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]]> Freiheit, Die neue deutsche , von » 22/23, 2S7
i—
Sternfeld, Richard, Die nationale Einigung
Italiens im ig. Jahrhundert > , . . 14/15, 44
Tschischwitz, Erich v., Antwerpen 1014 . 22/23, 251
» , * Deutsche BolkSgemeinschast . . 25/26, 280
Es muß daher in der Nation das Gefühl des Unwillens
erhalten werden über den Druck und die Abhängigkeit von einem
fremden übermütigen, täglich gehaltloser Werdenden Volke. Man
muß sie mit dem Gedanken der Selbsthilfe, der Aufopferung des
Lebens und des Eigentums, das ohnehin bald ein Mittel und
ein Raub der herrschenden Nation wird, vertraut erhalten, man
muß gewisse Ideen über die Art, wie Widerstand zu erregen und
zu leiten, verbreiten und beleben. Hierzu werden sich mehrere
Mittel auffinden und anwenden lassen, ohne daß die Negierung
dabei tätig ist, die aber bei schicklicher Gelegenheit und unter
günstigen Umständen diesen Geist wird benutzen können.
enden im Januar und März vorigen Jahres der Aufstand in
Mitteldeutschland und im Nuhrgebiet tobte, ist mehr als ein Jahr
vergangen. In meinen Händen lag damals in Westfalen und in
Teilen des unbesetzten Rheinlandes die ausübende Gewalt, die auf
meinen Antrag infolge der Januarunruhen im März mit sehr
erweiterten gesetzlichen Vollmachten ausgestattet war. Die Aufgabe war: den
Brand zu löschen, des Aufstandes Herr zu werden. Bevor die Aufgabe restlos
gelöst war, sah ich mich genötigt, voll einem Posten zurückzutreten, auf dein man
mir bei Durchführung meiner Aufgabe Arme nud Beine zu binden versuchte, indem
man die außerordentlichen Vollmachten gerade in dem Augenblick, wo ich sie für
den Endzweck am notwendigsten brauchte, wieder einschränken wollte. Anstatt den
Brand zu löschen, den Aufstand niederzuschlagen, begnügte man sich damit, die
Glut des Feuers zu dämpfen und denen die Türen offen zu lassen, die sich gegen
Volk und Vaterland vergingen, die den Landes- und Hochverrat auf ihre Fahnen
geschrieben hatten. Mehr will ich über diese Angelegenheit nicht sagen.
Ein Jahr habe ich geschwiegen, habe mir Zurückhaltung auferlegt, um auch
nicht den geringsten Anschein zu erwecken, als wolle ich meine Person über die
Sache stellen und anderen Veranlassung zur Verhetzung geben. Die Zeiten seit
meinem Abgange haben aber meine Ansichten nicht geändert und die Vorgänge der
letzten Wochen zwingen mich/ meine Zurückhaltung aufzugeben und ein Wort mit-
zusprechen.
Daß ich auf dem Gebiete der inneren Unruhen nach anderthalbjähriger
Tätigkeit im Industriegebiet einige Erfahrungen besitze, daß ich insbesondere mir
ein Bild machen konnte und kann, wie seitens der Kommunisten und ihres rechts
und links benachbarten Anhanges Mittel und Wege für Aufstände und Staats¬
umwälzungen vorbereitet und gewählt werden, wird Wohl niemand bezweifeln.
Der Öffentlichkeit ist der ganze Zusammenhang der Vorgänge im Ruhr
und rheinisch-westfälischen Jndnstrigebict vor einem Jahre lange nicht genügend
bekannt geworden. nahezu anderthalb Jahre wurde dort ein Kampf gegen den
radikalen Umsturz in den verschiedenartigsten Phasen geführt. Was half die Einsicht
großer Massen verständiger Elemente und immer ordnungsliebender werdender
Arbeiter gegenüber dem radikalen Willen verhetzender Ordnungsfeinde. Es wieder¬
holte sich immer dasselbe Bild: den mächtigen Schutz einer ordnungsliebenden
Macht der manchmal wirklich Gutes wollenden Regierung entbehrend, wurden sie
mitgerissen durch den rücksichtslos einsetzenden Terror der Minderheiten.
Die Aufstände der jüngsten Zeit sind ja nicht im entferntesten zu ver¬
gleichen mit jenen Kämpfen, die sich vor einem Jahre dort unten im Industrie¬
gebiet abgespielt haben. Es waren diesmal Teilerscheinungen, lokale Erhebungen
ohne zündende Parole, die auf Anstifte,: einiger besonders ehrgeiziger und dabei
gewissenloser Führer entstanden. Die unabhängige Sozialdemokratie ist von
Anfang an von der ganzen Bewegung offensichtlich abgerückt. Die Oberleitung
der kommunistischen Parteien hat keine Parolen ausgegeben) im Gegenteil, ihr
schienen die jetzigen Aktionen alles anderes als erwünscht. Inwieweit die Aus
breitung der Unruhe» durch nicht genügend rasches, rücksichtsloses Einschreiten
begünstigt worden ist, mag dahingestellt bleiben. Vielleicht hat man mich geglaubt,
die ordnungsliebenden Elemente in Deutschland herausfordern zu können, um dann
zum allgemeinen Gegenkampf aufrufen zu dürfen. Wie dem auch sei, wieder
erwies sich, daß Minderheiten Gutgesinnte terrorisieren, daß an Ruhe und Ordnung
in Deutschland noch lange nicht zu denken ist, und daß die vielen Waffen, die sich
in Deutschland an versteckten Orten noch befinden sollen, tatsächlich in Massen
noch in Händen der Unruhestifter und Kommunisten sind, daß die deutsche Schutz¬
polizei dank der Diktate der Entente mit Pistole und Karabiner gegen schwere
Maschinengewehre anrennen mußte. Das geht ja auch aus der Anerkennung
des Oberpräsidenten der Provinz Sachsen an die Schutzpolizei hervor, die gegen
einen „numerisch stärkeren und technisch besser ausgerüsteten Gegner" kämpfen mußte.
Das in Sachsen eingeschlagene Verfahren hat verteufelte Ähnlichkeit mit dem, das
man mir im Vorjahre aufdrängen wollte. ES entspricht vielleicht der Auffassung
gewisser zaghafter Teile der Bevölkerung, führt aber zu unverhältnismüßigeii
Verlusten bei der Schupo ohne sichere Gewähr für durchschlagende«: Enderfolg.
Man schafft Gesetze über Waffenabgabe und Entwaffnung, die sich, wie unter
anderem ihre hohen Geldstrafen erkennen lassen, in erster Linie gegen Freunde
der Ordnung und solche Organisationen richten, die für Ruhe und gesetzliche
Zustände sorgen wollen. Zu gleicher Zeit verspricht derselbe Oberpräsident, der
nachträglich den Ordnungstruppen seine Anerkennung ausspricht und der noch vor
knapp einem halben Jahre alle Nachrichten über die „rote Armee in Sachsen" als
übertrieben hinstellte, den Aufständischen, bei der Waffenabgnbe nicht nach deu
Namen der Gesetzesübertreter und Landesverräter zu fragen. Diejenigen aber,
die sich in Selbstschutzvrganisationen zusammengefunden haben, werden mit strengen
Strafen bedroht. Und bedauerlicherweise besteht die Tatsache, daß weite Kreise
unseres Volkes sich gar nicht klar sind über die Gefahren, in denen sie schweben,
Gefahren, die den ganzen Willen zum Wiederaufbau gegenstandslos machen. Auch
hier erlebt man wieder dasselbe Bild- der ordnungsliebende Deutsche läßt sich
nicht aufklären.
Wie schwer es damals im Ruhrgebiet gewesen ist, die Allgemeinheit, ja
selbst verantwortliche Stellen über die tatsächlich bereiten Kräfte aller Umsturz-
bewegnngen und über die dem Staate und allen Ordnungsliebenden drohenden
Gefahren aufzuklären, wissen diejenigen am besten, die an leitender Stelle im
dortigen Gebiet gewirkt oder Einblick erhalten haben. Noch mehr als damals
befinden sich heute Negierung und vaterländisches Volk in Gefahr, noch mehr als
damals stehen sie vor der Frage, wie sie gegebenen Falles in Notwehr
handeln sollen. Schon beginnt das Gefühl der Unsicherheit und des Wehrlos¬
seins sich in der ordnungsliebenden Bevölkerung Mitteldeutschlands fühlbar zu
machen. Aus sich heraus sendet das deutsche Volk jener Gegenden telegraphische
Hilferufe nu die Reichsregierung und die preußische Landesregierung. Man fordert
Reichswehr, man verlangt das Recht des Selbstschutzes, ja man droht, sich zum
Selbstschutz zu organisieren. Man erkennt die Notwehr, in der man sich befindet.
Solange es geordnete Rechtsverhältnisse gab und geben wird, ist die Not¬
wehr ein Grundrecht aller Staaten und Volker. Die Notwehr berechtigt jeden
einzelnen, dort, wo anderer Schutz für ihn ausbleibt, von diesem äußersten Mittel
Gebrauch zu machen, um sein Leben und sein Eigentum vor widerrechtlicher Ver¬
gewaltigung zu schützen. In der ganzen Welt ist dies anerkannt, und das öffent¬
liche Rechtsgefühl geht so weit, daß man es dein Mann als unfrei und unmännlich
verdenke, wenn er zur Verteidigung des Heiligsten davon nicht Gebrauch macht.
Was für den einzelnen innerhalb des Staatslebens gilt, ist auch in den all¬
gemeinen Gebrauch und die Auffassung des Völkerlebens übergegangen. Ein
Staatengebildc, das, in räuberischer Weise in seiner Existenz und nationalen
Ehre bedroht, nicht zur Notwehr greift, verliert die Achtung und Geltung im Kreise
seiner Mitstaaten. Die ganzen Grundsätze idealer Schwärmer zerfallen vor der
unumstößlichen Tatsache, daß die Erde nicht von Engeln, sondern von Menschen
bewohnt ist, mit allen ihren Fehlern, Gebrechen und verbrecherischen Neigungen.
Der Versailler Vertrag, die Konferenzen von Spa und London und schwächliche
eigene Haltung haben dazu geführt, daß die realen Machtmittel des Staates auf
ein Maß zurückgebildet werden mußten, daß sie nicht nur nach unserem Urteil,
sonder» anch nach dem Urteil maßvoller Neutraler und Ausländer nicht mehr
genügen, uni Aufruhrbestrebungen im Innern oder räuberischen Bedrohungen
unserer Grenzgebiete unbedingt Herr zu sein. Wir sind machtlos gemacht. Diese
Erkenntnis hat sich Wohl allmählich mit Erschrecken durchgerungen. Sie muß eine
bleibende Aufmunterung sein für alle diejenigen Elemente, die, sei es im Innern,
sei es an den Grenzen, in verbrecherischer Weise zum Umsturz drängen. Ein
"
vaterländisches Empfinden und ein Verständnis für die wahren Folgen ihres
Tuns fehlt diesen Menschen. Damit ist nicht nur der Bestand Deutschlands
gefährdet, sondern Hort auch das Gefühl auf/ daß Leben und Eigentum und die
Freiheit der Arbeit geschützt sind. Der Reichsregierung will ich leinen Vorwurf
über Eintreten dieser Verhältnisse machen. Sie ist durch die von ihren Vor¬
gängern übernommenen Verträge gebunden. Wer will demgegenüber leugnen, das;
das Grundrecht der Notwehr in vollem Maße auf uns zutrifft. Die Notwehr
des einzelnen ans das Staatswesen übertragen, führt zu der moralischen Berechti¬
gung von auf Notwehr eingestellten Notschutz- und Selbstschutzverbänden. Sie
sind in ganz geordneten Staaten mit festen und genügenden staatlichen Macht¬
mitteln beinahe durchweg in irgendeiner Form vorhanden, oder werden in neuester
Zeit, den allgemeinen Zeitverhältnissen, dem drohenden Umsturz Rechnung tragend,
gebildet. Das einzige Argument, das innerhalb Deutschlands gegen sie von ängst¬
lichen und die Verhältnisse nicht klar überblickenden Seiten geltend gemacht wird,
ist das ewig wiederkehrende Gespenst der Reaktion und des Mißbrnuchs dieser
Organisationen zur Ausführung reaktionärer Absichten. Diese Furcht hindert die
ordnungsliebenden Elemente des Staates in großen Teilen Deutschlands, sich
machtvoll zusammenzuschließen. Gemähre wird dieser Argwohn durch die begreif¬
liche Agitation der Elemente, die die Straße beherrschen wollen. Sie wissen
genau, welche Macht Organisation bedeutet, und haben das brennendste Inter¬
esse daran, sie auf sich allein zu beschränken. Und der Deutsche legt seinen
Fehler nicht ab, sich durch jede geschickte Propaganda Meinungen und Ansichten
aufdrängen zu lassen. Nun endlich einmal weg mit all den erfundenen und
erdichteten Befürchtungen vor drohender Reaktion und klaren Blick für die uns
vorliegende Notwendigkeit und Berechtigung der Notwehr!
Gelingt es Deutschland nicht, endlich einmal im Innern geordnete Verhältnisse
herzustellen und den immer wieder drohenden Umsturz zu verhindern, so reißt die
Welle ganz Europa mit. Die Folgen lassen sich in ihrer verheerenden Wirkung
aber mit dem schon abschreckend genug dastehenden Rußland nicht vergleichen.
Deutschland hat daun einfach ausgespielt.
Waffen sollen wir nicht mehr haben! Aber wir können auch mit Herz und
Sinn, mit Geist und Verstand, mit Vaterlandsliebe, Stammesbewußtsein und
trotziger Entschlossenheit uns zusammenschließen, unser Notwehrrecht organisieren.
In Bayern ist auch das gelungen/ dort reicht jeder in jeder Form die Hand
zum Schutze des Landes. Das sind keine Reaktionäre, die sich in den Selbst¬
schutzorganisationen zusammengefunden haben, das sind Männer aller Klassen »ut
Berufe, das sind alles Gutgesinnte und Ordnungsliebende. Die Leitsätze des so
oft verleumdeten Escherischbundes sind so kurz und klar, daß der Schutz Deutschlands
und der ordnungsliebenden Deutschen und sonst nichts ihre beschivorene Aufgabe ist.
Und nun noch eine Frage, die doch jeden: Deutschen zu deuten Veranlasst»ig
geben sollte: Was veranlaßt, denn eigentlich unsere äußeren Feinde uns in diese
auch nach innen hilflose Notwehrlage zu versetzen?
Was innerhalb der Entente vorgeht, zu beurteilen, ist nicht der Zweck dieser
Zeilen. Tatsache ist, daß hinter allen ihren dringenden Forderungen in erster
Linie der eiserne Vernichtungswille Frankreichs steht. Er gebietet, und dadurch
tritt die Erkenntnis zurück, die sich denkenden Menschen in den uns bisher feindlich
gesinnten Ländern aufdrängen müßte. ES ist neben dein durch ein Menschenalter
hindurch genährten fanatischen und sadistische« Haß die zitternde Angst vor
Deutschland. Die machtvolle Überlegenheit des unvergleichlichen deutscheu BolN-
hecres hat Frankreich trotz des ihm schließlich zugefallenen Sieges zu klar erkannt.
Die Erkenntnis davon liegt ihm lähmend in den Gliedern. Es fürchtet Vergeltung,
und daher läßt sich die Masse leicht betören durch das angstvolle Gespenst eines
bevorstehende» Angriffs Deutschlands. Abgesehen davon, daß Deutschland niemals
Frankreich angegriffen hat/ ist es Wahnsinn/ der den ans ihre militärischen
Fähigkeiten pochenden französischen Führer eigentlich nicht zuzutrauen sein sollte,
anzunehmen, daß ein tatsächlich entwaffnetes Volk gegen einen mit den modernen
Kampfmitteln übersättigt ausgerüsteten Gegner zum Augriff schreiten könnte.
Das ist unter den jetzt gegebenen Verhältnissen eine faktische Unmöglichkeit. Ein
paar tausend Gewehre mehr oder weniger ändern an dieser Sachlage nichts.
Wenn von der Gegenseite als Schuld Deutschlands angeführt wird, daß
wir in deu beiden letzten Kriegen tatsächlich angegriffen hätten, indem wir nach
Eröffnung des Krieges diesen strategisch und taktisch angriffsweise geführt haben,
so ist das eine Täuschung der öffentlichen Meinung, deren Grundzweck allzu durch¬
sichtig ist. Wir haben den Krieg immer nur von dem bewährten Preußisch-deutschen
Grundsatz aus geführt, daß der Hieb die beste Parade ist, und sind deshalb, nach¬
dem uns der Krieg aufgezwungen war, schnell zum Augriff übergegangen. Niemals
aber hätten wir, wenn uns Frankreich in Ruhe gelassen hätte, von uns aus dieses zum
Kriege genötigt. In Wahrheit Null Frankreich, daß Deutschland als Staat von der
Karte verschwindet. Aber dieses Recht des Lebens, der Existenz und des Schutzes
unseres Landes und unseres Eigentums können lind dürfen wir uns nicht nehmen
lassen. Lassen wir die Erfahrungen der letzten beiden Jahre um unseres lieben
Deutschlands willen uicht ungenutzt. Beseitigen wir endlich einmal gegenüber allen
uns so zahlreich umdrängenden Gefahre» das gegenseitige Mißtrauen, alle Partei¬
interessen und stellen wir uns nur ein auf die lebenswichtigste Frage der Erhaltung
Deutschlands, deutschen Lebens, deutschen Fleißes und der Möglichkeit des Wieder¬
aufbaus oder der Wiederaufrichtung aus der furchtbaren Lage. Dann aber wird
die Überzeugung auch in jedem Deutschen mächtig durchbrechen: wir brauchen als
Gebot der Notwehr und nicht zum letzten Ende als Stütze unserer verfassungs¬
mäßigen Regierung einen Selbstschutz. >
ter Krieg vor dem Kriege begann, als Deleassö nach Faschoda
(1898) die Lntsuts ooräials zwischen dem 1870 beleidigten französi¬
schen Vormachtstreben und der seit Mitte der neunziger Jahre
entfalteten britischen Handelseifersucht gegen Deutschland wob.
Dieser Krieg vor dem Kriege dauerte bis 1914. Die Geschichte
hat ihr Urteil darüber gesprochen, daß die Offensive in diesen: grundlegenden
Kriegsabschnitt nicht bei dein Tugendbund Dentschland-Osterreich-Jtalien war.
Sie lag bei den die geographische äußere Linie und die Blockiernugsmöglichkeit
benutzenden „einkreisenden" Mächten, die Deutschland vor die Alternative militäri¬
scher oder „friedlicher", d. h. diplomatisch-merkantiler Erdrosselung stellen konnten
und gestellt haben, seit es ihnen gelungen war, den „dummen Russen" als starken
Kerl vorzuspannen. In der zweiten Kriegsphase, die von? Juli 1914 bis zum
Oktober 1918 dauerte, waren die Kriegsmittel des feindlichen Bundes auch nicht
ausschließlich, nicht einmal vorwiegend militärischer Natur. Doch gehen Nur
heute darüber hinweg, um nicht zu komplizieren.
Der Krieg nach dem Kriege, um mit Clemeueeau zu sprechen, begann
im Oktober 1918, die dritte Phase, die man als die der Vertrngsschraube bezeichnen
kann. Sie endigte erst im März 1921 in London. Dort begann die bisher letzte
Phase, in welcher sich die offene Gewalt des Feindes von dem Schein des
Vertrags abgelöst hat. Diesen Einschnitt richtig zu verstehen, bedingt für uns
die einzige Möglichkeit, unsere Taktik in diesem vierten Kriegsabschnitt vielleicht
treffender zu gestalten als in den drei früheren, in denen wir stets an falscher
Einschätzung des Willens und der Mittel des Feindes gescheitert sind.
Wie kam es beim Feind zu diesem Wechsel der Methode?
Als Deutschland im Oktober 1918 sein erstes parlamentarisches Kabinett
erhielt und einige Monate später Professor Wilson den Ozean in umgekehrter
Richtung wie Columbus überfuhr, war die Methode der französischen und eng¬
lischen Staatskunst gegeben: einen Narren durch den anderen zu leimen. Wir
schlössen zuerst einen Vierzehn-Punkte-Vorvertrag, dann einen Waffenstillstcmdö-
vertrag, dann verschiedene Verlängerungsverträge, dann einen Friedensvertrag,
dann einen Spavertrag. Der Inhalt dieser Verträge war, verschieden. Gleich¬
bleibend war, daß wir jedesmal ein Stück Papier empfingen, worin wir auf die
im vorigen Papier behauptete Position verzichteten, und daß wir jedesmal in
kaum glaublichen Vertrauen auf die Endgültigkeit solcher Verträge glaubten, von
nun an ginge es nicht mehr weiter abwärts, vielmehr aufwärts, denn eigenes
Interesse des Feindes, Einsicht seiner demokratischen Volksmassen oder irgendeine
andere transzendentale Idee würde die „Revision" unerfüllbarer, aber von uns
unterschriebener Diktate bringen.
Die Methode, wie diese Verträge geschlossen wurden, stabilisierte neue
Verkehrsarmen. In der einen Hand den Revolver, in der anderen die Peitsche,
machten die englisch-französischen Bändiger der ,<Zorma« So^ klar, daß sie als
das verworfenste Geschöpf des Tierreichs, kaum des AuSspuckens wert, einfach zu
springen, nicht aber zu verhandeln habe. Ganz so deutlich wünschten es die
jeweiligen deutschen Unterhändler nicht zu empfinden. Sie gewahrten nur jedes-
mal ein kaudinisches Joch, nnter dem ihr ehrlicher Männernacken zum besten des
Paterlandes hindurch mußte. Da der deutsche Friedenswille sich durch jedes noch
so niedrig gespannte Joch zwängte, in der festen Überzeugung, sich mit dem
Palmenzweig des Friedens auf der anderen Seite des jeweils unwiderruflich
letzten Joches wieder zu voller Menschengröße aufrichten zu können, so begann
ein ungleicher Kampf deutschen Friedens- und englisch-französischen Vernichtungs¬
willens. Letzterer mußte das Joch immer tiefer schrauben. Für London wurde be¬
schlossen, die Forderungen so zu stellen, daß entweder die Schuldknechtschaft mit voll¬
ständigem Pfändungsrecht auf jedes noch nicht geraubte deutsche Privatvermögen auf
einen letzten Schlag vertraglich unterschrieben oder bei einer Weigerung (und dieses
letzten Schlages mußte doch Deutschland sich weigern!) die vertmglvse Gewalt
einsetzen würde, die allerdings mühsamer und ungewisser zum Ziel kommt.
Das Unerwartete geschah. Menno Simons, Bischof der Mennoniten und
Simonisten") des Auswärtigen Amtes, überzeugt, daß bitterste Not, nicht Ver-
nichtnngswillen, den Gegner zu seiner Jocherrichtung dränge, und selbst nicht
gewillt, Böses mit Bösem zu vergelten, erklärte zwar zunächst wieder einmal, wie
stets, die Forderungen für unannehmbar. Am dritten Tag aber und nach heftigem
Rauschen in seiner Seele schob er den Palmenzweig wiederum, wie stets, durch
das Joch von Caudium, bereit, das Unannehmbare zunächst mal auf fünf Jahre
anzunehmen.
Das geschah für niemand unerwartet, da die furchtsame Wahrheitsscheu
unserer parlamentarischen Außenminister längst die Möglichkeit ausschloß, daß sie
etwas Unannehmbares etwa nicht annehmen könnten. Aber nun, geschah das
Unerwartete. Der durchgekrochene Römer wurde von den Samnitern nicht leut¬
selig auf die Schulter geklopft, worüber er sich immer so freut, sondern diesmal
mit einer klatschenden Ohrfeige empfangen.
Der Versailler Bertrag wurde ihm zerrissen vor die Füße geworfen. Denn
er hatte seiue Aufgabe, uns in unerfüllbare Verpflichtungen zu verstricken, erfüllt.
Die französische Maxime „avilir, xuis 66molir" war bezüglich des ersten Teils
erfüllt. Man konnte sich von jetzt ab ausschließlich dem zweiten Teil hingeben.
Keine deutsche Selbstdemütigung bot jetzt dem Feind noch einen genügend raschen
Fortschritt. Er glaubte vielmehr, daß die Willens- und Widerstandskraft in dem
nicht nur alleinstehenden und entwaffneten, sondern auch in unehrliches Bekennen von
Kriegsschuld und Kriegsschulden verfangenen Deutschland so sehr auf den Nullpunkt
gesunken wäre, daß man an die Stelle der vertraglichen Daumschrauben für den
ausgeplünderten Schuldigen und Schuldknecht nunmehr unbedenklich Vertragslose
Sanktionen, d. h. willkürliche Pfändungen oder Amputationen der noch Lebensreste
zeigenden Gliedmnßen seines Volkskörpers setzen könne.
Der tiefste Grund unseres Unglücks ist unser hartnäckischeS Sträuben, das
Kriegsziel des Feindes zu erkennen. Er selbst hat uns dieses Erkennen allerdings
früher nicht ganz so leicht gemacht, wie jetzt seit London. Die Eigenart des
Deutschen, entweder praktisch nur auf nächste nüchterne Geschäftsziele zuzustreben "
oder aber unpraktisch nach edlen Menschheitszielen zu fliegen, hatte zur Folge,
daß sowohl die bedeutenden Realpolitiker unseres Auswärtigen Amts und unserer
Geschäftswelt auf eine kühlverständige Verständigung mit England hofften, als
auch unsere hochgestimmten parlamentarischen Idealisten, die Denkcrgruppe unserer
Fraktionen und BethmcmnklnbS, mit eherner, unerschütterlicher Konsequenz die
Erzwingung eines wahren Weltfriedens in die Hand nahmen, indem ihr liebes
Deutschland zunächst einmal mit dem guten Beispiel der Selbstcntwaffnung,
Selbstanklage, Selbstbuße den anderen suggestiv voranging. Diese Methode, die
unsern durch Bismarck wohlhabend gewordenen Haus im Glück mit geschwinden
Tausch von Illusionen und Verträgen in die jetzige, nur noch bedingt lebensfähige
Lage gebracht hat, sieht seit London ihre letzten Reiz- und GlaubeuSmittel
erschöpft. Denn der Krieg nach dein Krieg verdeutlicht jetzt rückwirkend auch den
Weltkrieg sowie deu Krieg vor dem Kriege. ES kommt also nicht auf Ver
ständigung, sondern — in: Angesicht des Todes, wo man die Wahrheit erblickt,
sei es endlich ausgesprochen — eS kam und kommt deu Franzosen auf die Rhein-
grenze und die Entvölkerung, den.Engländern auf die Berkrüpplung des dentschen
Handels schlechtweg an! Das KvooK out, die vingt nüMons So trop sind also
das letzte Wort. Die Wegnahme der Provinzen, der Kolonien, der Schiffe, der
in früheren Jahrhunderten noch geschützten Privatbesitztümer, der Handelsrechte,
der Strompvlizci, dies und noch alles andere dazu vermochte Michel sich so aus¬
zulegen: „Nur dies noch, und dann . . . kommt die Verständigung, auch Revision".
An den Londoner Sanktionen aber holt der mauereinrcnnende deutsche Idealismus
sich ein Schädelweh, und selbst der Reichstag sieht dein sein „Herr, vergieb uns
unsere Schulden, wie wir vergeben unseren, beinahe unschuldigen, Schuldigern"
murmelnden auswärtigen Bischof diesmal mit scheuem Blick zu, vergibt ihm aber
und behält ihn im Amt, denn er weiß ja nicht, was er tut, und der Reichstag
weiß es auch nicht.
Die Frage, ob der Feind sein Kriegsziel erreichen wird, läßt sich mit
Gewißheit bejahen, falls der Bethmannklnb die Führung der Geschäfte behält.
Denn schon hören wir, daß Simons der Entente im Rheinland sein deutsches
Zollbeamtenpersonal zur Verfügung stellen Null. Schon hören wir, daß wenigstens
von teilweiser Entschädigung der durch die 50prvzentige AuSfuhrpfänduug betroffenen
Handelshäuser die Rede ist. Wie immer: „erst winseln die Deutschen, dann
kriegen sie den kurzen Wutanfall und sagen „Niemals", und drittens arrangieren,
d. h. tuschen sie sich". Wie immer, haben wir dafür Gründe. Diesmal meint
Simons: Wenn wir der Entente unser Personal zur Verfügung stellen, wird die
Einziehung weniger streng. Also ein kleiner Diskont soll errungen und dafür des
Feindes Ziel ihm erreichbar gemacht werden. Um die Linsensuppe der kleinen
Abstriche haben wir bisher noch immer Würde, Ehre und Zukunft der Nation
veräußert. Fangen wir an, den widerrechtlichen Zoll mit einzusehen und die
beraubten Exporteure, mit irgendeinem Hintenhermn zu entschädigen, so ist die
Abtrennung des Rheinlandes und die dauernde Sklaverei des deutschen Außen
Handels gewiß. Und da die Entziehung der Einnahmen aus unserer Ausfuhr
unsere Fähigkeit/ im Ausland zu kaufen, erdrosselt, tritt auf dem Weg der von
uns irgendwie anerkannten Sanktionen auch eine automatische Blockade, und daraus
folgender Arbeitslosigkeit, Hunger, Selbstzerfleischung und Volksverminderung el».
Im folgenden werden deshalb Vorschläge gemacht, dahinzielend, daß der
Feind dieses Kriegsziel nicht erreichen kann.
Die Waffe eines Volkes in unserer Lage ist die passive Resistenz. Völker,
denen eine solche Lage weniger neu ist, haben sie längst mit Erfolg angewandt,
und ganz neuerdings haben die Inder in dem Augenblick, da sie durch ihre bis¬
herige Resistenz die Engländer zu der großen Konzession einer Nationalvertretung
gezwungen haben, wieder einen Schritt weiter getan durch das sich ausbreitende
und befolgte Losungswort: „Kor oooxeration", d. h. grundsätzliche Ablehnung
irgendeines Zusammenwirkens mit dem unterdrückenden Herrschervolk.
Als wir unsere Gesandten aus London, Paris und Brüssel zurückriefen,
konnte man einen Augenblick an so etwas bei uns glauben. Die Industrie und
der Zentralverband des deutschen Großhandels, auch eine Reihe örtlicher Wirtschafts
faktoren sind der Regierung mit gutem Beispiel vorangegangen, indem sie zum
Boycott aller nicht unbedingt notwendigen feinderzeugten Waren ausriefen. Die
Gesellschaft hat hier den Staat zu erziehen/ versagt diesmal die Gesellschaft nicht,
so ist ein großer, vielleicht der entscheidende Schritt aufwärts von der tiefsten
Lage deutscher Geschichte getan. Wir vermissen natürlich jeden Antrieb des
Staates, die Gesellschaft in diesem Kampf zu führen und zu erziehen. Die
Regierung kennt nur die niederträchtige Gewohnheit, dnrch unehrlich vertuschte
Nachgiebigkeit gegen jede feindliche Gewalttat diese in GewvhnheitS- oder Vertrags -
recht umzuwandeln und uns tiefer in den Dreck zu führen. Es. wäre nachgerade
besser, wir hätten gar keine Regierung mehr, sondern eine britisch-französische
Verwaltung, dann wäre unsere Gesellschaft wohl auch nicht schlechter und feiger
als die irische, ägyptische und indische. Die Regierung korrumpiert unsere
Gesellschaft.
Widerstehen wir dieser Korruption. Erkennen wir, daß, wo nichts ist, auch
die Entente ihr Recht verloren hat und wir heute unangreifbar dastehen wie die
Geusen, die nichts mehr zu verlieren, aber alles wieder zu gewinnen hatten.
Das Schicksal gibt uns Fingerzeige. Nicht die äußere Freiheit können wir mit
einem Schlage wiedergewinnen, aber zunächst die geistig-moralische als Nation.
Wir verlangen Kor eoopor-rtion! Man möge kommen und uns
verwalten. Es wird eine bittere und schädliche Aufgabe für den Feind werden.
Wir verlangen, daß jetzt dem deutschen Volke nicht mehr der Schein vorgespiegelt
iverde, als könnte es zu neuen „Verhandlungen" kommen. Wer als Deutscher
heute nach neuen Verhandlungen seufzt, damit das Volk täuscht, seine Begriffe
für Wirklichkeit trübt und dem Feind Mut zu neuen Erpressungen macht, ist der
öffentlichen Verachtung anheimzugeben."
