellen und bemerken hier nur vor¬
läufig, daß er auch in dem neuen, ungewohnten Genre sehr Bedeutendes leistet.
— Ehe wir mit der Eröffnung des Parlaments unsre
regelmäßigen Berichte wieder aufnehmen, wollen wir einen flüchtigen Blick auf die Zu¬
sammensetzung des neuen Unterhauses werfen, welches für die nächste Zeit die Politik
Englands bestimmen wird.
Zwei Einflüsse haben sich bei den allgemeinen Wahlen besonders störend erwiesen.
Das Ministerium, mehr durch Fehler und Nachlässigkeiten seiner Gegner, als durch
eigenes Verdienst in's Amt gekommen, sah sich, so wie es zur Negierung gelangt war,
außer Stande, die protectionistischen Grundsätze, welche es so viele Jahre lang mit solcher
Leidenschaft vertheidigt, und deren Verwirklichung das Losungswort seiner Partei war,
in praktische Anwendung zu bringen. Da aber ein offenes Bekenntniß ihres Irrthums
die Führer um alle ihre bisherigen Anhänger gebracht hätte, so hüllten sie ihr politisches
Programm in einen solchen Nebel von zweideutigen und widersprechenden Phrasen, daß
ihre protcctionseisrigsten Anhänger wenigstens immer noch einige Aussichten auf die Er¬
füllung ihrer langgcnährten Hoffnungen behielten, während es manchem Freihändler nur
als ein verhülltes Eingeständniß, daß sie ihre, als Oppositionsmitglieder vertheidigten
Grundsätze bereits aufgegeben hätten, erscheinen konnte. Diese Unbestimmtheit des Pro¬
gramms hat die Wahl von einer ungewöhnlich großen Anzahl Mitglieder zur Folge
gehabt, deren Parteistellnng erst klar werden wird, wenn das Ministerium nicht mehr
mit leeren Phrasen, sondern mit positiven Maßregeln hervortritt. So groß ist die
Zahl dieser Unbestimmten, daß ein lieberales Blatt die Minorität des Ministeriums
im neuen Parlamente aus neunzig angiebt, während ein ministerielles Blatt eine Ma¬
jorität von 30—40 Stimmen herausrechnet. Die Zahl dieser Unbestimmten wird noch
vermehrt, daß das Ministerium, dessen befähigtste Führer wahrscheinlich längst über¬
zeugt sind, daß sie über kurz oder lang eine sehr entschiedene Schwenkung in ihrer
Politik machen müssen, lieber unbedeutenden Persönlichkeiten zur Wahl verhalf, die mit
ihm durch Dick und Dünn — protectionistisch oder srcihändlerisch, nur ministeriell —
zu gehen Willens sind, als Personen von selbstständiger Stellung und entschiedener
Gesinnung. Daher die große Anzahl junger Advocaten ohne Praxis, welche im neuen
Parlament die ministeriellen Bänke füllen, und die oft angesehene Grundbesitzer in
ihren heimischen Wahlbezirken verdrängt haben.
Der zweite störende Einfluß ist die durch die zudringliche Agitation der katholischen
Priesterschaft hervorgerufene religiöse Aufregung gewesen. Sie hat auf doppelte Weise
gewirkt: in Irland, wo die katholische Geistlichkeit einen so überwiegenden Einfluß hat,
haben weder Talente, sociale Stellung, langjährige Verdienste um Irland (selbst im Sinne
der sogenannten patriotischen Partei) Gnade vor den Wahlen gefunden, wenn sie sich nicht
unbedingt den Geboten des ultramontanen Conclaves in Dublin zu fügen versprachen. Die
sogenannte irische Brigade hat daher einen sehr bedeutenden Zuwachs an Männern der
entschiedensten ultramontanen Färbung erhalten, und wird wahrscheinlich in dieser Session
mit noch größerer Energie ihre alte Taktik fortsetzen, jedem Ministerium, das sich nicht
ihrem Willen fügt, Hemmnisse in den Weg zu lege», mögen anch die von ihm vor¬
geschlagenen Maßregeln noch so gut und heilsam sein. In England hat die fanatische
Agitation eine Reaction des Protestantismus hervorgerufen, die nicht weniger nachtheilig
gewirkt hat: liberale Staatsmänner von Ruf und parlamentarischer Geltung, wie Card¬
well in Liverpool, mußten protestantischen Zeloten Platz machen, weil sie der grund¬
sätzlichen Toleranz gegen die Katholiken verdächtig waren, und anch das Ministerium
hat die antikatholische Aufregung des Landes reichlich zu seinem Nutzen ausgebeutet.
Die Zahl der neuen Mitglieder des Unterhauses ist ungewöhnlich groß, denn es
haben nicht weniger als 180 die Wahl abgelehnt oder sind von den Wählern verworfen
worden. Leider hat dabei das Hans vielmehr eingebüßt als gewonnen, und es ist bemerkens¬
wert!), daß gerade diesmal mehrere der eminentester Talente sehr unbedeutenden Größen
haben weichen müssen. Cardwell, eines der bedeutendsten Mitglieder der politischen
Partei und einer ihrer besten praktischen Staatsmänner, ist, wie schon oben erwähnt,
protestantischen ZelotiSmus erlegen. Sir G. Grey, der ehemalige Staatssecretair
des Innern, als Politiker und Redner unter den Whigs in erster Reihe stehend, hat
Lord Lovaine, einem Sprößling des herzoglichen Hauses Northumberland, weichen
müssen. Ein gleiches Mißgeschick hat Sir W. Somerville, den sehr fähigen Secretair
für Irland in Lord Russell's Ministerium getroffen; ferner Lord Ebringto», den
thätigen Vorsitzenden des GesnndhcitsburcauS, Lord Mahon, den bekannten Geschichts-
schreiber, und politischen Uutcrstaatssecretair des Auswärtigen unter Lord Aberdeen,
Cornewall Lewis, den Verfasser verschiedener classischer Werke über politische Philosophie,
Oberst Thompson, den Nestor der Freihandclspartei, und mehrere Andere, die ans dem
Continente weniger bekannt sind, weil sie mehr in den einzelnen Cvmitsen thätig find
und selten als Redner auftreten, die aber als Autoritäten in verschiedenen Specialfächern
im Unterhaus große» Einfluß haben.
Der Ersatz für den starken Ausfall an geprüften Kräften ist sehr gering. Ein
Stern erster Größe glänzt wieder im Parlament, Macaulay, den die Stadt Edin¬
burgh, um ihren frühern Fehler, wo eine local-puritanische Coalition seine Wiederwahl
verhinderte, wieder gut zu machen, gewählt hat, ohne daß er sich um die Wahl be¬
worben, oder bestimmte politische Verpflichtungen übernommen hätte. Auch auf Seiten
der Tones erscheint ein auf dem Continente wohlbekannter Schriftsteller im Parlamente,
Sir Edward Lytton Bulwer. Der berühmte Novellist nimmt sich seltsam unter den
Tories aus. Er begann seine politische Laufbahn als ziemlich radicaler Liberaler, schloß
sich, als er zuerst in's Parlament kam, den Whigs an, wurde vou diesen mit dem
Baronctstitel belohnt, wurde später durch Erbschaft Countrygentleman, und glaubte
nun mit feinen Gütern auch das Torythum geerbt zu haben; und er begnügt sich nicht
blos mit politischem Conservatismus, sondern wird auch gleich der allcrcntschiedcnste
Protcctionist. Daß sein politischer Glanbenswechscl genau mit dem Wechsel des Mini¬
steriums und dem Sturz seiner alten politischen Freunde zusammentrifft, ist wol blos
Zufall.
Durch die, mittlerweile erfolgte Eröffnung des Parlaments ist die politische Lage
nicht klarer geworden. Man war berechtigt von der Adreßdcbatte eine Entscheidung
zu erwarten; aber vor einer so zeitigen Krisis hat der Tod des Herzogs von Welling¬
ton das Ministerium gerettet. Der Anstand verbietet, daß, so lange Englands National-
held, in dessen Bewunderung alle Parteien und alle Klassen einig sind, noch nicht in
der Erde richt, der Kampf zwischen den Parteien entbrenne. Der auf die Handels-
Politik der Regierung bezügliche Paragraph der Thronrede ist eben so nebelhaft und
geheimnißvoll, wie Alles, was seit dem Amtsantritt des neuen Ministeriums über dessen
Lippen geflossen ist. „Nach einigen glückwünschenden Worten über den wachsenden
Wohlstand des Landes fährt die Rede forn „Sollten Sie der Meinung sein, daß die
Gesetzgebung der letzten Zeit, während sie, nebst anderen Ursachen, dieses glückliche Re¬
sultat herbeigeführt, zugleich zwischen gewichtigen Interessen unvermeidlichen Schaden
zugefügt hat, so empfehle ich Ihnen, leidenschaftslos zu erwägen, in wiefern es aus¬
führbar fein möchte, diesen Schaden in billiger Weise zu mindern und die Industrie
des Landes in den Stand zu setzen, jener unbeschränkten Concurrenz, welche das Par¬
lament in seiner Weisheit sie zu unterwerfen müssen geglaubt hat, mit Erfolg zu
begegnen."
Was in diesem Satze in Aussicht gestellt ist, ist gewiß schwer zu entdecken, und
es fehlte auch nicht an bitteren Bemerkungen von Seiten der Opposition über das be¬
ständige Versteckenspielen des Cabinets. Aber die oben erwähnten Rücksichten hielten sie
ab, ein Amendement zu der Adresse zu stellen, die daher angenommen wurde. Erst
nach der Bestattung des Herzogs von Wellington, wo Disraeli sein Budget vorlegen
wird, und nicht länger vermeiden kann, zu zeigen, was er mit der Ausgleichung der
auf verschiedenen Industrien unbillig drückenden Last meint, wird der entscheidende
Kampf entbrennen. Im Oberhause hat übrigens Lord Derby mit anscheinender Auf¬
richtigkeit erklärt, daß er sich vor der Entscheidung des Landes beuge und den Korn¬
zoll definitiv aufgebe. Disraeli hat sich im Unterhaus durchaus nicht so bestimmt aus¬
gesprochen; beide Staatsmänner, die eigentlich allein das ganze Cabinet bilden, trösten
die Grundbesitzer mit einer Entschädigung, deren Beschaffenheit freilich noch ein voll¬
kommenes Räthsel ist, und die vielen Augen in eine immer nebelhaftere Ferne ver¬
schwimmt. Nicht Wenige sind überhaupt der Meinung, daß der geistreiche Kanzler der
Schatzkammer seinen Squires und Landcdclleuteu gegenüber dieselbe Rolle spielt, wie
Ariel gegen Trinculo, Caliban und Eousorteu, und daß er sie durch die schmeichle¬
rischen Töne seiner geheimnißvollen Reden zuletzt, anstatt in das Paradies eines aus¬
giebigen Schutzes, unversehens in den verhaßten Sumpf des Freihandels führen werde.
In den Reihen der Opposition sind während der politischen Ferien einige Ver¬
änderungen in der Stellung der verschiedenen Persönlichkeiten eingetreten. Lord Palmerston
hat sich seinen alten Freunden, den Whigs, wieder etwas genähert, natürlich nicht ohne
sich eine seiner Bedeutung angemessene Stellung in ihrem Rathe einräumen zu lassen.
Was man eine Zeit lang von Offerten, die ihm die Tories gemacht, erzählte, ist nicht
begründet. Er müßte anch ein Thor sein, seinen durch eine langjährige Laufbahn
erworbenen Ruhm in die Schanze zu schlagen, um mit Hintansetzung aller politischen
Konsequenz einem Ministerium beizutreten, dessen Zukunft jedenfalls höchst unsicher ist.
Die Whigs nnter Lord I. Russell sollen sich endlich über eine neue Reform des Wahl¬
gesetzes geeinigt haben, und zwar »ach sehr liberalen Grundsätzen, aber unbedingt die
geheime Abstimmung verwerfen, die jetzt entschiedener als je die Losung der Radicalen
ist. Sir I. Graham endlich hat sich seit seiner Ansprache an die Wähler von Carlisle
den Radicalen bedeutend genähert, und scheint geneigt zu sein, ihnen weitgehende Con¬
cessionen zu machen. Die Begrüßung zwischen ihm und Mr. Cobden war bei der Er¬
öffnung des Parlaments ganz besonders warm. Er hat seinen Platz auf der ersten
Bank der Opposition genommen, wird also voraussichtlich eine sehr thätige Rolle in
dieser Session spielen.
Damit der Leser nicht in Zweifel sei, in welche wundersame, geheimnißvolle
Ecke der Welt er mit der Ueberschrift des folgenden Reisebildes verschlagen ist,
diene ihm zur Nachricht, daß wir im Begriff sind, unsren Gegenfüßlern, den
Vaukecs, einen Besuch abzustatten. Goddam ist die auf der Manhattan-Insel
am Ausflusse des Hudson gelegene große Stadt, welche der Freund der Geogra¬
phie im Ungewitter oder sonst einem guten Handbuche der Erdkunde unter dem
Namen Newyork beschrieben findet. Warum, von wem und wann nach Christi
Geburt die Metropole deö „Empire State" so getauft wurde, ist vou den Gelehr¬
ten noch zu untersuchen. Doch dürfte» dieselben in Betreff des Grundes an dem
Umstände einen Anhalt haben, daß man diesen ihren Ehren- oder Spitznamen
zuweilen auch xoä-clam geschrieben sieht, und hinsichtlich des Namengebers wage
ich die Vermuthung, daß es derselbe wunderliche Kanz gewesen ist, der das recht¬
schaffene Volk Kentuckys „Maiszwiebäcke", die ehrenwerthern Bürger Missouris
„Brechmittel", die blauen Flaußröcke, welche Ohio bewohnen, „Bocksaugen" und
ihre Hauptstadt Cincinnati grob genug „Porkopolis" hieß. Aufschluß zu geben
aber, was es mit letzterem Titel für eine Bewandtniß hat, verspare ich auf das
Ende; denn halbgelöste Räthsel sind bekanntermaßen die Würze der Rede.
Am 31. August vorigen Jahres hatte ich, nach beinahe achtwöchentlicher Fahrt
über die See, den amerikanischen Boden betreten. Mein Plan war, mich den
September über in Newyork aufzuhalten, sodann auf etliche Tage nach Boston,
dem Athen der Uankees, zu gehen und von dort, am Niagara vorbei, nach den
westlichen Staaten zu reisen. Ein Brief aus Ohio strich diese Rechnung durch
und zwang mich, von Gothams Gewimmel Abschied zu nehmen, nachdem ich mich
aus der überschwänglichen Glückseligkeit, endlich wieder Land unter den Füßen zu
haben, kaum soweit wiedergefunden hatte, um einen Blick aus der Krähennest-
Perspective des Thurmes von Trinity - Church auf Broadway und Bowery zu
thun und der Battery und dem anmuthigen Hobocken einen flüchtigen Besuch' zu
machen.
Der Abend des 5. Septembers sah mich auf einem der Niesendampfboote,
welche an den Hafendämmen und Landungsbrücken unterhalb Courtlandstrcet die
Reisenden erwarten, die sich der Erie-Eisenbahn zur Fahrt uach dem Westen bedie¬
nen wollen. Gegen 6 Uhr begannen die Lungen unsres Leviathan aus seinen
beiden Schorustciurüsscln zu stöhnen, und nachdem zwei Schleppschiffe angehängt
worden, schwamm er, die Wasser des majestätischen Hudson auf weite Ferne in
Bewegung setzend, aus dem Mastcngewirre, welches wie ein riesiges Röhricht die
Manhattan-Jnsel umgiebt, in den offnen Strom hinaus.
Die landschaftlichen Schönheiten dieser Gegend waren mir nur zu ahnen
verstattet. Sie sollen weiter hinauf dem Rheine in seinen besten Partien gleich¬
kommen, wie beiläufig die Anmuth der Bay von Newyork von Kennern für nicht
geringer als die der Bucht vou Neapel gehalten wird. Sei dem, wie ihm wolle,
uus ließen die Nebel, welche dem Flusse entquollen, nur die Schattenbilder bewal¬
deter Berge und Hügel erblicken, und bald verschlang das Dunkel der Nacht auch
diese Andeutungen.
Nach 9 Uhr landeten wir bei dem kleinen Orte Piermonnt am westlichen
Ufer des Hudson, wo wir den Dampfer verließen, um die Eisenbahnwagen zu
besteige«, die unsrer hier zum Aufbruch nach Dunkirk am Erie-See warteten. Ich
hatte mich für den Emigrantenzug aus dem Grunde entschieden, weil er durch
öfteres und längeres Anhalten mehr Gelegenheit zur Beobachtung des Landes gab,
und wenn die damit verbundenen Unannehmlichkeiten mich diesen Entschluß zuwei¬
len bereuen ließen, so glich sich das dadurch aus, daß ich auf diese Weise hiu
und wieder einem armen Landsmanne als Dolmetscher nützlich sein konnte. Außer¬
dem aber sah ich mich so im Stande, die ans dem Schiffe begonnenen Studien
des Auswandrerthums noch ein Stück fortzusetzen und durch Vergleiche zwischen
Deutschen und Jrländern meinen etwas geschwächten Nationalstolz ein wenig auf¬
zubessern.
Als der Tag graute, hauchte uns eine frische harzduftige Waldluft an. Berge
mit Nadelbäumen schlössen ein Thal ein, das sich bald zur klippeugckröuteu Schlucht
verengte, bald zu schonen fruchtbaren Kesseln erweiterte. Die Aexte von Holz¬
schlägern ließen ihre munteren Stimmen erschallen. Einzelne Raubvögel flogen
aus den Felsen auf. Am Fuße der Höhe stand hiu und wieder ein einsames
ärmliches 'Blockhaus inmitten einer angefangenen Rodung. Geringelte Riesenbäume
starrten mit ertödteten blätterlosen Wipfeln Mf die Cultur herüber, die mit der
Eisenbahn in die langbewahrte Ursprünglichkeit ihrer Heimath gedrungen war. Von
noch brennenden Waldstrecken stäubte weiße Asche, wirbelte schwarzer Rauch, leckte
zuweilen an halbverkohlter stumpfen die rothe Flamme empor. Zickzackfencen,
auf denen diebische Eichhörnchen herumhuschten, umschlossen dürftige Maisfelder.
Hier und dort ging eine Herde magerer Rinder oder Schafe. Dann und wann
hielten wir an einem Dörfchen oder Städtchen mit biblischen oder indianischen Na¬
men, einer Gruppe von Holzhäusern, der man es ansah, daß sie sich erst vor
Kurzem neben der nahrungbringeuden Eisenbahn angesetzt hatte.
In der That, nirgends vielleicht springt die Bedeutung des Dampfes für die
Civilisation so überzeugend in die Augen, als in diesen und ähnlichen Strichen
Amerikas. ' Jahrzehende lang hatte dieser westliche Theil des Staates Newyork
seines vergleichsweise unfruchtbaren «Bodens halber wüste gelegen, und nnr der
Canal, der sich hier durchschlängelt, hatte einiges Leben in die Wildniß gebracht.
Da ward der Schienenweg, der die Thäler des Delaware und Susquehanna durch¬
schneidet, angeregt, und noch ehe er zur Vollendung kam, schössen zu beiden Seiten
der projectirten Linie Ortschaften auf Ortschaften an, um trotz der Ungunst der
Natur, trotz kargen Steinboden und felsenverschränktem Spielräume für Pflug
und Marktwagen mit derselben Schnelligkeit zu wachsen, wie ihre Schwesteransiede-
lungen in gesegneteren Gegenden.
Gegen Mittag erreichten wir Narrows burgh, dessen Umgebung durch ihre
vielen Klapperschlangen berüchtigt ist. Der Weg von hier nach Biughampton,
einem freundlichen Städtchen mit netten weißen Häusern und Kirchen, läuft fort¬
während hart an der Greuze Pennsulvaniens hin und hat viele romantische Par¬
tien. Enge, durch finstre moosige Schluchten gekreuzte Thäler, schroffe duukel-
bewaldete Felsen, der bald im Schatten fließende, bald seinen Stromspiegel der
Sonne darbietende Delaware werden später den Malern Newyorks Veranlassung
zu manchem guten Bilde liefern.
Einige Meilen über Binghampton hinaus wird die Gegend offner, flacher
und fruchtbarer, und statt der trübseligen Blockhütten erblickt man im Rahmen des
Wagenfensters nicht selten recht stattliche Farmhäuser, ja es stellt sich hin und
wieder mit Säulei? und Balkonen schon eine Art Lnxusarchitektur ein, die zwar
wenig Geschmack, aber doch Wohlhäbigkeit und immerhin ein gewisses Ueberwiegen
des Strebens nach dem Schönen über den Trieb und das Muß des Nützlichen
bekundet. Waverley und Houesdale sind Orte, welche seit dem Entstehen
der Eisenbahn sich um das Vierfache vergrößert haben, und das höchst anmuthig
gelegene Elmira ist eine Stadt, die bereits begründeten Anspruch auf das Prä-
dicat der Nespectabilität und Eleganz erhebt, und sich, ehe zehn Jahre vergehen,
ans einer wor in eine eit^ entpuppt haben wird.
Zwischen diesen Bildern erfreulichsten Wachsthums, bei dem mir unversehens
Gedanken an das klägliche Verarmen ganzer Districte in dem unglücklichen Hessen-
lande beikamen, fuhren wir achtundvierzig Stunden hin, und ich war der harten
Bänke, die keine Minute Schlaf gestatteten, und der Barschheit der Condncteure,
die den Emigranten ungefähr so, wie die Schifsscapitaine, d. h. als Frachtgut
betrachten, mehr als überdrüßig geworden. Endlich zeigte ein Blick in Phelps'
Guide, daß die Erlösung nahe sei, und als der Abend sank, öffnete sich
vor uns der Eichenwald zu einer weiten Lichtung, in deren Hintergrunde, am
Strande des spiegelglatten Erie-Sees, unser Rastort, die Stadt Dunkirk, mit
dem uns empfohlenen schmucken American-Hotel uus eutgegenwinkte.
„(ist out ok ete ears I" rief der Schaffner in die Wagen herein, nachdem
der Zug angehalten, und „el«zg,r out ^on se:amp8l" schrie er in noch gröberen
Tone Denen zu, welche, die erste Aufforderung nicht verstehend, ihre Sitze zu
verlassen zögerten. .
„Landsleute hier? — Deutsches Gasthaus — fünfzig Cent den Tag —
dreimal warm Essen — gleich beim Landungsplatze — 'raus, 'raus, Landsleute —
wer geht mit in's deutsche Gasthaus?" krächzte eine von den Harpyen, welche
an den Haltpunkten im Innern der Emigration auflauern, um sich von dem
Fette, das die Genossen in den Hafenplätzen auf der Suppe gelassen, ihr Theil
zu nehmen. Die große Masse folgte dem schmierigen Gesellen in sein schmuziges
Wanzennest. Ich aber begab mich mit einem jungen Elegant, der sich mir zum
Reisebegleiter nach Cincinnati angetragen, nach! dem erwähnten amerikanischen
Gasthause, das uns für einen Dollar per Tag nichts von „den guten Dingen
dieses Lebens" vermissen ließ.
Unsre Bekanntschaft war auf eigenthümliche Weise gemacht worden. Die
Condncteure erachten es bei Auswanderungszügen unter ihrer Würde als Gentlemen,
ans die Frage, wie lange der Dampfer bei der oder jener Station anhalte, zu
antworten, gleichviel ob der Fragsteller Englisch redet oder nicht. So wagte es
in unsrem Waggon selten jemand, sich nach den Restaurationen zu entfernen, um
sich mit dem zu versehen, was Leib und Seele zusammenhält. Die Folge war
eine kleine Hungersnoth, der ich endlich für uns und die zunächst Sitzenden in Otis-
ville dadurch ein Ende machte, daß ich, kühnen Muthes der Gefahr, zurückgelassen zu
werden, trotzend, uach der Abspeisungsanstalt sprang, und —-es war nämlich in
der Eile nichts Substanzielleres zu bekommen — eine ungeheure Torte zurück¬
brachte, die zum allgemeinen Besten geschlachtet wurde. Ein wohlgekleideter Herr
in der entgegengesetzten Ecke, der seine Nachbarn mit Erzählungen aus Paris
unterhielt, bekam ebenfalls seinen Antheil, und an diese Spende knüpften sich
verbindliche Worte, denen später ein näheres An- und Ausschließen folgte. Mein
neuer Freund war ein voetor mscliein^o Fürster, der in Frankfurt mitgefochten,
und nach seiner Flucht von da im Spitale des Doctor Ricord in Paris An¬
stellung gefunden hatte, jetzt aber uach New-Orleans wollte, wo er in Gemeiu-
schafr mit einem dort schon länger etablirten Bruder die ärztliche Praxis zu be¬
treiben gedachte. Er sprach etwas Französisch, war mit dem nvrvu8 rerum wohl
versehen und hatte in New-Uork im Broadway-Hätel gewohnt. Sein Deutsch war
freilich nicht von der Sorte, die in gebildeten Kreisen Cours hat. Seine latei-
zusehen Citate, mit denen er ziemlich freigebig umging, hatten ungefähr so viele
Fehler als Worte, und sein geradebrechteö Englisch würde, verglichen mit seinem
Vorgeben, drei Jahre als Hausarzt eines Lords so und so in Indien und der
Levante gewesen zu sein, bei einem weniger nachsichtige» dem Fasse den Boden
ausgeschlagen haben. Ich hegte jedoch diese Nachsicht, und äußerte demzufolge
auch dann noch keine Zweifel an den summis Konoridus rit« aüsptis, als der
Doctor Fürster sich im weitern Verlause der Historie in einen Doctor Kohl ver¬
wandelte, obwol ich mein Erstannen nicht ganz unterdrücken konnte, als er aus
seinem schöngestickten Reisesacke außer unterschiedlichen medicinischen Eselsbrücken
aus der Fabrik Basse in Quedlinburg mehr als ein Etui mit jenen Instrumenten
zog, deren sich die Chirurgie bei uns daheim bedient hatte, um Bärte zu
amputireu.
Hierdurch schon über Dunkirk hinausgegangen, will ich, damit der Leser sich
nicht mit einem zweiten halbaufgeklärten Geheimnisse trage, gleich noch einen Sprung
weiter thun. Fürster-Kohl war bei all' seiner mehr als zweifelhaften Wahrheits¬
liebe eine gutmüthige Creatur. Außerdem ist Duldung für den Beobachter von
Menschen und Zuständen die erste Regel, wählerisch sein die falscheste Politik, und
so hatte ich nichts dagegen, als der zweideutige Herr Doctor sich mir zur Fort¬
setzung der Reise als Begleiter anschloß. Wir kamen zusammen nach Cincinnati
und bewohnten dort mehrere Wochen einen und denselben Gasthof. Hier fand
unser Heilkünstler bald Patienten, wußte sich mit den Apothekern in Vernehmen
zu setzen, curirte lwie er sagte) mit Glück eine Wassersüchtige, brachte nach Rieord-
scher Methode einen vom Spitale als unheilbar ausgegebenen Spphiliten (wie er
versicherte) auf den Weg der Besserung, handelte nebenbei mit Pariser Spitzen,
von denen er sür tausend Francs eingeschmuggelt, und war schon ans dem Auslande
nach einer ledig werdenden Doctvrvfftce, in welcher er sicherlich'„Geld gemacht"
haben würde, als er plötzlich — Einige glaubten, durch einen Brief nach New-
Orleans gerufen, mein Zimmernachbar aber wußte es besser — mit einer Gesell¬
schaft, die uach Texas ging, über Hals über Kopf abreiste. Dieser Stuben¬
kamerad nämlich, ein Elsasser Champagner-Fabrikant, wollte beweisen können, daß
der gute Junge weder Kohl heiße, noch rite acleMs sei, sondern früher in
Straßburg als Bartscheerer conditionirt, dann in Wiesbaden als Kammerdiener
servirt und, nachdem er an der dortigen Bank ein paar tausend Gulden gewonnen,
sich nach Paris begeben habe, wo er jedoch nichts weniger als Famulus des be¬
rühmten Ricord, sondern einfacher Pflastertreter und nebenbei ein Bischen Spieler
gewesen sei. Die Entdeckung dieses Falsnms und die aus einen Zwist zwischen dem
Psendodoctor und dem Mitwisser seines Geheimnisses von Letzterem angedrohte
Veröffentlichung desselben in der Zeitung hatte ihn von bannen getrieben.
„Schade um thu em^ Kop!" sagte der Wirth. „War eine gute Seele, die
leben wollte und leben ließ."
, „Well, mit dem Lebenlassen hätte es doch wol seinen Haken gehabt", warf
einer der Gäste ein.
närrisches Zeug! Sollten das Land besser kennen. Ob ich in Cleve-
land vier Monate Medicin studirt habe oder nicht, kommt ans Eins hinaus. Kann
mit 'nem Diplom die Leute an^on so gut unter die Erde schaffe», wie ohne solch
'neu Wisch für dreißig Dollars. War ein Narr an^Kop, daß er wegging,
wäre bei Gott nicht der Einzige gewesen, der auf diese Manier sein Glück ge¬
macht hätte!"
Sprach's und die „Genes" im Barroom gaben ihm Recht und bedauerten
den Freund, dem des Schicksals Tücke so unverhofft und unverdient die Thüre
zum nous^-maKinA vor der Nase zugeschlagen hatte.
Kehren wir jedoch von dieser Abschweifung wieder in das American-Hotel zu
Dunkirk zurück.
Nach einem guten Souper, bei welchem bereits Hinterwäldlergerichte, wie
gekochte Maiskolben und heißausgetragene Biscuits, so wie die mit Syrup ver¬
speisten Buchweizenkuchen figurirten, welche beiläufig eine nahe Verwandtschaft von
den sächsischen „Plinsen" sind, schliefen wir, nachholend, was wir die letzten Nächte
versäumt, in schonen Zimmern und trefflichen Betten den Schlaf der Gerechten.
Die feinen Trompetenstimmchen einiger verirrten Muskitos hatten uns mehr ein¬
gesungen, als belästigt, so daß ich, der von ihrem Vampyr-Blutdurste schreckliche
Vorstellungen mit herübergebracht, den Verläumder fast so schwärmerisch freundlich
gesinnt wurde, wie der gute Edward Sanford, der den „niedlichen Mistrels"
in einer Hymne seine Liebe erklärt, worin er sie unter anderen prächtigen Metaphern
eine Jncarnation von Königin Mad nennt und dann ausruft:
II»ö Sohn's last roth is sweetest, so is tlumz;
Lweet fre- tke winillisro's notss se äistsnoe Kehl'ä;
"1' is s>V6vt se, distsnoe-, se tuo «is^'s äsolino
lo Inzsr tuo oponinA sonA ol övknins's birä;
IZut notss ol Iisrp or birä se äistsnoo üost
I,ess svoell^ se elle ohr duhn luz^ Isse lodo>
Gewiß, ich hätte fortschlafen können trotz dieser immerhin ominösen Trompeten,
ja trotz der Trompeten des Weltgerichts. Aber das Instrument, mit dem mau
das Zeichen zum Aufstehn und eine Viertelstunde spater zum Frühstücke gab, war
eine horrible Ohrenqual. In der That, sein Ton drang durch Mark und Bein,
und täusche ich mich uicht, so war es dasselbe, womit die Wärter unsrer Thier-,
buben ihre Bestien aufscheuchen, wenn die Fütterungszeit naht. Es mag dies
praktisch sein; denn selbst der Starrkrampf des Scheintodes würde seinem Klänge
nicht leicht widerstehn. Aber von diesem Gesichtspunkte ans wäre ein vor jeder
Thür abgebrannter Kanonenschlag empfehlenswerther.
Nachdem wir im Speisesaale Beefsteak und Schweinsrippchen, und im Lese-
zimmer das Neueste aus den Zeitungen von Newyork, Buffalo und Cleveland
gefrühstückt, stiegen wir nach dem im Souterrain befindlichen Barroom hinab, um
uns mit einem Glase Ale zu einem Spaziergange durch die Stadt zu stärken.
Eine solche amerikanische Schankstube der bessern Art giebt dnrch ihre naive
Mischung des Vornehmen mit dem Gemeinen (von beiden Elementen hat die
„Mnsterrepublik" Vorrath) ein pikantes Bild. Hinter der Bar, einem eleganten
Ladentische aus solidem Mahagony, stand der Barkeeper in Hemdärmeln, den
Hut ans dem Kopfe. Die Wände schmückten englische Stahlstiche ans „Wie es
Euch gefällt", und neben einem großen Spiegel präsentirte sich an messingener
Kette ein schmuziger Haarkamm. Hinter der Bar erhob sich ans einem geschnitz¬
ten Säulentische eine Pyramide funkelnder Krystallflaschen mit Flüssigkeiten von allen
Farben. Darunter lagen Schichten von Pfirsichen und Orangen ueben Häuser von
Cigarrenbündeln, und in der Ecke stand ans einer dickbohligen schwarz angestrichenen
Ansternkiste eine gläserne Urne, in welcher Goldfische schwammen. Dem Gemisch
von Dingen entsprach eine Mannichfaltigkeit von Personen. Hier ließ sich aus
einer mit Eiswasser gefüllten Porzellanvase ein „Sohn der Mäßigkeit" die
Flüssigkeit in's Glas laufen, die Vater Matthew ihm gestattet. Dort stolperte
ein zerlumpter irischer Tagelöhner, einen halben Strohhut auf dem struppigen
Kopfe, nach der Bar, um sich von der Flaschenpyramide die Whiskey-Bulle her-
untcrreichen zu lassen.' Da tänzelte und schwänzelte mit lackirten Stiefeln ein
stutzerhaft gekleideter junger Kaufmann mit, der Bitte herein, daß ihm der Gany-
med in Hemdärmeln so schnell wie möglich einen Jnlep bereiten möge. Dort
langte der Mundschenk einem stämmigen Farmer mit einer Zange ein Stück Eis
in sein- Bier, welches einer schlangeuhalsigcn Pumpe auf dem Tische entströmte.
Hier endlich, hart vor der offnen Thür, waren selbst Milchtrinker vertreten;
denn behaglich quiekend saugten im Winkel an der Treppe zehn Ferkel an einem
schmeerstrvtzcnden Mutterschweine.
Von der Bequemlichkeit und Gemüthlichkeit einer deutschen Bierbank hat das
Bienenvolk der Amerikaner keine Ahnung. ^.1va.ys in a dürr^I summt es wie
in den Börsen und Bahnhöfen, so auch in den Schänken. In der denkbar kür¬
zesten Zeit zum Ziele zu kommen, ist leitender Grundsatz bei dem Glase, wie bei der
Arbeit, und ich erkläre mir die Vorliebe, die hier selbst von Gebildeten für ge¬
brannte Wasser an den Tag gelegt wird, nicht allein ans der Abstammung Bruder
Jonathan's von John Bull, dem Freunde von rum ana valsr, sondern anch,
und zum größeren Theile, ans dem Umstände, daß man durch Branntwein schneller
betrunken wird, als durch Trauben- oder Gerstensaft. Alles stand. Von bedäch-
tigem Nippen und Zungenschnalzen war keine Rede. Nur die Mintjnlep-Trinker
saßen oder besser ritten ein Viertelstündchen aus den vorhandenen Stühlen, um,
die Lehne vor der Brust, mit gläsernen Röhrchen die bittersüße Flüssigkeit ans
ihren Gläsern zu saugen. Alle Uebrigen kamen, tranken und gingen. Gesprochen
wurde wenig, und dann nur vou Geschäften. Kartenspieler aber, wie sie daheim
mit anseinandevgenommenen Rockschößen und brennenden Pfeifen alle Winkel
besetzt halten, hätten hier keine Tische gefunden.
Ein Gang dnrch die Stadt, den wir mit einem Bade in dem herrlich klaren
Wasser des Sees beschlossen, ließ uns die staunenswerthe Triebkraft beobachten,
welche dem amerikanischen Boden innewohnt und die Saat zu Städten beinahe
so schnell reift, als den Samen zu einer Kornernte. Jede Woche hatte eine der
Gassen des Stadtplaus mit Häusern ausgefüllt. Wo noch vor zwei Monaten
Gras gewachsen war, beherbergte heute das großartige Loder-House zweihundert
Reisende; und wo man vor drei Jahren das Land zum Cougreßpreise von 1V4 Dollar
per Acre gekauft hatte, kostete jetzt eine bloße Baustelle von einem Viertelacker
800 Dollars, und in einzelnen Fällen doppelt so viel. Das klingt wie ein Wun¬
der oder, wenn man will, wie das Resultat eiues Schwindlerkunststücks. Aber
seien wir bescheiden und erkennen wir darin die mächtige Hand eines von freien
Institutionen begünstigten, dnrch keine bureaukratischen Vormnndsfedern nach ver¬
alteter Schablone verclausnlirten, nirgends über die Stümpfe verrotteter Stamm¬
bäume stolperndeu Unternehmungsgeistes. Ja, seien wir bescheiden, und nehmen
wir, statt mit der „grünen" Emigration vom Jahre 1849 über Schwindler und
Mammoujägcr zu schimpfen, lieber die Schlafmütze vor der rüstigen (ZlO-nKeaämess
dieses Volkes ab, das, wenn es jetzt seine ganze Thatkraft ans das Materielle
richtet, und bei diesem Bestreben neben vielem Erhabenen auch manche Caricatur
erzeugt, damit wahrlich nicht beweist, daß es, nachdem der Grund zu geistigem
Schaffen gelegt ist, der Idee nicht in gleicher Weise opfern und von ihr gleiche
Spenden erringen wird, als wir.
Ein Gleichniß für das Gesagte liegt in dem Bilde einer solchen Uankeestadt
selbst. Allerdings hat man sich unter dem Dunkirk, wie ich es sah, keinen Ort
vou europäisch-massiver Solidität vorzustellen. Die Häuser waren meist von
Holz, oft blose Breterbudeu. Vou Pflaster, von Laternenbeleuchtnng war keine
Spur. An einzelnen Stellen ragten die Stöcke und Wnrzelknvten ausgerodeter
Bäume noch aus deu Fahrwegen. Aber wer das schnelle Wachsthum Buffalos
sich hatte schildern lassen, konnte nicht zweifeln, daß binnen zehn Jahren diese
Buden zu schonen dreistöckigen Steingebäuden mit gaserleuchteten Verkaufsladen
geworden sein und die sandigen, von Urwaldsresten durchkreuzten Wege am
Strande sich zu einem Broadway entwickelt haben werden, so prächtig und so
lebhaft beinahe wie der von Newyork, von dem diese Städte am Erie-See bis nach
Cleveland, ja bis nach Toledo hinauf gleichsam Sternschnuppen, obwol solche
Sternschnuppe» siud, denen die Kraft eingeboren ist, zu Sonnen mit sebstständigem
Leben herauszuwachsen.
Die Umgebung Dnnkirks ist noch eine vollständige Wildniß, und wenn man
sich diese Hieher zurückdachte und dann das Getümmel von europäischen Ein-
Wanderern und amerikanischen Auswanderern sah, das die Eisenbahn herstromeit
ließ, und die anlandenden und absegelnden Dampfboote zählte, und die wie
Ameisen aus den Thüren der Billetbureaux wimmelnden Reisenden beobachtete,
konnte man es wol für aufrichtig gemeint und wohlbegründet halten, wenn aus
dem Schilde einer dieser Anstalten aus dem Munde einer Figur, welche die äl¬
teren Bewohner des Ortes in die Betrachtung des ersten Eisenbahnzuges nach
Dunkirk versunken darstellte, die Worte Gloster's quollen:
„Nov is tre motör ok our äisoontont
Raae Zlorious summer lbs sun ol (New-) VorK!"
„Aber ick) meine, wir hätten nun genug gesehen von dem Neste," sagte der
Doctor, mit ärgerlicher Miene den Schweiß von der Stirn wischend. „Unbändige
Hitze — grausam, wahrhaft grausam! Kommen Sie, lassen Sie uns — hin —
lassen Sie uns, wie Cicero sich ausdrückt, miserers Milo äuleem. Versuchen
wir einen Mintjulep."
Er nahm mir das Wort von der Zunge, etwas ungrammatikalischer zwar
als billig, aber es war das Wort, und so gingen wir denn, zwei Seelen und
Ein Gedanke, und mischten das Angenehme mit dem Nützlichen. Thun wir's
auch hier. Genießen wir in Emangelung eines realen Jülep Schwarz auf Weiß
einen idealen. Mancher dürfte mir dankbar sein sür Ausschluß über die Ingre¬
dienzien, aus denen der Amerikaner sein Nationalgetränk brant. Hier ist das
Recept dazu und eine hübsche Fabel obendrein. Es wird daraus klar werden,
daß das genannte Gebräu nichts weniger als eine moderne Entdeckung, sondern
älter als die Geburt des ersten Uankees, älter sogar als Milton, der es im
„Conus" besingt, und daß es bei einer Gelegenheit erfunden worden ist, von
welcher selbst die Mythologie bisher nichts gewußt hat.
Eines Abends, als die Götter auf dem Olymp beim Gelage saßen, erschien
Bacchus mit der betrübenden Kunde, daß sein letztes Nektarfaß geplatzt und aus¬
gelaufen sei. Zeus war bei Zechcrlaune und entschlossen, den Humpen noch einmal
kreisen zu lassen. So gebot er den Unsterblichen vom schonen Geschlechte, stracks
ein Getränk zu bereiten, welches besser munde, als jeglicher Wein, so aus Erden
und im Himmel jemals gewachsen. Und sogleich regten sich die holden Frauen,
um in anmuthigem Vereine einen Becher zu mischen, der dem Wunsche des hohen
Gebieters entspräche. Die ernste Ceres brachte eine Aehre und hieß dem Geiste,
der aus Thautropfen in das goldgelbe Maiskorn geflossen, in hellfuukelndem Feuer-
wasser wieder herausquellen. Pomona sodann, deren Spenden in farbiger Fülle
die Tafel der Himmlischen bedeckten, drückte den milden Saft einer Pfirsiche in
den Kelch. Die Bewohnerin des Hybla ferner, Frau Venus, die Süße, goß
lächelnden Blicks ihren Honig dazwischen. Flora endlich pflückte mit rosigem
Finger von eines Baches Rand das Kräutlein, welches das Ganze durchduften
sollte, die würzige Münze, und fügte sie, thaufrisch und safterfüllt, wie sie war,
in die Mischung der Andern. Ein köstlicher Trank! riefen darauf alle Götter
mit Einem Munde, obwol sie sammt und sonders noch ein Etwas darin ver¬
mißten. Da warf Zeus selbst eine Handvoll Hagel hinein, und von jetzt ab, sagt
Ferro Hoffmann, dem ich diese Myth? nacherzähle, wurde Miutjulep das Lieb¬
lingsgetränk .der Unsterblichen.
Das ist die Fabel. Und die Moral davon? — Nun, die Moral besteht in
dem Recepte: Nimm, da Hagel und Honig von Hybla nicht immer zur Hand
sind, Eis und weißen Zucker, wirf es in ein Glas, gieße Whiskey, Perfiko und
Krausemünzen-Extract, von letzterem nur ein paar Tropfen, darauf und schüttle
es fein säuberlich durch einander. Dann stecke einen Strohhalm hinein, setze dich
und erhebe die Beine, bis sich die Füße in gleicher Höhe mit einem gegenüber
befindlichen Tische oder Fenstersimse befinden. Nach diesen Vorbereitungen und
in dieser Lage magst du an's Aussaugen des aromatischen Kühltranks gehen. Er
ist dann eben so kunstgerecht gebraut, als in gebührlicher Stellung genossen, und
so, aber.auch nur so, kannst du sagen: Auch ich habe Mintjulep getrunken!
Bei der drückenden Hitze, die den Tag über geherrscht hatte, war es eine
außerordentliche Erquickung, als der Abend dem See kühlende Lüftchen entlockte,
auf dem Balkon des Hotels zu sitzen und sich, entrückt dem Stande der Straße,
den Schweiß von der Stirn und die Gluth aus den Adern fächeln zu lassen.
Hiermit konnten eine Beobachtung des Dampfbootes, welches uns nach Cleveland
abholen sollte, eine Lection'im amerikanischen Dialekte, wozu ein Farmer von
Wabash, der neben uns Platz genommen, Gelegenheit bot, ferner Betrachtungen
des Volksthums, das uns zu Füßen wogte, und endlich eine Probe zur Ent¬
scheidung der beim Jnlep angeregten wissenschaftlichen Frage verbunden werden,
ob sich's denn wirklich bequemer sitze, wenn man die Füße in horizontaler Lage
mit der Nasenspitze vor sich hinstreckt und mit dem Stuhle dazu schaukelt. Man
sieht, die Situation war dem uMs wie dem clules gleich günstig.
Die Aussicht war, wo nicht schon, so doch charakteristisch. Der Bordergrund
zeigte ein halbes Dutzend Kramladen, in denen man nicht weniger als Alles,
Kartoffeln und Pfefferkuchen, Mehl und Medicin, Syrup und Pökelfleisch, Tuch,
Töpferwaaren und Ackerwerkzeuge seil hatte. Zwischen die Rivalen hatten sich ein
Buchhändler, der zugleich in Eisenbahn- und Dampfbootbillets Geschäfte machte, und
eine Barbierstube geklemmt. Vor der letztern stand, statt unsrer Becken, als Hand¬
werkszeichen der landesübliche, mit dem nationalen Blaurothweiß angestrichene
Pfahl, dessen Streifen die Aderlaßbinde bedeuten, und darunter saßen die Inhaber
des Etablissements, drei Neger mit wohlgepflegten Schnurrbärten und pommade-
glänzenden Wollköpfen. Eine lärmende Kupferschmiedsmerkstatt, eine Art
Apotheke,' mit Anzeigen von allerhand Wnndersalben und Welterlösungspillen
beklebt, und ein kleines gebrechliches Bretergenist, das sich mit übervoll genom¬
menem Munde „Dunkirk-Hotel" nannte, schlössen diese Seite der Gasse. Ein
buntes Gewirr von verschiedenartigen Fahrzeugen tummelte sich, an uus vorüber.
Zweirädrige Karren, mit Mehlfässern aus dem Westen belade», wechselten mit den
Reisewagen der „movers", die, bepackt mit Kisten und Hausrath, aus den
Counties in Osten auszogen, um sich nach jenem fruchtbarem Westen einzuschiffen.
schwerfällige Postkutschen, ans deren Bocke man vergeblich unsren uniformirten
Schwager und sein Hörnchen suchte, setzten Reisende von Orte» ab, die sich der
Segnungen einer Eisenbahn noch nicht erfreuten. Zierliche Buggy-Wägelchen
huschten wie schnellfüßige Gazellen dahin. Reiter mit breitkrämpigen Panamahüten
galloppirten, statt des Sattels ein Stück Büffelfell untergelegt, vorbei, als ob sie
die Zeit zu überholen gewettet. Den Hintergrund endlich des belebten Gemäldes
bildete die breite Fläche, des schönen lichtgrünen Sees, in den zur Linken eine
bewaldete Landzunge mit einem weißen Leuchtthurm hinausragte, und auf dessen
lcichtbewegten Wassern hellgraue Segelschiffe und die schwarzen Rauchsäulen von
Damvfboten ganckelten.
Zur Entscheidung der Frage: ob der amerikanische Geschmack, der eine hori¬
zontale, oder der europäische Austand, der eine perpendiculaire Stellung der
unteren Extremitäten vorschreibt, vortheilhafter sür das Sitzfleisch der Menschheit
und die Verdauung von gebratenem Truthahn sei, eignete sich das Geländer des
Balkons so gut wie die Fenstersimse, die ich in Tammany-Hall vo» den Absätzen
der Gentlemen belagert gesehen hatte, aber noch war ich mit meiner Untersuchung
nicht im Reinen, als sich plötzlich drunten an der Ecke zu unsrer Linken eine
feierliche, salbungsvolle'Stimme vernehmen ließ. Ich sah hinab. Es war ein
junger Mann, der mit begeisterten Worten ein großes Etwas empfahl. Ich hielt
die Hand an's Ohr und hörte Dinge, die mich stutzig machten. ES war die
Rede vom Senate der Quinten, von Ruhm und Freiheit, vom Wohl und Wehe
der Menschheit, von Washington und Demosthenes, von Kaliforniens Goldbergen
und Athens Marmortempeln. Es war die Rede von allen diesen Größen eine
ganze halbe Stunde, und Niemand wußte, woran er war. Endlich platzte der
zum Elephanten geschwollene oratorische Pudel, und hervor trat ans dem Schwall
und Nebel der prächtigen Phrasen der Kern, ein echter Uankee-Hnmbng — der
junge Mann nämlich empfahl — seine wunderschöne Neuenglandseife!
Die Fahrt über den Erie-See ist Manchem verhängnißvoll geworden. Seine
grünen Wogen haben beinahe dieselbe traurige Berühmtheit erlangt, wie die
gelben Fluthen des Mississippi. Kein Jahr vergeht, wo nicht ein halbes Dutzend
Dampfer durch die Tücke der hier hausenden Stürme, oder durch den unverant¬
wortlich fahrlässigen Ehrgeiz der Capitaine, die den Magen ihrer Leviathane
mit Kohle überfüttern, bis er platzt, zu Grunde gehn. Diese Fahrlässigkeit ist
die Schattenseite der oben gerühmten Ko-adeMness, und daß die Gesetzgebung
sich nicht mit Strafen dagegen in's Mittel schlägt, der unerfreuliche Revers der
sonst recht erfreulichen Abneigung des Volkes gegen Polizeimaßregeln. Heute
fliegt ein Schiff mit dreihundert Menschen auf. Morgen krähen die Zeituugs-
hähue ein Concert über das Unglück und seine leichtsinnigen Urheber. Ueber¬
morgen? — Bah, lasset die Todten ihre Todten begraben! Wir sind lebendige
Bursche. Unsre Ehen sind fruchtbar genug, deu Verlust an Leben zu ersetzen.
Kleinigkeiten das! Fort zu Geschäfte»! ^11 advaräl Ka> adeaä, do^s I Und
munter schießt das Dampfboot der Rastlosen aus dem Hafen. Nichts ist ge¬
lernt, Alles — nur der Trieb des Capitains zum Ueberheizen und Uebersetzen
nicht — vergessen, und springt der Kessel etwa auch diesem Boote, nun, so
ist es wieder ein I-unenwdls aeeläenl für die Presse, und wieder keine Lehre für
Publicum und Behörden.
Uns leuchteten freundlichere Sterne. Wohlbehalten landete unsre „Queen-
City" am Mittage des 9. ihre Cajüten- und Zwischendeckspassagiere nebst ihren
Bergen von Waarensracht vor dem Bahnhofe von Cleveland. Diese Stadt
gehört zum Staate Ohio und ist ein noch entwickelteres Beispiel von dem reißend
schnellen Wachsthum dieser westlichen Ansiedelungen als Dunkirk. Wo zu An¬
fange unsres Jahrhunderts ein Dutzend halbwilder Hinterwäldler in drei schweins-
kobenähnlicheu Logshauties von Bären- und Pnterfleisch und dem Ertrage einiger
Aecker Jndicmerkorns ein einsames Dasein fristeten und 1830 ein Dorf mit
800 Einwohnern stand, schaut jetzt, bewohnt von 22,000 Seelen, eine schöne
Stadt mit säuleugezierten, stolz bethürmten Riesenhotels, freundlichen Wohn¬
häusern, geräumigen Straßen, einem medicinischen College und nicht weniger als
2i> Kirchen ans den See hernieder. Ja noch mehr, jenseits des Cuyahoga, der
sich hier dem Erie-See zuwiudet, hat sich, gegenüber den Hügeln, welche die
„Waldstadt" Cleveland krönt, ein anderer blühender Ort, die schmucke Ohio-City
erhoben, die gegenwärtig schon 3000 Einwohner zählt.
Der Verkehr, der hier betrieben wird, ist außerordentlich lebhaft. Cleveland
ist der größte Getraidemarkt des größten Ackerbanstaates der Union. Die Natur
hat es dazu bestimmt, den Unternehmungsgeist des Volkes dazu ausgebildet.
Sein Hafen ist der beste am ganzen See. Ein Canal und eine Eisenbahn ver¬
binden es mit dem 130 englischen Meilen entfernten Pittsburgh, eine zweite
Eisenbahn mit dem noch einmal so weit entlegenen Cincinnati, eine dritte Schienen-
straße, die bis Ende 1862 eröffnet sein wird, mit Dunkirk und dadurch mit der
Metropole am Hudson. Die Stadt besaß im Jahre 1830 auf dem See allein
103 Fahrzeuge, die eiuen Gehalt von 18,462 Tonnen repräsentirten und eine
Ein- und Ausfuhr vermittelten, deren Totalwerth sich auf nahe an 12 Millionen
Dollars belief. 273L Schisse und Boote waren im genannten Jahre aus seiner
Rhede eingetroffen, und unter dieser Zahl befanden sich mehr als einhundert Dampfer.
Wir hielten uns in Cleveland ebenfalls einen Tag ans, und wohnten im
Kaiser Napoleon, einem kleinen, saubern Gasthause im obern Theile der Stadt.
Man hatte von hier eine vortreffliche Aussicht, konnte zum Zeitvertreib über die
verschiedenen Costume der großen Armee, mit deren Abbildungen der Wirth, ein
alter Soldat und begeisterter Verehrer des kleinen Korporals, die Wände seines
Barrooms geziert hatte, Heerschau halten, und, bekam einen recht trinkbaren
Bordeaux für einen mäßigen Preis. Weniger augenehm waren die unzähligen
Wanzen, die Herrn Emmerich's Hans zur Wohnung gewählt hatten. Da sie
indessen eine allgemeine Plage sind und gleich deu Ratten und Stechapfelstauden
gewissermaßen zu den charakteristischen Merkmalen amerikanischen Lebens gehören,
so hatte man gute Miene zum bösen Spiele zu machen. Selbst in dem pracht¬
vollen Wedell-House drunten ans der Maistreet tollen die Passagiere vergeblich
gegen den Stachel dieser niederzüchtigen Rothhäute.
Einen Theil des Abends verbrachten wir in einer nebenan befindlichen
Schänke, deren Besitzer mir als ehemaliger deutschkatholischer Geistlicher und
Mitkämpfer in Baden vorgestellt wurde. Es war hier eines der westlichen Haupt¬
quartiere desjenigen Theils der deutschen Emigration, welche der unglückliche Aus-
gang der Aufstände von 1849 nach Amerika geworfen hat. Ich verspare eine
Charakteristik dieser Herren auf einen andern Aufsatz. Hier nur so viel, daß die
Barrikadenmänner, die ich in Cleveland sprach, der Ueberzeugung lebten, daß
auch der Uankcerepnblik eine Revolution Noth thue und unausbleiblich bevorstehe
— eine Faselei, die man ihnen gern verzieh, wenn mau hörte, wie die armen
Sünder sich nach den Fleischtöpfen Aegyptens zurücksehnten, obgleich dieselben mich
hier (aber freilich nicht durch eiteles Gerede) zu erlangen waren. In der That,
die Verblendung mancher von diesen Menschen wird nnr von ihrem Eigendünkel an
Mammuthhaftigkeit überboten. Statt dem Volke, das ihnen eine comfortable
Freistätte gewährte, dankbar zu sein, schimpfen sie wie die Rohrsperlinge mit
Heinzenschen Kraftwörtern auf die Landessitten, und statt sich in deu Organismus
der hier wirkenden Kräfte einzufügen und Etwas von ihm oder wenigstens über ihn
zu lernen, möchten sie, und würden sie, wofern ihre Niesenzunge nicht in einem
Zwergenkörper säße, der Union ihre Penaten vom Hausaltare stoßen. Wie die
Sachen jetzt stehen (und beiläufig stehen bleiben werden), müssen sie sich mit der
fixen Idee, das Ferment zu sein, welches zur Umgestaltung der transatlantischen
Welt herübergekommen, und mit gelegentlichem Schulmeistern über das, was ge¬
than und gelassen werden solle, begnügen. Daß der Mond aber auf das Gebelfer
der Kläffer nicht hört, sondern bei seiner Natur und seinem Gange bleibt, ver¬
wandelt den Gram in Grimm, den Eifer in Geifer, den Wahn in Wahnsinn,
und man weiß in der That zuweilen nicht, ob man es mit Leuten zu thun hat,
die heil im Hirne sind.
D.as Deutschthum ist übrigens in Cleveland durch etwa dreitausend seiner
Bewohner und eine Zeitung, die „Germania" vertreten, welche letztere bis kurz
vor meinem Eintreffen von dem bekannten Fenner v. Fenneberg redigirt worden
war und zu den besseren Blättern Ohios zu rechnen sein dürste.
Der -10. September sah uns in einem eleganten Eisenbahn-Waggon durch
Wald und Wald und abermals Wald dem Herzen Ohios und seiner Hauptstadt
Columbus zueilen. Bei Betrachtung dieser unermeßlichen Forsten dunkler Laub¬
hölzer regen sich nicht blos mwäldliche, sondern in Momenten der Verlorenheit
sogar nrweltliche Phantasien. Ein Dichter könnte in dem dahinrasselnden Zuge,
dessen Locomotiven hier nicht pfeifen, sondern brüllen, einen jener gigantischen
vielgliedrigen Saurier sehen, die durch den Sumpfpflauzenwuchs des Autedilnviums
fuhren. Das Gezweig aber der abgestorbenen Banmkolosse, welches hier und da
die niedrigeren Wipfelschichten zu beiden Seiten des Schienenwegs überragt, ließe'
sich mit dem Geweihe ungeheurer UrHirsche vergleichen, die ängstlich das Vorüber¬
schießen des rauchspeienden Ungethüms erwarten. Die Gegenden, die wir passtrten,
sind flach, höchstens von Hügelwellen durchschnitten, manchmal feucht, hin und wieder
dem Sumpfe sich nähernd. Die Cultur hat auch hier überall hereingegriffen.
Kaum drei Meilen vergehen,, ohne daß man die niedlichen Moosbilder von
Farmer und kleinen Städten auf Augenblicke aus dem Waldesdunkel treten sieht.
Wo diese länger auf sich warten lassen, zeugen wenigstens Rodungen, gegürtelte
Stämme, Holzschichten und der Bahn zustrebende Riegelstraßen von dem Walten
der Menschenhand. Ja an einer der Stationen mitten im dichtesten Forste hielt
ein Omnibus, so nett, so modisch gebaut, so bunt überbildert, als ob er gerade-
wegs vom Bowling-Green in Newyork käme.
Columbus, der Sitz des Gouverneurs und der Legislatur von Ohio, liegt
am östlichen Ufer des Scioto, ungefähr einen Büchsenschuß von der Stelle, wo
der Olentangi in ihn mündet, etwa 130 Meilen vom Erie-See und 100 vom
Ohioflusse entfernt. Es hat, wie die meisten neueren Orte Amerikas, eine freund-
liche, aber ziemlich charakterlose Physiognomie. Obwol weder Handels- noch
Fabrikstadt, ist es doch innerhalb der letzten zehn Jahre von 7000 auf 18,000
Einwohner gewachsen. Die Deutschen müssen anch hier zahlreich sein; denn sie
haben vier Kirchen und eine Zeitung, den nach hiesigen Anforderungen ganz
achtungswerthen „Westboten"; auch besteht schon seit zwanzig Jahren eine Bil- '
duugsanstalt für lutherische Geistliche hier. Ein besonderes Interesse gewinnt
die Stadt durch die zum Theil sehr großartigen öffentlichen Gebäude. Das
Taubstummeninstitnt des Staates mit 130 Zöglingen, das Asyl für Blinde, welches
deren 100 erzieht und verpflegt, vor Allem aber das Irrenhaus mit seiner
370 Fuß breiten Front und ii0 Zimmern, worin über 300 Geisteskranke unter¬
gebracht sind, legen durch ihr Aeußeres Zeugniß von dem guten Geschmacke ihrer
Erbauer ab, und sollen im Innern eben so zweckmäßig ausgestattet, als verstän-
dig verwaltet sein. Das Capitol, an welchem man seit mehreren Jahren baut,
ohne viel über die Grundmauern hinausgekommen zu sein, wird eine Fläche von
SS,936 Quadratfuß bedecken, und nicht nur an Größe, sondern an Schönheit
alle ähnlichen Architekturwerke innerhalb der Vereinigten Staaten übertreffen.
Die Umstände gestatteten mir nur bei dem Staatsgefängnisse einen Blick in
die innere Einrichtung zu thun. Dieser imposante Bau befindet sich hart, am
Ufer des Flusses, dessen Trauerweiden zu dem Orte des bürgerlichen Todes recht
wohl stimmen. Das Hauptgebäude besteht aus Ohio-Marmor, enthält in seinen
langgestreckten Flügeln 700 Gefangenzellen und bildet die Mitte der einen Seite
eines mit hohen Mauern umschlossenen Vierecks von sechs Acres. Die Sträflinge,
deren sich bei meinem Besuche zwischen fünf- und sechshundert hier befanden, find
in 13 Compagnien getheilt, von denen, als wir den Hos betraten, mehrere in
militärischer Ordnung, schweigsam, die Gesichter den sie begleitenden Aufsehern
zugekehrt, an uns vorübermarschirten. Man hat den Unterschied der Farbe und
die darauf bastrte Aristokratie der weißen Haut auch bei Verbrechern berück¬
sichtigen zu müssen gemeint; denn eine der Compagnien ist aus Farbigen zusammen¬
gesetzt. Die Disciplin wird streug gehandhabt, die Verletzung der Hausordnung,
von welcher jeder Hieher Verbannte bei seiner Einlieferung ein gedrucktes Exemplar
bekommt, unnachsichtlich mit der Peitsche geahndet. Ein Theil der Gefangenen
arbeitet in einem zwei Meilen entfernten Steinbruche und am Baue des Capitols.
Die Uebrigen sind mit der Fabrikation von Holzwaaren und anderen Industrie¬
zweigen beschäftigt, deren Ertrag in manchen Jahren die Unterhaltungskosten der
Anstalt um nahe an 20,000 Dollars überstiegen hat. Zur Mittagszeit ordnen
sich auf ein Zeichen mit der Glocke die verschiedenen Compagnien vor ihren
Werkstätten, um sich auf ein zweites Lauten nach den Speisesälen zu begeben,
wo sie sich auf den Schall einer Klingel zu Tische setzen. Sie essen aus selbst¬
verfertigten Holznäpfen und trinken aus Blechbechern. Zum Frühstück wird ihnen
Roggencaffee, beim Mittagsessen Wasser als Getränk gereicht. Den Gottesdienst
im Hause hält ein Methodistenprediger ab, und es ist zur Verbesserung des Gesanges
ein Chor aus denjenigen Sträflingen gebildet, welche passende Stimmen und
guten Willen zu diesem Zwecke haben. Außerdem ist mit der Capelle eine
Sabbathschule verbunden, in der mehrere angesehene Privatleute aus der Stadt
Unterricht ertheilen, und an welcher im verflossenen Jahre 93 Gefangene als
Lernende Theil nahmen. Zum Inventar dieser Schule gehört eine nicht un¬
beträchtliche Bibliothek, ans der den Zöglingen auf Verlangen Bücher geliehen
werden.
Der Verwaltungsbeamte, der mir diese Notizen mittheilte, fügte hinzu, daß
bei einer neulich von einem Enthaltsamkeitsprediger gehaltenen Ansprache an die
Sträflinge auf die Frage, wie viele derselben die Verbrechen, die sie Hieher
gebracht, unter dem Einflüsse geistiger Getränke begangen hätten, mehr als vier
Fünftheile'der Anwesenden aufgestanden seien. Gegen Hundert gaben an, daß
sie bei der Fabrikation. und dem Verkauf von gebrannten Wassern beschäftigt
gewesen, und Alle erklärten durch Erhebung von den Sitzen ihren Vorsatz, sich für
den Nest ihres Lebens jeglichen Genusses von diesen Reizmitteln zur Sünde
enthalten zu wollen.
Mit dem Wunsche, es möge gelebt werden, wie gelobt worden, verließen wir
unsern gefälligen Führer, um nach dem Bahnhofe zurückzukehren und eine
Viertelstunde darauf weiter nach Süden zu fahren. Zu Ehren aber der auffallend
zahlreichen Eichhörnchen, welche den Wald bewohnen, den wir nun wieder über uns
dunkeln sahen, sei folgendes Curiosum aus der Chronik von Kolumbus nach¬
getragen :
Am 29. August 1822 erließen mehrere Farmer der Umgegend in der „Columbus
Gazette" an ihre Nachbarn und Bekannten im County ein Manifest, worin sie die
Aufmerksamkeit derselben auf die Gefahr lenkten, welche der Maisernte von den
im ungeheuersten Grade überhaudgenommenen Eichhörnchen drohte, und den
Vorschlag machten, durch einen großartigen ImntinK-canens diese Feinde ihrer
Feldfrüchte in Masse zu vertilgen. Diese Kreuzzugspredigt fand Anklang. Am festgesetz¬
ten Tage und Orte versammelte sich Alles, was eine Rifle abzuschießen verstand,
um den Angriff zu eröffnen. Von Township zu Township zog das Verderben derer
vom Geschlechte SewruL. Drei Tage knallte es allenthalben von den Schüssen
der Unbarmherzigen, und als man am Schlüsse dieser Bartholomäusnacht die
Erlegten zählte, ergab sich, daß man neunzehutansend sechshundert und sechzig
Eichhörnchen vom Leben zum Tode gebracht, ungerechnet die Wirksamkeit der
Schützen, welche die von ihnen erbeuteten Bälge nicht eingeliefert hatten.
Ueber die Schnelligkeit, mit der man auf amerikanischen Eisenbahnen fährt,
hatte ich in Deutschland übertriebene Vorstellungen gehört und selbst gehegt. In
der That, manchen Berichten zufolge sollte man glauben, die transatlantischen
Locomotiven liefen mindestens noch einmal so geschwind, als die unsrigen. Ich
habe im Westen nie und im Osten nur auf der Bahn zwischen Buffalo und
Canandaigua Anlaß gefunden, dies zu bestätigen. Uebertreffen die Züge der
Amerikaner, welche durchschnittlich eine halbe englische Meile in der Minute
zurücklegen, die unsrigen in der Schnelligkeit der Ranmüberwinduug, so gleicht
sich dies auf längere Strecken durch das häufige Anhalten, worin die sogenannten
Expreß-Züge den Gepäckzügen nur wenig nachstehe», zum Vortheile des deutschen
Verfahrens aus. Diese zahlreiche» Stationen sind, wie sich von selbst erklärt,
von den Verhältnissen geboten. Für den jedoch, der Eile hat, schmecken sie etwas
nach.Enttäuschung, und wenn wir sieben volle Stunden bedurften, um die
Meilen zwischen Kolumbus und dem heutigen Ziele zu durchmessen, so wird
man es nicht unbegreiflich finden, daß wir ziemlich übler Laune waren, als
wir in der Mitternachtsstunde im Bahnhofe von Cincinnati eintrafen.
Wir waren jetzt, wie die Dichter sich ausdrücken, in der „Königin des
Westens", oder wie die Schalle meinen, in der ,,Stadt des Saufleisches."
Der Pseudodvctvr brummte, er entdeckte an der Straße, durch die wir unsren
Kärrner nach dem Jefferson Hotel folgten, nichts Königliches. Ich aber las an
mehr als einem Gebäude, das wir passirten, die Bezeichnung ?orKdou8v, und so
nach den ersten Eindrücken soll denn das ehrsame Cincinnati wenigstens für die
erste Nacht meines Dortseins, wie jene Schalle es nach seinen kolossalen Schweine¬
schlächtereien getauft, — Porkopvlis heißen.
Wir haben in unsrem ersten Artikel die Verhältnisse des Heeres im König¬
reich Sardinien besprochen, und wollen jetzt versuchen, noch einige Streiflichter ans
die übrigen inneren Verhältnisse dieses Landes zu werfen. Ist dasselbe doch gerade
in jetziger Zeit in doppelter Hinsicht von besonderer Wichtigkeit. Von allen Staaten
Italiens, ja Europas, welche die Ereignisse des Jahres 1848 constitutionell
machten, ist Sardinien der einzige, dessen Verfassung mehr als ein Scheinbild
geblieben ist, und Turin ist neben Brüssel die einzige Stadt ans dem Festland,
wo eine wirkliche parlamentarische Negierung besteht. Wie lange sich dieselbe
erhalten wird, ist freilich schwer zu prophezeihen, deun die Zahl und die Macht
der Feinde, die es von Innen und von Außen bedrohen, ist bedeutend. Das
neue System hat aber auch viele und feste Stützen im Volke selbst, und gerade
von deu eifrigsten Gegnern desselben sind einige gegen ihren Willen dessen größte
Beförderer geworden.
Der Hauptfeind einer gedeihlichen und aufrichtigen Entwickelung des consti-
tutionellen Systems im Königreich Sardinien ist in Wien. Man liebt dort,
wie bekannt, überhaupt nicht eine constitutionelle Regierungsform, haßt dieselbe
aber doppelt in Sardinien, denn der Vergleich mit diesem glücklichen, in seinem
Innern so wohl geordneten Lande kann in deu übrigen italienischen Provinzen,
die sich der directen »5er indirecten Oberherrschaft Oestreichs zu erfreuen haben,
nnr Unzufriedenheit mit den eigenen, und Sehnsucht uach deu Zuständen des
Nachbars erwecken. Außerdem ist Sardinien, vermöge seiner constitutionellen
Regierungsform, der einzige Hort der italienischen Freiheit und Unabhängigkeit,
und daher allen Feinden derselben ein gar gewaltiges Aergerniß, das man auf
jegliche Weise vernichten mochte. Am liebsten hätte man nach dem glücklichen
Feldzuge von 49, wo Turin deu siegreichen k. k. Heeren offen lag, das ganze
Königreich zertrümmert, oder doch wenigstens so verkleinert, daß es nicht mehr
zu fürchten war. Der nun verstorbene Fürst Schwarzenberg hat anch, wie in
höheren Kreisen wohl bekannt, diesen Plan gehabt. Sehr bedeutende Hinder¬
nisse stellten sich demselben aber entgegen; das erste kam vom Cabinet von Se.
James, indem Lord Palmerston in Wien und Turin auf das Bestimmteste er¬
klären ließ, daß er jede Verkleinerung des sardinischen Gebietes von Seiten
Oestreichs als eine Kriegserklärung betrachten würde. Einen Krieg mit England,
das wahrscheinlich auch Frankreich auf seiner Seite gehabt hätte, zu beginnen,
konnte aber 49 selbst der heißblutige Fürst Schwarzenberg uicht wagen, denn
Ungarn war noch nicht unterworfen, und in Deutschland wankte Oestreichs Ober¬
herrschaft. Auch konnte sich Oestreich nicht verhehlen, daß selbst eine vom übrigen
Europa geduldete Erwerbung Sardinischer Gebietstheile eine Eroberung von höchst
zweifelhaftem Werthe sei, indem die Lombardei schon Alles in Anspruch nimmt,
was Oestreich an Geld und Blut in Italien aufzuwenden hat. Es wäre mir
ein wunder Fleck mehr an des Kaiserstaats zusammengesetzten Körper gewesen.
Andere Rücksichten, die maßgebend waren, das Königreich Sardinien nicht
zu verkleinern, sind die engen verwandtschaftlichen Beziehungen, in denen das
dortige Regentenhaus sowol mit dem k. t. Hofe selbst, wie auch mit der säch-
sichen Königsfamilie steht, deren Wünsche unter gegenwärtigen Verhältnissen in
Wien nicht leicht überhört werden. Auch Damen-Jntriguen haben sich zu Gunsten
Sardiniens eingemischt, und besonders eine Frau, die dem Range uach eine zwar
Untergeordnete und gar nicht einmal hoffähige, aber ihres Einflusses auf die höchste
Gebieterin Oestreichs wegen, sehr einflußreiche Stellung in der Wiener Burg
einnimmt, soll sich sehr und wie immer mit Glück Sardiniens angenommen haben.
Man begnügte sich daher, das besiegte Land, das von den Kosten einer zwei¬
jährigen Kriegsführung schon schwer belastet war, durch Auferlegung einer sehr
hohen Kriegscontribulivn in Verlegenheit zu scheu, denn man weiß in Wien aus
eigener Erfahrung am besten, wie hemmend schlechte finanzielle Verhältnisse ans
die freie Bewegung eines Staats wirken.
Durch diesen Druck auf die Fittanzen Sardiniens war man gegen seinen
Willen mit ein Beförderer des constitutionellen -Systems in diesem Lande ge¬
worden. Sollten die finanziellen Verhältnisse hier sich bessern, so war große Er¬
sparung im Staatshaushalte und besonders anch unbedingte Oeffentlichkeit desselben
und Controle von Seiten der Kammern dringend erforderlich. Gerade durch Letzteres
allein konnte man die fremden Kapitalisten bewegen, ihre Gelder in den sardi¬
nischen Anlehen anzulegen, und diesen einen günstigen Cours auf den Weltbörsen
verschaffen. Der Gläubiger dieses Staates mußte die sichere Garantie haben, daß
alle unnöthiger Ausgaben in demselben vermieden und vorher der Genehmigung
der Kammern unterzogen werden würden; dies nnr allein konnte ihn bewegen,
sein Geld demselben darzuleihen. Wie sehr dies aber, Dank sei es der Oeffent-
lichkeit des sardinischen Staatshaushaltes und der tüchtigen Wirthschaft der Leiter
desselben, gelungen ist, zeigt noch heute der verhältnißmäßig günstige Stand aller
Papiere Sardiniens ans den Börsen in London und Amsterdam. Das kleine be¬
siegte Sardinien hat einen bessern Credit bei den fremden,! wie auch einheimischen
Capitalisten, als das große siegreiche Oestreich, — weil es ein aufrichtig konstitutionell
regiertes Land ist und seine Schulden von den Ständen garantirt und ohne
deren Genehmigung nicht vermehrt werden dürfen. Gerade diese finanzielle
Wohlfahrt des Landes, seit Einführung der jetzigen Konstitution, hat manche
sonst eifrige Gegner derselben schon sehr damit versöhnt.
Ein zweiter Feind des constitutionellen Systems in Sardinien, der an ge¬
wissen Kreisen in Wien einen gewichtigen Rückhalt findet, ist ein Theil der Geist¬
lichkeit des Landes. Die sardinische Geistlichkeit erfreute sich sonst vielfacher und
oft sehr bedeutender Privilegien auf Kosten des allgemeinen Wohls, die ihr der
neue Zustand der Dinge seit dem Jahr 48 fast alle geraubt hat. Kein Wunder
also, daß viele ihrer Mitglieder gerade nicht sehr erfreut über denselben sind,
und jene guten alten Zeiten zurückwünschen. Von Wien und Rom aus sah man
solche Unzufriedenheit eines großen Theiles dieses mächtigen und einflußreichen
Standes ungemein gern, und sparte kein Mittel, dieselbe noch mehr zu
steigern. Man hetzte und schürte, wo man nur konnte, und eigene Agenten sind
von Rom aus wiederholt ausgesandt wordeu, um unter den sardinischen Geist¬
lichen noch mehr Opposition gegen die jetzigen Principien der Regierung zu
verbreiten und zu gemeinsamen offenen Erklärungen und heimlichen Intriguen
dagegen anzuspornen. Besonders die Jesuiten haben mit gewohnter Schlauheit
auch hier die Hand im Spiele gehabt. Die bekannten Zerwürfnisse des Turiner
Ministeriums mit einem Theil der Geistlichkeit, besonders einigen höheren Würden¬
trägern derselben, sind größtentheils dnrch jesuitische Umtriebe hervorgerufen wor¬
den, wie in Sardinien selbst allgemein bekannt ist. Ein förmliches Netz hat die
Propaganda' in dieser Hinsicht über das Land zu ziehen gesucht, und kein Mittel
gescheut, um ihren Einfluß auszubreiten. Daß diese großartigen Anstrengungen
der ultramontanen Partei nicht ohne Erfolg geblieben sind, und der gedeihlichen
Entwickelung des constitutionellen Princips im sardinische» Staat schou manche
schwere Hindernisse bereitet haben, ja in der Zukunft noch mehr bereiten werden,
ist nicht zu läugnen. Der Umstand aber, daß man sehr bald das Wiener Cabinet
als den eigentlichen Mittelpunkt dieser ultramontanen Intriguen in Sardinien
entdeckte, schwächte sehr bedeutend ihre Wirkung. Sehr Viele der sardinischen
Geistlichen sind vor Allem zuerst Italiener, dnrch und durch Italiener, und als
solche hassen sie Alles, was von Oestreich kommt, auf das Tiefste. Sobald
viele Pfarrer, besonders auf dem Lande, daher erst die Ueberzeugung gewonnen,
daß man östreichischer Seits eine große Freude an allen ihren oppositionellen
Bestrebungen habe, und sie auf jegliche Weise zu begünstigen suche, zogen sie sich
augenblicklich von denselben zurück. Lieber selbst den gewünschten Zweck nicht
erreichen, ja auch Opfer bringen, als, wenn auch nur auf indirecte Weise, Oest¬
reichs Plane befördern, diesen Gedanken hegen viele sardinische Geistliche, und
sprechen ihn ohne Scheu aus. Ein ziemlich hoher Prälat, mit dem der Zufall
uns näher zusammenführte, sprach sich mit großer Unumwundenheit darüber aus.