Daß auch Belgien die „Narrheit von 50 7°, wie die City die Lloyd
Georgesche Ausfuhrpfündung nennt, annehmen soll und inJtalien von der französischen
„Messaggero"und der englischen „Idea Nazivnale" ebenfalls ein an den Propaganda¬
feldzug im Winter 1914/15 erinnerndes Eintreten für diese 50Prvzentige Abgabe
begonnen hat, beweist ganz deutlich/ dasz der Glaube der Feinde an die Nach¬
giebigkeit der deutschen Regierung wächst. Bleibt Deutschland diesmal fest, so
wird sich die „Reparationsbill" als ein Schlag ins Wasser erweisen. Allerdings
müssen wir bereit sein, zu leiden. Aber der Feind, der uns jetzt nicht mehr
goldene Berge verspricht, sondern Leiden so oder so, macht uns den Entschluß
leicht, wenigstens so zu leiden, daß er anleite.
Keine deutsche Ausfuhr mehr nach England, Frankreich und Belgien, außer
auf den Umwegen, welche die Entente nur mit neuen, diesmal unerträglichen
Kriegshandlungen gegen Neutrale verstopfen könnte, muß unsere erste Losung
sein. Keine Einfuhr mehr aus den Ländern, die den Begriff des Kriegs und der
feindlichen Länder verewigen und gesellschaftlicher Bohkott gegen deutsche Benutzer
englischer und französischer Waren ist der zweite Grundsatz. Der dritte:
kein Deutscher beteiligt sich an der widerrechtlichen Einhebung des Nheinzvlls
mittelalterlichen Angedenkens. Die französischen Zöllner werden an ihrer Aufgabe
teils scheitern, teils Complaisance graziöser üben als etwaige deutsche Fremd¬
knechte. Der Rheinzoll, d. h. im wesentlichen eine der deutschen Wirtschaft auf¬
erlegte Kohlenstcuer, wird unser Wirtschaftsleben ebenso schwer belasten, wie die
Ausfuhrpfändung ihm Lebensadern verstopft. Wir sind weit entfernt, das Ertragen
dieser Unannehmlichkeiten als leichtes Werk hinzustellen. Binden aber müssen wir
w oder so. Dieser Weg aber hat den Vorteil, daß für den Feind dabei sich kein
wirkliches Plus ergibt. Er ernährt vielleicht einige Schergen mehr auf deutschem
Boden. Aber er erhält nichts, was ihm die eigenen VvllzugSkvsten des Wirtschafts¬
krieges, der stets zweischneidig ist, ersetzte, geschweige denn darüber hinaus einen.
Überschuß abwürfe. Er wird vermehrter Gläubiger in Papiermark, die sich ganz
entsprechend entwertet, und zerrüttet dafür mit dem europäischen sein eigenes Leben.
Wir lehnen es also ab, die boshaften Torheiten des feindlichen Wirtschafts¬
kriegs wider besseres Wissen mitzumachen, sondern überlassen das Gericht den
zukünftigen Tatsachen der Nationalökonomie. Wir lehnen es auch viertens ab,
künftig die Lügerei über die Schuld am .Kriege mitzumachen. Simons' matte
Halbheit in London bleibt der Abgesang der Tage der Unredlichkeit, voll Hoffnung
auf Verständigung. Seien wir jetzt redlich wie echte Kämpfer. Das einem
Erzberger, Müller-Franken und Bell abgepreßte Schuldbekenntnis auf dem
Versailler Vertrag ist nicht nur mit diesem Vertrag zusammen, wie Keynes
gezeigt hat, in London durch Lloyd George und Briand zerrissen worden. Es
war auch vorher schon lächerlich.
Das deutsche Volk muß aber fünftens , mit jedem Landsmann die Be¬
ziehungen abbrechen, der noch aus der Schuldselbstbezichtigung Einkünfte
bezieht. Wir hörten am 11. März 1921 in Wiesbaden einen Vortrag, den
Hello v. Gerlach für die „Internationale Friedensgesellschaft" hielt. Wenn ich
nicht iulWiesbaden wohnte, wo man unter 100 Gerechten immer einen Verräter
findet, so hätte es mich doch erstaunt, von einem Mann, der in Berlin ungehindert
Artikel schreibt, die der Spießbürger verschlingt, öffentlich sagen zu hören, die
Deutschen seien allein am Kriege schuld und hätten 1914 die Franzosen über¬
fallen. Ein Zuhörer, der die Frage dazwischen warf: „Sind Sie überhaupt ein
DcutsHer?" wurde von den französischen Nberwachungsbeamtcn in Hast abgeführt.
Augenscheinlich war auch seine Frage grundlos. Denn gerade mir, weil Gerlach
ein Deutscher zu sein scheint, kann und darf er so sprechen. Man stelle sich nur
einmal, die Frage, ob Gerlach, wenn er ein Türke wäre, in Kleinasien so geehrt
und unbehelligt sein Wiesbadener Honorar verzehren könnte wie in Berlin. Ob
Oppcrsdorff für die den Polen zugeftthrten Stimmen den Frieden des russischen
Reiches genießen würde? Ob die unter Verrat ihrer Fabrikgcheimnisse kontrakt¬
brüchig nach Amerika geflohenen deutschen Chemiker, wenn sie Iren wären,
drüben viel Freude an ihren Dollars erleben würden? Die deutsche Gesellschaft
befindet sich seit dem UberM auf Düsseldorf und dem Vertragsbruch von London
im Kriegszustand mit der Entente. Sie wird auch die Lügner und Verräter im
eigenen Land, wie es den Anforderungen des Kriegszustandes entspricht, in gesell¬
schaftlichen Ausnahmezustand versetzen lernen. Denn nur dann bilden wir wieder
einen geschlossenen Willen, der im Krieg der passiven Resistenz die einzige, aber
auch die unbedingt erfolgreiche Waffe ist.
l'Miismarck sagte gelegentlich in seinem Alter, noch schwerer als mit
des Geschickes Mächten im allgemeinen sei es, mit England einen
Bund zu flechten. Er hatte darin seine eigenen Erfahrungen
gemacht, z. B. im Jahre 1887, als Salisbury auf den bekannten,
von Hammann veröffentlichten Bismarckschen Liebesbrief die kalte
Schulter zeigte. Bismarck hatte dem englischen Premierminister damals ein
Bündnis vorgeschlagen, und zwar ungefähr gleichzeitig mit dem Rückversicherungs-
vertrag, der eine Kriegsgefahr zwischen Rußland und Deutschland ausschließen sollte.
Es ist wohl nicht richtig, zu behaupten, Bismarck hätte den RückVersicherungsvertrag
nur als „pis lutin-" angesehen, weil ihm England ein Bündnis vorenthielt:
Bismarck wollte den RückVersicherungsvertrag um seiner selbst willen, aber in
seiner genialen Art wollte er mit drei Pferden fahren, mit dem Dreibund, dem
RückVersicherungsvertrag und England. Deutschland, dem der Weltfrieden alles
gab, was es brauchte, mußte versuchen, Europa zu binden und sein Auseinander¬
fallen in getrennte Heerlager zu verhindern.
Es blieb also auch 1887 bei dem Wort, das Bismarck 1857 an Gerlach
geschrieben hatte: „Ich habe, was das Ausland anbelangt, in meinem Leben nur
für England und seine Bewohner Sympathie gehabt und bin stundenweis noch
nicht frei davon. Aber die Leute wollen sich ja von uns nicht lieben lassen."
Da der Deutsche gern Schuld und Fehler bei sich selber sucht (indes
meistens an anderen Punkten, als wo sie wirklich liegen), so hat sich heute bei
uns die Meinung verbreiten lassen, wir hätten um die Jahrhundertwende ein
Bündnis mit England haben können, welches uns ein glückliches Los im Rat der
Nationen gesichert hätte.
Es ist zweifellos, daß das Schicksal des deutschen Volkes heute auf einem
solchen Tiefstand steht, daß jede andere Gestaltung, die es hätte nehmen können,
demgegenüber eine Verbesserung bedeuten würde. Von diesem Standpunkt aus
kann man dazu kommen, selbst den Präventivkrieg im Jahre 1875, 1379, 1887,
1905, 1908 oder 1911 nachträglich zu empfehlen, obwohl jeder Präventivkrieg
in diesen oder in anderen Jahren vom damaligen Standpunkt der Politik aus
zweifellos ein Fehler, ja ein Verbrechen gewesen wäre. Ähnlich ist es, wenn
man heute bedauert, daß früher kein Bündnis mit England zustande gekommen
sei. Ein solches Bündnis, zutreffender gesagt eine friedliche Unterwerfung unter England
wäre ein weniger schrecklicher Zustand gewesen, als der, in dem wir heute leben müssen.
Trotzdem konnte die deutsche Politik unter Fürst Hohenlohe und Fürst Bülow
nicht anders verfahren, als sie getan hat. Sie konnte kein Bündnis mit England
haben, das den deutschen Interessen entsprach, und da der Weltkrieg im Jahre 1914
keineswegs unvermeidlich war und Hohenlohe wie Bülow mit solchen Fehlern,
wie sie im Juli 1914 unter Verkennung der Lage gemacht worden sind, doch nicht
rechnen konnten, so trifft sie kein Vorwurf versäumter Möglichkeiten. Auch ihre
Politik stand unter dem Zeichen des Wortes, welches Bismarck an Gerlach
geschrieben hat.
Im Jahre 1895 spielte der Plan Salisvurys, die Türkei zwischen Deutsch¬
land und England auszuteilen. Der Gedanke wurde vom Freiherrn von Marschall
abgelehnt, weil er den Weltkrieg bedeutet Hütte. Nußland Hütte dieses Abkommen
nicht ertragen^ der Weltkrieg aber mußte von uns vermieden werden, und er war
vermeidbar.
Im Jahre 1898 wurde das deutsch-englische Abkommen über Südafrika
geschlossen. Über ein Bündnis ist damals zwischen Salisbury und dem deutschen
Botschafter, Grasen Paul Hatzfeld, Wohl nicht verhandelt worden. Im übrigen
hatte England, als es dieses Abkommen mit uns traf, gleichzeitig den Portugiesen
durch den sogenannten Windsorvertrag die Erhaltung ihres kolonialen Besitzstandes
ausdrücklich gewährleistet. Erst im Jahre 1914 sollte das deutsch-englische Ab¬
kommen endlich perfekt werden, gerade in dem Augenblick, als der Blitz des
serbisch-österreichischen Konflikts einschlug. Am selben Tag, an welchem die
Kriegserklärung Englands in Berlin eintraf, erhielt unser Botschafter in London
vom Berliner Auswärtigen Amt in schöner Kalligraphie den endgültigen Vertrags¬
entwurf über die portugiesischen Kolonien zur Unterschrift.
Ganz anders war die Lage im Jahre 1899, als England durch Chamberlain
in den Burenkrieg verwickelt war. Kaiser Wilhelm II. besuchte in diesem Jahre
seine Großmutter in England und nahm den Staatssekretär des Auswärtigen,
Grafen Bülow, mit. Als beide in Windsor weilten, wurde dem Staatssekretär
der Besuch des englischen Kolonialministers Chamberlain angekündigt. Bevor
dieser eintraf, erschien der Berliner englische Botschafter, Sir Frank Lascelles,
der anläßlich des Kaiserbesuchs gleichfalls nach England gekommen war, bei dem
Grafen Bülow in Windsor und las ihm einen Brief Salisburhs vor, worin
dieser bedauerte, Bülow nicht selbst aufsuchen zu können, da Lady Salisbury
sterbend wäre — in der Tat ist sie wenige Tage darauf gestorben —, dagegen
würde Mr. Chcunberlain Bülow aufsuchen. Von Chamberlain hieß es in dem
Briefe weiter, er wäre ein interessanter und geistvoller Mann, der aber nur für
sich selber spreche und nicht für das Kabinett.
Chamberlain hatte im Schlosse Windsor eine Unterredung mit Bülow. Er
entwickelte ihm als Ideal ein Zusammengehen von Deutschland, England und
Amerika, wie er dies später auch öffentlich tat. Bülow erwiderte, auch ihm wäre
diese Kombination die sympathischste. Deutschland müßte aber zwei Boraussetzungen
daran knüpfen:
Chamberlain warf ein, eine maßgebende öffentliche Meinung gäbe es ja irr
Deutschland gar nicht. Graf Bülow erwiderte: „Die i»ni>1i<z oiumon ist bei uns
allerdings politisch nicht so erfahren und instinktsicher wie in England, dennoch ist
sie eine Macht. Man ist in Deutschland erregt gegen England wegen der Ver¬
gewaltigung der Buren, und die englische öffentliche Meinung zeigt sich mehr und
mehr eifersüchtig auf den deutschen Handel."*)
Die englische Regierung möge also, um zu dem erwünschten engen Ein¬
vernehmen zu gelangen, vor allem unterlassen, was die Stimmung in Deutschland
reizen könne.
Es ist ja allgemein bekannt, wie geschickt seit 30 Jahren und länger
das friedliebende englische Publikum durch die Drahtzieher der auswärtigen Politik
in feindselige Stimmung gegen Deutschland versetzt worden ist. Durch Presse,
Wochenschriften, Romane, Theater, Ausstellungen, Kinos, Vereine und unzählige
andere Kanäle wurde der englische Spießbürger in den Glauben versetzt, daß
Deutschland einen Angriff auf den englischen Besitzstand plane. Die Macher dieser
Bewegung waren sich nie darüber im Zweifel, daß der deutsche Angriffswille nur
in ihrer Einbildung bestünde,' aber gerade diese Einbildung mit allen Hilfsmitteln
einer alten politischen Schulung in den Köpfen der Engländer zu verbreiten,
war ihr Ziel.
Wenn man diese systematische Bearbeitung der öffentlichen Meinung neben die
Chamberlainschen Anregungen stellt, kann man den prekären Wert der letzteren
nachfühlen.
England befand sich damals in der schwierigsten Phase des Burenkricges,
und Chamberlain hatte als Urheber desselben persönlich den stärksten Anlaß, die
diplomatische Lage seiner Regierung nach allen Seiten zu erleichtern. Eine Inter¬
vention Frankreichs und Rußlands drohte. England hatte in diesem Augenblick
das dringende Interesse, die russischen und französischen Bajonette gegen Deutsch¬
land zu kehren. Eine enge Verbindung Deutschlands mit England würde unsere
Beziehungen zu Nußland sehr erschwert haben. Andererseits hätte Chamberlain,
der doch nicht aus Liebe zu uns und nicht aus dem Wunsch, unsere Weltstellung
und unseren Welthandel zu fördern, mit uns anbändelte, sich wohl bald wieder
anders eingestellt, nachdem er aus der schwierigen Situation befreit war. Wir
hätten einen unheilbaren Bruch mit Rußland bekommen, einen Bruch, der nicht
eintreten durfte, auch 1914 nicht, und, verbündet oder nicht, hätte England wenig
getan, uns gegen Nußland zu stützen. Im Gegenteil, das kluge England hätte
bei einer entschiedenen russischen Frontstellung gegen Deutschland sich schon früher
auf den Standpunkt gestellt, Nußland und Deutschland sich gegenseitig zertrümmern
zu lassen. In englischen Blättern fanden sich bald nach dem Tode des Königs
Eduard Andeutungen, daß der König stets bemüht gewesen wäre, Deutschland
und Nußland auseinanderzuhalten. Es liegt ja auch auf der Hand, daß gute
Beziehungen zwischen Deutschland und Nußland für England eher unbequem
gespannte nützlich waren, und daß ein deutsch-russischer Krieg für das durch das
Meer geschützte Britannien das war, was die Engländer ein „Mäsovä" nennen,
eine Gottesgabe.
Chamberlain sprach übrigens nicht von einem Bündnis, sondern nur von
einer unverbindlicher Annäherung. Sein Ausdruck war: England, Amerika und
Deutschland sollten sich zu einer Gruppe zusammenschließen. Der deutsche Staats¬
sekretär des Auswärtigen nahm den Gedanken im Einverständnis mit dem Reichs¬
kanzler Hohenlohe freundlich auf, ließ aber keinen Zweifel darüber, daß eine
Bindung für uns nur in Frage käme, wenn auch England seinerseits sich fest
bande. So wie der Vorschlag lautete, war er aber unverbindlich und ging gegen
Rußland und Frankreich.
Nach Berlin zurückgekehrt, verhandelte Bülow weiter mit dem englischen
Botschafter. Er betonte, daß das „Planet" des englischen Premierministers,
Lord Salisburh zu den Chamberlainschen Anregungen für die deutsche Negierung
erforderlich wäre, um diesen Anregungen volles Gewicht beizumessen. Dieses
„Planet" blieb aus, im Gegenteil trat auf englischer Seite immer wieder hervor,
daß Chamberlain als Einspänner politisierte und nur einige minder bedeutende
Mitglieder des Kabinetts auf seiner Seite hatte. Salisbury und die Mehrheit
des Kabinetts wollten sich die Hände freihalten, und selbst Chamberlain hat
späterhin zugegeben, daß das Kabinett eher für eine Verständigung mit Frankreich
und Nußland, selbst unter Konzessionen in Marokko und Persien, gewesen wäre.
Salisbury liebte Chamberlain nichts er hat später die Parteisührerschast nicht
ihm, sondern seinem Neffen Balfour zugewandt.
Gerade während die Erörterungen über eine deutsch-englische Verständigung
schwebten, wurden um die Jahreswende 1899/1900 deutsche Postdampfer von
englischen Behörden in der rücksichtslosesten Weise beschlagnahmt. Das war
mindestens ungeschickt, auch wenn es unabsichtlich geschah. Die deutsche Regierung
war den Engländern gerade damals sehr weit entgegengekommen. Die Reise des
Kaisers nach England in einem Augenblick, da unsere öffentliche Meinung sich so
lebhaft der Buren annahm, war ihm bei uns fast allgemein sehr übel genommen
worden. Bülow wurde von deutschen Zeitungen als „Lord Bülow" bezeichnet
und im Reichstag heftig angegriffen. Es wäre der stärksten Regierung in
Deutschland damals nur dann möglich gewesen, eine enge Annäherung an Eng¬
land gegen die allgemeine Stimmung durchzusetzen, wenn ihr das durch das Ver¬
halten der englischen Regierung erleichtert worden wäre. Gegen die ganz
ungerechte und dabei brüske Beschlagnahme der deutschen Dampfer mußte Bülow
energisch auftreten. In einem Augenblick, da ^ wir England jeden Gefallen
erwiesen, uns im Burenkrieg so freundschaftlich zeigten und von Frankreich und
Rußland uns nicht vorschieben ließen, durften wir das nicht einstecken, ohne von
England abhängig zu werden.
Im Jahre 1901 wurde über eine deutsch-englische Annäherung weiter ver¬
handelt. Der Kaiser kam nach dem Tode der Königin Viktoria abermals nach
England. Der Konflikt zwischen Nußland und Japan drohte schon damals. Es
war den Engländern gelungen, die Japaner gegen Rußland vorzuspannen.
Damals versuchte Lord Landsdownc, auch Deutschland gegen die Russen aus¬
zuspielen. England hätte sich dann selbst ebenso draußen gehalten, wie es sich
im russisch-japanischen Krieg nicht hineinziehen ließ, was die Doggerbankangelegen¬
heit bewiesen hat. Trotzdem verhielt sich der Reichskanzler Bülow auch jetzt
einer Annäherung an England nicht abgeneigt, aber er verlangte Sicherheiten,
Diese Voraussetzungen wurden nicht erfüllt, Salisbury hielt sich zurück, eine
grundsätzliche Übereinstimmung der Opposition mit einem solchen Abkommen
wurde nicht angeboten.
Im russisch-japanischen Krieg 1904/05 trat wohl eine deutsch-englische
Allianz kaum mehr in den Bereich der Möglichkeit. Aber auch damals hätte
ein Bündnis mit England für uns den Krieg mit dem zu Beginn des japanischen
Krieges noch ganz ungeschwächten Rußland und mit Frankreich bedeutet. Dabei
konnte England die französischen Kolonien einstecken, die Japaner Korea, und wir
hätten die ganze Last des Krieges mit zweifelhaften Aussichten zu tragen gehabt.
Einen solchen Krieg heraufzubeschwören, war nicht nötig und nicht berechtigt.
Beiläufig sei bemerkt, daß ein deutsches Bündnis mit Japan auf dem Weg über
England deutschen Interessen kaum entsprochen haben würde. Ein deutsch¬
japanisches Einvernehmen schien zweckmäßiger über Nußland anzustreben, und
hier liegen möglicherweise Unterlassungssünden der deutschen Diplomatie, nachdem
in den letzten Jahren vor dem Weltkrieg die russisch-japanische Aussöhnung die
Möglichkeit eines deutsch-russisch-japanischen Einvernehmens greifbar gemacht hatte,
wie aus Andeutungen japanischer Diplomaten hervorzugehen scheint.
Es hat seit Bismarck keinen deutschen Staatsmann gegeben, der nicht auf
gute Beziehungen zu England Gewicht gelegt hätte. Wäre es wirklich ein Glück
für uns gewesen, uns ganz an England zu binden? Hat es dem französischen
Volk denn wirklich zum Segen gereicht, daß es in jeder Weise bemüht war, zu
England in ein Vertragsverhältnis zu treten? Gewiß hat es, Gott sei es geklagt,
Elsaß-Lothringen wiedergewonnen, aber dafür ist es mit zwei Millionen Toter,
verarmt, verwüstet, zerschunden, aus dem Krieg hervorgegangen als besiegter
Sieger, während England mit verhältnismäßig geringen Verlusten, wirtschaftlich
nur vorübergehend geschwächt, mit gewaltig vermehrtem Landbesitz und erweiterter
Machtsphäre sich durch diesen Krieg zum eigentlichen Beherrscher der Welt gemacht
hat. Und dabei ist nicht aus dem Auge zu lassen, daß Deutschland, damals der
große Handelsrivale Englands, die stärkste Festlandsmacht, seine eigene Wohlfahrt
in viel höherem Grade dem englischen Neid ausgesetzt sah als das für England
weit weniger unbequeme Frankreich, und trotzdem hat sich England auch gegen¬
über Frankreich erst am 4. August Z914 fest gebunden. Es ist mehr als zweifel¬
haft, daß wir vor dem Beginn des großen Krieges von England wirklich bindende
und unwiderrufliche Verpflichtungen erhalten haben würden, wenn wir uns in
eine Entente mit England begeben hätten. Gewiß zeigt die englische Politik nicht
nur die Härte der römischen, sondern sie benimmt sich auch wie ein großes, gut geleitetes
Handelshaus, das, um den alten Vorwurf des „perfiden Albion" zu widerlegen,
ein gewisses Maß von Loyalität gegen seine Freunde anwendet. Wie gering
dieses Maß aber gerade gegenüber deutschen Mächten war, das hatten wir in
früheren Perioden unserer Geschichte, im siebenjährigen Kriege wie nach den
Befreiungskriegen eindrücklich erlebt. England hätte auch als unser Verbündeter
die Eindämmung des mit Naturgewalt fühlbaren deutschen Wachstums in der
Weltwirtschaft als Ziel im Auge behalten. Es hätte uns aber als Verbündeter
in der Hand gehabt, unseren Flottenbau und unseren Welthandel nach Belieben
hemmen und uns jederzeit seine Gesetze vorschreiben können, da wir dann auf
dem Festland weit vereinsamter dagestanden hätten, als dies, trotz der Ein-
kreisungspolitik, bis zum Juli 1914 der Fall gewesen ist.
Indes ist diese ganze Überlegung ziemlich hypothetischer Art, da die
englische Regierung den ernstlichen Willen zu einem Bündnis gar nie bekundet
hat und die historische Betrachtung niemals außer acht lassen sollte, daß
Chamberlain als Vater des Burenkricges bei diesen ganzen Verhandlungen im
wesentlichen seine eigene Politik, die persönliche Politik eines einzelnen Kabinetts¬
mitgliedes, getrieben hat. Man hört gelegentlich, die nachbismarckische Politik
hätte uns zwischen zwei Stühle gesetzt. Richtiger wäre es zu sagen, wir gingen
die goldene Mittelstraße und vermieden die Scylla wie die Charybdis. Da dem
deutschen Volk den Frieden zu erhalten unser vornehmstes Ziel war, so ließen
wir uns weder von Frankreich und Nußland gegen England vorschieben, noch
umgekehrt. Dabei wuchsen wir in natürlicher Entwicklung zur Weltmacht heran.
Ohne die Fehler, die unsere politisch-diplomatische Leitung im furchtbaren Juli¬
monat 1914 beging, als sie unseren Feinden die Flanke zum Angriff bot und
das friedliche deutsche Volk in den entsetzlichsten aller Kriege hineingleiten ließ,
hätten wir diesen sicheren Weg noch lange wandeln können) mindestens so lange,
Wie es nötig war, um den Weltfrieden nach menschlichem Ermessen durch unsere
endgültig erreichte militärische Sicherung dauernd ^u konsolidieren. Es waren
dazu nur noch wenige Jahre erforderlich. Es ist nicht zu viel behauptet, daß
ein Diplomat von normaler Begabung im Juli 1914 die Krisis hätte beschwören
können, und daß wir dann durch die Vollendung unserer Schutzwehr zu Wasser
und zu Lande das sicherste Unterpfand dauernden Friedens gewonnen hätten.
Mles empfindet die preußische Gewerbeverwaltung heute die Ehre, den
Verein zur Beförderung des Gewerbfleißes zur hundertjährigen
Jubelfeier als erste begrüßen zu dürfen. Mit dem Verein fühlt
sie sich bei gemeinsamen Zielen durch persönliche und ideelle Be¬
ziehungen eng verknüpft. Von seinen fünf Vorsitzenden sind vier
auch in ihr in leitender Stellung gewesen. Zwei von ihnen, Beuth und Delbrück,
die allein dem Verein 71 Jahre hindurch vorstanden, finden ihre Namen in der
preußischen und deutschen Geschichte mit ehernen Lettern verewigt. Bis in die
neueste Zeit haben die in begeisternden Jugendtagen aus dem Schoße des Vereins
an das Licht geförderten Ideen über Grundsätze, Wege und Ziele der Gewerbe¬
förderung die preußische Staatsverwaltung befruchtet und bestimmt. So ist es
mir eine besondere Freude, im Namen der Gewerbeverwaltung dem Verein den
ihm gebührenden Dank abzustatten, indem ich Erinnerungen an Vergangenheit
und gemeinsame Arbeit wachrufe.
Blicken wir im Geist zurück aus die denkwürdigen Verhandlungen im Saale
der Stadtverordneten in Berlin am 15. Januar 1821, als dort Beuth, der
große Organisator der Gewerbeförderung Preußens, die öffentliche
Gründung des Vereins vornahm und das Lob des sittlichen Werth gewerblicher
Arbeit verkündete, Gewerbfleiß ist, so führte er aus, die Grundlage des Reich¬
tums einer Nation, und da wahrer Gewerbfleiß nicht ohne Tugend denkbar ist,
so ist er auch die Grundlage der nationalen Kraft überhaupt. Und weiter legte
er dar: Auch im gewerblichen Leben gebe es keinen Stillstand, sondern nur Fort¬
schritt oder Rückschritt. Die Gewerbetreibenden in Preußen hätten sich-zu lange
daran gewöhnt, von der Fürsorge der Negierung zu erwarten, was sie selbst
hätten schaffen sollen. Diese Fürsorge sei auch heute noch vorhanden und solle
fortbestehen. Aber auch die aufmerksamste Regierung könne nicht alles sehen,
auch nicht alles für andere tun. Auf keinen Fall könne sie eigene Tätigkeit
ersetzen. Der neue Verein solle beweisen, daß die Gewerbetreibenden Preußens
heute auch eigener Tätigkeit vertrauen. Der Geist der Selbstverwaltung solle
auf die neue Vereinigung übergehen. Der Geist der Gemeinnützigkeit müsse alles
beleben und leiten.
Den Kernpunkt dieser Ausführungen bilden die beiden Gedanken, daß" die
Gewerbeförderung ein Mittel nicht nur technischer Ausbildung, sondern auch sitl¬
icher Erziehung ist, und daß jede staatliche Fürsorge ihre Ergänzung finden muß
in Selbsthilfe und Selbstverwaltung. Sie sind seit jenen Gründungstagen die
wesentlichen Richtlinien der staatlichen Gewerbepolitik gewesen. Beide haben sich
in dem Beuthschen Schaffen und bis in die neueste Zeit dauernd erfolgreich aus¬
gewirkt. Ehe wir aber hierauf näher eingehen, möge auf die vorhergehende erste
große Periode preußischer Gewerbeförderung ein kurzer Rückblick geworfen werden,
die Zeit Friedrichs des Großen.
Nicht von ungefähr betrachtet der Verein den großen König als seinen
geistigen Schirmherrn und Pflegt seit dem Jahre 1825 das Stiftungsfest zugleich
mit seinem Geburtstag festlich zu begehen. König nicht nur, sondern auch erster
Diener des Staats, im Frieden größer noch als im Kriege, war Friedrich der
Große der Gründer eines neue», auf der Höhe der Zeit stehenden Gewerbes.
Wie weit allerdings die Entwicklung erst in den Anfängen begriffen, darauf wirft
es ein Licht, daß der König nach der Erwerbung Schlesiens noch den Ersatz der
allgemein üblichen Holzfeuerung durch Steinkohlenfeuerung tatkräftig betreiben
mußte, und daß erst in seinem letzten Lebensjahr die erste in Deutschland gefertigte
Dampfmaschine in Betrieb gesetzt wurde. Ich muß der lockenden Versuchung
widerstehen, hier im einzelnen darzulegen, in welchem Maße er die weitverzweigten
Fäden der staatlichen Gewerbeförderung in seiner nie rastenden Hand vereinigte.
Es genüge die Feststellung, daß auf seine häufig bis in kleinste Einzelheiten
gehenden und meist seiner Initiative entspringenden Anordnungen bald aus dem
Auslande Handwerker, Meister oder auch nur Maschinen herbeigeschafft, bald
Neiseunterstützungeu zum Studium ausländischer Einrichtungen verliehen oder
Gelder zur Anlegung neuer Manufakturen bewilligt wurden.
In der Gcwerbeverwaltung lebt das Andenken an Friedrich den Großen
und sein erstaunlich vielseitiges und sachverständiges Schaffen am frischesten in
einem noch heute ihr unterstehenden Staatsbetriebe fort, der von ihm im Jahre der
Beendigung des siebenjährigen Krieges gegründet, sich seiner besonderen Fürsorge
erfreuen durfte. Unter des Königs Persönlicher Oberleitung stehend, erreichte er
zu seinen Lebzeiten seine höchste Blüteperiode. Es ist die Porzellanmanufaktur in
Berlin. Ein in ihren Archiven sorgsam gehüteter, umfangreicher Band von
250 Erlassen des Königs legt heute noch davon Zeugnis ab, wie er den Betrieb
in allen Einzelheiten leitete und förderte, mochte es sich um Beschaffung von
Porzellänerde oder von künstlerischen Mustern, um Errichtung von Ofen oder
Verminderung von Fehlbeträgen, um Anstellung von Fabrikärzten oder von
Kommissionären zur Förderung des Absatzes nach Polen handeln. Die Pünktlich¬
keit, mit der auf die zum ersten jedes Monats eingereichten Kassenberichte die Antwort
erging, und die Entschiedenheit, mit der größere Sparsamkeit und höhere Erträge
nicht nur gefordert, sondern auch durchgesetzt wurden, wird ein für unsere Finanz¬
verwaltung leider wohl noch auf lange hinaus nicht wieder erreichbares Vor¬
bild bleiben.
Auch Friedrich der Große hat die Arbeit als Erfüllung einer sittlichen
Pflicht aufgefaßt. Dafür zeugen zahlreiche Äußerungen, seine Weltanschauung
und sein ganzes arbeitsames, dem Dienst des Staatswohles gewidmetes Leben.
Wenn er diese Betätigung der Pflicht in einer uns bisweilen etwas gewaltsam
anmutenden Weise, weniger im freien selbständigen Schaffen, als in Befolgung
seiner Befehle sah, so lag dies im Geist der Zeit und in dem Abstand seiner
großen Ziele von der Erkenntnis seiner sich aus Armut und Not erst langsam
erhebenden Untertanen. Es steht fest, daß, wie ihm, dem Philosophen von
Sanssouci, die großen Menschheitsideale, die zeitlose Geltung besitzen, nicht fremd
waren, er auch das Ideal jeder Erziehung in Selbsttätigkeit und Selbst¬
verantwortung erblickte. Wie für unsere Zeit geschrieben klingt es, wenn er das
Ergebnis seines Lebens am Schluß in die Erkenntnis zusammenfaßt, daß ein
Staat, von welcher Art er auch sein mag, nicht bestehen kann, wenn nicht alle
Bürger einmütig ihr gemeinschaftliches Vaterland zu erhalten suchen.
Zwischen dem Tode des Königs und der Gründung des Gewerbfleißvereius
lagen 35 Jahre — eine kurze Spanne, aber eine Zeit voll größter Umwälzungen
und Ereignisse für Preußen, Deutschland und die Welt. Die französische Revolution
hatte in Frankreich durch Übertreibungen und Schreckensherrschaft, die Folge¬
erscheinungen jeder, größeren Staatsumwälzung, die Reaktion der napoleonischen
Zeit hervorgerufen. Das Deutsche Reich und Preußen waren in den großen
Kriegen mit Frankreich zusammengebrochen und jahrelang unter das Joch der
Fremdherrschaft gekommen. In unerhörter Kraftanstrengung war es den deutschen
Stämmen, an ihrer Spitze dem Preußischen Staat, gelungen, unter der Führung
der großen Reformatoren, der Stein, Hardenberg und anderer willensstarker und
begeisterter Männer durch Aufnahme dessen, was, an den neuen Ideen gesund,
lebenskräftig und dem deutschen Geist entsprechend war, die Volkskraft zu neuem
erfolgreichen Widerstand zu beleben. Die Freiheitskriege hatten das Werk der
Befreiung vollendet. Nun galt es, in dem verarmten Lande auch den Gewerb¬
fleiß von neuen: zu beleben und die Arbeit Friedrichs des Großen auf neuer
Grundlage wieder aufzunehmen.
Das war die Aufgabe, vor welche Beuth sich gestellt fand, als er, 37 Jahre
alt, im Jahre 1818 zum Direktor der Abteilung für Handel und Gewerbe im
preußischen Finanzministerium berufen wurde. Den Hauch des Geistes, in welchem
er an die Lösung der Aufgabe herantrat, haben wir bereits aus seinen im Eingang
mitgeteilten Worten spüren können. Ausgewachsen unter den seiner Zeitepoche die
Richtung gebenden Lehren des Adam Smith von der Bedeutung des freien Spiels
der Kräfte, verband er mit ihnen die hohe Auffassung der großen politischen Re¬
formatoren Preußens von dem Werte sittlicher Erhebung und Selbstverantwortung
für das Gemeinwohl. An die Lehren von Smith denkt man noch, wenn der größte
von ihnen, Freiherr vom Stein, die Forderung erhebt, „die Fenster zu zerbrechen,
durch welche die Bureaukratie den Aufschwung der menschlichen Tätigkeit hemmte".
Aber über wirtschaftliche Gedankengänge hinausstrcbend, enthüllt sich der Geist
der preußisch-deutschen Erhebung in den Worten desselben Stein: „Man tötet,
indem man die Bürger von aller Teilnahme an der Verwaltung entfernt, den
Gemeingeist", oder in dem über den ersten Entwurf der Städteordnung von den
Mitarbeitern Steins gesetzten Motto: „Zutrauen veredelt den Menschen, ewige
Vormundschaft hemmt seinen Eifer." Es ist der Geist jener großen Zeit in An¬
wendung auf die Gewerbepvlitik, der in Beuth lebendig war, der Geist, der auch
in dem Goethescher Wort sich widerspiegelt, daß die Regierung die beste sei, welche
das Volk sich selbst zu regieren lehrt. In ihm beantwortet Beuth in rastlosem
Wirken die Frage, wie der Gewerbfleiß in Preußen gefördert werden soll, dahin,
daß es gelte, Männer von Wissen, Können und Tatkraft zu erziehen, welche
beseelt seien von dem Wunsch, aus eigener Kraft sich emporzuarbeiten. Als Mittel
zur Erreichung dieses Zieles kamen auch für ihn noch die bereits in der frideri-
zianischen Zeit erprobten und bewährten Maßnahmen in Betracht. Sie genügten
aber nicht, um schnell und umfassend das Ziel zu erreichen. So wurde er zum
großzügigen Organisator, der die in Preußen selbst in den Gewerben bereits
entwickelten oder noch schlummernden Kräfte zur Mitarbeit heranrief und durch
Vereinigung tüchtiger und gleichgesinnter Männer auf das nämliche Ziel ihre
Leistungen vervielfachte.
Sie gestatten mir wohl, wegen des näheren über die Gestaltung und die
ersten Erfolge seiner Gründungen sowie auch wegen ihrer höchst interessanten
Beziehungen zu manchen Einrichtungen neuester Zeit, wie dem Deutschen Museum
in München und dem Reichswirtschaftsrat auf die von Konrad Matschoß, dem
bewährten Darsteller von Technik und Gewerbe unserer Zeit, dem Verein zu seiner
Jubelfeier befederten trefflichen Darstellung zu verweisen. Nach dem, was über
den Geist der Beuthschen Organisation vorher bereits gesagt worden, möchte ich
über ihren Zusammenhang mit Matschoß' Worten nur folgendes hinzufügen:
„Sein Lebenswerk errichtete er auf drei großen Grundsteinen, die er im preußischen
Lande verankerte. Er suchte durch die Technische Deputation, die er neu schuf,
die Staatsverwaltung mit technischem Geist zu durchdringend er schuf als großen
Selbstverwaltungskörper den ersten, alle an der Entwicklung der nationalen
Industrie interessierten Kreise unifassenden Gewerbeverein und er begründete die
Gewerbeschulen und in Berlin das Gewerbeinstitut. Alle seiue Maßnahmen aber
zur Förderung des Gewerbfleißes mündeten in den Verein zurück, der das Glück
hatte, in seiner ersten großen Entwicklung unter Beuths Vorsitz zum vielfältigen
Nutzen des preußischen Gewerbes tätig zu sein."
29 Jahre laug blieb Beuth an der Spitze des Vereins, fast ebenso lange
in der Leitung der Gewerbeverwaltung. In beiden entfaltete er eine überaus
vielseitige und fruchtbare Tätigkeit. Von fast allem, was später in der Gewerbc-
förderung geschah, findet man in jener Zeit bereits die Anfänge oder Keime. Als
für ihn das Alter herannahte, legte er 1850, wie schon einige Jahre vorher alle
Staatsämter, auch den Vorsitz des Vereins nieder, nicht ohne die Tragik, welche
gerade den großen Bahnbrechern selten erspart bleibt, die einer Zeit die Richtung
geben, sich schließlich aber von der Zeit überholt sehen. Auf der ersten großen
GeWerbeausstellung, die im Zeughaus im Jahre 1844 eröffnet wurde, sah man
auf der den Mittelpunkt bildenden, in der Bvrsigschen Werkstatt gefertigten Loko¬
motive den Namen Beuth. Er selbst aber stand der Entwicklung des Eisenbahn¬
wesens skeptisch und zurückhaltend gegenüber. Von seinem Austritt schweigen die
Verhandlungen des Vereins. Zur Feier seines 100. Geburtstages aber sprach
der Festredner Rudolf v. Delbrück die Worte: „Seine Zeit war um, eine andere
Zeit hatte begonnen. Der Gewerbefleiß hatte sich gewaltig entwickelt. Zur
Betretung neuer Bahnen fehlte Beuth die Jugendkraft, vielleicht auch die Anlage."
Vergleicht man die friderizianische mit der Beuthschen Gewerbeförderung,
so fällt der Unterschied in die Augen. Dort der eine Mann, der in seiner Person
alle Fäden vereinigte und auf dessen Anordnungen die gewerbliche Entwicklung
sich aufbaute, hier der Organisator, der Einrichtungen schuf, ungezählte Mitarbeiter
mit seinem Geiste erfüllte und zu gemeinsamem, selbsttätigen Schaffen an der
großen Arbeit aufrief.
Ich muß leider darauf verzichten, die Entwicklung der Technischen De¬
putation und des Gewerbfleißvereins weiter zu verfolgen, die beide schon öfter
zum Gegenstand rückschauender Betrachtungen gemacht worden sind. Lassen Sie
uns sogleich zur Gegenwart übergehen und im Rückblick uns vergegenwärtigen,
daß in die Mitte der 100 Jahre die Epoche der Einigung des Reichs durch die
Staatskunst Bismarcks fällt — Preußen-Deutschlands große, unvergeßliche Zeit!
Wie kein anderes Ereignis hat die Reichsgründung in ihrer Auswirkung auch dem
wirtschaftlichen Leben größten Auftrieb gegeben und die Entwicklung der Industrie
beeinflußt. Wollen wir danach feststellen, welcher Erfolg dem Beuthschen Werk
unter solchen Verhältnissen beschieden war, so möge längere Darlegungen ein
Bild ersetzen. Aus dem Jahre 1837 stammt eine von Schinkel seinem Freund
Beuth gewidmete Darstellung, wonach dieser auf einem Pegasus sitzend über eine
von ihm gegründete Fabrikstadt fährt und fröhlich Seifenblasen in die Lüfte ent¬
sendet. Das erträumte Zukunftsbild gibt eine heutige, von Rauch verhüllte
Fabrikstadt mit zahlreichen Schornsteinen, in künstlerischer Intuition erfaßt, auf¬
fallend naturgetreu wieder. Begreiflicherweise fehlen aber alle weiteren Andeu¬
tungen technischer Fortschritte. Was hätte im Jahre 1914, im Zeitalter der
Steinkohle, des Dampff und der Elektrizität, dem soeben erst die Eroberung der
Luft für den Menschen geglückt war, ein Maler aus diesem Vorwurf machen
können! Die Frage genügt, um die ungeheuren Fortschritte der Technik uns zum
Bewußtsein zu bringen. So sehr war, die Landwirtschaft weit hinter sich zurück¬
lassend, die gewerbliche Entwicklung vorgeschritten, daß man nachträglich Wohl
daran zweifeln kann, ob nicht ein langsameres Tempo für das Gemeinwohl nütz¬
licher gewesen wäre, und ob nicht hier und da die Bäume bereits begannen in
den Himmel zu wachsen. Denn in weiteren Kreisen hatte die schnelle Steigerung
des Volksreichtums zu einem Aberwuchern materieller Interessen und zur Ver¬
kümmerung oder Ausartung der dem Leben der einzelnen und des Volks Halt
und Richtung gebenden Ideale geführt. Auch trat frühzeitig schon die Spannung
an den Tag, in welche die großindustrielle Entwicklung die Arbeiterschaft mehr
und mehr versetzte. Vergeblich waren, trotz allen wirtschaftlichen Aufstiegs auch
der Arbeiter, die Bemühungen, durch Abwehrgesetze und die beiden großzügigen
sozialpolitischen Aktionen der Versicherungs- und der Arbeiterschutzgesetzgebung,
hier gründlich Heilung zu schaffen. Immer von neuem ertönte auf den Partei¬
tagen der Sozialdemokratie, als leider nicht hinreichend beachtetes Wetterzeichen,
der Ruf von der Notwendigkeit der Beseitigung des Doppeljochs Polnischer Recht¬
losigkeit und wirtschaftlicher Unterdrückung.
Es ist hier nicht der Ort, auf diese, in ihrer wahren Bedeutung erst in
den Jahren des Krieges, zu spät und auch dann noch nicht allgemein, erkannten
Schattenseiten großindustrieller Entwicklung näher einzugehen. Wenden wir uns
vielmehr zu der Beantwortung der weiteren Frage, was auf dem Höhepunkt der
Entwicklung die Gewerbeförderung noch für eine Bedeutung hatte. Für die
Industrie ließ sich jetzt in entsprechender Variierung des bekannten Bismarckschen
Wortes sagen: sie war von Beuth in den Sattel gehoben worden und hatte
das Reiten aufs beste gelernt. Wenn von ihm als erstrebenswertes Ziel bezeichnet
worden war, daß die staatliche Fürsorge durch selbständige Tätigkeit ergänzt
werden müsse, so war dieses Ziel bereits weit überholt. Auf vielen Gebieten
hatte die Industrie sich zu vollständiger Selbständigkeit emporgearbeitet. An
Staatshilfe genügte im allgemeinen die Regelung ihrer Organisationsformen und
der Beziehungen zum Ausland, die Förderung des- Verkehrs und die Darbietung
von Rechtsschutz. Niemand dachte mehr daran, ihr von Staats wegen Maschinen
zu beschaffen oder fortlaufend die Kenntnisse der Fortschritte des Auslands zu
vermitteln. Selbst die Verwaltung von Ausstellungen hatte sie seit langem in
eigene Hand genommen. Nur noch zur Organisation von Ausstellungen im
Ausland wurde ihr bisweilen ein Reichskommissar zur Verfügung gestellt, der
den Ausgleich widerstreitender Interessen wahrzunehmen/ für Einheitlichkeit und
würdige Vertretung der deutschen Darbietungen zu sorgen und die bereitgestellten
öffentlichen Gelder zu verwalten hatte. Bei solcher Gelegenheit war es auch noch
üblich, kleineren Gewerbetreibenden Neisestipcndien zu gewähren. Auch für dieses
Gebiet aber wurde in neuester Zeit in der ständigen Ausstellungskommission ein
Selbstverwaltungskörper geschaffen.
Im übrigen hatte sich die Gewerbeförderungstätigkeit fast ganz auf das
eine Gebiet zurückgezogen/ für das von Beuth der Grundstein in den Gewerbe¬
schulen gelegt worden war/ den gewerblichen Unterricht. Verhältnismäßig lange
Zeit hatte es gedauert/ Ins ihm in Preußen die Bedeutung wie in anderen
Bundesstaaten oder in Osterreich geschenkt wurde. Immer wieder waren von der
Finanzverwaltung Bedenken dagegen erhoben worden/ für diese neuen Aufgaben
Staatsmittel zu bewilligen, die, wenn einmal grundsätzlich zugesagt, sehr erheblich
anwachsen würden. Erst um die Wende des Jahrhunderts gelang es, den Finanz¬
minister Miquel von der Notwendigkeit zu überzeugen, hier Wandel zu » schaffen.
Nachdem mit den Technischen Hochschulen bereits früher ein vielversprechender
Anfang gemacht war, wurde zum Ausbau der technischen Mittelschulen und der
Fortbildungsschulen geschritten und beide Gattungen von Anstalten his zum Aus¬
bruch des Weltkrieges zu einer Höhe entwickelt, die keinen Vergleich mit anderen
Einrichtungen mehr zu schellen brauchte.
Auch hier wurde wiederum der Grund für Neugestaltungen durch Studien¬
reisen gelegt, die von den Bearbeitern im Ministerium nicht nur in die übrigen
größeren deutschen Bundesstaaten/ sondern vornehmlich in den Jahren -1903—05
auch nach Österreich-Ungarn, Frankreich, Englands der Schweiz, Holland und
Amerika unternommen wurden. In engster Fühlung mit der Industrie wurde an
die Aufstellung der Organisationspläne für die Hauptgattungen von Schulen —
Textil-, Baugewerk-, Maschinenbauschulen — herangegangen. Die Lehrplänc für
die Fortbildungsschulen wurden zeitgemäßer Umgestaltung unterzogen. Auch
gelangte bei ihnen bald fast allgemein der obligatorische Bestich an Stelle der
bisherigen Freiwilligkeit zur Einführung. Seitdem 1901 Magdeburg voran¬
gegangen war, folgten alle übrigen Großstädte rasch diesem Beispiel. 1912 führte
Berlin die Pflichtschule für Mädchen ein und sorgte dadurch für die bis dahin
ausreichend fehlende Vorbildung des weiblichen Geschlechts für Haushalt und Beruf.
Um eine fachmännische Aufsicht und ständige Fühlung mit den Interessenten¬
kreisen zu gewährleisten, wurde das Landesgewerbeamt geschaffen, in dem die
verschiedenen Fachrichtungen durch ständige Bearbeiter vertreten waren, und dein
Beiräte, aus Vertretern der Praxis gebildet, für die großen Gruppen gleichartiger
Schulen angegliedert wurden. In zweijährigen Zwischenräumen wurde eine
allgemeine Abteilung dieses Beirath zusammenberufen, um auf Grund gedruckter
Berichte über die Tätigkeit Rechenschaft abzulegen und in gemeinsamer Aussprache
die Übereinstimmung der Anschauungen und Ziele zwischen Verwaltung und
Interessenten zu sichern. Hierdurch und durch die bei allen Anstalten eingesetzten
Kuratorien gelang es, ein Vertrauensverhältnis zwischen Staatsverwaltung und
Industrie zu schaffen, wie es als notwendige Borbedingung für gedeihliches
Wirken immer mehr erkannt wurde. Ebensowohl diese Berichte, wie die bei den
Regierungen eingesetzten fachmännischer Beamten, die in jährlichen Konferenzen in
Berlin vereinigt wurden, haben im Zusammenhang mit den fortgesetzten Besichti¬
gungsreisen der amtlichen Bearbeiter wesentlich dazu beigetragen, an einer Stelle
gewonnene Erfahrungen allgemein nutzbar zu machen. Auch bei der so wichtigen
Auswahl von Leitern und Lehrkräften gelang es meist, durch gründliches und
sorgfältiges Zusammenwirken Fehlgriffe zu vermeiden. Dabei lehrten die Er¬
fahrungen, daß Bewährung in Praktischer Tätigkeit ungleich viel mehr für die
Bewertung eines Menschen bedeutet, als geistreiche Kritiken und unerprobte Pro¬
gramme. Indem sich die Regel herausbildete, von strenger, schablonenhafter
Feststellung von Lehrplänen abzusehen und verständigen Neuerungen oder auch
Versuchen weitherzig Spielraum zu lassen, wurde die Schaffensfreudigkeit von
Leitern und Lehrern der Schulen gesteigert und ermöglicht, ministerielle Anord¬
nungen in weitesten Umfang durch Überzeugung oder Anregungen zu ersetzen.
Für die Aufbringung der Mittel sorgten Staat und Gemeinden, vereinzelt
auch industrielle Verbände oder Vereine, nach allmählich herausgebildeter Grund¬
sätzen gemeinsam. Mit besonderer Anerkennung hervorgehoben zu werden verdient
es, wie opferbereit sich fast ausnahmslos die leistungsfähigen Gemeinden den
neuen, oft nicht geringen Anforderungen gegenüber verhielten. Es bildete sich ge¬
radezu ein Wettbewerb zwischen den Städten um neue Unterrichtsanstalten heraus. Die
Initiative war auch hier vom Staat in die Selbstverwaltungskörper übergegangen.
In neuester Zeit trat in der Industrie in dankenswerter Weise das Streben
nach selbständiger Gründung eigener Betriebsschulen hervor, das durch den vom
Verein deutscher Ingenieure ins Leben gerufenen deutschen Ausschuß für tech¬
nisches Schulwesen wirkungsvolle Förderung fand.
Besondere Bedeutung gewann mit dem Erstarken der Industrie mehr und
mehr die Fürsorge für den hierdurch stark ins Hintertreffen geratenen Handwerker¬
stand., Als um die Jahrhundertwende von Künstlerischer Seite der Ruf nach
gesetzlicher Einführung des obligatorischen Befähigungsnachweises immer lauter
erscholl, gelang es nach vielen Bemühungen schließlich auch die Handwerker davon
zu überzeugen, daß ihnen mit diesen in die neuen Verhältnisse nicht mehr hinein¬
passenden Einrichtungen weniger gedient sei,, als mit besserer Ausbildung. So
wurden nach österreichischem Muster unter dem Namen „Gewerbeförderungs¬
anstalten" Einrichtungen geschaffen, welche in sogenannten Meisterkursen sich die
bessere Ausbildung von Meistern oder späterhin auch die Vorbereitung von
Gesellen auf die Meisterprüfung zum Ziele setzten. Die großartigste Anstalt
dieser Art wurde von Stadt, Provinz und Staat gemeinsam unter Leitung des
erfahrenen und altbewährten Gewerbeschuldirektors Geheimrath Romberg in Köln
errichtet. Sie wurde mit einer Ausstellungshalle für Maschinen des Kleingewerbes
in Verbindung gebracht. Auch der Pflege des Handwerkergenvssenschaftswesens
wurde nach Neubelebung der Innungen und Schaffung ein auf ihnen sich auf¬
bauenden Berufsorganisation des Handwerks in steigendem Maße die Aufmerksam¬
keit zugewandt.
Mit erheblichen Schwierigkeiten war die vereinzelt notwendig werdende
Fürsorge für notleidende Hausindustrien verknüpft, so vor allem die Handweberei
im Eulen- und Glatzer Gebirge. Man bedenke, daß in dieser Zeit nach alt¬
bewährten Grundsätzen geordnete Finanzen als Grundlage jedes staatlichen Lebens
erschienen, daß die betäubende Wirkung der Papiergeldpresse und die durch sie
eröffneten unbegrenzten Möglichkeiten stattlicher Unterstützung noch völlig unbekannt
waren, und daß danach jede Hilfsmaßnahme in erster Linie von der Verant¬
wortung des einzelnen ausging und nur ergänzend und gemeinsam mit den nächst¬
beteiligten Gemeinschaftsorg alten, Gemeinde und Provinz, eingesetzt wurde.
Gleichwohl gelang es auch hier allmählich, durch Überführung solcher Hauö-
gewerbtreibenden in andere Berufe, ihre Ausstattung mit vollkommeneren Arbeits¬
gerätschaften während der Übergangszeit, die Bereitstellung anderer Arbeits¬
gelegenheiten, wie in Schlesien der Stickerei, Besserung zu schaffen. Im übrigen
war gerade dies ein Gebiet, wo es besonders galt, wohlmeinenden dilettantischen
Versuchen, die leicht mehr schaden als Nutzen stiften konnten, sich zu verschließen.
Ähnlich wie auf dem Gebiet der Hausfleißförderung waren die Erfahrungen
auf dem der staatlichen Einführung neuer Großindustrien in gewerblich zurück¬
gebliebenen Gegenden. Auch gegen Wünsche dieser Art verhielt sich die Gewerbe¬
verwaltung selbst zurückhaltend. Wo gleichwohl Versuche unternommen wurden,
wie z. B. bei dem groß angelegten Goßlerschen Unternehmen der Industrialisierung
Westpreußens, entsprach der Erfolg in keiner Weise den aufgewandten Bemühungen.
Es zeigte sich deutlich, daß bei der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie
infolge der hoch entwickelten Verkehrsmittel der Staat völlig außerstande war,
durch unmittelbare, überdies die Sclbstverantwortung lähmende Hilfe die natür¬
liche Entwicklung in andere Bahnen zu leiten. Über diese Art der Förderung
war das Gewerbe hinausgewachsen.
Die Krönung der gewerblichen Leistungen bildete der Aufschwung des Kunst¬
gewerbes, den die Gewerbeverwaltung durch zahlreiche gewerbliche Lehranstalten
zu fördern bemüht war. Um das Ende der Wer Jahre setzte in der angewandten
Kunst eine von jüngeren künstlerischen Kräften getragene Bewegung ein, die bis¬
herigen Stilnachahmungen zu ersetzen durch eine aus den Bedürfnissen und An¬
schauungen der Zeit heraus geschaffene neue Kunst. Ihre Erfolge stehen heute
vor aller Augen. Damals war es nicht immer ganz leicht, zwar frühzeitig die
frische Luft modernen Schaffens in Lehrsäle und Werkstätten einziehen zu lassen,
aber gegen den Sturmwind radikaler Neuerungsversuche die Pforten zu schließen
und zwischen den Bestrebungen künstlerisch hochstrebend gesinnter Lehrkräfte und
den Forderungen der Praxis den Ausgleich zu finden. Besonders wirksam für
die Geschmacksbildung und kunstgewerbliche Erziehung erwiesen sich die größeren
Ausstellungen, an denen sich regelmäßig die kunstgewerblichen Lehranstalten und
die Porzellanmanufaktur beteiligten. So noch auf der vom Deutschen Werkbund
errichteten Ausstellung in Köln im Jahre 1914.
Ehe sie noch vollendet war, überraschte uns inmitten friedlicher Arbeit der
Weltkrieg, nicht verursacht durch einseitiges deutsches Verschulden, sondern eine
Folge der verschlungenen Zusammenhänge allmählicher geschichtlicher Entwicklung.
In seltener Einmütigkeit erhob sich das deutsche Volk. Mit den Ruhmestaten
der Heere im Felde wetteiferten in der Heimat die Leistungen der Industrie.
Bald aber begann die Zermürbung durch Blockade und feindliche Übermacht.
Plötzlich und unerwartet kam die Niederlage und in ihrem Gefolge Friedensdiktat
und Umwälzung. So stehen wir heute wieder, wie einst vor hundert Jahren, an
einer Zeitenwende, vor neuen Anfängen und neuen, diesmal weit größeren und
schwierigeren Aufgaben. Bei dem Blick aus düsterer Gegenwart in dunkle
Zukunft gedenken wir von neuem des deutschen Gewerbfleißes. Auch heute sagen
wir uns, daß in ihm ein wesentlicher Teil unserer Volkskraft ruht, heute mehr
als je zuvor. Von seinen Leistungen hängt es ab, ob wir in absehbarer Zeit die
unerträglichen Fesseln des Versailler Friedensvertrags gelöst sehen, ob wir lebens¬
fähig und geeint bleiben und wieder ein freies Volk werden sollen. Industrie
und Gewerbe zur alten Höhe zurückzuführen ist doppelt schwer für das geschwächte
Volk, bei veränderter staatlicher und wirtschaftlicher Ordnung. Und doch ist, sich
auf der neuen Grundlage einzurichten, die Voraussetzung jedes gedeihlichen
Schaffens. Die Vergangenheit liegt hinter uns, sie kehrt nicht mehr zurück. Viel
haben wir verloren. Mehr ist uns geblieben: die Liebe zu unserem Volk, die
große Vergangenheit, die Hoffnung auf die Zukunft. Es gilt den neuen
Staat der Deutschen aufzubauen vom festen Boden der Gegenwart
aus, auf dem Fundament der Weimarer Verfassung, mit einem neuen
Geist der Verantwortlichkeit jedes einzelnen für das Ganze. Staat
und Wirtschaft werden die Gedankenwelt der Demokratie und des Sozialismus
zu verarbeiten haben. Es wird die Frage gelöst werden müssen, wie jeder an
einem Betrieb Beteiligte, wesentlich mehr als früher, wo das Interesse am
Arbeiter hinter dem an der Leistung stark zurücktrat, zum Vorteile des Ganzen
zur Mitwirkung und Mitverantwortung herangezogen und sein Interesse mit dem
des Betriebes verknüpft werden kann. Von gleicher Wichtigkeit ist es aber, daß
auch unter der neuen Staatsform das seit der Umwälzung allzu sehr in den
Hintergrund getretene Verständnis für wirtschaftliche Zusammenhänge und staat¬
liche Notwendigkeiten, sowie die altbewährten Grundregeln jeder Regierungskunst
wieder wirksam zur Geltung gebracht werden. Höher als schrankenloses Streikrecht
und starrer Achtstundentag stehen Gesundung der Wirtschaft und Leben des Volkes ! In
der Verknüpfung dessen zu einer höheren Ordnung, was von alten
und neuen Ideen richtig und durchführbar, weil der Natur des Menschen
und deutscher Auffassung gemäß, ist, liegt das Heil unserer Zukunft.
Auch die Gewerbeförderung wird dabei ein weites Feld der Bethätigung
finden. Der Wiederaufbau des Gewerbes wird ungewohnte Aufgaben stellen und
immer wechselnde Möglichkeiten eröffnen. Vor allem der gewerbliche Unterricht
wird sorglicher Unterhaltung und Pflege und weiteren Aufbaus nicht entraten
können, zumal, nachdem die große Erziehungsschule der allgemeinen Wehrpflicht
weggefallen ist. Welche Aufgaben bieten sich allein der staatsbürgerlichen Er¬
ziehung! In einer Zeit, wo der Begriff der Pflichten von dem der Rechte völlig
verdunkelt ist, und wo Einzel- und Klasseninteressen das Staatsinteresse zurück¬
drängen. Bei der unsagbar traurigen Finanzlage von Staat und Reich wird
man von der oft erprobten Einsicht der Industrie erwarten dürfen, daß sie in
zeitgemäßen Ausbau vorhandener Anfänge an der Lösung dieser großen Aufgaben
tatkräftig und opferwillig mithelfen wird.
Fragen wir uns, in welchem Maße Preußen und der Verein auch in
Zukunft den Gewerbfleiß wirksam werden fördern können, so gibt der Blick in
die Vergangenheit Vertrauen für die Zukunft.
Das Land, das durch die Arbeit der Besten aus den verschiedensten deutschen
Stämmen nicht künstlich zusammengefügt, sondern in den Zeiten des Aufstiegs
und der Not zum größten und führenden Bundesstaate zusammengewachsen ist,
muß im Interesse des Ganzen sich behaupten und lebenskräftig bleiben, solange
in Deutschland staatliche Selbständigkeit an irgendeiner Stelle besteht. Frühere
Fehler mag es vermeiden, einen zeitgemäßen Ausbau seiner Einrichtungen herbei¬
führen müssen) die destruktiven Bestrebungen im Innern, insbesondere in der
Reichshauptstadt, wird es zu überwinden haben. Alsdann aber wird es sich
weiterhin als sicherster Grundpfeiler des Reichs erweisen, welches Verstärkungen
und Erweiterungen der Zentralgewalt — wie Bismarcksches Vorbild und die Er¬
fahrungen der letzten Jahre übereinstimmend beweisen — nur langsam und
organisch aus dem Vorhandenen heraus entwickeln, nicht theoretisch und überhastet
neu konstruieren kann. So wird die Gewerbcförderung, ein Hauptgebiet der
Verwaltungstätigkeit der Länder, auch weiterhin eine der wichtigsten Ausgaben
Preußens bleiben. Dem Gewerbfleißverein aber wird es, bei der Notwendigkeit
des Um- und des Aufbaues und der Vereinigung widerstreitender Ideen und
Kräfte des gewerblichen Lebens, an Aufgaben für reiche, nützliche Betätigung
sicherlich nicht fehlen.
Gewiß werben dabei die Ideen, welche die bisherige Arbeit getragen haben,
sich als unvergänglich erweisen. Gewerbliche Arbeit als sittliche Pflicht,
selbstverantwortliche Tätigkeit im Dienste des Staatswohls, Gemein¬
sinn, der das Einigende sucht und zu Opfern und Entbehrungen
bereit ist, sind und bleiben die Grundsteine für den Aufbau deutscher
Zukunft.
So rufen wir denn zum Schluß die Manen der großen Männer an, die
den Stempel ihres Geistes deutscher Arbeit aufgedrückt haben, der Friedrich, Stein,
Beuth und der anderen, die in ihrem Geist in schweren Zeiten gewirkt haben.
Möchten ihre Gedanken und Gesinnungen in Anpassung an die neue Zeit uns und
die nach uns kommen werden, auch weiterhin geleiten!^
Der Stern des deutschen Volks ist von seiner Höhe am Firmament tief
cherabgesunken und von finsterem Gewölk verhüllt. Aber in jedes guten Deutschen
Herz leben Glauben an unser Volk und deutsche Hoffnung. Unser ist die Ver¬
antwortung, daß beide in uns und in unseren Kindern wirksam und kräftig
bleiben, unser die Pflicht, in altgewohnter und unverdrossener Arbeit aus Trümmern
wieder aufzubauen. Zeigen wir uns unserer großen Vorfahren würdig, dann
wird auch unsere Arbeit mit Gottes Hilfe dazu beitragen, Preußen >ab ^das
einige Deutschland wieder hinaus und aufwärts zu führen aus den schweren
Sorgen und Nöten der Gegenwart: Durch Nacht zum Licht!
ir haben den Krieg verloren. Die Ursachen materieller und praktisch-
technischer Art ausführlich zu erörtern, kann nicht meine Aufgabe
sein. Ein Grund/ der wesentlich mitspricht, ist aber jedenfalls der,
daß im Verlauf des Kampfes, der die Anspannung aller
Kräfte — sowohl der ideellen, wie materiellen — gefordert, welche
Forderung aber nur bei Aufgebot unserer stärksten sittlichen Energien hätte erfüllt
werden können, das nationale Ethos, der deutsche Idealismus, ins Hinter¬
treffen geriet.