„Ich bin ein entschiedener Gegner der Verfassung von 48 gewesen, die uns
Geistlichen viel geraubt hat, und deren Nutzen in den meisten Dingen ich auch
noch nicht einsehen kann, und habe daher stets meinen Einfluß gegen dieselbe
angewandt. Da ward mir aber die Ueberzeugung, daß manche Herren in Mai¬
land nud Rom, die jetzt thun, was man in Oestreich gern sieht, sich so lebhast
für die Abschaffung derselben interessirten, und seit jener Zeit habe ich mich von
allen Bestrebungen dagegen gänzlich zurückgezogen. Könnten 'wir sardinischen
Geistlichen doch am Ende sonst noch zu Werkzeugen der Oestreicher dienen, und
davor beschütze uns Gott. Solche Gesinnungen, wie ich, hegen aber viele meiner
Amtsbruder, und die noch nicht zu denselben gekommen sind, werden mit der Zeit
noch mehr dies wünschen." Solche und ähnliche Worte sprach dieser sardinische
Geistliche, und wie man uns allgemein sagte, sollen dergleichen Gesinnungen häufig
verbreitet sein.
Hat doch diesen tiefen Haß aller Italiener gegen Oestreich auch stets ein
nicht geringer Theil der Geistlichkeit in den lombardisch - venetianischen Provinzen
getheilt, obgleich er stets ans jegliche Weise von dem Wiener Cabinet begünstigt
ward. Vom Erzbischof von Mailand an abwärts hat ein großer Theil derselben
sehr lebhaften Antheil an der Revolution von 18i8 genommen, und auch jetzt
wieder sind gar viele lombardisch-venetianische Geistliche nichts weniger, als gut
östreichisch gesinnt, und selbst unter den Hochaltären der Kirchen sind in diesem
Jahre noch ansehnliche heimliche Wasservorräthe aufgefunden worden.
Dazu kommt, daß die sardinischen Geistlichen jetzt sehen, daß ihre Amts¬
bruder in den italienischen Landen, die von östreichischen Truppen besetzt sind,
in einer viel üblem Lage sind, als sie selbst. In Oestreich und Allem, was
diesem unterworfen ist, herrscht jetzt das Militair unbedingt, und dadurch ist
der Einfluß der Geistlichkeit ganz ungemein geschwächt worden. Wenn auch
das ^k. k. Heer im Ganzen ultramontanen Zwecken dienen muß, so hegt es doch
sehr geringe Neigung, sich der geistlichen Herrschaft zu unterwerfen. Es finden
sich unter deu buntartig genug zusammengesetzten k. k. Officiercorps unend¬
lich wenig ultramontane Elemente, und eine sehr große Toleranz, ja richtiger
Indifferentismus, in allen religiösen Dingen, herrscht großenteils in demselben.
„Pfaff und Lieutenant", um uns eines vielfach gebrauchten Ausdrucks zu bedienen,
in einem Dorfe können sich selten gut mit einander vertragen, und in der tägli¬
chen Praxis muß sich der Krummstab vor dem Schwerte neigen. Besonders
in Italien tritt dies ziemlich sichtlich hervor, und die k. k. Officiere lassen es
den einzelnen Geistlichen oft fühlen, wie wenig sie an deren aufrichtige Gesinnung
für den Kaiserstaat glauben, trotzdem daß äußerlich Alles in der besten Harmonie
zu sein scheint, und Hochämter und Processionen gemeinschaftlich mit einander
gefeiert werden.
Trotz aller angeborenen Abneigung gegen den Constitutionalismus lernt daher
die sardinische Geistlichkeit immer mehr einsehen, daß derselbe besser sei als eine
Militairdictatur, besonders wenn solche wie im Kirchenstaat und Toscana von
Oestreich ausgeübt werden sollte; daß man aber den Constitutionalismus in
Sardinien nicht ohne fremde Militairhilfe stürzen kann, weiß man auch, und so
sängt in letzterer Zeit der größere Theil des Klerus an, ihn als ein für jetzt
wenigstens unabänderliches Uebel zu ertragen, und dem größern, dem Einmarsch
fremder Truppen vorzuziehen. Aber so viel Terrain hat das constitutionelle
Princip noch nicht erobert, daß nicht von manchen, besonders höheren Geistlichen
im Geheimen noch ziemlich stark gegen dasselbe gewühlt würde. Dieser Theil
des Klerus ist gerade derjenige seiner Gegner, der ihm für die Zukunft die
größte Gefahr bringen dürfte.
Ein anderer Feind des Constitutionalismus in Sardinien ist ein Theil des
Adels. Auch dieser mußte manche Privilegien aufgeben, und ist daher mit
dem neuen Zustand der Dinge wenig zufrieden. Aber auch der sardinische Edelmann
fühlt sich wie der Geistliche vor Allem als Italiener, und dieses stolze National¬
gefühl hält ihn ab, sich Bestrebungen anzuschließen, die man in Wien und Mai¬
land gern sehen würde. So ersetzt auch hier der Haß gegen Oestreich, was die
Liebe zum constitutionellen Princip nicht bewirken kann. Einzelne wenige vor¬
nehme Edelleute, z. B. Marquis Pallavicini, ein Genueser, die diesen allgemei¬
nen Haß ihrer Standesgenossen gegen Oestreich nicht' theilten, sollen sich
deshalb so unbehaglich unter denselben befunden haben, daß sie eine Auswanderung
vorzogen. Auch am Königshofe in Turm selbst soll diesen Herren gerade keine all¬
zu große Gunst mehr blühen, denn auch der jetzige König Sardiniens ist vor
Allem ein Italiener. Dieses Nationalgefühl bricht auch den Intriguen, die am
in der Hofcotterie sonst vielfach gegen den Constitutionalismus versuchen würde,
größtenteils ihre Spitze ab. Im Kleinen und gegen einzelne gar zu eifrige
Persönlichkeiten intriguirt man dort wol und zwar oft mit vielem Glück, das Princ.ip
selbst läßt man aber unangefochten, weil man die zu seiner etwaigen Unter¬
drückung nothwendige k. k. Hilft mehr als alles Uebrige haßt.
Ueber die Haltung des Heeres haben wir uus im Wesentlichen schon in
unsrem ersten Artikel ausgesprochen. Auch hier vermindert die Abneigung gegen
Oestreich gar sehr diejenige, welche man sonst vielleicht vielfach gegen die neue,
ungewohnte Constitution hegen würde. Dazu kommt, daß die Kammern in
Turin, mit sehr geringen Ausnahmen, umsichtig geung find, die Wichtigkeit, ja
selbst Unentbehrlichkeit eines tüchtigen Heeres für den sardinischen Staat armer-
kennen. So sparsam man sonst auch mit Recht im Staatshaushalt ist, alle
erforderlichen Ausgaben, um die Armee stets in gutem und vollkommen schlag¬
fertigen Zustand zu erhalten, werden gern und ohne Knauserei und gehässige
Discussion bewilligt. Auch erkennt man — einzelne Ausnahmen natürlich ab¬
gerechnet— gern an, wie tapfer das sardinische Heer sich 48 und i9 gegen den
überlegenen Feind geschlagen, und so wenigstens die Ehre des Landes vollkommen ge¬
wahrt hat. Dies aber macht dasselbe auch wieder deu Kammern gewogen, und so kann
man die sardinische Armee in ihrer großen Gesammtheit als eine gut und auf¬
richtig constitutionell gefilmte' betrachten. Tauchen hier und da auch uuter einzelnen
Ofstciren reactivnaire Wünsche oder Bestrebungen auf, so gehen dieselben im
Ganzen doch ziemlich spurlos wieder verloren. '
Mit der Nationalgarde lebt die Armee, einzelne kleine Zänkereien, die überall
vorkommen werden, abgerechnet, im besten Einvernehmen. Das gleiche Band
des tiefsten Hasses gegen Oestreich umschlingt Beide so fest, daß manches andere
Ungleiche dagegen verschwinden muß. Das Heer weiß, daß eine gut und kräftig
organisirte Nationalgarde ihm bei einem etwaigen Kampfe gegen Oestreich von
großem Nutzen ist, indem sie seine Reserve bilden muß. Es sucht daher die
militärische Ausbildung derselben zu unterstützen, statt die größere Ungeübtheit
lächerlich zu machen. Die Nationalgarde hingegen sieht im Heere den Kern der
bewaffneten Macht des Landes, der, wenn die feindlichen Kanonen donnern, in
erster Reihe stehen, die blutigsten Kämpfe ausfechten muß. Von so kindische^
Gedanken mit bloßen Nationalgarten und Freischaaren die sestgegliederten Heeres-
theile Oesterreichs im offenem Felde schlagen zu wollen, ist man anch im Volke
Sardiniens längst zurückgekommen. Weil aber die Nationalgarde weiß, wie
unentbehrlich ihr das Heer ist, achtet und liebt sie dasselbe mit Recht und läßt dem¬
selben, wie sichs gebührt, in allen militärischen Sachen anch im Frieden den Ehrenplatz.
Wir glauben, daß schwerlich ein zweites Land aus dem europäischen Continente
gefunden werden dürfte, wo Heer und Nationalgarde in so innigem Verbände
stehen, und so einträchtig auf ein Ziel, die Wehrkraft des Landes zu verstärken,
hinwirken. Die Gesinnung der sehr gut organisirten Nationalgarde ist entschieden
constitutionell, und die Verfassung hat einen Hüter, der sie nöthigenfalls mit den
Waffen in der Hand vertheidigen würde.
Vielfache Verlegenheiten haben der constitutionellen Negierung in Sardinien
manche der Flüchtlinge, denen sie gastfreundlich ein sicheres Asyl gegeben hatte,
bereitet. Unter ihnen sind viele jugendliche Hitzköpfe, die das Unmögliche ver¬
langen, oder erbitterte Menschenfeinde, die nur Streit und Krieg um jeden Preis
wollen. Die Freiheit, welche sich dieselben in der Presse Heransnahmen, die zu
einem großen Theil von ihnen früher beherrscht ward, artete oft in Frechheit aus.
Sie forderten beständig Neuerungen über Neuerungen im Inlande, ohne vorher
erst einen sichern Boden für dieselben gegründet zu haben, oder Zank und Streit
mit allen übrigen auswärtigen Staaten. Natürlich wurde solch unbändiges Be¬
tragen von den vielen Gegnern des constitutionellen Systems mit Freuden gesehen
und nach Kräften ausgebeutet, und sie wußten mit ihren übertriebenen Darstellungen
sehr geschickt aus ängstliche und ruheliebende Gemüther zu wirken. Sie nannten
diese Auswüchse schadenfroh die nothwendigen Früchte des Systems. Das zügel¬
lose Treiben vieler unbesonnener Freiheitöschwärmer verwickelte zuletzt das sardi-
nische Ministerium in so mannichfache Verlegenheiten nach Innen und Außen hin,
daß es sich entschließen mußte, demselben ein Ende zu machen. Einzelne der gar
zu radicalen Blätter verurtheilten die Gerichte wiederholt zu so empfindlichen
Strafen, daß sie es vorzogen, entweder einzugehen, oder doch ihren Ton den
bestehenden Verhältnissen mehr anzupassen. Auch von den unruhigsten Flücht¬
lingen haben mehrere nothgedrungen oder freiwillig jetzt das Land, dem sie manche
Verlegenheiten bereiteten, verlassen. So ist im Allgemeinen die Haltung der
sardinischen Presse gegenwärtig eine ruhig gemäßigte und der allmählichen ge¬
deihlichen Entwickelung eines aufrichtigen constitutionellen Systems förderliche.
Haben übrigens manche Flüchtlinge dem Staate durch ihr unruhiges Be¬
nehmen Ungelegenheiten genug gemacht, und erfordern andere anch vielfache Unter¬
stützungen, um vor Maugel gerettet zu werden, so hat doch Sardinien von den¬
selben im Allgemeinen weit «großem Vortheil wie Nachtheil gehabt. Es befinde»
sich unter diesen nach Sardinien Ausgewanderten, besonders unter den Lombarden,
eine Menge wohlhabender und intelligenter Familien, die jedem Staate, in dem
sie eine neue Heimath suchten, nur Vortheil bringen konnten. Große Ankäufe
im Grundbesitz sind von denselben schon gemacht, und namentlich auch mehrere
bedeutende industrielle Unternehmungen begonnen worden. Besonders Turm,
wo mehrere Hunderte solcher Flüchtlinge nud darunter mit die reichsten Edel¬
leute der Lombardei wohnen, hat in pecuuiairer Hinsicht sehr dadurch ge¬
wonnen. Auch aus anderen Staaten Italiens fühlen sich viele Wohlhabende
von den geordneten Zuständen Sardiniens angezogen, und verlegen ihren Wohnsitz
dorthin.
Ein neuer und sehr gefährlicher Feind der gedeihlichen Entwickelung des
constitutionellen Systems in Sardinien ist demselben möglicher Weise durch die
Staatsveräuderuug in Frankreich erstanden. Bis jetzt ist man zwar noch nicht
zum offenen Augriff von dieser Seite geschritten, aber was in Belgien geschehen
ist, prophezeiht nichts Gutes. Es ist auch uicht zu läugnen, daß man von fran¬
zösischer Seite das constitutionelle System in Sardinien leichter bekämpfen kann,
als von östreichischer. Gegen Oestreich hat der sardinische Constitutionalismus in
dem Nationalhaß einen mächtigen Bundesgenosse«, der gegen Frankreich ganz
wegfällt. Giebt es doch im sardinischen Staate, besonders in Savoyen, eine
gar nicht schwache Partei, die eine Einverleibung oder ein Protectorat durch
Frankreich sehr geriv sehen wurde. Auch die sardinischen Regimenter würden sich
am Ende in das Loos finden, Theile des französischen Heeres zu werden. So
viel ist gewiß, um den Preis einer Hilfe im Kriege gegen Oestreich könnte Louis
Napoleon von Sardinien sehr viel, ja vielleicht die Verzichtleistung aus eine
constitutionelle Regierungsform erlangen.
Dies ist der jetzige Zustand des constitutionellen Systems in Sardinien.'
Man sieht, für die Gegenwart wenigstens noch sind die Freunde desselben weit
mächtiger und namentlich einiger als seine Gegner.
Wer aber die segensreichen Folgen sehen will, welche die neue Verfassung
schon in den wenigen Jahren ihres Bestehens ans alle Verhältnisse Sardiniens
ausgeübt hat, der betrete nur dessen Grenzen. Welch Unterschied in Allem, so
wie man den Ticino überschritten hat. In Sardinien brauchen die Postwagen
keine starke Bedeckung, die Landstraßen sind nicht, wie überall sonst in Italien,
mit Gendarmerie und Militärpatrouillen bedeckt, und doch reist man überall mit
der größten Sicherheit; überall herrscht Ruhe und Ordnung, ohne zu ihrer Auf¬
rechterhaltung der Bayonette nöthig zu haben. In dieser Hinsicht bildet Sar¬
dinien eine glänzende Ausnahme vor allen Staaten der italienischen Halbinsel,
Außer in den ganz arme», rauhen Gebirgsgegenden Savoyens, herrscht
überall keine große, wenigstens sichtbare Armuth, und die Schaaren der Bettler
jeglichen Alters und Geschlechts, die sonst in Italien den Reisenden fast zur Ver¬
zweiflung bringen, haben sich hier sehr verringert; auch die Wunden der letzten
Kriegsjahre sind schon größtentheils vernarbt, und wenn anch die Steuerlast,
die das Land zu tragen hat, sehr bedeutend ist, so wird doch ihr Druck durch
eine sehr zweckmäßige, besonders die ärmeren Klassen schonende Verkeilung be¬
deutend gelindert. Auch hierin ist der Sardinier in großem Vorzug gegen seineu
Nachbar, den Longobarden, der außer hohen Abgaben noch eine große und
sast beständige Einquartierungslast zu tragen hat.
Für eine schnelle und gerechte Justiz, dieses erste Erforderniß eines ge¬
sunden Staatslebens, wird von Turin ans alles Mögliche gethan, und man hat
in den letzten Jahren sehr umfassende Reformen durchgeführt, deren Wohlthätig¬
keit auf den heillosen Zustand, in dem sich die Gerechtigkeitspflege in dem
übrigen Italien befindet, sich noch lebhafter fühlbar macht.
Der Schulunterricht, der bis zum Jahre 18i8 in ganz. Sardinien, wie
überall in Italien, sehr darnieder lag, wird nach besten Kräften jetzt gehoben.
Daß dies nicht so rasch geht, und besonders die ländlichen Schulanstalten noch
Vieles zu wünschen übrig lassen, darf nicht verwundern. Ein gutes Volksschul-
wesen kaun selbst beim eifrigsten Willen nicht in einigen Jahren hervorgezaubert
werden. Es bedarf vor Allem tüchtiger Lehrer für dasselbe, und diese fehlen
noch vielfach im Königreich Sardinien, und müssen erst allmählich herangebildet
werden. Der gute Wille hierzu ist aber bei dem Ministerium, wie bei den
Kammern vorhanden, und treten nicht störende Einflüsse von Außen dazwischen,
so kann man sich der Hoffnung hingeben, mit der Zeit das ganze Volksschul¬
wesen ans eine, den jetzigen Anforderungen besser entsprechende Stufe gebracht
zu sehen.
Die höheren Unterrichtsanstalten in Sardinien sind vortrefflich und nehmen
einen ungleich höhern Rang wie die in allen übrigen italienischen Staaten ein.
Den Jünglingen ans den k. k. östreichischen Provinzen ist natürlich jetzt der
Besuch der sardinischen Lehranstalten und Universitäten auf das Strengste unter¬
sagt, wäre dies nicht der Fall, so würden sie fast ohne Ausnahme dieselben be¬
suchen. Auch einige vortreffliche militairische Schulen, ganz nach bewährten
französischen Mustern eingerichtet, sind in den letzten Jahren in Sardinien er¬
öffnet worden.
Für die Belebung vou Handel und Industrie wendet die umsichtige sardinische
Regierung alle Kräfte an, und ihre Bemühungen sind bis jetzt von dem besten
Erfolg begleitet. Besonders für Straßenbauten und Eisenbahnanlagen geschieht,
trotz der noch nicht getilgten Kriegskosten, sehr viel. Ist erst die großartige
Eisenbahn, die Genua über Turin mit den schweizerischen Eisenbahnen bis nach
Basel hinauf verbindet, vollendet, so wird dann, wenn Friede bleibt, trotz der un¬
geheuren Terrainschwierigkeiten, in einigen Jahreli eine der Hauptstraßen des
Weltverkehrs von England nach dem Orient, durch sardinisches Gebiet, von
Genua über Basel und Cöln nach Ostende, der leichteste und kürzeste Eisenbahn¬
weg zwischen der Nordsee und dem Mittelmeer sein. Auch der gesammte schwei¬
zerische und deutsche Handel, welcher durch die Hamburger und Bremer oder
Berliner und Leipziger Bahnen aus die Frankfurt-Basel-Gcnuaer Bahn geführt
wird, findet auf dieser dann den kürzesten Weg nach ,dem größten Theil des
Orients. Die Vortheile, welche das bereits durch seine Lage äußerst begünstigte
Genua vou dieser Verbindung ziehen wird, sind außerordentlich. Schon jetzt herrscht
in Genua eine ungemein rege Handelsthätigkeit, die erfreulich von dem öden,
immer mehr verarmenden Venedig absticht.
Dies ist in flüchtigen Umrissen das Bild, welches Sardinien, der einzige
constitutionell regierte Staat Italiens, jetzt zeigt. Mit Stolz und Befriedigung
können die Anhänger des constitutionellen Princips darauf hinweisen, welche
Fortschritte er durch Hilfe seiner modernen Verfassung gemacht, und wie er durch
dieselbe eine Kraft und eine Selbstständigkeit erlaugt hat, deren sich keiner seiner
italienischen Nachbarn erfreut. Allerdings haben sich noch nicht alle Elemente des
Staates mit den neuen Zuständen verschmolzen, aber auch sie werden sich einfügen,
wenn nicht — was wir nicht hoffen wollen — übermächtige Stürme von Außen
das so glücklich begonnene Gebäude vor seiner Vollendung umstürzen.
Die drei Nachwahlen in Berlin sind zu Gunsten der Opposition ausgefallen.
Die Herren Pvchhammer und Reimer, die im zweiten und ersten Wahlkreise den
Sieg davon trugen, gehörten in der vorigen Session den Fractionen Helgoland
und Baumstark an; der im vierten Wahlkreise gewählte Geh. Oberregieruugsrath
Mathis ist das thätigste Mitglied der Partei Bethmann-Hvllweg; er siegte über
den Polizeipräsidenten v. Hiuckeldey. Daß Reimer den Justizminister Simons
mit 2i8 gegen 1ö6 Stimmen aus dem Felde schlug, obgleich der Herr Minister¬
präsident in der zutraulichen und bürgerlichen Weise, deren Wirkung er nicht nur
an dem hierdurch leicht zu bestechenden Spießbürger, souderu auch an einsichts¬
volleren Personen erprobt hat, für seinen Collegen in der Vorversammlnug auf¬
trat, wird Ihnen die Richtigkeit meiner frühern Angabe bestätigen, daß die Wahl
des Herrn v. Manteuffel, durch dessen Ablehnung diese Nachwahl erforderlich
gemacht war, lediglich einer Ueberrumpelung zugeschrieben werden muß. Jetzt,
nachdem sich ruhigere Ueberlegung eingestellt hatte, wollte auch die in den Zeitungen
verbreitete Nachricht von der „entschiedensten Opposition", welche v. Manteuffel
und Simons den ritterschaftlichen Bestrebungen des Herrn v. Westphalen entgegen¬
gestellt hätten, uicht mehr recht verfangen. Die Majorität sammelte sich und
brachte es durch die Nachwahl dahin, daß jetzt die drei Abgeordneten dieses
Kreises, Kühne, Bock und Reimer, sämmtlich der Opposition angehören.
Uebrigens kann ich es njcht unterlassen, an der unbefangenen Hoffnung, die
Sie in der Anmerkung zu meinem letzten Briefe in Betreff der Nachwahlen für
mehrfach gewählte Abgeordnete ausdrücken, mit Ihrer Erlaubniß etwas zu rütteln.
Es giebt jetzt nichts Unzuverlässigeres als eine Nachwahl. Daß die Betheiligung
an ihr stets geringer ist als bei dem ersten Wahlact, scheint eine unbestrittene
Thatsache zu sein, die sich im Allgemeine» durch das geringe, für zwei in kurzer
Zeit auf einander folgende Wahlacte nicht hinreichende Interesse erklären läßt, und
die natürlich auf dem platten Lande, wo der größte Theil der Wahlmänner mehrere
Meilen reisen muß, uoch schärfer als in den. Städten hervortritt. Aber das
verdient ausdrücklich bemerkt zu werden, daß die Fehlenden nicht in der richtigen
Proportion sich auf die frühere Majorität und Minorität vertheilen, sondern daß
die Majorität durch die Nachlässigkeit der Wahlmänner der Regel nach mehr
leidet, so daß ein Umschlag des Stimmenverhältnisses leicht erfolgt. Die Be¬
merkung des Einzelnen, daß der Kandidat seiner Partei auch ohne seine Stimme
bei der ersten Wahl augenscheinlich den Sieg davon getragen haben würde, ist
meistens richtig; und die daraus gezogene Folgerung, daß er ohne Gefahr bei
der Nachwahl fortbleiben könne, ist eben so bequem, wie falsch. Diese Erscheinung
eines veränderten Stimmenverhältnisses kann man bei Nachwahlen für Opposttions-
candidaten mit ziemlicher Bestimmtheit als Regel aufstellen; denn zu den bereits
angedeuteten Gründen für die Erschlaffung der Majorität treten in diesem Falle
noch neue und sehr wirksame Motive hinzu. Daß die Zahl der Personen, denen
es völlig gleichgiltig ist, ob sie mit der Polizei und der Regierung auf freund¬
schaftlichem Fuße stehen oder nicht, bei uns sehr gering ist, habe ich an diesem
Orte schon einmal hervorgehoben; aber auch da, wo eine Abhängigkeit von den
Behörden nicht stattfindet, greift die öffentliche Abstimmung nicht selten in die
Geschäftsverhältnisse des Einzelnen störend ein, so daß ein Wahlact in dieser
Form auch für viele scheinbar unabhängige Personen mehr eine Unannehmlichkeit
als ein Vergnügen ist. Zweimal in kurzer Frist für Oppositionscaudidaten
stimmen, scheint hartnäckig nud tendenziös; und es wird für den Einzelnen um
so peinlicher, wenn er vielleicht in der Zwischenzeit schon die verdrießlichen Folgen
seiner ersten Abstimmung gespürt zu haben glaubt, auch da, wo sie nicht, wie
jetzt in Breslau, durch eine öffentliche Annonce provocirt werden. Solche Be¬
trachtungen geben um so eher deu Ausschlag, wo man sich um einer Sache willen
gefährden soll, deren Sieg doch noch immer nicht in Aussicht steht. Das sind
die Momente, deren Zusammenwirken den Ausfall der Nachwahlen für Oppo¬
sitionscaudidaten so zweifelhaft machen, daß ich bei meiner Berechnung der Partei-
starke die Doppclwahlen von Oppositionscaudidaten stets nur als einfache in
Anschlag brachte. Es ist wichtig, sich dieses Verhältniß ganz klar zu machen,
um sich zu überzeugen, daß die Oppositionspartei gerade bei solchen Nachwählen
mit ganz besonderer Umsicht und Energie zu Werke gehen muß. Unter den
Gründen, daß das Stimmcnverhältniß während der verflossenen Legislaturperiode
eine so totale Umgestaltung erfuhr, nimmt der Umstand, daß die constitutionelle
Partei jene Regel noch nicht klar erkannt hatte, eine vorzügliche Stelle ein.
Daß jetzt in Cöln statt Camphansenö der klerikale Kandidat, in Duisburg statt
der Herren Kühne und Bethmann-Hvllweg die ministeriellen Kandidaten den Sieg
davon trugen, beweist, daß die frühere Majorität von dem zweifelhaften Cha¬
rakter der Nachwahlen nicht hinlänglich überzeugt war.
In Stelle Neander's ist von dem hiesigen Gemeinderath der Oberconsistorial-
ratl), or. Nitzsch in die erste Kammer gewählt worden. Nitzsch ist bekanntlich
das einzige Mitglied des Oberkirchenraths, welches rein und treu an der kirch¬
lichen Union, dem von dem verstorbenen Könige mit so vieler Hingebung und
Ausdauer geförderten Kriedenswerke, festhält. Er nimmt deshalb in jener Be¬
hörde eine isolirte, man möchte fast sagen, blos geduldete Stellung ein; und daß
er in ihr überhaupt noch einen Platz behält, ist wol weniger dem Umstände,
daß die von ihm vertretene Sache unter seinen Kollegen noch eine zustimmende
Anerkennung findet, als der Persönlichkeit dieses würdigen und gelehrten Theo¬
logen beizumessen; es schien noch nicht rathsam, schon jetzt und an einem solchen
Manne den Bruch mit der kirchlichen Union in auffälliger Weise zu markiren.
Wir hoffen, daß der Gewählte, nachdem er auch zu politischer Wirksamkeit berufen
ist, es nicht verkennen wird, wie die Versuche, durch eine Zerreißung des Landes
in scharf gesonderte Provinzen, und schließlich in die ursprünglichen Territorien,
aus denen Preußen im Laufe der Jahrhunderte mühsam zusammengewachsen ist,
die Staatseinheit zu stören; wie serner die Versuche, das Volk in Stände zu
zerklüften und diese damit zu beauftragen, ihre Specialinteressen gegen einander
wahrzunehmen und geltend zu machen; und wie endlich die unduldsamen Be¬
strebungen auf dem ihm besonders nahe liegenden kirchlichen Gebiete, die Con¬
traste der Konfessionen in ein grelles Licht zu stellen und auch hier das Werk
der Eintracht, die Union, allmählich zu zerbröckeln, alle aus derselben Quelle
stammen, aus dem Geiste, der Staat und Kirche in Atome zersetzt, um die ge¬
meinsamen höheren Ideen durch crasser Materialismus absorbiren, und jede
höhere Einigung durch Anstachelung der exclusiver Subjectivität stören
zu lassen.
In Betreff der Parteistellung in der künftigen zweiten Kammer hat das
C. B. eine Zusammenstellung geliefert, die leicht zu schiefen Ansichten, unbegrün¬
deten Erwartungen und in Folge dessen zu schädlicher Entmuthigung Anlaß
geben könnte. Die genannte Lithographie wirft Polen und Ultramontane schlecht¬
weg in die Opposition. Das ist irrig. Die Polen haben in der letzten Zeit
nur bei der deutschen Frage zusammengehalten und hier das Nichtinterventions-
priucip befolgt, im Uebrigen stimmten sie mit verschiedenen Parteien, die Mehr¬
zahl, wie Graf Cießkowski, v. Zoltowski, v. Morawski, Sobeski u. A. mit der
Linken, Andere, wie Graf Poninski, v. Pokrzywnicki mit der Rechten. Unter
den jetzt gewählten Polen befinden sich mehrere mir unbekannte Personen, und
es ist anzunehmen, daß auch dieses Mal wieder eine Minorität mit der Negie¬
rung gehen wird. Eben so waren bisher eifrige Katholiken in allen Parteien
zu finden; nur eine geringe Anzahl hatte sich vereinigt, unter der Führung der
Herrn Reichensperger und 'Osterrath einen eigenen Gang einzuschlagen, —
ein Versuch, der unter ihren Glaubensgenossen bisher keinen großen Anklang
fand. In der nächsten Session wird diese Fraction allerdings bedeutend stärker
sein; welche Stellung sie aber in den nichtkirchlichen Fragen einnehmen wird, ist
um so zweifelhafter, als das Austreten der Fraction schon früher, trotz einer
leichten liberalen Färbung, völlig unberechenbar war. Herr Reichensperger wurzelt
mit seinem ganzen Wesen zu sehr im Mittelalter, als daß er für ein consequentes
Vertreten liberaler Grundsätze eine Bürgschaft liefern könnte. Wer Gelegenheit
gehabt hat, das große Aergerniß kennen zu lernen, welches ihm Bauwerke, wie
unser altes Museum, das Brandenburger Thor mit seiner Victoria u. a. einflößen,
— Bauwerke, bei deren Anblick uus profanen Menschenkindern lustig die Seele
ausgeht — wird den Eindruck mitgenommen haben, daß ein Mann, der mit
solcher Hartnäckigkeit in eine ganz einseitige Richtung verrannt ist, der die ver¬
schiedensten Gebiete der Kunst und des Lebens nur von seinem exclustveu kirch¬
lichen Standpunkt beurtheilt und gleichwol durch seine Bildung, wie durch die
Welt, in der er lebt, zu einer- unbefangenen Anschauungsweise gedrängt wird,
für die feudale Partei, zu der er seiner Grundstimmung uach gehört, wie für die
liberale Partei, zu der den Rheinländer Leben und Bildung ziehen, ein gleich
unzuverlässiger Bundesgenosse sein muß. Es ist daher Grund zu der Annahme
vorhanden, daß die Ultramontanen, die sich Herrn Reichensperger anschließen,
ein reines Centrum zu bilden, und bei Fragen, bei denen sie nicht speciell interessirt
sind, jede Resolution im Sumpfe der Mitte stecken zu lassen sich bemühen werden.
Jedenfalls wird die constitutionelle Partei gut thun, sich bei Zeiten und genau
über die Intentionen dieser Fraction zu unterrichten und sich nicht auf bloße
Vermuthungen hin durch die Hoffnung, hier und da die Majorität zu erlangen,
in eine schiefe Stellung drängen zu lassen.
Aus der andern Seite sondert das C. B. eine Fraction Kühne-Riedel als
linkes Centrum von der eigentlichen Linken ab. Was Herrn Kühne betrifft, so
pflegt er sich nicht einer bestimmten Fraction geradezu anzuschließen, sondern sich
auf einen ungebundenen freundschaftlichen Verkehr mit deu Mitgliedern der libe¬
ralen Partei zu beschränken; so ist er während der vorigen Session bei den Vor¬
berathungen der Fractionen Helgoland und Baumstark mehrmals zugegen gewesen,
und hat doch seine Ansichten über die handelspolitische Frage im „Preußischen
Wochenblatt" niedergelegt. Er wird von diesem Verfahren schwerlich abgehen,
am wenigsten in einer Zeit, in der er sich vielleicht veranlaßt fühlen könnte, bei
dieser oder jener Frage einen eigenthümlichen Gang einzuschlagen. Die Fraction
Riedel ist schon seit zwei Jahren mit der Fraction Helgoland so regelmäßig
Hand in Hand gegangen, daß die Sonderung lediglich formal ist. Da sie im
Sommer des vorigen Jahres durch Mandatöniederlegungen und ungünstige Nach¬
wahlen einige Einbuße erlitten hatte, kam am Beginn der letzten Session ihre
Verschmelzung mit der Fraction Helgoland zur Sprache; es zeigte sich jedoch bald,
daß sie noch eine genügende Anzahl von Mitgliedern besaß, und da hielt man
ihre Fortexistenz als gesonderte Fraction, vornehmlich zur Erleichterung der Vvr-
bcrathungen durch Bildung kleinerer Kreise, für empfehlenswerth. Ob dasselbe auch
jetzt der Fall sein wird, wo die constitutionelle Partei numerisch schwächer und
die Bildung eines wirklichen linken Centrums durch die Herren von Bethmann-
Hollweg und Mathis ziemlich sicher ist, scheint mir zweifelhaft. Jedenfalls wird
nicht eine Meinungsdifferenz, sondern nur die Rücksicht auf die Nützlichkeit für die
Entscheidung der Frage, ob die Fraction Riedel gesondert fortbestehen soll, ma߬
gebend sein.
Die Nachricht, daß Simson ein Mandat abgelehnt hat, ist zwar nirgends
dementirt worden; indeß muß ich mir erlauben, sie bis auf Weiteres zu bezwei-
sein. Familienverhältnisse machten es ihm allerdings dringend wünschenswert!),
bei den nächsten Wahlen übergangen zu werden; und da die Königsberger Libe¬
ralen sich bei der Wahl nicht betheiligen wollten, glaubte er auch, daß ihm eine Ent¬
scheidung erspart werden würde; doch war er stets entschlossen, falls wider Erwarten
eine Wahl ihn treffen sollte, dieselbe anzunehmen. Nach den mir zugegangenen
Nachrichten hat er diesen Entschluß auch nicht geändert, obgleich er an den
Kammersitzungcn in den ersten Wochen sich nicht wird betheiligen können; und
ich habe allen Grund, meiner Quelle mehr Glauben beizumessen, als der
Ostpr. Ztg.
Zu eiuer Charakteristik der neuen ersten Kammer fehlt mir die erforderliche
Personalkenntniß. Neben einem Demokraten und acht oder neun bekannten Kon¬
stitutionellen sitzen hier über 100 Personen, die entweder prononcirte Kreuz-
zcitnngsmänner sind, oder deren Namen schon einen so entschiedenen junkerlichen
Parfum verbreiten, daß der Duft des Weihrauchs, den Herr Nynv Quedl den
antiritterschaftlichen Tendenzen des Herrn Ministerpräsidenten spendet, sich hier
spurlos verflüchtigen dürfte. Wenn die Ritter an Herrn v. Manteuffel überhaupt
etwas zu bekehren finden, so wird die Zusammensetzung der ersten Kammer die
Konversion wesentlich beschleunigen; will er sich aber nicht bekehren lassen, wie
das C. B. versichert, so wird er eine Auflösung dieses hohen Hauses schwerlich
umgehen können, da er die verfassungsmäßige Ergänzung desselben durch die
Creirung erblicher und lebenslänglicher Pairs im antiritterschaftlichen Sinne nicht
wird empfehlen wollen. Wenn sich indeß dem Gange der Reaction Nichts weiter
als die Person des Herrn v. Manteuffel entgegenstellt, so wird sie ihren Weg
vollenden. Der Rnndschaner meinte zwar schon vor einiger Zeit, daß „die Sonne
der Reaction hoch am Himmel stehe;" wir meinen das nicht; uns scheint sie noch
immer im Steigen begriffen zu sein; aber es ist uns doch erfreulich gewesen, bei
dem Wortführer der Reaction den Gedanken durchbrechen zu sehen, daß die Zeit
nahe ist, wo" sein feudalistisches Gaukelspiel dem Untergange sich zuneigen wird.
Wir müssen inzwischen munter und unbeirrt auf der Wacht stehn., harrend, bis
die Einsicht in das Verderbliche der ritterschaftlichen Bestrebungen, durch bittere
Erfahrungen schneller gezeitigt, wie eine reift Frucht allem Volk in den Schooß
fallen wird; wir müssen nicht müde werden, den Blinden und Tauben die Zeichen
der Zeit zu erklären, und wenn uus wieder von „der Sonne der Reaction"
gesungen wird, die Kleinmüthigen durch ein anderes Liedchen aufrecht erhalten,
welches also lautet:
Und scheint die Sonne noch so schön,
Am Ende muß sie untergehn!
— Durch die Veröffentlichung der Protestationen gegen
das Kaiserreich im Moniteur hat Louis Napoleon die Welt zu überführen gesucht, daß
seine Herrschaft auf festen Fundamenten ruhe. Die offenkundiger Bezeigungen des
Enthusiasmus, die ihn auf seiner Reise aller Orten empfangen haben, und die wett¬
eifernden Huldigungen in Paris sind auch in der That nicht wenig geeignet, ihn
wenigstens selber in diesem Glauben zu befestigen. Es mag paradox scheinen, aber
wir sind fest überzeugt, daß er das Princip der Volkösouveraiuetät, durch welches er
sowol die Ansprüche der Legitimisten, als die der Republikaner zu widerlegen sucht,
ganz ernsthaft nimmt, obgleich er bei einer einigermaßen ruhigen Ueberlegung sich über
die Hebel, die er selbst angewendet hat, um dieses Princip in Bewegung zu setzen, nicht
täuschen könnte; aber er hat sich von der frühesten Jugend auf mit dieser Vorstellung
vertraut gemacht, und die überraschenden Erfolge der letzten Ereignisse haben ihn die
Motive ganz vergessen lasse», und wenn er heute alle Druckschriften verböte und jedes
Gespräch zwischen drei oder vier Personen unter polizeiliche Aufsicht stellte, so würde
er doch fest überzeugt sein, nur im Interesse der Volkssouverainetät zu handeln. Es
ist das eben ein ganz abstractes, inhaltloses Princip, aus dem man machen kann, was
man will.
Was jene Protestationen betrifft, so konnte er sie uuter den gegenwärtigen Um¬
ständen wol ohne Bedenken mittheilen. Die Urheber derselben haben vergessen, daß
sowol eine leidenschaftlich erregte, als eine feierlich salbungsvolle Sprache eine ganz
besondere Stimmung voraussetzen, um die richtige Wirkung zu thun; die gegenwärtige
Stimmung Frankreichs ist aber nicht dafür empfänglich, im Gegentheil dürfte das
Sendschreiben V. Hugo's durch die Reminiscenzen an die Guillotine, die es hervor¬
ruft, nur noch dazu beitragen, daß der Bürger sich immer fester an die neue Herrschaft
anklammert, die ihm wenigstens für den Augenblick Ruhe verheißt. Was den Herrn
Grasen von Chambord betrifft, so machen seine Manifeste immer den Eindruck einer
gewissen Sentimentalität und Resignation, die sür einen Kronprätendenten keine über¬
mäßig günstigen Aussichten.eröffne». Immer aus's Neue versichert er, den Bürgerkrieg
in Frankreich um keinen Preis hervorrufen, weder die Hilfe des Auslandes, noch einen
innern Aufstand zur Wiederherstellung seiner legitimen Herrschaft benutzen zu wollen.
Daß es ihm mit diesen Versicherunge» Ernst ist, zeigt sein völlig passives Verhalten
während der großen Krisis, wo kein öffentliches Recht einem Prätendenten im Wege
stand, und wo man das Ausbrechen eines wenigstens, partiellen Bürgerkriegs ohnehin
voraussetzen konnte. Diese Enthaltsamkeit mag sehr weise und sehr patriotisch sein,
aber man versteht nur nicht recht, wie er sich denn überhaupt die Wiederherstellung des
alten Bourboncnreichs vorstellt. Die Monarchie vo» Gottes Gnaden auf den vorüber¬
gehenden Willen des Volks gründen zu wollen, was ihm sein ehemaliger Anhänger,
der Marquis von Larokhe Jaquelein vorschlug, hat er ja mit der größten Entschiedenheit
zurückgewiesen. Da nun also die Armee in den Hände» des Gegners ist und die Kirche
sich auch nicht abgeneigt zeigt, mit dem neuen Cäsar i» das beste Einvernehmen zu
treten, so bleibt ihm keine andere Aussicht, als daß ein Wunder geschieht, und zwar
nicht was man gewöhnlich ein Wunder zu nennen pflegt, sondern ein ganz reales
Wunder im alten Styl, z. B> die Erscheinung der Jungfrau Maria aus dem Kirchthurm
von Notredame, oder etwas Aehnliches. Das bloße Festhalten des ewigen Princips
der Legitimität in seiner Person will noch nicht viel sagen, denn ähnliche Träger des
Legitimitätsprincips irren bereits in einer ziemlichen Zahl durch die verschiedenen Welt¬
theile herum.
Wenn aber von dieser Seite Louis Napoleon sür seine Herrschaft wenigstens vor¬
läufig nichts zu besorgen hat, so bleiben wir doch immer bei der Ueberzeugung stehen,
daß gerade die Macht, die ihn erhoben hat, wir meinen nicht die Volkssouverainetät,
sondern die Armee, wenn er dauernd aus sie rechnen will, ihn in eine Bahn herein¬
lenken wird, die wir in Deutschland nur mit Besorgniß beobachten können, und darum
wäre es wol ans das Ernstlichste zu wünschen, daß die deutschen Großmächte die inneren
Angelegenheiten, deren Erledigung nicht mehr lange auf sich warten lassen kann, im
großen Sinn, nicht in kleinlicher Eifersüchtelei auffassen möchten. —
Wir haben uns in der Zollsrage stets entschieden aus Seite Preußens gestellt
und sehen mit großer Genugthuung, daß wenigstens dem Anscheine nach die Regierung
an ihrem Princip festhält. Hier würden wir jede Concession sür verderblich halten.
Allein die handelspolitische Differenz soll nicht, wenigstens in diesem Augenblicke
nicht, in eine politische Gegnerschaft ausarten. So gut sich der alte Zollverein mit
der allgemeinen Sicherheit Deutschlands vertragen hat, so wird es auch der neue.
Nur Ungeschicklichkeit in den Formen kann es sein, die dies verkennen läßt. Freilich
führt eine solche Ungeschicklichkeit häufig zu den schlimmsten Folgen, und gerade in dieser
Zeit, wo dnrch die vorhergehenden politischen Bestrebungen die Eifersucht und das Mi߬
trauen der mittleren und kleinen Staaten in einem so unnatürlichen Grade gereizt sind.
Am verhängnißvollsten wäre die Fortdauer dieser Eifersucht bei denjenigen Staaten, die
durch die gegenwärtige Lage zu Preußens Verbündeten gemacht sind; denn eine Unzu-
verlässigkeit in diesen Regionen würde unfehlbar eine gereizte Stimmung hervorrufen,
welche die Angelegenheiten nur noch mehr verwickeln konnte.
In Beziehung auf diese Staaten empfehlen wir eine sehr geistvolle, mit Sach-
kenntniß und patriotischer Wärme geschriebene Brochure „Anschließen oder Ab¬
schließen? Beitrag zur Beantwortung der Frage: Wie soll Hamburg sich demnächst
zu dem preußischen Zollverbande stellen?" (Hamburg, Erie>) Sie weist sür jeden
ruhigen Beobachter aus das schlagendste nach, daß für Hamburg die politischen und
mercantilen Interessen Hand in Hand gehen, und daß beide einen unmittelbaren Anschluß
an die preußische Handelspolitik, um dann wieder auf die Richtung derselben einzuwirken,
dringend erheischen.
— Wir haben die Bildung der freien Gemeinden,
wie die der Deutschkatholiken, von vorn herein mit sehr gemischten Gefühlen betrachtet.
Wenn wir einerseits niemals verkannten, daß sie durch sehr fühlbare und nicht zu ver¬
kennende Mißstände in der Kirche hervorgerufen wurden, so waren wir doch auf der
andern Seite überzeugt, daß aus dem eingeschlagenen Wege nichts segensreiches erreicht
werden könnte. Die Stifter dieser dissentirenden Gemeinden gingen von dem Gefühl
aus, daß sie an dem gegenwärtigen kirchlichen Leben ohne Heuchelei nicht weiter theil¬
nehmen könnten, und daß andererseits doch ihr religiöses Gefühl eine äußerliche Be¬
friedigung, einen Cultus verlangte. Sie übersahen dabei nur, daß das Gefühl eines
solchen Bedürfnisses noch lange nicht die schöpferische Kraft ersetzt, die nicht blos zur
Gründung einer neuen Religion, sondern für jede religiöse Reform unerläßlich ist. In
den Gewohnheiten des alten Cultus aufgewachsen und instinctmäßig daran festhaltend,
wähnten sie, daß man die alte Form ohne Weiteres auf den neuen Inhalt übertragen
könne; sie wollten Erbauung und Andacht hervorrufen, indem sie doch jenen dunkeln
Hintergrund zerstörten, der bei den christlichen Kirchen aus die Phantasie einwirkt und
dadurch jene Stimmungen vermittelt. Die meisten Führer dieser Bewegung waren
Männer, die weder aus ihrem Geist noch aus ihrer Bildung die Berechtigung herleiten
konnten, den Gebildeten ihres Zeitalters neue Eröffnungen zu machen; auf der andern
Seite aber waren sie von der modernen Bildung viel zu sehr inficirt, um auf die naive
Masse wirken zu können. Aber wenn es anch nicht der Fall gewesen wäre, wenn sie
die höchste wissenschaftliche Bildung mit der größten Popularität und der eminentester
Persönlichkeit vereinigt hätten, so wäre es ihnen doch nicht gelungen, auf religiösem
Gebiet etwas Neues zu schaffen, weil dazu nothwendig jene Form des Glaubens gehört,
die sie entweder aufheben wollten, oder bereits als aufgehoben betrachteten. Zum Ver¬
stände wie zum Herzen kann man sprechen, wenn man seine Sache versteht und es
ehrlich meint; aber die Andacht basirt auf der Scheu vor etwas über dem Ver¬
stand und dem Herzen hinaus Liegenden, und diese muß empfangen, sie kann nicht
gemacht werden.
Es liegt uns in dieser Beziehung ein sehr lehrreiches Buch vor: „Alte und
neue Weltanschauung." Vorträge, gehalten in der freien Gemeinde zu Nordhausen
von Eduard Baltzcr. Dritte Sammlung. Neue Propheten. (Nordhausen, Förste-
mann.) — Schon die auf dem Umschlag hinzugefügte buchhändlerische Bemerkung: „Auf¬
geschnittene und beschmuzte Exemplare werden vom Verleger nicht zurückgenommen"
bringt eine entschieden nicht religiöse Stimmung hervor. Die Vorträge selbst beruhen
ans der Ansicht des religiösen Liberalismus, der Cultus, die Verehrung, die Pietät
seien etwas sehr Verständiges und Zweckmäßiges, und man habe bisher nur in der
Wahl der Gegenstände fehlgegriffen. Zu diesem Zweck werden an Stelle der Heiligen
des alte» und neuen Testaments eine Reihe von neuen Propheten der öffentlichen Ver¬
ehrung dargestellt. Es sind folgende: Arnold von Brescia, Wykliffe. Huß, Gutenberg,
Savonarola, Columbus, Luther, Zwingli, Dürer, Paracelsus, Copernicus, Keppler,
Galileis Bruno, Vanini, Campanella, Spinoza, Newton und Thomasius. Gewiß eine
Reihe recht stattlicher Namen, und der Prediger sucht auch in einem Schlußwort ihren
innern Zusammenhang und ihre Bedeutung für das neue religiöse Princip nachzuweisen;
allein eS sind meistens keine Personen, die man sich als Penaten denken könnte, die
Gebildete und Ungebildete als Vertraute ihrer geheimen Seelcnbedürfnisse, als Tröster
im Unglück, als Mäßiger in der Freude verehren könnten, mit einem Wort, man kann
nicht 'zu ihnen beten, das heißt, man kann nicht ihnen gegenüber das Gefühl der
Andacht mit dem Gefühl persönlicher Vertrautheit vereinigen. Die christlichen Heiligen¬
bilder, nenn sie sich auch auf Historisches beziehen, sind doch in allgemeine Ideale ver¬
wandelt, die Jeder sich nach seinem Herzensbedürfnis; zurechtlegen kann; sie leisten durch
historische Bestimmtheit dem religiösen Gefühl keine» Widerstand. An einem Coper-
nicus, Keppler, Galilei aber kann nur Derjenige unmittelbare Frende haben, der
ihren Geist zu ermessen und zu würdige» versteht. Der alte Fritz, der alte Blücher,
selbst Schiller, wenigstens bis zu einem gewissen Grade, können in den Hütten der
Armen dargestellt, und zwar nicht angebetet, aber mit einer gewissen andächtigen Freude
betrachtet werden, denn es druckt sich in ihnen eine Kraft aus, die man sinnlich fühlt,
ohne sie analysiren und sie dadurch in's Kleinliche herabziehen zu können. Was sich
aber der deutsche Bauer bei Paracelsus, Bruno, Vanini und Campanella denken soll,
ist nicht recht abzusehen, ja wir haben den Verfasser in starkem Verdacht, daß er den
Cultus dieser sehr zweifelhaften Heiligen nicht aus den Quellen, sondern aus Bear¬
beitungen geschöpft hat, die bereits nach gewissen, sehr bestimmten Gesichtspunkten a.nge-
legt waren.
Wenn sich also auf der einen Seite die erbauliche Form der Betrachtungen mit
den Gegenständen nicht recht verträgt, so wird für den Gebildeten das Verständniß
dieser Persönlichkeiten nicht gefördert; für den Ungebildeten stellt Herr Baltzcr seine
Helden nicht so dar, daß sie ihnen in ihrer historischen Bedeutung lebendig werden, es
kommt vielmehr Alles auf den abstracten Kampf gegen die Kirche heraus, und der Ge¬
bildete hat bessere Quellen, sich zu unterrichten. Hat ein gelehrter, verständiger und
aufgeklärter Manu Kenntnisse genug, um diese Vorkämpfer des religiösen Liberalismus
historisch und philosophisch zur Vermehrung der geistigen Cultur erörtern zu können, so
halte er etwa Vorlesungen vor einem gemischten Publicum, oder er schreibe ein Buch;
zu Texten für eine kirchliche Erbauung passen sie nicht. Der süßliche, schwülstige, un¬
wissenschaftliche Styl, der schon bei manchen christlichen Predigern so widerwärtig wird,
tritt auch hier hervor, und es fehlt das Moment der Autorität, der Tradition, die ein
frommes Gemüth auch bei dem Bibelvcrs: „Abraham zeugete Jsaak," in eine hinlänglich
erbauliche Stimiunng versetzt. Wenn uns der Prediger nicht im Namen eines höhern
Wesens seine Lehren in die Phantasie donnert, sondern uns zur freien Kritik auffordert,
so suhlen wir uns zunächst versucht, seinen eigenen Styl kritisch zu beleuchten.
Wenn man uns nun fragt, was wir bei unsrer vollständigen Verwerfung der freien
Gemeinden denn an die Stelle setzen wollen, da wir doch wol anerkennen werden, daß
es Gemüther giebt, die mit der. Kirche zerfallen sind, in keiner religiösen Seele eine
Befriedigung fühlen und doch ein tiefes specifisch religiöses Bedürfniß haben? so können
wir nur erwidern, daß, wo das der Fall ist, wo Kunst, Natur, politischer Enthusiasmus,
persönliche Liebe, Familienleben u/s, w. das Herz nicht ausfüllen, kein anderer Rath
zu geben ist, als, man schließe sich in sein Kämmerlein, wohin ja auch schon Christus den
Beter verwiesen hat; wer hier nicht productiv ist, die Autorität verschmäht und doch
religiös angeregt sein will, dem ist überhaupt nicht zu helfen.
Wir haben diese Ansichten offen und unumwunden ausgesprochen trotz der sentimen¬
talen'Scheu, die man gewöhnlich hat, Unternehmungen zu tadeln, die nebenbei auch
vou der Polizei verfolgt werden. Diese Sentimentalität aber führt uns fortwährend
irre. Natürlich halten wir es für sehr kleinlich von Seiten des Staats und für sehr
widersprechend allen gefunden politischen Ideen, wenn der Staat sich in Gesellschaften
eindrängt, die ihm nichts angehen, wenn er Versammlungen stört, die sich auf ihre Art
erbauen und der öffentlichen Sicherheit keine Gefahr bringen. Es ist das die dottrinaire
Richtung, die sich in unser Staatsleben eingeschlichen hat und die überall Katheder ihrer
höhern Weisheit ansuchten möchte. Auf der andern Seite aber müssen wir offen ge¬
stehen, daß wir eS völlig begreiflich finden, wenn der Staat als Kirchenregimcnt diesen
neuen Religionsgesellschaften seine Kirchen verschließt, und wenn er die rechtliche Giltig-
keit der Functionen, die nach unsren Gesetzen nur von Priestern ausgeübt werden können,
an das wirkliche Priesteramt knüpft; das Letztere hat seine Uebelstände, allein diese können
durch die Einführung der Civilehe beseitigt werden, und was den Kampf gegen die
Kirche betrifft, so scheint uns jedes Local dazu geeigneter zu sein, als die Kirche selbst. —
— Das von Lady
Franklin zur Entdeckung ihres Gatten ausgerüstete Schiff „Prinz Albert" scheint vom
Schicksal zum Ueberbringcr von Nachrichten von der vermißten Expedition bestimmt zu
sein. Voriges Jahr gelangte durch dasselbe die Nachricht von der Entdeckung der Spuren
eines Franklinschen Lagers bei Cap Riley nach Europa, diesmal erfahren wir durch
seinen Capitain, Mr. Kennedy, daß die von der Negierung ausgerüstete Expedition unter
Sir Edo. Welcher den Wellington-Canal eisfrei gefunden hat, und denselben hinausge¬
fahren ist. Da dies der Weg ist, den nach den bis jetzt aufgefundenen Spuren
Franklin eingeschlagen hat, so dürfen wir mit ziemlicher Sicherheit hoffen, in wenigen
Monaten Nachricht über das Schicksal des seit 6 Jahren Vermißten zu bekommen.
Der Prinz Albert ging am 22. Mai vorigen Jahres »ach den Nordpolregioncn
unter Segel, hauptsächlich um den Prinzregenten-Canal nach Spuren von dem Ver¬
mißten zu durchforschen. Mr. Kennedy eignete sich ganz vortrefflich zu dem ihm über¬
tragenen Kommando. Früher bei der Hudsonsbaicompagnie angestellt, hatte er sich acht
Jahre lang an der Labradorküste ausgehalten, und ist daher mit allen Eigenthümlichkeiten
jener Polargegenden genau bekannt. Er war ausdrücklich von Canada herübergekommen,
um sich zur Uebernahme der Expedition zu erbieten. Ein anderer Freiwilliger, Lieutenant
Bellot von der französischen Marine, wurde zweiter Commandeur. Ein anderer Theil-
nehmer war Mr. Hepburn, ein Begleiter Franklin's aus seiner vorletzten Reise. Als
Merkwürdigkeit ist hervorzuheben, daß sich die Mannschaft freiwillig verbindlich machte,
während der ganzen Reise geistige Getränke nur als Medicin zu gebrauchen.
Am 22. Juni erreichte der Prinz Albert das Eis, segelte in 72« 30' nördl.
Breite der Westseite der Baffinsbai hinüber, und befand sich am 2i>. August in
Pondsbay. Hier traf man vier Eskimos, die jedoch keine Nachricht von Sir John
Franklin zu geben wußten. Mr. Kennedy fuhr nun den Lancastersund unter heftigen
Oststürmen hinaus, und kam am 4. September nach der Barrowstraße, wo das Eis
dem Schiffe die Weiterfahrt verwehrte. Der Prinz Albert begab sich nun nach Port
Leopold, um zu überwintern. Hier wäre Mr. Kennedy fast ein großer Unfall zugestoßen.
Er war in einem Boote mit 6 Mann an's Land gegangen, um Nachforschungen anzu¬
stellen, als sich plötzlich eine ungeheure Eismasse zwischen das Land und das Schiff
schob, und eine starke südwärtslausende Strömung und heftiger Sturm das Schiff den
Prinzregentcn-Canal hinauf bis'zur. Battybucht trieb. Da der unterdessen auf dem Prinz'
Albert commandirende Capitain Lcask es unmöglich fand, »ach Port Leopold zurückzu¬
kehren, so versuchte er Fnrypoint zu erreichen; aber auch dies gelang ihm nicht, und
er mußte in Battybucht ankern, von wo Mr. Bellot mit vier Mann sich zu Land nach
Port Leopold auf den Weg machte. Sie fanden auch glücklich ihre zurückgelassenen
Gefährten, die bereits sechs Wochen in großer Besorgnis? gelebt hatten. Zum Glücke
hatten sie reichliche Lebensmittel in dem von Sir James Roß in Port Leopold nieder¬
gelegten Depot, das im besten Zustande war, gesunden. Nachdem Mr. Kennedy sein Schiff
wieder erreicht, und dasselbe sür den Winter sicher untergebracht hatte, wurden Land-
expeditioncn zur Exploration des Prinzrcgentcn-Canals eingerichtet. Schon im Januar
besuchte Mr. Kennedy trotz der rauhen Witterung die Furybucht, um dort ein erstes
Depot zu bilden, und wiederholte noch dreimal die gefährliche Reise über die nur vom
Monde erhellte Schnecwüste, und oft bei so stürmischem und schlechtem Wetter, daß sie
nur ein paar Schritte vor sich sehen konnten. Die nun sast dreißig Jahre lagernden
Proviantvorräthe der Fury sand man unverletzt und unverdorben.
Nachdem alle Vorbereitungen getroffen waren, brach Mr. Kennedy am 29. März —
dort noch im tiefen Winter — mit Mr. Bellot und sechs Mann von der Fnrybucht
aus, um den Prinzregenten-Canal bis an sein südliches Ende zu untersuchen; und, um
leichter zu reisen, entschloß man sich, keine Zelte mitzunehmen, und sich ganz ans den
Schutz von Schneehütten zu verlassen. Die Expedition bestand aus zwei Schlitten mit
fünf Hunden, die sich als sehr werthvolle und treue Reisebegleiter herausstellten; wie die
Lebensmittel knapp wurden, begnügten sie sich mit Stückchen Leder.
Anfangs wurden die Reisenden sehr durch ihre Unerfahrenheit im Aufrichten der
Schneehütten geplagt, indem sie manchmal sechs Stunden bauen mußten, ehe sie ein
schützendes Dach über ihren Häuptern hatten; aber bald erlangten sie eine größere
Geschicklichkeit, und waren, wenn nicht sehr kaltes Wetter eintrat, in zwei oder drei
Stunden fertig. Diese Hütten bestanden aus großen Blöcken gefrornen Schnee, wurden
nach oben immer enger, und trotzten der Gewäk! des stärksten Sturmes; und wenn die
Reisenden einmal drin waren, und das Loch, durch das sie hereingekommen, sorgfältig
geschlossen war, so herrschte eine viel größere Wärme darin als in Zelten. Mr. Kennedy
versichert, daß er und seine Leute nie in den Schneehütten gefroren hätten, und nie
bequemer geschlafen hätten, als unter ihrem Schutze in ihre Decken gewickelt.
De,r größte Eiser belebte die kleine Schaar: Matrosen und Officiere nahmen gleichen
Antheil an der beschwerlichen Arbeit des Schlittcnzichens und des Herausbrechens der
Schuecblöckc, und Mr. Bellot war durch seine ausgezeichnete wissenschaftliche Bildung
der Expedition von besonderem Nutzen, indem die Nähe des magnetischen Pols ost die
Benutzung des Kompasses sehr beeinträchtigte.
Die Expedition war von nicht geringen Anstrengungen begleitet. Wo möglich
gingen die Reisenden jeden Tag siebzehn englische Meilen — einmal wanderten sie
2i Stunden ohne Rast — ost dnrch die schrecklichsten Schneestürme, manchmal waren
sie gezwungen, tagelang in ihren engen Schneehütten zu verweilen, und einmal zwang
sie das Wetter, sieben Tage auf einer Stelle zu bleiben, während welcher Zeit sie, um das
Feuerungsmaterial zu sparen, von Pemmican und Schnee lebten. Auf diese Weise
vollbrachten'sie eine der merkwürdigsten Schlittenreisen von nicht weniger als 1200 eng¬
lischen Meilen durch gänzlich unbekannte Gegenden.
Die Route der Expedition ging von der Fnrybucht quer über die Mclvillebucht südlich
bis Bratsordbay, wo man einen 2 englische Meilen breiten und Is Meilen langen,
westwärts führenden Canal entdeckte, der bis in die Nähe von Cap Bird führte. Auf
diese Weise entdeckten sie. daß North Somerset eine große Insel sei. Bon Cap Bird
fuhren sie über eine Bucht von 23 Meilen Breite, und fanden dann einen niedrigen
Strand, ans welchem sie in genau westlicher Richtung ihre Reise bis zum 100" westlicher
Länge fortsetzten Von hier aus wendeten sie sich nach Nord und Oft nach Cap Walker,
wo sie ihre westlichen Untersuchungen weiter fortgesetzt hätten, wenn die drohende Er¬
schöpfung ihres mitgenommenen Proviants sie nicht gezwungen hatte, um North Somerset
herum nach Port Leopold zurückzukehren, wo sie den l>. Mai eintrafen. Hier brach
unter den Leuten leider der Scorbut aus, an dem sie bis zum Juli litten. Am
6. August konnte der Prinz Albert endlich seine Winterquartiere verlassen, und wollte
um wieder nordwärts nach Grisfithsinsel fahren. Da er aber schon bei Beecheyinsel
den Nvrthstar traf, und von diesem erfuhr, daß bereits Capitain Welcher die Nach¬
forschungen in nördlicher Richtung fortgesetzt habe, beschloß Mr. Kennedy nach England
zurückzukehren. Er verließ daher die Beecheyinsel am Si. August und erreichte Aberdeen
am 7. October, ohne einen Mann verloren zu haben.
Sir E. Welcher war am 11. August bei der Beecheyinsel eingetroffen. Die sorg¬
fältigsten Nachforschungen auf allen benachbarten Punkten der Küste führten'zu keinen
Entdeckungen schriftlicher Nachrichten von Sir I. Franklin's Expedition. Dagegen fand
man außer den Spuren bei Cap Ulley einen neuen Lagerplatz bei Caswclls Tower,
bezeichnet dnrch mehrere zinnerne Büchsen (von eingelegten Lebensmitteln) sieben oder
acht Weinflaschen, einer Feuerstelle und einem Brunnen. Nach Capitain Belcher's
Ueberzeugung deuten'alle Zeichen darauf hin, daß Franklin seine Winterquartiere in
der größten Ruhe und Ordnung verlassen hat, und daß er, eben weil Alles nach Zu¬
friedenheit gegangen, keine schriftlichen Nachrichten hinterlassen hat.
Capitain Welcher ging mit der Assistance am 1i. nach dem Wellington-Canal, n»d
Capitain Kcllett am 15. August nach der Melvilleinsel unter Segel. sowol damals,
wie auch am Tage der Abfahrt Kennedy's-(am 2L. August) übersah mau von der Spitze
der Beecheyinsel nur eisfreies Wasser gegen Norden und Westen. Zahlreiche Walfische
kamen aus dem Wellingtoncanal heraus, Robben wurden geschossen, und bei Caswells
Tower sah man vier Bären — lauter Zeichen, daß in jenen hohen Breiten das ani¬
malische Leben noch nicht ganz ersterben ist, und daß Sir I. Franklin und seine Be¬
gleiter sich wol das Leben durch die Jagd hatten fristen können.
Das offene Meer im Wellington-Kanal und die ungewöhnlich günstige Jahreszeit
werden jedenfalls Sir E. Welcher in Stand setzen, sehr weit nach Norden vorzudringen,
aber auch wenn er auf EiSschrankeu stoßen sollte, gedenkt er durch Sprenger des Eises
vielleicht bis in den Königin-Kanal vorzudringen. Capitain Kellett soll auf der Melville¬
insel Depots für Capitain Collinson und Commandcr M'Clure anlegen, die von. der
Behringsstraße aus diesen Punkt zu erreichen suchen. Sollte sich Capitain Welcher während
seiner Exploration des Wellington-Canals zu weit von Kellett entfernen, uM mit ihm in
Verbindung zu bleiben, so soll Letzterer Schlittenexpeditionen nach einem Rendezvous
aus 10ö° westl. Lauge und 77° nördl. Breite absenden. Der Nvrthstar bleibt als
Depot aus der Beecheyiuscl. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden uns schon die
nächsten Wochen neue Nachrichten und vielleicht auch definitive Auskunft über das
Schicksal Sir I. Franklin's bringen.
— Da dieser afrikanische Schauspieler, sowol seiner fremd¬
artigen Erscheinung wegen, als auch in Bezug auf sein in der That nicht unbedeutendes
Talent, die allgemeine Aufmerksamkeit aus sich gezogen hat, so wollen wir uns etwas
umständlicher mit ihm beschäftigen. Wir haben ihn im Othello gesehen, einem Stück,
welches recht eigentlich für ihn gemacht zu sei» scheint. Mit den fünf englischen
Schauspielern seines Gefolges, die sammt und sonders unter der Mittelmäßigkeit, der
Mehrzahl nach unter aller Kritik stehen, hatte er die Tragödie sich so arrangirt, daß
nur die Hauptscenen, in denen er selbst auftrat, zusammengestellt waren, der Zusammen-
sang aber doch wenigstens ungefähr hergestellt blieb. Zwar sah es etwas wunderlich
aus, als im letzten Act Ludovico die Rolle der Emilie übernahm und den Betrug mit
dem Schnupftuch entdeckte, von dem er doch unmöglich Kunde haben konnte, indeß
mochte man das doch hingehen lassen, da Herr Aldridge die ausschließliche Aufmerk¬
samkeit aus sich zog. Der erste Act machte keineswegs einen vortheilhaften Eindruck.
Eine Stimme, die trotz ihrer gewaltigen Naturkraft durch fortwährend übertriebene
Anstrengungen bereits gebrochen ist und nur noch keucht; eine Haltung, in der keine
Spur von Adel zu finden; eine Declamation, die mehr darauf ausgeht, grelle
Contraste hervorzuheben, als den Sinn entsprechend darzustellen, die zum Theil sogar
i» der Erzählung, von der Art, wie er die Liebe der Desdemona gewann, von einem
mangelhaftem Verständniß zeugte, das Alles war nicht vielversprechend. Auch noch zu
Anfang des zweiten Acts, wo Jago seine Eifersucht zunächst nur flüchtig rege macht,
war durch zu starkes Betonen und zu langes Verweilen auf diesem Moment der ersten
Leidenschaft das Spiel verfehlt. Dagegen war der Ausbruch der wirklichen Leidenschaft
glänzend dargestellt. Zwar können wir einzelne Laute, die zu bestialisch waren, um
unter den ästhetischen Maßstab zu fallen, nicht billigen, allein das Ganze zeugte doch
von einer großen Natnrbegabuug, die uns den Kampf des wilden Afrikaners mit seinen
besseren Empfindungen deutlicher versinnlichte, als wir es auch nur annähernd von einem
deutschen Schauspieler gesehen. Einzelne Züge, wo der tiefe Kummer des Herzens
die Leidenschaft übermannt, zeugten sogar von einem tiefen Gefühl. Allein die beiden
letzten Acte störten diesen guten und bedeutenden Eindruck wieder aus eine sehr unan¬
genehme Weise. Der Versuch, den Shakspeare zu überbieten, alle einzelnen Momente
seines großen Seelengemäldcs dctailartig zu verarbeiten und in's Grelle zu ziehen, dieses
beständig retardirende Spiel, in dem Körper und Miene sich allein ohne Beihilfe der
Worte wollten geltend machen, dieses fast ängstliche Haschen nach Contrasten, welches
die wildesten Naturlaute der entgegengesetztesten Art aufbot, um die Nerven zu erschüttern,
das Alles war uicht allein so geschmacklos als möglich, sondern es war auch geradezu
langweilig. Wenn man den ersten Eindruck auf die Nerven überwunden hat, so wird
man der ewigen Erschütterungen müde und sehnt sich nach dem Ende. Uebrigens
kamen auch da noch einige gute Momente vor. Der Eintritt Othello's in's Schlaf-
gemach der Desdemona war schlecht, affectirt und gab keine klare Stimmung an; da¬
gegen war die Art, wie er der Desdemona seinen Entschluß anzeigte, sehr schön gedacht
und fast ganz poetisch. Leider wurde man durch die lächerlich quiekende Stimme der
Desdemona fortwährend gestört, und da keine Emilie da war, aus deren Wuthausbruch
bei Shakspeare eigentlich wesentlich die Katastrophe beruht, so wurde der Effect nach
einer ganz falschen Richtung hingelenkt. Zuletzt merkte man wohl, daß die Folge der
Stimmungen wenigstens ungefähr richtig aufgefaßt war, aber nicht blos Othello verweilte
bei jeder derselben viel zu lauge, sondern anch die übrigen Mitspieler wetteiferten zur Ueber-
raschung des Publicums mit ihm, durch die wunderlichsten Grimassen die Geduld der Zuhörer
zu mißbrauchen; namentlich entwickelte Jago, der sich bis dahin ziemlich solide gehalten
hatte, plötzlich ein stummes Spiel, das einen mehr als lächerlichen Eindruck machte;
vielleicht mag das so in England Sitte sein, jedenfalls war es für den deutschen Zu¬
schauer unerträglich, nach Beendigung der Katastrophe noch eine halbe Stunde lang mit
unnatürlichen Verrenkungen gequält zu werden. Herr Aldridge schien, und darin hat er
mit der Rachel einige Nchnlichkcit, im letzten Moment noch alle feine Virtuosität auf¬
bieten zu wollen. Nachdem er sich den Dolch in's Herz gestoßen, versinnlichte er uns
zuerst nach der verabscheuungswürdigen Manier unserer Grimalsenschneider das materielle
Sterben, welches eine für die Kunst unanständige Beschäftigung ist; er röchelte, gähnte
u. s. w., wie es ja das Leipziger Publicum zu seiner größten Erbauung bereits mehr¬
fach von Herrn Kläger angesehen hat; zuletzt schlug er wie ein Bret auf den Boden,
mit einer solchen Gewalt, daß in der That ein afrikanischer Schädel dazu gehörte, um
nicht zu zerspringen. — Das Endresultat möchte dieses sein: Herrn Aldridge einmal
zu sehen, ist'entschieden der Mühe werth; zweimal wird es kaum Jemand unternehmen?
— Clavier und Gesang. Didaktisches und Polemisches
von Friedrich Wieck. Leipzig, Whistling. -I Thlr. — Des Verfassers Name ist in
der musikalischen Welt wohlbekannt, und die von ihm erzielten Resultate bürgen sür
den Inhalt dieses Buchs. Man darf sich nur an seine beiden Töchter erinnern, die er
ausschließlich gebildet hat: Clara Schumann, gegenwärtig unzweifelhaft die erste Klavier¬
spielerin Deutschlands, vielleicht Europas, und Marie Wieck, deren anmuthiges, natür¬
liches, von harmonischer Bildung und feinstem Verständniß zeugendes Spiel noch bei
ihrer jüngsten Anwesenheit in Leipzig Jeden, der irgend Sinn fiir Natur und Schön¬
heit besitzt, aufs Innigste erfreut hat. Die jüngste Zeit ist in der Herausgabe ähnlicher
Werke sehr eifrig gewesen, und die Kunst des Clavieruntcrrichts, früher ein Geheimniß
der großen Meister, wird bald auch den kleinen Geistern so geläufig sein, daß man sie
eben nur noch als Handwerk betrachten darf. Durch die minutiöse Ausbildung des
technischen Theils des Clavierspicls hat sich nach und nach eine schreckenerregende Fertig¬
keit ausgebildet, die einestheils, weil sie überall gleichmäßig anerzogen wird, das
„Dutz-endspiel" (wie es der Verfasser nennt) erzeugt, auf der andern Seite aber
die „ Clavierfnricn-Periode" erschuf, an deren maßlosen Überschreitungen wir jetzt noch
zu leiden haben. Gegen diese Uebel und gegen viele andere, die damit zusammenhängen,
sucht die vorliegende Schrift, zu kämpfen, und deshalb ist anch die Bezeichnung „Didak¬
tisches und Polemisches" am rechten Platze. Diese durfte auch darum nicht fehlen,
weil es überhaupt in dem Plane lag. keine systematisch geordnete Schule zu geben.
Das ganze Buch besteht eigentlich nur aus den Herzensergießungen eines alten, ge¬
prüften Musikers, der sein ganzes Leben daraus verwendete, die Tonkunst treu und redlich
zu pflegen. Die Ueberstürznngen der jüngsten Periode im Clavierspiel, mit welcher die
Verschlechterung des Kunstgcsangs Hand in Hand gegangen ist, reizen ihn zu einer
warmen, theilweise sogar heftigen, Polemik. Auch das Kunstwerk der Zukunft will ihm
nicht behagen, und es ist besonders die Betrachtung der Gcsaugsmuflk, die ihm das
Verdammungsurtheil dieser neuen Richtung so hart aussprechen läßt. Gewiß ist ein er¬
fahrener Singemcister, der die glänzenden Zeiten der italienischen und deutschen 6)per
miterlebte, mit allen Koryphäen derselben in der genauesten Verbindung stand, zu diesen
Klagen berechtigt, doch wird gerade dieser Punkt den Männern jener Richtung einen
leichten Angriff gewähren, weil außer dem richtig nachgewiesenen Ungeschick in der Technik
des Gesangs das Verdammungsurtheil nur mit Behauptungen ausgesprochen, aber nicht
mit Gründen belegt ist. — Neu, und im Allgemeinen sehr gut entwickelt ist die Ansicht
über den innigen Zusammenhang des schönen Kunstgcsangs und eines edlen und seinen
Clavierspiels. In der Vorrede spricht der Verfasser sich selbst darüber aus: „Ein
Klavierlehrer von Geist und Herz, gleich viel,, ob er die „Elemente" lehrt, oder sich
mit „höherer Ausbildung" beschäftigt, der so beschaffen ist, wie ich ihn mir denke, muß
die Gesangskunst verstehen, wenigstens soll er ein hohes Interesse dafür an den Tag
legen. Wenn ich überhaupt vom Gesang spreche, so meine ich nur den „schönen
Gesang," die Basis der feinsten und vollendetsten musikalischen Darstellung; und vor
alle» Dingen denke ich wieder an eine „schöne Tonbildung" als die Basis sür den
möglichst schönsten Anschlag auf dem Claviere. In vielen Dingen müssen sich Gesang
und Clavier gegenseitig erklären und ergänzen; sie sollen mit einander wirken, um das
Hohe und Edle in ungetrübter Schönheit zur Ergänzung zu bringen. — Unter den
nicht immer in ganz logischer Reihenfolge geordneten Capiteln verdienen die höchste Be¬
achtung eins über den Elementarunterricht im Clavierspiel, ferner ein anderes „Frau Grund
und vier Lectionen," über eine rationale Methode überhaupt, und jene über Pedal und
„Verschiebungsgcftihl;" sie geben das meiste Positive und Didaktische. Fast ganz polemischer
Natur sind die verschiedenen Artikel über Gesang, doch auch sie enthalten für den ver-
ständigen Lehrer eine Menge nützlicher Andeutungen, geben gute Anleitung zur Ausbildung
eines guten Geschmacks, und zeigen deutlich und eifrig die Unnatur der durch die neuen
Italiener und Franzosen geschaffenen Gesangsmcthode. Eine Eigenthümlichkeit des
Buchs, gleichsam ein Wiederspiegeln von dem Temperamente des Verfassers, liegt in der
Art und Weise seines Styls. Derselbe ist unruhig und hastig, nicht glatt und geordnet
genug, wenn es gilt, ruhig das gerade vorliegende Thema zu durchgingen und zu ver¬
arbeiten. Wenn man ruhige Deductionen erwartet, stößt man plötzlich auf persönliche
Anreden, und so geschieht es, daß wir uns plötzlich in ein Gespräch mit einem Spieler oder
einer Sängerin verwickelt sehen, gewiß nur zu unsrrm Vortheil, denn die präcise Rede und
Gegenrede, das Beziehen aus bestimmte, concrete Fälle geben oft mehr Aufhellung, als
eine' pedantische, geiehre Ausführung. Einzelne Capitel sind überhaupt in kleine Scenen
ans dem musikalischen Gesellschaftsleben eingekleidet. Ernst und Scherz, Ironie und
Laune wechseln mit einander, zwischen den Zeilen aber stehen die ernstesten und bittersten
Wahrheiten, und jede in diesen Scenen auftretende Figur kann als Typus von Figuren
gelten, die dem Künstler aus seinen oft schwierigen und unangenehmen Gesellschaftswegen
begegnen. Das ganze Buch verdient Beachtung, weil es gegen die Mängel und die
falsche Richtung unsrer Zeit mit Ernst zu Felde zieht; der gute Zweck wird bald die
mancherlei Ungeschicklichkeiten in der Form vergessen machen.