Der Krieg, der nach außen hin die KraftauSeinandersetzung der führenden
Wcltnationen in politischer Hinsicht brachte, hatte innerpolitisch den längst vor¬
handenen Zwiespalt der beiden feindlich gesinnten Lcbenstendenzen des Volkes:
der materiell-Positiven und Kantischen Weltanschauung aufs äußerste zugespitzt,
indem er das kämpfende Volk in zwei Parteien schied: die deutschen Idealisten,
die für die Ehre des Landes ihr letztes Herzblut verspritzen — und die Opportunisten,
die möglichst schnell und billig zum Frieden gelangen wollten.
Nachdem die Patrioten — getragen von jener Kraft, die Ausdruck und
Offenbarung des deutschen Idealismus, der völkischen Treue war — in langen und
heißen Kämpfen Wunder an Mut vollbracht und jene Erfolge erzielt, vor denen
die Welt erbebte, gewannen die Materialisten, die alle Heldentaten mit
lähmendem Zweifel verfolgt, sich aber aus Vorsicht und Klugheit zuallererst in
den Schutz der deutschen Elite gestellt, im letzten, kritischen Stadium unseres
Verzweiflungskampfes unter dem Druck der Lage, die gegen den deutschen Mut
und Idealismus entschied, schließlich die Oberhemd, denn die Lebensfrage des
Volles: ob Schluß — ob Fortgang deS Kampfes wurde am 9. November in
ihrem Sinne gelöst.
Der deutsche Idealismus, der damit nicht nur den Krieg, sondern, was die
logische Folge dieses Fiaskos war, nun auch den deutschen Frieden, dessen
enorme.Kosten er fast ausschließlich bezahlt, unwiderruflich verlor, da das Diktat
der Feinde, der Gläubiger einerseits — und andererseits die Entmannung, der
blinde Selbstmordversuch der deutschen Rationalisten ihn jeder Bewegungsfreiheit,
Initiative beraubt, darf sich von dieser letzten, schmerzlichsten Niederlage nicht
völlig mutlos machen — darf sich von den gewitzter, gewissenlosen Eigennutzpiratcn
nicht einfach überrennen und niedertreten lassen. Denn wie vorher der Krieg,
so wird die Zeit des Friedens nach dem Versailler Vertrag erneut zur Kraftprobe
drängen zwischen den beiden Parteien: den Egoisten und den Altruisten, weil die
moderne Kultur ganz und gar auf den Zweikampf, den ewigen Widerstreit geistiger
Lebensschöpfer und Platter Lebensgenießer, Lebensvcrnichter gestellt ist.
Wollen die Siegelbewahrer deutschen Kulturbcsitzes über den Abgrund der
Knechtschaft, der Demütigung, hinweg ihren Einfluß behaupten, so müssen sie,
unbekümmert um Schelsucht Spott und Verachtung der deutschen Opportunisten,
im Herzen unserer Nation jenen Impuls beleben, der einzig imstande ist, dem
krassen Materialismus und der Entsittlichung, die er herbeigeführt hat, energisch
Einhalt zu tun: nämlich den Drang nach Erkenntnis — die Sehnsucht nach
ideellen und sittlichem Lebensbesitz.
Nicht, daß die deutsche Nation aus ihrem Gelehrtenwinkel schließlich ans
Licht getreten^ um an dem Wettstreit der Kräfte/ der praktischen Möglichkeiten
völkischer Lebensentwicklung öffentlich teilzunehmen, wird ihr zum Vorwurf gemacht.
Sondern, daß sie über diesem wirtschaftspolitischen Wettstreit, der eine Notwendig¬
keit war, die letzten und höchsten Ziele deutsch-nationaler Kultur: die Pflege und
Ausgestaltung idealistischer Werte unbedenklich verriet, ist ihre tragische Schuld.
Man kann nicht einwenden, daß die Ausbreitung und Entfaltung unserer
Politischen Kraft, das Schritthalten mit der kleinen und weltgroßen Konkurrenz
und die Ansprüche, die allmählich auch der Geschäftsapparat des Internationalis¬
mus an unsere Wirtschaftsentwicklung und Handelsbetätigung stellte, eine solche
Kulturentartung, wie sie der Materialismus schließlich herausführen half,
wirklich gefordert habe. Das glaubt im Grunde kein Mensch. Auch ein
wirtschaftlich kräftiges Volk, auch eine Nation, die sich wehrt, die ihr Recht
auf Leben und Arbeit, ihren Platz im Kreis der Nationen und an der Sonne
verteidigt, kann — ohne der materiellen, wirtschaftlichen Entfaltung irgendwie
Abbruch zu tun, ohne die Lebenskraft, die Lcbensnvtwendigkciten des Volkskörpers
anzutasten, ein Bollwerk wahrer Kultur, ein Förderer und Bewahrer geistiger
Schätze sein. Die Möglichkeit wird zur Pflicht, wenn ihre spezifische Stärke
auf geistigem Wirken beruht) wenn ihr Lebensmark sich aus idealistischen
Kräften immer von neuem ergänzt. Das ist das Glück und Verhängnis, das
Schicksal der deutschen Nation. Darum müssen wir endlich zum Ausgangspunkt
unserer Kraft und unserer Triumphe zurück. Der Geist soll es wieder sein, der
uns das Haus erbaut. Die große Masse des Volkes muß ihre Sehnsucht nach
Glanz, nach materiellem Genuß, nach äußerem Eindruck und Anreiz wieder
mit dem Bedürfnis nach Jnhaltswerteu vertauschen. Der Aufwand des
technischen Apparats, welcher von der Bedeutung seiner speziellen Zwecke nicht
mehr gerechtfertigt wird, muß sich allmählich wieder durch die Füllung aller
Formen, Werte und Arbeitsmittel mit persönlichem Leben ersetzen. Das schreiende
Mißverhältnis zwischen Idee und Ausdruck, das uns dem Ruin des
Schöpferischen, so furchtbar nahe gebracht hat, muß der Bergcistigung, der
ideellen Erhöhung unserer Zielpunkte weichen.
Der Mahnruf aller Kämpfer für Arbeit, Fortschritt, Kultur an unser
Vaterland soll kurz und eindringlich lauten: werde, was du bist — oder richtiger:
was du warst!
Aber nicht nur der Überschätzung materialistischer Werte und technischer
Notbehelfe, der wirtschaftlichen Entwicklung, soweit sie die Grenze dessen, was
völkische Wohlfahrt erfordert, überschreitet und unser geistiges Streben beeilt-
trächtige hat: auch der Entsittlichung, die durch diese Entwicklungstendenz in weite
Kreise und Schichten des Volkes getragen ist und an der das Manchestertum, das
von der Moralanschauung des Volkes Besitz ergriffen, d. h. seine Lebensgesetze
eigenmächtig bestimmt oder beeinflußt hat, jedenfalls nicht ohne Schuld ist, gilt
der energische Kampf.
Um die Grundmauern unserer alten, kerndeutschen Sittlichkeit abermals
aufzurichten, bedarf es vor allen Dingen einer ernsthaften Revision aller Geschäfts-
gebrauche, welche der Krieg geschaffen hat. Das strenge Gebot der Pflicht, der
Grundsatz von Treu und Glauben muß wieder zum wirtschaftlichen, beruflichen
Dogma werden. Industrie und Kaufmannschaft müssen selbst davon überzeugt
sein, daß die Gesetze des Anstandes ebensowenig umgangen oder verletzt werden
dürfen, wie die, für welche der Richter und der Staatsanwalt bürgen. Nichts
ist so sehr geeignet, unseren Kredit in der Welt, auf den wir heute schwerlich
werden verzichten können, geistig, und praktisch zu heben, wie ein durchaus
gesundes, sittliches Fundament unserer deutschen Geschäftswelt. Sein pul¬
sierender Blutstrom ist aber das Kapital. Ohne dessen Tatkraft und dessen
Bewegungsfreiheit irgendwie anzutasten, müssen wir ernstlich fordern, daß es der
Diener und Helfer, der Schützer und Bundesgenosse des neudeutschen Staates
sei,' daß es sich selbst als Mittel zu einem größeren Zweck — als unentbehrliches
Werkzeug zum Emporkommen Deutschlands fühlt. Und daß es infolgedessen das
Recht seiner Existenz nur durch Wirtschaftserfolge, die uns in nationaler und
Polnischer Hinsicht fördern, faktisch erweisen wird. — Die Wirtschaftslage des
Reiches, welche von ihm gestützt, beherrscht und beeinflußt wird, ist in so hohem
Maße Sache der Allgemeinheit, daß sich die reinliche Scheidung aller Spezial-
interessen von den praktischen Zielen, Bedürfnissen der Nation, die es befriedigen
hilft, ganz von selber versteht.
Kaufmannschaft, Industrie, Technik, Handwerk, Gewerbe — alle jene Fak¬
toren deutscher WirtschaftSentfaltung, die Blutträger unseres großen, nationalen
Volkskörpers sind, können ihre Mission aber nur dann erfüllen, d. h. ihr Arbeits¬
feld auf die sittliche Daseinsbedingung der deutschen Volksmasse gründen, wenn
das Bürgertum als Gesamtheit, wenn alle Schichten des Volkes sie wirksam dabei
unterstützen, auf eine sehr gesunde und selbstverständliche Art: indem sie sich
gleichfalls entschließen, das Wohl der Allgemeinheit dem eigenen Vorteil und
Nutzen selbstlos voranzustellen. Ist das Bürgertum erst einmal zu der Erkenntnis
gelangt, daß Eigennutz und Genußsucht dem deutschen WirtschaftSkörper nicht bloß
wertvolle Kräfte, sondern den sittlichen Boden, die geistigen Stützen entzieht,^ ist
es ernstlich bereit, auf die Befriedigung jener Wünsche, Begierden, Ansprüche zu
verzichten, die nur durch Diebstahl am Wohl des Ganzen erreichbar sind! so wird
die Parvdiefigur des Unternehmertums, der Schieber und Kriegsgewinner aus
dem Weichbild des Landes unwiderruflich verschwinden.
Diese moralische Wandlung trägt nicht allein zur Gesundung der Wirtschafts¬
verhältnisse bei, sie wirkt, da sie Denken und Handeln unausgesetzt bestimmt, auf
alle anderen Faktoren unseres völkischen Lebens, auf die Gesellschaftsformen, den
Umgang und den Verkehrston, besonders aber auch auf die intimste Beziehung der
Menschen untereinander: auf die sittliche Lebensführung im Kreise der Familie
zurück. Mit dem Verzicht auf Vergnügen, Wohlleben, Eleganz, Dinge, die keinem
tiefen, geistigen Lebensbedürfnis, nur der sinnlichen Habgier und Genußsucht ent¬
springen, kehrt der Deutsche zu jenen Begriffen von Glück und Befriedigung denn,
die früher das Ziel seiner Sehnsucht, seiner Arbeit und Mühsal waren. Das
Ethos des einst so reichen deutschen Familienlebens wird damit wieder von neuem
gefestigt und ausgebaut.
Die progressive Gesundung deö sittlichen Selbstgefühls, welche natürlich
zunächst in jenen Gesellschaftskreisen ernsthaft Platz greifen wird, die dank ihrer
Lebensstellung, Erziehung und Überlieferung zu Hilfstruppen aller Führer des
Volkes berufen sind, färbt schließlich auch auf die Schichten des deutschen Volks-
kvrpers ab, die der sittlichen Lebenserhöhung schwerer zugänglich sind, genau so,
wie dies ja leider im umgekehrten Fall, bei dem moralischen Absturz aller
besitzenden Klassen zum Schaden des Volkes geschehen ist.
Sieht die „entrechtete Masse", wie sie sich gern nennt, das; Name und
Reichtum verpflichten, daß die Männer in führenden Stellen auch wirklich, sittlich
betrachtet, Führer des Volkes sind, daß sie ihr eigenes Ich dem Wohl der Volks¬
gesamtheit freiwillig unterordnen, so folgt sie ebenfalls, moralischem Zwang
gehorchend, dem guten Beispiel und Vorbild, indem sie Beruf und Arbeit als
eine ernste Verpflichtung gegenüber der Allgemeinheit, der völkischen Masse auffaßt,
indem sie Kraft und Verstand, Gesinnung und Energie nicht bloß in den Dienst
des Erwerbs, sondern des Landes stellt. — Aus solcher Lebensanschauung, die das
Volk mit der Tat beweist, fließt ihm als schönster Lohn neben dem baren Entgelt, den
ihm die Arbeit einträgt, das Bewußtsein der Pflichterfüllung, der Unentbehrlichkeit
an einem bestimmten Platz.
Auch in politischer Hinsicht wird diese sittliche Wandlung nicht ohne Einfluß
sein. Sobald nämlich das Bewußseiu treulicher Pflichterfüllung, die jedem das
Seine bringt, das Gefühl der Unersetzbarst deS moralischen Eigenwerts, das
einflußreiche, verantwortungsfrohe Führer in einem fleißigen und begabten
Volke selbst hervorrufen können, den einzelnen deutschen Bürger von innen heraus
ergriffen und restlos durchgerungen hat, verschwindet jener tolle, krankhafte Größen¬
wahn, der sich in den Köpfen hartnäckig festgesetzt hat und auf die Masse des
Volkes übergesprungen ist. Das sinnlose Streben nach Gleichheit der Ziele,
Rechte und Pflichten, das Alpha, und Omega der kommunistischen Lehre, das, ins
Praktische übersetzt, den Untergang der Nation, wie der Kultur sicher zur Folge
hätte, wird in das Reich der Hirngespinste verbannt.
Haben wir unser Volk erst einmal innerpolitisch so weit zur Vernunft gebracht,
dann wird es Zeit für deutsche Lebenskraft sein, sich auch der moralischen und
geistigen Wiedergeburt unseres gesamten Volkes als nationaler Einheit tatkräftig
zuzuwenden — damit es diese Einheit und diese Einmütigkeit, wo es um Existenz,
Zukunft und Selbsterhaltung des deutschen Vvlkskörpers geht, nach außen so gut
wie nach innen wirksam beteiligen kann.
Das deutsche Mvralbewußsein, daS einst bei Ausbruch des Krieges so herrlich
aufgeflammt war, um dann so jäh zu erlöschen oder erstickt zu werden, so daß es
nur noch als Fünkchen unter der Asche glimmt, muß von den Schlacken befreit
und von neuem angefacht werden. Wie das zu geschehen hat? Zunächst, indem
das Gefühl für deutsche Ehre und Würde im Volke wieder geweckt, ihm das
moralische Rückgrat unzweideutig gestärkt wird. Wir kommen über die nationale
Enttäuschung und Verwirrung durch das Kriegsende innerlich nur hinweg, wenn
wir uns auf uns selbst, auf unsere Überlieferung, die Früchte deutschen Fleißes
und deutscher Leistungskraft, den Einfluß deutschen Geistes auf den Entwicklungs¬
gang der Menschheit neu besinnen. Ohne überschlich und unbescheiden zu sein,
was unserer Lage natürlich nicht entspräche, müssen wir das Bewußtsein eigener
Notwendigkeit zur Unentbehrlichkeit steigern. Weil ohne dies Gefühl tätiger Selbst¬
bejahung die Möglichkeit der Entwicklung unwiederbringlich abstirbt. Sind wir erst
einmal wieder in den Besitz unseres starke«/ gesunden Pflichtbewußtseins gegenüber
der Weltkultur, der Weltentwicklung gelangt, so blüht die Liebe zum Land, die
Liebe zur deutschen Nation im Schoß der völkischen Masse auch von neuem empor.
Kein schwächlicher Patriotismus, 'der von der Phrase lebt, der kraftloses Selbst¬
bedauern, entnervendes Winseln auslöst, sondern ein fester Glaube, ein entschlossenes
Bekennen zur deutschen Art und Kultur, das im Zusammenfassen sämtlicher
Schaffenskräfte dem Ziel der Erneuerung zustrebt. — Diesen Baterlandsftvlz, der
sich in fruchtbarer Arbeit, tätiger Selbstverleugnung und Selbstbescheidung erschöpft,
so zu erwerben, daß er nie mehr verloren geht, ist Aufgabe unseres Volkes.
Hat es sie wirklich erkannt und strebt es ihrer Erfüllung mit allen Kräften
entgegen, so stirbt das häßlichste Zeichen nationaler Versklavung, jene hündische
Regung, die uns am meisten verletzt, am tiefsten gedemütigt hat: das Kriechen
vor dem feindlichen Ausland. Die Stärkung des Selbstbewußtseins, .die Auf¬
richtung der Nation durch Liebe und Opfermut im Dienste der Allgemeinheit ist
Voraussetzung ihrer Zukunft und fruchtbaren Existenz.
Natürlich muß Hand in Hand mit dieser Entwicklung durchaus moralischer
Art die praktische Wiederbelebung sämtlicher Arbeitsfaktoren, die Stabilisierung
des Marktes und der Finanzkraft gehen, damit ein nationales WirtschaftSgebilde
entstehe, zuverlässig genug, um den geistigen N eubau zu tragen. — Aber nicht
so sehr von dieser realen Grundlage selbst, dem faktischen Wiederaufbau, der
Begleit- und Folgeerscheinung der sittlichen Auferstehung jungdeutschcr Kräfte,
sondern in erster Linie von dieser Versittlichung selbst, die ihn herbeiführen
muß, hängt die wirtschaftlich-kulturelle und Politische Neugestaltung des gro߬
deutschen Reiches ab.
Wenn unser Vaterland ehrlich um seinen geistigen Ruhm, seine Verjüngung
kämpft, wenn es Verzweiflung und Schande als einen Hebel benützt für seine
innere Entfaltung, wenn es aus eigener Kraft den Platz zurückerobert, auf dem
es Geltung gewinnt im Kreise der Kulturnationen, so dürfen wir wieder hoffen,
daß sich in Zukunft erfüllt, was früher schon Faktum war! Es wird als
politischer und sittlicher Überwinder eigener Kulturverbrechen die moralische
Führung unseres mißhandelten Erdteils fest in die Hände nehmen, nicht, um den
Kontinent zu knechten und zu beherrschen, sondern um zu bedeuten, wie in ver¬
gangener Zeit: das Gewissen der Welt.
Diese Perspektive legt die Vermutung nahe, daß der entsetzliche Krieg für
jene Nation, deren politische Macht er unbarmherzig zerbrach, nicht ohne Be¬
deutung war: mitten im tiefsten Unglück stellen wir dankbar fest, daß er, trotzdem
sein jäher und unvermuteter Abschluß die deutsche Geisteselite so gut wie mundtot
gemacht, gerade durch jenen Frieden, welchen der Materialismus aus Angst vor
Not und Ruin unter dem Druck der Feinde mit herbeiführen half, dein deutschen
Idealismus in die Hände gearbeitet hat. Den,: er wirft die deutsche Nation
langsam — doch unaufhaltsam — durch die verzweifelte Armut, in die er sie nach und
nach natürlich versetzen wird) aus Laxheit und Egoismus austjenen Besitz zurück,
der ihre letzte Zuflucht und ihre Verheißung bleibt, der Eigentum und Gemeingut
des ganzen Volkskörpers war, aber als ein verstaubtes, veraltetes Überbleibsel
einer vergangenen Zeit in die Rumpelkammer verbannt schien: ich meine die
sittliche Kraft nicht nur auf dem Schlachtfeld, wo sich der wehrhafte Teil der
Deutschen stets bewährt hat, sondern auch daheim, als Zivilknrage, die uns so
weithin gefehlt hat.
Der Glaube an Deutschlands Zukunft, Deutschlands Unsterblichkeit, war
Ausgangspunkt meiner Gedanken. Ihr letzter Zweck aber ist, diesen Glauben
Nicht nur zu stärken, sondern ihn zu verbreiten, ihn als eine zukunftsfrohe,
unzerstörbare Saat in die Gemüter zu pflanzen, die trostlos oder verzagt den
Untergang Deutschlands befürchten. Mochte es mir gelingen, dem heißersehnten
Ziel ein wenig näher zu kommen, damit meine Zuversicht Gemeingut des ganzen
Volkes, der obersten Führer so gut wie des einfachen Mannes wird.
ein Ringen um ihre Seele kann man die Arbeit an der Jugend
ansehen. Die Zahl der Ingmdpslege treibenden Bereine ist, so kann
M^U, M-W um, getrost sagen, Legion. Wie der Zahl nach, so ist auch die
M M Art der BetStimmq, sei es mittelbar oder unmittelbar, überaus
UW^MM^M vielgestaltig, deutscher Eigenart entsprechend. Sieben denen der
Sozialdemokratie bereichern die Jugendgruppcn der bürgerlichen Parteien in
neuester Zeit das bunte Bild. Aber glücklich kann man diese Errungenschaft des
Parlamentarismus für die Jugend selbst nicht bezeichnen.
Heute gehört Jugendpflege und Jugendfürsorge zum Ressort des Wohlfahrts¬
ministers. Die beabsichtigte gesetzliche Einrichtung von Jugendämtern wird durch
die Verquickung der Jugendpflege mit sozialen Maßnahmen für Jugendliche, die
zweifellos einen erheblichen Politischen Beigeschmack haben, die erstere noch
mehr als bisher zum Zankapfel der politischen Parteien machen. Letzten Endes
gehen die Bemühungen der Linksparteien doch darauf hinaus, durch Gesetz eine
Handhabe zu erhalten, die freiwillige Jugendpflege lahmzulegen und an ihre
Stelle eine verstaatlichte in ihrem Sinne zu setzen. Mit aller Kraft muß gegen
dieses Ziel des Sozialismus angekämpft werden. Instinktiv tut das auch die
freie Jugendbewegung, die sich selbst führt, aber vielfach recht unschöne Auswüchse
gezeitigt hat.
Überall da, wo in den Jugendpflegeausschüssen eine rote Mehrheit herrscht,
da kommen natürlich die vaterländischen Vereinigungen in pekuniärer Hinsicht zu
kurz. „Vaterländisch" und „deutsch", das sind zwei Begriffe, die den Linksparteien
am schwersten auf der Seele liegen, denn, haben sie erst Fuß gefaßt im Herzen
ihrer Jugend, dann ist's mit Internationalismus und Pazifismus vorüber. Im
Verein mit der in Preußen demokratisch geleiteten Schule muß daher überall da, wo
die Jugendpflegeausschüsse unter sozialdemokratischen Einfluß stehen, alles nieder¬
gehalten werden, was dazu führen könnte, in der Jugend die Sehnsucht nach des alten
Reiches Herrlichkeit in verjüngter Form wachzurufen. Im kommunistischen Berlin
z. B. fordern die Radikalen, daß die vom Hauptausschuß für Leibesübung und
Jugendpflege veranstalteten „Vaterländischen Kampfspiele" fortan nur die Bezeichnung
„Kampfspiele" führen. Mau sieht, wohin die Reise führt. Gelingt es, die
freiwillige Jugendpflege zu zerschlage«, dann sind wir, das kann man getrost
sagen, verloren.
In der programmatischen Rede, die am 36. März 1912 der Minister der
geistlichen und Unterrichtsangelegenheiten v. or. v. Trott zu Solz über die
Jugendpflege im Hause der Abgeordneten gehalten hat, führt er, nachdem er die
antimilitaristische Propaganda in den sozialdemokratischen Jugendorganisationen
beleuchtet und den blutigen Radikalismus eiuer Rosa Luxemburg in einer großen
Vereinigung Jugendlicher gegeißelt hatte, folgendes weiter aus:
„Das Herz kann einem wehtun bei dein Gedanken an diese arme irre¬
geführte Jugend, bei der Vorstellung,^wie der Haß in ihre jugendlichen Gemüter
gepflanzt wird, in diese noch nicht urteilsreifen Köpfe. Welche Frucht wird daraus
hervorgehen! Haben nicht doch vielleicht Ihre (zu den Sozialdemokraten) besonneneren
Führer recht gehabt, als sie vor einer Politisierung der Jugend warnten? Ob
sie ihnen nicht selbst einmal über den Kopf wächst, und ob nicht doch in ihren
Reihen auch heute noch Väter und Mütter sind, die mit stillem Grauen diesem
Treiben zusehen, die doch nicht alles, elterliche Autorität, Haus, Familie, alles,
alles aus- und untergehen lassen wollen in der großen sozialdemokratischen Partei?
Die ^Zukunft wird eS lehre«. Aber mit einer solchen Jugendpflege können wir
nicht paktieren. Da muß ein tiefer Graben gezogen werden, und der uns auf¬
gedrungene Kampf muß aufgenommen werden."
An einer anderen Stelle seiner Rede sagt der Minister: „Also, meine Herren,
Politik muß ausgeschlossen sein aus unseren jugendlichen Organisationen. Wir
würden damit nicht nur gegen das Gesetz Verfahren, sondern wir würden auch das
Falscheste tun, was wir tun könnten."
Zu dem Antimilitarismus der Sozialdemokratie hat sich noch der Pazifismus
gesellt. Die regierende sozialdemokratische Partei, vor deren staatszersetzendcr
Arbeit der preußische Kultusminister vor einen: Jahrzehnte eindringlichst warnte,
und die heute durch den aus ihren Reihen hervorgegangenen Reichspräsidenten
bei jedem neuen Gewaltakt unserer Feinde in ihrer Hilflosigkeit erklären läßt:
„Wir sind ja wehrlos!", diese Partei scheut sich vor dem Eingeständnis, auf den
deutschen Namen das Verächtlichste geladen zu haben, was durch die Jahrtausende
in der Geschichte der Völker sich nicht wiederfindet, nämlich durch ihre Machthaber
das deutsche Volk entmannt zu haben. Ohne Unterlaß muß diese Schande dem
heranwachsenden Geschlecht in die Ohren gellen, solange, bis auch dem einfachsten
deutschen Jungen Schamröte in die Wangen und Thränen in die Augen steigen,
und die Hand sich zur Faust ballt in dein Gedanken: der Gott, der Eisen wachsen
ließ, der wollte keine Knechte! — Alle, die einst selbsttätig, begeistert, mit Hand
angelegt haben am schönsten Werk vaterländischer Betätigung, sie stehen jetzt vor
einem Trümmerfeld, aus dem nur langsam und schüchtern, vielfach ohne rechten
Halt, neues Leben emporwächst.
Der tiefe Riß, der heute durch unser Volk geht, ihn zu überbrücken muß
gelingen. Gewiß werden immer Teile beiseite stehen bleiben, aber die Mehrzahl
muß zurückgeführt werden zu deutschem Empfinden/ zu deutscher Art in ihrer
edelsten Bedeutung. Jugendgemeinschaft wird zur Volksgemeinschaft führen. Sie
wird uns den alten Platz unter den Völkern zurückerobern.
Wer mit offenen Augen die vielen guten Ansätze im Vaterlande Verfolg
hat, die auf den verschiedensten Gebieten die Wiedergenesung des kranken Volks¬
körpers zum Ziele haben, der kann sich der Besorgnis nicht verschließen, daß ein
Wer- und Nebeneinanderherorganisieren in Verbindung mit zahlreichen Sonder-
bestrebungen, hier und da auch Eigenbrödelei, auch die Arbeit an der Jugend,
wie vor dem Kriege, zu gefährden und zu zersplittern droht. Wohl sind die
»leisten von bester, redlichster Absicht beseelt. Aber die Vielseitigkeit der Mittel
und Wege, zum Endziel zu gelangen, erfordert doch eine gewisse Einheitlichkeit in
der Beleidigung nach höheren Gesichtspunkten im Hinblick auf die Zukunftsaufgaben,
die zu lösen das heranwachsende Geschlecht bestimmt ist. Kurz gesagt, auch für eine
zielbewußte Arbeit an der Jugend bedarf es einer Leitung, die nach heutiger
Lage der Verhältnisse stillschweigend einer kleinen Zahl von Persönlichkeiten über¬
lassen bleiben müßte, die auf allen Gebieten des Staatslebens bewandert sind
und im besten Sinne allgemein anerkannt werden.
Sie sollen in wenigen, aber bestimmten Linien auch der Arbeit an der
Jugend durch eine zentrale Sammelstelle für alle Anregungen und Erfahrungen
— auch aus der Jugend selbst heraus — den engen Zusammenhang mit den
jeweiligen Erfordernissen des gesamten Staatslebens geben, der uns allmählich
aus der Parteiung und Selbstzerfleischung unserer Tage wieder untereinander
zusammenfinden läßt zu einem einheitlichen Volksganzen. Eine solche Haupt¬
stelle, ständig in Fühlung mit ähnlichen Sammelstellen in den deutschen Ländern
und Provinzen, müßte durch sorgfältigst ausgesuchte Mitarbeiter und jugendliche Helfer
die gesamte Jugendpflege zu beeinflussen, zu befruchten und in mannigfaltigster Weise
zu unterstützen suchen. Was der heutige Staat in seiner Schule an Edlem und
Erhebendem aus der Glanzzeit deutscher Geschichte nicht mehr zu geben vermag
und will, muß der Jugend durch Auswahl geeigneter Zeitschriften, durch Hinweise
auf hier und da vereinzelt erscheinende gute Abhandlungen, durch Sammlung und
Zusammenstellung von Vorträgen, auch religiösen und kulturgeschichtlichen Inhalts,
stets unter Vermeidung des Aufdringlichen, aber der Not der Zeit und ihrer
Eigenart Rechnung tragend, auf dem Lande durch Lesestuben vermittelt werden.
Auch Bühne und Lichtbild müßten in den Dienst der Sache gestellt werden. Aber
immer muß der deutsche Gedanke im Vordergrund stehen. Besondere Beachtung
verdient auch die höhere Bewertung produktiver Arbeit, die Unterordnung des
eigenen Ich unter das Staatswohl. Aufführungen und alle Arten öffentlicher
Veranstaltungen sollen getragen werden von den Leistungen unserer gebildeten
Jugend in der Absicht, denen eine Frende zu machen und ihr Herz als gleich¬
artige Volksgenossen zu gewinnen, die ihr sonst ferner stehen. Ein wachsames
Ange ist auf solche Elemente zu haben, die sich herandrängen, um durch ihr
undeutsches Fühlen und Denken die Herzen der Jugend zu vergiften.
In dieser Weise ließe sich unter möglichster Beschränkung büromäßiger
Anordnungen und Hinweise und ohne jeden Eingriff in das Bestehende, gewisser¬
maßen unmerklich, das segenspendende Wirken und Walten echt deutsch fühlender
Männer in der Arbeit an unserer Jugend zur Geltung bringen.
line Würdigung der Persönlichkeit dürfte zu dein Ergebnis führen,
daß Karl Marx wie Friedrich Engels „echte und wahrhafte
Charaktere von historischem Stil" sind. Die Einheit der Marxschen
Persönlichkeit wird sein künftiger Biograph in dem Politiker, dem
Soziologen, dem Sozialvkonomen aufzuzeigen wissen/ dann erst wird
dies Charakterbild der Parteien Haß und Gunst entrückt sein. Mehr als
andere heißt ja eine solche Gestalt sich die Geister scheiden. Denn jener letzte An¬
trieb, der Marx beseelt, wirkt bis in die feinsten Verästelungen seiner Theorie, bis
in die flüchtigsten Äußerungen des Alltags. Der gleiche „Dämon", den der Vater
im Jüngling sah, treibt den junghcgelschen Idealisten und bürgerlichen Radikalen
der Frühzeit wie den Materialisten und Kommunisten späterer Jahrzehnte. Durch
die überladenen „rhetorischen Neflektivnen", durch die „Phantastischen" Gedichte
und Dramen des Beginns stürmt schon ohne Rast jener Feuergeist, der — ein
„wahrer rasender Roland" in der Liebe des Jünglings — Marx nun über die
Höhen revolutionären Wirkens wie durch alles niederziehende des Alltags trägt.
Freund wie Feind zeichnen uns sein Bild: die Herrschergaben seines Ver¬
standes und seines Willens. In der frühen Wahl der Braut greift er bereits
nach dem Höchsten und halt es durch alles Widerwärtige fest mit starkem und
reinem Herzen. Der Sohn des jüdischen Urwalds macht sich zum Schwager des
reaktionärsten aller preußischen Bürokraten, ohne daß wir Marxens Verhältnis
zur Familie v. Westphalen bisher ganz durchschauen könnten. Die Strudel der
Politik ergreifen sodann den Neunzehnjährigen. Sie werfen ihn bald genug an
das andere Ufer/ doch in Kämpfen innerster „Gewissensangst" erst lost der TagcS-
schriftsteller jenes Band, das die Überlieferungen Voltaires und Friedrichs "des
Großen in ihm knüpften: der „Humanität" und dem „Genius der Monarchie"
hatte sein aufgeklärter, Christ gewordener Bater ihn verbinden wollen. Das
menschliche Selbstbewußtsein, das „Selbstgefühl des Menschen" war die seinem
Wesen gemäße Philosophie geworden/ ihre Züge prägt Marx in der äußeren wie
inneren" Einsamkeit des Kämpfens nun um so stärker aus. Sein „Intellektualismus"
scheut vor keiner Schärfe/ Kampfgenossen wie Willich gegenüber schreckt er selbst
vor „Mystifikationen" nicht zurück. Sein an Voltaire geschulter Sarkasmus
bedarf der Gegner, entlädt sich in weit ausgesponnenen Polemiken., Sein Denken
zerlegt alles in Quantitäten: die Wirtschaft in die Summe der individuellen, me߬
baren Arbeitsstunden, deu geschichtlichen Fortschritt in eine rationale Entwicklung
der Individuen. Er begreift wohl die Gesetze der Mathematik, nicht aber „die
einfachste technische Realität, zu der Anschaung gehört".
Kein Wunder, daß man Marxens Intoleranz anklagt: Diktator, Thrannen
Despoten ihn benennt. Energie und Feuer bezeichnen sein Auftreten, aber auch
Verachtung aller Andersmeinenden und eine ganz unerträgliche Arroganz (Karl
Schurz). „Träume künftiger Polnischer Macht" erfüllen ihn, der im Exil die
Revolution erwartet. Ein Feind sagt: Er lache über alle, die seinen Proletarier¬
katechismus nachbeten. Er achte allein die reinen Aristokraten. Um sie von der
Herrschaft zu verdrängen, brauche er eine Kraft, die er allein in den Proletariern
finde/ deshalb habe er sein System auf sie zugeschnitten. Seine persönliche
Herrschaft sei der Zweck all seines Treibens. Ein anderer nennt ihn einen
Virtuosen des Hasses. Und ein Freund nennt ihn die Verkörperung eines demo¬
kratischen Diktators — aus Energie, Willenskraft und unbeugsamer Überzeugung
zusammengesetzt. Er sei „ein geborner Leiter der Menschen".
Herrschen allerdings sehen wir Marx, wo immer er erscheint/ niemals hat
er, gleich Engels, die zweite Geige spielen mögen. Seine Liebe zu Homer, Dante
und Shakespeare kennzeichnet das geistige Herrentum, das prometheische Molo
seiner Erstlingsschrift die „große geistige Leidenschaft" des Mannes von allgemeinen
Strebungen, wie er sich nennt. So sehen wir ihn Macht gewinnen in der
„Rheinischen Zeitung" des radikalen Bürgertums von 1849, herrschen im
Kommunistenbund von 1847, der ihm 1848 ausdrücklich die Diktatvrschaft des
Bundes überträgt. Nicht so sehr den im „Kommunistischen Manifest" eben ge¬
prägten Marxismus, wie den „Redakteur en eliot' Karl 'Marx" finden wir als
geistigen Herrscher der „Neue» Rheinischen Zeitung" im Sturmjahr 1848/49. Ob
er sich im Exil mit Engels selber zu Vertretern der proletarischen Partei bestellt,
ob er die sogenannte 1. Internationale leitet, ob er die liberale Ökonomie der
Engländer für seine revolutionären Ziele umschmiedet, niemals finden wir ihn
abhängig oder sich eingliedernd in ein unpersönliches Gefüge. Eher sprengt er
mit einem „Staatsstreich" den Kommunistenbund, den er nach Köln, die Inter¬
nationale, die er nach Neuyork verlegt. Wie er anfänglich das Duell nicht und
später keinen geistigen Zweikampf scheut, duldet er keine Niederlage, kein Zurück ^
weichen: weder in der Liebe noch in der Freudschait, noch selbst "im Schachspiel.
Sogar von Engels hält er andere zurück/ der Freund sei ja „einige Eifersucht"
an ihm gewohnt. Seine Güte wie seine Stalle entfließen dem gleichen Quell, und
nicht zuletzt jene völlige Ehrfurchtslosigkeit in seinein Wesen. Grenzenlos in allen
Räumen ist sein Wille zur Macht/ „sie machte ihn froh und zufrieden". Wer sich
ihm entgegenstellt, soll zerschmettert werden: vao viotis! Staaten wie Preußen
oder Nußland, ganze Rassen wie die Slawen, ja die bisherige Weltordnung schlecht¬
hin will er vernichten — mit deu Waffen der Theorie wie des politischen Kampfes.
Terrorismus und „Exzesse" vermag er zu billigen. Was der „Mönch" Luther
begann, will der „Philosoph" Marx vollenden. Weder Lassalle noch Liebknecht
genügen seinem Drang, geschweige denn geringere Geistero der gar die „Knoten" und
Massenmenschen) „lieben wird uns der rote oder selbst kommunistische Mob doch nie".-
So stempelt seine vulkanische Persönlichkeit als „utopische" Sozialsten und
„Vulgär"-Ökonomen ab, was neben ihm sich in der Theorie behaupten will,' ein
Hegel und ein Ranke selber müssen zum Widerspiel Marxens als „bürgerliche"
Tendenzschriftsteller erscheinen. Noch un Jahre 1864 „kennzeichnet" Marx in der
Weise Köppens und späterer politisierender Historiker „das tanzende Wurzelmännchen
Ranke": dieser geborene „Kammerdiener der Geschichte" habe „spielende Anekdoten -
krämerei und die Rückführung aller großen Ereignisse auf Kleinigkeiten und Laufe¬
reien" für den „objektiven" Geist der Geschichte gehalten. — Es gibt nur eine
Wissenschaft der politischen Ökonomie und der Gesellschaft — die seine,' wobei es
dahingestellt bleiben mag, bis wann wir danach in Marxens eigenem Denken die
„biirgerliche" Tendcnzschreiberei zu datieren hätten! Denn die Tendenz beseelt ihn
selber durch alle Stadien seines Werdens: sie ist ein und dieselbe in seiner philo¬
sophischen Dissertation wie in seinen Theorien über den Mehrwert wie in seinen
ästhetischen Urteilen. Sie läßt ihn kritiklos, leidenschaftlich werden. Wie hätten
einem solchen Manne Borns oder Lassalles „friedliche Arbeiterassoziationen mit
StaatShilfe" genügen können,- eben jenen Staat, den Lassalle anrief, wollte er
zerstören. Der „Untertanenglaube der 'Lassalleschen Sekte an den Staat" habe
noch das Gothaer Programm von 1875 „verpestet".
Damit kommen wir zu dem politischen Grundzug seines Wesens: die Politik
blieb das Element seines Denkens. Philosophie und Handeln verbanden sich Marx
zur Einheit, seitdem der Neunzehnjährige in den Berliner Strudel geraten war.
Tendenz, Individualität, Praxis: sie erfüllten die Seele des „Jungen Deutschland"
wie der Berliner Jungradikalen. Und erst, als der „Privilegienstaat" der Romantik
und Reaktion sie zurückgestoßen, warfen sie ihr nationales Fühlen von sich.
Niemand bewußter und nachhaltiger als Marx: im neuen Reich Bismarcks haßt
er den siegreichen „Militärdespotismus" von 1815 und 1849. Schon seine Lehrer,
Eduard Gans der Jurist und Friedrich Köppen als Historiker, waren Politiker
gewesen. Von Gans aus ist Marx erst Hegelianer geworden/ von der zentralen
Universität des damaligen Deutschland hat er, außer etwas Logik und juristischen
Fachvorlesungen, keinerlei Belehrung oder Schulung angenommen. Vielmehr stand
er als Student sogleich im Getriebe des Tages/ seine Dissertation selber war,
wie Bruno Bauer ihm schreibt, nur die schwer festzuhaltende „Philosophische Form"
seines stürmischen Drängens. Nirgends deutlicher als in den „Bruchstücken" seiner
Doktorarbeit über Epikur bricht die politische Tendenz des junghegelschen Radikalen
hervor: Gegen Schelling, den eben nach Berlin berufenen Wortführer des
„christlich-germanischen" Staatsgedankens der Romantik, polemisiert der Ausleger
Epikurs mit Sätzen, welche die Erregung und Enzweiung der Junghegelianer um
1841 widerspiegeln. Der in sich 'freigewordene theoretische Geist wurde zur
praktischen Energie, zum Willen, der sich gegen die weltliche Wirklichkeit kehrte,
.wie Bruno Bauer es dem Freunde formulierte: „Die Theorie ist jetzt die stärkste
Praxis". Beide sollten in Bonn den Kampf aufnehmen Wider Eichhorn, den neuen
Kultusminister des gekrönten Romantikers, und Wider den bloß kontemplativer
Teil der junghegelschen Schule. Solche „Praktische Energie" war in der Tat das
„psychologische Gesetz" Marxens, das er nun — bezeichnend genug — sogleich als
allgemeines zu begreifen suchte.
In seinem Bemühen, das Gesetz des eigenen Handelns als absolutes zu
begreifen, sind Marxens weitere Schriften beschlossen. Die „heilige Familie" von
1844 richtet sich eben gegen Bauer, den Marx nunmehr als den „vollendetsten
Ausdruck des christlich-germanischen Prinzips" bekämpft. Jetzt hält er auch Hegels
Geschichtsanschauung für einen „spekulativen Ausdruck des christlich-germanischen
Dogmas", obgleich doch Haller und Leo, Stahl und Schelling, Eichhorn und
Friedrich Wilhelm IV. jenes Dogma gerade im Widerspruch zu Hegel befestigen
wollten. Wir werden sehen, wie die Abkehr vom „christlichen Staat" der „Heiligen
Allianz" und vom Staatsgedanken Hegels für den Marxismus eins geworden sind.
Derart werden alle theoretischen Arbeiten Marxens Politisch unterband: die¬
jenigen der Jahre 1847—1851 so gut wie seine „.Kritik der Politischen Ökonomie"
von 1859. Wie toll arbeitet Marx an ihr die Nächte durch, damit er wenigstens
die Grundrisse im klaren habe vor den: üöwZiz — vor der neuen Revolution, die
aus der Wirtschaftskrifis 1858 folgen sollte. Es ist kein Zufall, daß sowohl das
„Kommunistische Manifest" von 1848 wie die sogenannte 1. Internationale von 1864
mit einer antirussischen Kundgeburg für Polen beginnen) denn Polen war und blieb
für Marx das „auswärtige Thermometer" aller Revolutionen Wider die „Heilige
Allianz". Erst Deutschlands Gegensatz zu Rußland verleiht der sozialen Revolution
auf demi „europäischen Terrain" ihre „Pointe". Im Hinblick auf die außen¬
politischen Wandlungen ist auch das „Kapital" 1867 erschienen, und als Bismarcks
Sieg 1871 nun doch die Mächte der „Heiligen Allianz" befestigt hatte, da sollte
die S. Auflage (1873) „den Glückspilzen des neuen heiligen, preußisch-deutschen
Reichs Dialektik einpauken" — angesichts der abermals ausgebrochenen Wirt¬
schaftskrise.
In Marxens Ökonomie durchdringen diese Antriebe überall das Gefüge seiner
wirtschaftlichen Gesetze und Tendenzen/ die ökonomische Entwicklung der Gesell¬
schaft soll nun mit der Unvermeidbarkeit Darwinscher Naturgesetze jenen „Mnor«,l
eraslt", jenen allgemeinen Zusammenbruch hercmffuhern, dessen baldiges Kommen
der Politiker Marx allzu oft vergebens prophezeit hatte.
England und Rußland. Man wird guttun,!die Bedeutung des am 16.'März
unterzeichneten englisch-russischen Handelsabkommens nicht zu überschätzen. Denn
erstens ist es ausgesprochenermaßen nur ein vorläufiges Abkommen, eine Art
Präliminarfrieden, zweitens ist es derartig von gegenseitigem Mißtrauen durch-
tränkt und drittens von so viel Vorsichtsklauseln umgeben, daß man sich seine
Haltbarkeit nur sehr schwer vorstellen kann. Dennoch unterscheidet es sich sehr
vorteilhaft von sämtlichen seit dem 11. November 1918 geschlossenen Friedens-
verträgen und kann als eine erste wirkliche Friedenstaube begrüßt werden. Bildet
es doch ein Anzeichen dafür, daß die allgemeine, auf Jntrcmsigenz, auf unerreich¬
bare Ideale gerichtete Kriegsmentalität der ruhigeren Auffassung zu weichen
beginnt, daß hauptsächlich infolge der Entwicklung, die der Welthandel genommen
hat, in der modernen Politik immer wieder nur der Kompromiß möglich ist, daß
das Ringen hart auf hart nur zu weiterer beiderseitiger, nicht nur wirtschaftlicher,
sondern' auch sittlicher Verelendung führt, daß Regieren nicht Bewegen und
Proklamieren, sondern Durchdringen und Wirken heißt. Es ist jschwer zu sagen,
welche von beiden Parteien mehr nachgegeben hat und mit der Unterzeichnung
dieses Abkommens daS größere Opfer bringt: ob die Sowjetrcgierung, die damit
die Hoffnung auf die Weltrevolution scheinbar aufgegeben hat und mit einer
kcrpitalistischen Negierung verhandelt, oder die englische, die ein Regime, das jahre¬
lang als nicht nur verbrecherisch, sondern auch morsch hingestellt und mit viel
Aufwand an Blut und noch mehr an Geld bekämpft wurde, as l'aeto anerkannt
und sich dadurch bei den nächsten Verbündeten äußerst unbeliebt macht. Der
größere positive Vorteil aber scheint auf feiten Rußlands zu liegen, selbst wenn
man dein Umstand Rechnung trägt, daß England infolge der Herstellung des
Friedenszustandes mit Rußland die für seinen Handel unentbehrliche, baldige fried¬
liche Einigung zwischen Frankreich und Deutschland nicht mehr so nötig braucht,
irr Gegenteil infolge der Fortdauer des deutsch-französischen.Konflikts nicht nur
die drohende deutsche .Konkurrenz in Rußland lähmt, sondern auch den französischen
Bundesgenossen Amerika gegenüber an der Stange hält. Denn die Hauptbedingung,
von deren Innchaltung das ganze Abkommen" gleich eingangs abhängig gemacht
wird: die Einstellung der russischen Propaganda in Asien, steht doch im wesent¬
lichen auf dem Papier, ihre Beobachtung auf feiten Rußlands kann, zumal da die
asiatische Sowjetpropaganda jetzt schon fast überall in der Form einheimischer
Brandherde auftritt, nur sehr schwer kontrolliert werden, jedenfalls schwieriger als
eine etwaige englische Antibolschewistenprvpaganda in Rußland oder in den Raub-
staaten, die ja, soweit sie gegen eine starke russische Zentralgewalt gerichtet ist,
nur alter, von der russischen Revolution von 1905 her genugsam bekannter
Tradition entsprechen würde. Bezeichnend genug ist denn auch, daß das Abkommen
zwar von Indien und Afghanistan namentlich spricht, Persien aber unerwähnt
läßt, obgleich es den Russen dort jetzt beinahe gelungen ist, wieder den Zustand
von 1907 herbeizuführen, und die Engländer trotz abermaligen Regierungswechsels
in Persien die heiß erstrebte Ratifizicrung des englisch-Persischen Vertrages noch
immer nicht haben durchsetzen können.
Über die Ausdehnung und Bedrohlichkeit dieser sowjetistischcn Asienpropaganda
gibt das bei Unterzeichnung des Abkommens Krassin überreichte Schreiben Sir
Robert Hornes Auskunft, das um so bemerkenswerter ist, als es nicht nur den
latent zwischen beiden Ländern mit fast unverminderter Schärfe weiter bestehenden
Kriegszustand erkennen läßt, sondern auch ein seltenes authentisches englisches Ein¬
geständnis der Wirksamkeit dieser Propaganda bildet.
„Die englische Regierung", heißt es dort, „bat die gewichtigsten Ursachen zu der An¬
nahme, daß den Hauptgegenstand der zwischen der afghanischen und der Sowjetregierung ge¬
pflogenen Unterhandlungen die Erleichterung und Ermöglichung von Angriffen auf den Frieden
Indiens gebildet hat. Der russische Gesandte in Kabul, Suritz, hat als eine der wichtigsten
Konzessionen der afghanischen Regierung die Garantie sicheren und sofortigen Transportes
einer großen Zahl von Gewehren und bedeutenden Mnnitionsmengcn durch Afghanistan zu
den Grenzstämmen innerhalb der englisch-indischen Grenze bezeichnet, was eine offen feindliche
Handlung bedeutet. Die Sowjctregicrung weiß ganz genau, daß das Eintreffen von Waffen
und Munition schon hinreicht, diese Stämme zum Angriff auf indisches Gebiet aufzureizen.
Aber damit nicht genug, hat der Vertreter der Sowjets eine Verbindung'mit den ausgesprochen
antibritifchen Führern dieser Stämme hergestellt und Sorge getragen, führende Afghanen,
besonders den Oberlommandiercnden, Nadir Khan, in diese Unterhandlungen zu verwickeln.
Zamal Pascha hat den Führern noch größere Mengen an Munition versprochen, Mahendra
Partap, der während des Krieges deutscher Agent war, hat unter den Stämmen weiter nördlich
in Chitral, Waldau und Pamir agitiert. Die Bolschewisten beschäftigen noch andere frühere
deutsche Agenten, z, B. Barkatallah, der den ersten bolschewistischen Gesandten Bravin nach
Kabul begleitete, Ascharigcch und Abbur Nab, die mit Suritz nach Kabul kamen, Mookerjce,
der in der Moskaner Zentrale sitzt und Marabindra Nada Reh, der von Taschkend in Turkestan
die Verbindung mit aufrührerischen Elementen in Indien aufgenommen hat. In Taschkend
befindet sich die Bastei der Jndienpropaganda mit einer politischen Abteilung und einem
militärischen Zentrum, hier werden alle nach Turkestan kommenden Inder in revolutionärer
Taktik unterrichtet und Emissäre durch Afghanistan nach Indien ausgesandt. Die Absicht der
Sowjetregierung, dies Zentrum von Taschkend sobald wie möglich nach Kabul zu verlegen,
kann nicht abgeleugnet werden. Suritz hat versucht, Druckereien in Kabul zu errichten, und
es ist unbestreitbar, daß Propaganda in Indien eine der Hauptbeschäftigungen der Konsulate
bilden würde, die man in Kandahar, Ghazni und Jalalabad einzurichten beabsichtigt. Die
englische Regierung hat gegen Abkommen zwischen der afghanischen und der Sowjctregierung,
die in der üblichen Weise nachbarliche und Handelsbeziehungen regeln, nichts einzuwenden,
obgleich selbst, die russische Zarenregierung anerkannt hat, daß Afghanistan außerhalb ihrer
Einflußzone läge. Aber die jüngsten afghanisch-russischen Verhandlungen gehen unter anderen:
auf Lieferung von Geld, Munition und Flugzeugen an die afghanische Regierung und auf die
Errichtung von Sowjetkonsulaten an den östlichen Grenzen von Afghanistan, und unter den
gegenwärtigen Umständen und in Anbetracht, daß Nußland in Ostafghanistan keinerlei
Handelsinteressen wahrzunehmen hat, kann die britische Regierung solche Unterhandlungen nicht
anders denn als antibritisch bezeichnen und muß auf ihrer Einstellung bestehen."
Auch der mildeste Optimist wird nicht behaupten wollen, daß ein derartiges
Schreiben gerade der reinste Ausdruck beiderseitigen Wunsches nach „friedlichen
Handelsbeziehungen" sei, und die Engländer selbst werden die letzten sein, die sich
mit der Hoffnung schmeicheln, daß nun mit der Unterzeichnung des Abkommens
die Sowjctprvpaganda in Asien mit einem Schlage aufhören werde. Sie müssen
sich eben damit begnügen, diese Propaganda ein wenig erschwert zu haben und
aus dem mehr oder weniger erwiesenen Bruch des Abkommens von selten der
Sowjets einen Vorwand herleiten zu können, auch ihrerseits, wenn nötig, das
Abkommen zu verletzen.
Von noch größerer Wichtigkeit sind zwei weitere Bestimmungen des Ab¬
kommens :
„Die britische Regierung verpflichtet sich, an keiner Maßnahme teilzunehmen oder sie
zu unterstützen, die darauf ausgeht oder auszugehen sucht, russische Schiffe in der Ausübung
der, Schiffen anderer Nationen zustehenden, Rechte freier Schiffahrt auf offenem Meer, in Meer¬
engen und Wasserwegen einzuschrauben oder zu hemmen."
Damit ist die freie Dardanellcndurchfahrt für Rußland gesichert und diesem
die Möglichkeit gegeben, später in der im Vertrag von Sövres vorgesehenen
Mecrengcnkvnnnissivn seinen Platz einzunehmen. Die zweite wichtige Bestimmung
ist die des Artikels IX, daß russische Zahlungsmittel, einerlei, ob sie in Gold,
Sicherheiten oder Papieren bestehen, nicht beschlagnahmt werden sollen. Damit
wird also, wenn auch nach Artikel X das bereits in England befindliche Eigentum
der früheren zaristischen Regierung dem Zugriff der 'Sowjctregierung entzogen
sein soll — eine kleine, durch die Vorgänge nur allzu berechtigte Konzession —,
die augenblickliche Regierung tatsächlich als legale NcchtSnachfolgerin der Zaren-
regierung anerkannt. Bezeichnend für das gegenseitige Mißtrauen ist dann noch
die Bestimmung des Artikels XIII, daß bei einseitigem Bruch des Abkommens
auch die Gegenseite sogleich ihrer Verpflichtungen ledig sein soll, wenn man sich
auch freundlicherweise zugesteht, daß, bevor ein aktiver, und den, Ablonnnen unver¬
einbarer Schritt gegen den Partner unternommen wird, der bclcMgte All dem
anderen vernünftige Gelegenheit geben soll, seine Verfehlung zu erklaren oder
ihrer Auswirkung abzuhelfen.
Den Augenblick des Abschlusses hat Lloyd George mit außerordentlicher
Geschicklichkeit,' allerdings auch von seinem sprichwörtlichen Glück begünstigt,
gewählt. Die französische Presse, die, ans begreiflichen Gründen, besonders
Artikel IX des Abkommens mit sehr gemischten Gefühlen aufnehmen mußte, durste
nicht mucksen, da man im Augenblick die Unterstützung Llod Georges bei Durch¬
führung der „Sanktionen" braucht, die vom 1. Mai ab in ganz großem Stile
angewandt werden sollen. Die englischen Gegner des Abkommens, die Konser¬
vativen und die Northcliffepresse, konnten sich also nicht auf den Unwillen der
Bundesgenossen berufen und den Arbeitern, die, wenn sie auch von den Idealen
der Moskaner Internationale nicht allzu viel wissen wollen, auf der Aussöhnung
mit Rußland wie auf einem Glaubensartikel bestanden, wurde mit Abschluß des
Abkommens viel Propagandawind aus den Segeln genommen. Den auf diese
Weise gewonnenen taktischen Erfolg hat Llvhd George dann, ohne Zweifel auch
unter dein für das Weiterbestehen der Koalition sehr bedrohlichen Rücktritt Bonar
Laws, sogleich ausgenutzt durch seine große Rede gegen die Labour Party durch
die er sich zwar die Torys nicht versöhnte, den unabhängigen Liberalen aber jede
Sondereristenzberechtigung nahm. Auch hier hat man wieder von der schillernden
Unzuverlässigkeit des' englische«: Premiers gesprochen. Es kommt aber Llvhd
George, dessen staatsmännische Qualitäten nicht überschätzt werden sollen, dessen
Geschicklichkeit aber unbestreitbar ist, nicht darauf an, als ein Mann von unverrück¬
baren Grundsätzen zu gelten, sondern sichtlich vor allem darauf, seinem Lande,
dessen Parteiverhältnisse infolge des Krieges zerrüttet sind, möglichst lange eine
möglichst starke und aktivnssiihige Regierung zu erhalten. Klarsichtige Politiker
in England wissen denn auch ganz genau, daß man mit Llohd George in sehr
vielen Punkten unzufrieden sein kann, daß er und die Koalition oder doch irgend¬
eine koalitionierte starke Mehrheit gegenwärtig, zumal solange das irische Problem
noch nicht gelöst ist, immer noch das kleinere Übel darstellt. Immer noch kommen
bald die Schutzzöllner (durch die KVProzentige Ausfuhrtaxe), bald die Unionisten,
bald die Koalitionslibcralen, bald die Arbeiter irgendwie auf ihre Kosten, und
trotz aller Schwierigkeiten der inneren und äußeren Lage erscheint die Position
Lloyd Georges, gerade infolge seiner erstaunlichen Elastizität, noch immer als
sehr sicher.
An dem gleichen 16. März, an dem das englisch-russische Abkommen unter¬
zeichnet wurde, hatten die Russen noch einen anderen großen Erfolg zu verzeichnen:
das Abkommen mit den Kemalisten, das eine Art Schutz- und Trutzbündnis
darstellt. Beide Teile verpflichten sich, keinerlei internationales Abkommen anzu¬
nehmen, das einem von ihnen mit Gewalt aufgedrängt wird, sowie ans ihrem
Gebiet die Bildung keiner Formation zuzulassen, die Anspruch macht, das Land
des Partners zu regieren oder zu bekämpfen. Mit anderen Worten, Rußland
verspricht den Türken Beistand in der Konstantinopelfrage und die Türkei lehnt
es ab, sich von Frankreich im Kaukasus als Vormacht gegen Nußland gebrauchen
zu lassen. Die Leidtragenden sind zunächst die Franzosen, die gehofft hatten, die
in London geschlossene Waffenruhe an der nordsyrischen Front zu einem Bündnis
gegen Nußland ausbauen zu können, in Tiflis aber von einer sowjctistischen
Revolution überrascht wurden und nun auch Batna haben räumen müssen, das
Georgien bleibt, aber weitgehende lokale Autonomie zugunsten der Türken be¬
kommen soll, die sich auch des größten Teils von Armenien wieder bemächtigt
haben. Den Engländern aber ist die in London so jäh hervorgetreten« französische
Türkenfreundschaft, verbunden mit dein Eintreten der Franzosen für ein autonomes,
den Bulgaren Zugang zum ägäischen Meer ermöglichendes Thrazien, und der
Besorgnis vor den noch immer in Stärke von 45 000 Mann in nächster Nähe
von Konstantinopel lagernden mit Frankreich Verbündeten, wenn auch offiziell
jetzt aufgegebenen Wrangeltruppen unheimlich geworden, weshalb man denn
den griechischen Widerstand gegen die in London vorgeschlagene Revision des
Vertrages von Sevres unter der Hand gern ermutigt haben wird, um zunächst
einmal die Hoffnungen der in London gar zu einig aufgetretenen Türken etwas
hinabzudrücken, was angesichts der großen Anfangserfolge'der griechischen Offensive
ur auch zu gelingen scheint. Das nächste wird sein, daß England die armenische
Frage benutzen wird, um Bolschewisten und Türken wieder auseinanderzusprengen,
da ein "dauerndes russisch-türkisches Bündnis mit geheimer französischer Unter¬
stützung bei der Notlage und der daraus sich ergebenden Unzuverlässigkeit der auf
dem ganzen Balkan verteilten russischen Emigranten eine große Gefahr für Englands
Konstantinopelstellung bilden würde.
Was aber die Russen betrifft, so haben sie, nachdem ihre Agitation zur
Weltrevolution sich in eine Reihe, wenn auch als Ganzes nicht mehr bedrohlicher,
so doch keineswegs ungefährlicher anarchistischer Einzelschnrmtttzel aufgelöst hat,
einen neuen Faden angesponnen: die Einkreisung Japans, die mit Hilfe Amerikas
und Chinas vor sich gehen soll, wobei als Mittelsmann vornehmlich der Vertreter
der Republik des fernen Ostens in Peking, Aurin, dient. Die Lebenskraft des
russischen Kolosses ist erstaunlich, ungewiß ist allein noch der Punkt, an dem die
neue Politik Amerikas, dessen durch den Weltkrieg gewachsene Macht alle alten
S
Im Kriege hat man dem deutschen Volke gesagt, es werde in die Familie
der Völker aufgenommen werden und zu einem Frieden der Verständigung
gelangen, wenn es sich nur zur wahren Demokratie bekehre. Wilson verkündete
am 4. Juli 1918, ehe Friede sein könne, müsse jede willkürliche Macht allerorts,
die den Weltfrieden stören könne, vernichtet oder wenigstens zur tatsächlichen
Machtlosigkeit herabgedrückt werden. Das zielte auf Deutschland.
Das deutsche Volk schloß den Waffenstillstand, indem es zugleich diese Vor¬
aussetzungen erfüllte. Zum Lohne wurde ihm eine Verschärfung der Blockade und
das Friedensdiktat von Versailles auferlegt. Das Ziel der Feinde Deutschlands
aber, mit dem Sturz der Bismarckschen Reichsverfassung auch die Einheit des
Reichs zu zertrümmern, blieb unerreicht. ,
Auf anderem Wege suchte man ihm näherzukommen. Frankreich griff
auf seine historischen Traditionen zurück, die Nheinbundgedanken lebten wieder auf,
man schuf und schützte hochverräterische Lostrennungsbestrebungen im Rheinland,
man propagierte die Befreiung Süddeutschlands von dem angeblich so unerträglichen
Einfluß Berlins, man strebte danach, ihm in einem engeren Anschluß an Frankreich
oder einem unter französischer Führung stehenden Donaubund eine glücklichere
Zukunft zu verheißen. Die Sendung des französischen Gesandten in München
scheiterte. Die 50. Wiederkehr des Tages der Reichsgründung fand alle deutschen
Stämme eng vereint. Bismarcks Werk war abermals stärker als das französische
Intrigenspiel.
Die Zeit, da man in Deutschland herrschen konnte, indem man die deutschen
Fürsten und Stämme gegeneinander ausspielte, ist also vorüber. Das hat Paris
nach zweijährigem vergeblichen Bemühen erkannt. Nunmehr gedenkt Herr Briand
in moderner Weise die Überlieferungen der französischen Politik wieder aufzu¬
nehmen. Kann man die deutschen Stämme nicht trennen, so wird man die Klassen^
gegensätze in Deutschland für die Schwächung und Zersplitterung Deutschlands
nutzbar machen. Also ward Herr Briand am 16. März zum Freunde des
deutschen Volkes.
Da sprach er von der Tribüne der französischen Kammer herab zum
deutschen Volke von der „Großherzigkeit Frankreichs", das, im Augenblick des
Waffenstillstandes „Herrin der Situation", die Dinge nicht weitergetrieben, fondern
das Blutvergießen beendet habe. Er sprach vom Wiedererwachen des deutschen
Wirtschaftslebens und der deutschen Leistungsfähigkeit, er behauptete, daß
Deutschland damit Eroberungen machen wolle, er zollte also ungewollt dem
deutschen Volke die höchste Anerkennung, diesem Volke, das sich nach ungeheuren
Opfern, nach den Folterqualen der Blockade wieder zur Tat und zur Arbeit
bekennt. Wie dankbar muß das deutsche Volk Herrn Vriand sein, daß er es nun
darüber aufklärt, daß Frankreichs Kampf sich nicht gegen das deutsche Volk richte,
sondern nur gegen die Männer, die sich, wie Herr Briand sagt, den Verpflichtungen
aus dem Friedensvertrag entziehen wollen, um ihr Vermögen und ihren Besitz zu
erhalten! Wir Franzosen sind ja von keinem „Geist des Hasses" beseelt, „wenn
wir mit unseren Soldaten ein Pfand in die Hand nehmen, so ist das ein Akt der
Gerechtigkeit, keine kriegerische Handlung". Das deutsche Volk soll sich von denen
abwenden, die versuchen, seine Ansichten zu „vergiften", indem sie ihm glauben
machen wollen, daß Frankreich kriegerische Handlungen gegen das deutsche Volk
unternehme, es soll sich trennen von seinen führenden Männern, die aus Eigen¬
nutz nicht zahlen wollen.