— ZZIim, lusioiri; ä'un povlk russö, pgr ?gu!in Mbo^se.
(Leipzig,- Michelsen.) — Wir haben von dem Verfasser dieses Romans bereits ein
früheres Werk besprochen: I.a olümvr^ Was bei demselben zunächst auffällt, ist die
feine, graziöse und gemüthvolle Sprache. Der Dichter hat feine Beobachtungen über
das menschliche Herz gemacht, er läßt die mannichfaltigsten Gefühle anklingen, und sie
sind wenigstens selten unwahr. Aus das Aeußerliche, aus die Geschichte, und was dazu
gehört, legt er wenig Gewicht. Seine Erzählungen sind fast nur skizzirt, fast zu hastig,
die Empfindung ist ihm die Hauptsache. Es ist in dieser Richtung aus die bloße Ein»
pfindnng immer etwas Bedenkliches, und wir finden in der That bei einer ganzen
Reihe der begabtesten französischen und englischen Schriftsteller die Neigung, sich immer
mehr in's Aetherische zü verlieren und darüber den festen Stoff ans den Händen zu
lassen, der doch eigentlich der Welt der Empfindungen erst die sichere Grundlage giebt.
Bei einer edlen Natur geht daraus nur eine gewisse Weichheit hervor, die zwar rührt,
aber nicht ergreift; indessen liegt noch eine andere, größere Gefahr nahe, nämlich bei
dem Vorwalten der bloßen Stimmung das sittliche Urtheil aus dem Spiel zu lassen.
Dieser Verirrung ist der Verfasser glücklich entgangen. Der eigentliche Hauptcharakter,
obgleich er in seiner bescheidenen Färbung hinter den romantischen Helden und Heldinnen
zurücktritt, der Advocat Monars, der ehrlichste, aufopferndste Mensch, der von aller Welt
betrogen und gemißbraucht wird und trotz aller bittere» Erfahrungen immer wieder die
Gesundheit und Integrität seines Gemüths wiederherzustellen weiß, ist eine sehr glückliche
Erfindung. Der Dichter hat es verstanden,, was eine sehr schwere Ausgabe ist, unser
Mitleid rege zu machen, ohne daß sich jenes Gefühl der Geringschätzung damit ver¬
mischte, dem man in solchen Fällen nur selten entgehen wird. Auch die anderen Figuren
sind wenigstens glücklich angelegte Capricen. Jedenfalls gehört Herr Niboyet zu den
interessantesten Erscheinungen der neuesten französischen Romanlitcratur.
--ES ist eilf Uhr Vormittags. An dem links stehenden Obelisken zwischen
Fleetstreet und Ludgate Hill ist das Deichselpferd eines vierspännigen Omnibus
gefallen; die Passage ist dadurch für einige Minuten in Stockung gerathen; das
Pferd gleitet mit dem Huf auf den feuchten Pflastersteinen aus, so oft es
sich aufraffen will, und fällt wieder in seine frühere Lage zurück; es bleibt nichts
Anderes übrig, als die Widerhaltkette und die Stränge loszumachen. Wenn
aber in Fleetstreet ein Wagen fünf Minuten lang nicht von der Stelle kann,
spürt man die Stockung oft eine englische Meile in der Runde. Wir können
am Gitter des Obelisken gelehnt vorn bis zu Se. Pauls, rückwärts bis zu
Chancery Lane, links nach Holborn und rechts bis zu Black-Friars-Bridge sehen,
und dieser ganze ungeheure Raum bietet einen verworrenen Knäul von stillstehen¬
den Omnibussen, Cabs, Gigs, Pferden, Karren, Brauer-, Kohlen- und sonstigen
»Lastwagen, die hart an oder vielmehr in einander geschoben sind. Zwischen
ihnen schlüpft zuweilen ein kecker Junge dnrch, springt hier über einen Karren,
kriecht dort nnter dem Bauche eines Pferdes fort und gelangt mit Gefahr seiner
Knochen an's jenseitige Trottoir. Wer nnr irgend Zeit und sein Leben lieb hat,
wartet. Es ist übrigens gar so schön, dieses Gewühl mit anzusehen, und wenn
man nicht einmal Geduld haben sollte, ein Paar Minuten ruhig zu stehen, wovon
sollten die armen Londoner Taschendiebe leben!
Der Knoten ist bald gelöst. Zwei Policemen, vier müßige Kutscher, ein
Dutzend Roßkämme, von denen es an jeder Ecke wimmelt, ein Paar zerlumpte
Jungen, die glücklich sind, wenn sie nur ein Pferd anrühren dürfen, haben die
Kette gelöst und die Stränge losgeschnallt und das Kümmel losgehakt, und wieder
zugemacht und zugeschnallt und zugehakt, und Alles ist in Ordnung. So ein
gefallenes Pferd giebt immer einem Paar Dutzend Menschen anregende Beschäftigung,
und die Anderen, die nicht mit Hand anlegen können, haben immer einen guten,
Rath in der Tasche, als wenn dergleichen in London nur alle hundert Jahre
einmal vorkäme.
Jetzt können auch wir unsern Weg fortsetzen. In der Hälfte von Ludgate-
Hill, wo mitunter die prachtvollsten Kaufläden der City und die Schaufenster mit
den kostbarsten Stoffen und den schönsten indischen Shawls vollgefüllt sind, ist
ein kleiner Thorweg, den wir passiren, um zum Times-Office zu gelangen. Es
ist der Thorweg vom Glanz zum Schmuz, das Pförtchen, das uns in ein Laby¬
rinth der elendesten, holperigsten, stinkendsten und engsten Gassen von ganz London
führt. Wir stolpern über einige verdrießliche Bulldoggen, die sich gern auf dem
Pflaster sonnen mochten, wenn's heute nur Sonne gäbe, dann über einige schmuzige
Jungen, die Reif spielen, dann über einen Haufen Kehricht, und zweimal über
weggeworfene Orangenschalen, die sich breit machen, als lägen sie in Neapel.—
Endlich biegen wir in ein schmales Gäßchen nach links ein, und gelangen auf
einen kleinen Platz, der einem deutschen Hinterhofe zum Sprechen ähnlich ist. Auf
demselben stehen ^zwei einsame Bäume hinter einem Gitter, und vor uns zur
Linken steht auf einer Tafel „lines' (Mee" zu lesen. Wir sind am Ziele.
Ein Portier, fordert uns aus seiner Fensterloge unsre Karte ab, ein kleiner
Negerbnrsche zeigt uns den Weg, und jetzt ist es an uns, unsern Zauber aus¬
zuüben, um die Redaction der „Times" einen Tag lang zu belauschen; denn
daß irgend Jemandem frei gestattet sei, einen Blick in's Laboratorium zu werfen,
davon ist keine Rede. —
Es ist zehn Minuten nach eilf Uhr. Mr. Mowbray Morris, der Leiter
lMn»ssöi'), das Factotum, die Seele und zugleich der Souverain des Times-
Institutes, ist seit zehn Minuten in seinem Bureau. Uns hat das unglückliche
Deichselpferd aufgehalten. Doch es schadet nicht, wir haben nichts versäumt.
Also die Seele der Times sitzt bereits in ihrem Redactionsgehäuse. Wer
ist dieser Manager und was ist sein Amt?
Mr. Walter hat die „Times" gegründet; er hat sie größtentheils selbst
geleitet, er hat sie groß gezogen, hat sie organisirt und zu dem gemacht, was sie
heute ist. Er hat ihre jetzigen viel bewunderte» Druckmaschinen bauen lassen,
hat früher selbst allerlei Maschinen entworfen, hat sich daneben mit einer neuen
Setzmethode viel geplagt, hat auch selbst geschrieben, und wenn's Noth that, auch
am Setzkasten gestanden. Kurz, der alte Mr. Walter war ein Universaltalent
und ein bedeutendes obendrein. Aber der alte Walter ist seit 1847 todt. Seine
Familie erbte die Times, und der jetzige Mr. Walter ist Parlamentsmitglied und
Haupteigenthümer des Blattes, das ist Alles, was sich von ihm sagen läßt. Ob
die Walter'sche Familie alleinige Besitzerin der „Times" ist, können wir nicht mit
Bestimmtheit sagen. Jedenfalls bezieht sie den größten Theil des Gewinnes, und
das vielverbreitete Gerücht, daß das Institut in den Händen des Hauses Roth¬
schild sei, ist eine Fabel. Es gab wol eine Zeit, wo der alte Walter aus allen
Ecken und Enden Fonds auftreiben mußte, um sein Unternehmen durchzuführen;
die damals ausgegebenen Actien sind aber längst, wenn nicht sämmtlich, dock)
zum größten Theil in die Hände der Walter'schen Familie zurückgeflossen.
Der jetzige Mr. Walter hat mit der Times nichts zu thun, als den Netto¬
profit, den sie abwirft, einzucasstren. Außer dieser angenehmen Beschäftigung
überläßt er die ganze schwere Geschäftsführung seinem Manager, Herrn Mowbray
Morris. Dieser ist weder, was wir in Deutschland einen Redacteur, uoch das,
was wir einen Expeditor oder Rechnungsführer nennen, er ist eben Alles in
Allem, der souveraine Gebieter im Bereich von Printing House Square. —
Auf seinem Schreibtische liegt ein Stoß Zeitungen und Papiere; neben ihm
sitzt der Redacteur cku je>ur; wir werden im Verlause sehen, was dieser für ein
Amt hat.
Die Redaction der „Times" ruht wie bei einigen unsrer größeren deutschen
Journale in den Händen mehrerer Individuen. Wo dies in Deutschland der
Fall ist, besorgt jeder der verbündeten Redacteure eine besondere Rubrik des
Blattes; der Eine z. B. redigirt Alles, was in die allgemeine deutsche oder
specielle Landespolitik schlägt, der Andere übernimmt das Ausland oder einzelne
Partien desselben; ein Dritter redigirt das Feuilleton oder den literarischen und
kritischen Theil. Nachdem sich diese deutschen, bei einem Blatte brüderlich ver-
bündeten Redacteure über die Hauptpunkte der allgemeinen Politik, die sie ver¬
treten wollen, geeinigt haben, redigirt zumeist Jeder unabhängig auf seinem ihm
zugewiesenen Terrain. Bei gewichtigen Ereignissen findet natürlich eine neue
Verständigung statt, und die Kollegialität, in der deutsche Journalisten, die an
demselben Blatte arbeiten, in der Regel mit einander leben, läßt es nie an Ge¬
legenheiten fehlen, wo sie ihre Ansichten austauschen, bekämpfen und einigen
können.
Bei der „Times" ist das Verhältniß der Redacteure zum Journal und
zu einander Vou dem deutscher Redacteure verschieden. Bei der Times sind
außer dem Manager noch zwei Redacteure, Mr. Dekane und Mr. Deseut, angestellt,
denen einer der älteren Mitarbeiter als Unterredactenr an der Seite steht. Diese
beiden Redacteure haben abwechselnden Dienst, und nicht wie bei unsren deutschen
Zeituugsinstituten getrennte Zweige zu verwalten. Jeder vou ihnen hat abwech¬
selnd die Pflicht, sich zu überzeugen, daß das Blatt so geordnet aus der Presse
kommt, wie es im Concilium beschlossen ist.--Doch wir wollen nicht vor¬
greifen. Nachdem wir im Obigen angedeutet haben, wie die Redaction eingerichtet
ist, können wir systematisch unsre unsichtbare Zuschauerrolle aus dem Times-Office
fortführen.
Auf dem Schreibtische von Mr. Mowbray Morris, sagten wir, liegt ein
Stoß von Zeitungen und Papieren, neben ihm sitzt der Redacteur co Mr.'
Womit beschäftigen sich die beiden Herren? Sie lesen die bedeutendsten Journale
des Tages, notiren das Bemerkenswerthe, und halten Konferenz über die zu
treffende Auswahl derjenigen Gegenstände, die im morgigen Blatte in Form von
Leitartikeln besprochen werden sollen. Aber nicht genng an dein. Ist der Stoff
der Leitartikel gewählt, so wird meist über das Detail derselben berathen; es
werden die einzelnen Momente, die besprochen werden sollen — wenn es einem
allgemeinen Stoss gilt — flüchtig zu Papier gebracht, und nach Umständen die
Richtung vorgezeichnet. In vielen Fällen ist dies freilich nicht nöthig, in anderen
desto mehr. Man kennt die zuweilen so merkwürdigen und raschen Uebergänge
der Times in Deutschland zur Genüge. Vielen, auch den meisten Engländern,
ist die Politik der „Times" durch ihre Sprünge ein unerforschliches Räthsel,
während sich dieses ganze große Räthsel einfach dadurch erklärt, daß sie jeder
Zeit ein specifisch englisches Blatt ist, jeder Zeit der Majorität des Landes
entweder folgt, oder ihr nur dann widerspricht, wenn sie scharfsinniger als die
meisten ihrer Kollegen eine baldige Aenderung der öffentlichen Meinung voraus¬
sieht, daß sie unausgesetzt das specielle britische Interesse im Auge hat, mit
eiserner Konsequenz und mit merkwürdiger Nüchternheit im Geiste dieses britischen
Interesses schreibt, und alles Andere diesem Interesse schonungslos opfert. Darin
liegt das ganze Räthsel ihrer anscheinend wandelbaren Politik. Sie greift rasch
und unbeirrt nach dem, was ihr für England demnächst als ersprießlich gilt, mag
dabei die außereuglische Welt in Trümmer gehen. Sie ist menschlich, con-
stitutionell, liberal, sogar sentimental für's Ausland, wenn dabei England gedient
wird; sie ist aber auch im Staude, den Eisfeldern Sibiriens einen ewigen
Frühling anzudichten, wenn eine Allianz mit Rußland dem Interesse Englands
entspricht; sie konnte sich entschließen, den Sclavenhandel zu vertheidigen, wenn
sie überzeugt wäre, daß mit dessen Aufhören die Jaquards von Lancashire zur
ewigen Ruhe verdammt würden. — Man hat der „Times" ihre Sprünge viel¬
fach zum Vorwurf gemacht — in und außer England —; aber es liegt in ihr
trotzdem eine starre politische Consequenz, die zuweilen dämonisch ist, jedenfalls
aber der mächtigste Hebel war, der „Times" ihre jetzige einflußreiche Stellung
zu verschaffen. — Man wird hier den Einwurf machen, die „Times" habe gar
oft Saiten angeschlagen, die mit dem englischen Interesse sehr schlecht harmvnir-
ten. Ja wohl, und es ließen sich dergleichen Fälle ohne viel Schwierigkeit nach¬
weisen. Aber es wurde im Obigen auch durchaus nicht behauptet, daß sie unfehlbar
sei. Die Times, d. h. ihre Redaction hat sich bei all ihrer Vor- und Umsicht
oft genug in ihren Ansichten betrogen. Die besten Redacteure sind aber nicht
allwissend, und Mr. Morris zumal hat westindisches Blut in seinen Adern, hat
seine menschlichen Sympathien und Antipathien, die einem klaren, unparteiischen
Urtheil zuweilen sehr ungesund sind. Es handelt sich hier auch nicht um einzelne
Fälle. Wir wollen im Obigen blos gesagt haben, daß der leitende, mit eiserner
Consequenz festgehaltene, Gedanke der Timespolitik die Förderung des englischen
Interesses ist, daß sie dieser Konsequenz zu Liebe die größten äußerlichen
Inconsequenzen nicht scheut, daß darin ihre ganze Mthselhaftigkeit verborgen
liegt.
„Die Times" ist eben so wenig je Regierungs- wie Oppositionsblatt ge¬
wesen. Sie bewahrte sich stets ihre Unabhängigkeit, ging in einzelnen Fragen
mit dem herrschenden Ministerium, stand zu gleicher Zeit in anderen Punkten
demselben als Gegner schroff gegenüber, machte nie Opposition der Lust zur
Opposition wegen, und blieb nnr dann unter allen Verhältnissen unbeugsam,
wenn es sich um eine nationale Lebensfrage, z. B. um Freihandel und Schutzzoll
handelte. Man kann wohl sagen, daß sie an keinem einzigen Principe blos der
Vortrefflichkeit von dessen Theorie wegen festhalte, dagegen ist die erwiesene
praktische Nützlichkeit der Glaube, für den sie kämpft, dem sie nie untreu wird.—
Aus allem dem erklärt sich's, warum sie in England eine muntere Verfechterin
jedes allmählichen, gediegenen, zopsabschneidenden, die materielle Entwickelung
fördernden Forschrittes ist, dagegen in ihrer auswärtigen Politik alte erprobte
Allianzen und durch die Zeit geheiligte Negierungsspsteme mit sichtbarer Vorliebe
an ihr Herz schließt; warum dieselbe „Times", die in ganz England mit Recht
für ein gemäßigt liberales Blatt gilt, in liberaleren Kreisen auf dem Continent
als gemäßigt reactionaires Organ verschrieen wird. Daraus erklärt sich's serner,
daß ihr protectionistische Blätter seit Jahren den Vorwurf machen konnten, sie
habe sich mit Haut und Haaren dem Satan Demokratie und Manchester überliefert,
während es bei vielen Radicalen aller Länder feststeht, sie stehe im Solde Rußlands
und aller bösen Geister. Die „Times" ist aber eben so wenig demokratisch, wie
russisch, steht eben so wenig im Solde von Arnold Rüge, wie vou Rothschild; sie
wird unter allen Verhältnissen, aus leicht faßlichen politischen Gründen, immer
mehr russisch als östreichisch, jederzeit mehr östreichisch als französisch und ewig
vor Allem englisch, egoistisch, das heißt politisch sein. Wer von der „Times"
oder von irgend einem mit Verstand redigirten politischen Blatte verlangt, daß
sich deren Redactionen auf einen allgemeinen rein menschlichen Standpunkt stellen
sollen, daß sie ihre. Urtheile über die Politik des Tages aus dem ewige» Buche
der Kulturgeschichte und der Moralphilosophie schöpfen sollen, mit Einem Worte,
daß sie Moral und nicht Politik machen sollen, der verkennt die Stellung eines
politischen Blattes, der könnte mit demselben Rechte einem Diplomaten das
strengste Abweichen von der Wahrheit zum Verbrechen machen, der müßte von
einem politischen Blatte vor Allem fordern, daß es sich von den Interessen der
Einzelnstaaten loslöse und, um desto nnbeirrter mvraphilvsophisch sein zu können,
sein Bureau nach einer der einsamsten Inseln des stillen Oceans verlege.
Doch wo sind wir hingerathen?! Der Leser möge diese Abschweifung ver-
zeihen; die Verführung dazu war gar zu groß; und dann war's so natürlich,
daß wir an die Richtung der Times dachten, wahrend ihr Manager und Re¬
dacteur über die morgigen Leitartikel consuliren.
Die Berathung ist geschlossen. Sie haben das Resultat derselben in wenigen
Worten zu Papier gebracht, Einzelnes dazu notirr, und so für jeden Leitartikel
ein mehr oder weniger bestimmtes Programm abgefaßt. Jedem einzelnen dieser
Briesprogramme werden, ,wo es nöthig ist, Actenstücke, einzelne Briefe inländischer
oder auswärtiger Korrespondenten, die bei der Bearbeitung des fixirten Artikels
allenfalls zu berücksichtigen sind, u. tgi. beigelegt, dann jeder solcher Brief an
die bestimmten Leitartikelschreiber durch einen Boten geschickt, der nach einigen
Stunden den Artikel wieder abzuholen hat.
Mit diesen Leitartikelschreibern der „Times" hat es ein ganz eigenes Be-
wandtniß. Bei deutschen Zeitnngsinstitnten fällt diese Arbeit zumeist den Re¬
dacteuren anheim; bei der Times hingegen war es ursprünglich Grundsatz, daß
die Redacteure nur zu redigiren, aber durchaus nicht zu schreiben habe». Der
Grund dafür ist theoretisch wie praktisch gleich richtig. Es liegt in der Natur
eines jeden Menschen, daß er für seine eigene Arbeit parteiisch ist. Es ist
einem Redacteur zu verzeihen, daß er seinem eigenen Artikel vor anderen den
Vorzug giebt, wenn er unter verschiedenen Arbeiten über denselben Gegenstand
zu wählen hat, wie dies bei der „Times" und wol bei jedem größern Zeitungs¬
institute der Fall ist. Um die Redacteure dieser Versuchung zu überheben, und
um ihnen Zeit zu gönnen, mit aller erforderlichen Aufmerksamkeit und Unpartei¬
lichkeit zu redigiren, d. h. anzuordnen, zu wählen, zu sichten und zu ordnen,
wurden die Redacteure des Schreibens ganz enthoben. Doch wird von dieser
heilsamen Regel nicht selten abgewichen, und sollen die feuilletonartigen, mit so
treffendem Witz und Humor geschriebenen Leitartikel? (namentlich über Localan-
gelegenheiten) aus der Feder von Mr. Morris selbst fließen.
Die Leitartikelschreiber bekommen das zu Stande gekommene Programm
ihrer zu liefernden Arbeit, wie bemerkt, in ihre Wohnung geschickt, die oft meilen¬
weit vom Times-Office entfernt ist. Wer diese Herren sind, was sie außerdem
für Stellung im Leben und Beschäftigung haben, weiß, außerhalb des Redactions-
bureau, Niemand zu sagen. Selbst alten, aus dem Times-Office grau gewordenen
Mitarbeitern ist dies ein uuerschlosseues Geheimniß. In ihm liegt ein Theil des
großen Nimbus, der die „Times" umgiebt, und der wol kaum in einer weniger
ausgedehnten Stadt wie London zu bewahren ist.
Diese Leitartikelschreiber setzen nie einen Fuß in's Times-Office, es müßte sie
denn ein ganz besonders wichtiges Geschäft hinführen. Diese Leitartikelschreiber
haben sich verbindlich gemacht, sich nie als Autoren ihrer Artikel, auch nicht als
Mitarbeiter der Times zu erkennen zu geben. Diese Leitartikelschreiber haben in
ihrer Verborgenheit auf jede literarische Anerkennung und Berühmtheit verzichtet;
Lob und Tadel ihrer Arbeit gehört der Times; diese hat die Ehre, diese hat die
Verantwortung; der Schriftsteller hat Nichts als die Bezahlung.*) Seine Arbeit
hat er der Times verkauft, und mit ihr zugleich das Recht, seine Arbeit umzugestalten,
hier und da einen Ausdruck zu ändern, umzumodeln, durch einen schwächern einen
stärkern zu ersetzen, oder auch die ganze Arbeit zu verwerfen. Der Artikel ist
eine Waare; der Käufer behält sich das Recht vor, mit dieser zu machen, was
ihm gut dünkt. Stimmt der Schreiber nicht mit der Tendenz der „Times"
überein, so steht es ihm jeden Augenblick frei, das Band zu lösen. So lange
dieses aber nicht der Fall ist, muß er sich's gefallen lassen, die Form seiner Arbeit
dem kritistrenden Urtheil der Redaction zu überlassen. — Die Redaction der
Times redigirt, während unsre deutschen Redacteure schreiben und blos sichten.
Erstere Methode kommt unstreitig dem Blatt zu Gute, letztere den Mitarbeitern.
Das System der Times erfordert Bedingnisse, die in Deutschland vergebens ge¬
sucht würden: große Capitalsmacht — eine Riesenstadt wie London und englische
Charaktere, das heißt Menschen, Schriftsteller von bedeutendem Talent, die im
Stande sind, für blankes Gold auf Lob und Anerkennung zu verzichte». Liegt
dieser Selbstverläugnung mehr als bloßer Gelderwerb zu Grunde? Ist es den
Leitartikelschreibern mehr um die Wirkung, die die Anonymität hervorbringt,
also um die Sache selbst, die sie vertreten, mehr als um Celebrität zu thun?
Sind sie die wahren Uneigennützigen, die deutschen Literaten dagegen selbstsüch¬
tiger? Steckt die größere Moral hier oder drüben? — Das sind schwer zu ent¬
scheidende Fragen, in die wir uns nicht weiter verwickeln wollen. Genug an
dem Gesagten, woraus man steht, daß ans dem Times-Office despotischer als bei
uns in Deutschland regiert wird. Wir kommen auf dieses Thema übrigens
weiter unten zurück, und wenden unsre Blicke wieder auf das Bureau von
Mr. Morris.
Neben den Zeitungen hat er noch einen mächtigen Stoß Papiere vor sich,
das sind die letzteingelaufenen Briefe „an den Editor", von denen man täglich
eine Auswahl im Blatte findet. Ihre Zahl ist Legion. Der Redacteur des
Tages hatte sie früher in Empfang genommen. Was nicht in's Blatt taugt, hat
er sofort beseitigt. Ans dem Bureau des Manager liegen blos diejenigen, aus
denen die weitere Auswahl getroffen werden soll, eine Arbeit, an der sich Mr.
Morris jetzt betheiligt.
Mr. Walter war es, der diese Briefe „an die Herausgeber" in der eng¬
lischen Presse zuerst in Ausnahme brachte. Es war ein glücklicher Gedanke, der
sein Blatt blitzschnell hob, und dessen sich jetzt sämmtliche englische Blätter be¬
mächtigt haben. Auch in Deutschland wurde diese Idee adoptirt, aber >--verstüm-
nett. In England bilden diese Briefe den wichtigsten polemistrcnden Theil des
Journals, bei uns dagegen stehen sie auf der Stufe von Inserate». Hier stützen
sie die Politik des Blattes, dort bewegen sie sich in indifferenter Sphäre. In
Deutschland werden sie vom Einsender bezahlt, hier nicht; ja ,,Times" sendet
sogar jedem Briefschreiber die Nummer, in welcher sein Bries abgedruckt ist, gratis
in's Hans, und wohnte er am Westende Irlands. Diese Aufmerksamkeit schmei¬
chelt dem Einsender. Er betrachtet sich gewissermaßen als Mitarbeiter der Times,
er nimmt Partei für sie, er gehört fortan zu den Getreuesten ihrer Getreuen.
Diejenigen, deren Briefe verworfen wurden, sind verletzt, werden der „Times"
vielleicht spinnefeind, schimpfen auf sie, und--lesen sie aus Feindschaft desto
versessener. Ein Blatt kann nur durch eine halbe Welt von Freunden und eine
halbe Welt von Feinden — wenn man sich so unalgebraisch ausdrücken darf —
groß werden. An Gleichgiltigkeit geht es am schnellsten zu Grunde.
Aber abgesehen vom materiellen Interesse, das diese eingesendeten Briefe für
die englischen Zeitnngsiustitute haben, knüpft sich an sie ein noch viel höheres
allgemeineres. Es werden öffentliche Angelegenheiten auf diese Weise oft
wirksamer besprochen; die öffentliche Meinung — durch Privatpersonen oder
ganze Körperschaften ausgedrückt — kommt rascher zum Vorschein; einzelne
Mißbräuche werden aufgedeckt; Angelegenheiten, die von minder hervor¬
ragender Wichtigkeit und doch wieder, weil sie in's Altagsleben einschlagen,
für jeden Einzelnen bedeutend sind, werden zergliedert und discutirt;
endlich liefern sie oft am schnellsten Mittheilungen über einzelne Vorkommnisse
aus entlegenen Landestheilen, aus Küstenstadtcheu, Dörfern und Weilern, .wo kein
bezahlter Korrespondent seine Hütte aufgeschlagen hat, wohin vielleicht noch
nie der Fuß eiues regelmäßigen Reporters gedrungen ist. So lange für Ein¬
sendungen dem Blatte gezahlt werden muß, können sie weder dem Blatte noch
dem Publicum von nennenswerthen Nutzen sein. — Freilich gehört zur Annahme
dieser englischen Methode auch das Niesenformat englischer Blätter, aber der
Redaction steht ja eine passende Auswahl frei. Das günstige Resultat müßte
sich, glauben wir, dato zeigen, denn locale Beziehungen, Angelegenheiten des
eigenen Heimathslandes oder der heimathlichen Stadt werden aus natürlichen
physiologischen Gründen ewig dem Publicum die heiligste» bleiben, weil sie ihm
am nächsten stehen. Man möge es John Britisch, prosaisch nenne», aber es
bleibt deshalb doch wahr, daß sie die große Masse der Leser (die gebildeten mit
eingeschlossen) viel mehr für einen eingesandten Brief über eine Verbesserung der
Stadtlohnkutschen, als für eine» noch so vortrefflich geschriebenen Artikel über
das Verhältniß Rußlands zu Persien interessirt. Daß mau uns um Gottes-
willen hier nicht mißverstehe! Der Himmel bewahre, daß unsre deutscheu Jour¬
nale über ihre Localangelegenheiten Rußland vergessen sollten; aber es ließe
sich Beides zweckmäßig vereinigen. Man kaun wol der Times nicht -nachsagen,
daß sie sich nicht mit allgemeiner und höherer Politik befaßt, und trotzdem ist sie
das gewissenhafteste, emsigste Localblatt von London, das aus einen Artikel über
das französische Kaiserreich, ohne Erröthen und> mit eben so großen Talent über
die Schmeerbänche der Cityaldermeu, .über die Cloaken von Hvuudsditcht spricht.
Also dieser Brief, und dieser und dieser und jene beiden werden morgen ein¬
gerückt. Die anderen wandern in's Feuer. Mehrere werden zurückgelegt. Mr.
Morris fliegt noch die mit der Morgenpost eingelaufenen Briefe der auswärtigen
Korrespondenten durch. Dann verabschiedet sich der Redacteur, um die aus¬
gewählten Papiere der Druckerei zu übergeben. Es sind mittlerweile über dem
Cousultiren und Durchlesen mehrere Stunden vergangen. Der Redacteur kann
das Office verlassen. Mr. Morris hat noch vollauf zu thun'").
Für ihn beginnt erst die materielle, geschäftliche Arbeit. Er besorgt die ge¬
schäftliche Korrespondenz nach auswärts, die Zahlungen an die Leitartikelschreiber
und auswärts angestellte» Correspondenten, mit denen der Rechnungsführer des
Hanfes in keiner Berührung steht, von deren Gehalten er nicht in Kenntniß ge¬
setzt ist, deren Besoldungen uicht in seinem Buche eingetragen werden, während
die Bezahlung der übrigen Angestellten zu seinem Amte gehört.
Ist dieses abgethan, dann kommen zur festgesetzte» Minute: Der Uuter-
redacteur, der die Hauptleitung des Technischen hat, und seinen Rapport
abstattet — dann der eigentliche Oberaufseher der Druckerei, der berichten muß,
wie viele Exemplare der letzten Zeitungsnummer verkauft, wie viele in späten
Tagesstunden nachgefordert wurden — dann präsentirt sich der Casstrer mit sei¬
nen Rechnungen vom vorigen Tage, die abgeschlossen sein müssen und genau
nachweisen, was an verkauften Exemplaren Geld gelöst wurde, wie viele Gratis¬
exemplare (an Hauptmitarbeiter, ordentliche und gelegentliche Correspondenten
n. tgi.) versandt wurden; wie groß nach Abzug der Stempel- und Annoucen-
gebühreu der Ertrag der verkauften Exemplare gewesen u. s. w. Mr. Morris
hat alle diese Rechnungen zu revidiren, zu vergleichen, in sein Privatnotizbuch
einzutragen. Darüber ist's fünf Uhr geworden. Der zweite Redacteur erscheint im
Bureau; es giebt immer Etwas, worüber man sich noch zu bespreche» hat, entweder
eine neu eingelaufene Korrespondenz, eine Tagesneuigkeit, oder auch Etwas, was
möglicher Weise in deu Abendstunden zur Parlamentszeit noch vorkommen könnte,
jedenfalls, worüber schon des Morgens mit dem andern Redacteur conferirt wurde.
Mit dieser Consultation ist das Tagewerk von Mr. Morris zu Ende; er verläßt
das Office. Von jetzt an bis» gegen neun Uhr bleiben die übrigen Geschäfte dem
eben anwesenden Redacteur überlassen. Dieser liest die eingelaufenen Leitartikel,
vertheilt die Manuscripte an die Druckerei und nimmt alle einlaufende» Zuschrif¬
ten in Empfang. An Arbeit fehlt's nie; kaum, daß sie ein einziger Redacteur
bewältigen kann. Um nenn Uhr ist deshalb auch der College, den die Reihe
am Morgen getroffen hatte, wieder zur Stelle, um die weitere Nachtarbeit zu
theilen. Er bleibt längere oder kürzere Zeit, je nachdem für ihn Arbeit vorhanden
ist. Einer der beiden verläßt jedoch das Office nicht, bevor ihm der erste Abzug des
morgigen Exemplars vorgelegt werden konnte und er sein Imprimatur daraus ge¬
schrieben hat. Außerdem hat er noch zu bestimmen, wie viele Exemplare gedruckt
werden sollen. Die Zahl ist nämlich nicht fixirt, und der Redacteur hat darüber,
je nach der Wichtigkeit des Inhalts, sein Urtheil abzugeben.*)
Was aber — wird man fragen — giebt es so spät noch zu thun? Unsre
deutschen Redactionen sind selten bis nach Mitternacht beschäftigt, die französischen
liefern ihr Manuscript gewöhnlich schon um acht Uhr Abends ab; was hält die
englischen bis drei, vier Uhr Morgens wach?
Zum Theil warten sie telegraphische Berichte ab, um sie noch in's Morgenblatt
zu bringen; während der Parlamentszeit dagegen läuft erst in den späten Nacht¬
stunden der größte Theil des zu druckenden Materiales ein. Sonst kommt wol
nach Mitternacht kaum neuer Stoff, deun die letzten Berichte aus der Provinz,
die irländische Post und andere, sind um zehn Uhr mit dem letzten Eisenbahnzüge
schon eingelaufen während der sogenannte City-oder Moneyartikel außerhalb
des Times'office gearbeitet wird, und weder von Mr. Morris, noch von einem der beiden
Redacteure redigirt und controlirt wird. — Die Berichte.derselben müssen gewöhnlich
erst gekürzt werden (was von einem emeritirten Reporter versehen wird). Den Redac¬
teuren bleibt blos die letzte Uebersicht. Sie haben oft alle Hände voll zu thun/ um Leute
zu empfangen, die in Geschäften kommen, darunter nicht selten Parlamentsmitglieder,
die ihre Reden corrigiren wollen, die den Redacteuren ihre Ansichten aus einander
setzen möchten, um nicht mißverstanden zu werden, und anderer sonderbarer Gäste
mehr, von denen wir jedoch weiter keine Notiz nehmen wollen, weil ihre Ange¬
legenheiten Nedactionsgeheimnisse sind, und nicht immer vor's Publicum gehören.
Genug, ein Redacteur der „Times" hat selten Zeit, müßig zu sitzen. Es wird
oft vier Uhr Morgeus, bis der letzte sich einen Cad aufsucht, um im Morgengrauen
seine entlegene Wohnung auszusuchen. —
Unsren Lesern wird's noch nicht so wohl. Sie müssen noch mit uns ein
Weilchen im Times-Office bleiben, und abwechselnd einen Blick nach Westminster
werfen, um zu sehen, wie englische Reporters arbeiten.
Vorerst müssen wir bemerken, daß ein englischer Reporter in literarischen
Kreisen sowol, wie bei seinem Journal eine bedeutende Stellung genießt, daß der
Titel „Reporter" eigentlich nur den Parlamentsberichterstattern zukommt, und daß
zu diesem Posten bedeutende journalistische Fähigkeiten, große Gewandtheit, nicht
gewöhnliche Sach- und Pcrsonenkenntniß gehört.
Lassen Sie uns eine kleine Spazierfahrt nach Westminster »machen. In einem
Hansvm Cad *) legen wir die Strecke vom Times' Office dahin in weniger als
einer Viertelstunde zurück. Wir steigen an einer schmalen Breterthür ab, die
provisorisch zur Neportergalerie führt, gehen durch einen unausgebauten Hof;
links durch ein gothisches Pförtchen, steigen ein paar Dutzend Treppen hinauf,
öffnen eine Glasthüre, und treten in ein kleines Gemach, aus dem uns die Hitze'
eines riesigen Kaminfeuers eutgegenschlägt. Aus der Treppe, in den Corridoren,
in diesen und den anstoßenden Stuben sind die Lampen schon angezündet, obwol
es draußen noch helllichter Tag ist, denn es gehört zu deu praktischen Schönheiten
dieser, um den Preis von Millionen erbauten, so vielfach verfehlten Parlaments¬
gebäude, daß die Reporters in ihren an die Galerie stoßenden Arbeitsstuben
vom Tageslicht so wenig als möglich zu sehen bekommen.
Was aber der Architekt bei der Anlage verschuldete, hat man auf andere
Weise wieder gut zu machen gesucht. Die Localitäten für die Reporters sind
— die Abwesenheit des Tageslichtes abgerechnet — so comfortable eingerichtet,
wie es weder in Deutschland, noch in Frankreich je in einer Kammer der Fall
war. Das erste kleine Gemach, in das wir eingetreten sind, ist nicht umsonst mit
einem riesigen Kamine versehen. Es ist das Vorzimmer und zugleich das Refec-
torium der Reporters. In der Ecke steht ein Tisch, darauf einige Schüsseln mit
Backwerk und kalten Fleischspeisen, die ein nichts weniger als lucullisches Abend¬
mahl liefern, aber doch hinreichen, einem genügsamen Journalisten, der nicht an
der theuren Tafel des Parlaments-Traiteurs speisen will, den Hunger zu stillen.
Aus dem Roste am Kaminfeuer stehen einige Kannen, darin siedet und brodelt das
Wasser ganz vertraulich und ladet zum Thee oder Kaffee ein. Auf einer Holzbank,
der Thüre gegenüber, sitzen zwei Jungen, offenbar sehr schläfrig, und gelangweilt,
und vom Kaminfeuer halb geröstet, die wahrscheinlich auf Manuscript warten.
An dem erwähnten Ecktische sitzen zwei Herren mit den Hüten aus den Köpfen,
leise plaudernd, und Thee aus großen Tassen schlürfend. Das sind Reporters,
die eben abgelöst wurden; andere gehen fortwährend ab und zu; die kleine Glas¬
thüre steht nicht einen Augenblick still; auch der Diener der in diesen Räumen
waltet, scheuere, politistrt und Kaffee kocht, hat ewig ab- und zu zu rennen. Es
sitzt und plaudert sich trotz dieses Hin- und Wiederrennens ganz traulich in dieser
Stube, wenn man zu den Eingeweihten gehört. Diese englischen Reporters
sind ganz stattliche gesetzte Leute, denen oft die vierziger Jahre den Backenbart
grau gefärbt, oder den Scheitel kahl gefegt haben. Keine grünen Federvögel, die
auf der Galerie erst die Feder halten lernen, keine jungeu Bürschchen, die sich
im Dictandoschreiben üben; so ein Engländer mit seinen langen Beinen und
seinem glattrasirten Gesicht sieht — man mag sagen, was man wolle — doch
jederzeit solid aus, mag er nun Journalist oder Braucrknecht sein; es steckt ein¬
mal in der Race, im Blut, in der Erziehung. —
Vom Vorzimmer führt ein kleiner Corridor in eine zweite Stube, die durch
eine Glasthüre mit eiuer dritten, durch eiuen andern kleinen Corridor mit der
Galerie des Hauses in Verbindung steht. Alle diese Räume, vom obersten Treppen¬
absatz angefangen, sind mit Teppichen dicht belegt, die Stuben rings herum von
grünledernen Ottomanen eigesaßt, die Wände rings herum mit Eichengetäfel be¬
legt, in den Fenstervertiefuugen allenthalben Schreibtische angebracht, in den
Marmorkaminen überall Feuer angezündet, so daß Alles solid, einfach und wohnlich
aussieht. In dem Wandgetäfel befinden sich überdies Schränke für die Reporters,
um Oberröcke, Papiere und tgi. zu versperren; in einem kleinen Seitengemache
dagen findet man jene Apparate, die der Engländer in seinem Privat- und
öffentlichen Gebäuden gern im Ueberfluß anbringt, die er auf dem Kontinente
schmerzlich vermißt, deren Abwesenheit er in der Fremde mehr als irgend etwas
rügt—, ich meine eine Reihe von Waschbecken aus Porzellan in Marmorplatten
eingesenkt, die sich in jedem Augenblicke mit frischem Wasser aus der Wasserleitung
des Hauses füllen lassen.
Somit hätten wir die Parlamentsbehausuug der Reporters beschrieben, die
als Arbeitslocale, als Erholungsplatz und als Eingang zur Neportergalerie
Dienste leistet. Vou letzterer ist wenig zu sagen. Sie befindet sich an der
schmalen Seite des länglichen Sitzungssaales vor nild unter der vergitterten
Damentribune, gerade über dem Stuhl des Sprechers. Sie hat zwei Reihen
Sitze, im Ganzen, wenn wir nicht irren, nicht mehr als vier und zwanzig, und
vor jedem Sitz ein kleines bequemes Schreibpult.
Diese Galerie ist Jedem, der nicht Berichterstatter eines der großen Lon¬
doner Blätter ist, streng verschlossen. Es gilt dieses Verbot nicht allein, für
Nichtjournalisteu, sondern auch den englischen Provinzialzeitungen wurde es —
zumeist wegen der Beengtheit des Raumes — nicht gestattet, Berichterstatter
dahin zu senden. Von einer regelmäßigen Zulassung nichteuglischer Journalisten
kann somit keine Rede sein. Bittgesuche dieser Art wurden einige Male ein¬
gereicht, jedoch entschieden, wenn auch höflich, abgewiesen. Bedenkt man, daß
diese Galerie blos vier und zwanzig Sitzplätze hat, daß man auf den zwölf in
der zweiten Reihe befindlichen schon wenig steht und noch weniger hört, daß
jedes der Londoner Blätter gegen zwölf Parlamentsreporters besoldet, daß der
Stab dieser Berichterstatter somit über achtzig Mann stark ist, so wird man wol
zugestehen müssen, daß mit Recht über Raumbeschränkung geklagt wird. Wie
dieser Stab eingetheilt ist und seine Geschäfte besorgt, werden wir im Folgenden
sehe», und wir halten uns wieder streng an das Times-Institut, »ach dessen Vor¬
bild die Neportercorps fast aller übrigen Blätter disciplinirt sind. —
Die Times besoldet für Ober- und Unterhaus zwölf Reporters*). Einige
derselben sind blos für die Parlamentssaison engagirt; das sind zumeist angehende,
mittellose Advocaten, sogenannte Barristers, die in sechs Monaten so viel als
Reporters verdienen wollen, um die andere Hälfte des Jahres ihren Studien
obliegen zu können, die überdies gern das Nepvrteramt im Parlament über¬
nehmen, weil es als eine tüchtige Vorbildung und Glanzschule für junge Nechts-
candidateu angesehen wird. Wieder andere haben bei der „Times" ganzjährige
Engagements, und diese bilden ihre verläßliche Parlamentsgarde, auf deren Tüch¬
tigkeit sie zählen kann, wie auf ihre Druckmaschinen. Ist die Saison zu Ende,
so zerstreut sich das Corps nach allen Enden; die armen Barristers verkriechen
sich in ihre Dachstuben von Graph' Jnn, Lincolns' Jnn, Fnrnival's Inn, um
mit dem, was sie in den schwülen Sommernächten der Parlamentszeit erschrieben
haben, in deu naßkalten Wintertagen leben und studiren zu können. Von den
fixangestellten Reporters dagegen bleibt die eine Hälfte in London zur Dis¬
position des Journals, das sie bei bedeutenderen Meetings, bei Reisen der
Königin und anderen außergewöhnlichen Gelegenheiten (Eröffnung der großen
Ausstellung, Leichenfeier Wellington's u. dergl.), wo die Dienste der alten Garde
ersprießlich sind, verwendet. Die andere Hälfte erholt sich in der Provinz, auf
deu Bibliotheken, in ihren Familienkreisen, auf dem europäischen, astatischen,
amerikanischen, oder afrikanischen Kontinent.--Ein echter Engländer, be¬
haupten alle echten Engländer, findet immer etwas Vernünftiges zu thun, wenn's
auch noch so toll aussteht.
An dieses zwölf Köpfe starke Reportercorps der „Times" schließt sich ein
dreizehntes Haupt an, das schon grau umrandet ist. Das ist der sogenannte
Snmmary-man, derjenige, der die Uebersichten der Sitzungen, wie man sie in
jeder englischen Zeitung findet, im Hause selbst zu arbeiten hat. Er soll vom
Anfang bis zu Ende der Sitzung, wofern sich nur einigermaßen bedeutende Redner
betheiligen, auf seinem Platze sein, um den kurzen Auszug beim Schlüsse abliefern
zu können. Er verhält sich der Würde nach zu den übrigen Reporters, wie der
Korporal zu den Gemeinen. Und weil wir schon eine militärische Rangordnung
gelten lassen, wollen wir gleich unsren Leser mit dem Capital» des ganzen Corps
bekannt machen, mit Mr. Dod, dem Herausgeber der bekannten „Parliamen-
tary Companion", der das souveraine Kommando über sämmtliche Times-
reporters fuhrt und dessen Autorität auch von den Berichterstattern der übrigen
Londoner Blätter anerkannt wird.
Mr. Dod wird uns neugierigen Ausländern heute schon erlauben müssen, ihn
mit seinem Corps die Revue passtren zu lassen. Mr. Dod ist ein liebenswürdiger
Herr mit stark grauen Haaren, der alle Parlamentsgeschichten am kleinen Finger
hat, und bei dem sich mancher grüne Commoner Rath erholen könnte. Mr.
Dod ist für die Times im Parlament, was Mr. Morus für sie im Office ist;
er besorgt Alles, was in's Fach der Parlamentsberichtc gehört; er engagirt,
mustert, exercirt und commandirt sein kleines Corps; er schreibt im Office am
schwarzen Bret Tag und Stunde der nächsten Sitzung an; er ist bald auf der
Journalistentribune, um den Reporters Winke zu geben, bald unten im Hause,
um sich von den Mitgliedern oder Secretairen einen statistischen Ausweis oder
ein Document zur Benutzung zu erbitten, bald im Bureau der Times, um die
von den Reporters eingelaufenen Bruchstücke zu überfliegen, zu kürzen und zu
redigiren; kurz, der ehrenvolle Mr. Dod ist in Parlamentsnächten überall und
nirgends, das heißt immer auf der Wanderung zwischen Westminster und dem
Times' Office.
Sein Corps theilt er gewöhnlich in zwei getrennte Häuflein. Die Jüngeren
arbeiten im Oberhause, die Garde sitzt im Hause der Gemeinen, wo die Arbeit
schwerer ist, weil die Sitzungen länger, die Vorlagen und Reden bedeutender, die
Debatten verwickelter sind, weil die Schwerkraft der parlamentarischen Thätigkeit
doch zumeist im Unterhause ruht. Es gilt in beiden Häusern die Regel, daß die
Reporters in einem regelmäßigen, gewöhnlich halbstündigen Turnus einander ab¬
wechseln. Mr. A... zum Beispiel ist bei Beginn der Sitzung auf seinem Platze
in der vordem Bankreihe, neben ihm Mr. B..., der ihn zunächst ablöst, so
daß jedes der sechs Morgenjournale zwei von den zwölf Vordersitzen occupiren
kann. Nach der ersten halben Stunde tritt Mr. A ... ab, Mr. B ... nimmt
seinen Platz ein, und Mr. C... erscheint ans dem.eben von Mr. B... ver¬
lassenen Sitze. Am morgigen Abend wird der Turnus da wieder aufgenommen,
wo er heute schließt, so daß jedem Reporter die Arbeit gleichförmig zugemessen ist.
Was aber thut Mr. A., nachdem er eine halbe Stunde auf der Galerie
geschrieben hat? Es bleiben ihm zwei Stunden, bis die Reihe wieder an ihn
kommt, aber von diesen zwei Stunden bleibt ihm gar wenig Zeit zur Erholung.
Er fährt in einem, die Nacht über immer bereit stehenden Cad in die City in's
Office, um das, was er flüchtig im Parlament mit Bleistift aufzeichnen konnte,
gehörig zu stylistrcn. Auf jede während einer halben Stunde hingeworfene
Skizze rechnet man im Durchschnitt eine Stunde bis fünf Viertel Stunden Arbeit.
War es nöthig zu stenographiren — und jeder Reporter muß im Stenographiren
geübt sein, obwol er diese Kunst nur bei außerordentlich wichtigen Reden in An¬
wendung bringen soll — dann nimmt das Niederschreiben noch viel mehr Zeit
in Anspruch. Es hängt aber Alles von der Wichtigkeit der Sitzung ab, und wird
die Arbeit gar zu schwer, so beordert Mr. Dod einen oder zwei Reporters vom
Oberhaus als Succurs nach der Journalistentribnne der Gemeinen*).
Hat der Reporter seine Notizen im Times' Office geordnet, so wandert sein
Elaborat in's Bureau. Hier wird es gewöhnlich stark zugeschnitten, wobei Mr.
Dod, der von Zeit zu Zeit erscheint, seinen Theil mithilft. Die redigirten Partien
wandern in die Druckerei, werden gesetzt, und kommen auf langen Streifen ab¬
geklatscht nochmals zu den Redacteuren zurück, um beim Abschluß dem parlamen¬
tarischen Leitartikelschreiber vorgelegt zu werden, der jedoch bei wichtigen Sitzungen
gewöhnlich selbst im Parlament anwesend ist, und beim Morgengrauen an die Ab¬
fassung des Leitartikels über die eben geschlossene Parlamentsdebatte schreitet,
damit er wenige Stunden später dem Publicum vorgelegt werden könne. Schließt
die Sitzung um zwei Uhr nach Mitternacht, so wird es drei Uhr Morgens und
oft später, bis der letzte Reporter und der Schreiber des parlamentarischen Leit¬
artikels und einer der Redacteure ihre Arbeit vollendet haben. Das heißt doch
schwer arbeiten! schwerer, als sich die meisten Journalisten auf dem Kontinent
träumen lassen! Aber so geht's in allen Ständen. Der Engländer, ob Literat
oder Handwerker oder Kaufmann, thut nichts halb, weil nichts halb gethan wer¬
den darf. Es giebt in keinem Lande der Welt ein so großes Feld für ernste
Thätigkeit, wie in England, aber man muß viel Kraft, Ausdauer und Entsagung
mitbringen. Ein englischer Reporter auf Ferien, der am Züricher See bei
Sonnenaufgang die Gegend in sein Notizenbuch einzeichnet, und die langen, mit
Gamaschen bekleideten Beine so recht weit von sich streckt, ist für einen deutschen
Journalisten eine sehr beneidenswerthe Persönlichkeit. Freilich man sieht's dem
Manne nicht an, wie angestrengt er die letzten sechs Monate gearbeitet hat. —
Es ist drei Uhr Morgens, wir haben nun schon dreizehn Stunden im Times'
Office zugebracht; von jetzt an arbeiten blos die Drucker und die beiden großen
Druckmaschinen, die zusammen zehntausend Exemplare in jeder Stunde liefern;
aber so müde und gelangweilt unsre verehrten Leser auch sein mögen, wir können
sie noch nicht entlassen. Es bleibt zur Vervollständigung noch Einiges zu sehen
übrig. —
Es war bisher nur von den Parlamentsreporters und ihrem Capitain die
Rede. Es stehen aber noch andere Berichterstatter im Dienste der „Times"
und eines jeden Journals, die wir nicht vernachlässigen dürfen.
Hieher gehören vor Allem die stehenden Berichterstatter in London, die
gelegentlich verwendet werden, sonst aber auf dem Bureau selbst beschäftigt werden,
um Auszüge aus inländischen und fremden Journalen zurecht zu machen, über¬
sichtliche Berichte aus Kolonial- und überseeischen Blättern zusammenzustellen und
dergleichen mehr. — An diese schließt sich der Berichterstatter und Kritiker aus
dem Gebiete der Musik, während die Kritiken von Dramen, Vorlesungen und
Büchern dem einen oder andern Mitarbeiter zufallen. — Für die Beuchter aus
den Gerichtshöfen besoldet die Times keine eigenen Reporters. Sie werden ihr
durch Barristers, die an den verschiedenen Gerichtshöfen prakticiren, geliefert.—
Auch die Polizeiberichte werden nicht von fixen Reporters abgefaßt, sondern zu¬
gleich mit den übrigen Londoner Journalen von einem Manne bezogen, der seine
eigenen Leute in die Policecourts schickt, für dieselbe» verantwortlich ist, und
gegen eine bestimmte Bezahlung allen Blättern das Bedeutendere auf diesem Felde
zuschickt.
Für die Mittheilung sonstiger Localereignisse sorgen die sogenannten Penny-
a-liners, diese nomadischen Journalisten, die Tag und Nacht auf deu Beinen sind
die bei allen Polizeiwachen, in allen Dicbshöhlen, bei allen Feuersbrünsten herum-
spucken, Notizen sammeln, sie möglichst breit treten, möglichst pikant machen und
dann an die einzelnen Journale verkaufen. Es sind dies ganz merkwürdige,
rührige, zuweilen talentvolle, vielfach durch Wind, Wetter» und Kneipenleben ab¬
gehärtete Persönlichkeiten, deren Blüthezeit außerhalb der Londoner Saison fällt,
wo die Redactionen mit dem Stoff nicht wählig sind, wo diese Penny-a-lincrs
in einer einzigen glücklichen Woche durch ihre „fürchterlichen Raubmorde", „höchst
erschrecklichen Feuersbrünste", „ganz besonders waghalsigen Einbrüche", „wunder¬
bare Freundschaften von Hunden, Kaninchen und Wasserratten", manchmal eine
erkleckliche Summe Goldes verdienen. Leider werden ihre wunderbaren Beiträge
von den Redactionen unbarmherzig zusammengestrichen, sonst wäre ihr Geschäft
eines der einträglichsten in der reichen Stadt London.
Die letztgenannten drei Klassen von Journalisten dienen, wie man sieht,
mehreren oder allen Blättern zu gleicher Zeit. Für ihre Ehrlichkeit bürgt ihr
Interesse; denn es versteht sich von selbst, daß sie ihre Kunden verlieren müßten,
wenn sie absichtlich lügenhafte Berichte einliefern würden. In diesem Bewußtsein
steckt ihre ganze Organisation. Sie fußt wie jedes Gewerbe in England auf
dem doppelten Systeme des materiellen Vortheils und der unbeschränkten Con-
currenz. —
Ueber die Organisation dagegen der sixangestellten Berichterstatter und Mit¬
arbeiter, namentlich bei Times, ließe sich Vieles sagen, was in den Ohren unsrer
deutschen Journalisten (die bei einem Journal fest angestellt sind) ganz fabelhaft
klingen würde. Wir meinen die strenge Subordination in ihrem Dienste, deren
sich Keiner entziehen darf. Wir wollen hier nicht in Einzelnheiten eingehen, die
zu weit führen würden. Nur so viel als Fingerzeig, daß jeder Berichterstatter
der Times in jedem Augenblicke bereit sein muß, eine Misston nach irgend einem
Theile Englands oder des Kontinents zu übernehmen, daß, dem strengen Regle¬
ment zufolge, Jeder sogar Jahr aus, Jahr ein, eine Reisetasche mit den aller-
nöthigsten Effecten gepackt, aus dem Office stehen haben sollte, daß er des Abends
nie für längere Zeit seine Wohnung verlassen darf, ohne zu hinterlassen, wo er
zu treffen sei, im Falle e^ auf dem Bureau plötzlich gebraucht werden sollte,
und dergleichen mehr. — Es sei dies blos erwähnt, um zu zeigen, wie streng
geschäftlich hier auch die Journalistik betrieben wird. Von Kollegialität ist
hier wenig die Rede. Kaum, daß die Reporters der Times mit einander je in
nähere Berührung kommen. Mit den Redacteuren verkehren sie nur dort, wo
das Geschäft es erheischt. Sie haben ihre Arbeit abzuliefern; was weiter damit
geschieht, kümmert, sie eben so wenig, wie den Schuster, der die Stiefeln seinem
Kunden bringt, und das Geld dafür einsteckt. Sie opfern ihre Individualität
dem Zeitungs-Jnstitute, dem sie dienen, um entweder in dieser Stellung bis in
ihr hohes Alter zu verbleiben, oder sich, wenn wirkliches Talent vorhanden ist,
eine sreie, selbstständige Stellung in der Literatur zu verschaffen. Sie Alle, vom
Leitartikelschreiber bis zum auswärtigen Korrespondenten und dem Perus-a-Liner
herab, erkennen unbedingt die Despotie ihrer Redactionen an. Sie schreiben
das, was sie zu arbeiten übernommen haben; sie liefern es ab; ob es gedruckt,
oder nicht gedruckt, gekürzt, geändert, oder in den Papierkorb geworfen wird,
darf sie nicht weiter kümmern. Welcher deutsche Journalist — und wäre er der
grünste unter den grünen — würde sich eine solche Entweihung seines Talents
gefallen lassen! —
Und nun — leb' wohl, Times' Office, mit allen deinen Leitartikelschreibern,
Redacteuren, Parlaments-Reporters, Mitarbeitern, Setzern und Druckern! Es
ist vier Uhr Morgens. Deine Riesenmaschinen klappern um die Wette bis sechs
Uhr; dann wird eine kleine Pause gemacht Owxxröss), um die eine oder die,
andere continentale, eben angekommene Depesche einzuschalten, und dann wird
immer wieder emsig darauf losgedrückt. Hat die Druckerei und Expedition ihre
Arbeit gethan, so erscheint auch schon die Redaction wieder in ihren Bureau's.
Die Thüre im Times' Office wird außer Sonntag nie geschlossen. —
Odisch-magnetische Briefe von Freiherrn von Reichenbach, plril. Dr. Cotta'scher
Verlag, 1852.
Der Action folgt Reaction. Sahen wir in der letzten Zeit auf politischem
und religiösem Gebiete dieses Gesetz zur Genüge bestätigt, so bietet uns jetzt
auch die Geschichte der Wissenschaft immer neue Belege. Dem während der letzten
Jahre unter den Naturforschern herrschenden Streben, die organischen Processe
als rein chemischen und physikalischen Gesetzen folgend, darzustellen, sie nach
mathematischen Formeln zu berechnen, ist jetzt eine Salute entgegengetreten, die
nicht blos über alle wirklichen Fortschritte der Wissenschaft hochmüthig hinwegsieht,
sondern überhaupt jede verständige Betrachtung der Natur verwirft, und nun
mit dem Gemüthe an ihre Pforten klopfen möchte. Dem größern Publicum
konnte dieser Zwiespalt nicht verborgen bleiben, und wie gewöhnlich wendet die
Menge sich dem Neuen zu. Dieselben gebildeten Laien, die vor einigen Jahren
für Liebig's geistreiche Hypothesen geschwärmt hatten, »erkiesen sich jetzt mit Vor¬
liebe in Ennemoser's und Schubart's Aufschlüsse über die dunkelsten Gebiete des
körperlichen und geistigen Lebens. Nie fanden Hellseher und Magnetisenre ein
ergiebigeres Feld ihrer Thätigkeit, als in unsrer glaubensstarken Zeit, die
öffentlichen Blätter wimmeln von Dankadressen für wunderthätige Heilungen solcher
Kranken, die von allen Aerzten längst ausgegeben waren, und selbst in der
„Metropole der Intelligenz" taucht von Zeit zu Zeit eine besonders inspirirte
Somnambule auf, die zahlreiche Neophyten, selbst aus den höchsten Stauden an
ihren Dreifuß fesselt, bis die Freundin der Wahrheit, die Polizei, mit unzarter
Hand den geheimnißvollen Schleier lüftet und — Betrüger entlarvt. Neben der
fruchtbringenden Literatur, welche die Resultate der Wissenschaft in popnlairer
Sprache einem größern Leserkreise mittheilt, und mit dem Aberglauben einen
erfolgreichen Kampf führt, haben die letzten Jahre eine große Anzahl jvon
Schriften gezeitigt, die uns jene längst überwundene, mystische Naturbetrachtung
wiedergeben möchten, die uns immer von Neuem zurufen, daß viele Dinge im
Himmel und ans Erden seien, von denen sich unsre Schulweisheit nichts träumen
läßt. Namentlich von dem blasirten Theil der höheren Stände, die bis dahin,
weil es zum guten Ton gehörte, sich mit Humboldt's Kosmos quälten, wird
diese leichtere Lectüre eifrig gesucht. -
Zu den Büchern, mit denen jetzt die Buchhändler Geschäfte machen, gehören
diese ,,odisch-magnetischen Briefe."
Als diese Briefe vor einem Jahr theilweise in der Augsburger Allgemeinen
Zeitung erschienen, folgte man recht gern dem fedcrgewcmdteN Verfasser > auf den
dunkelen Pfaden, die er seine Leser führte; oft wandte man sich ermüdet von der
wenig erfreulichen Politik, und hieß dann in der Beilage diese Speculationen
eines phantasiereichen Kopses willkommen. Jetzt aber, wo diese Briefe zu einem
Büchlein vereinigt, gefeilt, ergänzt sind, treten sie mit dem Anspruch vor uns hin,
einen Fortschritt in der Wissenschaft zu bezeichnen, sie fordern die Kritik in die
Schranken. In diesen Blättern beschränke ich mich indeß auf ein Referat über
den Inhalt des Buchs, denn um gewissenhaft Kritik zu üben, müßte man dem
Versasser nachexverimentiren. Das that ich nicht. Wenn es mir als Arzt auch
nicht schwer geworden wäre, eine Menge sensitiver Personen zu finden, die Alles
sehen, hören, fühlen würden, was ich von ihnen verlangte, so zweifle ich doch an
meiner und fremder Ausdauer, wenn zum Gelingen der wichtigeren Versuche ab¬
solute Finsterniß und stundenlange Vorbereitung in dieser gefordert wird. Erst
nach solcher Geduldsprobe erschließen sich dem Forscher die Wunder des Ob,
eines neuen Jmponderabils, mit dem der Verfasser unsre physikalische Kenntniß
bereichert. Er leitet das Wort von dem altgermanischen XVuo<Ziu, XVväg.n, Oäm
ab, das eine Alles durchdringende Kraft bezeichnen soll. Als Aeußerungen dieser
Kraft betrachtet Herr von R. alle Idiosynkrasien gegen bestimmte Farben, Gerüche, -
Speisen, das ganze große Heer der Sympathien und Antipathien, von denen uns
hysterische Frauen erzählen. Besonders richtet er seine Aufmerksamkeit auf solche,
welchen die gelbe Farbe, der Spiegel verhaßt ist, denen übel wird, wenn sie in
einer gefüllten Kirche oder einem geschlossenen Wagen sitzen müssen, die kein un¬
echtes Metall als Speisegeschirr vertragen können, die gern Salat essen u. s. w.
Wer diese und andere liebenswürdige Eigenschaften in sich vereinigt, ist nach dem
Verfasser ein Sensitiver und eignet sich zu seinen Versuchen. Sperrt man sich
mit einer solchen Person in ein absolut finsteres Zimmer und gewöhnt ihr Auge
durch mehrstündigen Aufenthalt darin an die Dunkelheit, so sieht sie einen ihr
vorgehaltenen Bergkrystall „ganz und gar in einem seinen Lichte glühen, und
zwar über seiner Spitze eine handgroße Leuchte von blauer Farbe hervorströmen,
während sein unteres stumpfes Ende einen rothgelben Rauch ausstößt." Weniger
umständlich soll es sein, die Einwirkung des Ob auf das Gefühl zu zeigen.
Man braucht nur einen sensitiven vor einen quer über eine Tischecke gelegten
Krystall zu führen, dessen beide Enden frei hervorstehen, so wird es demselben
scheinen, als ob aus der Spitze des Krystalls ein kühler, aus dem entgegengesetz¬
ten Ende ein warmer Hauch Ströme. Dieser Hauch wird schou empfunden, wenn
die Hand nur auf einige Zoll dem Krystall genähert wird. Wie die verschiedenen
Pole des Krystalls verhalte» sich für das Gefühl des sensitiven auch die ver¬
schiedenen Seilen des menschlichen Körpers, so daß derselbe, wenn er mit der
rechten Hand die linke eines Andern faßt, dies „lustig angenehm" empfindet,
wenn er dagegen mit der gleichnamigen ergriffen wird, ein widriges Gefühl hat.
Sensitive vertragen daher den freundschaftlichen Händedruck uicht, weil dabei ge¬
wöhnlich eine Rechte die andere berührt, und müssen also wol in England, wo
das state Kalicks noch gebräuchlicher als bei uns, wahrhafte Folterqualen ausstehen.
Eben so hält ein Sensitiver es nicht aus, daß Jemand neben ihm steht, dessen
linke Körperseite die seinige - berührt. Nur wo sich ungleichnamige Theile nahe
kommen, wird dies angenehm empfunden.
Bei dem Versuch, die praktische Brauchbarkeit des neuen Dynamits zu be¬
weisen, wirft der Verfasser zuerst einige Blicke aus den Mesmerismus, das von
Or. Mesmer zuerst in der Heilkunde eingeführte Magnetisiren. Nach den An¬
gaben des Verfassers reicht die bloße Berührung, selbst Annäherung der Finger,
aus, um bei sensitiven Personen erhebliche Wirkungen hervorzurufen. Streicht
man mit den Fingerspitzen der rechten Hand auf der linken Körperseite des sen¬
sitiven herab, so wird er diesen Strich selbst durch die Kleider kühl empfinden.
Fährt man mit beiden Händen über die ungleichnamiger Seiten des Patienten,
so kommt ein angenehmes Kühle- und Ruhegefühl über diesen, das sich bei steter
Wiederholung der Manipulation zum magnetischen Schlaf steigert. Ohne Magne-
tiseure von Profession zu sein, können wir also, wenn es uns nur gelingt, eine
Sensitive aufzutreiben, den Somnambulismus aus eigener Anschauung studiren. Die
ganze Praxis des HändeauflegeuS, des Streichens alter Frauen, hört auf, eine
verzeihliche Speculation auf den Unverstand zu sein, sie wird nach dem Verfasser
ein rationelles, auf physiologische Thatsachen begründetes Heilverfahren. Aber
nicht nur für die Medicin wird diese Entdeckung von unberechenbaren Folgen
sein, auch die Oekonomie, die Industrie, der Bergbau werden Vortheile davon
ziehen. Die sensitiven erscheinen uns immer mehr, nicht als die Kranken, Be¬
dauernswerthen, nein als die Bevorzugten des Menschengeschlechts; sie sind im
Stande, unterirdische Quellen zu entdecken und die Metalle zu erkennen, die tief
verborgen an gewissen Stellen des Bodens ruhen. Die Sage von der Wünschel¬
ruthe erklärt sich ganz natürlich. Alle Goldstnder, Quellensucher und Hexen¬
meister waren Sensitive. In den Nerven dieser Menschen ruft das fließende
Wasser, auch tief im Boden unter ihren Füßen, ganz andere Empfindungen her¬
vor, als die von Quellen nicht durchsetzte Erdschicht, die vorher ihr Fuß betrat.
Der Sensitive wittert schon in weiter Entfernung, ob Silber- oder Kupferadern
ein Gestein durchziehen, was seine Hand berührt. Ein Sensitiver wird in keinem
Bergwerk fehlen dürfen, um zu entscheiden, ob hier ein Gang zu verlassen, dort
ein Neuer einzuschlagen, der lohnendere Ausbeute verspricht.
So wunderbare Kräfte sind leider nur wenigen Menschen verliehen. Wäre
der Odhinn allgemein, so schließt der Verfasser, dann müßten wir eine Art Engel
sein. Die Allweisheit, die nur irrende Menschen wollte, hat uns darum ver¬
sagen müssen, was uns Halbgöttern gleichgestellt haben würde. —
Die Frage, ob die Aufrechthaltung des Weltfriedens verträglich sei mit der
Errichtung des Kaiserreichs in Frankreich, ist jetzt das ewig wiederkehrende
Thema der europäischen Presse; bei jedem Anlaß taucht sie von Neuem auf,
jeder Umstand, der Besorgnisse erregen kaun, wird hervorgehoben, jedes officielle
Wort, das dieselben beruhigen soll, nach allen Seiten hin gedeutet. Die Interessen
Aller freilich sind hierbei so sehr betheiligt, so tief berührt werden davon die
Verhältnisse fast jedes Einzelnen, daß die allgemein herrschende, bei jedem Anlaß
sich regende Unruhe nnr zu natürlich ist.
Wir gehören nicht zu denen, welche auf die Worte, die Louis Napoleon in
Bordeaux gesprochen hat: „Das Kaiserreich ist der Friede", und die man in Frank¬
reich jetzt mit Ostentation zum Wahlspruch des neuen Regime's erheben will, einen
wesentlichen Werth legen. Es bedarf nur der Hinweisung auf die Versicherungen
des Präsidenten zwischen dem 10. Decbr. 18i8 und dem 2. Decbr. 1851, um
es Thorheit zu nennen, aus seinen Worten auf seine kommenden Handlungen schließen
zu wollen. Die Werthlosigkeit jenes kaiserlichen Programms in Bordeaux leuchtet
aber ferner aus der einfachen Betrachtung ein, daß Louis Napoleon, mag er nun
kriegerische oder friedliche Vorsätze hegen, in seiner Lage nicht anders sprechen
konnte. Welche Regierung in Europa wird heut zu Tage eine Eroberungspolitik
offen auf ihre Fahne setzen, welche wird nicht in jedem Falle vergrößerungs¬
süchtige Projecte unter friedlicher Maske verbergen, um später sich zu dem Krieg,
den sie etwa sucht, als durch die Umstände gedrängt, darstellen zu können. Selbst
der große Napoleon erklärte unaufhörlich seine Liebe zum Frieden und beschuldigte
die Kabinette, welche das Anschwellen der französischen Macht in eine unerträgliche
Lage versetzte, ihn zu immer neuen Kriegen zu zwingen. Worte und Ver¬
sicherungen beweisen in Louis Napoleon's Lage nicht das Geringste. Es fragt
sich nur darum, ob er den Frieden halten will und ob er ihn hatten kann.
Wir gestehen aufrichtig, daß wir Beides nicht glauben. Die Ansicht, daß Louis
Napoleon gesonnen sei, die in den Verträgen von 1815 Frankreich gegebenen
Grenzen definitiv für das Kaiserreich anzunehmen, widerspricht völlig seinem
Charakter und den Ideen, die er mit so zäher Hartnäckigkeit bisher verfolgt hat.
Wir glauben allerdings nicht, daß er daran denkt, die kolossale Macht seines
Oheims in ihrem ganzen Umfange wiederherzustellen, die Prinzen seines Hauses
auf die Throne von Spanien, Holland, Neapel und Westphalen zu setzen, den
Rheinbund zu erneuern und die eiserne Krone zu der kaiserlichen zu fügen, ja
wir zweifeln sogar daran, daß er ernstlich beabsichtigt, die Oberherrschaft Eng¬
lands über die Meere zu vernichten. Aber wir glauben noch weniger, daß er
darauf verzichtet, das Gebiet Frankreichs bis an seine sogenannten natürlichen
Grenzen auszudehnen. Mit diesen Grenzen begann das Kaiserreich unter seinem
Oheim, das Festhalten an denselben zerschlug alle Friedensunterhandlungen wäh¬
rend des Feldzuges von 181i, und führte zum Sturze Napoleon's. Sein Neffe
hat in seiner Vertheidigung vor dem Pairshofe (18i0) es ihm zum Ruhme
angerechnet, daß er vorzog, lieber seine Krone zu verlieren, als Frankreich aus
einen Umfang beschränken zu lassen, der seine Macht und Wohlfahrt beeinträchtige,
(allerdings ein nicht gerechtfertigtes Lob, denn nach der Einnahme von Paris,
so wie nach der Rückkehr von Elba war Napoleon bereit, auch diese Grenzen an¬
zunehmen), und gewiß betrachtet er noch heute den Besitz Belgiens und des linken
Rheinufers als die unveräußerliche Tradition des Kaiserthums, als die unabweis-
liche Forderung für eine gebietende Stellung desselben in Europa.
Es mag indessen müßig sein, darüber zu streiten, welche Pläne und Absichten
in der Seele des neuen Kaisers sich bergen. Wichtiger ist die Untersuchung
ob die gegenwärtigen Zustände Frankreichs überhaupt eine Aufrechthaltung des
Friedens gestatten. Die Allmacht, mit welcher Louis Napoleon bekleidet scheint,
kann unmöglich einem tiefern Blicke die schwankenden Grundlagen seiner Herr¬
schaft verbergen. Gewiß sind die 8 Millionen Stimme», die er erhalten, nicht
blos, wie viele seiner Gegner glauben machen wollen, das Product administrativer
Bearbeitung der Wähler, oder gar noch schlimmerer Kunstgriffe. Es ist ihm
gelungen, die napoleonischen Sympathien, die in den Massen schlummerten, durch
die größten Verheißungen materiellen Wohlseins zu erwecken, er hat kein Mittel
geschont um in alle Adern des Verkehrs, in alle Zweige der Nationalindustrie
Leben und Aufschwung zu bringen. Die bürgerlichen Klassen, so wenig sie sonst
einem militärischen, alle Nationalfteiheiten erdrückenden Regiment hold sind, haben
ihre Antipathien vor diesen lockenden Aussichten schweigen lassen. Der Durst nach
Gewinn, das Fieber der Speculation bei den Wohlhabenden und Reichen, die
Hoffnung aus reichliche Arbeit und Erwerb bei dem Proletariat, die Hoffnung
aus Steuererleichterung und werthvollen Absatz der Producte bei der ackerbau¬
treibenden Bevölkerung lassen augenblicklich den größten Theil Frankreichs die
verlorene politische Freiheit vergessen und die Mehrheit der Nation sich willfährig
der kaiserlichen Absolutie unterwerfen.
Wenn nun aber diese Erwartungen sich getäuscht sehen, wenn das gegen¬
wärtige materielle Wohlsein sich als trügerisch erweist, wenn, wie es immer bei
einer Prosperität eintritt, die mit gewaltsamen Mitteln künstlich emporgetrieben
ist, der Umschlag sich fühlbar zu machen beginnt, wird" die Nation, unsanft aus
diesem Taumel des Materialismus erweckt, nicht zum Nachdenken kommen und
erkennen, daß sie ihre Freiheit, ihre so theuer errungenen bürgerlichen Rechte
für Nichts verloren hat, ja, daß sie auf der abschüssigen Bahn der öffentlichen
Noth sich befindet? Dieser Umschlag kann nicht ausbleiben. Seit dem zweiten
December herrscht eine Verschwendung der öffentlichen Gelder, die allen Glauben
übersteigt; Bauten aller Arten werden auf Staatskosten unternommen, um den
Arbeitern Beschäftigung zu geben und die Löhne zu steigern, die das Budget
unverhältnißmäßig belasten und dazu zum großen Theil ganz unproductiv sind.
Millionen werden für öffentliche Feste ausgegeben, die Gehalte der höheren Be¬
amten werden außerordentlich erhöht, und dafür die Empfänger zu größerem Auf¬
wand verpflichtet. Die Kosten des kaiserliche» Hofes verschlingen allein schon die
Ersparnisse, die man durch die Rentencouverston gemacht hat; was man etwa
durch die Reduction des Heeres erübrigt, geht, wenn es nicht schon anderweitig
im Armeebudget verwendet wird, in den kostspieligen Marinerüstungen reichlich
auf. Nun übernimmt aber das Kaiserreich eine keineswegs glückliche Finanzlage.
Seit 1840 sind die französischen Budgets mit stets wachsenden Deficits belastet,
und eine schwebende Schuld von mehreren hundert Millionen hat sich allmählich
daraus aufgesammelt, die mau trotz mehrfacher Anleihen nicht hat tilgen könne».