Wirklich — ein treuer, wohlwollender Freund des deutschen Volkes, dieser
Herr Aristide Briand! Aber wie verträgt es sich mit seiner Freundschaft, wenn
er gleichzeitig sagt, daß es noch andere Mittel gebe, Zahlungen zu erlangen? In
der gleichen Rede verkündet er nämlich der lebhaft zustimmenden Kammer, der
deutsche Staat besitze ja Domänen, Bergwerke, Wälder, Eisenbahnen, und Frank¬
reich wünsche an diesem Staatsbesitz teilzunehmen. Gehört das Eigentum des
Staates auch nur den „industriellen und finanziellen Imperialisten?" Hier hat
der freundschaftliche Berater des deutschen Volkes sich offenbar versehen, hier zeigt
sich sein wahres Gesicht. Ach nein, Herr Vriand, wir Deutschen haben aus der
jüngsten und ferneren Geschichte auch gelernt, und wenn Sie unser Volk teilen
wollen, um zu herrschen, dann sollten Sie Ihre demagogischen Reden schon etwas
anders abfassen, als Ihre Rede vom 16. März!
Der offizielle Sitzungsbericht verzeichnet zahlreiche „Applaudissements" der
von chauvinistischen Hochgefühl erfüllten Kammer. Die Abstimmung brachte
Herrn Briand einen überwältigenden Erfolg. Die Presse arbeitete auf seine
Weisung gehorsam und trug das Ihre dazu bei, dem deutschen Volke den einzigen
Weg zu seinem Heil klarzumachen.
Das deutsche Volk ist dankbar dafür, daß es von Frankreich so freundschaftliche
Ratschläge erhält, ausgerechnet von Frankreich, wo man rücksichtslos gegen die
Führung der Arbeiterschaft vorgeht. Das deutsche Volk weiß, welchen Weg es
zu gehen hat, wenn ihm aus Frankreich freundschaftlicher Rat zugerufen wird.
Und je mehr sich Frankreich bemüht, „ohne Haß" der „Gerechtigkeit" zum Siege
zu verhelfen, wie jüngst mit den Sanktionen, mit Soldaten, Maschinengewehren
und Tanks, um so sicherer wird das deutsche Volk seinen Weg zur Erlösung finden.
Wir überlassen das Urteil über Herrn Briand und seine freundschaftlichen Lehren
an das deutsche Volk getrost der Zukunft. Und die gehört Deutschland trotz
F. y. D.
„Niemals werde ich in diese Forderungen einwilligen, niemals! Sie wollen
unser Land in seinen Finanzen und in seinen Grenzen ruinieren. Dann nehmen
Sie es ganz, verwalten Sie eS, ziehen Sie die Steuern ein. Wir werden uns zurück¬
ziehen und Sie werden das Land regieren, soweit dies die Welt zugibt."
Jeder Leser erinnert sich Wohl, daß Simons in London so gesprochen hat.
Man erinnert sich auch, welch günstige Wirkung diese Androhung "der passiven
Resistenz auf unsere Feinde hatte. Duisburg und Düsseldorf wurden nicht
besetzt, die Zollgrenze nicht eingeführt, weil der Feind einsah, daß er mit Droh¬
mitteln uns doch nicht aus unserer ablehnenden Haltung herausmanövrieren könne.
Bewunderte der Feind doch insbesondere die Haltung der Sozialdemokratie, welche
es sich diesmal versagte, dem mannhaften Außenminister in den Rücken zu fallen,
als er diese unsterblichen und wirkungsvollen Worte sprach . . .
Ein bloßer Traum, lieber Leser? Aber die unsterblichen Worte sind doch
einmal gesprochen wurden, und zwar, woran der demokratische Abgeordnete
Müller-Meiningen erinnert, 1871 durch Thiers. Er hat mit ihnen Belfort für
Frankreich gerettet. Belfort hat die französische Offensive 1914 für Süddeutschland
so gefährlich gemacht, daß unser rechter Flügel entsprechend verstärkt, unser linker
folglich geschwächt wurde, so daß die Marneschlacht und der Krieg verloren ging . . .
„Die Verhandlungstür ist ja eigentlich zugeschlagen vom Feind, aber Gott,
man muß sehen, vielleicht daß man kann finden noch eine Öffnung irgendwo",
so hausiert die Frankfurter Zeitung 1921 an der neuen Zollgrenze mit dem Jeder¬
L, ^. rv.
Die farbenreichen, warmen Schilderungen
des antiken Kleinlebens durch einen Gelehrten,
der zugleich Künstler ist, haben in Jahresfrist
schon die zweite Auflage erlebt.
Als treuer Eckhardt des Deutschtums hat
der Geschichtslehrer, den wir jetzt infolge der
Altersgrenze vom Berliner Katheder scheiden
sehen müssen, jahrzehntelang sorgenden Blickes
die Grenzen unseres Volkstums umschritten.
Nun legt Schäfer dies statistische Schriftchen
allen jüngeren deutschen Grenzboten als ge¬
drängte Materialsammlung in die Hand. Wir
zitieren die Schlußsätze der für das Deutsch¬
tum unentbehrlichen Broschüre:
„Der Ausgang des Krieges bedroht ja
leider das Deutschtum mit verhängnisvoller
Schwächung. Es ist ziffernmäßig das stärkste
Bolkstuin Europas, aber die mitteleuropäische
Lage seiner Wohnsitze und der damit zu¬
sammenhängende Gang seiner Geschichte haben
es von jeher schweren Gefahren und unvorher¬
gesehenen Wechselfällen ausgesetzt. ... Die
Möglichkeit, völlig zusammenzuschließen, was
sich 1866 noch nicht einigen konnte, scheint zu
bestehen. Wird sie Wirklichkeit, so bleibt trotz
allen Unheils, daS über uns hereingebrochen
ist, eine Hoffnung, daß unseren Nachfahren
einmal wieder bessere Zeiten beschieden sein
möchten. Sollte die gegenwärtige Zerfahren¬
heit mit erneuter staatlicher Zersplitterung
enden, so können die Lebenden sagen, daß sie
den Untergang unseres Volkes sahen. Dann
ist sein unumgängliches Los, als Völkerdünger
untergepflügt zu werden von lebenskräftigeren
Mitbewerbern um die Weltgeltung."
Albert v. Hofmann, der Verfasser des
bekannten Buches „Das deutsche Land und
die deutsche Geschichte", hat den Beruf in fich
gefühlt, an dem Neuschauen unserer vater¬
ländischen Geschichte mitzuwirken, das eine
notwendige Folge des jähen Niederganges
der Nation und ihres Selbstgefühls ist und
ebenso die unerläßliche Vorbedingung der
Selbsterkenntnis, die einen Wiederaufstieg be¬
gründen kann. Die Züge des Tragische»
und Fragmentarischen, wie auf der anderen
Seite die unverwüstliche Schöpferkraft deS
Deutschtums treten bei Hofmann in der Abfolge
der Ereignisse und Persönlichkeiten leitend hervor.
Dieser erste Band behandelt ein Zeitalter,
daS Hofmann infolge von Spezialstudien be¬
sonders nahesteht, das sür eine durchgeistigte
Darstellung freilich spröde Zeitalter vom
Beginn unserer Geschichte bis zum Aus¬
gang der Karolinger. Hofmanns Eigenart
ist es, die militärgeographischen Gesichtspunkte
hervorzuheben. Wir sind auf den Fortgang
deS Werkes gespannt, das im ganzen vier
Bände umfassen soll.
Werner Mahrholz hat einen für breitere
Kreise besonders geeigneten Abschnitt aus den
deutschen Städtechroniken ausgewählt und der
Inselverlag ihn, wie immer, reizend gestaltet.
Zur Begründung einer neuen wissenschaft¬
lichen Sammelbücherei gehört heute Mut.
Diesen besitzt in anerkennenswerten Grade
der Münchener Privatdozent Hausmann und
sein unternehmender Verleger Kurt Schroeder.
Die Wissenschaft wird es beiden danken, wenn das
neue Unternehmen auch wirklich Qualität aus¬
sieht. VondcnzahlrcichenstattlichenBänden, mit
denen die Sammlung sich einführt, soll der
vielleicht wertvollste, die Geschichte des natio¬
nalen Gedankens in Deutschland, von Prof.
Rapp, in den „Grenzboten" ausführliche
Würdigung finden. Ihm zur Seite steht die
angenehm lesbare, für weite deutsche Leser¬
kreise nützliche Darstellung, welche Professor
Sternfeld vom Nisorgimento, der Bil¬
dung der italienischen Einheitsnation, gibt.
Kvppclmanns Einführung in die Politik
leidet unter mangelnder Originalität und
Begriffsschärfe des offenbar wenig im Leben
stehenden Verfassers, was um so mehr zu be¬
dauern ist, als gerade der christlich-soziale
Standpunkt, den K. einnimmt, eine sach¬
kundige und der Gegenwart entsprechende
Vertretung wohl finden sollte. Etwas rasch
niedergeschrieben, jedoch ein wirkliches Bedürf¬
nis befriedigend, dürste Nuvilles Kreuz-
zugsgeschichte nicht wenige Leser finden.
PhiliPpiS Urkundenlehrc und Cohns Nor¬
mannen sind vortrefflich geeignet, Anfängern
im Studium des Mittelalters ilbcrblicke zu
verschaffen. Ungleichen Wert seiner Mit¬
arbeiter scheint derHerausgeber der vielleicht in zu
raschcrFolge fortgesetzten Sammlung nicht völlig
vermeiden können, doch sollte er wenigstens
geradezu unmögliche Beiträge, wie den Hinter¬
treppenband des Vielschreibers Gopceviö,
abzuwehren imstande sein; sonst würde in
Zukunft wohl bei Autoren wie bei Lesern der
Kredit der Sammlung sich mindern.
Gerhard Hauptmanns lebensvolles Bild
des deutschen Wirrwarrs vor vierhundert
Jahren hat die Gestalt Florian Geyers all¬
gemein bekannt gemacht zur Seite der Götzens
von Berlichingen, wenn auch nicht mit ähn¬
licher Dichterkraft. Hauptmann war dabei
von dem bekannten Zimmcrmannschen Werk
über, den Bauernkrieg abhängig geblieben.
Barges SpezialUntersuchung liefert nun das
bemerkenswerte Ergebnis, daß Hauptmann
trotz seiner mangelhaften Quelle die wesentlich¬
sten Züge von Geyers Persönlichkeit intuitio
richtig gezeichnet hat.
Der Biograph Friedrichs des Großen und
Darsteller der „Brandenburgisch-Preußischen
Politik" war auch als Essaist eine Persönlich¬
keit von größter Gewissenhaftigkeit, reinem
Geschmack und männlichem Urteil. Die hier
nach seinem Tod vereinigten kleinen Schriften
behandeln hauptsächlich die drei großen Hohen-
zollern, aber auch andere Gegenstände von
allgemeinstein Interesse, wie „die Epochen der
absoluten Monarchie in der neueren Geschichte"
oder „Die Anfänge der politischen Partei¬
bildung in Preußen bis 1849".
Das Egelhaafsche Handbuch hat seit 1908
in einer langen Reihe von Auflagen die Zeit¬
geschichte begleitet, und die leichte Hand des
Verfassers hat es verstanden, auch das erst
im Werden Befindliche schon zu Faden zu
schlagen. Das Buch hat sich damit einen
eigentümlichen Platz in der geschichtlichen
Literatur erobert. Die achte — zum ersten
Male in zwei Bänden erscheinende — Auflage
geht bis zum Frieden von Versailles. Über
diesen hinaus will Egelhaaf seine zeitgeschicht¬
liche Arbeit nicht fortsetzen. Wir hätten demnach
jetzt die endgültige Gestalt des Werkes vor uns.
Die nicht ohne Grund vielumstrittenc
Haltung der deutschen Diplomatie auf den
Haager Konferenzen von 1899 und 1907
wird durch den ans den Konferenzen beteiligten
Völkerrechtslehrer einer herben Kritik unterzogen
trachtungen aus den Jahren 1911—1914
mit einem Nachwort aus dem Jahre 1919
von Friedrich von Bernhardt, General
der Kavallerie z. D. Verlag von S. Hirzel
in Leipzig. Preis 63 M., gebunden 76 M.
Der durch frühere Schriften namentlich
auch im Ausland berühmte Verfasser hat kurz
vor dein Kriege eine Weltreise unternommen,
um die Weltmächte und die Weltwirtschaft
mit den Augen eines alten Soldaten und er¬
fahrenen Schriftstellers zu schauen. Sehr un¬
gleich der gleichzeitigen Weltreise des Philo¬
sophen Keyserling und doch ihm an Wert
auf anderem Gebiet vergleichbar. Die Nieder¬
schrift seiner Eindrücke wollte Bernhardt 1914
vornehmen, um unser Volk vor den Gefahren
seiner Weltstellung zu warnen. Statt dessen
kam der Krieg, der nun als Schlußkapitel das
umfängliche Werk zur Gcschichtstragödic, ge¬
spiegelt innerhalb einer Einzelseele, abrundet.
Ein Standwerk deutscher Wissenschaft,
durch welches alle bisherigen Darstellungen
der letzten Menschenalter österreichischer Ge¬
schichte mehr oder weniger überholt sind.
Der als Politiker, wie als bedeutender staats-
und verwaltungsrcchtlicher Forscher bekannte
Verfasser hat für sein lange vor dem Krieg
begonnenes Werk zuletzt die Eröffnung aller
Archive der Regierungszeit Franz Josefs
ausnützen können. Der vorliegende Teil des
kapitalen Werkes reicht bis 1861; es wäre
zu wünschen, daß die Fortsetzung bald er¬
scheint und daß es dem Verfasser dabei ge¬
lingt, die Stoffmassen derart zu beherrschen,
daß ein nicht allzu breites und dafür um so
plastischeres Bild von den letzten Lebens¬
kämpfen und dem Untergang des alten Habs-
burgerreichcs erstehe.
In mitteilsamer Breite und mit dem
menschlich begreiflichen, aber für den Leser
unbequemen Rechtfertigungsdrang eines Viel¬
verlästerten giebt der ehemalige k. u. k.
Kriegsminister, derFührcr der ersten Schlachten
bei Lemberg, ein Bild seines gesamte«: Lebens.
Man muß ihm darin zustimmen, das; Auffen-
bergs militärische und bürokratische Laufbahn
einen getreuen Spiegel der Zustände in den
letzten Jahrzehnten des unglücklichen Kaiser¬
reichs abgiebt.
So wie dies eigentümliche Werk vorliegt,
ist eS großenteils ein erdichteter Roman nach
billigen Klischees. Der berufslose, aber
menschlich freie und feine moderne Prinz mit
der liberalen Oppositionsstimmung des Thron¬
folgers, anglophil, mit Poesie Altheidelberg,
kleine Garnison und morganatische Liebcsehe:
alles das ist geschickt, aber doch gewöhnlich
erfunden, zum Teil voll widerlicher Verzerrung.
Nun ist das Tagebuch indes keine reine Mysti¬
fikation. Es stecken in ihm tatsächliche Ein¬
drücke eines offenbar mitteldeutschen Seigneurs,
der Gelegenheit gehabt hat, z. B. 1898 den
deutsch-englischen Verhandlungen zuzusehen,
der hierüber, wie über die leitenden Personen
der Zeit von 1339 bis 1918 wirklich Inter¬
essantes ans der Nähe zu sagen hat, aber
alles hinter erdichteten Einzelheiten versteckt.
Kurz, ein Werk aus sehr verschiedenartigem
Stoff, für den Historiker schon als Quellen¬
problem fesselnd, alles in allem eine der
besten literarischen Projektionen unserer deut¬
schen Geschichtstragödie, die bis zum Augen¬
blick erschienen sind, aber in keiner einzigen
Angabe für bare Münze zu nehmen.
S
SLSKM von Kate
Sein Alter sei wie veine lugenü
VrMe an eine frmnMn
In MMemenbsM auk vöMs MMeiem ?aMr 28 Mark
Ein eigenartiges Buch, dieser Briefwechsel des bekannten vor 30 Jahren ver¬
storbenen Jenenser Theologen mit einem jungen hochgebildeten Mädchen. Im Greisen¬
alter, im 82. Lebensjahre, lernte er Jenny von der Osten auf dem Kapitol in
Rom im Gespräch mit Mommsen kennen. Aus dieser Begegnung entwickelte sich
eine beiderseits beglückend empfundene Leidenschaft, eine trotz aller Verschiedenheit
der Anschauungen ideale Freundschaft.
Diese Briefsammlung, ein seltsam kostbares Vermächtnis eines Gewaltigen
im Reiche des Geistes, wird sich die Herzen aller gebildeten Deutschen erobern.
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Eine deutsche Frau und Mutter ist dahingegangen/ die letzte
deutsche Kaiserin ist gestorben. Sie hatte das einfache Leben im
Hause ihrer Eltern kennen gelernt, sie stand umstrahlt von Glanz
und Prunk an der Seite ihres Gatten, des deutschen Kaisers, sie
durchlebte die Stunden des Nieder- und Zusammenbruchs Deutschlands
mitten unter dem revolutionären Volke und sie teilte mit dem Manne,
dem sie in treuer Liebe zugetan war, von Anfang an die Zeit der
Einsamkeit und Verbannung aus dem deutschen Vaterlande. Das
wechselnde Geschick des Lebens aber vermochte nicht das Wesen dieser
klaren, ungekünstelten, warmempfindenden und Liebe spendenden,
frommen Frau zu ändern. Solange Deutsche leben, wird sie, die
sich in die Politik nie einmischte, in der Geschichte einen Platz haben
neben der Königin Luise, die gleich ihr in den Zeiten der tiefsten
Erniedrigung unseres Vaterlandes mit dem Tode rang. Und wie
diese im Angesicht des nahen Todes zu ihren Söhnen sprach, so hat
auch Kaiserin Auguste Viktoria empfunden. „Weint dem Andenken
an mich Tränen, wie ich sie dem Zusammenbruche des Vaterlandes
weinte,- aber begnügt euch nicht mit Tränen! Werdet Männer,
Helden! Befreit dann euer Volk aus der Schande und Erniedrigung,
in der es schmachtet!"
Schlagen Sie mir eine andere Politik vor, und ich will sie ehrlich
und vorurteilsfrei mit Ihnen diskutieren; aber eine Passive Planlosigkeit,
die froh ist, wenn sie in Ruhe gelassen wird, können wir in der Mitte
von Europa nicht durchführen, sie kann uns heut ebenso gefährlich werden,
wie sie 1805 war, und wir werden Ambosi, wenn wir nichts tun um
, Hammer zu werden.
Bismarck.
meer den drei Generalen, die vor kurzem die französische Marschalls¬
würde bekommen haben, befindet sich auch der Generalresident von
Marokko, General Lyauteh, der bereits Mitglied der französischen
Akademie ist. Seine literarische Begabung hat er soeben in einer in
der „Revue des Deur. Mondes" veröffentlichten, recht ansprechenden
Neiseschilderung ans Griechenland und der Türkei 'erwiesen, die freilich bei anderen
Sterblichen, auch im Zusammenhang mit sonstigen Veröffeirtlichungcn, wie der Schrift
über Sndmadao.uskar, nicht ausreichen würde, um ihnen einen Sitz unter der Kuppel
des Instituts von Frankreich zu sichern. Aber die Verdienste des Generals liegen auf
anderem Gebiete. Bei dem Erwerb und der Erhaltung des marokkanischen Besitzes
Frankreichs hat der General zweifellos eine ganz hervorragende Rolle gespielt. Die
Methoden, die er anwendet, werden freilich nicht jedem Kolonialpolitiker zusagen,
und bei einem Vergleich mit dem im Versailler Frieden als reiner Vorwand zur
Fortnahme der deutschen Kolonien gebrandmarkten Vorgehen der Deutschen würde
die Protektoratsverwaltnng von Rabat mit ihren Schädelpyrannden und Hinrich¬
tungen kaum günstig abschneiden. Die Auffassung, die gewisse französische Kreise
von dein Verhältnis zu den Marokkanern hegen, kennzeichnet der Vorschlag, der
einem im übrigen äußerst cntentefreundlichen Westschweizer in Marrakesch auf seinen
Wunsch, Jaadgelcgenheiten zu finden, von Offizieren des arabischen Bureaus ge¬
macht wurde, er solle doch an einen? Kesseltreiben gegen einen Berberstamm teil¬
nehmen, das sei erheblich unterhaltender als eine gewöhnliche Jagd. Mit Getvalt
und Schrecken sucht der Generalresident die Achtung vor der Macht Frankreichs zu
verbreiten, und mit ähnlichen Mitteln hat >er auch die Deutschen aus dem Scherifen-
reiche zu vertreiben gewußt. Man wird es dem General im deutschen Volke nie
vergessen, wie er beim Ausbruch des Krieges unter dem Bruch der feierlichen Zu¬
sage, sie in ein neutrales Land zu schaffen, die deutschen Bewohner der französischen
Zone Marokkos nach Algerien in Gefangenenlager bringen ließ, und wie er gegen
angesehene Mitglieder der deutschen Beamtenschaft und des Kaufmamisstcmdes mit
Militärgerichtsverfahven vorging, die ohne sachliche und rechtliche Begründung
Todesurteile und Zuchthausstrafen verhängten.
Immerhin, für Frankreich hat General Lyautey etwas geleistet, wenn er auch
seine Tätigkeit in Marokko bisher hauptsächlich auf das militärische Gebiet beschränkt
hat. Eine erhebliche Truppeninacht stand und steht ihm dabei zur Verfügung, und
es ist klar, daß die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung des marokkanischen >
Protektorats hinter den militärischen Aufgaben zUn'icktreten Mußte, so sehr auch
General Lyautey, der es meisterhaft versteht, für sich Reklame zu machen, derobe ist,
sich als einen Bahnbrecher auf wirtschaftlichem Gebiete hinzustellen/ Aber man darf
nicht vergessen, daß Lyauteys gerühmte Bahnballten und Straßenanlagen in erster
Linie rein militärische Zwecke verfolgen.
Inwieweit Marokko für die Franzosen beinahe den Angelpunkt ihrer Politik
bedeutete, erhellt aus einem Vortrag, den Raymond P oincar 6 in der Reese seiner
Ausführungen über den Ursprung des Weltkrieges gehalten hat. Der ehemalige
Präsident der französischen Republik, der Deutschlands alleinige Schuld am Welt¬
kriege zu erweisen trachtet, einmal, um die! Grundlage des VersaMer Friedens zu
sicher,!, namentlich jedoch, um sich selbst reinzuwaschen, ficht in der Nöarokkofrage
eine der Etappen auf dein Wege zum Kriegsausbruch. In dieser Hinsicht hat er
nicht ganz Unrecht, nur bedeutet es eine durchaus willkürliche Verdrehung der Tat.
fachen, wenn er behauptet, daß Deutschland im Scherifenreich aggressive Politik
getrieben habe. Herrn Poiiicarö zufolge ist die Reise Kaiser Wilhelms nach Tanger
im Jahre 1905 das Zeichen einer Neuorientierung der deutschen Politik gegenüber
Frankreich gewesen, dem Deutschland bisher freie Hand in Marokko gewährt hatte.
Poincarö vergißt dabei gairz, zu erwähnen, welche Tatsachen der Reise des deutschen
Kaisers nach Tanger vorausgingen. Jut Jahre 1904 war zwischen DelcaM und
Lord Lansdownc ein Vertrag zur Beseitigung aller zwischen England und Frank¬
reich vorhandenen Streitpunkte abgeschlossen worden. Darin wurde u. « bestimmt,
daß England in Ägypten, Frankreich in Marokko freie Hand erhalten sollten. Schon
im Jahre 1902 hatte der französische Botschafter in RoM/ Camille Barröre, ein
Abkommen mit Italien zustande gebracht, nach dem Frankreich den Italienern die
Anwartschaft auf Tripolis zugestand, während Italien sich mit einem eventuellen
Vorgehen der Franzosen in Marokko einverstanden erklären sollte. Im Jahre 1904
fand ferner auch eine Verständigung zwischen Frankreich und Spanien über ihre
afrikanischen Interessen statt. Deutschland war bei allen diesen Abmachungen, die
das nordafrikanische Problem auf neue Grundlagen stellte, völlig Übergängen worden.
Das Deutsche Reich hatte mit dem Scherifcnrciche einen Vertrag, der ihm die offene
Tür dort zusicherte. Es verfolgte in Marokko rein wirtschaftliche Interessen, konnte
aber nicht zusehen, wie über diese von französischer und englischer Seite einfach ver¬
fügt wurde. Bei der als Demonstration gegen das eigenmächtige Vorgehen der West-
mächte gedachten Fahrt nach Tanger erklärte Kaiser Wilhelm dem Abgesandten des
Sultans, Abdul Makel, daß er den Sultan von Marokko als einen vollkommen freien
Herrscher ansehe. Dieses Auftreten des deutschen Kaisers hatte zur Folge, daß der
englisch-französische Vertrag von 1904, von dem Deutschland nicht einmal Kenntnis
erhalten hatte, am 18. April 1905, also kurz nach der Landung des Kaisers in
Tanger, der deutschen Regierung förmlich nütgeteilt wurde. Deutschland stellte sich
nunmehr auf den Standpunkt, daß dieses Abkommen es nicht berühre, und daß es
über sänltliche seine Interessen betreffenden Angelegenheiten mit dem Sultan von
Marokko lmmittelbar verhandeln würde. Herr Poincar6 vergißt in seinen Verträgen
auch zu erwähnen, daß auf- die Fahlst nach Tanger die Konferenz von Algeciras
folgte, die eine Auseinandersetzung zwischen Deutschland und den Weswiächtm be¬
zweckte und den besten Beweis für Deutschlands friedfertige Absichten bildete. Das
Ergebnis dieser Konferenz wurde in Deutschland wie in Frmrkreich stark kritisiert,
sie hatte aber immerhin die Verhältnisse in Marokko auf eine neue Basis gestellt,
Grundsätzlich erkannte der Vertrag von Algeciras die Unabhängigkeit des Scherifen-
reiches an. . '
Von Frankreich wurde indessen alles versucht, um diese Unabhängigkeit
Marokkos zu beseitigen. Die berühmte Redensart von der „friedlichen Durch¬
dringung" wurde zuerst vom „Journal des Döbats" aufgebracht und in allen
Tonarten gebraucht. Die Ermordung eines französischen Arztes in Mekines und ein
Zwischenfall bei Hafenbauten in Casabianca gaben im Jahre 1907 den Franzosen den
ersten Vorwand zur Besetzung marokkanischen Gebiets. Von da an mehrten sich die
deutsch-französischen Streitigkeiten in Marokko. Ein Versuch zur Herstellung einer
ruhigeren Atmosphäre bedeutet das am 9. Februar 1909 abgeschlossene deutsch¬
französische Abkommen über Marokko, das die Algecircisakte aufrechterhielt und im
ilbrigen die Schaffung gemeinsamer wirtschaftlicher Interessen zwischen Deutschen
und Franzosen in? Scherifenreiche anstrebte. Aber diese Vereinbarung, die ein
Zeichen für den guten Willen Deutschlands war, in Marokko ein annehmbares Ver¬
hältnis zwischen Deutschen und Franzosen zu schaffen, hat nie praktische Erfolge
getragen, denn die Franzosen taten alles, um ein wirtschaftliches Zusammenarbeite»
mit deutschen Gruppen zu hintertreiben und um die Deutschen auszuschalten. Herr
Poincarü bezeichnet alle Maßiuchmen, die Deutschland zur Wahrnehmung seiner
berechtigten Interessen in Marokko ergriff, einfach als Herausforderungen Frank¬
reichs. Mit der offensichttgen Tendenz, eine deutsche Angriffspolitik festzustellen, ver¬
wechselt er bewußt die Forderungen und Wünsche mancher Elemente in Deutschland,
in Marokko neue deutsche Kolonialgebiete zu schaffen, mit den Absichten der Re¬
gierung, die im Scherifenlande nur wirtschaftlichen Zielen nachging. Hätte doch jeder
Versuch einer Festsetzung Deutschlands in Marokko zu neuen Konflikten mit England
geführt, das einen deutschen Flottenstützpunkt in der Nähe der Straße von Gibraltar
niemals geduldet hätte. Auch hätte Deutschland einen Besitz in Marokko militärisch
nicht verteidigen können.
Frankreich steuerte währenddessen um so unentwegter auf sein Ziel der völligen
Unterwerfung Marokkos los. Es war nicht, wie das Herr Poincar6 darstellt, eine
kriegerische Drohung seitens der Deutschet!, sondern nur eine neue Warnung an
Frankreich, wenn das deutsche Kanonenboot „Panther" im Juni 1911 nach Agadir
gesandt wurde. Denn die Pariser Negierung hatte sich wieder einmal einfach über
die bestehenden Verträge hinweggesetzt, indem sie im Frühjahr 1911 von Casabianca
aus unter einen: durchsichtigen Vorwand, und wie er sich in einem Lande wie
Marokko jederzeit künstlich schaffen läßt, Fes und MekineS besetzte. Damit war
Marokko faktisch unter französische Herrschaft gebracht, und auch Spanien verstand
den Schritt der Franzosen in dieser Hinsicht, indem es auf Grund seines Vertrages
Mit Frankreich von 1904 den Hafen von Larasch und die Stadt El Ksar besetzte.
Deutschland wollte mit dem Erscheinen eines Kriegsschiffes vor Agadir Paris nur
daran erinnern, daß es durch Verträge gebunden sei, durch die Marokkos Unab¬
hängigkeit sichergchellt wär, und daß ztl einer Veränderung des marokkanischen
Status die Einwilligung Deutschlands notwendig sei, das bedeutende Interessen im
Scherifenlande zu vertreten hatte. Wie gänzlich haltlos PoinccrrSs Behauptung ist,
der Coup von Agadir sei eine Kriegsdrohung gewesen, ergibt sich aus den nach¬
folgenden Verhandlungen mit der Pariser Regierung, die im Herbst 1911 zu einem
Vertrage mit Marokko führten, in dem Deutschland gegen eine Bürgschaft für seine
wirtschaftlichen Interessen im Scherifenreiche und eine Entschädigung im französischen
Kongogebiet Marokko den Franzosen überließ. Seitdem war die deutsche Regierung
bemüht, die ihr obliegenden Verpflichtungen aus dem Marokkoabkonnnen getreu zu
erfüllen, hatte aber bis zum Ausbruch des Weltkrieges ständig mit den Schikanen der
Franzosen zu kämpfen. Die gleichen Beschwerden, wie sie die deutschen Kaufleute
vorbrachten, wurden übrigens auch von den Engländern geltend gemacht. Der
französische Beamte sah nämlich in dem auf Grund des deutsch-französischen Marokko¬
abkommens geschaffemn Protektorat über Marokko die Herstellung eines wirtschaft¬
lichen Monopols für die Franzosen. Jeder fremde Wettbewerb sollte ausgeschaltet
werden. Das jedem Begriff von Billigkeit und Gerechtigkeit hohnsprechende Ver¬
halten der französischen Protektoratsverwaltung bei Kriegsausbruch zeigt ein: deut¬
lichsten, wie die Franzosen nur bestrebt waren, jede deutsche Betätigung auf
marokkanischen Boden zu unterbinden und auszurotten.
Die Preisgabe Marokkos an Frankreich lag in der Linie jener von Bismarck
eingeleiteten, mit den Anfängen der deutschen kolonialen Betätigung zusammen¬
fallenden Politik, dem französischen Ehrgeiz eine überseeische Beschäftigung zu geben
und ihn damit von Europa abzuwenden. Man hatte in Berlin geglaubt, daß die
Franzosen in Nordafrika, Jndochina und Madagaskar sich festlegen würden, und
daß ihnen aus ihren kolonialen Erwerbungen Konflikte mit anderen Mächten
erwachsen würden. Tunesien hatte allerdings Frankreich zeitweilig mit Italien ent¬
zweit. Das von Sizilien nur wenig entfernte Herrschaftsgebiet von Tunis wies
seit langem eine starke und betriebsame italienische Kolonie auf, die auch heute noch
besteht. Das reiche Land schien schon wegen seiner geographischen Lage dazu
bestimmt, einmal unter italienischen Einfluß zu kommen, und in Italien hat man
die Errichtung des französischen Protektorats lange nicht überwunden, bis man sich
schließlich durch die Anwartschaft auf das arme und verhältnismäßig wertlose
Tripolitanien verlocken ließ, sich mit der französischen Besetzung von Tunis abzu¬
finden. Nach den ersten Mißerfolgen gegen Menelik von Abessinien wollten die
Italiener sich um jeden Preis ein Kolonialgcbiet schaffen. In Abessinien suchten
sie sich gegen die Konkurrenz der Engländer und Franzosen wieder durchzusetzen.