Keine Steigerung der Einnahmen kauu mit dieser ungeheuren Vermehrung der
Ausgaben gleichen Schritt halten. Trotz aller täuschenden Berechnungen, wie wir
sie in Frankreich gewohnt sind, wo dann aber immer dem regelmäßigen Ausgabe-
etat später ein verhängnißvoller Schweif von Snpplementarcrediten nachhinkt, ist
an der wachsenden Verschlimmerung der Staatsftnanzen nicht zu zweifeln. Die
jetzige Wirthschaft kaun eine Zeit lang sortgesetzt und bei der Niederhaltung aller
Oeffentlichkeit die Resultate davon verborgen werden. Durch Benutzung des
immer noch erträglichen Staatscredites, durch administrative Anleihen, Vorschüsse
der Bank, Schatzbon's, Sparcafsenfonds und der Himmel weiß, welche Expedients,
durch die ein französischer Finanzminister einen provisorischen Ueberfluß in den
Staatscassen herzustellen versteht, kann eine innerlich hohle Situation äußerlich
eine Zeit lang gehalten werden. Die Presse ist gefesselt und das mit einem Maul-
korb versehene und an Händen und Füßen gebundene Corps legislativ wird, selbst
wenn es wollte, keine Controle üben können. Aber ein Zeitpunkt wird eintreten,
wo trotz aller Mittel die Sache so nicht weiter geführt werden kann. Das strengste
Ersparungssystem wird allein, wenn überhaupt Etwas, vermögen, die traurigen
Folgen einer tollen Verschwendung abzuwenden. Dann wird das Phantom der
allgemeinen Wohlfahrt in einem Nu verfliegen. Tausende von Arbeitern, die
man jetzt mit öffentlichen Geldern über die Kräfte des Staats hinaus beschäf¬
tigt, werdeu sich auf den Markt geworfen sehen. Die Einen werden brodlos
sein, und die Löhne der Anderen werden fallen. Die öffentlichen Feste, Reisen
und Triumphzüge, mit denen man die Staatsgelder ausstreut und die Gemeinde¬
gelder nützlicheren Verwendungen entzieht, werden aufhören, die Beamtengehalte
werden ihrer Zulagen beraubt werdeu, und der künstliche Flor der Industrie, den
man durch einen mit Staatsmitteln betriebenen Luxus erzeugt hat, wird ein Ende
haben. Je maßloser die Speculation der jetzt günstigen, aber unreellen Chancen
sich bemächtigt hat, je furchtbarer wird die Rückwirkung sein; je mehr die In¬
dustrie ihre Arbeiten ans unwahre Voraussetzungen hin ausgedehnt hat, je härter
wird der Umschlag die in bodenlose Unternehmungen verwickelten Capitalien treffen.
Die Arbeiter, die dadurch außer Beschäftigung komme«, werden die Zahl derer
vermehren, die der Staat entlassen muß. Von der ganzen Herrlichkeit wird Nichts
übrig bleiben, als eine beträchtliche Vermehrung der Staatsschuld und ein mit
der jährlichen Verzinsung des Zuwachses belastetes Budget. Das Landvolk wird
mit neuen Steuern und Zusatzcentimen bedacht werden und seine Producte in
der allgemeinen Noth zu schlechten Preisen verkaufen müssen.
Die Creditinstitute, mit denen das kaiserliche Regime den künstlichen Auf-
schwung der materiellen Interessen zu consolidiren strebt, werden ihren Zweck
nicht erfüllen. Wären sie selbst auf soliden Grundlagen errichtet, so würden diese
gesunden Hebel der Industrie sie nicht aus dem Niveau erhalten können, auf das
man sie gewaltsam emporgetrieben hat, wenn die dazu angewendeten Mittel plötzlich
versiegen. Aber jene Institute sind zum Theil so ungenügend fuudirt, wie z. B.
die 8c>eiete nu creclit mobilier, die auf 60 Millionen Fr. Capital eine zehn¬
fache Anzahl von Noten auszugeben autorisire ist, daß sie selbst vielmehr die
gefährlichsten Eventualitäten in Aussicht stellen und eine Ueberschwemmung mit
schlechtem Papiergeld und dadurch eine Geldkrise befürchten lassen, welche mit den
andern Ursachen der Zerrüttung vereint die zerstörendsten Wirkungen hervorbringen
muß. Der amerikanische Actien- und Bankenschwindel hat die heillosen Folgen
derartiger Operationen zu Tage gebracht.
Man vergesse aber nicht, daß das materielle Wohlbefinden die einzige Ent¬
schädigung ist, die das friedliche Kaisertum der Nation sür die glänzende
Arena des politischen Lebens zu geben hat, die es ih.r verschlossen und die es
nicht, öffnen kann, ohne alle feindlichen Leidenschaften gegen sich zu entfesseln.
Noch ist es L. Napoleon nicht gelungen, die Kapacitäten der von ihm besiegten
Parteien zu gewinnen — und dies sind die intellectuellen und moralischen Größen
der Nation, der Bonapartismus zählt bisher nur geschickte Faiseurs zu seinen
Anhängern, und seine Proselyten stehen tief in der öffentlichen Achtung. Das
leere Gepränge öffentlicher Feste und Aufzüge wird nächstens auch selbst die
Franzosen nicht mehr ködern, und wehe dem Tage, wo neben der geistigen Oede
dieses Staatswesens mich noch die Illusion einer trügerischen Nationalwohlfahrt
ihnen schwindet.
Wir glauben nicht, daß, wenn die Symptome dieser Krisis sich zu zeigen
beginnen, Louis Napoleon den Ausbruch derselben abwarten wird. Was man
auch gegen ihn sagen kann, er hat Beweise gegeben von der höchsten Entschlossen¬
heit, von einer Consequenz des Willens, die vor dein Aeußersten nicht zurückbebt.
Er wird einen Ableiter des Unheils im Innern in einem auswärtigen Kriege
suchen, der Aufregung der allgemeinen Noth durch die höhere Aufregung der
nationalen Leidenschaften zuvorkommen, die Verwirrung der Finanzen, die ein
sorgloser und verschwenderischer Friede erzeugt, in den tiefen Schlund der Kriegs¬
kosten hineinwerfen — denn der Krieg kann auch dem Lande andere Opfer ab¬
fordern, als der Friede — und außerdem deu Krieg durch den Krieg zu ernähren
suchen, falls der Sieg ihm zur Seite steht, woraus er überhaupt rechnen muß,
oder er ist in jedem Falle verloren. Die Worte, die der Herzog von Orleans
18i0 gesprochen haben soll, werden dann der Wahlspruch Napoleon's III. sein:
„es ist besser im Rhein zu sterben, als in einer Gosse."
Aber außer diesem Allen, so mächtig es seiner Zeit in die Entschlüsse des
französischen Kaisers eingreifen muß, wird er noch von einer andren Seite her
zum Kriege gedrängt werden, von Seiten der Armee. Die feste Anhänglichkeit
derselben ist eine unerläßliche Bedingung seiner Herrschaft; entstanden über Nacht
durch einen militairischen Staatsstreich, könnte sie über Nacht durch eine Militair-
revolution gestürzt werden, wenn er nicht im Stande ist, die Gesinnungen des
Heeres an sich zu fesseln. Spricht man jedoch vom Heere, so muß man wissen,
daß der Geist desselben bestimmt wird durch dessen bleibendes und stabiles Ele¬
ment, durch das Officiercorps, die Unterofficiere und Sergeanten. Dem Impuls,
den er vou diesen empfängt, folgt unbedingt der gemeine Soldat, der dem Heere
nur so lange angehörtals das Gesetz ihn dazu verpflichtet. Es Ist unmöglich,
sich darüber zu täuschen, daß jenes stabile Element der französischen Armee von
dem Glauben erfüllt ist, die Tradition des Kaiserthunrs müsse Louis Napoleon
bald zum Kriege treiben. Es ist der Durst in diesen Herzen, Rache zu nehmen
für das Unglück von 1813 und 14, für die Niederlage von Waterloo, noch mehr
aber ist es die Hoffnung ans Ruhm und Beförderung, ans ein bewegtes, glän¬
zendes Kriegerleben, die sie anfeuert. Der ruhmlose Razziakrieg in Afrika gegen
undisciplinicte Barbaren, dessen beste Tage übrigens schon vorüber sind, kann
hiefür keinen Ersatz bieten, noch weniger die mit so viel pompösen Worten ge¬
priesene „moderne Mission der Heere, die Vertheidigung der Gesellschaft gegen
die Umsturzpattei," d. h. mit anderen Worten ein Polizeidienst in großem Ma߬
stabe. In der Langeweile des Garnisonslebens wird dieser philosophische Trost,
die Gesellschaft zu vertheidigen, schwerlich für die zerronnenen Träume, die kaiser¬
lichen Adler über den Rhein zu tragen, entschädigen. Das Heer hängt jetzt an
Louis Napoleon, weil die in ihm aufgewühlte Ruhmbegierde, weil tausend angeregte
Hoffnungen ihre Erfüllung vom Erben des Kaisers erwarten; verbleibt es in dem
neuen Kaiserthum bei Feuerwerken, Militairbällen und Paraden, so wird der
Mißmuth der Enttäuschung viel unbefriedigte, aber uicht beruhigte Wünsche in
andere Wege treiben. Der Neid und die Eifersucht aus die glücklicheren Kame¬
raden, denen es gelungen, in die Kreise des Hofes zu kommeu und die Strahlen
der kaiserlichen Gunst auf sich zu ziehn, wird die Zurückgesetzte!? uoch mehr
erbittern. Der getäuschte nud zurückgedrängte Ehrgeiz wird seiue Blicke nach
anderen Seiten wenden und durch politische Wechsel zu erreichen suchen, was ihm
im Feldlager und auf dem Schlachtfelds zu erreichen verwehrt ist. Anknüpfungs¬
punkte sind dafür in der Armee vorhanden, das beweist noch die letzte Abstimmung;
und wenn es sicher ist, daß die 9000 militairischen Stimmen, die gegen Louis Napoleon
gefallen, ihm feindlich sind, so ist es keineswegs sicher, daß ihm alle unbedingt
gehören, die für ihn sielen. Tapfere und entschlossene Feldherrn, deren Namen
das Heer noch nicht vergessen haben kann, sind von Louis Napoleon unversöhnlich
beleidigt worden. Ihre glänzende, jetzt unterbrochene Laufbahn ist vernichtet,
wenn das Kaiserthum sich erhält; sie werdeu ihren Todfeind nicht aus den Augen
lassen, und sobald sie die Blöße seiner Macht wahrnehme», ihr Leben zu seinem
Sturze einsetzen. Sobald Louis Napoleon erkennt, daß die Gesinnung des
Heeres zu wanken beginnt, wird er es lieber über die Grenze gegen das Aus¬
land fuhren, als den Abfall in seinen Reihen gewärtigen. Besser wäre es
immer noch für ihn, den coalisirteu Armeen Europa's sich entgegenznwerfen, als
von dem rächenden Arme eines Changarnier oder Lamoriciöre fallen zu müssen.
Die Reduction von 30,000 Mann, von der mau so viel Aufhebens machen
wollte, wird selbst jetzt schon von fast allen Organen der Presse als gänzlich
nichtig erkannt. Da sie nur auf die Infanterie beschränkt ist und die Cadre's
derselben nicht berührt, die Specialwaffeu aber unvermindert bleiben, ja wie man
hört, sogar verstärkt werden sollen, so kann sie in wenigen Tagen rückgängig
gemacht werden und bedeutet gar nichts. Die Ostentation, mit der sie hervor¬
gekehrt wird, könnte höchstens gerechtes Mißtrauen erregen nud zur doppelten
Wachsamkeit anspornen.
Die Erfüllung seiner Pläne, der Zustand, des Landes und die Stimmung der
Armee drängen somit nach unsrer Ansicht Louis Napoleon zum Kriege; wir ver¬
messen uns nicht, den Zeitpunkt angeben zu wollen, wann er ausbrechen wird,
aber nur optimistische Täuschung kann, so glauben wir, sich schmeicheln, er werde
sehr lange sich hinausschieben. Wir kommen vielleicht noch darauf zurück, die
Stellung des neuen Kaiserreichs nach Außen hin zu erörtern und näher auf die
Punkte hinzuweisen, die zum Conflicte sich darbieten.
(S Bände, Breslau, Trewendt und Graner, 18S3.)
Bei Besprechung der „Vagabunden" desselben Verfassers ist seine Methode
der Darstellung bereits charakterisirt worden. Ein ungewöhnlicher Reichthum von
Anschauungen und Ersahrungen, lebhafte, oft anmuthige Schilderung der Be¬
gebenheiten, ausgezeichnet gute Laune, viele feine Einfälle voll poetischer Schön¬
heit, und daneben wieder Mangel an Komposition, hier und da zu weiche
Sentimentalität und eine gewisse lyrische Schwäche im Charakterisireu der Per¬
sonen, welche zuweilen Unzweckmäßiges und in ihrer Persönlichkeit Widersprechendes
sagen oder thun müssen, einer hinreißenden Situation, oder einem angenehmen
Scherz, oder einer pathetischen Stimmung des Dichters zu Liebe. Dieselben
Eigenthümlichkeiten finden sich in dem neuen Romane wieder, doch Einiges hat
sich in der Darstellung geändert. Die Charakteristik der Hauptpersonen ist viel
sorgfältiger geworden, auch die Sprache, welche dem Dichter immer leicht und
klangvoll dahinfloß, charakterisirt genauer, dagegen ist die Komposition eben so
wenig künstlerisch, als in dem frühern Romane, und die behagliche Dichterfrende,
welche der Verfasser an seinen Gestalten hat, so wie die schlesische Leichtigkeit,
mit welcher er die Sprache gebraucht, haben ihn zu Längen verführt, welche den
guten Eindruck, den der Roman seinem Hauptinhalt nach zu machen berechtigt
-ist, wesentlich beeinträchtigen.
Sein Inhalt bildet einen vollkommenen Gegensatz zu den „Vagabunden".
Er stellt Leben und Schicksale zweier schlesischen Familien dar, von denen die
eine, im Vordergründe stehende, dem kleinen Bürgerstande, die andere dem Land¬
adel angehört. Die Erzählung beginnt in den letzten Jahren des siebenjährigen
Krieges und zieht sich fort bis zum Jahre 18i8.
Die Summa des Inhalts jist folgende: Ein gutherziger Hagestolz, Herr
Magister Nätelius, Schullehrer in einer kleinen Stadt unweit Breslau, erkennt
in einem einarmigen preußischen Husaren, der mit seiner hübschen jungen Frau
und einem Säugling in größter Noth durch das Städtchen zieht, einen Ver¬
wandten und nimmt ihn zu sich; die Frau des Husaren wird Amme in der
Familie eines Gutsbesitzers, welcher die Hausfrau gestorben ist, weiß sich dort durch
ihre Tüchtigkeit Geltung zu verschaffen und begründet ein Verhältniß ihrer An¬
gehörigen zu dem adligen Hause, welches für die Zukunft ihrer Kinder verhäng-
nißvoll wird. Die Verschiedenheit der Religion und der politischen Sympathien
zwischen den Personen des bürgerlichen Haushalts — Ratel protestantisch und
kaiserlich, Husar protestantisch und preußisch, Marie Anne katholisch und kaiserlich —
wird durch die Vortrefflichkeit der Charaktere und die kräftige. gute Laune des
Husaren immer glücklich überwunden. Ein kleiner Sohn des Husaren, Christian,
der Held des Romans, wird katholisch wie seine Mutter. Christian Lammfell ist
eine weiche, poetische, unendlich gutherzige Natur, voll Liebe, ohne große Körper-
nnd Geisteskraft, eine heilige Einfalt. Neben ihm wächst im Hause eine ältere
Schwester heran, zwei jüngere Schwestern sterben. Ihr Tod und der daraus
folgende des Vaters machen den sinnigen Knaben noch elegischer, als seine ur¬
sprüngliche Anlage ist, er wird nach Breslau auf das Gymnasium geschickt, um
später daselbst Medicin zu studiren. Dort erlebt er als Primaner den Schmerz,
daß ihn ein unwürdiger Freund hintergeht und ihm seine Stndiengelder stiehlt,
daß sein Mädchen, das er schüchtern, aber von ganzer Seele liebte, ihm untreu
wird, und daß seine ältere Schwester durch den Sohn jenes adeligen Hauses,
ihren Milchbruder., verführt wird und verschwindet. So kommt er schon als
Jüngling zu einer schwärmerischen Resignation, welche ihn antreibt, der Welt zu
entsagen und katholischer Prister zu werden. Er wird Kaplan, und wird als
Diener der Kirche in einem langen Erdenleben mit zwei Generationen jener ad¬
ligen Familie in vielfache Beziehungen gebracht. Er hat häufige Gelegenheit,
diesen gegenüber Böses mit Gutem zu vergelten, findet seine ältere Schwester als
Nonne kurz vor ihrem Tode wieder, und stirbt endlich als betagter Greis unter
den Stürmen des Jahres 48 als ein einfältiger christlicher Heiliger, fast als der
Letzte von den vielen Personen, welche in dem Romane das Interesse der Leser
für sich gefordert haben.
Bei einem solchen Inhalt ist Einheit und innerer Zusammenhang der Hand¬
lung nicht zu erwarten. Der Held wird erst am Ende des ersten Bandes gebo¬
ren. Im vierten Bande ist über das Schicksal aller Personen, welche bis dahin
ihre Rolle gespielt haben, entschieden; von da ab tummelt sich eine neue
Generation durch die Blätter des Romans, und diese neuen Figuren, nicht
immer glücklich gezeichnet und weniger ausgeführt, vermögen nicht mehr unser
Interesse in Anspruch zu nehmen. Deshalb halten wir den ganzen letzten Theil und
was ihn vorbereitet für unnütz, ja schädlich. Und wieder in den ersten Theilen
ist die Darstellung sehr ausführlich und behaglich, zuweilen breit, und mit lebhaf¬
tem Bedauern sieht man hier einen Inhalt, welcher mehr zusammengezogen das
höchste Interesse mit Recht gefordert hätte, zu weit gedehnt und dadurch in seiner
Wirkung geschwächt.
Mit der Tendenz des Romans wollen wir nicht rechten. Wer den Dichter
selbst lieb hat — und er zählt in Deutschland sehr viele Freunde und Bekannte
— der wird mit einer gewissen Wehmuth empfinden, daß die Grundstimmung
des ganzen Romans die einer schwärmenden Resignation ist. Das Leben ist
nur eine Vorbereitung zum Tode, die Freuden der Welt sind nichtig; fromme,
christliche, demüthige Entsagung gewährt noch den besten Trost. An den Altären
der katholischen Kirche ist für ein kindliches Gemüth dieser Trost zu finden. Eine
solche Weltanschauung bei dem Manne, der auf allen deutschen Bühnen die größten
Erfolge errungen hat, der „Drei und dreißig Minuten in Grünberg" und „Die
Wiener in Berlin" geschrieben, der in Goethe's Hanse heimisch war und für Bv-
ranger geschwärmt hat, ist doch wol merkwürdig, freilich anch begreiflich. Die
Kritik aber hat kein Recht, darüber abfällig zu urtheilen, denn diese Anschauung
des Lebens, wie zweifelhaft auch ihre Berechtigung sei, erscheint in dem Romane
nie herb, unschön, unwürdig. Ueberall wird Seelenreinheit, Toleranz gegen
Andersgläubige und werkthätige Liebe zu allen Menschen als das Höchste hinge¬
stellt, gegen welches aller confessionelle Hader, aller egoistische Ehrgeiz, alle
Standesvorurtheile werthlos siud. '
Wenn aber in dem Romane Manches befremdet oder ärgert, so ist auch Vieles
darin, tels vortrefflich genannt werden muß. Denn abgesehen von zu großer Breite in
der Ausführung und zu häufiger Variation desselben Thema's sind die Hauptcharaktere
vortrefflich gezeichnet. Der ehrliche Pedant Ratel mit seiner Liebe zu den alten schlesi-
schen Dichtern, der märkische Husar mit seinen witzigen Sieden und seinem biedern Ge¬
müth, und die holde, treue Mutter des Helden stellen sich oft so schön und imponirend
vor den Leser hin, daß man vor dem großen Talent des Darstellers die höchste
Achtung bekommt. In der Fülle von guter Laune, mit welcher namentlich der
Husar gezeichnet ist, können nur Wenige in Deutschland mit Holtet in Concurrenz
treten. Auch der Held selbst ist während seiner Schulzeit, in der ganzen Periode
seiner Entwickelung mit einer sehr liebenswürdigen Naivetät gezeichnet. Der
Briefwechsel zwischen ihm und dem alten Herrn Ratel ist vortrefflich, die drollige
Laune, treuherzige Einfalt, und das behagliche Sichgehenlassen ist meisterhaft
wiedergegeben.
Niemals vielleicht hat ein Recensent so viele Lust empfunden, einen Roman
unbarmherzig zusammenzustreichen, als der Schreiber dieser Zeilen nach der Lectüre
des armen Lammfell. Auf die Hälfte seines Umfangs reducirt, würde das Werk
eine Idylle sein, mit der sich wenige in unsrer neuesten Literatur vergleichen könnten.
— Berlin, 3 0. Novbr. Es ist be-
merkenswerth, daß die Rcactionspartci der diesmaligen Kammersession mit einer Besorgniß
entgegengeht, die in dem StimmenvcrlMtniß der einzelnen Fraktionen durchaus keinen
Anhalt findet. Weder dem Rundschaner noch seinen Verehrern kann es entgehen, daß
die liberale Meinung in den Kammern weniger Vertreter, als früher, zählt und daß sie
nur durch eine ganz seltene und kaum zu erwartende Constellation für diese oder jene
Frage die Oberhand gewinnen kann. Wenn die Kreuzzeitung unmittelbar nach den
Wahlen Unruhe und Unzufriedenheit verrieth, so konnte man zu der Ansicht geneigt sein,
daß sie durch ein solches Auftreten nur den Eifer ihrer Anhänger für die Nachwahlen
rege zu erhalten bezweckte; allein ihre letzten Artikel und namentlich die Rundschau
beweisen, daß sie in der That Besorgnisse hegt, die hinlänglich stark sind, ihr Programm
für jetzt einigermaßen zu modificiren. Vor den Wahlen war sie, bei ihren seltsamen
Expectorationcn über den Absolutismus, auf dem besten Wege, ihr System einer Junker¬
herrschaft ziemlich bloß zu legen; jetzt, wo sie sieht, daß die Bureaukratie numerisch
stärker ist, lenkt sie ein. Das Ständetbum gehört, wie die letzte Rundschau meint,
nicht in den Kammerkrieg; „vor Allem," erklärtste, „kommt es in der jetzt zu
eröffnenden Kammersitzung darauf an, daß' wir wesentlich und unerschütterlich zur
Regierung stehen." ... „Es versteht sich von selbst, daß wir mit dem Stehen
zur Regierung keine Verläugnung unsres politischen und Partei-Charakters oder
irgend einer Wahrheit empfehlen."... Aber „der Dissensus von Freunden muß niemals,
auch nicht auf Augenblicke, mit der Feindschaft von Gegnern verwechselt werden können,
und jeder häusliche Zwist zwischen der Regierung und uns muß vertagt werden oder
als Nebensache zurücktreten, bis die Linken — im weitesten Sinne des Worts, aus
dem Felde geschlagen sind." Das sind die Hauptsätze, welche die momentane Schwen¬
kung motiviren sollen; man war etwas zu weit vorgegangen, und zieht sich jetzt wieder
in eine Position zurück, die fester erscheint. Aber bei der Natur der Vorlagen, die
dieses Mal zur Berathung kommen sollen, ist nicht vorauszusetzen, daß die Kreuz¬
zeitungspartei diesem Programme überall wird folgen können; es ist vielmehr Grund zu
der Annahme vorhanden, daß sie durch eine solche Taktik, die unter der Firma einer
„Stärkung der königlichen Autorität" lediglich zu einer Stärkung der Bcamtenherrschaft
benutzt werden würde, die endliche Verwirklichung ihrer eigentlichen Pläne wesentlich
erschweren müßte. Deshalb sucht der heutige Artikel der Kreuzzeitung wieder durch
einige gewundene Sätze die Aufmerksamkeit ihrer Anhänger aus die Bureaukratie zu
lenken, und liefert so den Beweis, daß die Partei die precäre Lage, in der sie sich
befindet, sehr wohl erkennt. Sie fürchtet im Fall eines offenen Hervortretens mit
ihren Plänen und Forderungen, daß sich die Bureaukratie mit der Opposition gegen
die ritterschaftlichen Tendenzen verbindet; deshalb möchte sie erst mit Hilfe der Bureau¬
kratie — jedoch wo möglich, ohne dieser noch mehr Kräfte zu geben — die Opposition
niederwerfen, um dann auch die Beamtcnherrschaft abzuwerfen und das Ideal eines ritter-
schaftlichen Staates zu verwirklichen.
Meine Ansicht über die Stellung, welche die ultramontane Partei einnehmen wird,
scheint sich zu bestätigen. Auch das C.-B., welches die Ultramontanen schlechtweg zur
Opposition zählte, hat inzwischen seine Meinung geändert. Diejenigen, welche sich zu
einer Fraction vereinigen, werden voraussichtlich in den politischen Fragen die Rolle
eines höchst unzuverlässigen Centrums spielen.
Die Rechte hat als Kandidaten für die Präsidentschaft den ehemaligen Minister
Uhden aufgestellt, einen Mann, der schwerlich zur Leitung einer so stark zerklüfteten
Versammlung befähigt ist. Wird er wirklich gewählt, so sehen wir den unerquicklichsten
Debatten über die Fragestellung vor jeder bedeutenden Abstimmung entgegen. Die ^
Linke hält natürlich an dem Grasen Schwerin fest; als einen der Vicepräsidenten hat
sie Herrn v. Bethmann-Hollweg dcsiguirt. Die Ausscheidung eines linken Centrums
ist noch nicht erfolgt. Heute hat die Linke wieder ihr altes Versammlungslocal Helgo¬
land bezogen.
Die ZweiM, die ich neulich in Betreff der Ablehnung Simson'S äußerte, haben
sich leider als grundlos erwiesen. Er hat in der That das Mandat abgelehnt, und
wie ich höre, hat die Ablehnung Camphausens merkwürdiger Weise den Ausschlag ge¬
geben. Meiner Ansicht nach hätte dieser schmerzliche Vorgang, der großen Anstoß erregt,
gerade zu einer entgegengesetzten Entscheidung Veranlassung geben müssen. Die Nach¬
wahl, die durch Simson'S Ablehnung nothwendig geworden war, ist bereits vollzogen
und auf eiuen reactionaircn Kandidaten gefallen.
— Herr Disraeli be¬
findet sich mit seiner getreuen Schaar mitten im Lager der Frcihandelspartei, nicht
als Ueberwinder. und nicht als Gefangener, sondern als kühner Ueberläufer, dem weniger
seine bisherigen Anhänger, als seine alten Gegner verwehren wollten, das neue Banner
unbeschränkter Concurrenz aufzupflanzen. Das Geschick, mit dem er dieses schwierige
Manöver ausgeführt hat, verdient alle Bewunderung, selbst wenn wir im Auge behal¬
ten, was der vielgewandte Schatzkanzler sonst in politischer Taschenspielkunst zu leisten
verstanden hat, denn mit Ausnahme solcher unverbesserlichen Widerspänstigen, wie der
Oberst Sibthorp. Newdegate, P. Fvskett u. A.. die über Verrath und Treubund schreien,
ist ihm seine ganze Schaar mit Jubelruf, als ob es zum Siege ginge, in's feindliche
Lager gefolgt, wo man die Ueberläufer sicher hinausgeworfen oder nur nach demüthigen¬
der Buße zugelassen hätte, wenn Lord Palmerston's freundliche Hand ihnen nicht ein
Seitenpförtchen geöffnet hätte, welches die Protectionisten eben nur noch vor den cau-
diuischcn Gabeln rettete. Wir kennen in der Geschichte nur einen Vorfall, der diesem
Unternehmen zu vergleichen wäre, nämlich jenen Seezug des Capudanpascha, der nach
Mahmud's Tode mit der türkischen Flotte nach Alexandrien abgeschickt wurde, um die
ägyptische Flotte zu vernichten, auch wirklich unter Segel ging, aber, in Alexandrien
angekommen, sich und seine ganze Flotte in die Hände Mehemed Alis gab. Die
Freihandelspolitik ist durch eine immense Majorität des Unterhauses sanctionirt, und
Herr Disraeli hat so deutlich, wie man es von ihm nur verlangen kann, versprochen,
nicht daran zu rühren. Aber trotz dieses Resultats rusen die ministriellen Organe Sieg,
und eine Gruppe der Freihändler klagt über das unbefriedigende Ende des dreitägigen
Feldzugs, weil die ersteren in dem verworfenen Villiers'schen Antrag durchaus ein Partci-
manöver sehen wollten, was er nie sein sollte, und weil letzteren die Freude entgangen
ist, ihre Gegner ihre früheren Grundsätze im Büßerhemde widerrufen zu hören.
Vor den Wahlen waren Lord Derby und Herr Disraeli noch sehr tapfere Pro-
tectionisten, während der Wahlen richteten sie sich nach dem jeweiligen Bedürfniß ein,
und waren bald freihändlmsch, bald protectionisiisch, wie es die Mehrheit der Wähler
verlangte. Im Uebrigen hatten Beide früher erklärt, daß sie sich dem Ausspruch des
Landes fügen würden, der freilich bei ihren in alle Farben schillernden Wahlprogram¬
men sehr ungewiß blieb. Um so begieriger war man auf die Eröffnung des Parla¬
ments, wo doch die Thronrede Gewißheit über die vom Ministerium adoptirte Handels¬
politik bringen mußte. Der daraus bezügliche Paragraph lautete: „Sollten Sie der
Meinung sein, daß die Gesetzgebung der letzten Zeit, während sie, nebst anderen Ur¬
sachen, dieses glückliche Resultat (allgemeines Wachsen des Wohlbefindens der Masse
der Bevölkerung) herbeigeführt hat, zugleich gewissen wichtigen Interessen unvermeidlichen
Schaden zugefügt hat, so empfehle ich Ihnen, leidenschaftslos zu erwägen, in wiesern
es ausführbar sein möchte, diesen Schaden in billiger Weise zu mindern, und die
Industrie des Landes in Stand zu setzen, jener ungeschmälerten Concurrenz, welcher
das Parlament in seiner Weisheit sie unterwerfen zu müssen geglaubt hat, mit Erfolg
zu begegnen." Diese vieldeutige Erklärung, welche die Frage einer den Agricultur-
interessen für angeblich erlittenen Schaden zu gewährenden Kompensation immer noch
offen ließ, konnten die Freihändler über die Politik des Ministeriums nicht beruhigen.
Man brauchte eine offene, unzweideutige Erklärung, daß man jede Idee, bestimmte In¬
dustrien durch Zölle oder Abgaben gegen die Concurrenz des Auslandes zu schützen, für
immer aufgebe. Zwar enthielt man sich, aus den schon früher mitgetheilten Gründen,
ein Amendement zur Adresse zu stellen; aber unmittelbar nach der Eröffnung des Par¬
laments verständigten sich die Führer der verschiedenen Fractionen der Opposition über
das zu befolgende Verfahren. Mr. Villiers, als der älteste und standhafteste Vertheidiger
des Freihandelsprincips im Hause, sollte gewisse Resolutionen beantragen, welche die
Beibehaltung der gegenwärtigen Handelspolitik für immer sicher stellten. Sir I. Graham
übernahm die Formulirung derselben, und faßte sie in einer Weise ab, daß sie, bei dem
entschiedensten Festhalten am Freihandelsprincip, sich doch jeden Rückblicks auf die Ver¬
gangenheit enthielt, um diejenigen Protectionisten, welche sich den Freihandel als ein
ihn svvampli gefallen lassen wollten, nicht unnöthiger Weise zu verletzen, und eine so
große Majorität, als möglich, zu vereinigen. Lord Russell fügte dieser ursprünglichen
Resolution noch einen Satz bei, der jeden Verdacht factiöser Opposition wegnahm, und
die Bereitwilligkeit des Hauses erklärte, das gegenwärtige Ministerium in allen Ma߬
regeln zur weiter» Durchführung der Freihandclspolitik zu unterstützen. Diese Fassung
nahmen die Whigs und die Peeliten an, die Liberalen aber wollten das Ministerium
nicht so leichten Kaufs davon kommen lassen, und ein förmliches Bekenntniß seiner
früheren Fehler in der Opposition haben. Sie verlangten das Eingeständniß, daß die
Gesetzgebung des Jahres 1846 eine weise, gerechte und wohlthätige Maßregel ge¬
wesen sei, woraus von selbst folgt, daß die Opposition der Protectionisten dagegen
weder weise, gerecht noch wohlthätig gewesen. So entstand folgende von Villiers
beantragte Resolution, die am 25. zur Verhandlung kam. „Es ist die Meinung
des Hauses, daß die verbesserte Lage des Landes, und vorzüglich der industriellen
Klassen, hauptsächlich das Resultat der neuerlichen commerciellen Gesetzgebung ist,
und hauptsächlich der Bill von 18i6, welche freie Korneinfuhr erlaubte; und
daß diese Bill eine weise, gerechte und wohlthätige Maßregel war;
es ist die Meinung des Hauses, daß die Erhaltung und weitere Ausdehnung der Frei¬
handelspolitik, als eines Gegensatzes zur Schutzzollpolitik, das Eigenthum und die In¬
dustrie der Nation am besten in den Stand setzen wird, die ihnen auferlegten Bürden
zu tragen, und am meisten zum allgemeinen Wohlstand und Zufriedenheit des Volks
beitragen wird: endlich erklärt sich das Haus für bereit, jede mit den Principien dieser
Erklärung verträgliche Maßregel, welche Ihrer Majestät Minister ihm vorlegen, in Er¬
wägung zu ziehen." Herr Disraeli begegnete dem Amendement mit einer Rede und
einem Gegenantrag. In seiner äußerst geschickte» Rede ließ er Alles fallen, was ihn
bis jetzt noch verhindert hatte, sich der Freihandelspolitik anzuschließen, stellte die vor¬
genommene Schwenkung als eine durch die Stimme des Landes gebotene dar, um sie
seinen bisherigen Anhängern weniger schmerzlich zu machen, und appcllirte an das Billig-
keitsgesühl des Hauses, das kein Ketzergericht sei, welches von dem Angeklagten noch
demüthigenden Widerruf feiner Gewissensmcinung verlange. Da sie nicht durch eigene
Bemühung an's Nuder gelangt seien, müsse man es auch natürlich finden, daß sie we¬
niger ihre eigenen Grundsätze, als den Willen des Volkes auszuführen versuchten. Seine
früheren protectionistischen Ansichten hatte er bereits so weit vergessen, daß er behauptete»
seine Anträge in der Opposition seien keine protectionistischen, sondern gegen die einseitige
Durchführung des Princips der freien Concurrenz durch das Whigministerium gerichtet
gewesen, und seinen grundbesitzenden Anhängern die Hoffnung durchblicken ließ, daß sie
durch gleichmäßige Anwendung des Princips aus alle Industrien die gehoffte Entschädigung
finden würde. Ja, es schien fast, als sei er der eigentliche Freihändler, und Manchester-
leute, Peeliten und Whigs nur armselige Pfuscher. Sein Antrag lautete: „Dieses
Haus erkennt mit Befriedigung an, daß die durch neuerliche Gesetzgebung veranlaßte
Billigkeit der Lebensmittel hauptsächlich dazu beigetragen hat, die Lage und das Wohl¬
befinden der arbeitenden Klassen zu verbessern; und daß dieses Haus, da es nach reif¬
licher Erwägung unbeschränkte Concurrenz als das Princip unsres Handelssystems an¬
genommen hat, der Meinung ist, es sei die Pflicht der Regierung, rückhaltslos an dieser
Politik in den Maßregeln finanzieller und administrativer Reform festzuhalten, welche sie
nach den Verhältnissen des Landes vorzuschlagen für angemessen halten wird." Wenn
dieser Antrag von jedem Andern, als von „dem Atlas des Ministeriums, und dem
Proteus der Protection," wie ihn Osborne nannte, gemacht worden wäre, so würde
wol selbst der scrupulöseste Freihändler nichts haben daran aussetzen können. Aber weil
er nur eine Thatsache feststellte, das Princip jedoch gar nicht zur Sprache brachte, konnte
der Antrag von Einem, der sich bis jetzt principiell sür den Schntzzoll erklärt hatte, nicht
befriedige». Dennoch war der Unterschied zwischen beiden Anträgen dem Wesen nach so
gering, daß beide Parteien nicht ohne einige Besorgnis) dem Ausgang der Debatte ent¬
gegensahen. Da trat Lord Palmerston, dessen Ehrgeiz sich gegenwärtig in der Rolle
eines Schiedsrichters zwischen den Parteien gefällt, als Vermittler auf. In einer, bald
durch heitere Laune, bald durch hohe Würde wirkungsvollen Rede machte er das Haus
zuvörderst auf die Nothwendigkeit aufmerksam, für einen Beschluß, der die Handelspolitik
des Landes auf eine lange Reihe von Jahren feststellen soll, eine sehr bedeutende Ma¬
jorität des Hauses zu gewinnen. Er bezweifelte auch keinen Augenblick, daß das Gesetz von
1846 eine weise, gerechte und wohlthätige Maßregel gewesen sei, und gestand, daß er
»ach seiner Ueberzeugung nur für den Villiers'sehen Antrag stimme» könne. Aber es sei
eine zahlreiche Partei im Hause, welche bereit sei, ihre frühere Ueberzeugung der Gewalt
der Verhältnisse zu opfern, und mau könne von ihnen nicht das Eingeständniß verlange», daß
ihre frühere Oppositionsstellung, die sie als englische Gentlemen mit voller Ueberzeugung ange¬
nommen, ungerecht oder unweise gewesen sei. Wo es sich um die Bestätigung eines großen
Princips handle, solle man nicht eine Form wählen, die den Verdacht erwecke, als wolle man
die Gelegenheit benützen, einen Tadel über eine gewisse Partei auszusprechen. Er empfahl
darauf folgende Fassung: Es ist die Meinung dieses Hauses, daß die verbesserte Lage
des Landes, und vorzüglich der industriellen Klassen, hauptsächlich das Resultat neuerlicher
Gesetzgebung ist, welche das Princip unbeschränkter Concurrenz aufgestellt, Schutzzölle
abgeschafft, und dadurch die Kosten der Hauptconsumtionsartikel des Volkes vermindert,
und ihre Zufuhr vermehrt hat. Es ist ferner die Meinung des Hauses, daß diese
Politik, mit Festigkeit aufrecht erhalten und mit Klugheit ausgedehnt, die Industrie
des Landes am besten in Stand setzen wird, die ihr auferlegten Lasten zu tragen, und
dadurch am sichersten die Wohlfahrt und Zufriedenheit des Volks fördern wird. Das
Haus erklärt sich endlich bereit, alle mit diesen Principien im Einklang stehenden Ma߬
regeln, welche im Verfolg der huldvoller Thronrede Ihrer Majestät ihm vorgelegt wor¬
den, in Erwägung zu ziehen. Dies stellte er nicht als Antrag, sondern bemerkte
nur, daß er ihn so oder ähnlich formuliren würde, wenn er bei den Mitgliedern des
Hauses genügende Aufmunterung dazu fände. Mit großer Wärme legte er es Allen
ein's Herz, die Folgen einer Annahme oder Verwerfung des Villiers'schen Antrags
während der Vertagung der Debatte, die wegen der vorgerückten Zeit jetzt eintreten
mußte, wohl zu bedenken. Die Rede war ein Meisterstreich parlamentarischer Taktik.
So lange die Opposition blos zwischen der Villiers'sehen und der ministeriellen
Motion zu wählen hatte, mußten selbst die ihrer Mitglieder für den erster» stim¬
me», welche die gegen die Gegner Peel's von, Jahre 18i6 dari» ausgesprochene
Rüge zwar für vollkommen verdient, aber auch für unpolitisch halten mußten, denn es
waren viele ehemalige Protectionisten geneigt, sich den Freihändlern anzuschließen, wenn
es ohne ausdrückliche Abbitte geschehen konnte. Nun aber kam Lord Palmerston mit
einem, vermittelnden Antrage, der das Princip eben so sehr sicherte, wie der Villiers'sehe,
der ebenfalls vollständige Kapitulation der Protectionisten aussprach, aber durch Ver¬
schweigen der Bedingungen ihre Empfindlichkeit schonte — und dieser Antrag war kein
anderer, als der ursprünglich von Sir James Graham e»tworfe»e, von Lord Aberdeen
und Lord Russell gebilligte, u»d erst später vo» Villiers, wahrscheinlich auf Antrieb der
Manchesterleutc, geschärfte. Er zeigte dem Ministerium einen Weg, sich vor der drohenden
Niederlage zu erretten, und bot der Opposition einen Antrag an, de» ihre vornehmsten
Führer bereits sanctionirt hatten: so wurde Palmerston natürlich Herr der Situation.
Vorher war eine Niederlage des Ministeriums sicher zu erwarten, jetzt war es vielleicht
nicht einmal klug von der Opposition, sich der Möglichkeit, geschlagen zu werden, aus¬
zusetzen, da man alsdann eine Niederlage, die nnr eine Folge fehlerhafter parlamenta¬
rischer Taktik gewesen, leicht dem verfochtenen Princip hätte in die Schuhe schieben kön¬
nen. Während der Vertagung — Mittwochs — berieth die Opposition, was nun zu
thun sei, und nach langer Berathung beschloß mau, sich in die Nothwendigkeit zu
fügen, und die Villiers'sche Motion zwar zur Abstimmung zu bringen, aber zuletzt
für die Palmerston'sche zu stimmen, wenn dieselbe eine kleine, von Sir I. Graham
befürwortete Aenderung > genehmigte, welche etwaige Compcnsationspläne für die
Zukunft unmöglich machte. Auf der andern Seite beschloß auch das Ministe¬
rium!, die ihm angebotene Kapitulation anzunehmen, und das Palmerston'sche
Amendement an die Stelle des ministeriellen treten zu lassen. Nur die Freihändler
qusnä meine und die wenigen Protectionisten, welche noch zu der alten Fahne
schworen, hielten sich von diesem Cvmpromiß fern. Die beiden letzten Tage der De¬
batte vergingen mit gegenseitigen Erklärungen und Anklagen, das Ende aber war,
daß Villiers' Antrag mit einer Minorität von 8V Stimmen siel, Palmerston's aber mit
der enormen Majorität von ils gegen 33 Stimmen Annahme fand. Die ministeriellen
Blätter feiern die Abstimmung als einen Sieg ihrer Partei, aber mit großem Unrecht.
Sie haben blos keine Niederlage erlitten, weil sie vorher eine Kapitulation abgeschlossen
und versprochen haben, in Zukunft für die Sache ihrer ehemaligen Feinde zu kämpfen,
und ihre Verluste sind nur deshalb weniger sichtbar, weil die Großmuth Lord Palmer-
ston's sie in den Stand gesetzt hat, die Leichen ihrer im Kampf gefallenen Grundsätze
mit möglichster Schnelligkeit und dem geringsten Geräusch zu verscharren. Eine Pro-
tectionistenpartei giebt es nicht mehr, und das Freihandelsprincip ist durch eine im¬
posante Majorität des Unterhauses sanctionirt und zu einem feststehendem Grundsatz
der englischen Politik geworden.
— In einigen Tagen wird das Kaiserreich
proclamirt sein, der phantastische Traum der humoristischen Weltgeschicke wird Wahrheit
werden, der Ehrgeiz eines Einzelnen über die Vernunft eines ganzen Landes den Sieg
davon getragen haben. Frankreich kann jubeln, es hat wieder einen Herrn gefunden,
einen gnädigen demokratische» Herrn, welcher jedem seiner getreuen Unterthanen ein
Huhn in den Topf zu stecken, verspricht, was kein geringer Trost für die Unglücklichen
sein mag, welche ihr Vermögen auf der Börse verspielt haben zum Nutzen und Frommen
der gnädigen Herrschaften, der neugebackenen Fürsten und Grafen, die Geld brauchen,
um dem Hofe des neuen Kaisers keine Schande zu machen. Frankreich möchte auch
jubeln, Paris und ihm nach das ganze Land lechzt nach öffentlichen Festlichkeiten und
prächtigen Feuerwerken sine quibus non, allein: „der neue Kaiser, durchdrungen von
den schwere» Pflichte», welche dieser glänzende Beweis der Anhänglichkeit des Volkes
(die vielen Stimmen) seiner Ergebenheit auferlegen, zieht eS vor, die Nation seinen gro߬
müthigen Ideen beizugesellen. Durch Wohlthaten für die armen und leidenden Klassen,
durch Gnadeiiacte wird Louis Napoleon seine Herrschaft einweihen." So verkündet
uns heute der Moniteur, nachdem uns die Botschaft des Kaisers an die gesetzgebenden
Automaten schon die Versicherung gegeben, daß die Regierung Napoleon III. „den großen
Interessen ergeben bleiben werde, welche die Intelligenz erzeugt und die der Friede ent¬
wickelt/' Und welches Kaiserreich hat sich Frankreich in der Freigebigkeit seines wohl-
conditionirten allgemeinen Stimmrechts gegeben! Es ist das Kaiserreich der Gleichheit,
die Demokratie mit der Macht und der Hierarchie der Gewalt! Also die Komödie mit
der demokratischen Monarchie, welche dem gemüthlichen Oestreich und dem theoretisirender
Deutschland eine so philosophische Enttäuschung bereitet, ist noch nicht zu Ende. Louis
Napoleon octroyirt seinen ergebensten Unterthanen die Demokratie, und der Constitutionnel
muß zur Abwechselung wieder ein demokratisches Journal werden. Glücklicher Veron!
Es war Zeit, daß du deine Sandalen geschnürt, und in Begleitung deiner achthundert¬
tausend Franke» der ruo as Valois Adieu gesagt. Diese officielle Proclamation der
kaiserlichen Demokratie wird auf die Schultern der armen französischen Journalisten
fallen, die sich nun wieder mit spitzfindigen Unterschieden zwischen Demagogie und De¬
mokratie abrackern müssen. War es doch so bequem, Demagogen, Demokraten, Re¬
publikaner, Socialisten, Communisten und Räuber durch einander zu werfen, und sich
nur an den Wohlklang der Phrase zu halten! Armand Berlin muß auch die bittere
demokratische Pille hinabschlucken, denn seine Anhänglichkcitscrklärung ist dem demokra¬
tischen Glaubensbekenntnisse der Regierung vorangegangen. Der Redacteur des Journal
des Dcbats hat sich freilich geholfen, indem er feine Liebeserklärung nur an die Monarchie
im Allgemeinen und an den Frieden von Bordeaux im Besondern richtete. Bitter und
arg bleibt es immerhin, einem demokratischen Herrn dienen zu müssen, nachdem man
die trüben Wanderjahre durch die demokratische Republik schon zurückgelegt zu haben
glaubte! Die Friedensphrase von Bordeaux, welche Bertin's Zärtlichkeit zu erwecken
wußte, wird aber auch von dem neuesten Programme der kaiserlichen Regierung auf¬
gegriffen und als leuchtender Morgenstern an dem offiziellen Thronhimmel aufgesteckt.
Napoleon III. fühlt das Unwahrscheinliche seiner Verheißung selbst und ergreift gern
jede Gelegenheit, zu versichern, daß es kein Isxsus Imguse gewesen, sondern ein wohl¬
überlegtes, wohlbedachtes Versprechen. Die kriegerischen Anklänge in verschiedenen Reden
der kaiserlichen Proconsulcn unsrer Provinzen müssen ungehört verhallen neben den feier¬
lichen wiederholten Betheuerungen des Monarchen. Wer sich an den Eid vom 20. De¬
cember 18-48 und an dessen Lösung vom 2. December 183-1 erinnern wollte, dem
genüge zu wissen, daß der Eid eines Republikaners nicht mit dem Worte eines
gekrönten Monarchen verglichen werden darf. I/smpirs v'-sse Is psix bleibt ein
unbestreitbarer Glaubensartikel im Herzen eines jeden getreuen Unterthans, der Be¬
schützer von Moral und Religion. Nur Ungläubige und Ketzer, wie die Eng¬
länder, können daran zweifeln und in unnützer Rüstung das Geld der Steuerpflich¬
tigen vergeuden. Also d-as Empire wäre fertig und I'kinxirö v'est ihn. trotz des von
Thiers verlangten und erlangten Muthes der gottseliger Legislative, dem Präsidenten
die Dotationszulage zu verweigern. Deutschland hat erstaunt den verschiedenen Phasen
der Entstchungs- und Entwickelungsgeschichte desselben zugesehen; wir haben in raschen
Zügen die blutige Taufe vom zweiten December, die Firmung auf den Trinmphreisen
und die millioncnstarke Thronentsagung des allgemeinen Stimmrechts zu Gunsten seines
gekrönten Nachfolgers an uns vorübcreilcn sehen, und doch erscheint auch in diesem
Momente noch Alles so unglaublich, unmöglich, daß man den Philosophen Zeno be¬
greift, den der Augenschein nicht überzeugen konnte, daß Achill eine Schnecke einzuholen
vermag. Der Schlüssel zu den unerwarteten Ereignissen der letzten zwei Jahre mag
wol leicht aufgefunden werden, allein das Ganze bleibt doch gleich unerklärt, weil jeder
Tag ein neues Räthsel bringt. Da haben Sie zum Beispiel das Resultat der letzten
Abstimmung. Selbst die Erwartungen des Schneiders Dusanton sind übertreffen, und
doch habe ich weder in Paris, noch auf dem Lande bisher einem einzigen Menschen
von unabhängiger Stellung begegnet, welcher der Regierung Louis Napoleon's zugethan
wäre. Von Paris zumal kaun man mit Zuversicht behaupten, daß unter den Leuten,
'die für das Kaiserreich gestimmt, nicht der dritte Theil Louis Napoleon wirklich geneigt
sei. Die Gleichgiltigkeit der hiesigen Bevölkerung, die Gleichgiltigkeit selbst der Armee,
gab sich bei den verschiedensten Gelegenheiten kund; es läßt, sich statistisch nach¬
weisen, daß sogar unter den Hunderttausenden von Beamten vielleicht die Majorität,
mindestens die Hälfte, die gegenwärtige Negierung hasse — woher also diese Duldung
— woher diese Bereitwilligkeit inmitten der allgemeinen Gleichgiltigkeit? Es ist nicht
zu läugnen, Louis Napoleon hat viele Arbeit oben aufgebracht, er wußte die Emu¬
lation der productiven Reichthümer des Landes zu beleben, seine Anstrengungen in dieser
Beziehung sind verständig und darum auch erfolgreich gewesen. Er hat manchen
geschickten Anlauf genommen, von den Fehlern seiner republikanischen und monarchischen
Vorgänger zu lernen, er hat aber doch keine Partei gewonnen, und man muß nur die
Arbeiter reden hören, die durch seine Regierung seit .vielen Monaten ununterbrochen be¬
schäftigt sind, man muß die Bourgeoisie ausfragen, ja man muß selbst die Börsen-
speculanten vernehmen, um die ganze Größe der Anomalie zu fassen, die zwischen den
Gefühlen und Gesinnungen der Franzosen und dem gegenwärtigen Regime und dessen
Machthaber herrscht. Louis Napoleon hat das ganze Land inne, er herrscht unumschränkt,
wie kein absoluter Monarch, er darf ungestraft, ja ohne Gefahr, sich erlauben, was
Louis XIV. nicht gewagt, rend doch muß man bis jetzt die Frage, ob der Kaiser eine
Partei im Lande habe, verneinen. Das wird Ihnen jenseits des Rheins komisch klingen,
und doch ist eS die reine Wahrheit. Seine Stärke liegt in den Verhältnissen; sein Glück
in der geschickten Benutzung des Zeitpunktes. Weil er Niemand sür sich gehabt und weil
Alles das Schlimmste befürchtete, ist Jedermann überrascht, etwas Gutes in seinem
Sinne geschehen zu sehen. Die Absolutisten, daß der Freiheit auf den Nacken getreten
und der Klerus hochgehalten, die Obscuranten, daß der Presse und dem öffentlichen
Unterrichte aus die Finger gesehen wird; dem Bürger gefällt die Entwöhnung von jeder
politischen Beschäftigung und die Wiederaufnahme der Geschäfte, dem Arbeiter schmeichelt
die Zuvorkommenheit und Rücksicht der Regierung sür socialistische Schlagworte und socia¬
listisch aussehende Verbesserungen u. s. w. Eben weil Louis Napoleon unabhängig gewesen,
kann er sich auch Vieles erlauben, und weil nach jeder Seite hin das Uebertricbcnsie
versucht worden, darf er nach jeder Seite hin Manches wagen. Aber er gewinnt
Niemand entschieden sür sich, man duldet ihn wie das, was er thut; "Freunde und An¬
hänger hat er nicht, und selbst das Gute, das er schafft, findet nicht die Anerkennung
in der öffentlichen Meinung, deren jeder Andere gewiß sein würde. Die Art und
Weise, wie Alles aufgenommen wird, was er ersinnt, um zu beweisen, daß ihm das
Wohl des Landes am Herzen liege, ist eben so merkwürdig, wie der Weg, auf dem er
zur Verwirklichung , seiner Jugendträume gelaugt. Und soll ich es Ihnen sagen, eine
Partei, eine große mächtige Partei, wirkliche Bewunderer, fanatische Anhänger, wird er
erst von dem Moment an haben, wo er beweisen wird, daß es ihm nicht schwerer fällt,
eine GelegcnhcitSrede über den alten Kram zu machen, als seinen im Angesichte der
Nationalversammlung geleisteten Eid. Von dem Augenblick an, wo er England den
Krieg macht, schlagen ihm die Herzen der Franzosen entgegen, dann kann er populair
werden. Dieser Umstand ist eben so betrübend, wie Alles, was bisher geschehen, und
doch ist es wieder nur pure Wahrheit. Es ist kein Compliment weder für unsre Zeit,
noch sür den Geist der Franzosen, aber es M so. Nur wenn England, der Erbfeind,
gedemüthigt ist, wird man den Usurpator vergessen und den Nationalhcldcn vergöttern.
Die Sachen mögen sich auch hinausziehen, so lange sie wollen, das Ende vom Liede
wird immer ein altnavoleonischer Versuch bleiben. Höflinge und Hofnarren kennen
ihre Herren gleich 'gut, und Herr Chapuis, das Ideal der Hofscrvilität, traf im
Herzen des neuen Kaisers die richtige Seite und auf dieser den richtigen Ton, als er
im schmeichelnden Scherz verlangte, sür seinen bonapartistischen Eifer zum Präfecten
von London ernannt zu werden. Ja, Ludwig Napoleon wird die Kriegsfackcl in Europa
anzünden, das ist gewiß. Anfänglich wird er den europäischen Höfen schmeicheln, er
wird suchen mit Hilfe des Absolutismus und auf dem Wege der Diplomatie iMe
Territorialacqnisitionen zu machen (nehme» Sie dies für keine müßige Conjectur) er wird
wie Ludwig Philipp der ergebene Diener jeder gewaltigen Macht sein, er wird selbst
seine demokratisch-socialistischen Bestrebungen im Innern als ein unvermeidliches Uebel
darstellen, aber so wie dies gelungen, oder so wie es — was wahrscheinlicher ist —
gänzlich mißlungen, dann wird er einen andern Tanz ausspielen. Wir sind lange noch
nicht am Ende aller Überraschungen und die geographischen Karten von Europa werdeu
uoch mancher Gefahr von Veraltuug ausgesetzt sein, ehe der neue Kaiser seinem Onkel
in's Grab folgt. Daß es ihm für den zweiten Act der kaiserlichen Tragödie in
Europa nicht an Volk und Mithelfern fehlen werde, dafür sorgt die weise Politik all¬
überall, dafür sorgen die Verhältnisse des Continents und der glückliche Zustand, in
dem sich die edelsten Länder befinden. Doch wir haben gleich an der Pforte des neuen
Reiches zu weit in die Zukunft geblickt, vorläufig hat die Rede von Bordeaux uoch
ihre Rolle nicht zu Ende gespielt, vor der Hand erfordert die Fürsorge für die Börse
und ihre Speculanten noch Geduld und christliche Demuth des Herrn; allem kommen
wird und kommen muß das Donnerwetter, wir haben es auch nicht besser verdient.
Vielleicht bewahrheitet sich wieder einmal das: ^ooiäit inpunoto, quoä von speratur
in giluo.
— In Spanien bereitet sich
eine ernste Entscheidung vor. Die Anhänger der Konstitution rüsten sich gegen die
absolutistischen Projekte des Hofes und Ministeriums zu einem letzten Kampf, dessen
Ausgang dem Repräsentativsystem in diesem Lande entweder wieder frisches Leben verleihen,
oder seinen völligen Sturz herbeiführen muß. Wir gaben vor einigen Monaten in
einer Reihe längerer Aufsätze eine ausführliche Darstellung der politischen Zustände
Spaniens und ihrer Entwickelung bis ans die Gegenwart. Die Krisis, die wir damals
als unvermeidlich in Aussicht stellten, steht vor der Thür. Das Ministerium Bravo
Murillo hat die unmittelbar nach dem Staatsstreich des 2. December brusque nach Hause
geschickten Cortes zum 1. k. M. einberufen. Nachdem es fast ein volles Jahr nicht
nur ohne parlamentarische Bewilligung die Steuern erhoben, und sich eigenmächtig Credite
sür alle möglichen Zwecke eröffnet, sondern auch einseitig eine Menge legislatorischer
Akte erlassen und die öffentlichen Freiheiten, namentlich die der Presse, mit beispielloser
Gewaltthätigkeit unterdrückt hat, wird es, belastet mit dieser Bürde der schreiendsten
Verfassungsverletzungen den Cortes gegenübertreten. Weder über die Motive, die diesen
Entschluß hervorgerufen haben, noch über die Absichten des Gouvernements liegen klare
und sichere Nachrichten vor. Die Vermuthung hatte sich bereits allgemeine Bahn ge¬
brochen, daß man die Constitution ohne Weiteres in! ^vis legen und bei nächster
Gelegenheit die Nation mit einer Oktroyirung nach Bonapartistischem Muster beglücken
werde. Eine andere Conjectur wollte wissen, die Regierung werde die Cortes auflösen,
alle Mittel aufbieten, aus den Neuwahlen eine gehorsame Kammer zu erhalten, und
dann durch diese die Constitution abschaffen und an ihre Stelle zwei Schattenkörpcr,
gleich dem französischen Senat und Corps legislativ, setzen lassen. Statt dessen
sind die früheren Cortes wieder einberufen. Ist der Hof vor jenem Aeußersten zurück¬
gewichen oder haben die Minister nicht gewagt, die Hand dazu zu bieten? Es heißt
Bravo Murillo habe sich entschieden gegen die Einberufung der Cortes gesträubt, sei
aber durch die'Drohung seiner College», ihre Demission einzureichen, dazu gezwungen
worden. Auch die Königin Jsabelle sei zuletzt der Ansicht der Mehrheit des Minister¬
raths beigetreten.
In dem Cortes steht dem Cabinet ein furchtbarer Sturm bevor. Alle Fractionen
der Opposition, die Progressistcn sowol, wie die verschiedenen Nüancen der unabhängigen
Modcrados sind entschlossen, den verfassungsbrüchigen Ministern einen unerbittlichen
Krieg zu machen. Das Ministerium wird ohne Zweifel sofort eine Jndemnitätsbill für
alle seine verfassungswidrigen Akte einbringen; außerdem spricht man noch immer davon,
daß es den Cortes eine Reform der Verfassung, natürlich in absolutistischer Tendenz,
vorlegen werde. Beidem werden die vereinigten Oppositionen sich unbedingt und auf's
Aergste widersetzen. Da keine stichhaltige Rechtfertigung für die zahllosen Versassungs-
verletzungen des Gouvernements, für das von demselben geführte Regiment der
Gewalt und Willkür denkbar ist, so werden sie die Anklage der Minister beantragen.
Von einer Zustimmung zu Verfassungsänderungen kann natürlich entfernt nicht die
Rede sein.
Die erste Frage ist, auf welcher Seite die Mehrheit sein wird. Die einberufenen
Cortes sind im Frühjahr 1831 nnter dem jetzigen Ministerium gewählt und die Wahlen
mit der rücksichtslosesten Handhabung von Gewalt, Einschüchterung und Korruption be¬
trieben worden. Eine Menge abhängiger Beamter, Kreaturen des Hofes und der
Negierung haben ihren Platz darin. Trotzdem ist es zum mindesten zweifelhaft, ob die
Majorität dem Cabinet bleiben wird. Die vereinigten Oppositionen werden eine compacte
Masse bilden, die noch mehr, als durch ihre Zahl, dadurch in's Gewicht fällt, daß sie
mit wenigen Ausnahmen alle rhetorischen und politischen Kapacitäten im Parlament für
sich und hinter sich zwei große politische Parteien hat. Alles wird ihrerseits aufge¬
boten werden, die Mehrheit dem Cabinet zu entreißen, und viel wird dabei davon ab¬
hängen, ob die öffentliche Stimmung den Anstrengungen der parlamentarischen Opposition
wirksam unter die Arme greift.
Bis jetzt besagen alle Nachrichten, .daß seit Einberufung der Cortes große Auf¬
regung entstanden, und daß die Fluth derselben in stetem Steigen begriffen ist. Die
Presse unterstützt die nationale Sache auf bewunderungswürdige Weise. Dies ist nicht
zu viel gesagt, wenn man sich erinnert, welcher Vertilgungskrieg seit einem Jahre gegen
den spanischen Journalismus geführt ist. Confiscationen ohne Zahl, unaufhörliche
Processe, Verurtheilungen zu den übertriebensten Geldstrafen, ganz willkürliche Ein¬
kerkerungen der Redacteure, octroyirte Preßordnuugen mit unerfüllbaren Bedingungen für
die Herausgeber der Zeitungen haben die zähe Ausdauer dieser unbezwinglichen Presse nicht
brechen können. Eine Zeitlang unterdrückt erschienen die Partciorgaüe immer wieder von
Neuem. Keine pecuniairen Opfer, keine persönlichen Gefahren vermochten sie zurückzu¬
schrecken. Jetzt, nach der Erscheinung des Einberusungödekrets, sind alle oppositionellen
Blätter der Hauptstadt auf ihrem Platz und erheben, ohne Scheu vor der sie stets bedro¬
henden Gewalt, den Mahnruf an die Abgeordneten, auf deren Gesinnung irgend gerechnet
werden kann, zur Rettung der Landesfreiheiten pünktlich aus ihrem Posten einzutreffen.
Sie erklären gradezu, daß wer von denselben mit den Ministern stimme oder auch nur
Vermittlungen versuche, als Verräther betrachtet werden müsse. Sind die Cortes erst
zusammen, so wird die verfassungstreue Presse den Widerhall der Tribüne dnrch das Land
tragen. Ihr Beispiel beweist, daß vor so hartnäckigem Widerstand selbst der Arm der
rücksichtslosesten Gewalt ermüden muß, oder es müßte denn ein Volk erst so weit ge¬
kommen sein, wie das französische.
Schon treffen die sntiministcriellen Abgeordneten zahlreich in der Hauptstadt el»
und halten ihre Vorberathungcn. Es scheint die erfreulichste Einigkeit zwischen Moderados
und Progressisten in Aussicht zu stehen. Die Letztern folgen wie früher ihrem unbeug¬
samen und unerschütterlichen Führer Olozaga, der, nachdem er durch alle Wechselfälle
einer stürmischen Laufbahn seiner Fahne treu geblieben, mich in diesem Entscheidungs-
kampfe vorangeht. Im Senat wird das Ministerium gleichfalls auf eine zahlreiche
Opposition stoßen.
Bei alledem darf man über den Ausgang sich nicht voreiligen Hoffnungen hin¬
geben. Marie Christine, so wie der Gemahl Jsabella's werden ohne Zweifel die Königin
zu Gewaltacten drängen, wenn die Mehrheit der Cortes der Regierung entgeht, oder
die Opposition auch nur so anschwillt, daß die Volksstimmung gefährlich davon entzündet
wird. Die französische Diplomatie wird alle Minen springen lassen, um den verhaßten
Parlamentarismus auch in Spanien zu begraben. Die östreichische wird ihren Einfluß ^
damit vereinen, und von Seiten Rußlands heißt es, daß es in Madrid seine Absicht,
die Königin JsabÄa anzuerkennen, ausgesprochen habe. Der Kaiser soll dabei angedeutet
haben, daß er den General Narvaez gern als Gesandten in Petersburg sehen würde.
Dies wäre ein gefährlicher Köder, diesen ehrgeizigen Mann der Opposition zu entziehen,
obwol es kaum zu glauben ist, er werde sich zu einem Abfall verleiten lassen, der ihn,
dessen Freunde sämmtlich aus der verfassungstreuen Seite sind, mit unauslöschlicher
Schande bedecken müßte. Trotz aller Fehler seines leidenschaftlichen und herrschsüchtigen
Charakters hat Narvaez bis jetzt stets Beweise eines stolzen, hochstrebenden Geistes ge¬
geben. Es ist kaum denkbar, daß er sich so erniedrigen werde.
Es heißt, die Opposition beabsichtige ihr Mandat niederzulegen, falls dem Mini¬
sterium die Jndemnitätsbill bewilligt, oder falls eine Verfassungsänderung durchgesetzt
werde. Dieser Schritt wäre gefährlich und von höchst zweifelhaftem Erfolg. Unter
Umständen kann ihn freilich die Ehre gebieten, und jedenfalls würde es mit einem Nach¬
druck geschehen, der die Nation zum Schutze ihrer Rechte aufforderte. Mit einer sen¬
timentalen oder frivolen Dimission sich vom Schauplatz zurückzuziehen, liegt nicht im
spanischen Charakter.
Geht das Gouvernement zu Gewaltschritten über, bleibt ihm das Heer treu und
reicht es ans, den Anhang der constitutionellen Parteien in 'der Nation niederzudrücken,
so wird allem Ermessen nach das Repräsentativsystem fallen, aber wenigstens nach männ¬
lichem Widerstand seiner Vertheidiger. Ehrenvoller ist es, rechtloser Willkür gegenüber,
von gerechter Leidenschaft entflammt, im sieglosen Kampf zu unterliegen, als mit vor¬
nehm kühler Resignation seine Fahne zu senken. Die spanischen Liberalen mögen viel¬
leicht das Schicksal theilen, das über den europäischen Continent verhängt scheint, und >
die in den schmerzlichen Stürmen fast eines halben Jahrhunderts durch Ströme Blutes
errungene Verfassung mit ihnen stürzen; es wird ihnen aber dann doch erspart bleiben,
sich durch alle Stadien eines traurigen Siechthums, einer langsamen Revisionsschwind¬
sucht hindurchschleppen zu lassen.
- Das
neueste Heft der Kevue clef cieux monäes bringt einen ausführlichen Artikel über das
Leben des Freiherr« von Stein, welcher vorzugsweise seiner politischen Wendung wegen
zu einer kleinen Erwiderung auffordert. Dem Verfasser dieses Artikels, Herrn Taillan-
dier, fehlt es keineswegs an Sinn für die Würdigung dieses außerordentlichen Charakters;
er weiß vielmehr sehr geschickt aus der Masse von Details, die uns das Pertz'sche
Buch giebt, diejenigen Punkte hervorzuheben, die aus die Phantasie zu wirken geeignet
sind. Er erkennt ganz richtig die Idee der Befreiung Deutschlands vom französischen
Joch, und die Erhebung des deutschen Volkes zu einer Nation als den leitenden Grund¬
gedanken in seinem Leben, und weiß es sehr anschaulich darzustellen, wie dieser Grund¬
gedanke auch bei den politischen Reformen immer der wesentliche Gesichtspunkt blieb,
wie unter den wechselndsten Umständen dies eine Ziel beharrlich in's Auge gesaßt wurde,
und wie die angewendeten Mittel von einer seltenen Verbindung leidenschaftlicher Gewalt
mit klarer Einsicht in die Natur der Verhältnisse zeugen. — Was aber die Würdigung
dieses Zwecks selbst betrifft, so kommt Herr Taillandier zu dem überraschenden Resultat,
daß er das Verderben Deutschlands und Preußens gewesen sei. Napoleon hätte die
herrlichsten Absichten mit Preußen gehabt, er hätte es zu einer Großmacht machen wollen,
und nur die blinde Leidenschaft und der Fanatismus des Freiherrn von Stein hätte dem
jungen Staate die glänzende Laufbahn verschlossen, ans die ihn seine ganze frühere
Geschichte hingewiesen, und das behauptet Herr Taillandier selbst von der Zeit, wo
Napoleon Preußen die Schimpflichste aller Demüthigungen auferlegt hatte., den Raub
Hannovers, und wo er zugleich mit England unterhandelte, um Preußen, nachdem es
aus sein Drängen das Völkerrecht verletzt, preiszugeben; das behauptet er von einer
Zeit, wo der preußische Staat von dem erzürnten Eroberer mit jeder Art ausgesuchter
Beschimpfung, mit jeder Gewaltthat und Erpressung, die auch das ruhigste Volk endlich
zur Raserei bringen mußte, beglückt hatte. Hier auf Einzelnheiten einzugehen, ist kaum
möglich, da wir fast auf jeder Seite den unerhörtesten historischen Entdeckungen begeg¬
nen. Wir führen nur das Eine an, daß von Metternich behauptet wird, er habe den
überwiegenden Einfluß Rußlands vorausgesehen und, um diesen zu vermeiden, den Frieden
gewünscht; der Freiherr von Stein dagegen sei Schuld an der Herrschaft Rußlands
über Deutschland, er habe eben sowol Kotzebue, als .Sand hervorgerufen, und die
revolutionaire Hegelsche Gesinnung sei die natürliche Reaction gegen die von ihm hervor¬
gerufene Deutschtümelei gewesen. Dem Wiener Congreß werden sehr ernstliche Vor¬
würfe daraus gemacht, daß er Frankreich nicht die Rhcingrenzen gelassen; schon die
Artigkeit gegen die große Nation, die man bei Waterloo und Leipzig so schwer beleidigt,
hätte das erfordert. — Mit einer historischen Antikritik auf dergleichen zu antworten,
ist vollkommen überflüssig. Was wir dabei bemerken wollen, ist nur Folgendes. Der
Verfasser jenes Artikels ist ein ruhiger Gelehrter, der sich sogar mit der deutschen
Literatur mit einer für den Franzosen seltenen Vorliebe beschäftigt hat. Kaum aber ist
der Name Napoleon wieder officiell in das französische Staatsleben eingeführt, so
erfaßt auch ihn der Schwindel der altfranzösischen glmro; er träumt wieder von der
natürlichen französischen Grenze; er findet, daß die Franzosen, als sie Deutschland ver¬
wüsteten, das Land bis auf's Mark aussogen, Volk und Fürsten gleichmäßig beschimpften,
nur ein Werk der Civilisation ausgeübt hätten; er findet es im höchsten Grad roh, daß
die gesammte Nation sich gegen diese Träger der Civilisation erhob. Ob er die fran¬
zösische Volkserhebung im Jahre 1792 und 93 für eben so roh hält? — Wir vermuthen,
daß es mit den übrigen Franzosen nicht anders sein wird, als mit Herrn Taillandier;
wir können also uns ungefähr vorstellen, was uns bevorsteht. Mittlerweile haben die
Träger der Civilisation in Afrika zweckmäßige Vorstudien gemacht; sie haben z. B.
einen ganzen Stamm mit Weib und Kind in einer Höhle lebendig geröstet. — Wie
sehr wir daher auch gegenwärtig Grund haben, mit unsren Regierungen unzufrieden zu
sein, und wie ernst das Zerwürfniß ist, das die beiden deutschen Großmächte von ein¬
ander trennt, gegen gemeinsame Gefahr werden wir Alle stehen wie Ein Mann, und
sollten sich in der That noch Verräther unter uns finden, die etwa wieder einen Rhein¬
bund oder eine Haugwitz'sche Politik, oder auch weltbürgerliche Sympathien mit der
französischen Revolution hervorrufen möchten, so würde ihnen ein schreckliches Schicksal
bevorstehen. Wir bewunderis die glänzende Freiheit, zu der sich die Franzosen im
gegenwärtigen Augenblick aufgeschwungen haben, aber wir wollen sie nicht theilen.
Das von der Redaction des Jllustrirten Familienbuches kürzlich
angezeigte Ergebniß ihrer Preis-Ausschreibung können wir heute durch die Mittheilung
vervollständigen, daß die Herausgeber jener Monatschrift, die Direction des Oester-
reichischen Lloyd in Trieft, den Verfassern der drei im Protocoll der Preisrichter
Bauernseld, Halm und Seidel ausgezeichneten Novellen anch ihrerseits dadurch ihre
Anerkennung kundgegeben hat, daß sie jeder derselben nachträglich einen freiwilligen Preis
außer dem üblichen Honorar verliehen hat. Es sind nämlich die Novellen: „Ein Pfarr¬
haus in Nathangen" von Julie Burow —Frau Julie Psanncnschmidt, geb. Burow,
in ZüPchau, mit einem Preise von fünfzehn Dukaten; — „Ein Lebens stück"
von Edmund Höfer in Greifswald und „Die Blinden" von Paul Heyse in
Berlin, jede mit einem Preise von zehn Dukaten ausgezeichnet worden. Dieselben
werden sämmtlich in den nächsten Heften des Jllustrirten Familienbuches enthalten sein.
Zu einer Zeit, wo man jenseit des, Rheins ein neues bonapartisches Kaiser-
thum aufrichtet und die alten imperatorischen Erinnerungen wieder auffrischt,
ziemt es dem Deutschen wohl, zur Stärkung und Nacheiferung für die Zukunft an
die glorreichen und mit Sieg gekrönten Anstrengungen zurückzudenken, mit denen
das Vaterland sich damals von der Gewaltherrschaft des Franzosenkaisers losrang.
Der reiche Schatz von Kräften, der sich damals trotz langer Jahre der Ernie¬
drigung in der Nation vorfand, mag uns auch heute die Hoffnung einflößen,
daß es uns in Zeiten der Gefahr nicht an Männern fehlen wird.
Der vor Kurzem erschienene dritte Band von Droysen's trefflichem „Leben
des Feldmarschalls Grasen Dort, von Wartenburg" giebt uns einen willkommenen
-Anlaß dazu. Uork war zu jener Zeit unzweifelhaft einer der ausgezeichnetsten
Männer der preußischen Armee, ein ungewöhnlicher Charakter vou herber Männ¬
lichkeit, in dem freilich die gemüthlich liebenswürdige Seite wenig ausgebildet war.
„General Aork war ein Mann von einigen 50 Jahren, ausgezeichnet durch
Bravour und kriegerische Tüchtigkeit. Er hatte in seiner Jngend in den hollän¬
dischen Colonien gedient, sich also in der Welt umgesehen und den Blick des
Geistes erweitert. Ein heftiger leidenschaftlicher Wille, den er aber in anscheinender
Kälte, ein gewaltiger Ehrgeiz, den er in beständiger Resignation verbirgt, und
ein starker kühner Charakter zeichnen diesen Manu aus. General Dort ist ein
rechtschaffener Mann, aber er ist finster, gallsüchtig und versteckt, und darum ist
er ein schlimmer Untergebener. Persönliche Anhänglichkeit ist ihm ziemlich fremd,
was er thut, thut er seines Rufes willen, und weil er von Natur tüchtig U
Das Schlimmste ist, daß er bei einer Maske von Derbheit und Geradheit im
Grunde sehr versteckt ist. Er prahlt, wo er wenig Hoffnung hat, aber noch
weit lieber scheint er eine Sache für verloren zu halten, wo er eigentlich wenig
Gefahr sieht." Das ist das classische Bild, welches General Clausewitz von
seinem persönlichen Charakter entwirft, und dem wir nur zur Ergänzung! noch
hinzuzufügen haben, daß das unter einer rauhen, ja abstoßenden Schale verbor¬
gene Herz doch auch sehr warm zu schlagen wußte, wie seine ausdauernde Freund¬
schaft für Solche zeigt, welche einmal sein Vertrauen zu gewinnen verstanden hatten/
wie Seydlitz, Schack, Valentini und einige wenige Andere, und sein inniges Ver¬
hältniß zu seinen Söhnen. Als Militair war er von bewährtester Tüchtigkeit.
Von zäher Ausdauer und eiserner Nuhe im Gefecht, besaß er eine besondere
Stärke darin, die Entscheidung lange hinzuhalten, und wußte dann den günstigen
Moment, wo der Feind sich erschöpft fühlte, mit kühner Entschlossenheit rasch zu
erfassen. Das Vertrauen und die Liebe seiner Truppen besaß er ganz, so streng
und vielfordernd er im Dienste, und so sparsam er mit dem Lobe war. In seinen
Operationen war er methodisch, dem Praktischen und,Einfachen zugewandt, und allem
„Genialischen", wie er es nannte, abhold, und brachte dem Schwunge der Be¬
geisterung gegenüber stets das beschränkte Maß leiblicher Kraft, die Bedingungen
von Zeit und Raum in Erinnerung. Bei seinen sonstigen Charaktereigen¬
thümlichkeiten konnten daher Reibungen mit Blücher und Gneisenau, die immer
aus den großen Zweck des Krieges bedacht, nach den Kosten an Anstrengung
und Blut wenig fragten, und die das Detail der Anordnung meistens Unter¬
geordneten überließen, nicht ausbleiben. In Bezug aus Letzteren kam noch der
tiefgehende Unterschied der politischen Richtung hinzu. Dennoch ergänzten sich
im Grunde die beiden Männer zu Preußens und Deutschlands großem Glücke
auf das Schönste. >„Es war," schreibt ein Officier des Aork'schen Stabes, „wol
eine gnädige Führung Gottes, der diese verschiedenen Charaktere auf diese Stelle
brachte; die kühnen großartigen Ideen des Blücher'schen Hauptquartiers wären
wol schwerlich so mit Erfolg gekrönt worden, wenn nicht ein Mann wie Dort'
da war, der mit gewissenhaftem Ernst und eiserner Strenge sür die Verfassung
und den Geist seines Corps sorgte, und dasselbe mit eben so viel Ruhe und
Umsicht, als Muth und Energie in den Gefechten führte."
Der wichtige Schritt, den Aork durch die Kapitulation von Tanroggen zur
Rettung des preußischen Staates that, ist schon früher in dieser Zeitschrift bei einer
Recension des ersten Bandes des Droysen'schen Werkes besprochen worden. Wir
kommen daher eben so wenig auf diesen wie ans die mannichfach verdrießlichen Ver¬
hältnisse mit den in Ostpreußen einrückenden Russen, auf die Beziehungen Vork's
zu den ostpreußischen Ständen, ans die selbstständige Organisation der Wehrkraft
des Landes zurück, und beschränken uns ans eine Schilderung des Antheils Aork's
und seines Corps an dem nun von Neuem ausbrechenden Kampfe. Aus Uork's
Charakter scheinen die Folgen jenes Schrittes eher einen verbitternden Einfluß gehabt
zu haben. Er hatte mit seinem Abfall seinen Kopf gewagt, und mußte dieses
Wagen um so höher anschlagen, als es seinen strengen Ansichten von militairischem
Gehorsam widersprach, und er von Herzen die neuen politischen Richtungen haßte,
die ein so wichtiges Element in dem Aufschwung der Nation gegen Napoleon
bildeten. Die Anerkennung vom König ließ lange auf sich warten, und in der
That scheint ihm dieser nach Fürstenweise nie die Selbstständigkeit der rettenden
That ganz vergessen und stets einen Groll gegen ihn behalten zu haben, der sich
zuweilen in kleinlichen Aeußerungen Luft machte. Einmal wußte der König auf
Aork's sehr begründete Klagen über die mangelhafte Ausrüstung nichts zu er¬
widern als den grämlichen Vorwurf: „Ist mir sehr unangenehm, haben aber
den Krieg gewollt und Alles angefangen." Und das war nach dem Waffenstill¬
stand, wo sich Uvrk bereits bei Möckern, Lützen und Bautzen neue große Ver¬
dienste erworben hatte. Auch in seiner Stellung als General fühlte sich York in
seiner Gereiztheit mannichfach vernachlässigt. Daß er im Anfang des Krieges der
populairste General war, konnte ihn nicht entschädigen, und ärgerte ihn eher, da
er sich dadurch in eine Kategorie mit den „Revolutionairs", wie er die Scharn-
horst, die Gneisenau, die Stein nannte, geworfen sah. Als er im März 1813
mit seinen Truppen unter endlosem Jubel des Volkes in Berlin einrückte, rührte
ihn das nicht, ein Bild stolzer Strenge und Kälte, ritt er vor seinen Truppen
her, ohne den Blick auf die jubelnde Menge rechts oder links zu wenden.
Bei Wiederausbruch des Krieges kam Uorks Corps unter Wittgenstein's
Befehl. Es war in zwei Brigaden Infanterie und einer Brigade Reiterei
10,000 Mann stark, und hatte, mit Ausnahme eines Bataillons, schon in Kurland
seine Kriegsschule gemacht. Von den Brigadenführern sind Horn und Hünerbein
auszuzeichnen. Ersterer ,,recht eigentlich das Bild eines Soldaten, groß, kräftig,
derb, von unerschütterlicher Festigkeit, für seine Truppen sorgsam; Keiner verstand
es wie er, mit ihnen zu sein; Manchem hatte er gezeigt, wie er sich die
.Streu machen, wie er sich ein Essen schnell kochen, wie er wurde Füße behandeln
müsse. So kühn und gewaltig im Gefecht, so fest und scharf im Dienst, eben so
gütig und herzlich war er, wo er es konnte; gegen Arme, Kranke und Gefangene
voller Erbarmen. Mehr als einmal hat er in der Wintercampagne 181L in
französischen Dörfern für die Dorfarmen Suppe kochen lassen, und als er einst
dort ein Lazareth französischer Verwundeter fand, die von Behörde und Ein¬
wohnern ganz vernachlässigt waren, ruhte er uicht eher, als bis Alles in Ordnung ge¬
bracht war, und er legte selbst mit Hand an." Von ganz anderer Art war Hünerbein.
Ein gewandter Hofmann aus der Umgebung des Prinzen Louis, ein geistreicher
und übermüthiger Gegner der Stein'schen Reformen. Er sprudelte von Witz und
Malice; im Frieden bis zur Weichlichkeit üppig, war er im Felde wie verwandelt:
im Bivouak theilte er alle Anstrengungen der gemeinen' Soldaten, im Gefecht
vereinigte er mit großer Kaltblütigkeit einen raschen und klaren Blick. Des tüchtigen
Artilleriecommandanten, Major Schmidt, des Major Steinmetz, neben Gneisenau
Mitvertheidiger Colberg's, und eines ihm ähnlichen Charakters, des ritterlichen Jurgaß
sei hier ebenfalls gedacht. Eine originelle Gestalt war der „tolle Platen", der
die litthauischen Dragoner führte, ein trotziger, wilder Mensch, tollkühn und wag¬
halsig. Er sehe die Pferde so gut, wie die Litthauer, für seines Gleichen an,
hieß es von ihm; als er einmal wegen eines verunglückten Choes einen Verweis
erhielt, befahl er, auch den verfluchten Mähren für diesen Tag kein Futter zu
geben. Als er einmal wegen einer Herausforderung zu einer kurzen Festungs¬
strafe verurtheilt ward, schoß er eigenhändig seine drei schönen Pferde nieder:
„er brauche keine Pferde mehr; er sei Arrestant."
Am 27. März trat das Uork'sche Corps vor dem königlichen Schlosse in
Berlin zum Ausmarsch an. Nach einer Rede des Feldpredigers Schultze hielt
auch Aork eine Ansprache. Nicht blos Tapferkeit, sondern auch die werthvolleren
und schwereren Tugenden der Zucht und Geduld verlangte er von seinen Sol¬
daten; Menschlichkeit gegen den Feind forderte er als Gewähr des Bewußtseins,
daß sie für die heilige Sache des Vaterlands kämpften. „Von diesem Augenblick
an gehört Keinem von uns mehr sein Leben; Keiner muß darauf rechnen, das
Ende des Kampfes erleben zu wollen; er sei freudig bereit, sein Leben dahin zu
geben für das Vaterland und den König." Darauf trat er gegen das Leibregiment
zurück und rief: „Soldaten, jetzt geht's in den Kampf; ihr sollt mich an Eurer
Spitze sehen; thut Eure Pflicht; ich schwöre Euch, mich sieht ein unglückliches
Vaterland nicht wieder" Tief ergriffen von diesen Worten, stürzt der alte Horn
seinem Führer in die Arme mit dem Rufe: „Ich und das Leibregiment und ge¬
wiß Alle werden dem Beispiel des Generals folgen." Und ein Soldat aus dem
Leibregiment rief: „Das soll ein Wort sein." — „Ja, das soll ein Wort sein!"
wiederholten die Anderen. Die Worte: „Ein unglückliches Vaterland sieht mich
nicht wieder," waren bei Aork keine Phrase: er trug seit jenem Tage Gift bei
sich. So zogen jene Männer in den Krieg.
Ihr Werth im Kampfe sollre sich bald erproben. Am ö. April stießen Aork'
und Bülow unter Wittgenstein bei Möckern und Dannigkow auf den aus Magde¬
burg gegen Berlin hervorgebrochenen Feind. Nach einem verlustvollen und mit
großer Tapferkeit geführten Kampf um die Dörfer, der mit ihrer Wegnahme
endigte, vollendete ein kecker Reiterangriff des tollen Platen die Verwirrung des
Feindes. Der Rückzug der Franzosen aus Möckern sollte durch drei Reiter¬
regimenter — 1000 Mann stark — gedeckt werden, die zu ihrer Aufnahme hin¬
ter drei Gräben bereit standen. Platen erhielt Befehl, sie anzugreifen; nach einer
Anrede, die mit den originellen Worten schloß: „Auch muß ein guter Dragoner
die Pfeife noch brennen haben, wenn nach der Attake Appell geblasen wird", trabt
er mit seinen vier Schwadronen frisch darauf los; ohne die Pferde vcrschnauben
zu lassen geht es mit einem Hurrah über die Gräben, und so hieb das 200
Pferde starke Regiment in die mindestens tausend Mann starken französischen Lan-
ciers, Chasseurs und Husaren dergestalt ein, daß sie sich alsbald zur verwirrten
Flucht wendeten. Gefangene wurden wenige — nur 86 — gemacht, indem man
im Anfang des Gefechts keinen Pardon gab. Der kühne Streich hatte solchen
Schreck unter die Franzosen verbreitet, daß sich dem verwundeten Chirurg Kühn,
als er von Gönnern nach Aruburg zurückhumpelte, im Walde beim Försterhause
fünf französische Husaren gefangen gaben. Ein pommerscher Dragoner sprengte
ganz allein gegen zwei Schwadronen Chasseurs an, hieb einen Ofstcicr vom
Pferde, verwundete einen andern, und zeigte der übrigen Gesellschaft mit einer
angemessenen Geberde den Rücken.
Als Uvrk ans dem Marsch zur Schlacht von Lützen bei Pegau sein Corps
vor dem König und Kaiser Alexander destliren ließ, stieg er ab, um sich zu mel¬
den. Kaiser Alexander kam ihm sogleich sehr freundlich entgegen, umarmte und
küßte ihn. Dann erst konnte er sich dem König nähern, der seine Meldung
empfing, aber dann sagte: „Ich habe Ihnen bereits das eiserne Krenz verliehen,
sehe aber, daß Sie es noch nicht tragen." Jork gab zur Antwort: So dank¬
bar er für Sr. Majestät Gnade sei, habe er doch für seine Person das Kreuz
nicht angelegt, weil ihm noch nicht Sr. Majestät Entscheidung über alle die¬
jenigen Ofstciere, Unterofficiere und Gemeine zugegangen sei, die er zu solcher
Auszeichnung vorzuschlagen für Pflicht gehalten, sondern erst über einen Theil
derselben; er werde auch das Kreuz nicht eher tragen, als bis Se. Majestät so
gnädig gewesen seien, es auch denen zu bewilligen, die sich sonst nach dem ge¬
machten Vorschlage gekränkt fühlen müßten. Nichts weniger als gnädig hört der
König diese Entgegnung: „Kann, doch unmöglich gleich Allen das eiserne Kreuz
bewilligen; haben mir überdies immer sehr Viele dazu vorgeschlagen." Aork stand
noch immer entblößten Hauptes vor dem Könige: er habe Sr. Majestät nur solche
Officiere und Soldaten vorgeschlagen, welche sich durch die größte Tapferkeit und
Todesverachtung solcher Auszeichnung würdig erwiesen hätten, und er habe' es
für seine Pflicht gehalten, so zu thun, ohne die Besorgniß, daß die Zahl so vor¬
züglicher Leute zu groß erscheinen könne. Dem peinlichen Gespräch gab zum Glück
das Hinzutreten des Kaisers eine andere Wendung. S.o berichtet Droysen nach
glaubwürdiger mündlicher Quelle. Ueberhaupt scheint Zjork oben viel Anstoß durch
den Eifer, mit dem er die Ansprüche seiner Truppen auf Auszeichnungen vertheidigte,
erregt zu haben, und die dadurch veranlaßten Häkeleien trugen viel dazu bei,
seine erbitterte Stimmung noch zu erhöhen.
Der Plan der Alliirten, Napoleon während seines Marsches von der Saale
nach Leipzig, wo seine Macht meilenweit aus einander gezogen war, zu schlagen,
war vortrefflich gedacht, mißrieth aber in der Ausführung gänzlich, theils wegen
mangelhafter Disposition Wittgenstein's beim ersten Angriff, theils weil die An¬
wesenheit der beiden Monarchen bei der Armee die Einheit des Oberbefehls gänz¬
lich vernichtete. In der Schlacht selbst commandirte, der Kaiser, d'Auvray (Wittgen¬
stein's Generalstabschef), Diebitsch, Blücher, Scharnhorst, ja, die Generaladjutanten
des Kaisers, und es war daher kein Wunder, daß sich die Kräfte in einem nutz¬
losen, auf kein gemeinsames Ziel gerichteten Kampfe zersplitterten und aufrieben.
Nach Blücher's Verwundung übernahm Uork den Oberbefehl der preußischen Trup¬
pen. Es war damals gerade eine Krisis eingetreten. Großgörschen, Rana und
Kaja waren von den Preußen mit großem Verlust genommen, und waren frische
Truppen bei der Hand, so konnte sich die Schlacht zu Gunsten der Verbündeten
entscheiden. Aber durch eine Eigenmächtigkeit des Fürsten Wolchonsky war die
russische Reserveinfauterie noch weit zurück. Dagegen kam jetzt auf französischer
Seite das Corps des Vicekönigs von Italien von Leipzig heran und bedrohte über
Eisdorf mit großer Uebermacht Nork's rechte Flanke. Eine Batterie von 60 Ge¬
schützen, bei Starsiedel auffahrend, unterstützte ihr Vorrücken, und von Eisdorf
herüber schmetterte ein fürchterliches Geschützfeuer die Preußen zusammen. Uork
pflegte im Toben der Schlacht völlig ruhig auf einem höhern Punkte zu halten;
nur an dem gespannten, leuchtenden Auge mochte man sehen, daß er kein Zu¬
schauer sei. Als jene furchtbare Batterie das Schlachtfeld mit einem Hagel von
Granaten und Rollkugeln zu überschütten anfing, ließ er sein Pferd die Achte
gehen. Die Ankunft der russischen Reserve stellte endlich die Kräfte wieder einiger¬
maßen in das Gleichgewicht, aber das Einbrechen der Dunkelheit machte ein
abermaliges Vorrücken unthunlich. Auch den anfänglichen Plan, die Schlacht am
andern Tage fortzusetzen, mußte man aufgeben, als sich herausstellte, daß die
russischen Muuitionscolonnen zu weit zurückgeblieben waren, um eine Ergänzung
während der Schlacht zu gestatten.
Der Rückzug ging über Dresden nach Bautzen, wo die Verbündeten eine
an sich starke Stellung einnahmen/ die aber für ihre Kräfte viel zu ausgedehnt
war. Ein Vorspiel zur Schlacht war das Gefecht bei Königswartha, wo Barclay
dem General Lauriston eine Schlappe beibrachte. Aork hielt unterdeß bei Weißig
mit seinem sehr zusammengeschmolzenen Corps — es war von 10,000 Mann
auf 5700 gesunken — den Marschall Ney ab, jenem zu Hilfe zu kommen. Der
Kampf gegen die Uebermacht, denn die Franzosen brachten nach und nach 13,000
Mann in's Gefecht, drehte sich den ganzen Tag mit äußerster Hartnäckigkeit um
den Eichberg und den sich von demselben herunterziehenden Wald. Man begann
schon bei einbrechender Dunkelheit den Rückzug, als man sich gegen den nach¬
drängenden Feind nochmals am Waldsaum setzte. Eine Colonne deböuchirte aus
dem Walde; sie schien den russischen Geschwindmarsch zu schlagen, und erst, als
sie ganz nahe kam, erkannte man sie als Franzosen; mit großer Kaltblütigkeit
begann der die preußische Batterie commandirende, noch sehr junge Lieutenant
Lange sein Feuer, jedes Geschütz selbst commandirend; seine Kartätschen rissen
große Lücken in die Reihen der Anrückenden, und mit Gewalt" mußten die feind¬
lichen Officiere Leute aus den Hinteren Gliedern zum Ausfüllen hervorziehen, wie
man recht gut sehen konnte. Dennoch avancirte die Colonne. Uork hielt mit
seinem Stäbe hinter der Batterie. „Der kaltblütige Feldherr," erzählt ein Augen¬
zeuge bei Droysen, „hing nachlässig aus seinem Pferde, die Tabaksdose in der
Hand, das Auge fest auf den anrückenden Feind gerichtet. Vielleicht auf 250
Schritte nahe gekommen, stutzt die Colonne und feuerte. General v. Uork
sprach in diesem Augenblick das Wort: einsamen! Hauptmann v. Schack flog um
den rechten Flügel des litthauischen Dragonerregiments herum, dem Major
v. Platen das Wort zu wiederholen. Kaum ausgesprochen, folgte dessen Kom¬
mando: mit Zügen rechts schwenkt, Marsch! Der unübertrefflich kühne Platen
war, als er: Halt! und gleich darauf vom Fleck aus: Marsch! Marsch! comman-
dirte, schon im gestreckten Lause vor dem ersten Zuge. Als er bei Uork vorbei¬
jagte, rief der auf den Feind weisend ihm zu: „Die schenke ich Ihnen!" Mit
einem Hurrah stürzten sich die Reiter auf den Feind, und die letzten Züge, die
das Marsch! Marsch! nicht gleich vernommen hatten, sprengten lachend und das
blanke Eisen in den kräftigen Fäusten schwingend, ohne zu wissen, wo es drauf
ginge, noch beim General Uork vorüber, als der tapfere Führer schon mit den
ersten Schwadronen eingebrochen war. Was von der Colonne nicht unter den
Säbeln der Dragoner fiel, flüchtete in wilder Verwirrung wieder in den Wald
hinein. Mit der Dunkelheit hörte das Gefecht allmählich ans, und York ließ
seine Truppen auf dem Schlachtfelde selbst ein Bivouak beziehen, um dem Feind
zu imponiren. Gegen halb 11 Uhr kam die unerwartete Nachricht, daß die
Franzosen im Anrücken seien. Eben ertheilte Uork seine Befehle, als man vor
der Linie der Bivouakfeuer Granatwürse durch die Luft schießen sah; zugleich
hörte man vorwärts und seitwärts Sturmschlag schlagen, und den Ruf: avantl
avcmU Ohne sich einen Augenblick zu besinnen, rief Uork mit fester, tönen¬
der Stimme: Feuer aus! Infanterie Gewehr in die Hand! Kavallerie aufcandart!
In einem Augenblick war dem Befehl gehorcht, nur das Bivouakfeuer des Ge¬
nerals brannte noch. Lautlos erwartete man den Feind, aber Trommelschall und
Geschrei kamen nicht näher, und der Angriff stockte. Man benutzte die Pause,
um abzuziehen; aber noch stand der General bei seinem Feuer, als aus dem
nahen Walde eine Gewehrsalve in die darum Versammelten schlug, und mehrere
von Uork's unmittelbarer Umgebung fielen. Wer noch nicht zu Pferde war,
schwang sich schnell in den Sattel. Der General blieb in seiner Ruhe und
Furchtlosigkeit vielleicht zwanzig Schritt hinter dem Wachtfeuer halten, und schickte
ein Bataillon mit dem Befehl in das Gehölz, die Hundsfötter hinauszujagen.
Der Rückzug ging ohne weitere Störung und ohne Verlust vor sich, obgleich das
russische Corps, das die Preußen aufnehmen sollte, schon abgezogen war. Die
Preußen hatten in diesem Gefecht den vierten Mann todt oder verwundet.
Bei Bautzen stand Aork in zweiter Linie, und wurde zur Unterstützung her¬
beigerufen, als Blücher, dessen rechte Flanke und Rücken durch den Abzug Barclay's
von dem Gleinaer Windmühlenberg entblößt war, die Kreckwitzer Höhen räumen
mußte. Er soll damals zu spät gekommen sein und dadurch die Schuld tragen,, daß
Blücher diese die Schlacht entscheidende Bewegung zu machen genöthigt war. Es
kam darüber zu sehr unangenehmen Erörterungen zwischen ihm und Gneisenau,
welches die ohnedies zwischen den Beiden bestehende Spannung noch vermehrte.
Die Russen, deren linker Flügel im Vorrücken war, erlaubten sich spitzige Be¬
merkungen über diesen Abzug, namentlich Aermoloff, als Horn vor ihm vorbeizog.
Darauf erbot sich dieser, mit dem Russen gemeinschaftlich wieder vorzurücken, „sie
wollten das Ding schon wieder nehmen," und in der That setzte sich seine Brigade
bereits wieder in Bewegung, als Uork's gemessener Befehl diesem „Krieg aus
eigene Faust" ein Ende machte. „Kehrt" aber wollte Horn doch nicht comman-
diren; um den französischen Kugeln seine Verachtung zu beweisen, ließ er in aller
Ruhe einige Schwenkungen wie auf dem Paradeplatz machen, und schloß mit „in
Sectionen rechts abmarschirt!" Der vor der gänzlichen Entscheidung abge¬
brochenen Schlacht von Bautzen folgt der Rückzug der Verbündeten bis
Schweidnitz und der Waffenstillstand von Poischwitz. Die Resultate des russischen
Bündnisses waren in diesem Feldzuge wenig erfreulich gewesen. Von den Russen
schien nur der Kaiser mit Eifer für den Krieg zu sein; alle seine Generäle be¬
trieben ihn mit großer Lauheit, seitdem sie in Deutschland waren; die Oberleitung
war schlaff und verworren, und kleinliche Eifersüchteleien zwischen den einzelnen
Generälen verschlimmerten diesen Uebelstand noch. Die Preußen unterzogen sich
aus naheliegenden. Gründen stets der schwersten Arbeit, und die Russen maßten
sich den Ruhm des Gesammtresultats an. Jetzt war gar zu befürchten, daß letztere
sich nach Polen zurückziehen und die Preußen in einem Winkel von Schlesien
eingeklemmt zurücklassen würden. Zum Glück bestätigte sich nicht diese letzte Be-
sorgniß. Alexander behauptete seinen Willen, den Krieg fortzusetzen, Preußen
konnte die Waffenruhe benutzen, um seiue Armee erheblich zu verstärke», Oestreich
trat dem Bündniß bei.
Der Beitritt der letztern Macht machte Preußen wenigstens unabhängiger
von Nußland, dessen Politik.sich immer selbstsüchtiger zu entwickeln begann.
Preußen hätte allerdings auch ohnedies freier Handel» und kräftiger austreten
können, aber dem König und seiner diplomatischen Umgebung flößte das beste
Element des Staates, die begeisterte, gesunde Volkskraft, mehr Besorgniß und
Angst, als Zuversicht ein. Droysen sagt i» dieser Hinsicht trefflich: „Weder der
König, noch die Staatsmänner, denen er sein Vertrauen zu schenken gewohut
war, faßten deu Beruf dieses Staates so hoch und mit den: Selbstgefühl, wie es
die mächtig emporschwellende Kraft der Nation gestattete, die Größe der Situation
forderte, das staunende deutsche Volk erwartete. 'Die diplomatische Staatslenkuug
war auf dem Wege, sich mit dem genügen zu lassen, was die Eifersucht, das
Mißtrauen und das eigene Interesse der übrigen Mächte Preußen wollte werden
und sein lassen. Sie schien weder den Stolz, noch die Fähigkeit zu haben, statt
der tugendsam secundairen Rolle, in der die Bundesgenossen Preußen so gern
sahen, — als habe nur Preußen dankbar zu sein, zu fürchten und zu hoffen —
diejenige geltend zu machen, zu welcher das schon Geleistete das volle Recht gab.
Daß auch Preußen seine Interessen und seine Ansprüche, daß es einen deutschen
und europäischen Ruf habe, — nicht in Heer und Volk, wol aber in den höchst
entscheidenden Rollen schien es — nach den Demüthigungen und Hoffnungslosig¬
keiten der letzten Jahre — nicht mehr oder uoch nicht wieder geglaubt zu werden."
Kehren wir wieder von dieser Abschweifung zurück, denn wir können natürlich
hier nicht eine Geschichte jener großen Zeit schreiben, wollen nicht einmal dem
Feldzuge Schritt für Schritt folgen, sondern nnr die charakteristischen Züge zu dem'
Bilde eines preußischen Feldherrn und seiner Truppen sammeln. Und auch da
werden wir uns, des beschränkten Raumes wegen, manchmal in Sprüngen bewegen
müssen.
Aork erhielt den Oberbefehl über das erste Armeecorps von 38,000 Manu
und blieb unter Blücher's unmittelbaren Befehl, während von den anderen diesem
untergeordneten beiden Corps Bülow zur Nordarmee, und Kleist zur große» Armee
abrückte. Uork dagegen bildete mit deu beiden russischem Corps, Sacken und
Langeron, die schlesische Armee. Er war mit dieser Anordnung auf's Höchste
unzufrieden. Auf Blücher hielt er uicht viel, er nannte ihn einen Hnsarengeneral;
mit Gneisenau, seinem Chef des Generalstabes, lebte er in der größten Span-'
mung, die in offene Feindschaft auszubrechen drohte. Wir wünschten sehr, daß
Droysen dieses Verhältniß klarer beleuchtet hätte, doch mag es an Materialien
gefehlt haben, und ist wol erst von den in Aussicht stehenden Denkwürdigkeiten
Gneisenau's Aufhellung über diese dunkle Partie der Geschichte des Befreiungs¬
krieges zu erwarten. Bis jetzt sehen wir blos, daß U^ut beständig mäkelte,
Gneisenau kopfloser und leichtsinniger Operationen und unnützer Fatiguinmg der
Truppen beschuldigte und sich über stete geflissentliche Kränkungen mit großer Bit¬
terkeit beschwerte; während Gneisenau über bösen Willen und Widerspruchsgeist,
über das Einwirken persönlicher Leidenschaften auf die große Sache der Nation
klagt. Die Hauptschuld lag wol an der ganz verschiedenen Geistesrichtung der
Beiden, und an dem galligen und argwöhnischen Wesen Aork's. Die eigenthüm¬
liche Haltung der beiden russischen Cvrpsführer gab auch zu mancher Gereiztheit
Anlaß; sie betrachteten sich als halb selbstständig, befolgten die erhaltenen Befehle
erst nach vorheriger Kritik, manchmal anch gar nicht. Dadurch wurde manche
günstige Gelegenheit versäumt, kam manche Verwirrung in die Bewegungen, die
Uork bereitwillig auf die Dispositionen der „Strategen" des Hauptquartiers schob.
Bei alledem fühlte man sich dnrch politische Rücksichten bewogen, den Russen einen
weit über die Gebühr gehenden Antheil am Ruhme zukommen zu lassen, was
abermals Aork als absichtliche Vernachlässigung von Seiten des Generalstabes
auslegte. Was vollends in Schlesien bis zu dem Abrücken nach der Elbe
geschah, war gar nicht nach seinem Sinn. Die geheimen Jnstructionen Blücher'S
und den in Reichenbach entworfenen Plan, dem aus Schlesien zurückweichenden
Feinde stets, ans den Fersen zu bleiben, aber jeder entscheidenden Schlacht gegen
eine Uebermacht auszuweichen, kannte er nicht, und die dadurch veranlaßten bestän¬
digen Märsche und Contremärsche, die im schlechtesten Wetter von mangelhaft
bekleideten Truppen ausgeführt, diese mehr decimirten als blutigen Gefechte, erschie¬
nen ihm als eine zwecklose Vergeudung von Menschen, und er äußerte sich darüber
auf das Bielersee. Napoleon urtheilte freilich darüber ganz anders. Als die schle-
sische Armee in den ersten Tagen des September, wie er sie selbst drängte, von
-Görlitz zurückwich, sagte er anerkennend: Les ammaux ont apprit qMtcius vkoss.
Man kann nicht sagen, daß die Getadelten den Tadler A)ort mit gleicher Münze
gezahlt hätten. Blücher nannte ihn seinen „Schwerenöther, der wohl brummt,
aber auch beißt;" „er sei schwer in's Feuer zu bringen, aber habe ich ihn einmal
drin," setzte er hinzu, „so ist keiner besser als er." Ein anderes Mal sagte er:
„Der Z)ort ist verdrießlich, aber er läßt es sich auch sauer werden;^hätte ich noch
so einen, so könnte man. einen Bären damit fangen." Gneisenau erkannte seine
hohe militärische Tüchtigkeit bereitwillig an; im Uebrigen ließ man Z)ort ziem¬
lichen Spielraum in seinen Anordnungen, und dieser Freiheit verdankt er einige
seiner schönsten Siege. Auch diese Schatten gehören zur Vollständigkeit des Bildes
des tapfern Kriegers.
Der Sieg an der Katzbach glich Manches aus, namentlich ordneten sich die
Nüssen seit jenem Tage bereitwilliger unter. Dort bat den Hauptantheil an dem
Gewinn der Schlacht. Die schlesische Armee rückte am 26. August zum Augriff
auf den bei Liegnitz vermutheten Feind vor. Aber anstatt anzugreifen, wurde man
selbst angegriffen. Die Avantgarde war schon jenseits der Katzbach und der
wüthenden Neisse, als der Feind, so viel sich bei dem regeudnnklem Wetter erken¬
nen ließ, mit 40,000 Mann herandrängte und den Zurückweichenden auf das Pla¬
teau folgte. Aork nahm sogleich die bereits ertheilte Specialdisposition zurück,
ritt vor, und gab Angesichts des Feindes seine neuen Befehle. Wir gehen hier
nicht in das Detail der Schlacht ein, sondern heben nur ein Paar charakteristische
Züge heraus. Der linke Flügel, von U^^k selbst geführt, kam, am Thalrand
vorrückend, zuerst an den Feind: es waren drei Bataillonscarrs s von vier Ge¬
schützen gedeckt, deren Kartätschenfeuer jedoch die Anstürmenden nicht aufhalten
kann. „Im Flintenfeuer angekommen," schreibt ein Mitkämpfender bei Droysen,
„verdoppelten wir unsre Schritte, fällten das Gewehr und griffen das mittelste
Carre von französischen Grenadieren mit gefälltem Bayonnet unter fürchterlichem
Hnrrahgeschrei an. Das Carre stand wie eingemauert. Wir näherten uns bis
auf zwei Schritt. Einen Augenblick standen unsre Leute so den Franzosen gegen¬
über, von beiden Seiten sah man einander an. Dann riefen wir Officiere:
„Drauf! drauf!" und nun nahm der Soldat das Gewehr verkehrt und schlug
mit den Kolben in die Franzosen hinein. Schnell wurde das Carr«, da wir in
Linie standen, rechts und links umzingelt und so von allen Seiten mit Bayonnet
und Kolben angegriffen. Jetzt war an kein Pardongeben mehr zu denken und
nach zehn Minuten lag das ganze Carrs da zu Boden geschlagen und in eine
Pyramide verwandelt. Etwa 130 Lebendige und Leichtblesstrte fanden sich hernach
noch aus dem niedergeschlagenen Menschenhaufen heraus, diese wurden als Ge¬
fangene zurückgeschickt. Die, nachfolgenden anderen Bataillone und die Landwehr
hatten sich auf die übrige Infanterie und die Geschütze gestürzt. Letztere war
etwas aus einander gekommen, als feindliche Chasseurs auf sie losgesprengt kamen,
und Pardon anboten. Aber schnell gesammelt stürzte sie sich unter ihrem Obersten
Gaza mit dem Bayonnet aus die Reiter, und schlug sie aus dem Felde. Das war
das 1i. schlesische Landwehrregiment. Ein Paar Tage früher hatte das Füsilier¬
bataillon des Leibregiments bei Löwenberg einen ähnlichen glücklichen Bayonnet-
angriff auf französische Cavallerie gemacht. Noch war aber der Sieg nicht
entschieden; neue Massen, namentlich Reiterei, drängten herauf und kamen bis in
die preußischen Batterien; aber umsonst. Bald sind die Preußen wieder im Vor¬
rücken, Sacken schwenkt gegen die linke Flanke der Franzosen an, und als noch
vier Kavallerieregimenter, das letzte von Macdonald selbst geführt, vergeblich
angreifen und aus einander stieben, stürzt sich Alles in wilder Verwirrung die steilen
Thalränder der Neisse und Katzbach hinunter. 18,000 Gefangene, 103 Kanonen,
230 Munitionswagen und das ganze übrige Fuhrwerk des Feindes waren die
Trophäen des Sieges, der natürlich verhältnißmäßige Verluste gekostet hatte.
Jork's Corps war während der 18 Tage seit Eröffnung des Feldzuges
38,000 auf 23,000 Mann gesunken.
Der Rechtsabmarsch der schlesischen Armee zur Vereinigung mit der Nord¬
armee in den letzten Septemberwochen führte U^rk mit seinem Corps an die
Elbe, wo er den Uebergang bei Wartenbnrg bewerkstelligte und hier einen seiner
schönsten Lorbeer» pflückte. Es war ein Mustergefecht so recht nach Uork's Art,
denn wo „der alte Jsegrimm", wie ihn die Soldaten nannten, sich einmal festgebissen,
da ließ er nicht wieder los. Man fand drüben einen weit stärkern Feind, als
man erwartet hatte, in einer sehr starken verdeckten Stellung mit überlegenem
Geschütz. Mit einem raschen Anlauf war hier nichts zu machen; nur zäheste
Ausdauer, kalte Ruhe und unbedingte Herrschaft über die Truppen kounte hier
den Sieg bringen, indem man den Feind am hartnäckigen Widerstand im sparsam
genährten Gefecht sich allmählich aufreiben ließ, bis er, mürbe geworden, von dem
letzten Stoße zerbrach. Hier war es, wo der tapfere Horn seine Brigade über
einen schmalen Damm persönlich zum Sturm führte. Der Zugang war durch eine
feindliche Batterie vertheidigt (wir folgen hier abermals dem Bericht eines Augen¬
zeugen bei Droysen). Die erste Paßkugel, die der anstürmenden preußischen
Brigade entgegenflog, traf gerade in die Brust des Pferdes, auf dem General
Horn ritt; das Thier stürzte todt unter ihm zusammen. Der General liegt unter
dem Pferde, da schreit sein Adjutant, der Graf Canitz: Herr Jesus! da liegt
der General! — Herr von Horn schreit ihm entgegen: Da is was zu Herr
Jesussen, mir fehlt nichts; schafft mir die Steigbügel von den Beinen! — Die
Musketiere, die ihm zunächst marschiren, reißen dem General die Steigbügel von
den Füßen; er springt aus, ergreift das Gewehr eines todtgeschossenen Soldaten,
und schreit: Ein Hundsfott, der schießt! — So springt der gewaltige Mann
voran, das ganze Bataillon folgt ihm im raschen Lauf mit gefälltem Bayonnet.
Die feindliche Batterie speit einen Kartätschenhagel gegen das Bataillon und
schmettert ganze Rotten nieder. Nenn Officiere wurden verwundet; General Horn
bleibt unversehrt und ist persönlich der Erste in Wartenbnrg, schlägt eigenhändig
die Kanoniere in der feindlichen Batterie mit dem Kolben todt, und seine Muske¬
tiere vom Leibregiment stechen mit dem Bayonnet Alles nieder, was sich noch zur
Wehr setzt. — So ist Wartenburg gestürmt; die ganze Brigade dringt nach und
wirft den Feind mit allen seinen Schanzen. Als am Abend beim Einrücken in's
Lager das zweite Bataillon des Leibregiments vor Uork vorbeimarschirte, nahm
er die Mütze ab, bis der letzte Mann an ihm vorüber war." In diesem Ge¬
fecht, das die Preußen ganz allein bestanden, verlor Bertrand /Is00 Mann und
mußte nach Wittenberg zurück. Die Russen strömten über vom Lobe des Generals
Uork. Langeron nannte ihn einmal über das andere „mon illustre eamar^ne",
worauf Uork stets sehr förmlich mit „Ew. Excellenz" antwortete. Im Vertrauen
zu seiner preußischen Umgebung sagte er aber: „Mag der Henker diese russischen
Kameraden holen!"
Die Operationen, die der Schlacht in Leipzig vorhergingen, übergehen wir
natürlich. Die schlesische Armee rückte von Halle gegen die Nordseite Leipzigs.
Man vermuthete den Feind auf dem Plateau von Breitenfeld' zu finden, denn er
hatte Nadefeld und Lindenthal stark besetzt. Die Russen wurden über ersteres
Dorf gegen Wiederitsch und Breitenfeld dirigirt, Ayrt gegen Lindenthal und
Möckern. Wider Erwarten wurde auf dem linken Flügel der Kampf am heftig¬
sten, da sich hier die Hauptmacht des Feindes concentrirte, aber die Russen waren
schon zu weit rechts ab, um noch wirksam eingreifen zu können. So kam
es denn, daß, während Langeron sich mit seinen 13000 Mann von Dom-
browsky's 2000 Polen in Wiederitsch den halben Tag über amusiren ließ,
und die russische Hauptreserve für sich allein in Anspruch nahm, I)ort
die Hauptlast des Kampfes um das mit Uebermacht und großer Hartnäckigkeit
vertheidigte Möckern zu tragen hatte. Nachdem Hiller, obgleich er drei Mal
das Dorf erstürmte, doch Immer wieder weichen mußte, rückte ihm Prinz Karl
von Mecklenburg nach, aber der Feind sährt gegen den neuen Angriff eine Bat¬
terie von mehr als 40 Kanonen ans, und überschüttet die Anrückenden mit einem
Kugelhagel. Aork hielt mitten in demselben. . Eine Kugel schlug zwischen ihm
und einem hinter ihm haltenden Reiterregiment ein. Er sieht sich um, ob die
Leute ruhig bleiben. Er nimmt die Dose aus der Tasche, öffnet sie, nimmt eine
Prise zwischen die Finger, steckt die Dose wieder ein, vergißt aber die Prise in
die Nase zu stecke». Die leichten Sechspfünder der Preußen können die schwere
Batterie der Frauzosen nicht bewältigen; die Reiterei muß, um weniger Verlust
zu haben, sich in ein Glied aus einander ziehen. Der Brigade des Prinzen von
Mecklenburg gelingt es eben so wenig, sich, in dem Dorfe festzusetzen; sie verliert
die Hälfte ihrer Leute im blutigen Kampfe; fast alle Stabsofficiere sind ver¬
wundet oder todt; aber wenigstens die wichtige Ziegelscheune bleibt in ihrem
Besitz. Nur noch acht frische Bataillone hat Ivrk. Er ordnet sie zum letzten
Angriff. Noch mörderischer wurde jetzt der Kampf; Hunderte von Verwundeten
kehrten zugleich -aus den Reihen der fechtenden Bataillone zurück, im Dorfe
kämpfte man um jedes einzelne Haus in Haufen von t0—30 Mann, wie man
sich zusammenfand. Pardon wurde nicht gegeben. Uork's beide letzten Bataillone
standen schon im Feuer, da stürzt sich, einen glücklichen Moment benutzend, Major
v. Sohr mit drei Schwadronen auf den Feind und rennt die ersten Bataillone
'über den Haufen; Dort sendet ihm sogleich die ganze Neservecavallerie nach, er
selbst setzt sich an die Spitze der Manischen Dragoner, und die feindliche In¬
fanterie flieht in einzelne Haufen aufgelöst. Eine Colonne von 1200 Garde-
mariniers wurde bis auf wenige Mann vernichtet.
Auf dem linken Flügel hatte man unter Hnnerbein nicht minder tapfer ge¬
kämpft. Viele einzelne Züge heroischer Tapferkeit sind uns hiervon aufbewahrt.
Major v. Krvsigk wird im Handgemenge tödtlich verwundet; sterbend winkt er mit
dem Degen vorwärts; und da man ihn wegtragen will: „laßt mich; geht und
siegt." Er schleppt sich, auf einen Erdhaufen zurück, und verschied da; „wer
rückwärts sehe, den hätte die Leiche zurückgedräut!" Lieutenant v. solum würgt
sich mit Lieutenant v. Favrat und sieben Gemeinen in ein geordnet zurückgehen¬
des Quarre hinein, und holt eine bespannte Kanone heraus. Lieutenant v. Eber-
hardt sinkt von einer Kugel getroffen zu Boden, sein über ihn vorstürmendes
Bataillon zertritt ihn, aber ehe dasselbe den Feind erreicht, erscheint er mit einer
schweren Kopfwunde keuchend vor demselben, und ruft: „Nein, Kinder, ich muß
auch mit in'den Feind !"
Marmont zog sich bis Eutritzsch und Gohlis zurück: sein linker Flügel und
sein Centrum waren so gut wie aufgelöst, er hatte 6000 Todte und Verwundete,
2000 Gefangene, ö3 Kanonen eingebüßt; Uork's Corps hatte den Sieg mit dem
Drittel seines Bestandes erkauft: von 21,000 Mann waren nur uoch 13,000 Maun
übrig; die Russen hatten 1300 Mann verloren. Der Sieg brachte die Ver¬
bündeten in Besitz des ganzen Terrains zwischen der Elster und Parese bis dicht
vor die Stadt Leipzig.
Was wir noch über die Helden-Laufbahn Uork's zu sagen haben, gebietet
uns Mangel an Raum in Kürze zusammenzufassen. Er war mit seinem wieder
auf 22,000 Mann gebrachten Corps in der Neujahrsnacht 181i der Erste über
den Rhein, stieß aber, anfangs mit der Blokade der Moselfestnngen beschäftigt,
erst nach der Schlacht von Brienne zu der Hauptarmee. Es genüge zu sagen,
daß Beide dem Ruhm, den sie im Feldzug von 1813 erworben, reichlich
Genüge thaten, und von der alten Kampsesfreudigkeit nichts verloren hatten.
Ergänzen wir jetzt durch einige nicht gerade vom Schlachtfeld genommene Züge
das angefangene Bild.
Daß die deutschen Truppen nach dem vieljährigen Leiden ihres Vaterlandes
jetzt bei dem Einrücken in Frankreich den Franzosen Gleiches mit Gleichem zu ver¬
gelten wünschten, war nur natürlich. Die Kosaken gaben ihnen ein verführerisches
Beispiel und hausten wie Räuberbanden; Uork sah um so unerbittlicher auf die
strengste Mannszucht. Er selbst gab das Beispiel der Großmuth. Er bezahlte
Alles baar. In Pont «, Moussou nahm er sein Quartier auf dem Schlosse eines
Generals, der sich früher einmal im königlichen Schlosse in Berlin einquartiert
und sich dort mit großem Uebermuth benommen hatte. Als er abreiste und die
Rechnung für die zwanzig Couverts seiner Tafel forderte, erklärte der Haushof¬
meister, sein Herr werde es sich zur Ehre rechnen, den General Uork bewirthet
zu haben. Darauf erwiederte Uork: er wisse recht gut, daß er die Macht und
das Recht habe, zur Strafe für die Anmaßungen des Generals in Berlin sein
Schloß dem Erdboden gleich zu machen; aber er wolle der Welt den Unterschied
zwischen einem preußischen und einem französischen General zeigen; er befehle
die Rechnung. Sie wurde gebracht und doppelt bezahlt. Als später durch die
unaufhörlichen Gewaltmärsche, das wiederholte Durchziehen bereits ansgesaugter
Gegenden, die Feindseligkeit der zum Aufstand aufgerufenen oder durch die
Noth zur Verzweiflung gebrachten Einwohner die Verpflegung immer schlechter
wurde, und den Truppen Kleidung und Lebensmittel zu fehlen anfingen, wurde
es freilich immer schwerer sie vom Plündern abzuhalten. Dort fuhr auch hier
mit seiner gewohnten Derbheit dazwischen. Einmal ließ er seine sämmtlichen
Brigadiers und Regimentscommandeure in seinem Hauptquartiere Oulchy le
ClMeau zusammenkommen. „Als wir, versammelt waren," erzählt Graf Henkel
in seinen Denkwürdigkeiten, „trat der commandirende General unter uns, und
begann: Meine Herren, ich habe geglaubt, die Ehre zu haben, ein preußisches
Armeecorps zu> commandiren, ich commandire aber eine Räuberbande; meine
Herren, ich will nicht den großen Abällino spielen, und ich werde jeden vor ein
Kriegsgericht ziehen, der nicht mit aller Strenge wieder Ordnung in die Truppen
bringt." In diesem Augenblicke ritten zwei Marketenderinnen, die eine in einem
kanariengelben seidnen, die andere in einem hellblauen seidnen Kleide, beide mit
Hüten mit großen Federn geschmückt, im Galopp vorbei. Der General, sie er¬
blickend, rief in größter Entrüstung: Da sehen Sie, meine Herren, schaffen Sie mir
die verfluchten Menscher! Ehe man aber die Pferde fand und sich hinaufschwang,
waren sie verschwunden und nichl wieder zu finden. Komisch war ein Disci¬
plinvergehen bei Chälons, das aber einen bösen Ausgang hätte nehmen können.
Macdonald hielt die Stadt besetzt, und Aork ließ sie bombardiren. Die Ost¬
preußen schlugen sich in Se. Memmie mit dem Feinde herum, aber allmählich
hörte man das Feuer matter werden. Aork befand sich mit seinem Stäbe'in
einem Bauerhause vor der Stadt, als sein Reitknecht, den er nach Se. Memmie
geschickt hatte, um etwas Wein zu holen, ohne Wein, aber starkraumelnd zurück¬
kehrte-: „Alles todt, Excellenz, Alles todt" berichtete er. Ein Adjutant eilte hin,
.um sich naher zu unterrichten. Er sand ein seltsames Schauspiel. Die wackeren
Ostpreußen hatten ein Paar Champagnerkeller entdeckt, und an dem trefflichen
Weißbier, wofür sie es tranken, sich überreichlich crletzt. Tausende von Flaschen
lagen zerbrochen umher, Mancher war in der Tollkühnheit des Rausches mit der
Flasche in der Hand gegen die Mauer gestürmt, und hatte dort den Tod gefun¬
den, Andere lagen mitten im Feuer im süßen Schlummer, Andere saßen und
schwatzten und tranken. So meldete der Adjutant. „Eine nüchterne Brigade
zur Ablösung!" commandirte Z)ort. Die Ausschweifung hatte zum Glück keine
schlimmeren Folgen, und Macdonald mußte capituliren. Einer derben Strafrede
aber entgingen die Truppen nicht.
Bei Montmirail rettete Uork's hartnäckige Tapferkeit Sacken's Corps vor
gänzlicher Zertrümmerung, freilich mit argem Verluste; bei Laon erfocht er durch
seinen nächtlichen Anfall auf Marmont's Armeecorps den Sieg, der dem Feinde
seine ganze Artillerie und i000 Todte, Verwundete und Gefangene kostete. An
Anerkennung fehlte es nicht: Blücher ließ ihm sagen, „ihr alten Aork'schen seid
ehrliche brave Kerls; wenn man sich auch auf euch nicht mehr verlassen könnte,
da fiele der Himmel ein." Nach diesem Siege, der Napoleon an den Rand des
Unterganges brachte, trat durch Blücher's Erkranken ein Stillstand in der Ope¬
ration ein; Uork beschuldigte Gneisenau, er wolle ihm aus persönlichem Haß den
Ruhm seines Sieges rauben, und der lange verhaltene Groll brach hervor: er legte
sein Kommando nieder, und verließ das Hauptquartier. Erst durch einen Brief
Blücher's, der denselben trotz seiner Krankheit eigenhändig schrieb, und der mit
den Worten schloß: „Mein alter Kamerad, so etwas darf die Geschichte von
uns nicht erzählen, also seid vernünftig und kommt zurück," und durch einen
zweiten des Prinzen Wilhelm ließ er sich zum Umkehren bewegen.
Er nahm noch an dem Zug nach Paris Theil. Napoleon warf sich in den
Rücken Schwarzenberg's, um die Verbündeten von der Hauptstadt abzuziehen, aber
Blücher ließ sich nicht im Vorrücken stören. Am 28. März erreichte das 1. Corps
Meaux, wo eine Brücke über die Marne, den letzten Terrain-Abschnitt von
Paris, führt. In geschlossener Ordnung, ohne Ausenthalt zogen die Kolonnen
durch die Hauptstraße der Stadt, die Nebengassen durch Posten absperrend.
Kein Soldat durfte Reih' und Glied verlassen > wie auch die offenen Läden zu
beiden Seiten locken mochten. Dem General Uork konnte Alles nicht rasch genug
gehen, und er trieb, schalt und spornte beständig zu Eile an. Staunend sahen
die Bürger der Stadt diesen rastlosen endlosen Zug: Non üieu, brih est,
peräu, hörte man mehr als einmal. Bei Claye hielt der König über das erste
Corps Revue; man sagt, den König habe der Anblick nicht sehr erfreut, er habe
gesagt: „sehen schlecht aus, schmuzige Leute," und sei zurückgeeilt; darauf habe
Z)ort auf der Stelle Kehrt! und Marsch! befohlen. Schmuck sahen die Truppen
nach dem anstrengenden Winterfeldzug freilich nicht aus; „die Geschütze zum
Theil mit Rädern von Bauernwagen, das Riemenzeug mit Stricken geflickt, die
Leute mit ungeschvrnem Haar und Bart, die Kleidung im besten Fall durch zahl¬
reiche Flecken heil, theilweise im Bivouak versengt, theils durch allerlei Beutestücken
ergänzt, nicht wenige mit zerrissenen Hosen, schuhlosen Füßen ze." Aber sie hatten
sich doch den Weg vom Rhein nach Paris erkämpft.
Am 30. früh Morgens begann der Sturm auf Paris zunächst vor Paulin
und Romainville, dann gegen den Montmartre; als Aork's Truppen sich gegen
den Hügel in Marsch setzten, kamen die Boten des Waffenstillstands herangesprengt.
Uork und Kleist bivouakirten auf deren Montmartre, die stolze, nun gedemüthigte
Stadt, die ganz Europa Gesetze vorgeschrieben hatte, zu ihren Füßen. „Als die
Truppen oben an der Windmühle standen, die Infanterie Gewehr bei Fuß, die Rei¬
terei zum Theil unter abgesessen, kommt mit einem Mal Oberst Below mit seinen
Litthauern herauf, reitet in langem Zuge gemächlich den hohen Kamm entlang, zeigt
ihnen Paris, und als Uork nicht wenig erstaunt und ungehalten nachreiten
und fragen läßt, was das bedeute, entgegnet Below: das habe er seinen Leuten
schon in Tilsit versprochen: man wisse doch nicht, ob sie sonst Paris zu sehen
bekämen." Sie hätten es auch nicht zu sehen bekommen ; Uvrk's Truppen waren
nicht sauber genug, um den Parisern vorgeführt werden zu können, und mußten
um die Stadt herum marschiren.
Nach Beendigung des Feldzuges von 1813 war Uork General der Infanterie
geworden; die Schlacht an der Katzbach hatte ihm den schwarzen Adlerorden gebracht,
jetzt am Tage des Einzugs in Paris erhielt er das Großkreuz des eisernen Kreuzes.
Als weitere Auszeichnung erhielt er den Titel Graf Uork v. Wartenbnrg und die
Domäne Kleinöls, auch wurde ihm der Befehl über die in Frankreich zurück¬
bleibenden Truppen übertragen. Später begleitete er seinen König nach England
und übernahm dann den Oberbefehl über alle Truppen und Festungen in Schlesien,
was ihm als eine kränkende Zurücksetzung erschien. Er nahm einen rührenden
Abschied von seinem Corps, mit dem er zehn stegreiche Schlachten und Gefechte
geschlagen und dem Feinde 223 Kanonen abgenommen hatte. Als man ihn,
wol in der Erinnerung seines gespannten Verhältnisses mit Blücher im Commando,
181S nicht in Thätigkeit setzte, verlangte er seinen Abschied, den er aber erst nach dem
zweiten Pariser Frieden erhielt. Das stille Schaffen des Friedens war nicht für seinen
Geist. Die leidenschaftliche Energie seines Wesens zernagte ihn innerlich, und
er verlebte ein grämliches, unzufriedenes Alter, uoch mehr verbittert durch
den Umschwung in der Stimmung der oberen Kreise, welche das großartige
Ringen von 1812 —Is in den Schatten zu stellen suchten. Am 3. October 1830
starb der greise Held.
Dänemark ist ein von Deutschland aus so wenig besuchtes Land, daß es für
die Meisten einer besondern Veranlassung bedarf, um eine Reise dahin zu machen.
Für mich war es genug, daß ich bei einem zufälligen Aufenthalte in Swinemünde
erfuhr, die Ueberfahrt nach Kopenhagen mit dem Geyser dauere nur 13 Stunden.
So war ich denn'mit meinem Gepäck an einem heitern Angnstnachmittag an dem
Landungsplatz, als das schöne Schiff die Swine heraufgcdampft kam, überfüllt
mit Passagieren, die Kopf an Kopf an die Balustrade gedrängt standen. Aber
fast alle stiegen in Swinemünde aus, um in diesem langweiligsten und reizlosesten
aller Ostseebäder zu bleiben, oder in das liebliche eine Meile entfernte Heringsdorf
zu gehn. Eine Viertelstunde lang war das Schiff und die Ladbrücke der Schau¬
platz eines chaotischen Getümmels, da alle ankommenden Familienväter nothwen¬
diger Weise noch auf dem Verdeck von ihren Frauen und Kindern umarmt werden
mußten, und von Matrosen und Kofferträgern wurde sowol Dänisch als Deutsch
erheblich geflucht; aber bald war das Schiff völlig leer, denn einige Polinnen,
einige Geschäftsreisende und einige Dänen, die aus Deutschland zurückkehrten,
waren die Einzigen, die die Reise fortsetzten. Kaum war ich an Bord, so ertönte
die Glocke zum letzten Male, der dänische Schiffslieutenant stellte sich auf die
Brücke zwischen den Räderkasten und commandirte zur Abfahrt, und erst das
Bollwerk entlang, dann zwischen den langen Sttunmolen fuhren wir in die offene
See hinaus. Glücklicher Weise bestätigten sich die Befürchtungen nicht, die über
unser ferneres Wohlbefinden sich vielfach hören ließen. Das Schiff durchschnitt
mit günstigem Winde so gleichmäßig die Wellen, daß auch die ärgste Landratte
sich nicht unbehaglich fühlen konnte. Es war ein herrlicher Tag; in warmer
Nachmittagsbeleuchtung lag die langgestreckte Küste von Usedom zur Linken, und
deutlich konnte man die Buchengruppe auf dem Culm von Heringsdorf mit ihren
schlanken, astlosen, weißen Stämmen und breiten Kronen gleich Pinien ragen
sehn. Bald wurde auch Rügen sichtbar, das die auf der Ostseite breit einspringende
Bucht wie zwei Inseln erscheinen ließ. Die Sonne versank hinter einer weißgrauen
Wolkenbank, die von ihr durchglüht mit röthlich goldenem Glänze strahlte, und
mit der heraufzieheichen Dämmerung ging das Blau des Wassers allmählich in
ein schwärzliches Gran über, der Nachtwind erhob sich, und das Rauschen der
Wellen toute dumpfer als zuvor. Der Thee versammelte die Gesellschaft im
Salon, der mit Spiegeln, Vergoldung und Teppichen geschmackvoll ausgestattet
ist, wie denn überhaupt der Geyser an Eleganz-und Comfort nichts zu wünschen
übrig läßt und seine kriegerischen Antecedentien durchaus uicht verräth. Be¬
kanntlich war es dieser Dampfer, der den Christian den 8ten aus der Schußweite der
Eckernförder Batterien schleppen sollte, aber durch ein wohlgezieltes Feuer genöthigt
wurde, an seine eigene Sicherheit zu denken. Während wir beim Thee im Salon ver¬
weilt hatten, war die Nacht völlig hereingebrochen, ein sternklarer Himmel breitete
sich über der unendlichen Wasserfläche, und ich wandelte noch lange aus dem
Verdeck umher, als die meisten Mitreisenden sich schon längst zur Ruhe begeben
hatten. Endlich suchte ich meine Koie auf, und bald von dem eintönigen Rauschen
der Wellen in Schlaf gewiegt, erwachte ich erst, als ein graues Morgenlicht durch
das runde Fenster in der Schiffswand an meiner Seite fiel. Ich kleidete mich
an und ging aus das Verdeck, wo verschiedene Passagiere mit 'bleichen, übernäch¬
tigen Gesichtern, vor den Morgenschaueru sorgfältig eingehüllt, umherwandelten
und in verschiedenen Sprachen ihre Sehnsucht nach Caffee ausdrückten. Ihre
Lage wurde dadurch noch uuconfvrtabler, daß das Schiff eben seine Morgen¬
toilette machte, d. h. aus großen Eimern reichlich mit Wasser überströmt und
dann sehr systematisch gescheuert wurde, so daß man jeden Augenblick einen
Seitensprung machen mußte, um einem Wassersturz oder einem der taktmäßig da-
herfahrenden Borstwischc zu entgehn. Wir hatten jetzt die schwedische Küste zur
Rechten. Noch stand der abnehmende Mond am Himmel, aber immer stärker
röthete sich der Osten, einer nach dem andern verschwanden die Sterne in dem
unendlichen Blan, und endlich brach der äußerste Rand der Sonnenscheibe
golden aus der azurnen Muth hervor. Noch einige Stunden und wir waren in
Kopenhagen.
Kopenhagen ist eine sehr eigenthümliche Stadt. Ungeheuere Brände im
vorigen Jahrhundert und das Bombardement von 1807 haben jede Spur mittel¬
alterlicher Bauart von Grund aus zerstört, die älteren Schlösser und sonstigen
öffentlichen Gebäude, die stehen geblieben sind, rühren größtentheils aus der
Regierungszeit Christian's des neu her (1596 —1648), (dessen tüchtige
Heldengestalt in der Tracht seiner Zeit man in Thorvaldsens Museum sieht), und
tragen das unverkennbare Gepräge des damaligen architektonischen Ungeschmacks:
so die Rosenburg und besonders die Börse, auf deren Thurm vier aus den
Bauchen ruhende Drachen, die Köpfe nach den Weltgegenden ausstreckend, mit
in einander verschlungenen, senkrecht in die Höhe gerichteten Schwänzen die Spitze
bilden. Der Sage nach soll Christian diese ganze Thurmspitze als Trophäe aus
Kalmar mitgenommen haben. Die Straßen sind größtentheils breit und gerade,
die Häuser hoch, grau, von schlichter nüchterner Bauart, und wo'kein lebhafter
Verkehr herrscht, ist es öde und verlassen. Der Sund theilt die Stadt in zwei
Hälften, von denen die kleinere ans der Insel Amager liegt, und bildet so den
Hafen, dem die Stadt Entstehung und Namen verdankt, (Kjöbcnhaven, Kaufhafen).
Ueberdies schneiden mehrere in den Sund mündende Kanäle »n die Stadt ein, und
ihr Gewimmel von Masten und die rege Geschäftigkeit in der Umgegend contrastirt
lebhaft mit der Stille der daran stoßenden Plätze und Straßen. In vieler Be¬
ziehung ist Kopenhagen ungemein zurück. Es hat weder Gasbeleuchtung, noch
Trottoir, nur schmale Steinränder an den Seitenwegen; in den ersten Condito-
reien sieht man statt der in anderen Residenzen üblichen Wandspiegel, Tapeten,
Marmortische u. s. w. nur altmodische Möbel in sandbestreuten Zimmern, auf
deren Wände große Landschaften gemalt sind, und keine Sophas. Dagegen hat
die Stadt vor anderen auch einen bedeutenden Vorzug: man merkt bald, daß sie
an keiner der großen Straßen liegt, über die sich jährlich ein Strom von Tou¬
risten aller Nationen hinwälzt, besonders an den bescheidenen Preisen der Hotels und
der Zuvorkommenheit gegen Fremde. Man ist ziemlich sicher, wenn man einen
Wohlgekleidetcn Deutsch anredet, verstanden zu werde-n, die Dänen sprechen das
Deutsche nicht richtig, aber oft fließend. Bisher war die Kenntniß der Sprache
im Kanfmannsstande verbreiteter, als in den gelehrten Ständen, aber nun ist auch
auf den Gymnasien der Unterricht im Deutschen eingeführt, und zwar
gerade seit 1868 durch Madvig. So wird man überall mit großer Höflich¬
keit zurechtgewiesen; besonders können die dänischen Officiere ihren Kameraden
in einigen deutschen Ländern als Vorbilder empfohlen werden.
Die Lage Kopenhagens ist gerade keine malerische, aber in seiner unmittel¬
baren Nähe beginnen die berühmten Buchenwälder Seelands, die sich nördlich die Küste
entlang ziehen, in ^ Stunden mit dem Dampfboot, in I V2 mit den Omnibus
erreicht man den Thiergarten. Das Seeländische Klima ist milder als in östlicheren
Gegenden gleicher und selbst tieferer Breiten; die Seidenzucht z. B., die in
Ostpreußen ohne Erfolg unternommen wurde, gedeiht gut, wie die Proben auf
der übrigens armseligen Industrieausstellung zeigten, und die Buche prangt in
wunderbarer Pracht. Auch wer die Wälder der pommerschen Ostseeküste keimt,
hat von diesem kolossalen Wuchs der Stämme, dieser wuchernden Ueppigkeit des
Laubes, dieser unendlichen Mannichfaltigkeit der Formen keine Vorstellung. Zur
Schönheit der Buchenwälder trägt die Eigenschaft der Buche, kein Unterholz zu
dulden, wesentlich bei. So stehen denn stellenweise auf dem ebenen Grasteppich
die runden, glatten, weißlich-grauen Stämme bis zu bedeutender Höhe astloS
und tragen, gleich Säulen, ein undurchdringliches grünes Dach, öfter jedoch
strecken sie beinahe schon von der Wurzel ab ihre lanbüberwucherten Aeste nach
allen Seiten, manchmal wölben sich auch über mehreren aus eiuer Wurzel wach¬
senden Stämmen ungeheure weitschallende Kronen. Außer Buchen sieht man fast
nur Lärchen und Eichen in diesen Wäldern, in denen sich Hochwild oft in großen
Rudeln' zeigt.
Helsingör erreicht man mit den täglich gehenden Dampfbooten Hamlet und
Ophelia nach einer Fahrt von 3 Stunden zwischen dem grünen Seeland und den
braunen nackten Küsten von Schweden. Die ungemeine Ausdehnung, in der man
beide Länder von dem Thurme der Festung Kronborg übersieht, und die zahllosen
Segel mit den Flaggen aller Nationen, die über den hier nur eine halbe Stunde
breiten Sund zerstreut sind, machen diesen Anblick zu einem der interessantesten
in Europa.
An sogenannten Sehenswürdigkeiten ist Kopenhagen nicht gerade reich. Die
Gemäldegalerie enthält außer einigen niederländischen Meistern nur Bilder zweiten
und dritten Ranges, und die dort hängenden Bilder von dänischen Malern der
Gegenwart, so wie die, welche ich auf einer in Charlottenburg stattfindenden
Kunstausstellung sah, verrathen einen sehr untergeordneten Stand der Malerei.
Thorvaldsens Museum und die Frauenkirche verdienen eine besondere Besprechung.
Die berühmte ethnographische Sammlung habe ich nicht sehen, können. Ganz
besonders interessant ist das Museum der nordischen Alterthümer, in seiner jetzigen
Gestalt im Wesentlichen eine Schöpfung des Directors Etatsrath Thomsen. Den
unermüdlichen Bestrebungen dieses um die nordischen Alterthnmsstudien hochver¬
dienten Mannes ist es zuzuschreiben, daß das Interesse für diese Gegenstände sich
in Dänemark verbreitet und gesteigert hat, daß aus allen Theilen des Landes
Funde von Alterthümern und Resultate von Ausgrabungen dem Museum ein¬
gesendet werden, so daß man den jährlichen Zuwachs'desselben vor einigen Jahren
auf 4 — 600 Nummern schätzte, und die Gesammtzahl 4-1000 betrug: ein Umfang,
in dem dieses Museum die in den anderen scandinavischen Reichen gegründeten weit
übertrifft; währeud in den Museen Deutschlands erst winzige Anfänge solcher
Sammlungen vorhanden sind. Die musterhafte chronologische Anordnung ge¬
währt einen höchst belehrenden Ueberblick über die Fortschritte der Civilisation in
den nordischen Ländern. Mit Benutzung des „Leitfadens zur Nordischen Alter¬
thumskunde" (herausgegeben von der königlichen Gesellschaft für Nordische Alter¬
thumskunde, Kopenhagen 1837), dessen zweiter Theil von Thomsen verfaßt ist, will
ich versuchen, den Hauptinhalt der für die heidnische Zeit bestimmten Zimmer kurz
anzugeben.
Das erste Zimmer enthält ausschließlich Gegenstände aus dem fernsten Zeit¬
alter; dem sogenannten Steinzeitalter, als Waffen und Geräthschaften aus
Stein, Holz, Knochen und tgi. waren, und man Metalle entweder sehr wenig
oder gar nicht kannte. Die Sachen sind meist aus dem in Dänemark am häufigsten
vorkommenden Feuerstein. Die Kleider scheinen aus Thierhäuten gewesen zu sein.
Dem Ende dieser Periode gehören die steinernen Grabkammern an, in denen
man neben den unverbrauutcn Leiche» Gegeustände des täglichen Gebrauchs meist
aus Stein, hin und wieder schon aus Metall (aber uur Bronze oder Gold)
gefunden hat. Man sieht hier Schleifsteine, auf denen mit Sand und Wasser
geschliffen worden ist, Aexte bestimmt in Hvlzschäfte eingeklemmt zu werden, dann
solche, die ein Schaftlvch haben, Schleudersteine, Lanzen- und Pfeilspitzen, durch¬
weg dreikantig zugehauen und oft sorgfältig ausgezackt, nebst unzähligen Stücken,
die bei mißlungenen Versuchen abgesplittert sind. Eine unbehilfliche Bernsteinkette
besteht aus mehr oder minder runden Stücken, von denen jedes, um aufgereiht
zu werden, mit einer dreikantigen Spitze von zwei Seiten gebohrt worden ist,
bis .die beiden Bohrlöcher sich in der Mitte vereinigten. An einzelnen Stellen
hat man Reste ungeheurer Mahlzeiten gefunden, ganze Fuder Austerschalen und
Knochen (mit durchgängig ausgesogenen Mark) von vielen Thieren, die in
Dänemark nicht mehr vorkommen, als Ellen, Ur, Biber, Wildschwein, dagegen
nicht von Schafen. Als Anhangsabtheilnng sieht man in diesem Zimmer Stein¬
sachen von Inseln der Südsee und von den Wilden Nordamerikas, die völlig
mit den Alterthümern der nordischen Steinperiode übereinstimmen.
Hierauf folgt das Bronzezeitalter, -in welchem Waffen und schneidende
Gerätschaften aus Kupfer oder Bronze waren, und man wol mit Gold, aber
gar nicht, oder nur sehr wenig mit Eisen und Silber bekannt gewesen ist. Der
spätere Theil des Zeitalters stimmt in sehr vielen Beziehungen mit dem Home¬
rischen überein, zunächst in Anwendung der Metalle. Im Homer sind Waffen,
Gerätschaften, Gefäße gewöhnlich aus Kupfer; kostbare aus Gold, Silber und
Eisen, werden verhältnißmäßig wenig erwähut, Formen für Goldarbeiter und
Kupferschmiede kommen vor, für Eisen- und Silberarbeiter nicht. Außerdem haben
beide Perioden die Unbekanntschaft mit der Buchstabenschrift und geprägten Golde,
und die Sitte gemein, die Todten zu verbrennen und die Asche in Urnen bei¬
zusetzen. Der Unterschied zwischen dem griechischen und nordischen Bronzezeit¬
alter ist aber der, daß dieses um mehrere Jahrhunderte tiefer hinabreicht als
jenes. Die Ursache, warum man erst spät mit dem Eisen bekannt wurde, ist nach
Thomsen die, daß das rohe Kupfer in einem Zustande gefunden wird, in
welchem es als Metall viel leichter kenntlich ist, als das Eisen, das, ehe es zur
Verarbeitung gebraucht werden kann, erst eine Schmelzung durch eine starke
Hitze erleiden muß, ein Verfahren, welches offenbar in der ältesten Zeit unbekannt
gewesen ist. Die Gegenstände aus dieser Periode enthält das zweite und dritte
Zimmer. Neben Schwertern und Dolchen aus Bronze, die kurze Handhaben
und anfangs keine Parirstangeu haben, sieht man Helme, Schilde und Platten
von Harnischen. Sehr merkwürdig sind die Kriegstrompeten oder Luren, die
bis jetzt nur in Torfmooren Dänemarks gefunden wurden, es sind doppelt ge¬
wundene, wol über drei Fuß lange kupferne Röhren; um die Schallöffuung ist
eine runde Scheibe angebracht, die eine mit Buckeln besetzte Vorderseite hat,
am Mundstück hängen Brouzezierrathen. Unter den Schmucksachen zeichnen sich
breite Armringe aus, mit einer Oeffnung in der Mitte, durch welche sie sich etwas
erweitern ließen, die man oft noch um Armröhren sitzend gefunden hat, und un¬
geheure Halsringe von massivem Golde, von denen einer drei Pfund schwer ist.
In anderen großen, gleichfalls oft massiv goldenen Ringen, die in gegen einander
gekehrte Ausbauchungen endigen, und deshalb schwerlich um das Handgelenk haben
getragen werden können, glaubt man die heiligen Ringe zu erkennen, die bei der
Eidesableguug gebraucht wurden. Häufig sieht man auch Spiralriuge von be¬
trächtlicher Länge, deren man sich vor der Einführung des geprägten Geldes
(im Norden ungefähr um 1000 nach Chr.) im Handel bediente, indem man
Stücke davon abhieb, die das verlangte Gewicht hatten, das sogenannte Ringgold
und Ningsilber. Gegenstände, von denen einzelne Theile von Eisen oder Silber
.sind, z. B. kupferne Aexte oder Dolche mit eiserner Schneide, gehören einer
Uebergangsperiode an, in der Eisen kostbarer war als Kupfer, die jedoch nach der
Seltenheit dieser Alterthümer zu schließen nicht lang gewesen sein kann. Der
Grund ihrer kurzen Dauer wird darin gefunden, daß, wenn man erst auf das
Eisenerz und dessen Anwendung aufmerksam geworden war, dies das Kupfer um
so schneller verdrängen mußte, als es in den Bergen Norwegens und Schwedens
so häufig ist.
In der dritten Periode, dem Eisenzeitalter, hat man die Todten bald
verbrannt, bald unverbrannt begraben, oft auf Stühlen sitzend, zuweilen anch dem
Verstorbenen sein Pferd mit in's Grab gegeben; daher man in den Grabhügeln
vollständige Pferdegeschirre mit Gebissen, Steigebügeln und Sporen findet. In
diesem Zeitraum, der bis zur Einführung des Christenthums (um 1000 nach Chr.)
hinabgeht, hat man Silber gehabt, auch Gefäße von Glas. Römische Münzen
sind in Monumenten dieser Periode gefunden worden, besonders ans der Zeit
von den Antonium bis Severus, in der die stärkste Verbindung zwischen Italien
und dem Norden stattgefunden zu haben scheint; auch in Preußen und Polen
sind die meisten der gefundenen römischen Münzen aus dieser Zeit. Die
Runenschrift war verbreitet, die erste hat man auf einer Axt der Uebergangsperiode
gefunden.
Hierauf folgen gleichfalls chronologisch geordnet die christlichen- Alterthümer,
die von geringerm Interesse und wol in anderen Sammlungen vollständiger
anzutreffen sind.
Die Seele des altnordischen Museums ist Etatsrath Thomsen, ein stattlicher
alter Herr von hohem Wuchs mit weißem Kopfe, den ich bei wiederholtem Be¬
suche von unermüdlicher Gefälligkeit, und stets bereit fand, nicht nur jede zum
hundertsten Male an ihn gerichtete Frage freundlich und ausführlich zu beantworten,
sondern der auch jedesmal für sämmtliche Anwesende den Führer durch die ganze
Sammlung machte, Schränke ausschloß, alles Gewünschte herausnahm, und wenn
die Gesellschaft aus verschiedenen Nationen zusammengesetzt war, nicht müde
wurde, dieselben Erklärungen Dänisch, Deutsch und Englisch zu wiederholen. Die
dänischen Besucher gehörten großenteils dem Mittelstande und den niederen
Ständen an; es waren Bürgerftauen, Landleute, Soldaten, Mädchen aus Amager,
die an ihrem holländischen Kopfputz zu erkennen sind: kurz ein Publicum, wie
man es in deutschen Museen mir ausnahmsweise steht. Aber freilich wurde ihnen
hier auch anders begegnet. Kein majestätisch aussehender Livreebedienter beobachtete
sie mit mißtrauischen Blicken, ob sie wol etwas Verbotenes berühren würden.
Der Director in eigener Person richtete seine Belehrungen an Alle ohne Aus¬
nahme, hatte stets ein Lob und eine Aufmunterung für Jeden bereit, der ihm
einen Fund vorzeigte, und mitunter auch einen Scherz, der seine Wirkung nicht
verfehlte.- Die letzten Schränke enthalten weiblichen Schmuck, wie er noch heute
in Island, Schweden und Norwegen getragen wird (wovon bei der großen Sta¬
bilität dieser Länder noch katholische Ornamente, namentlich Maria als Himmels¬
königin vorkommen), besonders Alles, was zu einem vollständigen Brautschmuck
gehört. Eine kleine Anschauung von der alterthümlichen Pracht eines solchen
Brautschmnckes giebt das Blatt in Tiedemann's Scenen aus dem norwegischen
Bauernleben, das die Trauung darstellt; überhaupt verdienen diese Kompositionen
mehr Verbreitung, als sie bis jetzt gefunden haben. Ein solcher Brautschmuck
gehört einer ganzen Gemeinde, oder einer reichen Familie, oder dem Pfarrhause,
vererbt sich vou Generation auf Generation, und wird der Branten ihrem Ehren¬
tage nnr geliehen. Mit vieler Mühe hat die Direction des Museums Exemplare
aufgetrieben, die noch bis auf den heutigen Tag in Gebrauch gewesen waren und
das respectable Alter von 200—300 Jahren hatten. Das Hauptstück ist die
Brautkrone, eine von vergoldetem Silber mehr oder minder künstlich gearbeitete
Zackenkrone; beim ersten Anblick glaubte ich hier Zeichen der königlichen Würde
zu sehen, die ans dem Haupte irgend eines Curt oder Erich gelastet hätten. Der
Director erklärte einem alten Engländer die Bestimmung der einzelnen Theile,
Gürtel, Armbänder n. s. w. und fügte hinzu: Ius dest, de> sko^v tru8 nere
a twe dricliz, KM Kaps der not. Er unterließ nicht, diese Bemerkung auf
Dänisch zu wiederholen, und der Jubel, den sie unter den anwesenden Mädchen
hervorbrachte, war ungemein groß.
— „Die Diligence von Civita Vecchia ist
heute Nacht wieder einmal ausgeplündert worden." — Diese tröstliche Nachricht empfing
mich, als ich im letzten August in den Posthof zu Rom trat, um über Orvieto nach
Florenz abzureisen. , Unter den Freunden, die mich begleiteten, hatten zwei erst vorige
Woche auf meiner Straße herziehend, das gleiche Schicksal gehabt, die Aussichten waren
demnach lockend genug, und wäre ich im Besitz einer Frau gewesen, so hätte ich mich
ohne Zweifel noch geschwind in eine Lebens- oder Güterversicherung eingekauft, wenn
dergleichen Institutionen in der ewigen Stadt existirten. Statt dessen geben einem die
päpstlichen Posten den Trost, daß sie das Gepäck oder die Geldsendungen voll¬
ständig gegen Regen und Hngelschlag sichern, nur gerade gegen Räuberei nicht. Es
wäre dies auch unzweckmäßig, da in diesem besten aller Staaten die Herren Postoffi-
cianten selber zuweilen in freundlichem EinVerständniß mit den Briganten stehen, wie sich
leider gezeigt hat.