Aber trotz des diplomatischen Geschicks, das Italien hier entfaltete, und durch das
sich namentlich der langjährige Gesandte in Abif Abeba, Graf Colii, auszeichnete,
mußt« Rom einsehen, daß Abessinien ihm niemals ganz zufallen würde, sondern daß
es seine Stellung dort mit Engländern und Franzosen würde teilen müssen. So
wurde Tripolitanien als Ersatz angenommen.
Ernstere Formen schien der Zusammenstoß init England heraufbeschwören zu
sollen, den der kühne Zug des französischen Generals Marchvnd nach Faschoda herauf¬
beschwor. Aber Frankreich wußte seine kolonialen Bestrebungen hinter den Er¬
fordernissen der allgemeinen Politik zurückzustellen, und das entwicklungsfähige Reich
der Scherifen schien ihm genügender Ersatz für die Aufgabe der sonstigen Bordelle
zu vielen, ^- - - ^ ^ , , . , ^
-Sein KolMialhBtz wurde Frankreich nicht een^Hennnschuh, sondern eine
Quelle der Kraft, Die, farbigen. Truppen, die heute in den besetzten deutschen Ge¬
bieten erscheinen, und auf die Frankreich baut, um im Falle innerer sozialer Un¬
ruhen die Staatsgewalt aufrechtzuerhalten, eiltstanimm gewaltigen afrika¬
nischen Reich, das die Franzosen zwar unter rücksichtslosester Hinwcgsetzung über
alle Gebote der Menschlichkeit, jedoch mit großer Energie geschaffen haben. Die
ständigen Foldzüge und Unternehmungen in Jndochina, Madagaskar und Nordwest¬
afrika waren auch eine hohe Schule für die Ausbildung von Offizieren, ganz ähnlich,
wie dies für das englische Heer im weiten britischen Kolonialreich der Fall war,
Lhautch selbst hat seine ganze Laufbahn in den französischen Kolonien zugebracht,
Doi-t liegt das ihm angepaßte Betätigungsfeld. Man erinnert sich daran, wie er
im Jahre 1916 als Kriegsminister während des Krieges vollkommen versagte, weil
er sich in die parlanientarischen Gepflogenheiten nicht zu fügen verstand. Viel eher
fühlt er sich in Rabat zu Hause, wenn er, wie ein Herrscher, auf seinem geschmückten
Schimmel Umzüge hält. Aus Marokko sind alle jene Generale hervorgegangen, die,
wie Franchct d'Esperey, A!augm, Gourmid, Pelis u. a., während des Krieges und
jetzt in den Vordergrund treten. Aus Algerien stammt General Neissel, der heute die
polnische Armee reorganisiert. Die ständigen Kämpfe mit den kriegerischen Stammler
im Atlas, die Entschlossenheit und Wagemut erfordernden Unternehmungen in der
Sahara und anderen Gebieten sind wirklich eine Hochschule für die Heranzüchtung
von Führern.. . .".
Daneben haben diese Kolonien auch wirtschaftlich Frankreich bedeutende
Vorteile gebracht, wenn auch auf diesen: Gebiete längst nicht das geleistet worden ist,
was geschehen konnte. Gewisse Neigungen des französischen Volkscharakters zum
Bürokratismus und zur Schematisierung stehen da einer so erfolgreichen Ver¬
wertung entgegen, wie man sie etwa in niederländischen oder britischen Kolonien
«"-trifft.
Es fragt sich, inwieweit bei einer friedlichen Entwicklung der Verhältnisse es
möglich gewesen wäre, die deutschen wirtschaftlichen Jlüeressen in Marokko, die sich
aus kleinen Ansätzen entfaltet hatten, aufrechtzuerhalten oder weiter zu entwickeln.
Der Krieg hat dieses Problem in einem für Deutschland negativen Sinne beant¬
wortet. Jedenfalls war im Jahre 1911, wie später, die marokkanische Frage niemals
für Deutschland ein Vorwand zu kriegerischen Verwicklungen. Nur in Frankreich
erhitzte man sich darüber so, daß ernste Zusammenstöße hätten entstehen können.
Freilich konnte es Deutschland nicht mitansehen, wie die Franzosen über die feierlich
abgegebenen und vertraglich festgelegten Versprechungen sich hinwegsetzten Und
Marokko unter Beiseiteschiebung aller anderen Beteiligten nach demselben Rezept
ihrem Kolonialreich einzuverleiben suchten, das d'Annunziv in Fiume versucht hatte,
und das die Polen als gelehrige Schüler von Paris in Wilna zu erneuern getrachtet
habend ' '' ' '> - ^'' X
Herr Poincarö sagt bewußt die Unwahrheit, wenn er behauptet, daß Deutsch-
, land, den Krieg wollte, und .daß es ebensogut wie Marokko, das Balkanproblem oder
irgendeine andere Tatsache zu benutzen gedachte, um den Weltbrand herbeizuführen.
Wenn Herr Poincarv ein so reines Gewissen hat, warum werden dann die franzö¬
sischen Archive so sorgsam verschlossen gehalten? Die zwei Schriftstücke, die Poincarv
über seine Unterredung mit Sassonvw jetzt veröffentlicht hat, und die aus der
Zeit seiner Ministerpräsidentenschast, nicht aber aus dem kritischen Jahre 1914
stammen, sind kein Gegenbeweis für die Vorwürfe, die gegen Poincarö wegen der
Entfesselung eines Krieges mit Deutschland erhoben worden sind. Die Antwort, die
man von Poincar6 erwarten muß und die sich nicht in allgemeinen Redensarten
bewegen darf, sondern aktenmäßig belegt fein soll, steht nochMis und wird Wohl nie
erfolgen, denn der ehemalige Präsident trügt selbst sein reiches Maß von Schuld/
lie nachfolgenden Mitteilungen an die deutsche Öffentlichkeit sind seit
drei Jahren Gemeingut der migel - sächsischen Wissenschaft, Im
Dezember 1917 und im Januar 1918 veröffentlichte Professor
J.G.Simpson in „los Mnotoontlr vontur/") Auszüge aus den
Memoiren Peter Saburows über seine Verhandlungen mit Bismarck
bis zur Unterzeichnung des Dreikaiserbündnisses von 1881, und im Januar 1918
konnte die „American historie-ü rovinv" aus der Feder Serge Goriainows einen
Aufsatz „1'Il<z ora ot' tue allianeo cet dew omperors" bringen, der für die Jahre
1883 bis 1890 ans den russischen Staatsakten schöpfte.») In Rußland werden
heute nur Enthüllungen der Bolschcwisten gedruckt. Saburow hat daher einem
englischen Professor gestattet, sich Auszüge aus seinen Erinnerungen zu machen,
während der Archivar des russischen lmoion i'<zgim<z'>) seinen französisch ge¬
schriebenen Aufsatz in Petersburg Professor Götter vom Staatskolleg In Washington
einhändigte. Auch einen Aufsatz über die Kriegsgefahr von 1875 nach den russischen
Staatsakten hatte Goriainow seinen amerikanischen Freunden zugedacht, ohne daß
es zur Ausführung seines Planes gekommen wäre. Nach einem unverbürgten
Gerücht ist er als eines der vielen Opfer der Sowjetherrschaft verhungert.^) Nach
Deutschland aber hat der durch unsere Valuta gezogene geistige Grenzgraben von
alledem keine Kunde dringen lassen. Die englische Zeitschrift ist wohl auf einigen
deutschen Bibliotheken noch vorhanden, die „gmizrielm Iiistorieal rovion" besitzt
keine der Bibliotheken, die sie früher hielten. So erklärt es sich, daß die Reichs¬
regierung der Welt etwas Neues zu sagen glaubte, als sie am 12. September 1919
den seit Januar 1918 bekannten RückVersicherungsvertrag in der „Deutschen
Allgemeinen Zeitung" abdrucken ließ, und daß für das neuerdings viel erörterte
Thema der Entlassung Vismarcks eine Hauptquelle völlig unbeachtet blieb. Diesem
Umstände habe ich es zu verdanken, daß Professor Archibald Carp Coolidge von
derHarvard-Universitätmichaufdie genannten Aufsätze aufmerksam machte und mir sein
Exemplar der amerikanischen historischen Zeitschrift bereitwillig auf einige Zeit lieh.
In der guten alten Zeit würde man das neue Material zitiert und benutzt haben.
Heute hat die Mitteilung der Verwertung voranzugehen. Sie besteht in einer
gedrängten Wiedergabe aller Aktenauszüge sowie in wörtlicher Übersetzung aller
Aktenstücke und der in Anführungszeichen wiedergegebenen Äußerungen der
handelnden Staatsmänner, in erster Linie Bismarcks. Bei Goriainow hat das
keine Schwierigkeit, weil er sich streng an die Akten hält. Bei Simpson mischen
sich Reflexionen des Herausgebers und nachträgliche Bemerkungen des Memoiren¬
schreibers ein, die daran erinnern, daß wohl auch die Memoiren selbst die unmittel¬
baren Niederschläge der Verhandlungen in Brief- und Berichtskonzepten nicht
durchweg respektiert haben mögen. Es empfahl sich daher, alle eigenen, besonders
bei Saburow, erforderlichen Ergänzungen in Anmerkungen zu verweisen. Der
Leser aber möge stets im Auge behalten, daß von 1379 bis 1881 ein Memoiren¬
schreiber das Wort hat, von 1883 bis 1890 die Akten des russischen Auswärtigen
Amtes sprechen.
Im Sommer 1879 wurde der russische Gesandte in Athen Peter Saburow
zum Nachfolger des Fürsten Lobanow in Konstantinopel ernannt. Vor Antritt
seines neuen Postens reiste er zum Kurgebrauch nach Kissingen, °) wo er zweimal
mit Bismarck dinierte. Der Reichskanzler sagte ihm bet dieser Gelegenheit: „Ich
bin immer ein überzeugter Freund Rußlands gewesen. Es ist gut, wenn man
eine Nation von hundert Millionen in seinem Rücken zum Freunde hat. Trotzdem
habe ich, als Graf Schuwalow vor einigen Monaten zu mir kam und einen zweiten
Kongreß vorschlug, ihm offen erklärt, daß ich nicht mitmachen könnte. Ich sagte
ihm, in einer neuen Konferenz müßte ich entweder für oder gegen Euch stimmen.
Es ist nicht meine Gepflogenheit, gegen Euch zu stimmen. Was aber das fiw
Euch stimmen betrifft, so habe ich zu meinem Schaden gelernt, daß es ein un¬
dankbares Geschäft ist, Nußland gute Dienste zu leisten. Urteilen Sie selbst.
Ich habe öfter die Rolle des russischen Agenten als die des deutschen Kanzlers
gespielt. Ich brachte die Frage Batums ganz allein durch nach lebhafter
Auseinandersetzung mit Lord Beaconsfield. Es glückte mir nur durch die Drohung,
den Kongreß aufzulösen. Ich handelte ebenso in der Frage der Donaumündungen,
in der Andrassy nicht nachgeben wollte. Ich bewies ihm, daß die österreichischen
Interessen dabei keineswegs leiden würden. Ich fordere jedermann auf, mir
einen einzigen russischen Borschlag zu nennen, dem ich während jener kritischen
drei Jahre opponiert hätte. Fürst Gortschakow behandelt jedoch seine Bundes¬
genossen wie Untergebene. Wenn sie glauben, sie hätten ihre Sache gut gemacht
und sich Dank verdient, meint er, sie kämen auf sein Klingeln die Treppe zu
langsam herauf...
„Eure Politik hatte die Wahl zwischen zwei Wegen. Ihr hättet den Vertrag
(von San Stefano) mit den Waffen aufrechterhalten können. In diesem Fall
hättet Ihr uns vorher einweihen müssen. Wir würden Euch geholfen haben,
Osterreich von einer Einmischung zurückzuhalten und England zu isolieren. Ihr
müßtet alsdann nach Plewna Eure Armee um 50 000 Mann verstärken, nicht vor
Gallipoli haltmachen") sondern in Konstantinopel einrücken, indem Ihr zu gleicher
Zeit Europa ankündigtet, daß Ihr es nach dem Kriege wieder räumen würdet.
England hätte, statt einen Kampf mit ungewissem Ausgang zu riskieren, ver¬
mutlich seinen Ton herabgestimmt. Nach der Einfahrt der englischen Flotte in-'
das Marmarameer war jedoch der günstige Augenblick vorüber. Rußland tat!
weise, daß es sich für den anderen Weg der Politik, für den Kongreß entschied. ^
Denn England hätte sicher Krieg geführt mit Heranziehung Österreichs und viel¬
leicht Frankreichs.
„Ich kenne in der Geschichte kein anderes Beispiel zweier Nachbarstaaten,
deren Interessen zugleich so verschlungen und verbunden sind (wie die deutsch¬
russischen). Ich erblicke darin einen Wink der Vorsehung. Von Zeit zu Zeit ist
von den baltischen Provinzen die Rede, um uns in Versuchung zu führen und uns
zu entzweien. Ich werde jedesmal traurig, wenn ich höre, daß Russen sie deutsche
Provinzen nennen. Nennt sie lettische Provinzen oder sonstwie, wenn Ihr ihnen
nicht den Charakter russischer Provinzen gönnt. Jedenfalls sind sie nicht das,
was wir unter einem deutschen Land verstehen. Wenn ich Nationalitätenpolitik zu
machen hätte, würde ich meine Aufmerksamkeit nicht dorthin richten. Nur der
Adel, kann man sagen, ist deutscheu Ursprungs, und der Kaiser von Rußland
besitzt keine treuerer Untertanen. Denn dieser Adel hat ein Interesse an der
Zugehörigkeit zu einem Lande, wo an wichtigen, einträglichen Stellen kein Mangel
ist. Man hält mich in Nußland für undankbar. Mit Unrecht. Vor drei Jahren?)
war ich bereit, das deutsche Heer in Euren Dienst zu stellen, wenn Ihr zu einer
wirklichen Jntcressenallianz bereit gewesen wäret. Ohne diese Vorbedingung war
es unmöglich, unser Land in einen Krieg zu verwickeln und unsere Schiffe angesichts
der" anderen Mächte zu verbrennen. Der Angelpunkt -unserer Politik ist die
Erhaltung Elsaß-Lothringens. Hättet Ihr es uns garantiert, so war ich bereit,
Euch durch dick und dünn zu folgen. Wie könnten wir sonst sicher , sein, daß
Rußland seine Politik unter einer anderen Regierung nicht ändern wird? Meine
Eröffnungen wurden nicht beantwortet, dann zeigte sich Fürst Gortschcckow hart¬
hörig. Ich spielte meine Freundesrolle weiter und glaube das auf den: Kongreß
- bewiesen zu haben, aber ich konnte nicht länger ein Bundesgenosse durch dick und
dünn ssin." - ,
Saburow gewann aus Bismarcks Worten den . Eindruck, daß die russisch¬
deutschen Beziehungen einer Neuorientierung bedürftig seien. Rußland habe 1870
durch seine Haltung in Erwartung guter Dienste der deutschen Großmacht zur
Stärkung Preußens beigetragen. Diese Schuld habe Bismarck im russisch-türkischen
Kriege beglichen, indem er keine Bewegung Österreichs in der russischen Flanke
zuließ. Seit dem Vertrage von San Stefano sei die Basis seiner Hilfsbereitschaft
der Grundsatz: av ut clef. Wenn nicht bald etwas geschehe, so würde Deutschland
auf der Suche nach neuen Verbündeten Rußland zuvorkommen. Die Preußische
Freundschaft habe Nußland fast ein Jahrhundert den unschätzbaren Dienst
erwiesen, die wichtigste seiner Grenzen zu sichern. Durch die wachsende Intimität
zwischen Berlin und Wien infolge der russisch-deutschen Reibungen werde das in
Frage gestellt. Bismarcks Haltung lasse keinen Zweifel, daß er an eine Allianz
mit Osterreich denke und möglicherweise sogar an Aussöhnung mit Frankreich auf
der Basis territorialer Wiederherstellung.«)
Im September 1879 wurde Saburow nach Berlin geschickt, um Vor¬
verhandlungen über einen Sondervertrag zwischen Rußland und Deutschland
einzuleiten.") Als er Bismarck nach seiner Rückkehr aufsuchte, sprach sich dieser
freimütig über seinen Wiener Besuch aus. Österreich scheine eine Bündnispolitik in
zweiRichtungen inErwägungcn zu ziehen. Das eine dieserBündnisse würde Deutsch¬
land Neutralität auferlegt haben, „und, was Neutralität betrifft, so bleibe ich nicht
gern neutral. Man zieht sich dabei in der Regel zwei Feinde zu. Osterreich
ist von Natur furchtsam und argwöhnisch. Deshalb ist es immer so geneigt, sich
dem Westen in die Arme zu werfen. Ich wollte, ich könnte zwischen Osterreich
und die Westmächte eine tiefe Kluft legen. In dieser Hinsicht mußte es beruhigt
werden. Sie frugen mich, was ich im Falle eines Krieges zwischen Rußland und
Osterreich tun würde. Ich antwortete mit den Worten meiner letzten Reichstags-
redc: viel hinge davon ab, wer der Angreifer wäre, daß aber Deutschland jeden-
falls ein Interesse daran hätte, daß keiner der beiden Kämpfer tödlich verwundet
würde. Da Osterreich der schwächere der beiden ist, und da es am meistens
riskieren würde, hat diese Erklärung es beruhigt. Ich versicherte mich meinerseits,!
,daß Osterreich den Gedanken aufgebe, westliche Allianzen zur Verteidigung seiner!
östlichen Interessen zu schließen. Es wird die Freiheit haben, mit Euch diese oder
jene Frage für zehn Jahre zu erörtern, aber es verzichtet künftig ans alle
anderen Mittel außer diplomatischer Aktion."
„Es ist mir auf diese Weise gelungen, auszuführen, was ich die erste
Etappe meiner SichcrungSPolitik nennen möchte, zwischen Österreich und den West-
mächtcn eine Schranke aufzurichten. Trotz den Soinmcrwolken, die sich meines
Trachtens verziehen, verzweifle ich nicht, die zweite Etappe zu erreichen, das heißt
die Wiederherstellung des Dreikaiserbundes, des einzigen Systems, das meiner
Meinung nach eine Maximaldauer des europäischen Friedens garantiert."
Saburow: „Beweisen Sie uns, daß diese Entente uns Nutzen bringen wird,
daß wir darin die Bürgschaft für den Frieden im Osten finden werden, und ich
denke nicht, daß der Kaiser sich dann einer Nntonts 5 trois auf einer Praktischen
Grundlage widersetzen wird."
Bismarck deutete darauf um, daß Andrassy und er in Wien ein Memorandum
unterzeichnet heilten, worin Osterreich darauf verzichte, sich mit einer anderen
Macht als Deutschland politisch zu binden, also keine Allianz mit den Westnmchten
und keinen Sonderbund mit Nußland zu schließen.^) „Zugleich läßt das Memo¬
randum ausdrücklich die Türe offen für den Fall, daß Rußland geneigt wäre,
dieser Entente sich anzuschließen. Die Idee des Dreikaiserbundes, zeitlebens mein
Leitmotiv, ist lange vor meiner Zeit erdacht worden. Der Urheber war Nikolaus l.
Es läßt sich kein politisches System ersinnen, das für den Schutz, aller kon¬
servativen Elemente der modernen Welt größere Garantien darböte."
Einige Zeit danach") brachte Saburow in dringlicher Weise eine russisch¬
deutsche Entente zur Sprache. Bismarck erklärte: „Mein Verlangen nach einem
Bündnis bleibt das gleiche. Ich muß Sie aber davon in Kenntnis setzen, daß
die Lage sich geändert hat. 1877 war ich bereit, mit Euch ein Offensiv- und
Defcnsivbündnis zu schließen. Augenblicklich kann ich das nicht mehr. Wenn ein
Bündnis zustande käme, könnte es nur ein Defensivbund sein." Bismarck zeigte
darauf die Zweibundurkuude Saburow, der jedoch, da er dem Reichskanzler an
einem ungewöhnlich breiten Tische gegenübersaß, beim Herumdrehen des Blattes
oben nur die groß geschriebene Zahl II erkennen konnte. Nach dieser Einleitung lud
Bismarck Saburow ein, eine schriftliche Skizze der russisch-deutschen Entente zu-
entwerfen und überreichte ihm einen Bleistift, um ihn, als Saburow in Gedanken
an Bcnedetti zögerte, wieder an sich zu nehmen mit den Worten: „Nun wohl,
diktieren Sie mir die drei Punkte, ich will Ihr Sekretär sein", was den Russen
auf die Möglichkeit einer russisch-deutschen Entente schließen ließ.
Die Wiederaufnahme der Verhandlungen erfolgte im Januar 1880 nach¬
dem Saburow als Botschafter und Nachfolger Oubrils nach Berlin zurückgekehrt
Upar. Bismarck führte aus: „Gegenseitige Verpflichtung der Sicherung gegen
Koalitionen schließt auf deutscher Seite das Versprechen ein, Osterreich in gewissen!
Fällen anzugreifen. Das hieße ein recht gefährliches Geheimnis in der Tasche
haben. Die geringste Indiskretion würde in Wien eine unberechenbare Wirkung
hervorrufen und wieder Mißtrauen und Furcht erzeugen. Osterreich würde sich
instinktiv wieder nach westlichen Allianzen umsehen, und Deutschland hätte die
Frucht seiner politischen Arbeit verloren.
„Glauben Sie mir, es liegt durchaus nicht in Eurem Interesse, zwischen
Deutschland und Osterreich Unfrieden zu stiften. Ihr verkennt zu oft, welche
Bedeutung es hat, daß man auf dem europäischen Schachbrett selbstdritt ist. Für
alle Kabinette und vor allem für das meinige ist es das unveränderliche Ziel.
Alle Politik läßt sich in die Formel fassen, versuche zu Dreien zu sein, solange die
Welt durch das unsichere Gleichgewicht von fünf Großmächten regiert wird.
Das ist die wahre Sicherung gegen Koalitionen. Fürst Gortschakow hat sich
einmal eine enge Entente mit England eingebildet. Ich wünschte der Dritte im
Bunde zu sein und hätte Osterreich nicht gebraucht, wenn diese Kombination aus¬
gereift wäre. Ich sah aber bald, daß das eine Schimäre sei. Der Antagonismus
zwischen Euch im Osten ist noch zu groß. Ihr werdet eines Tages ein gigantisches
Königsgrätz brauchen, um diesen großen Kampf um Asien auszutragen. Seitdem
war mein Lieblingsgedanke eine Lutouto ü trois mit Osterreich. Der erste Versuch
mißlang, und ich habe die Wiederaufnahme damit begonnen, daß ich die Entente
K äoux solider machte, um danach zur llntents ä, trois zurückzukehren, wenn ihn
dazu aufrichtige Geneigtheit zeigt.
„Ich wäre aber nicht mißvergnügt über die Vertagung ernster pourparlors.
Denn ich habe wegen ihres Enderfolges einige Zweifel. In Wien ist ein
argwöhnischer Minister (Hahmerle) und in Petersburg haben wir einen Kanzler
dessen hohes Alter ihm nicht gestattet, so delikate Verhandlungen in allen ihren
Einzelheiten mit der Rührigkeit früherer Jahre zu leiten...
„Wir werden ein Jahr so zusammen leben. Wir haben beide den gleicher
Gedanken gehabt. Ich wollte ihn nicht zuerst aussprechen, damit man mir nicht
wieder vorwürfe, ich wünsche den Kanzler zu stürzen. Ich teile die Hoffnung all
seiner Bewunderer, daß Gott ihm Leben und Gesundheit gewährt. Aber wenn
mir ein Vorschlag gemacht wird, bei dem so viel auf dem Spiele steht, muß ich
.vor jedem Schritt überlegen, ob daraus für mein Land kein Schaden entsteht.
Ich denke nicht, sei es mit Recht oder Unrecht, daß Fürst Gortschakow ein auf¬
richtiger Freund Deutschlands ist. Ich will nicht auf den Zwischenfall von 187->
zurückkommen, wo er uns zu demütigen wünschte."")
Bismarck erzählte sodann von geheime» Militärkonventionen, die den Drei¬
kaiserbund hätten einleiten sollen. Gortschakow habe die Verständigung hintertrieben,
was auf die Haltung gewisser Glieder des österreichischen Kaiserhauses gegen
Rußland zurückgewirkt habe.
„Ich bleibe dabei, daß ich einem ancora K trois den Vorzug gebe. Ich
sehe nicht ein, weshalb Osterreich ihn ausschlagen sollte, und wenn es ihn aus¬
schlägt, so werden wir das Recht haben, uns zu fragen, ob seine Freundschaft so
aufrichtig ist, wie wir annehmen. Jedenfalls wird eS dann immer noch Zeit sein,
aus den aeonrä ü clsux mit Euch zurückzukommen."
Saburow erwiderte, für den aeoorck i>. trois sei er nicht instruiert. In Wien
und Petersburg sei dafür keine Stimmung. Bismarck gab zu, daß Rußland die
österreichische Undankbarkeit von 1854 mit Recht nicht vergessen habe, meinte aber,
daß in Wien die Perfidie der Angst Platz gemacht habe. Franz Josef habe ihm
tieftraurig gesagt: „Man beschuldigt mich, nach neuen Eroberungen Verlangen
zu haben. Wie kann man denken, ich träumte davon nach all den? Unheil,
das mich mein ganzes Leben hindurch verfolgt hat? Ich bin geschlagen worden
durch die Franzosen, geschlagen durch die Preußen, geschlagen durch die Italiener,
denn die Schlacht bei Custozza war in Wahrheit verloren, und wenn sich die
Italiener zurückzogen, so geschah es auf telegraphischen Befehl aus Paris. Ich
gab den Krieg lange zuvor auf. Ich habe kein Glück."
Die Besprechung endigte mit einer flüchtigen Skizzierung der Verständigung
über die Probleme des nahen Ostens.
Als Saburow im März 1880 wieder in Berlin eintraf, brachte er die
Einwilligung Alexanders II. zu einer Lntento K trois mit und schöpfte alsbald aus
Bismarcks Unbehagen über den Sieg der englischen Liberalen und des Ministeriunis
Gladstone") die Hoffnung, daß die Verhandlungen zwischen den drei Mächten nun¬
mehr in Fluß kommen würden. Das geschah dann in der Weise, daß Bismarck
an Hahmerle mit den Vorschlag eines DreikaiserbündnisseS herantrat und Saburow
über die ihrem Gedankenaustausch parallelen Verhandlungen des deutschen
Botschafters Prinz Reuß mit dem österreich-ungarischen Außenminister auf dem
laufenden erhielt.") Saburow benutzte die Gelegenheit, als Bismarck sich über
HaymerleS Ängstlichkeit, politische Unsicherheit und Berantwortungsscheu ausließ,
zur Herbeiführung einer Äußerung über die Tragweite des Zweibundes den
Gedanken auszusprechen, Hahmerle habe vielleicht an der Lntvnte it traf weniger
Interesse, weil Osterreich durch den Zweibünd hinreichend gedeckt sei. ' ?
. Bismarck: „Osterreich würde sich sehr täuschen, wenn es dächte, daß die
Sicherung, die sich aus seinen Beziehungen zu uns ergibt, eine vollständige Ware.
Ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß das nicht der Fall ist. Unsere
Interessen zwingen uns, der Zerstörung Österreichs vorzubauen, aber gegen
Angriffe ist es nicht gesichert.^) Ein Krieg zwischen Rußland und Osterreich
würde uns gewiß in eine sehr peinliche Lage versetzen, aber unsere Haltung in
einem solchen Fall "wird durch unsere Interessen bestimmt und nicht durch Ver¬
pflichtungen, die nicht existieren. Unsere Interessen verlangen, daß weder Nußland
noch Osterreich tödlich verwundet wird. Sie sind uns als Großmächte beide
gleich unentbehrlich. Das wird gegebenenfalls unser Verhalten bestimmen."
Saburow schloß aus diesen Worten, daß der Zwcibund kein bedingungsloses
Offensiv- und Defensivbündnis sei, daß er aber das Recht vorbehalte, nach der
ersten Schlacht oder während der Friedensverhandlungen zu intervenieren. . .
In einer späteren Unterredung sagte Bismarck: Ein wirklicher Staatsmann
in Wien mit weitem Blick würde nicht gezögert haben, auf der Karte der Türkei
eine Grenze der österreichischen und der russische»! Einflußzone zu ziehen, und zwar
zur"' Befriedigung beider Teile. „Aber die österreichischen Minister sind die
furchtsamsten in Europa. Sie erschrecken vor jeder Frage, die teilte Tagesfrage
ist, und man würde durch vorzeitige Diskussion nie etwas mit ihnen erreichen...
„Augenblicklich sollten wir zufrieden sein mit unserer geplanten Verständigung,^)
die uns den großen Vorteil gewährt, Osterreich besser am Gängelbande zu halten
und es, wem» die Gelegenheit sich bietet, in eine Entente hi,»einzuzwingen. Wenn
diese Verständigung vollendete Tatsache ist, dann stelle man sich eine Lage wie
die vor Ausbruch des Krimkrieges vor. Dürfte Osterreich, wenn es sich mit
England gegen Nußland vereinigen wollte, so vorgehen, ohne uns zu fragen, ob
wir neutral bleibe»: wollen? Unsere Antwort wäre dnrch die gegenwärtige
Verständigung gegeben, und Österreich könnte nicht daran denken, sich zu rühren.
Setzen wir den Fall, daß ein glücklicher Feldzug Euch zum Bosporus führt. Ich
habe Ihnen bereits dargelegt, wie ich darüber denke. Ich schmeichle mir, daß ich
zuerst in Europa mit der alten durch die Westmächte allen Kabinetten eingeimpften
Tradition gebrochen habe, daß Konstantinopel in den Händen Rußlands eine Gefahr
für Europa sein würde. Ich halte diesen Gedanken für irrig und sehe nicht ein,
weshalb ein englisches Interesse ein europäisches Interesse werden sollte. Deutschlands
Interessen werden durch diese Eventualität entschieden nicht berührt, und ich glaube
im Gegenteil, daß die Russen sehr ernste Anhänger der Sache des Friedens werden,
wenn ihr Ehrgeiz endlich sein Ziel erreicht hat, und daß sie, im Besitze Konstantinopels,
sich von der Nichtigkeit aller irdischen Dinge ^) überzeugen werden, wie
ich es bin." -
Am 10. Januar 1881 macht Saburow zu dem Entwurf die Bemerkung :
„Wir übernehmen die Sorge um die Lokalisienmg eines deutsch-französischen oder
eines österreichisch-italienischen Krieges. Es ist sehr Wohl möglich, daß England
an die Seite Frankreichs treten wird, wenn Ihr z. B. die Neutralität Belgiens
aus strategischen Gründen verletzt."
Hahmerles Bedenken gegen ein Bündnis lernte Saburow aus Berichten
des Wiener Botschafters Prinz Neuß kennen, die Vismarck ihm vorlas. ^)
Haymerle hatte danach erklärt: „Im Osten gibt es tatsächlich nur einen Einfluß,!
den russischen. Wir fühlen das bei jeden: Schritt. Jedesmal, wenn wir wünschen,
ein österreichisches Interesse wahrzunehmen, stoßen wir auf die feindliche Aktion/
russischer Agenten. Unter solchen Umständen laufen wir Gefahr, stets von der-
russischen Diplomatie geprellt zu werden, wenn wir uns in einen Bündnisvertrag
verstricken lassen. Ist Fürst Vismarck selbst wirklich überzeugt von der Aufrichtigkeit
Rußlands?"
Kaiser Wilhelm I. machte nun, indem er seine Einwilligung zu Bündnis-
Verhandlungen gab, den Vorschlag, daß Vismarck und Saburow sich erst völlig
verständigen sollten, bevor sie Osterreich mit unmittelbaren Eröffnungen kämen
Vismarck hielt es für das Beste, daß die Vorschläge von ihm allein ausgingen
Osterreich könne sich dann schwerer weigern, und eine Weigerung würde das
Verhältnis Rußlands und Österreichs nicht so berühren, wie wenn die Initiative
von Rußland ausginge. Ein gemeinsamer Vorschlag Deutschlands und Rußlands
sähe dagegen etwas einer Drohung gleich. Saburow sprach die Hoffnung aus,
daß auch im Falle einer Weigerung Österreichs eine russisch-deutsche Entente
zustande käme. Vismarck erwiderte: „Das ist ganz mein Gedanke. Wenn Sie.
ihn mir nicht ausgesprochen hätten, so hätte ich Ihnen den gleichen Vorschlag
gemacht. Außerdem wird er mir eine neue Handhabe geben, einen Druck auf
Osterreich auszuüben und es durch die unangenehme Aussicht auf eine Sonder¬
verständigung zwischen Deutschland und Nußland in eine Zwangslage zu versetzen."