ES ist ein häßlicher Eindruck, den mir das päbstliche Regiment zurückläßt, ich
wollte ich konnte ihn ans meinem Gedächtniß verwischen! Demoralisation, Schlendrian
und böser Wille überall, und nirgend eine Hoffnung zum Besserwerden, denn selbst jede
Reform wird durch die elenden Beamten zum Fluch. So hat'man angeblich eine
Postresorm eingeführt, das Stehlen und Betrügen der Postbeamten aber hat man nicht
reformiren können. Es ist etwas ganz Gewöhnliches, daß man für einen Brief das
Dreifache von dem bezahlen muß, was er eigentlich kosten sollte. Sie wissen schon,
daß der Fremde selten ans die Direction geht und reclamirt, thut man dies doch, so
wird allerdings ein Theil des Raubes herausgegeben, aber der betreffende Beamte bleibt
ruhig an seinem Pult,—es ist eben diesmal nicht gelungen, das ist Alles, was er dabei zu
bedauern hat. — Nicht bester steht es mit allen anderen Zweigen des öffentlichen Dienes
überall Käuflichkeit, Betrügerei, Willkür und Veruntreuung. Sicherheit des Eigenthums,
unbestechliche Rechtspflege, gerechte und gleichmäßige Besteuerung, gute und sichre Straßen,
erträgliche Schulen, das sind alles Dinge, die man da nur dem Namen nach kennt. —
Natürlich ist die Erbitterung des Volkes über diese, sich beständig verschlimmernden
Zustände groß und macht den Aufenthalt unheimlich. Aus der Unzufriedenheit und
dem beständigen Conspiriren wird gar kein Geheimniß vor einem gemacht, sobald die
Römer nur erst wissen, daß sie einen Fremden vor sich haben. Freilich ist diese Bevölke¬
rung auch sehr verdorben, in den Städten faul und liederlich, überall unwissend und
betrügerisch, aber wie sollte eine solche jahrhundertlange Mißrcgierung auch keine schäd¬
liche Rückwirkung auf den Volksgeist äußern? Es ist nur zu bewundern, daß man noch
so viel Gutmüthigkeit, Natürlichkeit und Mitleid bei diesen Leuten findet, die von der
Regierung nichts haben als Steuern, Schulden und Policeichikane. Statt Schulen läßt
der Pabst jetzt Kirchen bauen, Kirchen in Rom, wo es deren fast mehr giebt als Menschen!
Das Heer der Pfaffen vermehrt sich wie bei uns das der Soldaten, das päbstliche
Gebiet, nährt 30,00Ü fromme, wohlgenährte, fette Väter aus zwei Millionen Einwohner,
fast aller Grund und Boden gehört der todten Hand oder dem Adel, — man begreift
leicht, warum eS da schlecht geht. Unwillkürlich athmete ich auf, als wir endlich
den letzten Schlagbaum dieses fluchbeladenen Landes hinter uns hatten und ungeplündert,
wenn auch nicht unbetrogen, hinaus waren.
Die toscanische Grenze würde man übrigens schon an der plötzlichen Veränderung
des Landes erkannt haben; die Straße wird auf einmal schön, die Felder zeigen den
sorgfältigsten Anbau, die Häuser stechen reinlich und freundlich von den zerfallenen
Hütten der römischen Dörfer ab, noch mehr die fröhlichen und sichtlich wohlhabenden
und zufriedenen Bewohner, die Bettler verschwinden beinahe ganz und mit ihnen die
Psaffenschaarem die einem noch eben vorher aus Schritt und Tritt begegnet. Alle öffent¬
lichen Anstalten -zeigen von einer verhältnißmäßig guten Administration und nirgend
bemerkt man Armuth und Elend, von Räubern spricht man nicht einmal mehr. — Je
näher man dem herrlichen, ernst-heitern Florenz kommt, um so lieblichere Fülle trifft
man überall, man glaubt aus dem Fegefeuer in ein Paradies versetzt zu sein.
Bei näherer Untersuchung findet man nun freilich bald die Schattenseiten in Land,
Volk und öffentlichen Zuständen, die indeß gegen die römischen immer noch erträglich
genug bleiben.
Politische Verstimmung traf ich auch hier, die Toscaner können es ihrem Gro߬
herzog noch immer nicht verzeihen, daß er ihnen die Oestreicher in's Land rief, nach¬
dem sie doch selber der Republik ein Ende gemacht und ihn wieder hergerufen haben
wollten. Letzteres ist nun freilich erst geschehen, als sie sich schon an allen fünf Fingern
abzählen konnten, daß er auch ohne ihr Zuthun bald kommen müsse, indessen kam er
doch nicht, bis er sich durch eine hinlängliche militairische Hilfe sicher gestellt wußte vor
den Launen seines guten Volkes. Diesen fremden Schutz, so wie wohl auch die Ab¬
schaffung der Constitution, können sie ihm nun nicht verzeihen. Wo er oder ein Glied
der Familie sich sehen läßt, werden sie mit dem kältesten Schweigen empfangen; indessen
ist von dieser Stimmung, dieser Übeln Laune bei dem schlaffen und sanften Charakter
des Volkes vorläufig nichts zu fürchten, — durch diesen wird das Regieren gar sehr
erleichtert, freilich theilt er sich aber auch den Regierenden mit. Die Justiz gilt wenig¬
stens für kostspielig, schleppend und chicanös, was übrigens zu der Proceßsucht und der
Jntriguensucht des Florentiners paßt. — Bei der Freude über die toscanische Huma¬
nität muß man überhaupt die grenzenlose Depravirung der Sittlichkeit nicht in Anschlag
bringen, wenn man sie nicht beträchtlich verkümmert sehen will, eS soll z. B. viel schwerer
sein in Florenz eine Frau zu finden, die keinen Liebhaber hat, als zwanzig die deren
mit und ohne Zustimmung der ehrenwerthen Gatten besitzen; meine eigenen Beobachtungen
waren nicht geeignet mich das Gegentheil glauben zu machen.
Diese Art von Demoralisation, die alles Familienleben zerstören muß, hängt aller¬
dings in nicht geringem Grade mit dem ungeheuern Fremdenbesuch zusammen, finden
wir doch beinahe ähnliche Resultate in unsren großen Bädern und anderen von Genu߬
süchtigen viel besuchten Orten, und es dürfte sich bald die Nothwendigkeit ergeben,
Fremde von der Familie vollkommen auszuschließen.
Von Florenz ging ich über Livorno nach Genua und Turin — auch Piemont
kennen zu lernen, auf daS von den Italienern so viel Hoffnung gesetzt wird:' — Un¬
streitig bilden beide letzteren Städte einen merkwürdigen Gegensatz zu allen übrigen
italienischen Orten im ganzen Verhalten ihrer Bevölkerung. — Genua, Handelsstadt
durch und durch, gemahnt mich sehr an unser Hamburg oder Leipzig mit der rastlosen
Betriebsamkeit und dem frohen, unabhängigen, ardens- und genußlustigen Wesen seiner
Bewohner. Sie haben es noch lange nicht vergessen, daß ihre Stadt einst frei und
mächtig gewesen, der alte unruhige republikanische Geist liegt ihnen noch in allen Gliedern.
Wohlthätig weht einen aber die frische Lebenslust hier an, von dem verbissenen gedrückten
Wesen fand ich hier keine Spur, trotz dein überall vorhandenen Ueberfluß an Soldaten
wird an allen öffentlichen Orten über Tagesfragen, denen man sonst auf der Halbinsel
gar vorsichtig aus dem Wege geht, frei und ungenirt verhandelt. Hier lebt man, wäh¬
rend man dort nur vegetirt.
Noch auffallender ist dies in Turin, das doch ganz als Residenz und Militairstadt
erscheint, in einem Grade wie dies selbst in Berlin kaum der Fall ist. Die Bevölke¬
rung betrachtet aber den Krieger offenbar mit Theilnahme und Wohlwollen, von einer
Trennung zwischen Civil und Militair ist nichts zu merken, daS offene vergnügte Wesen
beider zeigt uns augenblicklich, wie hier Regierung und Volk in lebendiger Wechselwirkung
stehen und das Volk weiß oder glaubt, daß die erstere mit ihm gehe, nicht ihm gegenübersteht.
Dies stark hervortretende Bewußtsein der Betheiligung am Staat wird man sonst
nirgend in Italien finden, wo sich der Einzelne gewöhnlich abgeneigt oder, wenn's
hoch kommt, gleichgiltig gegen denselben verhält.
Die Italiener haben mir sonst leider überall den Eindruck eines altersschwachen
Volks gemacht, von der Wiedergeburt, von der sie mit so viel stolzem Dünkel sprechen,
ist es mir nirgend gelungen, deutliche Spuren zu entdecken, weder in den erschlafften
und verderbten Sitten, wo das rechte Ehrgefühl, jedweder gesunde moralische Maßstab,
gar sehr abhanden gekommen scheint; nicht in ihrer bildenden Kunst, die kaum irgendwo
von selbstständigen Lebens-Elementen zeigt, sondern sich aus die Nachahmung der neueren
Franzosen und Deutschen beschränkt, kann mehr in der Literatur, die eigentlich kaum existirt,
denn wer überhaupt liest, liest blos französische Bücher; nicht im Theater, wo selbst das
alte originelle italienische Lustspiel immer mehr den Übersetzungen französischer und bis¬
weilen deutscher Stücke weicht, und ebenso wenig in der Wissenschaft, die trotz der zahl¬
reichen Universitäten eher verfällt, obgleich die einheimischen Kritiker sich im lächerlichsten
Lobe der unbedeutendsten Producte einheimischer Geistesthätigkeiten zu überbieten suchen. —
Selbst die Musik, sonst der eigenthümlichste und schönste Besitz Italiens, bewegt sich in
sehr cmsgcfahrnen Bahnen, das Volkslied existirt kaum mehr dem Namen nach, die
unteren Klassen trällern fast blos Opernaricn, ich glaube nicht, daß vom Gardasee bis
Neapel ein Dutzend Lieder im Volke existirt, das über fünfzig Jahre alt ist.
Gänzliche Ermattung aller Productivität, durchgehende Schlaffheit, Unsittlichkeit
und betrügerischer unwahrer Charakter, aufgeblasenes, dünkelhaftes, phrasenhaftes Wesen,
höfliche, gutmüthige, abgeschliffene, humane aber perfide Umgangsformen dürften schwerlich
diejenigen Nationen charakterisiren, die sich zu regeneriren im Begriff sind. Mau wird
mir vielleicht das starke Nationalgefühl entgegenhalten, in dem die Italiener zu ihrer
Ehre zunächst uns gar sehr übertreffen, aber einerseits haben die Polen und Ungarn,
die Juden und sogar die Wild-er in Nordamerika dies Nationalgefühl auch in noch
höherem Grade, ohne daß es sie vor dem Untergange geschützt hätte, andererseits ist
der Particularismus in zweiter und der persönliche Egoismus in erster Linie doch einst¬
weilen noch stärker als jene allerdings sehr lobenswürdige Eigenschaft.
Thätigkeit, Energie, bescheidenes Selbstbewußtsein und Opferbereitwilligkcit dürsten,
wie gesagt, in Piemont am ehesten zu finden, hier also vorzugsweise frische Lebenskeime
vorhanden sein, die ich sonst so selten zu erkennen im Stande war.
Kommt man von Tnri» nach Mailand, so fällt einem der Unterschied gar unbe¬
haglich ans. Obwohl reicher, bevölkerter, besser gelegen als jenes, erscheint das letztere
den Reisenden doch lebloser, man sühlt das Gedruckte, Gelähmte sogleich. — Man
sieht den Mailändern den Depit, denn Erbitterung kann man's kaum nennen, noch
überall, ein. In ihren Gefühlen ist jedenfalls der Aerger, wenn auch unbewußt, vorherr¬
schend, daß sie gewogen worden und z°u leicht befunden. — Dergleichen gesteht man
sich selbst nicht gerne ein, wie wir aus eigener Erfahrung wissen, und zieht lieber vor
im Allgemeinen verdrießlich zu sein. So sieht denn jetzt die üppige blühende Stadt
ziemlich trübselig aus, der sonst so berühmte Corso ist leer, viele Paläste verschlossen, ihre
Besitzer schmollend in Turin. Die Abneigung gegen die östreichische Negierung ist
allerdings jetzt ganz passiv, in dieser Passivität aber entwickelt sie immerhin große
Beharrlichkeit und Konsequenz, die Dinge sehen hier noch ganz anders aus als in
Venedig. — Gesellige Verbindungen zwischen den italienischen Familien und den deut¬
schen Beamten oder Officieren existiren so gut als gar nicht, sogar in den Kaffeehäusern
ist man noch ziemlich abgesondert. Indessen hat diese-Trennung an Bitterkeit gegen
früher offenbar sehr verloren, wenn nichts Besonderes einträte, so würde sie wahrscheinlich
in einigen Jahren ziemlich aufhören. Bei jedem der zahlreichen militärischen Spektakel,
ja bei der einfachsten Musik drängt sich das Volk überall zahlreich herzu, während sich
früher nur die ungemeine Oede bemerkbar machte, welche > durch die Erscheinung von
Paraden ze. in den Straßen bewirkt wurde. Zur lärmenden Fröhlichkeit bei solchen
Gelegenheiten, wie die gutmüthigen Venetianer, werden die Lombarden freilich noch nicht
so bald kommen. — Die Negierung wird sich darum nicht kümmern, durch Gerechtigkeit
und Strenge kommt sie in ihrer Weise weiter, sie imponirt mehr. Uebrigens scheint
mir, daß sie gegen die trotzenden und conspirirenden Nobili noch ziemlich nachsichtig ver¬
fährt. Der Bürger- und Bauernstand wäre» viel leichter zu gewinnen und tanzen auch
viel mehr als jene übermüthige, durch und durch von französischer Fäulniß angefressene
Klasse, die einerseits theoretisch mit dem Republikanismus coquettirt, sich aber praktisch
vorzüglich durch ihre Baucrnschindcrei auszeichnet, gleich dem polnischen und ungarischen
Adel. -— Wie frivol und unwürdig ihr Geschmack ist, kann man am besten beur¬
theilen, wenn man sich um die geistige Nahrung bekümmert, die sie zu sich nimmt und
zu diesem Behufe die Theater besucht, die Kunst-, Buch- und Musikalicnläden. so wie
ihre eignen Sammlungen und Galerien durchmustert.
Den elenden Zustand des Theaters habe ich erwähnt, das wahllos alles Schlechte
aus der französischen Hexenküche nimmt, und so die Leute gewöhnt, nach Paris beständig
als nach einem Orakel oder Maßstab für neue sittliche und politische Idee», wie für
neue Theaterstücke, Hüte und Handschuhe, hinzublicken. Noch schlimmer aber steht es
mit dem, was ich in Kunst- .und Buchläden sah. Eine solche ausschließliche Besetzung
des Marktes durch französische schlüpfrige Bilder ist mir noch nirgend vorgekommen;
wenn ein junges Mädchen an einem Mailänder Bildcrladen eine Minute steht, so ist
das genug, um. sie zeitlebens zu verderben, und ich bewundere nur die Toleranz der
Polizei, die dergleichen duldet. Freilich erfordert die Billigkeit zu gestehen, daß die
Stadt, die darin nach Mailand am meisten leistet, unbedingt Wien selbst ist, und zwar
für dieselbe Klasse, die dort vorzugsweise für Maitressen und Pferde Sinn hat. Dieser
Cynismus geht durch alles italienische Leben, durch ihre ganze neuere Kunst; eS handelt
sich bei ihren Bildern immer vorzugsweise nur darum, die Sinne zu reizen, keineswegs
das Gemüth zu ergreifen und zu erheben. Mailand geht mit seiner nicht ganz un¬
bedeutenden Kunstproduction in diesem Sinne voran, aber selbst in Rom droht diese
Kunstentartung andere Richtungen zu verdrängen, und ein nicht geringer Theil unsrer Lands¬
leute dort ist davon angesteckt, weil das Publicum vorzugsweise solche Darstellungen
sucht und kauft. Nicht besser als mit dem Kunst- — ist es mit dem literarischen Ge¬
schmack des Mailänder Adels bestellt, auch hier herrscht französische Bildung mit welschem
Cynismus vermischt, an ernsthaftes Studium, an Streben nach Selbsterkenntniß, das
doch durch die neuesten Erfahrungen hinlänglich motivirt wäre, ist nicht zu denken.
Während man in Deutschland überall die Tendenz bemerkt, sich über die Ursachen der
erlittenen Niederlagen genaue Rechenschaft zu geben und positive Grundlagen für den
neuen Staat aufzusuchen, während dort alle Parteien ohne Ausnahme ihren Reinigungs¬
proceß mit sich vornehmen, während man gerade aus dieser Einsicht in die eigene Fehler¬
haftigkeit die Hoffnung auf ein Besserwerden schöpfen kann, ist von alle dem in Italien
nichts wahrzunehmen, im Gegentheil ist die grenzenlos hohle Dünkelhaftigkeit so groß
als je.
Ziehe ich daher die Summe meiner Erfahrungen im ganzen Lande zusammen, so
ist das Resultat freilich wenig tröstlich. Die Zustände des Kirchenstaates sind zu un¬
haltbar, in Toskana, Modena, Parma und der Lombardei sind zu viel unzufriedene
Elemente, im gesunderen und aufblühenden Piemont zu viel Rachedurst, als daß der
Brand nicht bei der ersten Gelegenheit wieder ausbrechen und schnell weiter getragen
werden sollte, ohne zu irgend glücklichen Ergebnissen sichren zu können. — Bei den
jetzigen Zuständen der Moralität und Bildung, vorzüglich der oberen Klassen, vermöchte
ich von einer neuen Bewegung nur neues Unglück sür das schöne Land zu erwarten.—
Von allmählichen Reformen, einer Verbesserung des Unterrichts, Einschränkung des
Alles aufzehrenden Psaffenwcsens, Erweiterung der communalen Selbstständigkeit und
allmählicher Erweckung wissenschaftlichen Geistes und freierer Discussion, wäre vielleicht
eher etwas zu hoffen; doch dazu ist von Seite der gleichzeitig schlaffen und willkür¬
lichen nationalen Regierungen wenig Aussicht, wenn man nicht von Wien aus mit
gutem Beispiel, mit strengem, aber wohlwollendem Eiser vorangehen will. In der
That schien dies eine Zeitlang die Absicht zu sein. Ob es sie jetzt noch ist, möchte ich
bezweifeln.
— Endlich hätten wir ihn --, fast sagte ich, den
freien deutschen Rhein, doch will es vor der Hand nur heißen: unsren lang ersehnten
und erstrebten Kaiser. Dem Lussrsxe universsl ist seine letzte Kraftanstrengung wohl¬
gelungen, und der in seinen Illuminationen progressireude Schneider konnte um einige
hundert Tausende Stimmen mehr beleuchten. Für die Erleuchtung der Volksstimme
hatten schon die Präsecte mit den Ministern gesorgt. Der erste Monarch, der den
neuen Kaiser anerkennt, ist ein Bourbone, der König von Neapel was eine der vielen merk¬
würdigen Erscheinungen mehr ist, welche die Geschichte der neuern Zeit so reichlich bietet. Also
?ör Is Zravk ac visu, psr la volonts nillionslö, und mit der freudigen Beihilfe Abd-el-
Kader's ist das Kaiserreich neu belebt aus dem Juvalidendome wieder hervorgekrochen.
Frankreich hat seinen Augustus gesunden. Wir haben die unbequeme republikanische
Hülle ganz von uns geworfen und stehen in vollem kaiserlichen Ornate vor dem er¬
staunten Europa da. Wie Frankreich das ausgenommen, können Sie aus meiner letzten
Briesschast ersehen. Die religiöse Indifferenz hat nun eine Schwester in der politischen
im Herzen der Franzosen gefunden, und diese lassen das Kaiserreich über sich ergehen,
als ob es sich um Haiti handelte und nicht um das eigene Vaterland. Eigenthümlich
und kennzeichnend sür die- Franzosen ist die plötzliche Wendung in ihrer Sprachweise,
die über Nacht wie durch ein magnetisches Napportwunder ganz allgemein geworden.
Bisher, wo noch einige Schwierigkeiten, wenn auch nur scheinbar, den hochstrebenden
Planen Napoleon's III. sich entgegenstellten, war Alles für den Kaiser, das heißt, glaubte
Alles an das Gelingen seiner Zwecke und seiner zukünftigen Absichten. Die Börse,
die Politiker, man kam allgemein überein, daß Louis Napoleon ein Sonntagskind
sei, dem Alles nach Wunsch von Statten gehen müsse. Jetzt, wo er in den Tuilerien
wohnt als proclamirtcr, lcgalisirter, bald von allen Staaten Europas anerkannter Mon¬
arch, jetzt schütteln sie altklug das Haupt, der Börse schlottern die Beine, und kein
Mensch hat Zutrauen mehr auf den Bestand der Dinge. Ist man vorwitzig oder un¬
französisch genug, zu fragen, woher diese plötzliche Veränderung in der Anschauung der
Dinge? antwortet man einem: „Das ist ganz natürlich, und jedes Kind muß es ein¬
sehen; Louis Napoleon hat erreicht, was er wollte, er hat die unmöglichsten Wünsche
seines Ehrgeizes erreicht, und nun kann es nur abwärts mit ihm gehen." Diese Ueber¬
zeugung liegt in der Luft, man athmet sie ein, ohne zu wissen, wo und wie. „Min-
tensnt es »6 pone que äkgrinZoler!" , damit ist Alles gesagt, und der gute Franzose
lächelt schelmisch wie Talleyrand, wenn er einer diplomatischen Spitzbüberei den tadel¬
losen Salonsrack umgehängt. Wenn ich Ihnen hier von Franzosen spreche, so will ich
nicht blos den Kannegießer, den politischen Spießbürger gemeint wissen, ich spiele dabei
auf dasselbe Lullrsgs universsl an, das Louis Napoleon zum Napoleon III. gemacht
hat. Selbst Thiers denkt nicht anders, und er hielt es sür der Mühe werth, eine be¬
sondere Reise nach Claremont zu machen, um der jüngern Linie der Orleans von der
Fusion abzurathen, da das Kaiserreich nicht lange dauern könne. Vielleicht läßt sich Thiers
bereits zum Ministerpräsidenten ernennen, und kommt mit einem Portefeuille in pgrtibus
iiMölium zurück. Das Revolutioniren ist den Franzosen noch lange nicht so sehr aus
dem Kopfe gegangen, als man vielleicht glauben möchte. Sie sind müde wie eine
Tänzerin, die etwas zu viel gewälzt hat, aber lassen Sie die gute Dame nur aus¬
schnaufen, und Sie sollen sehen, was aus ihrem Gelübde, nie mehr einen Tanzsaal zu
betreten, werden wird. Frankreich ist wie Rousseau, nach jedem Werke, das über die
Barrikaden geht, schwört es, das soll meine letzte Revolution sein, und ehe man noch
Zeit hat, sich von der letzten zu erholen, kommt die neue. Hiermit wollen wir aber
durchaus nicht die Eulcnspiegcltheorie von Berg an und Berg ab der Franzosen in
Schutz nehmen. Ich glaube vielmehr, daß Louis Napoleon, ein unvoraussehbares
Ereigniß abgerechnet, ganz der Mann ist, die Lection, welche Frankreich durch den
zweiten December bekommen, nach allen Seiten hin zu vervollständigen. Was
bisher geschehen, ist nur ein kleiner Anfang, und ein geistreicher Freund von
mir hat ganz Recht, wenn er sagt: „nous v'surons pss Is liborts, II est vrsi,
ensis »vus surons uns prison äkmoorstiqus svev lies fers sooi-ax." Für die Ge¬
staltung der Dinge im Innern wird es gewiß so kommen, und trotz der fortwähren¬
den Huldigungen, welche der Kaiser der Geistlichkeit (wie man sagt, der Religion) dar¬
bringt, trotz der voraussichtlichen Gründung eines neoimvericilistischcn Adels, trotz der
Mitschuld an dem agiotirenden Treiben der Bourgeoisie wird der Kaiser Alles thun, um
keinen Augenblick etwas Anderes zu sein, als der emporeur der vsnsille, wie Persigny
schon vor zwei Jahren prophetisch vorausgesagt. Ans diese Weise soll nach innen das
gegenwärtige System gefestigt werden und eine möglichst breite Grundlage erhalten. Nach
außen hin wird Louis Napoleon mit Elihu Bourrit an Friedcnsphrasen wetteisern, er
wird alle Mächte einschläfern, bis die Dragoner und Cuirassiere gehörig eingeübt sind,
bis sich ein Vorwand findet, und dann wird zum Angriffe geblasen, wie am zweiten
December auf den Boulevards. Das ist meine feste Ueberzeugung, und das glauben
auch Alle, die den Kaiser näher kennen, die mit den Hoffnungen und Träumen der
französischen Generalität vertraut siud. Wann und wie, schwebt Louis Napoleon selbst
noch nicht deutlich genug vor. Er wird sich eine Zeit lang Ruhe gönnen, er wird es
durchsetzen, daß der Papst nach Fontainebleau kommt, um ihn in Paris zu kröne»; er
wird eine Heirath schließen, aber der Stoß muß kommen, die Veranlassung dazu liegt
in der Logik der Dinge, im Charakter des Mannes, der sich jetzt Kaiser der Franzosen
heißt; sie liegt in der Beschaffenheit der französischen Denkweise. Selbst tausend kleine
Einzelnheiten, die mit den großen Ursachen bedeutungsvoll zusammenfallen, weisen auf
die Nothwendigkeit eines solchen Ausgangs hin. Man mag die Umgebung des Kaisers
vor Augen haben, oder seine Haltung gegenüber der Armee und Allem, was damit
zusammenhängt, berücksichtigen, man mag aus deu Salon hören oder auf den Markt —
Alles stimmt darin übereil,, daß die Friedensrede von Bordeaux blos eiuen Waffen¬
stillstand bedeute, aber keinen andauernden Frieden.
Mittlerweile sind wir munter und lassen uns Nichts abgehen, und wenn die Baisse
der Börse, welche der glorreichen Usussv so unerwartet schnell folgte, Paris nicht etwas
mißmuthiger gestimmt hätte, wären wir selig wie Capuaner. Das ist ein Saus und Braus,
das ist ein Luxus, das ist ein Schlemmen und Prasser! Wer sich blos an die offenbare
Genußsucht der Franzosen hielte, der würde lachen, spräche man ihm von einem Kriege,
den diese Nation machen sollte! Theater, Bälle, Lncullusmahle, Spielhäuser und Bon?
doirs des XIII. Arrondissements sind die Elemente, in denen sich der Pariser ausschließlich
bewegt. Der Politik haben sie Meu gesagt, aber die Wissenschaft hat Nichts gewon¬
nen; die Franzosen sind nicht wie die Deutschen, daß sie Schätze aufspeichern zum From¬
men künftiger freier Zeiten. Der Franzose macht heute eine Theorie, um sie morgen
in's Leben zu führen, übermorgen ist ihm eine Ewigkeit, und für diese läßt er den
Pfaffen allein sorgen. Während des ganzen Jahres, wo alle geistige Kräfte der Nation
vom politischen Terrain sich zurückgezogen, ist auch nicht ein einziges Buch von Be¬
deutung erschienen. Wenn die Franzosen keine Zeitungsartikel schreiben können, schrei¬
ben sie auch keine Bücher. Das Theater erschöpft die ganze literarische Schöpfung, und
das Feuilleton ist das Universum der schöngeistigen Literatur. Die Theater brachten in
neuerer Zeit einige interessante Erscheinungen. Die Boulevards weinen sich an einem
melodramatischen Rührstücke ihres Racine Bvuchard die Augen wund, ^esu le oooder
hat einen Erfolg, welcher selbst den für den Geschmack der Pariser den schmachvollen der
vsmö sux ogmeliss hinter sich zurücklassen dürste. Dieses Stück ist fast noch unwahr¬
scheinlicher und unsinniger, als der zweite December mit seinem kaiserlichen Corollarium,
allein es trifft die populaire Fiber mit einer Meisterschaft, die nicht genug zu bewundern ist.
Da sollen Sie sehen, wie sich Achilles-Claque verdrossen in sein Zelt zurückzieht, da sollten
Sie hören, was die Stimme der Natur und die derben Hände begeisterter Blvuscnmänner
zu Stande bringen. Jedes Wort, jede Nuance, jede Bewegung wird aufgegriffen und mit
Beifall belohnt. Wie da die Tugendhelden und Heldinnen mit Bangen und Herzklopfen
durch das Purgatorium der sieben Acte verfolgt werden! Wie da der Bösewicht mit
dem ganzen Ingrimm des weiblichen und männlichen Sittlichkcitsgefühles niedergedonnert
wird! Sie erlassen mir es, Ihnen die Geschichte zu erzählen, es genüge Ihnen zu
wissen, daß unsre Helden erschossen, ertränkt, von den schwärzesten Cabalen sest umspon¬
nen werden und doch am Ende unversehrt glücklich in die rosigen Gefilde der Freund¬
schaft und Ehe einziehen, daß Einem ordentlich das Herz wackelt vor Freude und
Zufriedenheit. Die eine Hauptheldin (wir haben »deren zwei) macht sogar zwei Ehen
durch, ohne Einbuße an ihrer Tugend und Liebe. Diese Bigamie aus Mutterliebe und
Hochsinn ist vollends ein Prachtstück der dramatischen Boulevardphantasie. Sollte ich
Ihnen den Mund wässerig, gemacht haben , so diene Ihnen zur Kunde, daß der fran¬
zösische Kutscher wahrscheinlich die Tour durch ganz Deutschland machen dürfte, und Dank
sei es den Eisenbahnen, bald und schnell genug für jegliche Ungeduld. Borchard kennt
sein Publicum, er foltert und martert es nach Belieben ein halb Dutzend Aufzüge hin¬
durch, das Publicum läßt sich von ihm Alles gefallen, denn es weiß, Borchard ist
aus der Schule von Moliörc's Magd und ist patentirt sveo görsntiö an gouvernewsitt
für glückliche Ausgänge. Friedrich Lemaitre stottert seine zahnlosen Phrasen im Tacounet
der Variötss her. Das ist ein unbedeutendes Machwerk und verdient keiner weitern
Würdigung. Wir wollen hoffen, daß George Sand's Genie die Reste von Lemaitre's
Talent wach blasen werde, und daß die oberen Boulevards ihn das alte sichere Terrain
wieder finden lassen. Im Gymnase gefällt ein Convcrsationsvaudeville „Der Sohn vom
guten Hause" ausnehmend. Der Verfasser ist Bayard, und diesmal ganz Bayard ohne
Tadel und Makel, das heißt im französischen Sinne. Ein üls as ismills wird Schulden
halber gemeiner Soldat — wo wird man nicht Schulden halber, 'nach Umständen, auch
Kaiser — verliebt sich in eine reiche Wittwe, macht ihr im Civilkleidc ganz reglements¬
widrig den Hos, schlägt sich noch reglemcntswidrigcr mit seinem Nebenbuhler, der zugleich
sein Obrist ist, er wird verwundet, ist nahe daran, erschossen zu werden, aber Dank sei
es der Großmuth seines weichherzigen Obrist, er heirathet seine Geliebte. Das nennt
er Großmuth! mochte Scribe sagen, und es ist auch möglich, daß der pfiffige Obrist
blos eine Veränderung der Strafe für den Subordinationswidrigen in der Erfüllung
seiner Wünsche gesehen. Das ist das ganze Stück — aber wie wird das gespielt,
mit welcher Vollendung im Einzelnen, mit welcher Uebereinstimmung im Ensemble
Gute Schauspieler haben die Deutschen auch, aber gute Schauspielergesellschaften nur die
Franzosen. Sogar das Odeon hat endlich einen Erfolg zuwege gebracht, post tgnta
äisorimina rerum. Henri Meunier, der Schauspieler, Schriftsteller und Zeichner, hat
im Joseph Prndhvmme die Incarnation der suffisanten, dummen, komischen und glück¬
lichen Bvurgcosie gezeichnet und einen bleibenden Charakter geschaffen. Wir wollen ein¬
mal bei Gelegenheit auf dieses Stück zurückkommen. Im IlrvlUre kranxais wird Sulli-
van gegeben — mittelmäßig; dieses Lustspiel wird erst gefallen, wenn man sich über¬
zeugt haben wird, daß Ponsard's erwartete Komödie noch schlechter ist. Die komische
Oper zehrt am Pore Gaillard von niber und verspricht eine neue Oper von Adam und
Scribe. Die große Oper zieht durch die Wiederaufführung von Rossini's Misere. Die
italienische Oper zieht gar' nicht. Nächsten Dienstag soll die Louise Müller zur Auffüh¬
rung kommen. Die Cruvclli ist das Factotum der Saison, und das sagt Alles. Con¬
certe haben wir noch keine zu überstehen gehabt — aber das wird schon losgehen.
Signori Viruxtemps sind hier und wollen sich hören lassen. Wilhelmine Clauß wird
leider nur ein Concert geben, da sie in Rußland erwartet wird. Die junge Künstlerin
dürste wahrscheinlich ihren Weg bei Ihnen durchnehmen, und da werden Sie sich über¬
zeugen, ob der Enthusiasmus für dieses außerordentliche Talent gerechtfertigt sei.
— Es sind uns über die neuliche An¬
wesenheit des französischen Componisten in Weimar mehrere Berichte zugekommen, aus
denen wenigstens so viel augenscheinlich erhellt, daß - dort die Begeisterung für seine
Werke eine ziemlich allgemeine geworden ist. Der gemäßigtste unter diesen Bericht¬
erstattern nennt Berlioz den französischen Beethoven. Zuerst hat Berlioz seine Oper
„Benvenuto Cellini" dirigirt, welche im März nicht hinreichend angesprochen hatte,
sich diesmal aber des allgemeinsten Beifalls erfreute, dann, am 20. November, hat er
in einem eigenen Concert seine Symphonie „Romeo und Aulie" und die beiden ersten
Theile zu „Faust's" Höllenfahrt vorgetragen. „Ein stürmischer Applaus," erzählt unser
Berichterstatter, „empfing den Meister, als er an das mit Guirlanden und Kränzen ge¬
schmückte Dirigcntenpult trat. Die tiefe Stille, eine seltene Aufmerksamkeit, die enthusia¬
stische Empfänglichkeit, die bei jeder Nummer in ungeheurem Applaus sich aussprach, der
einstimmige Hervorruf soll den Meister zu Thränen gerührt haben." Der weiteren Beschrei¬
bung können wir kaum mehr folgen. „So z. B. die Erzählung von der Fee Mad, eine
Darstellung voll Schwung und Leben, nicht allein für's Ohr, sondern auch für's Auge,
da Berlioz die Shakspear'sehen Figuren nicht blos erzählend vorführt wie Mendelssohn,
sondern inmitten des Handelns derselben anschaulich hineinversetzt." — Am letzten Tage seiner
Anwesenheit wurde dem Künstler von der Kapelle ein Festmahl veranstaltet, wobei ihm
von derselben ein silberner Tactirstock , überreicht wurde. Der Großherzog von Wei¬
mar verlieh ihm den Falkenorden, der Musikdirector Roer übergab ihm eine Phantasie
für Orchester über Themen aus Benvenuto Cellini, die im Theater bei einem Schau¬
spiel aufgeführt war, und ein Dichter der Zukunft, Robert Griepenkerl, verherrlichte in
einem Toast das einheitliche, von Franz Liszt angeregte Kunststrcben in Weimar, in
dessen Anerkennung wir gern mit einstimmen; denn wenn wir auch die bestimmte Rich¬
tung des Geschmackes, die hier vertreten wird, nicht theilen können, so ist es doch ein
großes, nicht hoch genug anzuschlagendes Verdienst von Seite des Dirigenten, im Pu-
blicum eine rege, anhaltende und ernste Theilnahme an der Kunst überhaupt hervorgerufen
zu haben. — Berlioz hat versprochen, im Frühling wieder zu kommen und sein Requiem
zur Aufführung zu bringen.
Unser eigenes Urtheil über Berlioz behalten wir uns vor, hier machen wir nur
aus das Urtheil eines andern Künstlers der Zukunft aufmerksam. Richard Wagner
sagt in seinem Werk „über Oper und Drama," erster Theil, p. 122, von Berlioz, er
habe allerdings Beethoven fortgeführt, aber nach einer Richtung hin, die dieser selbst
mit Recht ausgegeben hätte." Die oft flüchtig hingeworfenen kecken und grellen Feder¬
striche, in denen Beethoven seine Versuche zum Auffinden neuen Ausdrucksvermögens schnell
und ohne prüfende Wahl aufzeichnete, fielen als fast einzige Erbschaft des großen
Künstlers in des begierigen Schülers Hände---- Gewiß ist, daß Berlioz' künstlerische
Begeisterung aus dem verliebten Hinstarren auf jene sonderbar grausen Federstriche
sich erzeugte: Entsetzen und Entzücken faßten ihn beim Anblick,dieser räthselhaften
Zaubcrzeichen, in die der Meister Entzücken und Entsetzen zugleich gebannt hatte, um
durch sie das Geheimniß kund zu thun, das er nie in der Musik aussprechen konnte
und einzig doch nur in der Musik aussprechen zu können wähnte.
Künstliche Aufregung und fieberhafter Schwindel war aber nur Berlioz' Begeisterung;
erwachte er aus ihm, so gewahrte er mit der Abspannung eines durch Opium Betäubten
eine frostige Leere um sich her, die zu beleben er sich mühte, indem er die Erhitzung
seines Traumes sich künstlich zurückrief, was ihm nur durch peinlich mühsame Abrichtung
und Verwendung seines musikalischen HauSrathes gelingen wollte. In dem Streben,
die Bilder seiner grausam erhitzten Phantasie aufzuzeichnen und der ungläubigen
Welt seiner Pariser Umgebung genau und handgreiflich mitzutheilen, trieb Berlioz seine
enorme musikalische Intelligenz bis zu einem dahin ungeahnten technischen Vermögen.
Das, was er den Leuten zu sagen hatte, war so wunderlich, so ungewohnt, so gänzlich
unnatürlich, daß er dies nicht so gerade heraus mit schlichten, einfachen Worten sagen
konnte, er bedürfte dazu eines ungeheuren Apparats der complicirtesten Maschinen, um
mit Hilfe einer unendlich fein gegliederten und auf das Mcmnichfaltigste zugerichteten
Mechanik das kund zu thun, was ein einfach menschliches Organ unmöglich aussprechen
konnte, eben weil es etwas ganz Unmenschliches war---- Er hat es den Musikern
möglich gemacht, den allerunkünstlerischsten und nichtigsten Inhalt des Musikmachens
durch unerhört mannichfaltige Verwendung bloßer mechanischer Mittel zur verwunderlich¬
sten Wirkung zu bringen." —
— Die musikalische Wintersaison Leipzigs steht durch ganz En-,
ropa in gutem Rufe, die Stadt verdient aber auch dieses Renommee. Folgendes z. B.
ist in den letzten Wochen hier aufgeführt worden: Im ersten Concert des Musikvereins
Euterpe: .Ouvertüre,zu dem Wasserträger von Cherubim, Sinfonie in L-Dur von
Franz Schubert; Arie aus Fidclio von Beethoven und Lieder von Riccius, Franz und
Rictz, gesungen von Fräulein Buel; Fantasie für Pinnofortc, Chor und Orchester von
Beethoven, die Pianvsortestimme gespielt von Fräulein Marie Wieck aus Dresden, und
zuletzt Fantasie von Leop. de Meyer sür Pianoforte, dnrch dieselbe Künstlerin. — Im
zweiten Concerte dieses Vereins: Die Ouvertüre zur schönen Melusine von Mendelssohn-
Bartholdy, Sinfonie Pastorale von Beethoven; Bacchus-Chor aus Antigone von Men¬
delssohn und Männerchöre von Dürrner, Petschke und Gabe, gesungen von dem
Pauliner-Sängervcrciu; Concert sür die Violine in ^,-moII von Moliquc und La Na-
politana, Fantasie von Franz Schubert, gespielt von dem König!. Kammermusikus
Heinrich Riccius aus Dresden. — Musikdirector des Vereins ist. wie in früheren
Jahren, A. F. Riccius.
Das sechste Gewandhaus-Concert brachte die Ouvertüre zur Iphigenie in Antis
von Gluck und die Linlonig ervioa von Beethoven; die in Lodoiska eingelegte Arie
' sür Sopran von C. M. von Weber und die Siciliana von Pergolese, gesungen von
Frl. Bury; Adagio für die Violine von Spohr, und Concert (Ur. i) von A. Pott,
gespielt von dem Großhcrz. Oldenburgscher Kapellmeister A. Pott. — Im siebenten
Gewandhaus-Concerte: Eine neue Sinfonie von Ferd. Kufferath, Ouvertüre zur FingalS-
höhle von Mendelssohn und Ouvertüre zum Freischütz; Scene und Arie mit obligater
Violine von Mozart, vorgetragen vom Concertmeister F. David und Frl. Bury, dann
von derselben Lieder von Fr. Schubert und Mendelssohn; Concert, für Pianoforte in
Omoll von Beethoven, und Variationen über ein Thema aus „Wsire ä'amorb" von
Thalberg, gespielt von Frl. Emma von Staudach aus Wien. — In der ersten musi¬
kalischen Abendunterhaltung im Gewandhause: Quintett für Clarinette und Streichquartett
von Mozart; Quintett für Streichinstrumente von Mendelssohn (L-Vur, nachgelassenes
Werk, zum ersten Male); Scptett von, Hummel, die Clavierstimme gespielt von Fr.l.
Emma von Staudach. — Diese ganze Menge von guter und ausgezeichneter Musik
ist in dem kurzen Zeitraume von noch nicht drei vollen Wochen aufgeführt worden, und
es dürfte sich vielleicht, das einzige Berlin mit seinen riesenmäßigen Kräften ausge¬
nommen, kaum eine andere Stadt in Deutschland finden, die an Musiklust mit Leipzigs
Bewohnern zu wetteifern vermöchte. Rechnet man noch hinzu das im Allgemeinen in
Opernaufführungen sehr fleißige Theater und die Menge anderer musikalischer Vereine,
vor allen die Akademie und den Pauliner-Sängerverein, wobei die vortrefflichen Untcr-
haltuugscvnccrte der Musikchöre von Riede und Pohle nicht zu übergehen sind, so stellt
sich die Summe der hier ausgeführten guten und classischen Musik als eine sehr
bedeutende dar. Und doch hört man kaum von einem leeren Concerte reden: die
Gewandhausconcerte sind übermäßig gefüllt, die Euterpe erfreut sich einer überaus leb¬
haften Theilnahme, die mittleren Stände und die weniger Kuustgcbildeten besuchen die
Extraconcerte der Centralhalle und musikalischen Soireen des Hotel de Pologne, in
welchen auch die besten und schwersten Sinfonieen sehr gut executire werden. Es trägt
ein Jeder in der Stadt nach Kräften bei, um das Fortbestehen aller dieser großen und
kleinen Anstalten zu sichern. Der Leipziger weiß sich freilich nicht wenig mit seiner
Musik, man soll ihm aber dieses Selbstgefühl gelten lassen; das Bewußtsein, daß die
Stadt durch hundertjährige eifrige Anstrengung, welche selbst die schweren Jahre des
siebenjährigen und des Befreiungskrieges nur sehr kurze Zeit zu unterdrücken vermochten,
die Blüthe errungen und den kleinen Baum zu so ehrwürdigen Stamme hat reisen
lassen, macht ihn allerdings zuweilen ein wenig übermüthig. Die Zahl der ausführenden
Musiker steht freilich weit hinter jener der größeren Hofcapcllcn zurück, und dieselben
Künstler wirken oft an den verschiedenartigsten Instituten, die darauf hingewiesen sind,
sich gegenseitig zu tragen und zu unterstützen. Darum ist es wohlgethan und weise,
in Frieden und Einigkeit das Werk der Kunst zu fördern, denn Eintracht macht stark,
Zwietracht aber ist die Wurzel alles Uebels.
Schumann's „Pilgerfahrt der Rose" wurde in Dresden aufgeführt durch die Lieder¬
tafel; die Direction hatte der Kapellmeister Krebs übernommen. —Die Dresdner Hos-
cavelle hat einen großen Verlust erlitten durch den Tod des berühmten Flötenvirtuosen
Fürsten«»; ebendaselbst .starb auch der Hosorganist Klengel, Clementi's liebster
Schüler, einer der besten Contrapunktisten unsrer Zeit und ein saubrer, seiner Clavier«
Spieler, der in Deutschland wenig bekannt, im Auslande, besonders in Rußland und
England, wo er mit seinem Lehrer längere Jahre verlebte, eines ausgezeichneten Rufes
genoß. Seine Compositionen sind im Clementi'schen Style gehalten und geziert durch
die feinste und geistreichste coutrapunktische Arbeit.
Interessante Novitäten der Musikalienhandlung von Breitkopf und Härtel sind:
Die Ouvertüre zu Manfred, von Rob. Schumann, op. (Partitur
2 Thlr.), über welche die Grenzboten in der Revue über die vorige Saison schon
berichteten, serner die Frühlingsphantasie (gsd. von Edmund Lobedanz), Concert-^
stück für vier Solostimmen, Orchester und Pianoforte von N. W. Gabe,
op. 23, Partitur 2 Thlr. Wir werden seiner Zeit genauer darüber berichten.
Die Thätigkeit des Stern'schen Gesangvereins in Berlin ist eine sehr beachtens-
werthe. Am 1. December gelangte der „Paulus" von Mendelssohn zur Aufführung;
in drei späteren Concerten werden Werke der verschiedenartigsten Meister und Gat¬
tungen zur Darstellung kommen, unter anderen ein Clavierconcert in v-moll von
Seb. Bach, gespielt von Kullack; Beethoven's Violincvnccrt, gespielt von Joachim
in Weimar, Mendelssohn's Athalia, Händel's Samson, Mendelssohn's Violinconcert,
gespielt von David aus Leipzig ze.
— Wieder entwickelt zur bevorstehenden Weinachtszeit der
Buchhandel die allermenschensreundlichstc Energie, um großen und kleinen Kindern eine
Weihnachtsfreude zu machen. Die Hände unsrer Setzer sind in den letzten Monaten
über den Setzkasten mit fieberhafter Hast hin und her geflogen, die Druckcrprcssen
rollten ohne Aufhören, die Truckerjungen rannten mit den Aushängebogen wie besessen
durch die Stadt, und die Buchbinder verschneiden jetzt ganze Ballen gepreßter Leinwand
und goldener Blättchen, um den Hunderttausenden von Exemplaren ein lockendes Gewand
zurecht zu kleben. Unter dem Stoße der Weihnachtsschriften, welcher vor uns liegt, ist
allerdings sehr viele Waare, welche, von der Kritik gewogen, zu leicht gefunden werden
würde. Aber dem Inhalte nach ist alles Mögliche -vorhanden, vom prachtvollen Album
bis zum allerbescheideusten Bilderbuch. Ernsthafte Rathgeber für gute Töchter, höchst
populaire Bearbeitungen der einzelnen Wissenschaften für gute Söhne, und possenhafte
Caricaturen für jene äußerst kleinen Kinder, welche noch gewissermaßen geschlechtslos in
dem unbestimmten Kinderhabit umhergetragen werden. Eins ist uns auch diesmal
unangenehm ausgefallen: die große Menge von witzlosen Caricaturen, welche in den
Bilderbüchern gerade für kleine Kinder Mode geworden sind. Seit der Struwelpeter
so glorreiche Erfolge errungen hat. ist eine wahre Fluth von ähnlichen Büchern gefolgt,
in denen häßliche Fratzen und einfältige Verse die Kinderwelt belustigen sollen. Schon
bei dem Struwelpeter hat manche rechtschaffene Mutter die melancholische Erfahrung ge¬
macht, daß ihre Kinder alle Unarten, welche das Büchlein so anschaulich darstellt, mit
leidenschaftlicher Vorliebe nachmachten und sich durch die finstere Moral der Geschichten
durchaus nicht schrecken ließen. Wir meinen, daß es ein Unrecht ist, häßliche und
unschöne Formen in die weichen Kinderseelen hineinzudrücken; einem Kinde, das an
Caricaturen Freude zu finden gewöhnt wird, wird dadurch leicht der Sinn für das
Schöne oder gemüthlich Anregende verkümmert. So monoton auch die sentimentalen
Figuren unsrer alten Bilderbücher oft waren, sie sind immer noch besser, als die un¬
schönen und geistlosen Albernheiten.'
Am glänzendsten ausgestattet ist von allen vor uns liegenden Weihnachtsbüchern:
Album für Deutschlands Töchter. Lieder und Romanzen. Mit Illustrationen von
Emil Götze. (Leipzig 1832, C. F. Amelang.) Es enthält einige sechzig Gedichte
unsrer beliebtesten Lyriker mit zahlreichen Illustrationen, unter denen besonders die ver¬
zierten Anfangsbuchstaben sich durch elegante und seine Arabesken auszeichnen. Die
Ausführung der Bilder, Druck, Papier und Einband sind vortrefflich, und der Preis
im Vergleich zu der glänzenden Ausstattung nicht hoch.
H. C. Andersen's sämmtliche Märchen. Mit 1ö2 Illustrationen und Orl-
ginalzcichnungen von V. Petersen. 3 Aufl. Leipzig, B. G> Teubner, " Die Mär¬
chen selbst und Andersens Talent sind bereits in diesen Blättern besprochen. Auch wenn
die Mode vergeht, welche diese Märchen zu einer Lieblingslccture der Erwachsenen ge¬
macht hat, werden sie ein anmuthiges Geschenk für Kinder bleiben; diese wird der
schalkhafte, treuherzige Ton immer fesseln, und die kleinen Sentimentalitäten und Will-
kürlichkeiten einer tändelnden Phantasie, welche den Erwachsenen hier und da stören,
werden von der heranwachsenden Jngend immer leicht in den Kauf genommen werden.
Die Ausstattung der neuen Ausgabe ist so elegant, wie sich von der Verlagshandlung
erwarten ließ. —
Volks-Märchen aus Böhmen. Von I. Milenowsky. Breslau, Urban
Kern. Enthält sieben Märchen nach böhmischen Volkstraditioncn für die Kinderwelt
bearbeitet. Die Bearbeitung ist für unsren Geschmack etwas zu gedehnt, der Heraus¬
geber bemüht sich, als wohlwollender und verständiger Mann die Handlungen seiner
Helden zu motiviren und in die Begebenheiten einen verständigen Zusammenhang zu
bringen. Das ist bei Märchenstoffcn eine schwierige Ausgabe. Indeß wird gerade diese
Art der Bearbeitung vielen Aeltern willkommen sein.
Von anderen Kinderbüchern empfehlen wir:
Hirt's Sammlung: illustrirter Familienbücher, welche „Jn's Riesen¬
gebirge," „Stillleben und Weltleben," von Rosalie Koch, „Mein Skizzenbuch für die
Jugend und deren Freunde," von Olga Eschenbach, enthält. — Das vierte Gebot,
oder die ungleichen Brüder, von G. Nie ritz. Leipzig, Im. Tr. Wöller.
Ueber dem Haufen der gewöhnlichen Wcihnachtsbücher steht eine Geschichte: Unser
alter Freund, Berlin 185A, Wilh. Hertz. Es ist eine allerliebste Familiengeschichte,
vortrefflich erzählt, sowohl für Erwachsene, als für die Jugend zu genießen/ für welche letztere
es vorzugsweise der einfachen Darstellung zufolge bestimmt scheint. Der nicht genannte
Versasser zeigt darin, wie er die einfache Handlung aus den Verhältnissen und Charak¬
teren herleitet, ein ehrenwerthes Talent. Es wird uns Freude machen, ihm in anderen
Leistungen zu begegnen, denn wir nehmen an, daß dieses Buch ein erster Kriegszug in
das verhängnißvolle Gebiet der Literatur ist. Möge ihm die Zukunft zahlreiche und
schöne Erfolge gönnen.
Fortsetzungen angefangener Werke.
Von dem Atlas zu Humboldt's Kosmos von Traugott Brömme, Stutt¬
gart, Kraus K Hoffmann, ist die vierte Lieferung versendet, welche Karten der Erd¬
wärme, des Luftdrucks, der Niederschläge und den Anfang der Gebirgssysteme enthält.
Saubere Zeichnung, sorgfältige Ausführung kann auch an diesen Karten gelobt werden.
Von der Geschichte der deutschen Literatur mit Proben, von Heinrich
Kurz, ist Lieferung 7—9, Leipzig, B. G. Teubner, 1832, versendet, welche die
epischen Poesien der Periode von 11 öl)—1350 behandeln, auf den letzten Seiten die
Prosa dieser Periode darstellen. Der Abdruck von Proben empfiehlt dieses Werk dem
größern Publicum, wir sind nicht immer mit der Charakteristik der einzelnen Dichter
einverstanden und glauben, der Verfasser hätte zuweilen mit mehr Pietät die Urtheile
und Ansichten unsrer Gelehrten adoptiren können. So ist z. B. Das, was er gegen
' die Behandlung des Nibelungenliedes durch Lachmann sagt, durchaus nicht stichhaltig.
Von dem schon früher angezeigten Werke: Die bildende Gartenkunst, von
Rudolph Siebeck (Leipzig Fr. Voigt) ist die sechste Lieferung erschienen, welche zwei
Pläne von Gärten enthält, welche dem Nutzen und Vergnügen bestimmt sind, gemischte
Anlagen von Gemüsebeeten, Obstbäumen, Weinbergen, landschaftlichen und Blumenanlagcn.
Gerade für diese Klasse von Gartenanlagen, welche in der Wirklichkeit am häufigsten
versucht werden, giebt es noch wenig Muster und anleitende Regeln. Die Pläne sind
mit der bereits gerühmten Sauberkeit gezeichnet und colorire, und wünschen wir, daß
dieselben in weitem Kreise anregend und bildend wirken mögen. Bei dieser Gelegen¬
heit erwähnen wir noch einmal das vortreffliche Werk von M. Neumann: Grund¬
sätze und Erfahrungen über die Anlegung, Erkaltung und Pflege von Glashäusern
aller Art, (Weimar, 1832, B. F. Voigt) welches durch unsren würdigen Veteranen
Fr. v. Biedenfeld übersetzt und bearbeitet und durch die Verlagshandlung sehr an¬
ständig ausgestattet worden ist. Dasselbe enthält eine Menge von Abbildungen auf
it Quarttaseln und außer ausführlichen Anleitungen für Architekten und Gärtner im
Anhange eine Abhandlung über die Kunst, Stecklinge zu vermehren und lebende Pflanzen
zu verpacken und zu iranSportiren. Allen Besitzern größerer Gärten, Architekten und
Gärtnern sei das gute Werk ein's Herz gelegt.
Die Sagen des Elsasses, von August Stöber. (Se. Gallen, Scheitlin
und Zollikofer, 1832.)— Diese ausgezeichnete Sammlung findet allgemeine Anerkennung.
Es macht auf uns Deutsche eiuen fast wehmüthigen Eindruck, daß es gerade der Elsaß,
das verlorene Land ist, in welchem ein Deutscher so fleißig gesammelt und das Ge¬
sammelte so gründlich verarbeitet hat. In der Geschichte unsrer politischen, literarischen
und künstlerischen Entwickelung hat dieses Land eine große Rolle gespielt, und viele alte
theure Erinnerungen verbinden uns mit ihm. Gottfried von Straßburg und der große
Dom gehören noch jetzt zu uns. Auch die alte Sagenwelt dieses sagenreichen Landes
ist Deutsch. Der Verfasser hat aus gedruckten und handschriftlichen Quellen und aus
dem Munde des Volkes gesammelt, er hat die Sagen nach den Ortschaften geordnet
und am Schluß des Werkes eine Sagenkarte hinzugefügt. Viel Schönes, noch nicht
Bekanntes ist darin zu finden; dem Geschichtsforscher wie dem deutschen Philologen
bringt das Buch eine reiche Ausbeute entgegen. Die erklärenden Bemerkungen des
Verfassers find nicht weniger schätzenswert!), als das gesammelte Material. Das Werk
ist unsrem Jakob Grimm gemidmct. — -
Inbegriff des Wissenswürdigsten der Geographie aller Welttheile,
von Dr. Ungewitter. (Pesth, Wien und Leipzig, 1853, C. A. Hartlebeu's VerlcigS-
Expedition.) — Ein sehr brauchbares Handbuch in der alten Form unsrer geographischen
Handbücher, welches die Länder und Staaten nach ihrer administrativen Eintheilung,
eine große Anzahl von Städten und Ortschaften mit ihrer Einwohnerzahl und anderen
statistischen Notizen enthält. Es ist mit Benutzung der neuesten Hilfsmittel zusammen¬
gestellt, in der Einleitung sind bei jedem Staate kurz seine geographischen und Cultur¬
verhältnisse, wie seine Staatseinrichtung charakterisirt. Bei der Durchsteht haben wir
uur Einzelnes vermißt, was fich in einer spätern Ausgabe wohl hinzufügen läßt. So
hätte z. V. der Verfasser bei Aufzählung der Völker, welche Enropa bewohnen (S. 9)
doch etwas genauer sein können. Unter den Slaven hat er die großen Stämme der
Ruthenen und Slovcnen nicht erwähnt, und das Mischvolk der Nnmainen hat er ganz
ausgelassen. Ein vollständiges Register am Ende macht das Nachschlagen leicht, "und
zu diesem Zweck kann das Buch als bequem und praktisch empfohlen werden. —
Das deutsche Drama der Gegenwart, von Angust Henneberger.
Greisswalde, Kopp. — Der Versasser behandelt die Werke der jetzt lebenden drama¬
tischen Dichter, also einen Gegenstand, der auch in unsrem Journal vielfältig besprochen
ist. Es freut uns, in den wesentlichen Punkten mit ihm überein zu stimmen, wenn wir
auch in manchen Punkten von ihm abweichen und Manches -wenigstens anders motiviren
würden. Etwas hat-ihm die mangelhafte Kenntniß des wirklichen Theaters geschadet.
— Wir halten es für wichtig, daß von allen Seiten her, von verschiedenen Gesichts¬
punkten ausgehend, verständige Männer sich erheben, um die Unsicherheit des Urtheils
zu bekämpfen, die nicht blos der Kunst, sondern auch dem öffentlichen Leben nachtheilig
wirkt. —
Tagebuch aus Languedoc und Provence, von Moritz Hartmann.
Erster Band. Darmstadt, Leske. — Es sind Reisebilder mW eingestreuten Berichten,
mit hübschem Auge aufgefaßt und wenigstens im Ganzen elegant dargestellt. In den
Gedichten ist viel Melodie, zum Theil auch wahre Empfindung, aber der Dichter wendet
zu wenig Kritik gegen sich selbst an. Gerade in unsrer Zeit, wo wir an einem eben so
großen Reichthum der Production, als einem Mangel an Geschmack leiden, sollten die
Dichter so streng als möglich gegen sich sein und sich nicht damit begnügen, was ihnen
gerade einfällt, in möglichst glatten Versen aufzuschreiben, sondern sich auch jedesmal
gewissenhaft fragen, ob diese Uumittclbarkeitcn auch geeignet sind, abgesehen von dem
Interesse, das sie persönlich daran nehmen, dem größer» Publicum vorgelegt zu werden,
dessen Sinn für das Schöne und Edle sie befriedigen und bilden soll. Vor allen
Dingen sollten sie sorgfältig allen Unsinn und alle Trivialität ausmerzen, was in der
individuelle» Empfindung wohl vorkommen kann, aber nicht das Recht hat, der Nach¬
welt aufbewahrt zu bleiben. Daß dem Dichter dieses nicht ganz gelungen ist, dasür
führen wir als Probe die Schlußstrophe der Widmung an seine Geliebte an:
Bist du zufrieden? — Siehe, tausend Quellen
Des Glückes fühlt' ich mir im Herzen fließen,
° O gönne mir, bis auf die letzten Wellen
Sie dir zu Füßen jubelnd auszugießen.
Bis dahin geht Alles noch ganz gut, aber mau höre weiter:
Mein Athem stockt und meine Pulse schwellen,
Die Kleider reiß' ich auf, die mich umschließen —
Ich stammte nur — wie schnell« die Ruh' zerstiebte —
Ich stammte nur: du Theuere! — Geliebte!
Das Alles kann, wie gesagt, in der individuellen Empfindung wohl vorkommen,
denn welche Betisen begeht nicht ein Liebender; aber nicht jede Betise erhält durch die
Liebe ein Bürgerrecht in der Poesie. Herr Hartmcinn hat ein hübsches Talent, er
sollte es sorgfältiger Pflege».
Am warmen Ofen. Eine Weihnachtsgabe von A. Widmann. (Berlin, Franz
Duncker, 1853.) — Die kleinen Novellen dieser Sammlung haben einen guten Ton
und charakteristische Färbung. Der Verfasser versteht die Natur zu beobachten, und
sein Darstellungstalent ist der Beachtung werth. Möge es ihm gefallen, bei späteren
Sammlungen die Einleitungen wegzulassen. Ob Lanzknechte, Jäger und ehrliche Hof¬
bediente einander diese Geschichten erzählen, interessirt das Publicum doch «ur wenig,
nicht, durch solche Prologe soll den Erzählungen ihr eigenthümliches Kolorit gegeben
werden, sondern durch Sprache und Art der Schilderungen in den Novellen selbst.
Und der Verfasser versteht das ja. Der Zusatz auf dem Titel: Eine Weihnachtsgabe
kann nicht bedeuten, daß diese Novellen sich besonders zum Geschenk für die Jugend
eigneten, sie werden aber eine angenehme Lecture für Erwachsene sein. —
.Dorfgeschichten von Berthold Auerbach. Dritter Theil. — Er enthält
die Geschichte des Diethelm von Buchcnberg, und Brosi und Mont. Das erste ist die
Geschichte eines reichen Bauern, der, durch Hoffarth in seinen 'Verhältnissen ruinirt,
zum Verbrechen getrieben wird, dem Spruch des Gesetzes verfällt und im Zuchthause
stirbt. Das zweite schildert im Gegensatz das Leben eines lustigen Ehepaars, kleiner
Leute, welche durch gute Laune und rastlose Thätigkeit sich vorwärts bringen und, in
ihrem Kreise zu Ansehen und tüchtiger Kraft kommen. In beiden Geschichten finden
sich die bekannten Vorzüge- des Dichters wieder, ein sauberes und gefeiltes Darstellen
der einzelnen Momente, viele hübsche, charakteristische Züge und ein poetisches Gemüth,
welches liebevoll auch das Gewöhnliche zu verschönern strebt. Auch die Methode der
Composition ist dieselbe gebliebe»; eine gewisse, übrigens bescheiden auftretende didaktische
Tendenz abgerechnet. —
Christus. Geistliches Gedicht in fünf Abtheilungen von or. Wilhelm Frohne.
(Köln, F. C. Eisen, 1852.), — Der Dichter spricht in einem Nachwort ganz ernsthaft
die Absicht aus, durch das Drama „die erhabenste Gattung der Poesie", das alte
Mysterium, welches sich nur im Oberammergau in Bayern erhalten habe, wieder lebendig
zu machen. Er ist im Irrthum. Die alten heiligen Spiele lassen sich nicht wieder
lebendig machen, weil die naive Stellung unsres Volkes zu den heiligen Ueberlieferungen
des alten und neuen Testaments aufgehört hat, und andererseits die Bildung unsres
Volkes auch wieder nicht von der Art ist, daß dasselbe mit poetischer Freiheit die ehr¬
würdigen Traditionen seines Glaubens behandeln könnte. Aber auch wenn dies der
Fall wäre, würde doch das vorliegende Drama sür keine Art von Darstellung brauch¬
bar sein, denn es ist eine merkwürdige Mischung von allen möglichen Seyler und Remi¬
niscenzen und von Anfang bis zu Ende untheatralisch. Der Prolog spielt im Himmel
wie beim Faust, Jehova, Sohn und heiliger Geist, der Satan u. s. w. unterhalten sich
in einer Sprache, welche, mild ausgedrückt, anspruchsvoll, aber unklar genannt werden
muß. Darauf folgt ein zweites Vorspiel in der Hölle, wo der ganze Teufelsapparat
sein Wesen treibt. Musikalische Teufel, Mephisto als Höllencavälier, Damen, „Selbst-
denker" und dergleichen treten auf, und das Alles macht doch nur den Eindruck der
Zwecklosigkeit. Darauf folgt die dramatisirte Geschichte Christi, wobei Mehreres sehlt>
was wir von einem Kunstwerk zu erwarten gewohnt sind, Charakteristik, innere Einheit
und verständige Eintheilung des Stoffes. Zuweilen kommt es einem vor, als sei das
Ganze mit einer geheimen Ironie gegen den Inhalt der alten Sagen, gegen Theater,
Aesthetik und das ganze Menschengeschlecht geschrieben.
Neuigkeiten der englischen Literatur. — Von dem berühmten Sir Ar-
chibald Nilson erscheint, als Fortsetzung seines frühern ersten Werkes! „Die Ge¬
schichte Europas seit dem Sturze Napoleon's bis zur Thronbesteigung Louis Napoleon's/'
wovon der erste Band bereits ausgegeben ist. — Von dem preußischen Gesandten in
London, Ritter Bunsen, ein wichtiger, Vierbändiger Betrag zur Kirchengeschichte:
HippolMs sua Iris ^Zo, or ins voolrino auel ?rsotioo ok tlro Llrurolr ok Komo
uncior Lommoclus frei ^.lexgncior Levorus; sua ^noient soä Uodorn LlirisliSnit^ grä
vivait,^ oomMroä.— Von Brantz Mayer, nordamerikanischen Legationssecretair in
Mexico, ein ausführliches Werk über Mexico, welches sowol die von Europäern ab-,
stammende Bevölkerung, als die alt indianische umfaßt: Mexico; ^too, Lp-nisu sunt
Republik»», -Willi a Vie^ ok tlro ^neiont ^2too Kmpiro suc! Livilisstion, a Irislorioal
«Kolon ok Mo Isis Viir oto. — Von Bayle N. John: Schilderungen aus dem
Landleben in Aegypten. — Von dem unermüdlichen halb socialistischen Pfarrer Kings-
ley (Versasser von Allen Locke u. s. w.): riigoton; or I.noso InouMs lor Looso
IlünKors (Deutsch: Aphorismen sür eine fragmentarische Bildung). — Lord John
Russell giebt die Memoiren und Korrespondenzen von Thomas Moor.e heraus; zwei
Bände sind bereits erschienen. — Von Horace S. John eine Geschichte des indischen
Archipelagus. — Thackeray giebt seine zu London gehaltenen Vorlesungen über die
englischen Humoristen heraus, von denen wir etwas sehr Bedeutendes erwarten.
— Die Thätigkeit Eduard Devrient's in Karlsruhe sängt bereits an.
ihre Früchte zu zeigen, schneller, als wahrscheinlich er selbst erwartete. Von dem Publicum
zu Karlsruhe wird bereits Erstaunen darüber ausgesprochen, daß das Spiel der Darsteller
am großherzoglichen Theater sich z. B. in den beiden Vorstellungen des Moliöre'schen „Tar-
tüffe" und des „Liebesbriefes" von Benedix, die der neue Dirigent einstudirt bat, schon
so verändert zeige, daß man das alte Personal gar nicht wieder erkenne, und doch seien
die Schauspieler dieses Theaters selbst der Mehrzahl nach keineswegs ausgebildete Ta¬
lente, ja ein Theil noch Anfänger. Es ist nicht schwer, die Ursachen dieses überraschen¬
den Fortschrittes zu verstehen, wenn man unser Theater kennt. Das Geheimniß der
Erfolge des bedeutenden Mannes liegt ohne Zweifel darin, daß er seine Schauspieler
ordentlich lernen und Probiren läßt. Die Darsteller in Deutschland wissen selbst nicht,
was sie können, und viele sterben, ohne das jemals erkannt zu haben, aufgerieben und
verdorben durch das alberne und rohe Absetzen von Neuigkeiten, das auch auf großen
Theatern leider Unsitte geworden ist. Bei der ersten Borstellung vermögen die Dar¬
steller trotz angestrengtem Fleiß sehr häufig kaum der Textworte Herr zu werden, an
ein feines Ausarbeiten der mimischen Seite ihrer Rolle ist gar nicht zu denken. Es
gehört all die jugendliche Lebendigkeit dazu, welche in unsren Schauspielern unzerstörbar
scheint, um bei solchem gemeine» Mechanismus nicht in wenig Jahren ganz unterzugehen.
Und dieses Schleudern ist, nebenbei bemerkt, auch sür die Casse der Bühnen eine sehr
schlechte Speculation, denn dasselbe Stück, welches bei den jetzt üblichen erbärmlichen
Aufführungen nach wenig Wiederholungen zu Grabe getragen wird, würde bei einer
bessern Aufführung zwei Mal so oft die Zuschauerraume füllen, und dem Theater würde
dadurch eine Menge.Arbeit und Kosten erspart werden. Ohne also in die Geheimnisse
des neuen Zauberers zu Karlsruhe eingeweiht zu sein, getrauen wir uns zu sagen, aus
welche Weise er seine Bühne verbessern wird. Er wird jüngere Kräfte/ welche noch
bildungsfähig sind, heranzuziehen suchen, er wird sie an ordentliches Lernen und Stu-
diren vor den Proben und an ein schnelles geschlossenes Zusammenspiel in den Proben
gewöhnen. Er wird seine Schule mit dem Lustspiel anfangen, um in seine Kunst-
genossenschaft wieder einfache, gesunde Natur zu bringen, dann erst wird er allmählich
und vorsichtig wieder zum Pathos aufsteigen.
Wie schnell es einem ernsten Willen und tüchtiger Bildung möglich ist, die Phy¬
siognomie eines Theaters zu verwandeln, haben wir schon einige Male in Deutschland
gesehen, selbst unter Immermann in Düsseldorf, dem doch Vieles von der Sachkenntniß
fehlte, welche der neue Director des Theaters zu Karlsruhe mitbringt.
In Paris ist die.Theatersaison in vollem Flor. Der neue Kaiser protegirt die
Oper. In der italienischen Oper regiert noch die Cruvelli, das deutsche Fräulein Gru¬
be! aus Elberfeld, sie erhält für jeden Abend IliOO Franken und singt zweimal die
Woche. Im IhvAtrs ?rcmo,i>is hat Sullivan von Mölcsville einen entschiedenen Er-
folg gehabt.
Das Gerücht, daß Baron von Gall die Intendanz des Hoftheaters zu Stuttgart
niederlegen und Feodor Löwe dieselbe übernehmen werde, erweist sich als ungegründet.
Die neue Oper von Ambroise Thomas: der Traum einer Sommernacht, ist in München
mit Erfolg gegeben worden. — „Onkel Tom's Hütte" ist bereits von einem Wiener Schrift¬
steller als Effectstück für das Theater bearbeitet worden. — Aus den Repertoire» unsrer
Theater herrschen, gegenwärtig die letzten Lustspiele von Benedix, außerdem Prinz Lieschen,
Posse von Heydnch; das Nähkäthchcn, von Apel, und von Dramen im großen Styl
die Makkabäer, von Ludwig. Die drei ersten Dichter sind Sachsen, der letzte lebt
wenigstens gegenwärtig in Dresden.
Die Grenzboten beginnen am 1. Januar 1863 den XII. Jahrgang.
Die unterzeichnete Verlagshandlung erlaubt sich zur Präimmeration einzuladen
und bittet die Bestellungen möglich schnell aufzugeben, damit in der Expedition kein
Aufenthalt eintritt. Asse MchhandsuniM und Zsostämier nehmen Reslessungen an.
Leipzig im December 1832. Fr. Lltdw. Herbig.
Die Wurzeln der heutigen ritterschaftlichen Partei in Preußen greifen bis in
die frühesten Anfänge seiner Staatsgeschichte. In starrer Widersetzlichkeit stand
der märkische Adel schon den ersten hohenzollern'schen Kurfürsten gegenüber,
welche die Grundsteine zu deur Ban der Monarchie legten; und stets hat die
Adelspartei, dlemm der Folge zu verschiedenen Epochen der Entwickelung Preußens
sich hindernd in den Weg stellte, ihren Mittelpunkt in der Mark gesunden.
Gebrochen in seiner politischen Berechtigung seit dem großen Kurfürsten,
wurde der Adel allmählich der treueste Diener der Dynastie und des Staates
in Heer und Verwaltung. Obschon er jedoch die privilegirte Kaste der Absolutie
war, obschon die Beamtenhierarchie, welche den Staat verwaltete, die militärische,
ans welcher dessen Macht beruhte, durch seine Mitglieder gebildet wurden, vermochte
das eigentliche Corps der adeligen Standschaft, der ritterschaftliche Grundbesitz,
niemals die wahre Idee des preußischen Staatsthums in sich aufzunehmen. Es
blieb in ihm ein eigensüchtiges Kasteninteresse zurück, das, sobald es sich geltend
machte, die Politik Preußens in falsche und antinationale Bahnen trieb.
Dem Berufe dieser Monarchie, aus dem kläglichen Verfall des deutschen
Reiches und der völligen Zerrissenheit aller nationalen Bande, ein neues Volks¬
bewußtsein zu erzeugen, ein Staatswesen herzustellen, dessen fortschreitende Ent¬
wickelung die Regeneration Deutschlands zu Wege bringen sollte, ist die preu¬
ßische Ritterschaft stets fremd geblieben. Sie gewann, im Verlauf einer Geschichte,
welcher der große Kurfürst schon ruhmvolle Erinnerungen verlieh, während Fried¬
rich der Große sie mit weltgeschichtlicher Glorie umgab, eine feste Anhänglichkeit
an das Königthum, sie liebte in ihm den Staat »ut das Vaterland, aber sie hatte
weder Verständniß, uoch Sympathie für dessen eigentliche historische Aufgabe.
Es ist wahrscheinlich, daß die preußischen Fürsten, bis auf Friedrich den
Zweiten, auch ohne Bewußtsein dieser Aufgabe sie gleichwol verfolgten, daß selbst
der große König sich ihrer nur sehr bedingt bewußt war. Sie handelten jedoch
mehr oder weniger im Geiste derselben, weil die Interessen ihrer Macht damit
zusammenfielen und weil sie die Energie des Willens und der That besaßen, diese
zu fördern. Die nächstliegendsten Interessen der Ritterschaft dagegen, die Erhal¬
tung ihrer Privilegien und Vorrechte, waren hiermit gerade im Widerspruch,
und für die Erkenntniß, oder auch nur Ahnung einer höhern Rolle in dem neuen
Staatsorganismus fehlte diesem Stande die Befähigung, mußte sie ihm fehlen
nach allen vorhergegangenen nud obwaltenden Verhältnissen. So lange der
frische Groll der ihm entrissenen politischen Rechte, die er früher in den einzelnen
Provinzen des Staates besessen hatte, noch lebendig in ihm war, zeigte er von
Zeit zu Zeit Bestrebungen, die dem Sraat und dem Fürstenhause feindlich waren.
Den östreichischen Machinationen im 17. und in dem ersten Drittel des 18. Jahr¬
hunderts blieben diese Stimmungen im Schooß der Ritterschaft nicht fremd. Ihre
Anhänglichkeit an die Hohenzollern wuchs indeß mit der Macht und dem Ruhme
dieser Dynastie zu sehr, um späterhin ein bewußtes Streben gegen dieselbe auf¬
kommen zu lassen. Es blieb aber immer in der grundbesitzenden Ritterschaft ein
gewisses Uebelwollen gegen die Reformpvlitik der preußischen Herrscher zurück,
das sich in kleinlichen und vereinzelten Erscheinungen äußerte. Die Antipathie
Friedrich Wilhelm's l. und Friedrich's des Großen gegen die „Junker" hatte ihren
guten Grund. .
So lange kraftvolle Fürsten die Geschicke Preußens leiteten, bewährte sich
der Adel als ein sehr brauchbares Material zum Dienste des Staates. Einmal
eingetreten in die Reihen des Beamtenthums war der Wille des Königs sein
Gesetz, und er diente ihm auch gegen die Interessen seines Standes. Als aber
nach dem Tode Friedrich's des Großen die Zügel des Regiments in schwache
Hände kamen, geriet!) die Staatümaschine in's Stocken, und dieser viel bewunderte
Mechanismus verfiel mit erschreckender Schnelligkeit. Sobald der Impuls von
oben aufhörte, trat die Natur der ihn bildenden Elemente wieder hervor. Der
Rückschlag der französischen Revolution kam dazu, und trieb in Preußen, wie
anderwärts, das Königthum aus den Bahnen einer freisinnigen und vorschreitendem
Politik. Die Bureaukratie und das Heer, aus dem Adel hervorgegangen, hatten
unter der festen Leitung willenskräftiger Fürsten den,großen Zwecken und Interessen
der preußischen Macht gedient. Dieser Leitung beraubt, gewann der engherzige
Trieb der Kaste, ans der diese Institute beruhten, die Oberhand; das officielle
Staatswesen entfernte sich mehr und mehr von dem Geiste des Volks, und dies
System, stationair im Innern, nach Außer principlos, ohne Muth und Würde,
aber habgierig und vcrgrößcrungssüchtig, stürzte zwanzig Jahre nach dem Tode
Friedrich's des Großen in der Katastrophe von Jena kläglich zusammen.
Preußen stand an der Schwelle einer neuen Epoche. Die Dynastie hatte
diesen Staat geschaffen, hatte seine zerstreuten Bestandtheile zu einem Volk ver¬
einigt, sie war fernerhin nicht mehr im Stande, das begonnene Werk allein weiter
zu führen. Das Volk mußte zu selbstständiger Betheiligung berufen werden nud
der Mechanismus des Staates und seiner gegenwärtigen Zusammensetzung dieser
Nothwendigkeit weichen. Der Adel trug die Kosten dieser umfassenden Reform.
Die entstehende Monarchie hatte ihm seine politische Standschaft genommen, die
sich regenerirende beraubte ihn des größten und besten Theils seiner Privilegien,
brachte ihm durch die Aufhebung der Leibeigenschaft schwere, materielle Ver¬
luste, sprengte die Corporation des ritterschaftlichen Grundbesitzes durch Zulassung
der Bürgerlichen, und öffnete den letzteren den Zugang zu allen Militair- und
Civilämtern. DieOpposition derNitterschaft beschränkte sich ausKlagen und vereinzelte,
erfolglose Demonstrationen, worunter die märkische uuter Marwitz die kühnste >
und bemerkcnswertheste; ihre Stimmung war indeß so gereizt, daß sie sich zu
Intrigue» gegen Stein (noch im Jahr 18-13 bei Gelegenheit seiner Ankunft in
Breslau) hinreißen ließ, die den schlimmsten Vorgängen früherer Machinationen
nach der östreichischen Seite wenig nachgaben.
Auf den Schlachtfeldern des Jahres 1813 zwar kämpfte sie mit muthvollstcr
Hingebung, nach dem Befreiungskriege warf sie jedoch wiederum alles Gewicht
und alleu Einfluß in die Wagschale der damals sich erhebenden Reaction. Sie
begriff ihre Stellung und ihr Interesse so wenig, als früher. Hatte sie durch die
Stein'sche Gesetzgebung viel verloren, so suchte sie um so mehr die noch geretteten
Vorrechte zu erhalten und durch höfische Einflüsse dem Adel wenigstens zum
Theil die Bevorzugung zu sichern, die ihm früher das Gesetz gegeben hatte. Ohne
jeden Sinn für politisches Recht, nicht einmal für ihren eigenen Stand, viel
weniger noch für die Nation, strebte sie nur uach einer möglichst begünstigten
Sonderstellung im absoluten Staat. Sie erkannte nicht, daß es weiser sei, mit
dem Volke zu gehen, und durch die Erlangung eiues gemeinsamen Rechts sich
einen angemessenen Platz in freien Staatseinrichtungen, einen legalen und von der
öffentlichen Meinung anerkannten Einfluß zu erringen, der werthvoller war, als
ein Rest veralteter Vorrechte und eine durch Hofgunst erwirkte Bevorzugung
in Staats- und Militairdieust, die sie dem öffentlichen Hasse aussetzten. Ihr
blinder Egoismus und ihre blinde Ehrfurcht vor dem Königthum gingen Hand
in Hand. Das Mißtrauen der Regierung und des Hofes gegen die Tendenzen
des in Westeuropa sich erhebenden Liberalismus, der eine oft übertriebene Beschrän¬
kung der königlichen Prärogative anstrebte, benutzte die „märkische" Partei, die
wie immer der Kern der ritterschaftlichen Verbindung war, zum Hebel ihres Er¬
folgs. Sie stürzte die freisinnigen Minister, ststirte die Vollendung der von
1808 — 15 begonnenen Reformen, kettete Preußen eng an die heilige Allianz
und an das Schlepptau der östreichischen Diplomatie — die alte Neigung der
Junker nach dieser Seite erwachte wieder —verdarb die blutig erkämpfte Stellung
in Deutschland, und brachte die Nation um die verheißene Repräsentation. Statt
dieser wurde die Schattenvertretnng der Provinzialstände gegeben, auf denen
außerdem die Ritterschaft vorwog.
Dieser Juukerpolitik gegenüber war die Bureaukratie ein liberales Element.
Sie hatte sich verjüngt durch die Zulassung des Bürgerthums, das trotz maucher
Hemmung von oben sich Bahn in ihr zu brechen wußte, und außerdem hatte sich
in ihr bereits ein Beamtenadel gebildet, in dem die junkcrhaften Traditionen er¬
loschen waren. Was wirklich aus deu Familien des Grundadels in ihre Reihen
eintrat, wußte sie bald zu absorbiren und mit sich zu verschmelze». Es ist von
jeher das Geschick des preußischen Jnnkerthums gewesen, daß seine Mitglieder,
einmal in der Carriere des Staatsdienstes, den corporativen Adelsinteresseu sich
entfremdeten. Die Bureaukratie vertrat wenigstens den aufgeklärten Absolutismus,
und in der unabhängig hierarchischen Stellung, die sie damals besaß, hat sie
wesentlich dazu beigetragen, den reagirenden Andrang der Adclspartei aufzuhalten.
Die Gesinnung des Königs, der wenig Geschmack an feudalistischen Kram hatte,
gereichte ihr darin zur Stütze. Obwol daher die Reformen zum Stillstand ka¬
men, so wurde doch um in solchen Punkten an bereits vollzogenen gerüttelt, wo
es der bureaukratischen Vielregiererei zu Gute kam. Der Antagonismus zwischen
dem Junker- und Beamtenthum bildete sich in den stillen Entwickelungen dieser
Epoche immer mehr aus. Die Ritterschaft sah in der Bureaukratie die Schöpferin
jener Gesetzgebung, die ihre Privilegien geschmälert hatte, sie sah sie unausgesetzt
diese nivellirende Richtung begünstigen, sie wurde außerdem von ihrer in Alles
sich einmischenden Verwaltungssucht belästigt. Einig waren beide nur in der Ab¬
neigung gegen jede Verfassnngsbestrebnng. Beide hielten principiell an der Ab-
solntie, beide sahen M derselben ihren Vortheil und ihre Stütze.
Als nach der Thronbesteigung des jetzigen Königs in der Nation die kon¬
stitutionellen Ideen sich lebhafter regten, fanden sie in jenen beiden Elementen
hartnäckigen Widerstand. Bis -ans einen Theil des ostpreußischen Adels (unter
dem Ritterstand dieser Provinz sind außerdem verhältnißmäßig die meisten Bür¬
gerlichen) und einigen sporadischen Erscheinungen in den übrigen Provinzen wider¬
setzte sich das Gros der Ritterschaft aus allen Provinziallaudtagen, wie auf dem
vereinigten Landtage, jeder Ausdehnung, selbst der ständischen Rechte, eben so
sehr, wie jeder Erweiterung der öffentlichen Freiheiten im Allgemeinen. So zer¬
störte sie in engherziger Verblendung selbst die Basis, auf der allein in unsrer
Tagen eine Aristokratie sich noch halten kann, die Achtung und die Sympathien
des Volkes. Dem preußischen erschien sie als Hemmschuh jeder freiern Entwicke¬
lung, als Stütze des unumschränkten Regiments, dessen Vortheile sie für sich
auszubeuten wußte.
' Der, wie es im Anfang schien, unwiederbringliche Sturz des herrschenden
Systems im Jahre traf daher die Ritterschaft mit seinen härtesten Schlä¬
gen. Der Adelshaß schwoll in der exaltirten Stimmung jener Tage zu einer
solchen Höhe an, daß nichts weniger, als die Vernichtung des Adels als Stand
ihn befriedigen konnte. Der heftigen Ueberstürzung folgte jedoch unerwartet schnell
ein noch heftigerer Rückschlag. Materielle Verluste hatte allerdings die Ritter¬
schaft erlitten, die selbst der reißende Strom der Reaction ihr nicht wiederbringen
konnte, Privilegien eingebüßt, die, zwar werthlos oder selbst schädlich, ihr den¬
noch sehr am Herzen lagen, aber ihre Organisation und deshalb ihre Macht als
Partei hob sich in einem Maße, von dem die preußische Geschichte kein Beispiel
liefert.
Seit jener großen Katastrophe befindet sich Preußen in einem, wenn man
so sagen darf, unausgesetzten Verfafsuugsproceß. Durch die überraschende Gewalt
einer Umwälzung, die bis hart vor ihrem Ausbruch Niemand ahnte, in den Con-
stitutionalismus gestürzt, ist die vereinte Arbeit der Regierung und der Junker¬
partei seither dahin gerichtet, aus- den Banden dieses verhaßten Systems wieder
hinauszukommen. So lange diese Arbeit hauptsächlich darin bestand, die Institutio¬
nen niederzureißen oder zu entkräften, welche aus dem Sturm der Märztage sich
erhoben hatten, war die Einigkeit zwischen den beiden Factoren der reactivnairen
Bewegung erträglich, seitdem man aber so weit gekommen ist, neue Schöpfungen
an ihre Stelle setzen zu sollen, gerathen die beiderseitigen Ansprüche in Zwist mit
einander.
Die Ereignisse von -I8i8 und der nachfolgenden Jahre haben die Stellung
der Ritterschaft zum Volke wie zur Krone wesentlich geändert. Der Gegensatz
ihrer Standesiuteressen zu den allgemeinen ist schroffer, als je, hervorgetreten.
Die Schädigungen, die sie erlitten, die schwereren, mit denen sie bedroht wurde,
die dadurch in sie gebrachte Thätigkeit und der eifrige Antheil, den sie als Partei
an den Verhandlungen der Kammern genommen hat, haben nach der einen Seite
hin ihren Gesichtskreis verengt, nach der andern erweitert. Sie verfolgt die eng¬
herzigsten Zwecke, sie verfolgt sie aber mit Mitteln, denen sie in ihrer langen,
unterwürfigen ^Anhänglichkeit an das Königthum sich gänzlich entfremdet hatte.
Zwar ist sie dem Constitutionalismus feindlicher als je und ungeduldig, die jetzigen
Kammern durch eine ständisch gegliederte Vertretung zu ersetzen. Während sie
aber vor dem März jeder Beschränkung der königlichen Gewalt zu Gunsten der
ständischen Rechte sich widersetzte, würde sie sich heute eiuer Zurückführung der
ständischen Rechte — sobald nämlich die Stände wiederhergestellt sind — ans
das bescheidene vormärzliche Maß widersetzen.
Ihre blinde Ehrfurcht vor dem unumschränkten Königthum ist somit wesentlich
erschüttert. Allerdings erleichtern ihr die Verhältnisse die Verfolgung dieser Prä¬
tensionen. Es handelt sich nichl darum, der Krone Rechte zu nehmen, es handelt
sich vielmehr nur darum, ihr nicht alle zurück zu geben, die sie durch die jetzt
bestehende Verfassung mit den Kammern theilt. Etwas davon, und etwas Wesent¬
liches, soll auf die Stände übergehen, deren wichtigstes Glied die Ritterschaft sein
wird. Dies ist der Plan, welchen die Führer jener Partei verfolgen, und welcher
der Masse derselben mehr oder weniger unklar vorschwebt. Denn die letztere
befindet sich zum Theil noch in den ersten Stadien dieser keimenden Entwickelung.
Der Respect vor der Krone ist noch bei Vielen im Streit mit dem Verlangen
nach einer politischen Stellung im Staate. Für sie hat noch jedes politische Recht
des Unterthans, jede Beschränkung des Fürsten eine sündhafte Verwandtschaft mit
der Revolution. In jeder Art von parlamentarischer Institution, auch in der
ständischen, sieht sie die, wenn anch noch so entfernte Gefahr einstiger Ausschrei¬
tungen. Das Staudesinteresse treibt sie vorwärts, die Tradition des Gehorsams
hält sie zurück.
Wäre nicht nach der Natur und Organisation des preußischen Staates das
Beamtenthum der Arm der Absolutie, und drohte derselbe der Ritterschaft nicht
stets mit mißliebigen Gesetzen.und Reformen, belästigte er sie nicht mit seiner
unausgesetzten Einmischung und Vielregiererei, sie würde noch heute in ihrer
großen Mehrheit ihre Interessen lieber unter den Schutz des unumschränkten Königs
stellen, als sie selbst in die Hand nehmen. In ihren Kreisen ist daher die Bewun¬
derung Rußlands Mode geworden. Rußland hat der Revolution widerstanden,
es hat ihre ritterschaftlichen Brüder in den Ostseeprovinzen im Besitz von Pri¬
vilegien geschützt, nach deren ehemaligem Besitz Viele noch heute wie nach dem
verlorenen Paradiese sehnsüchtig zurückblicken, es hält jede Regung der verhaßten
liberalen Principien unerbittlich nieder, Rußland und sein Kaiser, sind somit für
die Meisten der preußischen Junker Gegenstände eines wahrhaften Cultus. „Am
besten ist die Knute," so lautet oft bei ihnen der reactionaire Stoßseufzer, womit
das Für und Wider constitutioneller, bureankratischer oder ständischer Institutionen
erledigt wird.
Daß den gegenwärtigen Bestrebungen der Jnnkerpartei jeder ideelle Gehalt
fehlt, daß sie nur aus engherzig aufgefaßten Interessen beruhen, ist hiernach ein¬
leuchtend. Der hohe Sinn einer wahren Aristokratie, ihr Stolz, ihr Unabhängig-
keitsgesühl gehen ihr . bis jetzt uoch ganz ab. So weit sie des Idealismus über¬
haupt sähig ist, ist er in ihren realistischen Sympathien vorhanden. Diese sind
das festeste Band, was sie an den Staat knüpft, in ihnen wurzelt ihr Patriotis¬
mus für Preußen, ihr Bewußtsein einer nationalen Gemeinschaft. selbstsüchtige
Furcht und selbstsüchtige Begierde, aufgeregt durch die Erschütterungen der letzten
Jahre, sind mit jenen Sympathien in Streit getreten, und haben die Ritterschaft
so weit gebracht, nach einer höhern Berechtigung im Staate selbst der Krone
gegenüber zu streben. Ein politischer Fortschritt, aus solchen Motiven entsprungen,
muß seine bedenkliche moralische Seite haben. Die rücksichtslose und hitzige Ver¬
folgung von Parteiinteressen hat das Interesse für den Staat bei der Junkerpartei
tief herabgedrückt. Seit dem November 1848, d. h. seitdem sie thätig und organisirt
wieder aus dem politischen Schauplatz erschienen ist, ging ihr eifrigstes Bestreben
dahin, die preußische Regierung von einer Politik abzubringen, der sie ihre
Standesvortheile zum Opfer gebracht zu sehen fürchtete. Sie war unempfindlich
gegen jede Demüthigung Preußens, jede Schmälerung seines Ansehns, wenn nur
die Erreichung dieses Zweckes damit gefördert wurde. Es war unmöglich, über
die Convention von Olmütz, über die Umstände, die sie begleiteten, und die Er¬
eignisse, welche ihr'folgten, sich Täuschungen hinzugeben. Die ritterschaftliche
Partei hat dies erkannt und hat es auch gefühlt; aber der Egoismus des Stan¬
des ließ weder Urtheil noch Gefühl bei ihr aufkommen. Der Sieg der Partei
entschädigte sie für die Wunden ihres preußischen'Stolzes.
Die Junkerpartei ist um zu ihrem Unglück einer Leitung anheimgegeben,
die ganz geeignet ist, sie immer tiefer in die Irrwege hineinzuziehen, welche sie
eingeschlagen hat. Ihre hauptsächlichsten Gebrechen, - d. i. ihre Gleichgiltigkeit
gegen die politische Freiheit des Volkes, ihre Rücksichtslosigkeit gegen die Macht¬
stellung Preußens, ihre übermäßigen Standespräteusioucn, ihr Verlangen auf
Kosten der übrige» Klassen einen unbilligen Antheil von Einfluß und Vortheil
im Staate an sich zu reißen, werden von den Männern, denen sie ihr ganzes
Vertraue» geschenkt hat, gehegt und gepflegt. Die Herren v. Gerlach und Stahl
haben sich zu Aposteln eines politischen Systems gemacht, in welchem alle Vor-
urtheile und Leidenschaften der 'Junkerpartei nicht blos ihre Befriedigung, sondern,
man kann sagen, ihre Verherrlichung finden.
Diese beiden hervorragenden Führer des Junkcrthums begnügen sich nicht da¬
mit, eine Doctrin zu predigen, welche inmitten unsrer modernen Gesellschaft feu¬
dalistische Institutionen gründen will, sie bringen diese Doctrin sogar in die un¬
mittelbarste Verbindung mit de» Geboten Gottes und den Lehren der christlichen
Religion. Die .ständische Gliederung und die Rechte des ritterschaftlichen Grund¬
besitzes werden auf dieselbe Stufe mit dem „göttlichen Rechte" der Fürsten erhoben.
Die politische Demoralisirnng, zu welcher diese Lehre führen muß, ist unab¬
sehbar. Der Rechtszustand des Landes wird nur mit der rLservatio mentlüig
acceptirt, daß es gelänge, ihn den unveräußerlichen und geheiligten Ansprüchen
der Ritterschaft gemäß zurückzuschrauben. Statt daß das öffentliche Recht das
unantastbare Princip sein soll, dem die Parteien sich unterwerfen, soll der für
heilig erklärten Parteidvctrin das öffentliche Recht sich gut oder übel unterwerfen.
Nach Außen verfährt man, wie im Innern. Jede politische Richtung, die der
Partei entgegensteht, ist sündhaft, und muß, weil sündhaft, um jeden Preis ge¬
brochen werden. Für Olmütz und Bronzell war die Formel des Herrn v. Ger-
lach sogleich fertig: „Preußen muß deu Weg der Buße gehen." Bei der Ueber¬
lieferung Schleswig-Holsteins an Dänemark hieß es, die Herzogthümer haben ihr
gutes Recht verscherzt, weil sie demokratisch, gothaisch, schwarzrotgolden ?c. waren.
In dieser Auffassung sind die Herren v. Gerlach und Stahl nicht wesent¬
lich verschieden, sie weichen nur ab in der Art und Weise ihres Auftretens. Herr
Stahl respectirt wenigstens äußerlich die Principien, ans deren Negation seine
politische Lehre hinausläuft, Herr v. Gerlach trägt unverhohlen eine cynische Ver¬
achtung dagegen zur Schau. Schon aus diesem Grunde ist der Einfluß des Er¬
ster» tiefer und gefährlicher. Seine ungleich größere Bildung und Begabung,
sein seltenes Rednertalent haben ihm eine fast unbegrenzte geistige Herrschaft über
seine Partei verschafft. Die letzten Wahlen zur ersten Kammer gaben Zeugniß
davon; er wurde von uicht weniger, als sieben Bezirken zum Abgeordneten er¬
nannt. Eine solche Ovation, gerade dieser Persönlichkeit Seitens der Ritterschaft
dargebracht, hat ihre komische, aber bezeichnende Seite. Nicht in ihren eigenen
Reihen findet sie ihren Führer, nicht aus ihr heraus hat sich ihr Programm ent¬
wickelt, es ist ihr vorgetragen worden vom Katheder, gleich Collegienschülcrn, und
mit einem gläubigen, mit Ausnahme weniger dem Verständniß weit vorangeeilten
Vertrauen schaart sie sich um ihren Lehrer. Herr v. Gerlach erfreut sich so großer
Verehrung nicht; sein persönliches Auftreten hat zu viel Possenhaftes, um nicht
selbst in seiner Partei zuweilen Anstoß zu erregen, und der nackte Cynismus,
dem er sich oft überläßt, verletzt die Gewissen Vieler, deren politischer Eigennutz
sie zwar zu Selbsttäuschungen verleitet, die aber dieser Selbsttäuschungen bedürfen.
Man muß bei alledem den Herren v. Gerlach und Stahl das Zugeständniß
machen, daß sie, so weit man ans ihrer bisherigen Laufbahn schließen kann, per¬
sönliche Zwecke bei ihren politischen Bestrebungen nicht verfolgen. Es ist wirklich,
wie es scheint, nur der traurige Fanatismus dvctriuairer Eitelkeit, der sich in
diesen Männern allmählich so gesteigert hat, um ihre politische Lehre in Conflict
mit den ewigen Gesetzen des Rechtes und der Moral zu bringen. Eine ganz
entgegengesetzte Erscheinung ist der Graf v. Arnim-Bvitzeuburg, der, wenn auch
uicht in so enger Beziehung, doch in einem sehr einflußreichen Verhältniß zur
Junkcrpartei steht. Daß der edle Graf am Fanatismus der Doctrin nicht leidet,
hat er unwiderleglich in den Märztagen bewiesen, und seine Versuche, seine da¬
maligen Handlungen mit seinen früher und später documenlirten Principien in
Einklang zu bringen, sind unzulänglich geblieben. Die Junkerpartei wird auch
niemals die von ihm im März gespickte Rolle ganz vergessen oder vergeben. Bei
dem Mangel an Kapacitäten, die ans ihrem Schooß hervorgegangen sind, bleibt
ihr Herr v. Arnim-Boitzeuburg gleichwol unentbehrlich. Ohne ihr volles Vertrauen
zu genießen, war er bisher ihr parlamentarischer Führer in der zweiten Kammer
> und wird jetzt mit Herrn Stahl die Führung in der'ersten theilen. Er ist eigent¬
lich der vermittelnde Factor der Jnnkerpartei mit der Regierung, oder, richtiger
gesagt, mit der Bureaukratie. Er hat in dieser eine glänzende Carriere gemacht,
und sast niemals ist ein preußischer Junker in das Beamtenthum eingetreten, ohne
nicht vom Geiste desselben angesteckt zu werden. Das Junkerthum selbst hat zu
wenig sittlichen und intellectuellen Inhalt, es fußt zu ausschließlich ans kleinlichen
Vorurtheilen und Interessen, als daß eines seiner Mitglieder, in eine andere
Sphäre versetzt, sich des Einflusses derselben erwehren könnte. Herr v. Arnim
kann daher den ehemaligen Bureaukraten nicht verläugnen. Es kommt dazu, daß
er, ein Mann von unbestreitbar bedeutenden Fähigkeiten, politischen Ehrgeiz be¬
sitzt. Seine Parteiführung liebäugelt immer etwas mit dem Portefeuille und ver¬
meidet es, gewissen Ortes zu großen Anstoß zu geben. Bei den Conflicten, die
über die Verfassungsrevision zwischen der Regierung und der Junkerpartei in Aus¬
sicht stehn, wird er, wie kaum zu zweifeln, das Amt des Vermittlers übernehmen.
In den Herren v. Kleist-Retzow und Bismark-Schönhausen ist die politische
Intelligenz'repräsentirt, welche die Junkerpartei selbst aufzubringen vermag, und
muß man das Maß derselben ziemlich bescheiden nennen. Der Erstere ist fanatisch,
rücksichtslos, kaum weniger cynisch als Herr v. Gerlach in seiner Verachtung des
Rechtsprincips gegenüber dem Parteiprincip, aber ohne jede Zugabe von Geist
und Witz, die jenem nicht abzusprechen sind. Herr v. Bismark ist eben so ober¬
flächlich, doch nicht ganz so trivial und bei weitem nicht so langweilig. Im nebli¬
gen ist er in seiner Erscheinung, wie in Charakter und Manieren, das eigentliche
Urbild des preußischen Junkers, wie er denn auch diese Bezeichnung mit Stolz
acceptirt hat. Beide werden auch darin vermuthlich ihren Ursprung nicht ver¬
läugnen, daß sie unter dem Einflüsse der hohen Posten, mit denen sie betraut
sind, ihn allmählich vergessen. Herr v. Bismark-Schönhausen hat bereits in einem
Moment sich dem parlamentarischen Leben entzogen, wo die wichtigsten Fragen
für die zukünftige Stellung seines Standes zur Entscheidung kommen sollen. Herr
v. Kleist-Retzow fungirt allerdings noch unter dem Patronat des Herrn v. Gerlach
aus der äußersten Rechten der zweiten Kammer, und es wäre nicht ganz undenk¬
bar, daß er, vorkommenden Falles, jetzt noch den Staatsdienst der Partei zum
Opfer brächte.
Die Bestrebungen des Junkerthums und des politischen Systems, welches
die Herren v. Gerlach und Stahl darauf begründet haben, leiden an einer völligen
Verkennung der staatlichen und gesellschaftlichen Zustände. Es ist immerhin möglich,
durch die Benutzung der augenblicklich günstigen Constellation und die Geneigtheit
des Königs sür ständische Einrichtungen eine Verfassung herzustellen, welche die
corporative Gliederung wenigstens äußerlich wieder einführt und die Ritterschaft
mit prädominirenden Vorrechten ausstattet. Diese Verfassung würde aber in sich
selbst nicht die mindeste Garantie des Bestehens haben. In früheren Zeiten
hatten die Stände eine wirkliche Macht und die der Fürsten stand in keinem
Vergleich mit den jetzt einer Negierung zu Gebote stehenden Mitteln. In Preußen,
wie in den meisten anderen Continentalstaaten giebt es heute nur Eine organisirte
materielle Macht, das ist die Krone. Ist es überhaupt möglich, einer Regierung, die
über ein ungeheures Budget, ein starkes Heer und über eine zahlreiche, abhängige
Beamtenschaft verfügt, eine wirksame Beschränkung aufzulegen, so kann es nur
geschehen, indem man ihr ein Parlament gegenüberstellt, das von der moralischen
Kraft der Nation getragen wird, das endlich seinem Einfluß auch die Factoren
unterwirft, auf welche die Regierung sich stützt. Entbehren formell noch so scharf¬
sinnig festgestellte und noch so feierlich beschworeue Verfassungen dieser breiten
Grundlage, so bedeuten sie wenig; dafür giebt die Geschichte unsrer Tage nur zu
viel Beispiele.
Diese unerläßliche und erste Bedingung scheint jedoch die Junkerpartei bis
jetzt nicht zu kennen. Ihre Jmpopularität bei allen Klassen der Nation ist bei
weitem großer, als sie jemals gewesen. Alle kleinlichen Leidenschaften der mensch¬
lichen Natur und alle edleren Ideen, die im Volke leben, vereinigen sich, um Neid
und Erbitterung gegen sie zu erwecken. Ihre Macht besteht nicht etwa darin, daß
sie die Gemüther für sich und ihre Zwecke gewonnen hat, sondern nnr in der
tiefen, aber vorübergehenden Gleichgiltigkeit für öffentliche Angelegenheiten, welche
den Erschütterungen der letzten Jahre gefolgt ist. Dies und der Anhalt, den sie
bei Hofe besitzt, kann die phantastischen Projecte der Gerlach-Stahlschen Politik zur
Verwirklichung bringen. Die Täuschung dürfte aber nur zu schnell zerrinnen.
Sind die Junker erst mit Rechten, wie sie seit dem großen Kurfürsten sie nicht
mehr besessen, Meister in den gesetzgebenden Körperschaften, auf den Provinzial-
landtagen, in den Kreisversammlungen, so wird die Meinung des Landes sich
plötzlich und energisch gegen sie erheben. Ein Kampf wird beginnen, dessen Aus¬
gang nicht zweifelhaft sein kann, und der eine Reaction gegen den Adel und die
Ritterschaft herbeiführen muß, die sie schwerer treffen wird, als die Katastrophen
vo.n 1806 und 1848 es gethan haben-
Eben so wenig wird sich die Krone eine wirkliche Beschränkung Seitens des
Junkerthnms dauernd gefallen lassen. Jetzt ist die Ritterschaft noch der Bundes¬
genosse gegen die sogenannte „Revolution" und wird außerdem noch durch die
persönliche Vorliebe des Königs begünstigt. Ist das parlamentarische System
erst besiegt, so dürsten die ständischen Prätensionen bald eben so mißliebig werden.
Die Vorzeichen dafür sind jetzt schon unverkennbar. Der Nation verhaßt und
der Krone lästig, worauf wird die Ritterschaft sich dann stützen können? Fällt sie
nicht in einer staatlichen Krisis, wie nach den Tagen von Jena und der März¬
revolution, erstürbe wirklich jedes politische Leben im Volke, so wird sie nnter den
Streichen der Absolutie fallen. Ein 18. Brumaire gege» ein Junkerparlament
erfordert keinen Bonaparte.
Mißlingt der preußischen Adelspartei die von ihr jetzt angestrebte Umwand¬
lung der Verfassung, so ist es möglich, daß ihr eine Zukunft vorbehalten ist.
Sie hat bereits an den jetzt bestehenden Institutionen mehr Antheil, als ihrer
wirklichen Bedeutung im Volke gebührt. Ständen weise und weitblickende Politiker,
statt eitler und verblendeter Doctrinaire an ihrer Spitze, so würden diese die
leidenschaftliche Beschränktheit ihrer Anhänger zu mäßigen und aufzuklären suchen,
statt ihr zu schmeicheln und sie noch weiter aufzureizen.
Verstände die Adelspartei ihren wahren Vortheil, so würde sie vereint mit
den Constitutionellen sich eben so der Umänderung der ersten Kammer widersetzen,
deren jetzige Zusammensetzung ihr schon fast eine sichere Mehrheit giebt, als von
der Reactivirung der ständischen Gliederung in der zweiten Kammer abstehn, in
der sie trotz eines repräsentativen Wahlgesetzes immer angemessen vertreten bleibt.
Sie würde ferner nicht die Beibehaltung der Ständeeintheilung der Kreis- und
Provinziallandtage verlangen, die man durch einen administrativen eaux as maln
wieder in's Leben gerufen hat. Eine Modifikation dieser Körperschaften kann den.
ritterschaftlichen Interessen jede genügende Sicherung erhalten. Das richtige
Princip einer Aristokratie ist heute nicht mehr, sich von der übrigen Bevölkerung
als ein besonderer Stand abzusondern und jene dann zu bevormunden. Die Mischung
der Stände, die im Leben längst vollzogen ist, in den Institutionen verläugnen
zu wollen, ist undurchführbar. Jeder derartige Versuch wird und muß ein kläg¬
liches Ende nehmen.
Obwol nun die Adelspartei einer Aenderung der ersten Kammer zu Gunsten
des Ernennungsrechtes der Regierung widerstrebt, so beharrt sie doch auf der
ständischen Reactivirung der zweiten, aus der ständischen Gliederung aller unteren
Grade des Staatsorganismus. Sie haßt und beargwohnt zwar die Bureau¬
kratie, aber noch mehr haßt und beargwohnt sie die liberalen Ideen. Diese Stim¬
mung ist einem Compromiß nur zu sehr geneigt. Erfolgt er, so wird die Re¬
gierung eine erste Kammer erhalten aus Grund erblicher und lebenslänglicher
Ernennung, d. h. eine Mischung von Pairs und geheimen Räthen, in der die
Letzteren bald überwiegen durften, und die Ritterschaft wird sich dann auf die
ständisch gegliederte zweite Kammer zurückziehen.
Der Krone gegenüber sind die Forderungen der Junker, bei der Masse
derselben aus Respect, bei den Führern aus Berechnung, mäßig. Weit entfernt
von unabhängigem, aristokratischem Trotz empfinden sie sogar eine Art Bedürfniß
der Dienstbarkeit. Die Verfassung soll ein Bollwerk der ritterschaftlichen Rechte
und Interessen weniger gegen die Krone, als' gegen die Nation sein. Die
Junkerpartei ist daher zu jeder Reform bereit, welche die politische Action
der Regierung von der Behinderung des parlamentarischen Einflusses befreien
kann. Das parlamentarische System und die Majoritätenregierung werden auch
für ein ständisches Parlament nicht von ihr.beansprucht. Um sich den Einfluß
ans die Politik der Negierung zu sichern, den sie ertheilen sollen, bleibt ihr ja
außerdem auch das Terrain des Hofes.
Diese Politik, die im Widerspruch mit den materiellen und moralischen
Zuständen der heutigen Gesellschaft steht, die die Traditionen der Größe Preußens
verläugner und doch mit den phantastischen Plänen einer Rehabilitation unter¬
gegangener Zeiten nur die engherzigsten Zwecke eines Standes verfolgt, wird,
wenn nicht ein glücklicher Zufall ihren Fortgang aufhält und sie wider Willen in
die richtige Bahn treibt, was noch übrig ist von aristokratischen Bestandtheilen
in der Monarchie, dein Ruin entgegenführen. Dem preußischen Grundadel fehlte
von ieber die sittliche Unabhängigkeit-gegenüber der Krone, so wie Verständniß
und Interesse für die wahre Aufgabe Preußens, für die politischen Freiheiten
des Laubes, sogar so. weit sie ihn selbst betreffen. Schwerlich wird er unter der
Leitung, der er sich gegenwärtig hingegeben hat, jemals dazu gelangen. Treten
Ereignisse ein, welche deu blinden Revisionseiser aufhalten, mit dem an einer
Umwandelung der preußischen Verfassung gearbeitet wird, um eine halb büreau¬
kratische, halb ständische Institution an ihre Stelle zu setze», oder bricht zwischen
den beiden Factoren der Reaction ein so unheilbarer Zwiespalt aus, daß die
rittcrschaftliche Partei, um, was sie jetzt hat, sich zu erhalten, lieber mit den Libe¬
ralen sich für die Verfassung verbündet, ehe sie mit ihnen gemeinsam dem bureau-
kratischen System erliegt, so kaun das jetzt mit Recht der Nation mißliebige
Junkerthnm zu einer volksthümlichen Aristokratie sich heranbilden. Durchläuft
die reactivnaire Politik ihre Bahn bis zu ihrem vorgesteckten Ziele, so wird zwar
hoffentlich Preußen deshalb uoch nicht seinem Beruf und seiner großen Zukunft
für immer verloren gehn; es hat schwerere Schicksalsschläge bestanden, und wird
auch die Kraft zu eiuer abermaligen Regeneration finden. Der Tag seiner
Wiedergeburt wird aber der unwiederbringliche Fall eines Standes sein, der die
Gelegenheit, welche die Geschichte ihm darbot, nicht zu nutzen wußte, und ohne
Sinn für eine edlere politische Rolle um deu Preis eitler Prätensionen und
kleinlicher Vortheile sich zwischen die Nation und ihre höchsten moralischen Güter
stellte.
Thorvaldseu hatte seiner Vaterstadt seine sämmtlichen Werke und Kunst¬
sammlungen vermacht: um dieser Hinterlassenschaft eine würdige Stätte zubereiten,
ist das Thorvaldsen-Museum vor der Stadt Kopenhagen erbaut worden, wobei
etwa ein Drittel der Kosten durch freiwillige Beiträge gedeckt wurde. Der Bau
wurde 1839 durch den Architekten Bindesböll begonnen, die Eröffnung fand am
Kten September -I8i8 statt. Da die aufgebrachte Summe nicht ausreichte, hatte
König Friedrich der Sechste der Stadt ein Nebengebäude des Schlosses Christians¬
borg geschenkt, um es zu diesem Zweck umzugestalten, und so hat das Museum
keine günstige Lage erhalten, da eine sreie Ansicht nur auf 2 Seiten möglich ist.
Dieser einzige Vorwurf, der dem Gebäude gemacht werden kann, trifft also seinen
Erbauer nicht; allen Forderungen, sowol an architektonische Schönheit, als an
Zweckmäßigkeit entspricht es aus das Vollkommenste. Es sollte aber nicht blos Thor-
valdsen's Hinterlassenschaft, sonder» anch seine sterblichen Reste aufnehmen, und
diese Bestimmung spricht sich in dem ernsten Charakter seiner Außenseite sogleich
deutlich ans. Es ist in einem den Etrurischcu Mausoleen entlehnten Styl aus-,
geführt, bildet ein Oblong, in dessen Mitte ein ebenfalls vblvnger offener Hos
liegt, hat flache Dächer und ist zweistöckig. Die Vorderseite enthält, fünf große
Eingänge, zu denen einige Stufen führe«; auf ihrem Dache steht eine Victoria auf
einem Vorgcspann, theilweise nach einer hinterlassenen Zeichnung von Thorvaldseu
in Bronze ausgeführt. Die Hinterseite un5 beide Längenseiteu sind mit einer
fortlaufenden Darstellung von Thorvaldsen's Empfang in Kopenhagen und dem
Transport seiner Werke am 17ten September 1838 (dem Tag seiner Rückkehr nach
achtzehnjähriger Abwesenheit) bemalt. Diese ist in lebensgroßen Figuren nach
Art der Etrurischer Vasenmalereien ausgeführt, d. h. die Figuren sind mit reinen
Farben, (hauptsächlich gelb, einzelne Theile weiß, roth, violett) nur ein Wenig
schraffirt auf schwarzen Grund gesetzt, eine einfache perständige Komposition, bei
der gerade die schlichte Anspruchslosigkeit der Ausführung den Eindruck erhöht
und ihr etwas Rührendes giebt. Die Vorhalle erhält ihr Licht durch ihre fünf
oberhalb mit Glas geschlossenen Eingänge, die Corridore, die den Hof von allen
Seiten umgeben, und die Säle auf der der Vorhalle entgegengesetzten Seite,
durch Fenster, vom Hose aus. Die beiden Läugeuseitcn sind in Cabinette ab¬
getheilt (19 oben und 19 unten), deren jedes durch ein besonders in der äußern
Mauer hochangebrachtes halbrundes Fenster beleuchtet wird. Die Cabinette sind
pompejanisch decorirt, d. h. die Wände mit einem lebhaften einfarbigen Grunde
überzogen, der nur mit Arabesken und ähnlichen rein decorativer Verzierungen
bemalt ist, so daß sich sowol die weißen Sculpturen vortrefflich abheben, als auch
der Raum zu ihrer Ausnahme hinreichend geschmückt erscheint, ohne daß sein
Schmuck zu ihrem Nachtheil den Blick auf sich zöge. Das ganze untere Stockwerk
enthält ausschließlich Werke von Thorvaldsen, die zum geringern Theil in Marmor
ausgeführt, zum größern in Gyps abgegossen sind; das obere den Nest seiner
Werke, und außerdem seine Bücher-, Gemälde- und Antikensammlung.
Die meisten Besucher größerer Sammlungen suchen sich, bevor sie an die
Betrachtung des Einzelnen gehen, einen Ueberblick über die ganze Sammlung zu
verschaffen und sich über das Verhältniß ihrer Theile zu einander im Allgemeinen
zu orientiren. Ist sie irgend zweckmäßig" geordnet, so wird sie bei einer solchen
ersten flüchtigen Durchwanderung sich am vortheilhaftesten darstellen. Verwandte
Eindrücke schnell auf einander folgend, wo möglich stufenweise sich verstärkend,
unterstützen sich gegenseitig, und indem sie doch von verschiedenen Gegenständen
ausgehen, werden Gefühl und Phantasie aus das Mauuichfachste angeregt und
steigert sich die Stimmung oft in höherem Grade, als durch genaue Betrachtung
des Einzelnen. Keine Sammlung aber, selbst die wahrhaft künstlerisch geordnete
Münchens nicht, kann einen so wohlthuenden Gesammteindruck machen als Thor-
valdsen's Museum. Nicht allein, daß Architektur und Sculptur hier so harmonisch
zusammenwirken: sein unschätzbarer Vorzug ist der, daß alle Werke, die es enthält,
den Stempel eines Geistes tragen, daß also der Betrachtende in derselben Stim¬
mung erhalten wird, während sonst auch bei der besten Anordnung es oft nicht
vermieden werden kann, daß ein zu schnelles Aufeinanderfolgen verschiedener Gat¬
tungen ihn gewaltsam aus einer Stimmung in die andere reißt; es hat ferner
den Vortheil, daß wenn auch der Blick an manchem Unbedeutenden und einzelnen
Verfehlten vorüberstreist, er doch nie von etwas Unschönen abgestoßen wird: wäh¬
rend bei dem Gedanken, daß diese unübersehbare Fülle von Gestalten aus einem
schöpferischen Geiste entsprungen ist, das Interesse sich zu staunender Bewunderung
steigert. Hier bewegt sich das Volk des eroberten Asiens dem griechischen Sieger
entgegen, und in demselben Saale späht Kopernikus, Zirkel und Astrolabium in
der Hand, nach den Bahnen der Gestirne. Dort singt Homer die Kämpfe der
Helden vor dem entzückten Volke, wir gehen an spielenden Liebesgöttern, singen¬
den Grazien, scherzenden Frauen vorüber, alle Götter scheinen vom Olymp in
diese Hallen niedergestiegen zu sein: und nnn stehen wir vor der ernsten Ver¬
sammlung der predigend reisenden, Wonne verheißenden Jünger, die ihren Meister
umgeben, — oder bei der andächtigen Menge, die sich um den Prediger, in der
Wüste geschaart hat. Hier schwingt sich die lieblichste Mädchengestalt im Tanz,
und das geschürzte Gewand schmiegt sich als tausendfaches Echo ihren anmuthigen
Bewegungen nach: dort streckt sich der gewaltige Löwe kampfesmüde über den
Schild mit den drei Lilien nieder, bei dessen Vertheidigung ihn der tödtliche Pfeil
getroffen hat. Hier sinnt Byron auf eine seiner schwermuthsvollen Stanzen, um¬
gestürzte Trümmer und einen Todtenschädel zu seinen Füßen, während aus dem
Postament des Denkmals ein Liebesgott die Saiten seiner Leier stimmt: dort
steht Thorvaldsen selbst, den Meißel in der Hand, ans die alterthümliche Statue
der Hoffnung gelehnt, und heiter in die Ferne blickend. Wer von dem Anblick
der vielen Sculpturen ermüdet ist, kann in der Gemäldegalerie ausruhen: es ist
zwar viel Mittelmäßiges und Schlechtes, doch auch manches Interessante und
einiges Vorzügliche darin: z. B. die Kirche 8t. ?g,vio tuori 1e mari am Morgen
nach dem Brande von 1823 von Leopold Robert, italienische Genrebilder von
Ernst Mayer und drei Portraits von Thorvaldsen, die ich in aufsteigender Reihe
nenne, von Begas, Magnus, Vernet. Auf der andern Seite des zweiten Stockes
ist die Bibliothek, eine reiche Sammlung von kunstwissenschaftlicher Werken, außer¬
dem besonders historische und alte Klassiker, die lateinischen im Original, die
griechischen in Uebersetzungen. Die Antikensammlung ist sür eine Privatsammlung
bedeutend, und wie natürlich, mehr an Gemmen, Münzen (besonders griechischen)
und Vasen reich, als an Sculpturen. So liegt das ganze geistige Leben des
einzigen Mannes offen vor uns, und die Nation, der wir diese Anschauung ver¬
danken (mögen wir Deutsche auch sonst wenig Grund haben, sie zu lieben), hat
einen unvergänglichen Anspruch auf die Dankbarkeit der Gebildeten aller Länder.
Ich will versuchen, eine kurze Uebersicht über den wesentlichen Inhalt des
Museums zu geben. Es ist oft gesagt worden, daß Thorvaldsen in der Plastik
die Antike reproducirt habe. Dies ist sehr wahr, wenn man es nur richtig ver¬
steht. Die alte Plastik, die mit Recht die Darstellung der menschlichen Gestalt
als ihre Aufgabe betrachtete, hat durch sie die allgemein menschlichen und deshalb
ewig wahren und zu allen Zeiten verständlichen Erscheinungen des Lebens dar¬
gestellt, immer streng auf das Wesen, auf den geistigen Inhalt der Dinge gerichtet
und bemüht, diesen so rein als möglich von allem Zufälligen und Nebensächlichen
entkleidet zum Ausdruck kommen zu lassen. Dieser strenge Idealismus giebt ihren
Werken sür uns, die wir durch die neuere Kunst vielmehr realistisch gewöhnt oder
verwöhnt sind, etwas Kaltes und Fremdes; überdies fehlt es nicht an nationalen
Verschiedenheiten zwischen uns und den Griechen in Auffassung und Behandlung
der Formen und Geberden, und so bedarf es heutzutage einer mehr oder minder
großen Abstraction, um die Schönheit zu erkennen, die nach Winckelmann's un¬
vergleichlichen Ausdruck in den Werken der Alten versteckt liegt. Bedurfte doch
selbst Thorvaldsen der Unterstützung seines trefflichen Landsmanns Zoega zum
Verständniß der Antike: Zoega half ihm „den nordischen Schnee schmelzen," der
seine Augenlider noch bedeckte, als er nach Italien kam. Wenn nun der Künstler,
der die Antike nachschaffen will, sich mit dem äußerlichen Wiedergeben ihrer Formen
begnügt, sei es in der Poesie oder in den bildenden Künsten, so entstehen zwit¬
terhafte Geschöpfe ohne Lebensfähigkeit, die kein wahres Interesse erregen können.
Die Formen der antiken Kunst sind keineswegs unvergänglicher Natur, vielmehr
das Product einer bestimmten Zeit und Nation; aber ihr Geist ist unvergänglich,
denn es ist der Geist der Schönheit und Wahrheit von den Schlacken der Wirk¬
lichkeit gereinigt; und wenn der Künstler für seine Zeit der Dolmetscher dieses
Geistes, der Vermittler zwischen antiker und moderner Bildung werden will, so
muß er ihn in Formen erscheinen lassen, die seiner Zeit verständlich und vertraut
sind. Dies hat Goethe in der Poesie, hat Thorvaldsen in der Plastik gethan:
und wie der größte wissenschaftliche Kenner der griechischen Dichtung, Gottfried
Herrmann, in Goethe den begrüßte, der Deutschland den zarten Hauch der griechi¬
schen Kanone verstehen gelehrt, so hätte Winckelmann in Thorvaldsen den begrüßen
dürfen, der die Gestalten des Skopas und Praxiteles aus zweitausendjährigen
Schlimmer in'S Leben beschwor. Goethe's Elegien und Iphigenien werden mehr
zum Verständniß der alten Poesie beitragen, als viele gelehrte Commentare,
Thorvaldsen's Alexanderzug, Liebesgötter, Nacht und Morgen mehr Empfäng¬
lichkeit für alte Kunst verbreiten, als unzählige Abhandlungen der Epigonen
Winckelmann's. Der Vorwurf des Mangels an Originalität wird Thorvaldsen
freilich nur vor dem blödesten Unverstande gemacht werden; eine andere Anklage
konnte scheinbar mit mehr Grund erhoben werden, daß seine Productionen nicht
ans dem Bewußtsein seiner Zeit hervorgegangen sind, daß er Wesen einer längst
in's Schattenreich versunkenen Welt zu einem neuen künstlichen Leben erweckt hat;
daß seine Werke daher nicht Gemeingut der Gegenwart werden können, sondern
daß sich nur die Wenigen an ihnen entzücken werden, die ihre exceptionelle Bil¬
dung zum Verständniß der fremdartigen Erscheinungen befähigt. Aber auch dieser
Vorwurf würde Thorvaldsen eben nur treffen, wenn er zu jenen äußerlichen
Nachahmern der Antike gehörte: die Verbreitung, die seine Werke schon jetzt
gefunden haben, spricht am lautesten dafür, daß sie der Gegenwart nicht fern
stehen, daß er aus der Antike nur das allgemein Menschliche und ewig Giltige
genommen hat. Wenn die Richtung der Kunst, die auch äußerlich sich den For¬
derungen und Wünschen der Gegenwart anbequemt, für den Augenblick populairer
ist, so ist das ein bedenklicher Vorzug, der an die Dauer ephemerer Zeitrichtungen
geknüpft ist. Das Leben ist kurz, aber die Kunst ist ewig, und nicht die Mitwelt,
sondern die Nachwelt fällt über Künstler und Kunstwerke das endgiltige Urtheil.
Seine größte Meisterschaft hat Thorvaldsen bekanntlich nicht in runden, son¬
dern in halb erhabenen Arbeiten bewiesen. Den Alexauderzug, diese Perle.der
modernen Reliefscnlptur, enthält das Museum in drei Exemplaren, von denen
eines, in halber Dimension in Marmor ausgeführt, in einer für die Betrachtung
geeigneten Höhe angebracht ist, überdies die einzelnen Theile, wodurch sich die
verschiedenen Exemplare unterscheiden, besonders. Zu einigen seiner herrlichsten
Kompositionen ist Thorvaldsen von dem Dichter begeistert worden, den er nicht
weniger liebte und verehrte, als Alexander, von Homer. Er pflegte, wenn er
seine Stimmung zu künstlerischem Schaffen steigern wollte, einige Seiten in ihm
zu lesen. Noch als Schüler der Akademie zu Kopenhagen hat er Priamus, der
Achill um Hel'lor'ö Leiche ansieht, dargestellt. Dieses Relief (es ist auf der Akademie
zu sehen) ist trotz des unverkennbaren Talents ganz schülerhaft, Achilles ist ganz
gepanzert und mit einem langen Mantel behängen. Später hat er den Gegen¬
stand noch einmal behandelt, und ganz im Geiste der Antike. Zu seinen schönsten
Gestalten gehört die Briseis, die, von dem Herolde weggeführt, widerwillig geht,
und um ihr eigenes Schicksal unbekümmert mit der Geberde echt weiblichen Mit¬
leids sich nach Achill umsieht; der Hektor, der ans der Schlacht kommend mit
Zorn und Verachtung blitzenden Augen in straffer Haltung dem zarten, weichlich
in den Sessel gelehnten Paris gegenübersteht; aber alle diese Scenen aus der
Jliade übertrifft die Darstellung Homer's selbst, der vor dem Volle singt, Männer
und Frauen, Greise und Knaben stehen um ihn her, in Begeisterung entflammt,
in Entzücken versunken; die beiden Knaben, die vor dem Säuger stehen, einer
auf den andern gelehnt, sind Gestalten, wie sie die griechische Kunst in ihrer
besten Zeit nicht edler und schöner hätte hervorbringen können.
Fast eben so häusig, als aus den Homerischen, hat Thorvaldsen seine Motive
aus den sogenannten Anakreontischen Gedichten entnommen. Der Amor, der
wehklagend der Mutter die von einer Biene verwundete Hand hinhält, der Amor
mit dem kleinen Bacchus, die einander umfaßt haltend Trauben in einem Kübel
stampfen, sind Darstellungen von der liebenswürdigsten Anmuth. Sehr bedenklich
ist die Darstellung des Amor, der in der stürmischen Regennacht von dem Greise
Anakreon ausgenommen, während dieser ihn wärmt und trocknet, ihm schalkhaft
den Pfeil in die Brust drückt; das symbolische dieser Handlung steht mit dem
übrigens ganz natürlichen Vorgänge in Widerspruch; aber freilich ist die ganze
Auffassung von einer so schönen Natürlichkeit, daß man gern die Principienfrage
vergessen mag. Weit schlimmer macht sich die Uudarstellbarkeit der Allegorie bei
einem andern Anakreontischen Gegenstände geltend. Mars hat Amor's Pfeile ver¬
höhnt, und Amor giebt ihm einen in die Hand, um ihr Gewicht zu prüfen, Mars
findet ihn zu schwer und will ihn zurückgeben, Amor nimmt ihn nicht wieder.
Wer da sich nicht des Gedichtes erinnert, kann der errathen, daß diesem kräftigen
Manne der winzige Pfeil, den er mit zweifelhafter Miene in der Hand wägt,
zu schwer sei? Sonderbarer Weisest Thorvaldsen^ dieses plastisch unmögliche Motiv
in einer lebensgroßen Gruppe wiederholt. Unter den zahlreichen Vorstellungen
von Amor findet sich noch manches völlig Unplastische. Amor flicht ein Netz, um
die Seele zu saugen, zeigt die Rose und verbirgt die Dornen, läßt Blumen aus
steinigem Boden wachsen, bittet Jupiter, die Rose zur Königin der Blumen zu
macheu: man muß freilich wünschen, daß er bessere Gegenstände gewählt hätte,
aber er hat meistens doch seine Allegorien in Erscheinungen verkörpert, die auch,
abgesehen von ihrer symbolischen Bedeutung, durch ihre natürliche Anmuth an¬
ziehen und fesseln. Hier zeigt es sich, daß für das Genie die Schranken der
, Theorie nicht existiren. Auch die „Alter der Liebe" siud eine durchaus allegorische
Vorstellung, aber jede Figur ist so menschlich wahr und schön, daß es wahrlich
feines Kommentars,bedarf, um den Sinn zu verstehe». An den Käfig, in dem
die kleinen Liebesgötter in den possierlichsten Stellungen kauern, tritt ein un¬
erwachsenes Mädchen mit einem kleinen Schwesterchen an der Hand; diese hebt
neugierig den Vorhang des Käfigs auf und betrachtet mit kindischem Vergnügen
die kleinen Geschöpfe, jene tippt lächelnd einem, der sich heraufdrangen will, auf
deu Kopf, und scheint verschämt die Bedeutung des Spiels zu ahnen. Psyche,
die Verkäuferin, hält einem eben erwachsenen Mädchen mit erhobenem Arm einen
Amor hin, den sie an beiden Flügeln gefaßt hat, und zappelnd strebt er aus die
Jungfrau zu, die ihn knieend mit hoffnungsvollen Entzücken in beiden Armen auf¬
fangen will. Dann folgt die Frau, die ihre» Liebesgott zärtlich an die Lippen
drückt, die andere, die mit niedergeschlagenen Blick nachdenklich hiuschreitet und
den ihrigen mit gesenktem Arme gleichgiltig in den Flügeln hält, während er mit
der reizendsten Armensündermiene von der Welt die Aermchen über der Brust
kreuzt. Endlich der bärtige Mann, der auf einem Steine sitzt und schlummert,
während der Amor, dessen Last ihn zu Boden drückt, bequem auf seinen Schul¬
tern ruhend sich nach einem Gefährten umsieht; dieser fliegt spottend dem Greise
davon, der ihn vergebens zu fangen strebt. Der Verkauf der Liebesgötter ist
ein antikes Motiv, aber Thorvaldsen hat es durch die Art der Benutzung wahrlich
zu seinem Eigenthum gemacht, noch einmal hat er es in der „Hirtin mit einem
Nest von Liebesgöttern" benutzt, und was kann reizender sein, als das kleine
Geschöpf, das sich mit halbem Leibe aus dem Neste herausbiegt, um mit beiden
Händchen in die Schnauze eines großen Hundes zu greifen. Von allen Göttern
hat Thorvaldsen den Liebesgott, der ihm im Leben nicht hold war, mit der grö߬
ten Vorliebe dargestellt, in Erfindung immer neuer Situationen und Motive ist
er wahrhaft unerschöpflich gewesen. Als Jüngling betrachtet er triumphirend die
Schärfe seines Pfeils, oder beugt sich über die entschlummerte Psyche, als er¬
wachsener Knabe schlürft er die Schale, die Bacchus ihm hinhält, als muthwilliges
Kind reitet er auf dem Löwen, auf dem Schwane, und spielt mit den gebändigten
Elementen. In aller holden und freundliche« Gestalten Gesellschaft erscheint er,
mit Hygiea, Hymen, Ganymed verbunden, aber am liebsten hat ihn der Künstler
den Huldgöttiunen gesellt. Sie haben ihn mit Blumen gefesselt, oder prüfen die
Schärfe seines Pfeils, oder lauschen seinem Gesänge. Den letzten Gegenstand
hat er zwei Mal behandelt, in einer Gruppe und in einem Relief, das zum
Grabdenkmal des Malers Appiani bestimmt war, und diesem letztern giebt die
wehmüthige Rührung des kleinen Sängers und der Hörerinnen einen ganz be¬
sondern Reiz.*)
Ueberhaupt wurde Thorvaldsen von seinem Genius zum Anmuthiger, Zarten,
Liebreizenden mehr hingezogen, als zum Ernster, Erhabenen, Gewaltigen; er hatte
mit Praxiteles mehr Verwandtschaft als mit Phidias, auch seine, Schöpfungen
gehören vorzugsweise dem blühenden Jugendalter an, die männliche Reife und
Kraft hat er aus eigenem Antriebe selten dargestellt. Unter seinen Statuen
dürsten der Jason, der zuerst seineu Ruhm begründete, der Vulkan, den er
gleichsam als Schutzgott der Sculptur nicht übergehn durste, und der schon
erwähnte Mars mit dem Amor die einzigen erheblichen Ausnahmen sein. Dagegen
zeugen von seiner Vorliebe sür Figuren wie Ganymed, Hebe, die Musen und
ähnliche zahlreiche Arbeiten, und seine Kindergestalten — mögen sie als Engel
oder Genien erscheinen — nehmen wahrlich keinen untergeordneten Rang unter
seinen Werken ein. In dem Kreise dieser jugendlich blühenden Wesen sind
vielleicht die schönsten der Ganymed, der Jupiter's Adler knieend aus einer
Schale tränkt; die Venus, die mit einer Art überaus anmuthiger Neugier und
bescheidener Freude den Apfel betrachtet, der ihr als Preis der Schönheit zuerkannt
ist, der Merkur, der, die Rohrflöte absetzend, sich aus seiner sitzenden Stellung
erhebt, während er zugleich vorsichtig das Schwert zieht, das dem tausendäugigen
Argus den Tod geben soll. Dieses nebenbei ein merkwürdiges Beispiel, wie die
Erscheinungen der Wirklichkeit sich vor dem Auge des Künstlers zu Gegenständen
seiner Kunst verklären; denn der Anblick eines Lastträgers, den er im Corso zu
Rom auf einem Steine sitzen sah, war die Veranlassung zu dieser Conception.
Und wer kennt nicht, die beiden herrlichen Rundbilder Nacht und Morgen, die
«ach einer monatelangen, schwermuthvollen Unthätigkeit an einem Sommertage
geschaffen wurden? Sie haben eine Verbreitung gesunden, deren sich wol kein
anderes Werk der modernen Sculptur rühmen kann.
Ist Thorvaldsen im Allgemeinen in der Wahl seiner Stoffe höchst glücklich
zu nennen, so hat er doch, wie erwähnt ist, sich hin und wieder aus das bedenk-
liche Gebiet der Allegorie gewagt, und aus diesem mitunter geradezu die Grenzen
seiner Kunst überschritten. Die „», ^mio lumen" genannte Composttion, wo
die Kunst als eine sitzende weibliche Figur sinnend auf eine Tafel zeichnet, wäh¬
rend ein geflügelter Genius Oel in die auf einem Postamente stehende Lampe
gießt — hat sich eines allgemeinen Beifalls erfreut, und ist zum Avers einer aus
Thorvaldsen geprägten Medaille benutzt worden. Obwol der Gegenstand kein
Lob verdient, wird man ihn noch nicht geradezu verwerfen; denn er giebt ein
anmuthiges Bild, an dem man sich erfreuen kann, ohne den beabsichtigten Sinn
zu ahnen. Mehr als bedenklich ist schon der Gegenstand sür das Monument von
Sir Thomas Maitland aus Zarte: Minerva, das Laster entschleiernd, nimmt die
Unschuld in Schutz. Minerva hält mit dem rechten Arm eine jugendliche weib¬
liche Gestalt umfaßt, die mit erhobenem Haupt frei aufblickt, während sie mit
dem linken Arm einer andern Figur das Gewand vom Kopfe zieht, die nun zu
entfliehen sucht. Die Figur des Lasters durch symbolische Attribute zu bezeichnen,
ging nicht wohl' an, sie geradezu häßlich erscheinen zu lassen, verbot dem Künstler
sein ästhetisches Gewissen, er hat sich begnügt, ihr einen leidenschaftlichen Ausdruck
zu geben. Aber wodurch erfährt man nun, wer diese leidenschaftlich aussehende
Entschleierte ist, und weshalb sie die Flucht sucht? Gewiß nur, indem man den
Katalog nachsteht. Doch dieses Basrelief ist auf Bestellung gemacht, dagegen ein
anderes: „Nemesis aus einem Zweigespann, gefolgt von den Genien der Strafe
und Belohnung," so viel ich weiß, aus eigenem Antriebe hervorgegangen. Thor¬
valdsen hat selbst gefühlt, daß diese seltsame Allegorie völlig unverständlich ist
und sich zu ihrer Erklärung des allernaivsten Mittels bedient) nämlich beigeschriebe¬
ner Worte. Auf den Gurten der beiden Pferde vor dem Wagen der Nemesis,
wovon das eine sich bäumt, das andere ruhig geht, steht ubdiSiensg. und üis-
ublMieni-ig., aus den Speichen der Wagenräder abbonäa^a, xsumm und tgi.,
und freilich wird die Sache mich so nicht viel klarer. Es ist beachtenswert!), daß
auch in der Schwesterknnst der Sculptur die größten Meister, wie Cornelius und
Kaulbach, von der Gewalt ihres Genius ans Abwege geführt worden find, an
denen gewöhnliche Talente, von der Theorie geleitet, sicher vorübergehen. —
Allegorien finden sich auch uuter den zahlreichen Grabmonumenten Thorvaldsen's.
Auf dem Denkmal der Gräfin Berkowsky führt der Genius des Todes die ver¬
hüllte Verstorbene davon, während der hinterlassene Sohn ihr folgend sie leiden¬
schaftlich zurückzuhalten sucht. Vortrefflich — wenn uur nicht ans der Seite,
wohin die Gestorbene geführt wird, das Zeichen stände, das in der römischen
Rennbahn das Ziel der Laufbahn bezeichnete, und das hier noch gar für Die¬
jenigen, die es nicht kennen sollten, mit der Inschrift meta versehen ist. Dieses
Symbol gehört einer ganz andern Reihe von Vorstellungen an und steht mit
der einfach rührenden Trennungsscene in gar keinem Zusammenhang. Ans dem
Denkmal von Angusta Böhmer (die in Folge übergroßer Anstrengungen bei der
Krankenpflege ihrer Mutter selbst erkrankte und starb) sieht man die Jungfrau
vor der sitzenden Mutter stehen und ihr mit beiden Händen eine Schale reichen,
aus der sie schlürft; aber zugleich sticht eine Schlange die Tochter in die Ferse.
Hier ist die Krankenpflege von der Ursache des Todes für die sinnliche Betrach¬
tung etwas völlig Getrenntes, während doch der Absicht nach Beides zusammen¬
fallen sollte. Dieser Uebelstand ist auf dem Grabmal Philipp Bethmann-Hollweg's
glücklich vermieden; er starb in Florenz an einer Krankheit, die er sich durch
Hilscleisten und Nelken bei einem Brande in Wien zugezogen hatte. Die an¬
deutende Darstellung der edelmüthigen That ist' auf ein Seitenrclief verwiesen, so
wie die Klagen der Mutter und Schwestern auf ein anderes, und so stört Nichts
die Einheit der herrlichen Hauptcvmpositiou. Der Verstorbene sitzt einem Ent¬
schlummernden ähnlich mit niedersinkendem Hanpte aus einem Sessel, während
zur linken der Genius der ewigen Ruhe wehmüthig abgewandt sich an ihn lehnt
und seine Mohnstengel über seine Schulter herabneigt, eilt von. der rechten der
überlebende Bruder mit einem Eichenkränze herbei und stützt die.Hand des Ent¬
schlafenden, die sich noch ausstreckt, um nach dem Kranze zu fassen. Wenn irgendwo,
ist Thorvaldsen bei diesem Werke von dem Geiste der alten Kunst inspirirt ge¬
wesen, die die Gegenstände der Darstellung so schön ,,eins der beengenden Nähe
der Verhältnisse, aus der unruhigen Erregtheit des Augenblicks" zu entrücken
verstand, ohne doch der Wirklichkeit ihr Recht zu schmälern. Wäre es ihm ver¬
gönnt gewesen, bei seinen Grabmonumenten griechische Vorbilder zu benutzen!
Er hat sie vermuthlich wenig gekannt und nicht beachtet,*) denn während der
Zeit seines Aufenthalts in Italien fanden sie sich hauptsächlich uur in den Museen
Oberitaliens, wohin sie in früheren Jahrhunderten als Ballast der ohne Rückfracht
nus der Levante heimkehrenden venetianischen Kausfcchrer häufig gekommen sind,
und erst in neuester Zeit hat die Durchforschung des griechischen Bodens die
schönsten Exemplare dieser Gattung geliefert. Goethe war schon von dem Anblick
der mittelmäßigen Grabreliefs in Museen von Verona entzückt gewesen. Der
Wind, sagt er, der von deu Gräbern der Alten herkommt, weht mit Wohlgerüchen
über einen Nosenhügel. Nichts konnte der Auffassungsweise Thvrvaldsen's homo¬
gener sein, als die Art, wie hierdurch einfache Darstellungen ans dem Leben der
Verstorbenen, ohne alle Einmischung von Tod und Jenseits, ihre Existenz fort¬
gesetzt und bleibend gemacht wurde. Schwerlich würde er, wenn er diese Vor¬
bilder gekannt hatte, auf Grabdenkmälern ein Sterbebette dargestellt haben, oder
eine überlebende Familie in Trauer bei der Todtennrne, oder eine an einem
Grabhügel betende, oder eine mit dem Krenz in den gefalteten Händen gen
Himmel schwebende Frau — wenigstens nicht, wo die Besteller ihm freie Hand
gelassen hätten.
Von Thorvaldsen's christlichen Werken soll hier nur die Predigt Johannes
des Täufers und Christus mit den Aposteln erwähnt werden. Die erstere Sta-
tuengruppe füllt das Giebelfeld über dem Haupteingange der Frauenkirche zu
Kopenhagen. Die Schönheit jeder einzelnen Figur und die weise Anordnung
vereinigen sich, um dieses Werk zu einem seiner bedeutendsten zu machen. Andäch¬
tige Aufmerksamkeit, prüfender Zweifel, stilles Entzücken, pharisäischer Hochmuth,
feurige Begeisterung malen sich in Zügen, Geberden und Haltung der Zuhörer
aus jedem Alter, Geschlecht und Staude. Etwas specifisch Christliches hat die
Scene nicht, und konnte sie nicht haben; wenn man sich start des Täufers,
dessen abgemagerte Büßergestalt das geringste Interesse erregt, einen andern
guten Redner hinderte, würde die Gruppe nicht verlieren. Am schönsten sind
ohne Zweifel die Kinder, die von der Predigt gar nichts hören. Unter den
Zuhörern befindet sich eine junge Mutter mit drei Kindern, deren Kopf Thor-
valdsen nach der schönen Albanerin Vittoria modellirte; die ganze Aufmerksamkeit
der Kleinen ist von dem Hunde eines Jägers in Anspruch genommen. Den
einen Knaben hält die Mutter in ihrem Schooß; ein anderer Knabe und ein
Mädchen einander umfaßt haltend, nähern sich auf den Zehen behutsam dem
Hunde, zwischen Angst und Lust schwankend. Dergleichen Figuren bei solchen Ge¬
genständen anzubringen, haben sich freilich auch die allerchristlichsten Künstler nicht
übelgenommen, — für Thorvaldsen ist es charakteristisch, daß er sie mit so viel
Vorliebe ausgeführt und ihnen einen so unwiderstehlichen Reiz verliehen hat,
daß man zu ihnen immer wieder zurückkehrt.
Der Anblick des Innern der Frauenkirche gehört zu denen, die die Seele
im ersten Moment mit jener unbeschreiblichen Rührung erfüllen, für welche der
Verstand keinen Begriff und die Sprache keinen Namen hat. Ich betrat sie an
einem Sonntage während des Gottesdienstes, und selbst der quälende Gesang
eines unsichtbaren Chors von Schulkindern vermochte nicht die Größe des
Eindruckes im mindesten zu beeinträchtigen. Sie ist ein Werk des Architekten
Hansen, und in ihrer schmucklosen, der antiken Form sich nähernden Einfachheit
der Meisterwerke ganz würdig, die sie enthalt. Die kolossalen Marmorstatuen
der Apostel stehen, sechs an. jeder Seite vor den breiten weißen Pfeilern des
Hauptschiffes, in der Mitte des Chors knieet ein Engel mit dem als Muschel¬
schale geformten Taufbecken, und hinter ihm breitet der Erlöser seine Arme
gegen die Gemeinde aus. Die Gefahr der Monotonie, die bei, so vielen männ¬
lichen Gewandfiguren von nicht sehr verschiedenem Charakter sehr nahe lag, ist
glücklich vermieden, es sind lauter bestimmt charakteristrte interessante Persönlich¬
keiten. schlicht und ernst steht Matthäus bereit, die trauervolle Geschichte
niederzuschreiben; entzückt, mit aufgerichtetem Antlitz empfängt Johannes die
Offenbarung, die er verkünden soll. Von der Größe seiner Sendung erfüllt
geht Jakobus aus und blickt voll Muth in die Ferne; auf das Schwert gestützt,
die rechte Hand erhoben, die männlich schönen geiht- und charaktervoller Züge
von der Gluth der Begeisterung erleuchtet, predigt Paulus das Evangelium. Er
dürste den ersten Platz unter Thorvaldsen's (wie uuter Peter Vischer's) Aposteln
einnehme«. Aber bei Christus selbst ist der Künstler hinter seiner Intention
zurückgeblieben, obwol oder weil er fünf Modelle verwarf und erst das sechste
ausgeführt wurde. Es sollte der Weltheiland sein, der die Müden und Bela-
denen auffordert, bei ihm Ruhe zu suchen, aber die traditionellen Züge sind nicht
von dem Geiste der allumfassenden Liebe beseelt, und ihre.Milde streift fast an's
schläfrige/ — Das Museum ertheilt Abgüsse, sowol von diesen Figuren, wie
von der Predigt des Johannes, bei denen sich auch einige nicht zur Ausführung
gekommene befinden.
Wenn Thorvaldsen vorzugsweise berufen war, auf der Bahn zu gehn, die
die antike Kunst geebnet hat, den menschlich schönen Erscheinungen des Lebens
von allen Entstellungen des Zufalls entkleidet, den reinsten Ausdruck zu gebe«,
so stand er der Richtung natürlich serner, deren Ziel charakteristische Darstellung
der Individualität ist und die durch Rauch so glänzend vertreten wird. Thor¬
valdsen's Arbeiten sind größtenteils in Marmor ausgeführt, dem gleichsam weib¬
lichen, für die Darstellung der Formenschönheit geeigneten Material, während die
Schule Rauch's die Bronze vorzieht, die eine größere Schärfe und Bestimmtheit
des Ausdrucks möglich macht, so wie im Alterthum Praxiteles lieber in Marmor,
Myron lieber in Bronze arbeitete. Doch ist es natürlich, daß es dem größten Bild¬
hauer seiner Zeit an Bestellungen zu Portraits und Denkmälern nicht gefehlt hat.
Die Monumente in kolossalen Maßstabe für Pius VII., für Poniatowsky, Herzog
von Leuchtenberg sind Thorvaldsen's durchaus würdig, obwol von viel geringe¬
rem Interesse, als seine aus eigenem Antriebe hervorgegangenen Schöpfungen.
Bei weitem anziehender sind die Denkmäler für große Männer vergangener Jahr-
Hunderte, namentlich Copernikus und Gutenberg. Luther und Melanchthon sollte
Thorvaldsen für die Frauenkirche ausführen: an der Büste des Erstem hatj er
zuletzt gearbeitet, das unvollendete Thonmodell steht in dem letzten Cabinet des
zweiten Stockwerks. Unter der unabsehbaren Reihe, von Portraitbüsten ist die
hohe Aristokratie aller Länder glänzend vertreten, besonders die englische: an den
meisten dieser ehrenwerthen Lords und Lady's geht man gleichgiltig vorüber, aber
die in Lebensgröße modellirte Statue der damals (1814) vierjährigen Georgina
Russell, Tochter des Herzogs Bedford (genannt 1a k-meiuUa), wird Niemand
nnbewundert lassen. Von gekrönten Häuptern erinnere ich auch nur der Büsten
Ludwig's von Bayern und Alexander's des Ersten. Ans Metternich's Gesicht
(Profil in einem Medaillon) spricht in satyrhafter Behaglichkeit das Bewußtsein
überlegener Schlauheit. Das Portrait vou Goethe's Sohn (eben so) zeigt die
hohe, stark gewölbte Stirn des Vaters und eine noch stärker gebogene Adlernase,
während durch den vortretenden Unterkiefer der Ausdruck vergröbert, ich möchte
sagen brutaliftrt wird. Zwei Kopfe, die in der edelsten jungfräulichen Schönheit
glänzen, sind die des norwegischen Landschaftsmalers Dahl und der Albanerin
Vittoria. Unter den Heroen der Wissenschaft und Kunst ziehen besonders die
Büsten Wilhelm von Humboldt's, Walter Scott's und Horace Vernet's die Auf¬
merksamkeit an, das herrliche Denkmal Byron's (lebensgroß, in moderner Tracht)
und Thorvaldsen's eigene Statue ist bereits erwähnt. >
Wer konnte von hier gehn, ohne einen Blick dankbarer Rührung auf Thor¬
valdsen's Grab geworfen zu haben? Es liegt in der Mitte des freien Hofes,
auf dessen dunkelen Mauern Palmen, Eichen und Lorbeer» und im Friese wett¬
rennende Genien uach Art der etrurischen Gräber gemalt sind. Eines Denkmals
von fremder Hand bedarf der nicht, dessen Schöpfungen ringsumher der Nach¬
welt so laut seinen Ruhm verkünden: sein Grab ist ein längliches Blumenbeet,
mit den einfachen Blumen bepflanzt, die der nordische-Sommer hervorbringt, von
einer, steinernen Einfassung umzogen, auf der sein Name, Geburth- und Todestag
eingehauen sind. Keine kalten dumpfen Mauern wölben sich über der schönen
Ruhestätte, die Sonne blickt hell darauf nieder, und der Wind fährt darüber hin
und spielt mit den Blumen, die aus seinem Staube blühn.
Wir haben die Weihnachtsbaume sehr früh an¬
gezündet, und Frankfurt nimmt sich reizend im Lichtgefunkel seines Christmarktes, wie
seiner Weihnachtsausstellungen aus. Gleichzeitig haben uns freilich die?. Jesuiten
verlassen, bei deren Früh- und Abcndvredigten der erleuchtete Dom ebenfalls einen
prachtvollen Anblick bot. Indessen sollen die frommen Missionaire sehr enttäuscht davon
und nach Nassau gegangen sein, wohin überhaupt für den Augenblick'die eifrigste Arbeit
der ultramontanen Elemente und der damit verflochtenen politischen Richtungen gewendet
ist. Warum auch.nicht? Nassau ist so zu sagen ein braches Land; in der Bevölkerung
halb protestantisch, halb katholisch. Das Regentenhaus ist freilich protestantisch, die
Landesgeschichte von durchaus protestantischen Erinnerungen getragen. Und das Land
liegt wichtig. Ein Vorwiegen protestantischer Neigungen, die man ja jetzt mit nord¬
deutschen, resp, preußischen zu identificiren liebt, könnte sehr unangenehme Störungen in
die territoriale Kontinuität bringen, auf welcher die, jenseitige Politik ruht. Null hat
vollends dieses Nassau aus den fünf größten seiner elf Kreisämter sich so entschieden
sür die Erhaltung des Zollvereins mit Preußen ausgesprochen und Niemand wills der
Kasseler Ztg. glauben, daß dahinter nur fluchwürdige demokratische Agitationen sich ver¬
stecken. Hier sind gewiß die ?. ?. Jesuiten äußerst nöthig. Denn es offenbart sich ja
ganz deutlich, daß dort der rechte Glaube fehlt. Und ehe dieser nicht vorhanden ist
— was hilft's, daß die Angelegenheiten des Landes in der Hand eines Fremden ruhen,
der in Hessen-Darmstadt aufwuchs, diente, sich prinzlich befreundete, seine Besitzungen liegen
hat und seine Einkünfte findet? Was hilft's, daß ein gewandter Adjutant, vorm Jahre
erst von fernher in das Land geschoben, die Notabeln des Landes mit ihren zollvereins-
freundlichcn Gesinnungen vom Hofe fern hält, diesen selber aber möglichst isolirt? diese
Nassauer glauben ja nicht, daß Alles so am besten bestellt sei; dort sind die ?. ?.
Missionaire äußerst nothwendig. Hier in Frankfurt traten sie dagegen schon unsicherer
auf, anfangs sogar nur als Redemptoristen. Erst, da mau im Publicum den Jesuiten¬
namen sehr unbefangen gebrauchte, während gerade mißliebige Blätter an der Benennung
Redemptoristen festhielten, erklärte man plötzlich halb entrüstet: die Patres Missionaire
seien ganz rechte und echte Jesuiten. Auch dies machte keinen Eindruck. Das Publicum
hielt seinen kritischen Standpunkt fest, besuchte die Predigten, ließ aber die Missions¬
beichtstühle leer und hatte noch vom Parlament die höchst fatale Fertigkeit beibehalten,
die Kraststellen der Reden zu stcnographiren, um sie dann der öffentlichen Beurtheilung
Preis zu geben. Solche Verstandcskritik war freilich sehr unangenehm, besonders da die
theologische der evangelischen Geistlichkeit ganze Batterien neben diesen Kettengeplänkel
auffuhr. Abgesehen davon, daß der Frankfurter endlich einmal die vielgenannten Jcsuiten-
missionen, freilich in vorsichtig milder Form von Angesicht zu Angesicht kennen lernte,
hatten sie indessen den Vortheil, daß er auch seine eigenen Prediger anerkennen
lernte. Man las ihre Schriften und bemerkte plötzlich, daß ihre Mehrzahl vortrefflich
spricht. Dies dankt man wirklich den ?. ?. Jesuiten, und wenn sie in Nassau
denselben Erfolg zu Wege bringen, so mögen ihre Missionen dorthin segensreich ge¬
nannt werden.
In den Lections- und Auetionskatalogen folgt der Theologie die Jurisprudenz.
Soweit sie Politik ist, spielt sie in unsrem Freistaate lebhast, trotz des bekannten
Bundesbeschlusses und Senatsdccrets, welche alle Novellen unsres Staatslebens auf
den Inäox xronibilorum setzen. Daß der gesetzgebende Körper sich mehrzählig aus
sogenannten Gethaner», d. i. Gemäßigt-Liberalen zusammensetzte, war ein harter Schlag.
Man hatte von einer rein „christlichen" Wahl ganz andere Resultate erwartet. Nun hat
vollends die Scnatswahl zu den vier oder fünf mißliebigen Scnatömitgliedern noch zwei
„Gothaner"-Senatoren gebracht; und am Ende werden selbst noch Mehrere in den
bevorstehenden Wahlen die goldene Kugel erhalten — es ist zum Verzweifeln! Aber
dafür hat man an der Demokratie einen vortrefflichen Mitkämpfer gegen diese Revolutio¬
närs, die eben darum so ärgerlich sind, weil sie sich in lackirten Stiefeln und Glace¬
handschuhen gerad so ungenirt bewegen können, als ob sie Schlafrock und Pantoffeln
anhalten — oder umgekehrt eben so taktvoll. Im „Volksblatt vom Main und Rhein"
wüthet sich die Demokratie den Schaum vor den Mund, daß ihre pessimistischen Hoff¬
nungen sich nicht verwirklichen wollen; und anderswo ärgert man sich, jenes edle,
hilfreiche Volksblatt aus Frankfurt ausgewiesen zu haben. I.es kxlrvmös so touokent.
Vom Bundestag kann ich Ihnen nicht erzählen; Sie wissen ja, wie es ging.
Am 21. Oktober waren die Ferien zu Ende, nachher fehlte der k. k. Präsidialgcsandtc
und die vom preuß. Gesandten präsidirtcn Versammlungen wollte man jenseits nicht als
eigentliche Sitzungen gelten lassen. Nachher kam der k. k. Präsidialgesandte und hielt
eine feierliche Abschiedsscssion. In den folgenden Sitzungen scheint man mir über die
Zerstreuung der deutschen Flotte beschlossen zu haben. Und ein neuer k. k. Präsidial-
gesandtcr ist leider noch nicht ernannt. Deutschland hat ja drei Jahre auf Oestreich
gewartet, kann's also auch serner thun, bis der Wiener Congreß zu dem Punkte
gediehen ist, daß die Besetzung des Präsidcntenstuhles im deutschen Einheitsorgane con-
venabel scheint.
Vermischtes folgt zuletzt; vorher geht Aesthetik. Aber von Musik und Theater ist
nur sehr wenig Musikalisches und Dramatisches zu erwähnen. Unter den Concerten
ragte das Eliethon'sche hervor, die andern gehen ihren gewohnten Gang. Im Theater
Novitäten und Gäste, Noth um Tenoristen und Fiasko mit Lustspielen, schließlich ein
Coulissenscandal — vonn tout. Das Alles hat locales Interesse, in der Ferne keines;
und selbst die örtliche Theilnahme dafür ist gering. Frankfurts schöne Theatcrtage sind
vorüber, wie überall, ein Paar Hosbühnen ausgenommen. Beck, der treffliche Baritonist,
steht im Begriff, das Engagement zu verlasse»; Devrient, der gute Schauspieler, des¬
gleichen. Wahrscheinlich scheidet zugleich Fräul. Hofer, und das'Talent des Fräul.
Janauschek wird dann wol auch angenehmere Verhältnisse der hiesigen Vereinsamung
vorziehen.-- Jm-Gesellschaftsleben herrscht die Vorwcihnachtsstille. Selbst E. Mahner's
Urgcsundheitsfasclei hat sich todt geredet, und nur ein wenig mehr Glück machen mystisch¬
physiologisch-anthropologische Vorträge und Consultationen eines Franzosen. Alles ist
schlaff, ermüdet von Erwartungen im Zollvcrcinszweifel, und dazu hängt eine trübe
Ncbelatmosphärc über dem Lande, die doch weder zu Regen, noch zu Schnee, weder
zu Wärme, noch zu Kälte kommen kann. Selbst Napoleon's Kaiscrproclamation erregte
keine Lebhaftigkeit, nicht einmal auf der Börse. Verlangen Sie noch mehr vom Deut¬
schen, wie er sein soll?
— Bereits die Sonnabcndsitzung der zweiten Kammer vom
4. December, in der über die Wahlen in Köln und Ratibor verhandelt wurde, war in
vielen Beziehungen lehrreich. Sie eröffnete einen sichern Blick sowol in die Stärke der
Parteien, wie in den Geist, der die Majorität dieser Versammlung beherrscht. Im
ersten Falle entschied eine Mehrheit von -10, im zweiten eine von 3 Stimmen; hier
wurde der Rechten nur dadurch die Majorität gesichert, daß die zur Abstimmung in
der zweiten Kammer berechtigten sechs Minister, wie der bei dieser Angelegenheit speciell
betheiligte Landrath v. Elsner ihre Stimmen mit in die Wagschale warfen. In beiden
Fällen bestund die Minorität ans der Linken, der Fraction Bethmann-Hollweg und
einigen ihr nahe stehenden Abgeordneten, den Polen und der katholischen Fraction.
Bereits in meinen früheren Briefen habe ich den Fall einer Uebereinstimmung aller dieser
Elemente als einen seltenen bezeichnet, und bemerkt, daß die parlamentarische Entschei¬
dung bei dieser günstigen Konstellation zweifelhaft sein würde. Die Erfahrung zeigt,
daß selbst diese Koalition nur eine Minorität, wenn auch eine sehr starke, bildet; und
was im Schooße der katholischen Partei vorgeht, bestärkt mich in der Ueberzeugung,
daß ihr Zusammengehen mit den liberalen Fractionen, wenigstens in dieser Weise, sich
schwerlich wiederholen wird. Für alle Diejenigen, denen die erste Eigenschaft jedes Poli¬
tikers abgeht, nämlich die Beharrlichkeit, auch trotz der bestimmten Aussicht, bei allen
wichtigen Fragen in der Minderzahl zu bleiben, Jahrelang für die als richtig erkannten
Ansichten zu kämpfen; für alle Diejenigen, die den Erfolg ihrer parlamentarischen Thä¬
tigkeit lediglich nach dem Ausfall der Abstimmungen zu messen gewohnt sind, wird jene
Wahrnehmung sehr niederschlagend sein. Für uns aber, die wir selbst dann, wenn die
Majorität des Volkes unsre Ansichten nicht theilte, darin keinen Grund erblicken würden,
in ihrer tapfern Vertheidigung und in der Thätigkeit für ihre Verbreitung nachzulassen,
sür uns, die wir wissen, durch welche Künste diese Kammcrmajorität zu Stande
gebracht ist, für uns ergiebt sich aus der Gewißheit, daß wir die Minorität bilden, nur
die Verpflichtung, um so kräftiger zusammenzuhalten und nun, unbeirrt durch die Hoff¬
nung, daß wir durch Zurückhaltung und Concessionen hier und da ein Paar doch
nutzlose Stimmen gewinnen könnten, der vollen und ganzen Wahrheit einen unverfälschten
Ausdruck zu geben. Deshalb hat uns der erste thatsächliche Beweis für die schon früher
von uns ausgesprochene Ueberzeugung, daß wir uns in der Kammer in der Minorität
befinden, bei Weitem nicht in dem Grade bekümmert, als das Hervortreten des in der
Kammer vorherrschenden Geistes, von dem ich Ihnen dnrch Anführung des Sachver-
hältnisses ein Bild zu geben versuchen werde.
Die Kölner Wahlen, aus denen ein liberales und ein katholisches Mitglied hervor¬
gegangen waren, wurden von der Majorität für ungiltig erklärt, weil der Kölner
Gemeindevorstand bei Abgrenzung der UrWahlbezirke und Vertheilung der Wähler in
drei Klassen eine unbestimmt gehaltene und deshalb vieldeutige Gesetzesbestimmung, die
notorisch an verschiedenen Orten in verschiedener Weise aufgefaßt und ausgeführt ist,
in einer Art interpretirt hat, die unzweifelhaft zulässig ist, die unsrer Meinung
nach dem Geiste des ganzen Gesetzes sogar am nächsten kommt, die aber mit einem
später erlassenen Ministerialrcscript, welches als eine Gesetzesdeclaration angesehen sein
will, in Widerspruch steht. Es ist die Regel, daß in den größeren, aus mehreren Urwahl-
bczirken bestehenden Städten die Vertheilung der Wähler in die drei Klassen nach Maßgabe
des im ganzen Wahlbezirk aufgebrachten Gesammtstcuerquantums vollzogen wird; es ist
daher bei Städten, in denen ganze Quartiere arm siud, unvermeidlich, daß in einzelnen
Urwahlbczirken Wähler erster oder sogar auch zweiter Klasse überhaupt nicht vorhan¬
den sind. In solchen Urwahlbczirken, deren Köln 16, resp. 1 unter 61 zählte, sind
in Köln die Wahlmänncrwahlen nur von den Wählern zweiter und dritter Klasse
vollzogen worden, während das erwähnte Rescript anordnet, daß in solchen Bezirken
aus ihrer Mitte eine erste Wählerklasse aus den höchst besteuerten Personen gebildet
werden soll. Dem Kölner Verfahren wird zum Vorwurf gemacht, daß die Wähler
erster Klasse, im Vergleich mit denen der andern, zu kurz gekommen wären; aber eS
ist ersichtlich, daß dieser Uebelstand bei dem von dem Minister des Innern proponirtcn
Verfahren noch verschlimmert wird, indem durch die Bildung einer ersten Wählerklasse
aus den höchst besteuerten Personen der zweiten factisch nicht die Zahl der aus der
ersten Wählerklasse hervorgegangenen Wahlmänner vergrößert wird, sondern in Wirk¬
lichkeit die sür bevorzugt gehaltene zweite Wählerklasse einen neuen Zuwachs erhält,
das Mißverhältniß zwischen den aus den drei Klassen hervorgegangenen Wahlmännern
also noch größer wird. Dazu kommt bei dem ministeriellen Verfahren der neue Uebel¬
stand, daß nach ihm der in einer armen Vorstadt wohnende Wähler, der z. B. eine
jährliche Steuer von 30 Thlrn. zahlt, das gewichtige Wahlrecht erster Klasse erhält,
während eine gleichbesteuertc, einige hundert Schritt weiter im Centrum der Stadt
wohnende Person unter der Masse der Urwähler dritter Klasse nur einen höchst un¬
bedeutenden Einfluß auf die Entscheidung ausübt. Ich theile daher die Ueberzeugung
Derer, welche behaupten, daß das erwähnte Ministerialrcscript nicht eine Declaration
des Wahlgesetzes, sondern eine Abweichung von demselben enthält, die bisher nicht sanc-
tionirt ist, und die, wenn sie sanctionirt werden sollte, doch nicht mit rückwirkender
Kraft sanctionirt werden könnte. Die Majorität fand aber in der von dem Kölner
Gemeinderath beliebten, unter den Augen der hohen Behörden vollzogenen Ausführung
des Gesetzes einen so erheblichen Formfehler, daß sie die Wahlen annullirte.
Dagegen nahm sie an der Wahl des Fürsten Lichnowski, die unter dem Einfluß
des bekannten, von dem Landrath v. Elsner erlassenen Circulars erfolgte, nicht den
mindesten Anstoß. Aus den Verhandlungen ergab sich, daß der Landrath dieses Cir-
cular zugleich mit der Aufforderung, bei den Wahlen zu erscheinen, durch die Gens-
darmen den Wählern zugeschickt hatte; der Abg. Wentzel hatte einen von vierzig an¬
gesehenen Wahlmännern, meistens Lehrern, Geistlichen und Richtern, unterzeichneten
Protest gegen die von dem Landrath ausgeübte Einschüchterung eingereicht; andere
Schriftstücke, die von der Tribune verlesen wurden, bewiesen, daß der Landrath, der
nach seiner amtlichen Stellung in der That in der Lage war, dem Kreise nützen oder
schaden zu können, allerdings Alles aufgeboten hatte, durch die Androhung von Nach¬
theilen, die dem Kreise aus der Wahl eines constitutionellen Candidaten hervorgehen
würden, auf die Wahl einzuwirken. Dieselbe Majorität, die gegen den Formfehler bei
den Kölner Wahlen'so empfindlich gewesen war, blieb gegen diesen von einem Beamten
ausgeübten Terrorismus völlig stumpf.
Noch mehr! sie billigte ihn, sie begrüßte ihn mit den lautesten Acclamationen.
Als die Stellen des landräthlichen Rescripts verlesen wurden, in denen Herr v. Elsner
auf seinen Einfluß aufmerksam macht, von den Wählern fordert, daß sie feinem Rathe
folgen sollten, wenn sie seine Hilfe bereit finden wollten, — wurde die Verlesung von
der Rechten durch stürmische „Bravos! sehr richtig!" u. tgi. unterbrochen. Als Herr
v'. Elsner selbst den Beweis, daß er nicht als Beamter, sondern als Privatperson ge¬
handelt habe, durch die Versicherung führen wollte, daß er seine amtlichen Erlasse nicht
„v. Elsner, Landrath," sondern „Landrath v. Elsner" unterzeichne, wurde diese Be¬
weisführung, die in einer Versammlung — wir wollen nur sagen — erwachsener
Männer als eine kaum in den unnützesten Jugendjahren übliche Ausrede wol nur
mit Erröthen angehört werden konnte, von der Rechten mit Genugthuung und Be¬
wunderung hingenommen. Als derselbe Herr v. Elsner endlich sich nicht nur bei
dieser ihn so nahe berührenden Angelegenheit an der Abstimmung betheiligte, son-
dern auch, wie die Abstimmung durch Aufstehen und Sitzenbleiben zweifelhaft war, als
Schriftführer auf die Meinung des Bureaus über das Resultat der Abstimmung ein¬
zuwirken sich bemühte, unterbrach die Rechte Herr» v. Vincke, der hierauf aufmerksam machte,
durch einen Sturm von Exclamationen, und billigte so eine Handlungsweise, über deren
Würdigung auch ein geringes Maß von Takt und Anstand schwerlich im Zweifel sein
konnte. Als wir diese Ausbrüche hörten, trauten wir unsern Ohren kaum. So
documentirte diese junge Rechte ihre Ansichten über die Freiheit der Wahl, die Würde
der Kammer, die Gesetze des Auslandes; und .aus dieser Seite sitzen die Männer,
denen man vorzugsweise die Vertretung des Landes Preis geben, aus denen man
die Pairs des Reiches bilden will! Welche Verblendung! Daß diese Männer sür
die Giltigkeit der Wahl in Ratibor stimmen würden, haben wir erwartet; denn ein
großer Theil von ihnen muß sich sagen, daß ihre Wahlen durch ähnliche Mittel zu
Stande gekommen sind; aber wir haben uns getäuscht, wenn wir erwarteten, daß sie
schweigend und erröthend stimmen würden.
Da das in Betreff der Wahlen an' die Landräthe erlassene Ministerialrescript seinem
Hauptinhalt nach bekannt war, konnte es nicht zweifelhaft sein, daß das Ministerium
im Allgemeinen das Verfahren des Herrn v. Elsner billigen würde, vielleicht mit Aus¬
nahme des einzigen Umstandes, daß er durch die Publication eines Schriftstücks Ver¬
anlassung zu diesen Erörterungen in den Kammern gegeben habe. Allein die Zu-
stimmungserklärung erfolgte auch dieses Mal nicht ohne zu einiger Heiterkeit Veranlassung
zu geben, wie wir es bei der Eigenthümlichkeit unsrer Herrn Minister schon gewohnt
sind. Während Herr v. Elsner nämlich seine ganze Vertheidigung ans den Satz stützte,
daß er nicht als Landrath, sondern als Privatperson so gehandelt habe, ging der Herr
Minister des Innern in seiner offenbar schon vorher zurechtgelegten Rede von dem ent¬
gegengesetzten Standpunkte aus, indem er zur Vertheidigung des Herrn v. Elsner aus
die allen Landräthen in Betreff der Wahlen ertheilte Znstruction hinwies. Die Rechte
wurde in ihrer Befriedigung durch diesen Widerspruch natürlich nicht gestört. Der
Herr Ministerpräsident ließ sich übrigens Herrn v. Elsner vorstellen und begrüßte ihn
mit großer Herzlichkeit.
Bei der Präsidentenwahl hat die äußerste Rechte den Sieg davon getragen; denn
auch der katholische erste Viccpräsident, Herr von Waldbott, gehört ihr an. Die
Erscheinungen, die bei diesen Wahlen zu Tage traten, dienen dazu, meine Ansicht über
die durchaus unzuverlässige Ccntrnmsnatur der katholischen Fraction zu bestätigen. Gleich
bei dem ersten Scrntinimn zeigte sich die Unmöglichkeit, ihren Kandidaten, Herrn von
Waldbott, auf den Präsidentenstuhl zu bringen; statt sich nun zu fragen, ob sie den
Abg. Uhden oder den Grafen Schwerin sür geeigneter zur Leitung der Kammer hielte,
und demgemäß zustimmen, gab sie unbeschriebene Stimmzettel ab ; und das war überlegter
Fractionsbeschluß. Wir glauben, daß die Wahl des Herrn Uhden zum Präsidenten nicht
zum Vortheil der Versammlung ausschlagen wird. Er gab gleich heute eine Probe
seiner Umsicht, welche bei den alten Kammerpraktikern große Heiterkeit erregte, indem
er die Berathung zweier eben eingebrachten, dringlichen Anträge auf übermorgen an¬
setzte, während nach der Geschäftsordnung zunächst der Bericht der Geschäftsordnungs-
commisfion, die noch nicht einmal gewählt ist, über die Dringlichkeit der Anträge
eingebracht und diese anerkannt sein muß, ehe die Kammer auf die materielle Berathung
eingehen darf. Wenn man ein Bureau aus Personen zusammensetzt, die entweder
gänzlich parlamentarische Neulinge oder doch wenigstens mit der Praxis der zweiten
Kammer ganz unbekannt sind, so wird es an unerquicklicher Confusion nicht fehlen.
In der katholischen Fraction herrscht übrigens große Zerrüttung; das Wahr¬
scheinlichste ist, daß sie sich in den nächsten Tagen spalten wird. Die kirchliche Frage
ist das einzige Band, welches diese heterogenen Elemente Zusammenhalt.
— Die in unsrem vorletzten Hefte besprochene
Eventualität einer bevorstehenden Krisis in Spanien, hat sich zum Theil bereits erfüllt;
die Negierung hat die Cortes unmittelbar nach ihrem Zusammentritt ausgelöst und ihr Ver-
sassungsproject, das an die Stelle der jetzt bestehenden Constitution treten soll, veröffentlicht.
Je näher der Tag der Cvrtcscröffnung kam, je drohender gestalteten sich die An¬
zeichen einer durch ihre Zahl und noch mehr durch ihre Zusammensetzung mächtigen
Opposition gegen die absolutistischen Pläne des Hofes und Ministeriums. Die oppo¬
sitionellen Elemente der Modcrado's im Senat versammelten sich bei dem Marschall
Concha. Hier erschienen die Elite der GranocM und des hohen Adels, eine große
Anzahl der angesehensten Generale, welche Mitglieder des Senats sind, die Notabilitäten
der hohen Finanz, die darin sitzen, und eine Reihe der hervorragendsten Staatsmänner
verschiedener politischer Nuancen. Diese glänzende Parteivcreinigung handelte im innig¬
sten Einverständnis; mit den progrcssistischen Senatoren. Entschlossen, um jeden Preis
seine Politik durchzusetzen, richtete Bravo Murillo einen Gewaltstreich gegen die Presse.
Wegen eines Berichtes über die Vorgänge in jener Versammlung, der einige unwesent¬
liche Ungenauigkeiten enthielt, ließ das Ministerium die Geranten von sechs Oppositivns-
zeitnngen verhaften und nöthigte die Zeitungen, damit vorläufig ihr Erscheinen zu sistiren.
In dem deshalb ni die Gouverneure der Provinzen erlassenen Cirenlar des Ministers
heißt es: „Ein Bericht über das, was Mitglieder der Cortes in denselben zu thun
gedächten, von anderen, als den betreffenden Personen selbst ausgegangen, sei ein Eingriff
in die individuelle Freiheit, und dürfe nicht geduldet werden!!" Schon vor
einigen Wochen hatte sich Ordoncz, der Minister des Innern, zurückgezogen, und war
durch Herrn Bordin, eine politische Null und Creatur des Ministerpräsidenten, ersetzt
worden; ihm folgte jetzt, ungeachtet der dringendsten Vorstellungen, der Kriegsminister
Lara, an dessen Stelle ein völlig obscurer General, Namens Tibina, trat. Unter den
bisher ministeriellen Mitgliedern der Cortes griff aber nun anch der Abfall um sich.
Mayan's, seit mehreren Jahren Präsident des Kongresses, und sowohl unter Narvaez,
als Bravo Murillo, Kandidat der Regierung zu diesem Posten, lehnte es uuter den gegen¬
wärtigen Verhältnissen ab, die Candidatur von Seiten des Ministeriums anzunehmen,
und Martinez de la Rosa, der unter den modcrirten Staatsmännern die mildeste Fär¬
bung repräsentirt, sagte sich gleichfalls von der Politik des Kabinets los und wurden
von den vereinigten Oppositionen zur Präsidentschaft des Congresses designirt. Die Ent¬
scheidung dieser beiden Männer riß eine bedeutende Zahl von Abgeordneten mit sich
fort. Alle Fractionen der Opposition, von den entschiedensten Progresflsten bis zu den
eben vom Ministerium abgesüllenen Modcrado's, handelten mit einer Einigkeit, die alle
Parteiuntcrschicde beseitigte, und die schärferen Richtungen traten mit eben so viel Umsicht
als Mäßigung in den Hintergrund, um die weniger Entschiedener nicht zurückzuschrecken.
Die Regierung stellte nun ihrerseits Herrn Tejada als Präsidenten auf, einen von jeher
erklärten Anhänger des Absolutismus.
Die Cortes wurden am 1. Decemb. eröffnet. Der Congreßpälast war von zwei
Bataillonen Infanterie umringt. Noch während des Scrutinium's' zur Präsidenten¬
wahl glaubte das Ministerium an seinen Sieg. Die Sensation war daher außer¬
ordentlich, als Martinez de la Rosa mit 121 Stimmen gegen 107, die aus Tejada
sielen, die' Mehrheit gewann. So allgemein war jetzt die Ueberzeugung von der so¬
fortigen Auflösung der Cortes, daß die Opposition es nicht einmal mehr der Mühe
werth achtete, die übrigen Wahlen für sich durchzusetzen. Und kaum hatte Martinez de
la Rosa am folgenden Tage den Präsidentenstuhl eingenommen, und in wenigen be¬
redten Worten der Kammer für seine Wahl gedankt, die er als die Anerkennung seiner
langen parlamentarischen Laufbahn und unwandelbaren Anhänglichkeit an die Institu¬
tionen des Landes zu betrachten erklärte, eine Aeußerung, die mit stürmischem Beifall
beantwortet wurde, als Bravo Murillo sich erhob und das Auflösungsdekret vorlas.
Die Sitzung bot außerdem noch das unwürdige Schauspiel, das die mit den Creaturen
des Ministeriums besetzten Bänke die Opposition unausgesetzt durch tumultuarische Be¬
leidigungen provocirten und daß unmittelbar nach der Vorlesung der Ordonnanz Sol¬
daten, die, wie Tags vorher, das Versammluugsgebäude besetzt hielten, in den Saal
drangen. Herr Bravo Murillo hatte ferner die Stirn, als Einleitung der Auslösungs¬
ordre zu sagen, daß die gegenwärtigen Cortes durch die „Intriguen", die vor
ihrem Zusammentritt geflogen seien, das Vertrauen der Königin verloren hätten.
Am 3. December brachte die Gaceta die Verfassungsprojckte, welche den zum
1. März einberufenen Cortes vorgelegt werden sollen. Sie enthalten, wie zu erwarten
war, die völlige Vernichtung des parlamentarischen Systems, und sind eine Sammlung
der reactionairstcn Ausgeburten anderer Länder, verbunden mit den der spanischen Re¬
gierung selbst angehörigen Erfindungen.
Die erste Kammer, gegen die sich noch am wenigsten sagen läßt, soll aus erb¬
lichen und lebenslänglichen Senatoren bestehen. Die zweite soll auf die Zahl von 171
(statt der jetzigen von 3i9) Abgeordneten reducirt werden und statt des jetzt geltenden
Wahlgesetzes, das schon auf einen hohen Census basirt ist, in eben so viel Wahl¬
bezirken von den je 130 Höchstbesteuerten gewählt werden, was demnach auf
1i>,000,000 Menschen 25,6ö0 Wähler giebt. Diese homöopathisch kleine Dosis
von nationalem Recht wird dadurch noch in's Unendliche vermindert, daß die Verfassung
von der Preßfreiheit Nichts weiß, nicht einmal die schützenden Garantien der persön¬
lichen Freiheit durch die Gerichte aufrecht erhält, dagegen die Rechte der Cortes bis auf
ein Minimum herabdrückt. Herr Bravo Murillo hat offenbar mit Erfolg einige deutsche
Staatskünstlcr der Neuzeit studirt. Das Budjct soll ein für allemal bewilligt und nur
durch Zustimmung der drei legislativen Factoren abgeändert werden. Statt also, daß
in Bezug auf die normale Steuerlast des Landes die Kammern das Recht der Steuer-
bewilligung hätten, hat die Krone das Recht des Steuererlasses. Der Octroyirungs-
paragraph der preußischen Verfassung für .^dringende Fälle" fehlt gleichfalls nicht.
Von Oeffentlichkeit der Cortessitzungen ist nichts erwähnt, dieselbe fällt demnach fort. An¬
gehängt ist ein Capitel über die Garantien der „öffentlichen Ordnung", d. h. über Be¬
lagerungszustand, Stand- und Kriegsgerichte, die von dem Gutdünken des Ministeriums
und durch dessen Vollmacht von dem jedes Generals abhängen. Wenn neben diesem
Apparat von Gewalt und Niederdrückung jeder Oeffentlichkeit und freien Meinungs¬
äußerung die Verantwortlichkeit des Ministeriums gegenüber den Cortes beibehalten ist,
so muß dies als eine leere Redensart betrachtet werden. Die Verfassung ist nichts
weiter, als eine Maschine des Absolutismus, der es bequemer findet, sich einer solchen
zu bedienen, als sein Princip nackt herauszustellen. Mit einigen Modifikationen kommt
die Schöpfung Louis Napoleon's in Frankreich auf dasselbe Ziel hinaus.
Ein königliches Decret verbietet der Presse jede Discussion über diese Projecte,
damit das Urtheil des Publicums nicht durch Leidenschaftlichkeit irre geführt werde.
Am Schlüsse des einleitenden Berichts an die Königin, sagt dieses Ministerium, das
die von ihm beschworenen nationalen Freiheiten bereits thatsächlich unterdrückt hat,
und jetzt ihre definitive Vernichtung vorschlägt: „Auf diese Art, Sennora (nämlich durch
die Veröffentlichung und das Verbot der Discussion) wird man mit Genauigkeit die
Wohlthaten würdigen können, welche das mütterliche Herz Ew. Majestät den Spaniern
zukommen zu lassen wünscht."
„Es ist das Charakteristische unsrer Zeit," sagte einst Camphausen, „daß das Un¬
recht jede.Schaam verloren hat."
Daß die Negierung nicht sofort die neue Verfassung octroyirte, sondern nur als Project
für die nächsten Cortes veröffentlichte, hatte offenbar seinen Grund nur in der über
jede Erwartung starken Opposition,, welcher sie begegnete. Es ward daher ein Mittelweg
eingeschlagen, der die spätere Octroyirung, falls sie nothwendig oder thunlich ist, noch
nicht ausschließt. Vorläufig sind der Hof und Bravo Murillo Herren des Feldes ge¬
blieben, trotzdem die öffentliche Stimmung der Hauptstadt sich der Politik, des Ministe¬
riums höchst ungünstig zeigt. Die Opposition denkt aber keineswegs daran, den Kampf
aufzugeben. Progrcssisten und Moderado's sind sofort zur Bildung eines großen Wahl-
comitö's geschritten, das gemeinschaftlich sür beide Parteien den Wahlkampf leiten soll.
Man kann sich allerdings vorstellen, welche Mittel die Regierung aufbieten wird, um
dem Wahlkörper eine willige Kammer abzupressen. Die Autorität wird, um mit Herrn
von Gerlach zu sprechen, in „concretester" Weise den Wählern sich fühlbar machen,
oder, um diese jesuitischen Euphemismen zu beseitigen; man wird mit dem letzten Rest
von Recht und Gesetz auch die letzten Fetzen der Schaam zerreißen. Es ist daher mög¬
lich, daß die Cortes ministeriell werden, sicher ist es aber, daß, falls sie es sind, die Wüht
nur ein Gaukelspiel von Trug und Gewalt gewesen ist. Aber auch dann selbst muß es
sich erst zeigen, ob die Nation durch die Beschlusse eines solchen Parlaments sich ihrer
Rechte und Freiheiten wird berauben lassen.
Wir können nicht umhin, es schließlich auszusprechen, daß, was jetzt in Spanien
versucht wird, selbst das noch übertrifft, was seit einem Jahre in Frankreich geschehen
ist. Was Louis Napoleon gegen seine Gegner that, das thut die spanische Regierung
gegen die treuesten Anhänger der Königin. Während jener die politische Freiheit zu
Gunsten eines neuen, von ihm vertretenen Princips vernichtete, wendet sich diese gegen
die Principien, denen sie ihr Entstehen verdankt. Wenn der größte Theil der Nation
im langjährigen und blutigen Bürgerkriege sür Isabella II. gegen die vom Standpunkt
des legitimen Rechtes nicht zu läuguenden Ansprüche des Don Carlos, stritt, so geschah
es, weil in deren Namen ihr die Constitution geboten wurde. Heute zieht man diese
Bürgschaft zurück, und auf ein Heer sich stützend, dessen Treue für die Sache des Ab¬
solutismus man dadurch zu befestigen versucht, daß man seine Reihen mit den ehemaligen
Officieren des Prätendenten anfüllt, verfolgt man die Männer, welche auf dem Schlacht¬
feld, im Parlament und im Rathe die Krone Jsabella's unwandelbar vertheidigt und
ihretwegen zum Theil Jahre lang die Bitterkeit der Verbannung getragen haben.
Und ist irgend ein Vorwand denkbar von öffentlicher Gefahr und Rettung der Gesell¬
schaft, der in Frankreich doch wenigstens vorgebracht werden konnte? Im Gegentheil,
das constitutionelle System hat Spanien aus langem Marasmus erhoben, die materiellen
und geistigen Kräfte des Landes entfesselt, die Regierung gestärkt und die Nation glücklich
durch die furchtbaren Stürme, welche I8i8 Europa erschütterten, geleitet. Die parla¬
mentarischen Mehrheiten sind seit dem Sturz Espartero's unausgesetzt conservativ ge¬
wesen. Oeffentliche Gefahr und Umsturz der Ordnung werden nnr durch die anticonstitn-
tionelle Politik der Regierung hcrausbcjchworen. Gegenüber solchen Thatsachen ist vor
dem Tribunal des Rechtes, des Gewissens, der Ehre nur Ein Urtheil möglich. Nicht
erst die Geschichte braucht es zu bilden, aber sie wird es vollstrecken.
— Das Ministerium ist endlich aus der Wolke von schönen
Phrasen und zweideutigen Betheuerungen, in welche es. sich bisher zum Aerger für
Freund und Feind versteckt gehalten, heraus und auf den Boden der praktischen Politik
getreten. Freitag am 3. December entwickelte Herr Disraeli in einer fünf Stunden
langen Rede dem Unterhause seinen Finanzplan, von dessen Annahme er den Bestand
des Ministeriums abhängig macht. Jedenfalls muß man sagen, daß der neue Schatz¬
kanzler nicht mit der ungeübten schüchternen Hand eines Novizen an's Werk gegangen
ist, der jede neue und großartige Maßregel fürchtet, sich so viel als möglich in den
ausgetretenen Wegen seiner Vorgänger hält, und vor Allem jede principielle Neuerung
scheut. Im Gegentheil setzt er das Princip „unbeschränkter Concurrenz" als Motto
vor sein Einnahmebudget, greift mit kühner Hand gleich nach einigen der beträchtlichsten
Einnahmequellen, und streicht nicht weniger als 3—4 Millionen Pfund Abgaben weg,
um verschiedenen leidenden Interessen Erleichterung zu gewähren. Mit gleicher Kühnheit
verfährt er mit der Einkommensteuer, bei welcher er den längst gewünschten Unterschied
zwischen Einkommen von Capital und Einkommen durch Arbeit, zwischen permanenten,
vererblichem und vorübergehendem Einkommen zugesteht, auch eine wenigstens theilweise
Ausdehnung derselben ans Irland eintreten läßt. Die Hauptzüge seines Planes sind
folgende: Um den Rhedern die Concurrenz mit der durch die Aushebung der Naviga¬
tionsgesetze freigegebenen Schifffahrt des Auslandes zu erleichtern, werden die Leucht¬
thurmabgaben , um 100,000 Pfd. Sterl. jährlich vermindert, und die früher von der
königlichen Marine vorkommenden Falls beanspruchten Berge- und NcttuugSgelder abge¬
schafft. Den westindischen Zuckcrpflanzern wird Erlaubnis; ertheilt/ ihren Zucker für den
einheimischen Cousum unter königlichem Verschluß zu raffiniren, weil ihr Rohzucker
15—20 pr. Ce. weniger Zuckergehalt hat, so daß eine thatsächliche Gleichheit des Zoll¬
satzes aus fremden und westindischen Zucker erst eintreten kann, wenn er von letzterem
nach dem Raffiniren erhoben wird. Nach dem Nhedcrei- und westindischen Interesse
kommt das Agriculturiuteresse an die Reihe, dem zu Gefallen die Hopfen- und Malz¬
steuer auf die Hälfte herabgesetzt wird — ein Verlust von nicht weniger als 2^/s Mill.
Pfund sür die Staatseinnahmen. Damit noch nicht zufrieden, vermindert Herr Disraeli
auch noch die Steuer auf Thee von 2SH. Z^D. einst Sh., vertheilt aber diese Herab¬
setzung auf 6 Jahre. Um den Ausfall zu decken, soll die Einkommensteuer auf
industrielles Einkommen bis aus 100 Pfund, und capitalisirtes Einkommen bis 30 Pfund
herab, und aus Einkommen von Staatspapieren und Gehalten in Irland ausgedehnt,
so wie bei der Häuscrstcuer auch Diejenigen unter 20 und bis zu 10 Pfund Zins jähr¬
lich mit zur Mitlcidcuhcit gezogen werden. Das Uebrige erwartet er. von dem zusehends
wachsenden Wohlstande des Landes, der nach den bereits gemachten und in Zahlen darge¬
stellten Erscchrungeu eine beträchtliche Vermehrung der übrigen Einnahmen erwarten läßt.
So tiefgreifend diese Veränderungen sind, nahmen sie doch kaum die Hälfte der
Rede in Anspruch. Dem größte» Theil des Restes benutzte Herr Disraeli, um die
noch vorhandene» Entschädigungshvffnuugcn seiner protectionistischcn^ Freunde mit un¬
barmherziger Hand zu zerstören, Hoffnungen, an deren Erregung er freilich einen Haupt¬
antheil hat. Doch brachte ihn das nicht im mindesten außer Fassung. Der Schöpfer
der prvtcctionistischcn Partei und der politische Pathe, Disraeli's Lord Bentinck, als
er noch lebte, und der gegenwärtige Colvnialsecretair, Sir John Pakington, waren die
Hauptagitatoren sür die Entschädigungsansprüche der angeblich dem Götzen des Frei¬
handels hingeopferten Zuckerplautagenbcfitzer von Jamaica und Mauritius, und Herr
Disreali hat in, den letzten sechs Jahren selbst manche Rede sür sie gehalten. Jetzt
klang das freilich anders, und der arme Sir John Pakington mußte aus dem Munde
des Führers seiner Partei vornehmen, daß das „westindische Interesse", weit entfernt, zu
den leidenden zu gehören, in ganz gedeihlichem Zustande sei, da der Zucker Westindiens
den anderer Länder mehr und mehr von dem englischen Markte verdränge, und daß von
allen seinen seit 6 Jahren mit großer Leidenschaft befürworteten Forderungen nur die eine:
die Erlaubniß, Zucker unter königl. Verschluß zu raffiniren, gewährt werden könne.
Noch weniger Gnade fand Lord Malmcrbory's Steckenpferd: die Uebernahme der Armcn-
stencr ans das Staatsbudget. Jedoch kann 'Man wenigstens Herrn Disraeli nicht der
allzu parteiischen Vorliebe sür seine eigenen Pläne beschuldigen, denn obgleich er eine
neue Vertheilung und eventuelle Uebernahme der Localabgaben auf das Staatsbudget
in voriger Session zu einem, die Stärke seiner Partei prüfenden Antrag und zu einem
Tendenz-Angriff auf das Ministerium Rüssel benutzt hatte, so erklärte er doch nach
einigen Umschweifen, daß er keine Veränderung der gegenwärtigen Erhebnngswcise der
Localabgaben vorschlagen wolle, da sich vorzüglich hinsichtlich der Armensteuer die
Lage der einzelnen Gemeinden sehr verbessert habe. Dieses Zugeständniß wurde mit
lauten und wiederholten ChecrS von Seiten der Opposition begrüßt, schien aber auf
den ministeriellen Bänken einige Überraschung hervorzubringen.
'
Der erste Eindruck von Herrn Disraelis Finanzplan war ein ziemlich günstiger,
aber der Rückschlag trat sehr bald ein. Man bezweifelt mit Recht, daß die Herab¬
setzung der Malz- und Hopsensteuer dem Consumenten einen erheblichen Vortheil bringen
werde, und hebt dagegen hervor, daß der Pächter nicht durch die Verminderung beider
Steuern um die Hälfte, sondern nur durch die gänzliche Abschaffung der einen oder der
andern die ihm sehr dringend zu wünschende Erleichterung finden könne/ Denn bei dem
Fortbestehen der, wenn auch verminderten Steuern, bliebe die ganze lästige Acciscmaschinerie
bestehen, welche ihnen nicht einmal erlaubt, Hopfen zu bauen, oder zum Privatgebrauch
zu malzen, ohne sich der Aufsicht eines Accisebeamter zu unterwerfen. Am meisten
wird die Haussteuer angegriffen, denn man findet in ihr eine Begünstigung des Landes
gegen die Stadt, indem der Satz von 10 Pfd. alle Häuser in der Stadt einschließe,
aber sämmtliche Cottages, — das Eigenthum der Grundherren und Farmer — unbe-
stcuert lassen werde. Dazu kommt noch, daß derselbe Hauspächter, den die neue Haus¬
steuer trifft, zum ersten Mal auch mit der Einkommensteuer belastet wird, von der er
bisher befreit war. Die Verminderungen treffen alle indirecten Abgaben, während die
Erhöhungen in baarem Gelde aus der Tasche gezahlt werden müsse» — ein Unterschied,
der keineswegs geeignet ist, eine Steuerreform pvpulair zu machen. Es haben auch bereits
in den Städten zahlreiche Volksversammlungen stattgefunden, die sich aus das Ent¬
schiedenste gegen die Hausstcuer in dieser Gestalt erklären, und bei dem großen Einfluß
der 10 Pfd. Hausbesitzer auf die städtischen Wählerschaften können ihre Vertreter im
Parlament nicht taub gegen ihre Vorstellungen bleiben. Die Opposition, die von dieser
Seite zu erwarten steht, ist so stark, daß mau sich schon aus eine Niederlage des
Ministeriums gefaßt macht, und daß selbst die Times, die seit Disraeli's Bekehrung zum
Freihandel diesem nicht ungünstig gesinnt ist, Speculation über die Zusammensetzung
eines neuen Ministeriums Russell anstellt. Sie hält eine Combination der Whigs unter
Russell mit Hinweglassung der durch Alter oder Temperament untauglich gewordenen
Mitglieder seines frühern Ministeriums, der Pcelitcn und einiger Mauchestcrleute, wie^
Cobden und Vright, für möglich, scheint übrigens über diese Aussicht nicht sehr begeistert
zu sein. Morning Chronicle dagegen nennt die Vermuthung der Times, daß Cobden
und Bright eine Stelle in dem neuen Cabinet bekommen würden, einen perfiden Schreck¬
schuß dieses Blattes, um Schwankende, die sich vor dem Gespenste der Manchester-
dcmokratie fürchten, in das ministerielle Lager hinüberzuscheuchen. Sie glaubt unter den
rüstigem Whigs und unter den Peeliten Elemente genug zu einem tüchtigen Ministerium
zu finden. Die Budgetdebatte hat bereits am 10. begonnen, aber noch keine ent¬
scheidende Wendung genommen.
Wenn das Ministerium! unbeschädigt aus der Budgetdebatte hervorgeht, so droht
ihm noch eine empfindliche Schlappe in der Untersuchung über die Rechtmäßigkeit der
Wahl des Mitgliedes für Derby, bei der sich der Kriegssecrctair des Ministeriums, Major
BcreSsord, allem Anschein nach der gröblichsten Bestechung schuldig gemacht hat. Schon
bei der vorigen Wahl 18i8 stand Major Bcresford in sehr verdächtiger Beziehung mit
einem Advocaten.Flewker in Derby, der für die conservative Partei in jener Stadt
Wahlangelegenhciten besorgte, und mit einem gewissen Fran, der Wähler sür die conserva-
tiven Kandidaten mit baarem Gelde — zwei Guineen per Manu — werben wollte, ver¬
handelte. Da Whigcandidaten gewählt wurden, scheint man ihn sür seine Bemühungen
nicht gehörig entschädigt zu haben; jedenfalls finden wir den ehemaligen Wahlagenten
der conservativen Partei die Hauptrolle bei der Verhaftung des conservativen Agenten
bei der diesmaligen Wahl spielen. Dieser heißt Morgan und hatte sein Hauptquartier
in einem Hinterstübchen der County Tavern in Derby ausgeschlagen, wo abermals Wäh¬
ler zu zwei Guineen per Kops geworben worden. Von Mr. Flewker angeführt, über-
fiel die Polizei das Hinterstübchc» und verhaftete Morgan sammt seiner Casse von mehr
als 300 Psd,, dem Verzeichnis? der bezahlten und unbezahlten Wähler und einem ver¬
trauliche Briefe mit den Initialen des Majors und unbezweifelt von seiner Hand. Die
fatale Sache wird jetzt von einem besondern Ausschuß untersucht, doch sind keine Re¬
porters zugelassen. Die ferneren Enthüllungen, die nicht ausbleiben werden, versprechen
sehr piquant zu werden. Jedenfalls ist der ganze Handel ganz dazu angethan, dem
ohnedies schon mehr als zweideutigen moralischen Rufe des Ministeriums Derby einen
letzten Stoß zu geben.'
Abermals ist eins der zur Aufsuchung Sir John Franklins nach dem arctischen
Meer abgesandten Schiffe zurückgekehrt, und zwar der von Lady Franklin ausgerüstete
kleine Schraubcndampfcr Isabel, Capitain Jnglcfield. Capitain Jnglcfield hat allerdings
keine Spuren von dem Vermißten gefunden, bringt aber zwei Nachrichten von ziemlicher
Wichtigkeit mit, indem er erstens die Stelle, wo nach des Esquimo Adam Beck Aus¬
sage Franklin und sein Schiffsvolk von den Eingebornen ermordet sein sollen, besucht
und dort keine Spur einer solchen Katastrophe gefunden hat, und zweitens mit eigenen
Augen das große eisfreie Polarbassin gesehen hat, dessen Existenz nun außer allem
Zweifel steht. Außerdem hat er eine bisher noch unbekannte Küstenstrecke von 600 Miles
untersucht und mappirt.
Die Isabel verließ die Themse am 6. Juli d. I. in ^der Absicht, bis zu den noch
uuuutersuchtcn nördlichen Buchten am Ende der Baffinsvai vorzudringen, segelte am
16. August von Uvpcrnavick ab, und schlug die Richtung nach Cap Uork ein. Als
das Schiff hier durch den Jnselarchipel abwechselnd segelte und dampfte, begegnete es
beständig Eisbergen von erstaunlicher Große, die mit einem Krachen wie von tau¬
send Kanonen in einem fort sich spalteten, und durch die stürzenden Massen das Meer
in eine weithin sichtbare Bewegung versetzten. Am 23. erreichte Capit. Jnglesicld Cap
Athol, und besuchte von hier aus Ominack, wo nach Adam Beck Franklin und seine
Leute ermordet und unter einem großen Cairon oder Steinhaufen begraben worden sein
sollten. Die Niederlassung war verlassen, jedoch blos zeitweilig, denn es fanden sich
große Vorräthe von Wallsischsvcck, Winterkleidern und Fleisch. Nahe am Ufer erhob
sich wirklich ein grosser Steinhaufen, den Capitän Jnglesicld sogleich wegräumen, auch
die gefrorene Erde darunter einen Fuß tief ausgraben ließ. Es fanden sich allerdings
einige Knochen darunter, aber sie waren nach dem Zeugniß der die Expedition beglei¬
tenden Naturforscher von Walisischen, Wallrvssen und verschiedenen Fischen, ohne die
geringste Beimischung von Menschengebeine». Auch sonst fand man nicht die geringsten
Spuren von europäischen Sachen. Es läßt sich nun wol nicht bezweifeln, daß Beck's
Erzählung eine reine Erfindung war. Bei stürmischem Wetter drangen die Reisenden
am 25. in den Wallfischsund ein, wo sie eine Niederlassung von Eskimos sanden, die
noch keinen Europäer gesehen hatten, und das größte Erstaunen über Alles, was sie
sahen, an den Tag legten. Von einer etwa 1000 Fuß. hohen Anhöhe entdeckte Jgnlc-
ficld, daß der vermeintliche Nordrand der Bucht aus zum Theil ziemlich großen Inseln
bestand und durch zwei ziemlich breite Straßen in eisfreies Meer führte. Da
die Jahreszeit sich so günstig erwies, und hier auch nirgends Spuren von Franklin
zu finden waren, so fuhr Jnglesicld weiter in nördlicher Richtung nach Smithsund,
und erreichte am 26. Cap Alexander. Hinter der 46 Miles breiten Straße erblickte
er eine große, ganz eisfreie Meeresfläche. Das Klima zeigte sich hier milder;
waren am Eingang der Straße die Klippen kahl und mit Schnee bedeckt gewesen,
so waren sie jetzt mit grünem Gras und Moos gestreift, und die Hügel weiter nach
Norden waren schwarz, anstatt mit Schnee bedeckt, und gehörten der Secundair-
formativn an. Die Küste zu beiden Seiten erweiterte sich immer mehr, so weit das
Auge reichte. Am 27. August, 2 Uhr Nachmittags hatte Capitain Jnglcfield die Breite
von 78" 3S Min. erreicht, war also 120 Miles weiter nördlich vorgedrungen, als alle
übrigen Reisenden. Er befand sich jetzt in einem großen und nur theilweise mit Eis
bedeckten Meere, das auf der Ostseite vollkommen befahrbar zu sein schien. So war
er denn im großen Polarbassin, und schmeichelte sich schon mit der Hoffnung, bis zur
Behringstraße durchdringen zu können, als ihn ein heftiger Sturm, dem er mit seiner
kleinen Dampfmaschine von nur 60 Pferdekraft nicht Widerstand leisten konnte, zurück¬
trieb. Als der Sturm nachließ, geriethen sie in Eisfelder, der Dampfkessel bekam
einen Leck, und die herandrängenden Eisschollen beschädigten das Ruder. Da wurde
rasch der Kessel geflickt, und nach mehreren Stunden angestrengtester Arbeit und größter
Gefahr gelang es dem Schiff, sich aus dem Eis herauszuarbeiten; doch mußte
man einen neuen Versuch, in das Polarbassin einzudringen, aufgeben. Sie verfolg¬
ten dafür die Westküste, und kamen bis zum 84. Längengrade, wo sich das
Land plötzlich nordwestlich wendet, während die südliche Küste, so weit das Auge
reichen konnte, westlich weiterging, doch war im Hintergrund des Sundes kein
Land zu sehen, und auch Spuren von den Vermißten waren nicht zu entdecken.
Am 7. Sept. erreichte Jnglefield Beechey Island, wo er sich mit Capitain Pulten in
Verbindung setzte, aber noch denselben Tag weiter segelte, und die westliche Küste der
Basfiusbucht südlich bis zum Clydefluß untersuchte. stürmisches Wetter und zahlreiche
Eisberge zwangen ihn, hier umzukehren und den Heimweg nach England wieder anzutreten,
wo er glücklich nach viermonatlicher Abwesenheit eintraf. Als Capitain Jnglefield Beechey
Island verliß, war der Wellington Sund noch ganz frei von Eis. An Thieren war
in jenen nördlichen Regionen kein Mangel. In der Wallfischbucht waren die Mollusken,
welche die Hauptnahrung des Wallfisches bilden, in großer Menge vorhanden, und See¬
vögel waren in solcher Unzahl zu sehen, daß sie das Meer ganz zu bedecken schienen.
An Nahrung wird es daher den Vermißten nicht gefehlt haben.
— Die Flitterwochen des neuen Kaiserreichs sind
lange nicht so glänzend, als die Helden des wiedergeborenen Frankreichs gehofft hatten.
Nicht nur, daß Oestreich und Rußland trotz des bestehenden guten Einvernehmens noch
nicht ihre übrigens unzweifelhafte Anerkennung ausgesprochen, kränkt die Eitelkeit unsres
Cäsars; selbst im Innern, im eigenen Herde sogar geben sich Symptome kund, die für
kritische Zeitpunkte manche Schwierigkeit in Aussicht stellen. Fould's unsaubere Börsen-
manövcr sangen an, da sie nicht mehr glücken wollen, den Tadel auch mancher Anhänger
der Regierung zu erregen, und der Senat hat die Znsatzvvrschläge der Regierung zur
neuen Verfassung auch nicht mit der wortlosen Ergebenheit aufgenommen, die man von
einem Napoleon'sehen Senate zu erwarten berechtigt wäre. Es wird wol bei einigen
schüchternen Bemerkungen bleiben, allein auch diese sind schon zu viel, denn unsre Re¬
gierung sängt an, in jenen mumienhaften Zustand überzugehen, wo der leiseste Hauch
mehr oder weniger gefährlich werden kann. Das Project der Regierung ist in Wirk¬
lichkeit ein sonderbares Product. das geeignet ist, das Alles erwartende Frankreich zu
überraschen. Man kann den Franzosen von heute weder Mangel an Servilität, noch
Ueberfluß an Freiheitsträumcrcien vorwerfen, aber es hält schwer in unsren Tagen, wo
Alles die öffentlichen Angelegenheiten zu beurtheilen im Stande ist, aus jede Garantie,
ans jeden Antheil an der Gebcchrung von Geschäften, die jeden Einzelnen interesstren,
verfassungsmäßig verzichten zu müssen. Das ist selbst den Konservativsten, auch Mont-
alembert nicht ausgenommen, ein wenig zu hart. Man verzichtet gern auf die gottlose
Freiheit der Presse, man sieht es gern, daß die Volksvertreter nicht mehr in alle Fi¬
nessen der Regierung vorwitzig die Nase stecken, man läßt sich die politische Ruhe als
willkommene Abwechselung gefallen, aber in gar keine der wichtigsten Angelegenheiten
anders, als allerunterthänigst zunickend einwirken zu sollen, ist sogar wohldotirten Se¬
natoren, wie nicht weniger dotirter Deputirten zu viel zugemuthet. Louis Napoleon ist ganz
consequent, er hat den zweiten December 18S-I als republikanische Dictatur aufgefaßt und
kann den zweiten December 1832 nicht anders, wie als dictatorischcs Kaiserreich verstehen.
Er thut wohl, mitleidig die Achsel» zu zucken über die Beschränktheit derer, die Anderes
erwarten. — „Der Staat, das ist ein Unsinn." sagte der Präger Professor der Sta¬
tistik Novack seinen Schülern, „was Staat, der Kaiser ist der Staat." — I/else v'est moi
ist eine herausfordernde Prahlerei eines jungen Menschen, dem keine Jungfräulichkeit
seines Hofes zu widerstehen vermochte; — aber „der Kaiser ist der Staat", das ist ein staats¬
rechtliches Axiom, das nichts Persönliches hat, daS ist allgemein, unsichtbar, und das
liegt in der Natur der Sache. So versteht es unsre weise Negierung, so will es die
neue Verfassung. Das ist auch viel bequemer und moralischer, denn da der Kaiser
Alles darf, was er will, ist auch Alles gesetzlich, was er thut. Das Budget zu poliren.
war bisher eines der vielen constitutionellen Vorurtheile, das diesen Act als Garantie
betrachten ließ. Der Kaiser will, daß man ihm das Budget vn Mo zugestehe und sich
weiter nicht um die Rechnung kümmere. I.» Krsvb as vivu und la volontv nationale
müssen ein stärkerer Hört sein, als ein Paar Deputirte, die schon aus purer Lust an
Rechenexempeln immer Etwas auszusetzen finden. Die öffentlichen Arbeiten, so wie die
ganze Administration — in einem wohl eingerichteten Staate ist alles administrativ, auch
die Guillotine und die Deportation — können vernünftiger Weise auch nur vom sou-
verainen Monarchen abhängen. Handelsverträge, Krieg und Frieden einem Kaiser
abdisputircn zu wollen, hieße ihm nach Krone und Scepter greifen. Sein Recht auf
Begnadigung und folglich aus Verurtheilung bezweifeln zu wollen — die Magistratur
ist ja auch nur ein Zweig der Administration — hieße republikanische Gelüste an den
Tag legen, und das wäre doch jetzt wahrhaftig post lest» vantsre. Die Leute, die sich
anders denn aus Parteirücksichten oder aus persönlichem Hochmuthe so unerläßlichen
Veränderungen widersetzten, das heißt jene, die ehrlich eine Bürgschaft in der sogenannten
Controle, oder vielmehr eine Controle in einer solchen papiernen Bürgschaft sehen, sind
Spießbürger und Dummköpfe. Damit eine konstitutionelle Bürgschaft eine wahrhaftige
Controle, das heißt Selbstregierung, genannt werden könne, muß der ganze Inbe¬
griff der staatlichen Institutionen, die Summe der politischen Intelligenz und das
Wesen der politischen Sitten eines Landes der Art sein, daß die Regierung blos ein
Ausdruck des Willens der Gesammtheit sein kann. Nicht weil es das Gesetz so
will, sondern weil die Sitten ein solches Gesetz als selbstverständliches Corollarium
setzen. Darum erhält sich England und seine Constitution inmitten aller Stürme
der Zeiten. Das Gesetz beschreibt immer neue Kreise um die sich ändernden Ideen
und Sitten, diese treiben jene und nicht umgekehrt, diese wachsen und jene wachsen
blos mit und nach diesen. Wenn aber in Frankreich die Männer, die bisher dem
schonungslosesten Absolutismus das Wort geführt, nun dennoch zurückschrecken vor den
Consequenzen ihres eigenen Systems, so geschieht das nicht blos, — wie man anzu¬
nehmen bewogen sein könnte — weil der Absolutismus nicht Legitimität oder Organis¬
mus heißt. Die Leute fürchten im Kaiser den Socialisten, den rücksichtslosen Verändere!,
um sie nicht zu sehr zu kränken, wenn ich sagte, den Reformator. Diese Leute sind
dem ehemaligen Präsidenten nahe genug gestanden um zu wissen, daß er sein Kaiser¬
reich nur durch materielle Zugeständnisse an die Massen zu erhalten suchen werde. In
der Hand eines solchen Mannes, dessen bestes Wort der europäische Krieg und darum
das erste die aus sorialistischcn Veränderungen gelegene Popularität sein dürste, ist die
unumschränkte Verfügung mit dem öffentlichen Schatze und alles was sich hieranknüpft,
wirklich ein gefährlicher Hebel. Persönliche Vergeudung und Verschleuderung, das fürchten
unsere weisen Politiker am wenigsten, dabei könnte vielmehr noch Etwas für sie ab¬
fallen, das wäre nicht gar so fürchterlich. Sie erschrecken vor so radicalen Umänderungen,
daß sie später einmal selbst nur Socialisten werden müßten, wenn sie nicht für immer
auf jede Betheiligung an der Leitung der öffentlichen Angelegenheiten verzichten sollen.
Doch was will man jetzt thun als sich in das Unvermeidliche fügen? Ja wol, der Herr
befiehlt und die Unterthanen gehorchen, so stehen die Dinge jetzt. Die politischen Ka¬
balen werden sich aber durch die augenblickliche Niederlage nicht zurückschrecken lassen.
Das Land wird ruhig bleiben und das Kaiserreich ertragen so lange es ihm erträglich
oder gar wünschenswert scheinen wird, die Politiker aber werden nicht so lange warten,
sie werden dem Kaiser den Hof machen/und als Höflinge den Einfluß wieder zu ge.
wirren suchen, den sie als Minister und Gesetzgeber und Diplomaten verloren haben.
Man wird den Kaiser verheirathen, um durch seine Frau besser zu seinem Ohre
zu gelangen, man wird bei seinem Kammerdiener antichambrircn, um die Laune des
Herrn und so den günstigen Zeitpunkt für gewisse Einflüsterungen zu erlauschen,
man wird seinen präsumptivcn Nachfolger zu umgarnen suchen. Kurz, alle Ele¬
mente werden aufgebracht werden, die geeignet sein können, den Kaiser von seinen
demokratisch revolutionairen Hallucinationen zu heilen. Man wird ihm begreiflich machen,
wie solche unkaiscrliche Ideen wol gut genug sür den Prätendenten und Kronbewerber
gewesen, wie aber der Monarch, das gekrönte Haupt, andere Pflichten habe. Sie kom¬
men auch bereits herangeflogen, wie die Zugvogel, all die politischen Perasiten, die kei¬
nen Teller irgend einer Regierung voll sehen können, ohne sich zu Tische zu laden, um
dem Imperator ihre Bewunderung, ihre Reue über die Vergangenheit zu Füßen zu legen.
Dupin thut alles Mögliche, um sein Gewissen eines Momentes vergessen zu machen,
und es ist möglich, daß man schon aus der Rücksicht, die Tuilerien nicht ohne Calem-
bourg zu lassen, dem Supplicanten ein gnädiges Ohr leihen werde. Schmerzlich für
den großen Mann muß blos sein, daß ihm Cormcnin zuvorgekommen. Die Pagen
strömen dem Kaiser aus allen Familien zu, und wo nur eine Stelle, eine Sinecure oder
auch nur ein Hofplätzchcn im Salon Miene macht, leer zu sein, fallen die Competcnten
darüber her, wie die originalen Packträger um ein landendes Dampfboot.. Der Kaiser
läßt gewähren, der Spectakel freut ihn, obgleich er ihm nicht neu sein kann, und er
ist klug genug zu berechnen, welchen Nutzen er aus der Gemeinheit dieser Leute schöpft»
kann. Mittlerweile wird der Hof gebildet, die Chargen vertheilt, denn es gilt, bald
eine Kaiserin kaiserlich zu empfangen, und da muß denn auch Alles bereit sein. Wie
die Braut heißen soll, ist vorläufig noch Staatsgeheimnis?, allein eine Braut muß kom¬
men und sollte sie aus Amerika geholt werden. Man sagt aber, der Kaiser wolle nicht
in den Tuilerien bleiben und sich mit seiner kaiserlichen Gemahlin in die Gemächer der
Elysves zurückbegeben. Sollte dem Manne so schnell bange geworden sein?
— Das neue siinfactigeLustspiel von Moritz Hey trieb: „Prinz Lies¬
chen, ging in diesen Tagen über die Leipziger Bühne. Wenn die Ausnahme desselben
von Seiten des Publicums, welches sonst an eine große Pietät sowol gegen eingeborne
Dichter, als gegen Dichter, deren frühere Arbeiten ein bedeutendes Talent zeigten, ge¬
wöhnt ist, nicht so war, wie man es bei dem Dichter des „Tiberius Gracchus" hätte
voraussetzen sollen, so war wenigstens zum Theil ein Umstand daran schuld, auf den
wir einen Augenblick unsre Aufmerksamkeit richten müssen, so widerwärtig es auch ist.
Das Publicum fängt nämlich an, der gemeinen Lobhudeleien müde zu werden, mit
denen Freunde und Verehrer irgend eines Dichters jedes neue Werk desselben aus¬
zuposaunen pflegen. Es ist dieses Unwesen jetzt so arg eingerissen, daß man sich wol
versucht fühlen könnte, einmal ein sehr ernstes Wort darüber zu sprechen. Zwar kam
schon zur Zeit, der romantischen Schule das Cliquenwesen in Deutschland auf, allein
wenigstens in der Regel ging die Empfehlung poetischer Werke doch von solchen Män¬
nern aus, die wenigstens einigen Beruf zur Kritik hatten, wenn sie auch in einseitiger
Vorliebe oder Abneigung besangen waren. Man mag bei den Kritikern der romantischen
Schule das Endurtheil verwerfen, es wurde doch immer auf eine geistvolle Weise dieser
oder jener Gesichtspunkt hervorgehoben, der, wenn auch falsch angewendet, an sich doch
beachtungswerth war; heut zu Tage aber schaaren sich, um einer andern, noch schlim¬
mern Depravation zu geschweige«, um jedes Talent eine Reihe dienstbeflissener Anhänger
die keinen andern Beruf zur Kritik haben, als daß sie in dieser oder jener Kneipe mit
irgend einem Dichter angestoßen haben. Der eigenthümliche Zustand unsrer Journalistik
macht es möglich, daß diese völlig unberufenen Beurtheiln- auch stets Organe finden.
Sehr wenig Ausnahmen abgerechnet, wo ein Journal die Kritik mit zum Hauptgegen-
stand seiner Thätigkeit macht, wird die Kritik nebenbei ausgeübt, theils von politischen
Zeitungen, theils von Modejournalen, theils von Localblättern. Die politischen Zeitun¬
gen müssen solche Recensionen bringen, weil das Publieum erfahren will, was in der
Kunst oder Literatur in der Stadt Neues vorgekommen ist; in der Regel kommt es
ihnen aber nicht im Geringsten daraus an, aufweiche Weise das Urtheil ausgeübt wird;
sie geben das Feuilleton dem Ersten Besten in die Hände, der sich überhaupt bereit¬
willig erklärt, und wenn sie eine Auswahl treffen, so ist es höchstens die Rücksicht, daß
der Referent eine gewandte Feder führt und das Publieum zu amusiren versteht. Nur
in den allerseltensten Fällen wird auch nur darauf gesehen, daß die politische und sittliche
Ansicht des Referenten wenigstens ungefähr mit der des Blattes Hand in Hand geht.
Bei den Modejournalen ist es noch schlimmer, denn bei diesen ist es nicht blos Zufall,
wenn die Form wie der Inhalt des Urtheils absurd ist, sondern eS ist Absicht, denn das
Publieum derselben verlangt, um überhaupt angeregt zu werden, einen raffinirten Ge¬
schmack. Bei den Localblättern geht es eigentlich noch am naivsten zu. Der Kundige
kann sehr leicht die einzelnen Motive durchschauen; aber vielleicht thun gerade diese
Blätter den meisten Schaden, denn sie sind in vielen Kreisen die einzige Lecture. —
Wir begnügen uns vorläufig mit diesen Andeutungen. Dem Lustspiel von Heydrich
hat gegenwärtig der im voraus angefachte künstliche Enthusiasmus geschadet. Nicht
daß das Stück ein besseres Urtheil verdiente, aber man hätte auf einen begabten
Dichter größere Rücksicht genommen. — Der Inhalt der Posse ist eine bekannte
Anekdote, wie in den Zeiten Swgust des Starken ein als Mann verkleidetes Frauen¬
zimmer von dienstfertigen Behörden für den incognito reisenden Prinzen angesehen und
einige Tage als solcher gefeiert wurde, bis die Geschichte ein Ende mit Schrecken nahm.
Der Gegenstand, der an den „verwunschenen Prinzen" erinnert, bietet sehr komische
Seiten dar, und hätte zu einer erquicklichen Posse verarbeitet werden können. Aber bei
solchen Stücken, die auf komischen Verwechselungen beruhen, ist die Hauptsache, daß die
Verwickelung sich bis zum Schluß hin beständig steigert, und daß wir nie aus der
angemessenen Stimmung kommen. Herr Heydrich hat aber geglaubt, des Guten nicht
zu viel thun zu können, er hat statt des einen Knotens mehrere Knoten angelegt und
löst sie alle nach der Reihe aus, so daß das Interesse fast in jedem halben Act aushört
und immer neue Mittel ausgeboten werden müssen, um die erlahmte Theilnahme des Publicums
in Spannung zu halten. Das ist aber eine durchaus verfehlte Methode, deun wenn wir an
einer Anekdote unser Interesse und unsere Stimmung ausgegeben haben, so wird der
Dichter vergebens versuchen, dieselbe oder eine verwandte bei uns wach zu rufen. Statt
einfach bei dem Gegenstand zu bleiben und denselben so viel als möglich auszubeuten,
wie es im „verwunschenen Prinzen" aus die allervortrefflichste Weise geschehen ist, sucht
Herr Heydrich nach allen möglichen Reizmitteln, die außerhalb des Gegenstandes liegen.
So führt er ernsthafte Liebesscenen ein, die nicht zu der Stimmung passen, er schließt
mit einem großen Maskenaufzug und Ballet, und er malt sast zwei Acte hindurch eine
ganz unnöthige Betrnnkcnhcitssccnc aus. Das Letztere sollte endlich einmal aufhören.
Wer noch im Leben keinen Betrunkenen gesehen hat, hat sich auf der Bühne jetzt viel¬
fältig dieses erhebenden Schauspiels erfreue» können. Jeder Schauspieler von einigem
Nachahmungstalent und einiger Erfahrung kann einen Betrunkenen mit hinreichendem
Erfolg spielen, davon sind wir jetzt durch hundert Beispiele hinlänglich überzeugt. Die
Lustspieldichter sollten jetzt darauf denken, der Phantasie andere Bilder vorzuführen. —
Noch ein Wort an den Dichter. Herr Heydrich möge sich dnrch den Erfolg des
gegenwärtigen Stücks nicht abschrecken lassen, aber er möge daraus eine Lehre ziehen.
In seinem „Tiberius Gracchus" hat er das lobenswerthe Streben gezeigt, künstlerische
Mittel anzuwenden, er-hat sich streng an den Gegenstand gehalten, und wenn auch
nicht ein klassisches Werk geliefert, wie man damals meinte, doch wenigstens sehr gute
Versprechungen gegeben. Das Stück hat nicht so glänzenden Erfolg gehabt, als seine
Freunde es vielleicht vermutheten, und vielleicht in einer gewissen Verstimmung darüber
wirst er sich jetzt in ganz gewöhnliche Effccthascherci. Dabei kann ihn das veränderte
Genre keineswegs entschuldigen, denn das Lustspiel verlangt eben so viel Styl und
künstlerische Methode, als die Tragödie. Möge er bei einem neuen Versuch wieder die
alte künstlerische Gewissenhaftigkeit entwickeln. Ein ernstes, ehrliches Streben dringt
doch durch, und was die Hauptsache ist, sein eigenes Talent kann sich mir dann ent¬
falten, wenn er überall der Wahrheit nachgeht.--Ein anderes Lustspiel von
Eduard Boas: „Liebcsintrigncn", gehört in die Gattung der Reproductionen früherer
Stücke, die wir absolut Verwerfen müssen. Herr Boas hat eine Li.cbesgeschichtc des
Shakespeare darstellen wollen, ungefähr wie es Tieck in der Novelle: „Der Dichter und
sein Freund", gethan; dieser Intrigue selbst hat er aber wenig Raum gegeben und statt
dessen eine Menge komischer Personen aus Shakespeare's Stücken, namentlich aus:
„Was Ihr wollt" eingeführt, die nicht im geringsten Zusammenhang mit einander
stehen, und die an sich Viel schwächer find, als diejenigen, die wir bereits in Shake¬
speare haben. Außerdem läßt er, um den Ton der Shakespeare'schen Zeit zu treffen,
sämmtliche Personen, namentlich aber den Dichter, sich in beständigen Wortwitzen unter-
halten, die schon in den betreffende» Stellen Shakespeare'S ziemlich langweilig sind,, die
aber hier, wo sie gar kein Ende nehmen, geradezu unerträglich werden. Die Pointe
des Stücks ist, daß Shakespeare erklärt, er werde über die Erlebnisse des Abends ein
Lustspiel schreiben, welches den Titel führen soll: „Was Ihr wollt." Nun hat das
Shakespeare in der That gethan, und wenn er aus dem albernen Stoff, wie ihn uus
das gegenwärtige Slück potraitirt, wirklich ein so allerliebstes Lustspiel coniponirt hat,
wie: 5,Was Ihr wollt", so ist das sehr anerkennenswert!); aber diese Betrachtung
kommt Herrn Boas nicht zu Gute.--Sehr vortheilhaft gegen diese Stücke stach
das bekannte Lustspiel Von Alb in i ab: „Die gefährliche Tante", ans den ersten dreißiger
Jahren. Nicht als ob es irgendwie bedeutend wäre, aber der Dichter hat sich doch
die Mühe gegeben, bestimmte Figuren in scharfen Umrissen zu zeichnen und dem Schau¬
spieler Gelegenheit zu geben, sich natürlich zu bewegen. Freilich haben wir aus der
Ausführung' mit Schrecken gesehen, wie selbst im Vergleich mit jener Zeit das Theater
verwildert--Dagegen gab die Aufführung der Mozart'schen Oper: „Belmont
und Constanze", ein sehr 'befriedigendes Resultat und läßt uns wünschen, daß unsre
Theater sich ans diese reizende ältere Musik, die den feinsten Humor mit künstlerischem
Idealismus auf das Glücklichste vereinigt, ernsthafter wieder werfen möchten. — —
Wir hatten von dem berühmten Mohren oder Mulatten Jra Aldridg c eine Charak¬
teristik gegeben, so weit wir sie aus dem Eindruck, den die Vorstellung des „Othello"
aus uns gemacht, entnehmen konnten. Die Vorstellung des „Macbeth" hat an unsrem
Urtheil nichts geändert, nur war sie in jeder Beziehung schwächer, als die des Othello.
Dagegen hat er in der kleinen, für ihn eingerichteten Posse: „Das Vorhängeschloß"
gezeigt, worin eigentlich seine Stärke liegt. Er macht hier einen faulen trunksüchtigen
Negersclaven, der zur größern Hälfte Bestie ist und nur sehr schwach an ein menschliches
Wesen erinnert. Zwar ging die Naturtreue dieser Darstellung weit über die Schönheits-
linie hinaus und einzelne Scenen waren bis zum Ekel widerwärtig; aber er entwickelt
doch eine außerordentliche Kraft, das wirkliche Leben nachzuahmen. Nehmen wir noch
dazu sein Talent, Leidenschaften von etwas grober und wilder Art, so wie weiche
Gefühle darzustellen, so dürste das von den neueren Franzosen mit großer Virtuosität
ausgebildete Genre der rührend tragischen Possen, worin Frvdcric Lemaitre der berühm¬
teste Virtuose ist, und wovon wir in Deutschland im „Bajazzo" und dem „Lumpen¬
sammler" bemerkenswerthe Beispiele gesehen haben, dasjenige sein, in dem er seine Art
Talent am unbefangensten entfaltet, und zu dem er eigentlich bestimmt ist.
Neulich bot uns das Theater den seltenen Genuß, die große Arie der Agathe aus
dem „Freischütz" von einem Mamsellchen zu hören, das Höschen und lange Zöpfe trug,
und mit einer Bekleidung, welche sonst nur in Palleten angewendet wird. Wenn wir für
dieses Attentat gegen das Publicum den glimpflichsten Ausdruck suchen, so können wir
es nur Unverschämtheit nennen. Die kleine Dame tragirte aus der Bühne herum,
wie eine Alte, sie hob ihre Augen gen Himmel und entsandte dann die
nöthigen Blicke in sämmtliche Logen. Was soll einmal aus einer so verkümmerten
Kindheit werden? Sie hat eine sehr hübsche Stimme und auch eine hinlängliche Dressur,
aber sie wird durch ihre frühzeitigen Uebertreibungen ein Ende nehmen, wie die ge¬
wöhnlichen Harfenmädchen. Auch als Schauspielerin hat diese junge Dame fungirt; sie
hat mit ihrem kleinen Bruder, der ihr unter den Aruni hindurch ging, und ihrer noch
kleinern Schwester ganze Lustspiele zum Besten gegeben. Ein eben so schauderhafter
als beklagenswerther Anblick. Wenn man in den Meßbuden einem verehrlichen Meß-
publicum Affen-, Hunde-, Puppen- und Kinderkomödien vorführt, fo läßt sich nichts
dagegen einwenden; aber das Leipziger Theater scheint denn doch nicht der Ort zu
dergleichen.
Von Andersen sind eine Reihe kleiner Bilder
und Geschichten nach dem Dänischen in zwei Sammlungen erschienen, von denen die
eine „Historien,, (Karl B. Lorck in Leipzig), die andere „Winterabendgcschichten". (M.
Simion's V., Leipzig) heißt. In der ersten stehen einige Bilder mehr, die zweite ist besser
ausgestattet. Die Vorzüge und Schwächen Andersen's befähigen und veranlassen ihn,
mit besonderer Vorliebe dieses Genre der kleinen Malerei, bei dem eine Gesühlspointe im
Hintergründe liegt, zu cultiviren. Man wird dabei lebhaft an die Parabeln der seligen
Agnes Franz erinnert.— Noch ein kleines Souvenir für deutsche Frauen und Jung¬
frauen, (Leipzig, M. Simion's V.) kleine Bilder, Monatlieder, leere Seiten zum Be¬
schreiben und dahinter eine Sammlung lyrischer Gedichte enthaltend. Das anspruchlose
Büchlein würde einen bestimmten Zweck bekommen haben, wenn der Verleger die Prosa
eines regulairen Kalenders, den doch zuletzt auch eine poetische Jungfrau nicht ganz
entbehren kann, damit verbunden hätte.— Unter den zahlreichen Bilderbüchern erwähnen
wir „Knecht Ruprecht, eine Weihnachtszeitung für -1852 von Johann Traugott."
(Dresden, Löschte). Es sind einige hübsche Holzschnitte dann, Gedichte und Kinder-
lieder mit Molodien. Von allen Zeitungen der Welt nimmt diese wohl die wenigste
Zeit in Anspruch, sie erscheint nur einmal im Jahre. — In „Fabeln und Erzählungen
für kleine und große Kinder von Karl Fröhlich" (Kassel, Friedrich Scheel) ist ein
Kinderfreund, welcher geschickt und sinnig Bilder mit der Scheere aus schwarzem Papier
ausschneidet, aus die Idee gekommen, solche Ausschnittbildcr in das Bilderbuch setzen
zu lassen und wohlwollende Kindcrverse dazu zu machen. Die originellen Bilder sind
merkwürdig geschickt gemacht. — „Die guten Kinder" (Buchholz, G. Adler) ist ein
Bilderbuch für Kleine, dessen colorirte Zeichnungen zum größten Theil von Erwin O eh nie
sind und die Eigenschaften in Anspruch nehmen, welche wir bei solchen Bildern für
zweckmäßig halten. Es sind hübsche Gruppen und freundliche, anständige Kinder,
welche uns aus den Blättern cntgegenlachen.
Die Grenzboten beginnen am 1. Januar den XII. Jahrgang.
Die unterzeichnete Verlagshandlung erlaubt sich zur Präimmeration einzuladen
und bittet die Bestellungen möglich schnell auszugeben, damit in der Expedition kein
Aufenthalt eintritt. Me Ruch Handlungen und Postämter nehmen ZZestetlungen an.
Leipzig im December 1832. Fr. Ludw. Herbig.