Saburow schlug vor, daß sich je zwei Mächte für den Fall, daß die dritte
Macht den Bund verletzte, gegen diese Verbunden sollten. Vismarck: „Das wird
von selbst kommen, wenn wir nur erst zu dritt sind/ Ihrem Gedanken die
vorgeschlagene Form zu geben, bedeutete dagegen ein wechselseitiges Offensiv¬
bündnis. Wir würden dadurch zum Ausdruck bringen, daß wir ein¬
ander nicht trauen. Die einzige Macht, die etwa Neigung hätte, sich
zu drücken, ist offengestanden Osterreich. Aus diesem Grunde ist mit ihm
eine, allikwee ä trois einer allianev ö cieux vorzuziehen." Saburow nennt
diese Worte die beredteste Leichenrede auf die vorjährigen Wiener Abmachungen.
Einige Tage später teilte Vismarck Sahn row wieder Wiener Depeschen mit.
Haymerle bat danach den Reichskanzler, über seine Leidenschaft für Analyse nicht
zu erschrecken/ denn sie würde der Sache zugutkommen. Reuß hatte jedoch
Hahmerle gewamt, durch zu eingreifende Verbesserungen nicht das ganze wohldurch-,
dachte Bündnisprojekt zu gefährden. Bismarck bemerkte dazu, Reuß habe seine
Instruktionen überschritten. Mit Hahmerle käme man weiter, wenn man aus
seine Art eingehe. An die Verlesung der Meldung, daß Hahmerle zu wissen wünsche,
' welche Änderungen des Zwcibunds sich nach Bismarcks Ansicht aus der Latente »
trois ergeben würden, knüpfte Bismarck eine längere Betrachtung an. „Ich weiß
nicht — sagte er — weshalb sie (die Österreicher) aus diesem Vertrag (dem
Zweibund) immer ein Geheimnis machen wollen. Ich könnte jederzeit den gleichen
Vertrag mit Rußland schließen, ohne daß Osterreich dadurch beleidigt wäre. Was
ist geschehen? Ich sagte zu Andrassh, daß die Erhaltung Österreichs als Gro߬
macht im Interesse Deutschlands läge. Deutschland könnte nicht dulden, daß
Osterreich von der Karte Europas verschwände oder zu einer Macht dritten Ranges
herabgedrückt würde. Deutschland ist von Großmächten umgeben. Ihre Zahl
bewirkt ihre Macht/ denn je zahlreicher sie sind, desto größere Schwierigkeiten
Habensie, eineKoalition zu bilden.2°) Damals(1879)ängstigteninichdiepanslawistischen
Tendenzen in Rußland, vielleicht ohne zureichenden Grund. Ich frug mich, welche
Richtung die russische Politik unter einem diesen Tendenzen folgenden Herrscher
einschlagen würde, und ein französisch-russisches Bündnis mit der Zerstörung der
deutschen Einheit als zugestandenein Ziel war eine der ZukunstSgefahren, von
denen ich träumte, und die mich den Vorteil der Erhaltung Österreichs als Groß'
macht klar erkennen ließen. Andrassh gab mir entsprechende Zusicherungen. Alles,
was ich ihm sagte, hatte ich schon Oubril 1877 gesagt, als Fürst Gortschcckow mir
die Frage vorgelegt hatte, welche Haltung Deutschland im Falle eines Krieges
zwischen Rußland und Osterreich einnehmen würde. Die deutschen Interessen
zeichnen unserm Handeln in solchen Lagen einen Weg vor, von dem wir nicht
abweichen können. Wir müssen dafür sorgen, daß keine der beiden Mächte tödlich
verwundet wird. Wir brauchen sie beide."
Hahmerles Zögern veranlaßte ViSmarck, in Wien sagen zu lassen, er habe
es für Rußland übernommen, von Osterreich ein Ja oder Nein als Antwort zu
bekommen. Saburow warte seit drei Wochen. Im Falle der Weigerung könne
er sich nicht mit Hahmerle in die Folgen teilen. Deutschland wolle für die
Erkältung seiner Beziehungen zu Rußland keinen Vorwand geben.
Durch die Ermordung des Zaren Alexanders II. (13. März) wurden die
Verhandlungen in Berlin unterbrochen. Als Saburow sie im April 1881 wieder
ausnahm, bemerkte Bismarck zu dem österreichischen Vorschlag, den Bund auf
drei Jahre abzuschließen: „Wenn Osterreich dieses Wollhemd drei ganze Jahre
auf dem Leibe getragen hat, so wird es nicht mehr imstande sein, es ohne das
^ Risiko der Verkältung abzulegen." Gegen Österreichs Vorschlag, den Artikel
über den Sandschcck von Nowibazar ebenso zu fassen, wie den über Bosnien und
die Herzegowina"), erhob Rußland Widerspruch, während Bismarck meinte: „Wir
machen einen Fehler, wenn wir Osterreich abhalten, sich zu kompromittieren
durch schriftliche Fixierung dieser Forderung, die es-.nur mit den Westmächten
brouillieren und in jeder künftigen Ostkrisis zu unserm Mitschuldigen
machen wird".
Den letzten Widerstand Haymerles überwand Bismarck durch eine Spezial-
mission Herberts, der in Wien ausrichtete, daß sein Vater der Sache müde sei,
und, wie es scheint, durch einen unmittelbaren Appell von dem eigensinnigen
Minister an Kaiser Franz Josef. Am 18. Juni 1881, um 5 Uhr nachmittags,
wurde der Bund mit dem Separatprotokoll von Sz6es«nyi, Bismarck und
Saburow unterzeichnet. (Schluß folgt.)
-MA
WWfüllt über die Valutaentwicklung gesprochen wird, so sind die am
stärksten beachteten Gesichtspunkte die: Wie denkt das Ausland über
die deutsche Mark? Hat Neuyork zuletzt Mark gekauft oder ab¬
gegeben? Welche Meinung besteht bei der ausländischen Spekulation
für die deutsche Valuta? So wesentlich diese Umstände für die aller¬
nächste Kursentwicklung sein mögen, so sehr treten sie doch auf die Dauer in ihrer
Wirkung zurück gegenüber den anderen, die Valutabewegung bestimmenden wirt¬
schaftlichen Ursachen, die sich aus der Gestaltung des deutschen Außenhandels er¬
geben. Es verlohnt, sich diese tiefere ursächliche Verknüpfung einmal klarzumachen;
nur wer sie übersieht und würdigt, kann in Wahrheit ein halbwegs sachverständiges
Urteil über die Valuta abgeben, das über die Beurteilung der Tagesmarktlage des
Devisenhändlers hinausgeht. Beide Tatsachenkomplexe — Außenhandel und Va¬
luta — stehen zueinander im Verhältnis von Ursache und Wirkring; aber man kann
nicht allgemein sagen, welches die Ursache und welches die Wirkung ist; beide sind
Ursache und Wirkung zugleich.
Das läßt sich aus einer Betrachtung der Wirtschaftsentwicklung der Nach¬
kriegszeit leicht erkennen. Nachdem bis Mitte 1919 die deutsche Valuta sich noch
nach unseren jetzigen Begriffen verhältnismäßig gut gehalten hatte — der Dollar
galt Anfang Oktober 1919 noch etwa 20 ^ —, begann von da ein schnelles Sinken
der Mark, das so weit ging, daß Anfang Februar 1920 der Dollar mehr als 100
galt. Die Ursache dieses Sinkens lag zum wesentlichen Teil in der ungünstigen
Entwicklung des Außenhandels, dem starken Überwiegen der Einfuhr über die Aus¬
fuhr. Deutschland war nach fünf Kriegsjahren bis aufs letzte ausgequetscht und
im höchsten Maße angewiesen auf Einfuhren beinahe aller Waren. Diese steigenden
Einfuhren wollten bezahlt werden. Zur Bezahlung verwandten wir, was an inter¬
national gültigen Werten noch da war/ aber den Hauptteil konnte nur ein entsprechen¬
der Erlös der Ausfuhr bringen. Die industrielle Tätigkeit war aber während deS
ganzen Jahres 1919 noch eine recht ungeregelte. Immer wiederholte Streiks, Kohlen¬
mangel, Verkehrsschwierigkeiten sabotierten die Produktion, das Maß der zur Ausfuhr
kommenden Waren reichte bei weitem nicht aus, um die Devisenanforderungen der
Einfuhr auszugleichen. Aus diesem mangelnden Gleichgewicht auf dem Zahlungs¬
markt, aus der Mehrnachfrage nach Devisen gegenüber einen: Minderangebot mußte
notwendig die starke Steigerung der Devisen folgen, wie wir sie erlebt haben.
In diesem Stadium wurde also die Gestaltung des Außenhandels bestimmend
für einen Rückgang der Valuta, wobei allerdings in gleicher Richtung starke Kapital¬
flucht mitwirkte, die zum Teil in der Form vor sich ging, daß die Erlöse der Aus¬
fuhr nicht wieder ins Land hereinkamen und zur Bezahlung von Einfuhren zur Ver¬
fügung standen, sondern draußen blieben. Nun kam die Gegenwirkung : Die sinkende
Valuta verbilligte für das Ausland alle deutschen Waren in ungeahntem Maße.
Große Aufkäufe des Auslandes setzten ein, die nicht nur das Ergebnis der Pro¬
duktion, die Warm, sondern vielfach auch die Mittel der Produktion ergriffen.
Der Verkauf wurde zum Ausverkauf. Die so außerordentlich gesteigerte Ausfuhr
mußte zu einem Mehr an Forderungen gegen das Ausland führen, und das so ge¬
steigerte Angebot ausländischer Devisen bzw. die gesteigerte Nachfrage des Aus¬
landes nach deutscher Mark, die notwendig war, um die deutschen Warmlieferungen
zu bezahlen, führte zu einer neuen Verschiebung der Lage auf dem Devisenmarkt,
derzufolge der Stand der Mark dann seit März 1920 wieder anstieg, um im Mai
den höchsten Stand zu erreichen — der Dollar galt zeitweise wieder nur 35 ^.
Unterstützt wurde diese Bewegung durch die im März 1920 erfolgte Schließung des
Loches im Westen, welche insbesondere die Wirkung hatte, unnötige Einfuhren
fernzuhalten und dadurch das Maß deutschn Zahlungsverpflichtungen ein das Aus¬
land herabzudrücken. Es ist bemerkenswert, daß die Wirkung — die Steigerung
der Mark im April, Mat erst mit einigen Monaten Verspätung der Ursache — dem
Höchstmaß an Ausfuhrabschlüssen (im Januar, Februar) folgte, — eine nur natür¬
liche Erscheinung, die in der Zeitspanne begründet ist, welche notwendig zwischen
Geschäftsabschluß und Bezahlung der Lieferung zu liegen pflegt.
Seit April, Mai 1920 wurde nun die Wirkung der Marksteigerung wieder zur
Ursache erneuter Exportstockung. Das Pendel war zu wett ausgeschlagen. Bei dem
Dollarstande von 35 °A waren dem Ausländer auf vielen Gebieten der deutschen
Industrie die Preise zu hoch geworden. Wenn der Deutsche seine bisherigen Preise
in Mark weiter verlangte, hätte ja der Ausländer den dreifachen Betrag in Dollar
z. V. zahlen müssen, wie im Februar vorher. Andererseits erlaubten die parallel mit
der Ausverkaufskonjunktur gestiegenen Löhne und Unkosten nur mäßige Preisherab¬
setzungen. Seit April, Ma erfolgte ein starker Rückgang neuer Aufträge, die neuen
Anträge auf Ausfuhrbewilligung wurden sehr viel weniger zahlreich. Bei dieser
Lage ergab sich bereits im Mai die wenig erfreuliche Befürchtung, daß der Hochstand
der Mark nicht zu halten wäre. Denn der unausbleibliche Rückgang in den künftigen
Zahlungen des Auslands für neue Exporte deutscher Waren mußte die Lage auf dem
Devisenmarkt stark zu unserem Ungunsten verschieben. Der erwartete Umschwung
trat im September, Oktober und November 1920 ein, der Dollar ging wieder herauf
bis auf 85 Hiermit verband sich ein erneutes Anziehen des Exports, in Verfolg
dessen wieder eine Verbesserung des Markstandes eintrat, aber ohne daß der Dollar
auf wesentlich unter 60 -/^ sinken konnte.
Dies ist der heutige Zustand. Da der Export in der letzten Zeit stark nach¬
gelassen hat, allerdings diesmal nur zum Teil infolge der besseren Valuta, zum andern
Teil wegen der allgemeinen Absatzkrise auf den Weltmärkten, so müßten die rein
wirtschaftlichen Anzeichen auf ein« erneute Devisensteigerung hinweisen, falls diese
nicht etwa durch großzügige Kreditvereinbarungen insbesondere mit Amerika, wo man
die Wichtigkeit der Stützung der deutschen Valuta allmählich eingesehen hat, hintan
gehalten wird.
Mit dieser Aufzeichnung der treibenden Kräfte der Valutaschwankungcn ist
'naht alles gesagt. Valutastand und Einfuhr stehen in ganz entsprechendem
Zusammenhang; niedrige Valuta verteuert und drosselt die Einfuhr, und geringe
Zahlungsverpflichtungen aus mäßiger Einfuhr sind geeignet, den Valutastand wieder
""steigen zu lassen. Die Bewegungen gehen stets parallel den oben an Hand der
Ausfuhr gekennzeichneten Bewegungen. Es treten hinzu Wirkungen von Spekulci-
livrer, Krediten, Kapitaltransaktionen: die bankmäßige Betrachtung ist stets geneigt,
diese Kräfte an die erste Stelle zu setzen. Das ist unrichtig. Es kann nur immer
wieder betont werden, daß auf die Dauer die Gestaltung des Außenhandels die weit¬
aus wichtigsten Ursachen der Valutabewegung hergibt, und daß alles andere nur zu¬
sätzliche Wirkungen ausübt.
Soweit das äußere Bild. Es fragt sich, was getan werden kann, um den
zweifellos ungünstigen Rückwirkungen der Valuta Schwankungen auf die deutsche Wirt¬
schaft zu begegnen. Die Stabilisierung der Valuta ist das radikale und wirklich
helfende Mittel. Aber unsere Kraft allein reicht dazu nicht aus. Wir sind auf weit¬
gehende verständnisvolle Krcdithilfe des Auslandes angewiesen. Von einer solchen
sind aber, abgesehen von einem immerhin merklichen Stimmungsumschwung in dieser
Richtung in Amerika, greifbare Anzeichen bisher kaum festzustellen. Im Gegenteil,
die unerhörten Forderungen von Paris und London drohen, uns weiter in den
Valutastrud el h ineinzutreiben.
Ein weniges kann von uns getan werden: Gewissermaßen, eine Vorbereitung
zur Stabilisierung der Valuta. Wir könnten die Schwankungen der Reichsmark
durch zielbewußte Devisenpolitik zwar nicht ausschalten, aber doch etwas mildern.
Aber wir können auch bei diesen bescheidenen Maßnahmen nur in einem günstigen
Zeitpunkt anfangen. Es hilft wenig, bei sinkender deutscher Valuta mit An¬
strengungen zu beginnen, das Sinken aufzuhalten, wenn man nicht diese An¬
strengungen zu fundieren gewußt hat dadurch, daß man vorher bei steigender Valuta
Devisen aufgenommen, gewissermaßen ein Reservoir oder, wie Herr Staatssekretär
Hirsch es einmal bezeichnet hat, ein Devisenfettpolster gebildet hat, um daraus bei
eintretender Gegenentwicklung später wieder Material abzugeben. Durch die Herein¬
nahme der Devisen würde man die Schwankungen nach oben etwas hemmen, d. h. auf
eine vorübergehende Steigerung der Valuta verzichten, um durch das Abgeben später
dann um so wirksamer den zu weiten Ausschlag des Pendels nach unten zu ver¬
meiden und so im ganzen die/Spitzen der Valutakurven abzuhauen. Es wird
unbedenklich in dieser Richtung vorgegangen werden können, wenn man sich
darüber klar ist, daß es nur ein formales, aber kaum ein wirklich sachliches
Risiko ist, bei stark ansteigender deutscher Valuta, wie z. „B. im Mai v. I.
Devisen gegen Papiermark, die wir bzw. das Reich doch nun einmal in
unbegrenzter Menge zur Verfügung haben, anzukaufen. Wenn diese Maßnahme, als
Spekulation betrachtet, fehl schlagen sollte, also einen Kursverlust bringen würde,
so ist doch die damit verbundene Besserung der Mark geeignet, diesen fnianziellen
Verlust mehr als aufzuwiegen. ^
Auch eine Jnflationswirkung kann, recht betrachtet, daraus nicht folgen, da
unmittelbar goldwerte Gegenwerte — Devisen — gegen das deutsche Geld ein¬
getauscht werden und durch Wiederabgabe dieser Devisen unmittelbar die ent¬
sprechende Menge deutschen Geldes dem Verkehr wieder entzogen werden kann.
Leider ist nur die Möglichkeit, nennenswerte Devisenbeträge aufzusparen, wegen
der Höhe der Ausgleichszahlungen, und weiter der Reparationssorderungen,
gegenwärtig eine so beschränkte, daß vorläufig eine praktische Stabilisierungs¬
politik der bezeichneten Richtung auf die größten Schwierigkeiten stößt.
Wenn diese Maßnahme von der Geldseite der Wirtschaft ausgeht, so gibt es
aber auch ein für den Schutz der Wirtschaft vor Wirkungen der Valutaschwankungen
nicht weniger wirksames Mittel, das von der Warenseite ausgeht, nämlich die ziel¬
bewußte Preispolitik bei der Ausfuhr, die Bekämpfung des Valutadumpings, wie
das kürzlich in dieser Zeitschrift (Heft v. 6. Febr.) durch Herrn Professor Kern
Und auch in meiner Schrift „Valuta-Dumping" (Carl Heymanns Verlag) zur
Darstellung gebracht worden ist.
le Notwendigkeit, auf gute Bücher hinzuweisen, war niemals so groß
als heute. Einerseits stehen Buchhändler, Verleger, die Arbeiter
am Buche und vor allem dessen Urheber, die Schriftsteller in
schweren Daseinskämpfen j andererseits zwingt die allgemeine Preis¬
steigerung Leser und Freunde guter Bücher, strenge Auswahl zu
halten. Immerhin ist das Buch auch heute noch erst um das Sechsfache gegen
den Friedenspreis verteuert worden, während alle anderen Dinge der Lebenshaltung
eines kultivierten Menschen den mehr als zehnfachen Preis erreichten. Aber weil
den meisten Buchlesern die Geldmittel zusammenschmolzen, fing man zuerst beim
Bucheinkaufe zu sparen an. Das zeigt auch eben wieder die Buchmesse in Leipzig
zum Erschrecken, und doch tut uns allen, die wir noch national als Deutsche leben
und empfinden wollen — was auch komme —, nichts so sehr not als ein gutes
deutsches Buch, eine gute Zeitschrift und Zeitung. Das ist das tägliche geistige
Zubrot, die Nährkraft, welche die Seele braucht. Die Freunde guter Bücher bei
der Auswahl zu unterstützen, ist der Zweck meiner Zeilen.
Im Vordergrund steht seit Weihnacht das neue Buch von Karl Rosner
„Der König" (Cotta, Stuttgart), denn es handelt vom — Kaiser, und Rosner
genoß den Vorzug, im letzten Kriegsjahre des letzten Kaisers und Königs vertrauter
Begleiter zu sein. Seine Erinnerungen an diese Zeit hat der bislang als fein¬
sinniger Romandichter und poetischer Kriegsberichterstatter bestbekannte Erzähler
Mit der ganzen Schmiegsamkeit des echten Wiener Ästheten hier dargestellt, wohl
nicht ganz unbeeinflußt von Molos technisch verblüffenden, starkmütigem „Fridericus"
und wohl auch nicht ganz ohne Kenntnis des im Verlage Cotta noch immer
inhibierten dritten Bandes der Bismarckschen „Gedanken und Erinnerungen".
Vor- und rückschauend läßt Rosner den Kaiser unter Hindenburgs und Ludendorffs
Augen in der O.H.L. sowie während der letzten Marneschlacht auf der Menilwarte
schwere Stunden durchleben, zeigt ihn aber ganz und gar weich und willenlos,
hamletartig, eine Frucht vergeblicher Erziehung durch Eltern, Regierende und Volk!
Nur Rofners eben fast frauliche Weichheit vermochte einen so eigenartigen
Monarchen wie unsern Kaiser so darzustellenI Seine nächsten Verwandten und seine
nächste Umgebung sahen ihn doch wesentlich anders, zuzeiten unduldsam, oft auf
dem eigenen Willen bestehend. Und doch war der Kaiser weder das eine noch
das andere,- vielleicht ein Mittelding zwischen beiden. Wenn Rosner etwa die
Absicht hatte, wie man vielfach hört, dem ehemaligen Monarchen Gerechtigkeit
widerfahren zu lassen, seine Person denen menschlicher näher zu bringen, die nur
ein verschwommenes Bild von ihm hatten, so hat er seine Aufgabe nicht verstanden.
Kein Mensch wird Sympathien empfinden für einen Monarchen, geschweige denn
Mitleid mit ihm haben, der sich so „roönerisch" passiv verhält und in entscheidenden
Momenten abschieben läßt. Die Szenen im Großen Hauptquartier, die Nacht
auf der Msnilwarte und manches andere sind gewiß dramatisch geschildert/ aber
sie weichen doch erheblich von der Wirklichkeit ab. Daß Rosner die Männer, die
teils die militärischen Berater, teils die Umgebung des Kaisers bildeten, so wenig
anziehend, ja geradezu abstoßend schildert, hinterläßt beim Leser ein Gefühl des
Unbehagens, des Nichtverstehens, des Unwillens über den Romanschreiber. Wenn
auch kein Name genannt ist, so weiß der einigermaßen Eingeweihte doch, wer
gemeint ist. Von einem Manne wie Rosner, der das Angenehme genoß, hätte
man etwas mehr Takt erwarten können. Der General Ludendorff ist noch jetzt
eine vom Kaiser hochgeschätzte Persönlichkeit und der Generaloberst, den Rosner
als einen morbiden Menschen schildert, hat vor und während des Krieges mehr
als mancher andere klaren Blick gezeigt. Der Roman wird viel gelesen werden/
:ab er muß auch gelesen werden/ aber man lese ihn mit Verstand und lasse sich
nicht einfangen. Für den Verlag bedeutet er insofern eine „große Sache", als
er die ohnehin vorhandene Spannung auf den dritte» Bismarck-Band zur Neugier
steigert, ihm also der beste Wegbereiter ist.
Rofners reflektierende Hofhistoriographie aus 1818 ließ den andern weiland
Kriegsberichterstatter des Berliner Tageblattes Bernhard Kellermann nicht ruhen.
Dieser früher reine Lyriker brachte einen biogenetischen Zeitroman „Der neunte
November" (Fischer, Berlin) von 475 Seiten, welcher mit seinem zartroten
Umschlage dem „Roten Meere" einer Clara Viebig ähnelt. Auch insofern gleicht
er dem Viebigschen Roman, daß er vorwiegend an Frauen und Frauenzimmern
im Berlin der letzten Kriegsjahre ausmalt, wie es zu jenem roten 9. November 191»
kam. Es ist ein Buch, auf das der Untertitel von H. H. Ewers jüngsten gleichfalls
hierher gehörigen Roman „Vampyr" trefflich paßt: ein verwilderter Roman in
Fetzen und Farben! Unter seinen allesamt pathologischen und nach der Moderne
gezeichneten Figuren ist der morbideske Kriegsamtsgeneral und die galvanisierte
Hofexzellenz letzten Endes so wenig Träger der Handlung wie der Mann aus dem
Volke und die sehr episodisch gesehenen revolutionären Soldaten. Die mondänen
Pazifistinnen des heutigen Berlins sind's, und in ihnen wird der stark expressio¬
nistische Chronist unserer Sintflut, Kellermann, wieder ein wenig zu jenem sehn¬
süchtigen Dichter, welcher er einst war („Ingeborg"). Sein jetziges Buch, kein
Heldenstück wie der „Tunnel", ist ein Basrelief unserer jüngsten Vergangenheit,
ist vielen, die seine mancherlei Kriegsbücher und Kriegsberichte mit warmem
Empfinden gelesen haben, eine herbe Enttäuschung.
Da packte der wackere Traugott Tamm in Ratzeburg, heute ein Sechziger,
viel glücklicher zu in seinem wirklichkeitssch'arfen Zeitbilde „Die zwei Nationen",
mit dem das Bibliographische Institut in Leipzig eine belletristische Abteilung „Deutsche
Romane zeitgenössischer Dichter" in wohlgefälligem Breitformat sehr gelungen
eröffnete. Tamm zieht das Bild enger als Kellermann: Ratzeburg und seine
Jäger, zwei Schwestern, zwei Brüder und ihre Welt. Der Krieg verebbt, die
Revolution lobt auf. Alles ist bei ihm gradlinig, ländlich urwüchsig, die Liebe
und der Haß. Gegen das Babel Berlin der roten und undeutschen Horden steht
hier eine paradiesische, freilich gleichfalls von politischen Leidenschaften durchraste
Welt, aber dieser Roman ist von einer Fülle der Kraft und des Glaubens an
gute Zukunft, das; man ihm von ganzem Herzen weiteste Verbreitung wünschen
muß. Eggerr Hauschild und seine Rotrcmt sind geradezu Symbole unseres Voran-
strebens. Der Jochen Rotländer ist einer der versinkendem Nation, aber die
Tile Nobran, wurzelnd im Volke und aus allem Schmutz heimfindend zu Treue
und Reinheit, das ist die erneute Nation.
Ein so emsiger und beliebter Erzähler wie der Schlesier Paul Keller
Vermochte gleichfalls seine große Verehrerschar in unseren dunklen Tagen nicht
führerlos hinauszustoßen/ in seinem jüngsten Buche „In fremden Spiegeln"
(Bergstadtverlng) nimmt er treu die vielen an die Hand, welche sich zu ihm
bekannt haben, und geleitet sie zugleich mit einem am neuen Deutschland ent¬
täuschten schlesischen Adligen in fernes Land, nach Indien, läßt sie in den fremden
Spiegeln fernster Kultur das eigene verschmähte Vaterland wieder lieben lernen.
Eine dankbare Aufgabe. Gerade unsere Volksmenge, welche Indien nur eben aus
äußerlich prunkvollen Filmen, wie „Die Lieblingsfrau des Maharadschah", zu
kennen wähnt, dürfte hier zu tieferem schürfen an klaren Quellen hingelockt
werden, und dex katholische Leser, welcher Keller huldigt, wird überrascht sein und
sich beglückt bereichert fühlen. Uns Deutschen aber war nie das Hemd soviel
näher denn der Rock als heute/ die Not derer, welche am Rhein unter Feind¬
besatzungen schmachten, noch keiner hat sie so eindringlich gepredigt als Gertrud
von Brockdorff in ihrem erschütternden Buche „Die Faust im Westen"
(schert, Berlin). Wie sie da draußen leiden und unter der Schmach und Schande
atmen, leben, hoffen, Deutsche bleiben von ganzem Herzen, wie sie anklagen ohne
zu klagen, wie sie rufen und bitten, weinen und wecken, sie, unsere Brüder und
Schwestern am unterdrückten deutschen Rhein — das ist lesenswert und schafft
Stolz und Freude. Dies Buch ist eine nationale Tat und ein lebendiger Mahnruf:
Vergeßt die heimgesuchten deutschen Brüder nicht!
In jene westliche deutsche Welt des frohen Mutes und der stolzen Tat, an
den Rhein, wie er einst war und wie wir ihn so gern noch im Bilde der Erinnerung
dor uns sehen, heute zumal — dahin führt uns das neue und nicht bloß in seinem
stolzen Titel hochgemute Buch des im, gleichfalls verlorenen, östlichen Danzig
lebenden Erzählers Arthur Brausewetter „In Lebensfluten — im Taten¬
sturm" (Warneck, Berlin), malt uns den Kreis des Großindustriellen Macketcch,
für dessen Werft Brausewetter wohl das Vorbild bei Schichau studierte, läßt vor
uns die Tatkraft genialer Ingenieure aufflammen und zeigt das Deutschland im
Kriege noch einmal in all seiner schaffenden, schöpferischen Vollkraft.
Die Krone aber gebührt Rudolf Herzog. Seit den „Stoltenkamps und
ihren Frauen" hat er geschwiegen, jenes Hohelied auf Krupp sang er noch in den
ausgehenden Krieg hinein, den sinkenden Mut in vielen Herzen zu stärken. Nun
hub er von neuem ein. Dem Rhein, seinem Rhein, wie nur er allem von allen
deutschen Erzählern ihn in Natur und Mensch zu schildern versteht, gilt Heuer ganz
besonders sein Preislied. Es heißt „Die Buben der Frau Opterberg" (Cotta,
Stuttgart) und führt rheinauf, rheinab, in entlegene Zeiten, in Aufstieg und
Niedergang, hinein in den Krieg, bis zu Vater Hindenburg und an des Kaisers
Herz, hinaus ins Dunkel der Revolution und in den neuen Frieden. Mit flammendem
Herzen hat der alte heißblutige Poet sich dies Buch von der Seele heruntergeschrieben,
in jeder Zeile lodert sein Atem, sein Rheinlandblut. Dies Buch ist Rudolf Herzog
selber, bedeutet sein höchstes Schaffen. Die deutsche Welt wird sein freudiges
Bekenntnis zum unvergänglichen Deutschtum dankbar hinnehmen und nützlich werten.
Es ist auch so voller zarter Liebe und seligem Glück, daß die Frauen ihn preisen
werden.
Wer sich mit mir aus dem Heute in entlegenere Zeiten zurückflüchtet, um aus
Vergangenem zu lernen, dem nenn' ich eine Landsmännin Herzogs, die den gleichen
lodernden Atem leidenschaftlichen Schaffens besitzt: Nanny Lambrecht. Nach
manchem gegenwartkräftigen Buch hat auch sie den Weg zum historischen Roman
gefunden und legt in „Der heimliche Gast" (schert, Berlin) ein Buch aus dem
Frankreich vor Ausbruch des siebziger Krieges vor, welches Beachtung verdient)
es ist gleichermaßen ausgezeichnet durch straffe dramatische Darstellung wie durch
eine verblüffende Kenntnis der Zeitverhältnisse. Gerade den Belgiern und all den
Herrschaften, welche uns jetzt immer wieder die Zeit vor 1870 vorhalten, möchte
man dies Buch nachdrücklich unter die Nase reiben. Den Deutschen aber, die den
unruhigen gallischen Geist lieber entschuldigen als verstehen, rate ich sehr, dies
Buch zu lesen, denn Nanny Lambrecht hat sich geradezu ein Verdienst damit
erworben, an einem historischen Beispiel die Treibereien von Paris aufzuzeigen. Es
ist segensreich, wie unmerklich und nachdrücklich gerade ein Roman vom Schlage
der hier genannten Scherlschen u. a. ohne aufgeplusterte Tendenzmache bis in die
feinsten Kanäle des Volkstums hinein geschichtliches Wissen und Wahrheit zu
verbreiten vermag. Zu solchen verdienstlichen Büchern gehört auch Rudolf Stratz'
„Der Väter Traum" (schert, Berlin), worin den meisten deutschen Mitbürgern
endlich einmal klar und knapp die achtundvierziger Umsturzzeit, der schwarzrotgoldene
Idealismus aufgezeigt wird. Wie wenig innere Freiheit bei jenem großen Wollen
unserer Großväter war, das lehren hier viele reizvolle Beispiele. Möchten sie
auch dem Heute eine Lehre erteilen! Die Leserin aber fürchte kein politisches
Buch zu finden) es ist gar viel zarte Liebe des Biedermeier darüber ausgebreitet!
Lehrmeister vermag auch dies Buch zu sein.
Mit einem ganz neuartigen Versuch, die Vergangenheit Deutschlands im
Roman zu schildern, wartet endlich der Verlag Richard Mühlmann (Halle) in dem
anonymen „Imperium Nunäi" auf, dessen erster Band mir vorliegt und die Zeit
der letzten Jahre Wilhelms I. bis zu den ersten Jahren von Wilhelm II. auf eine höchst
eigenartige Weise behandelt: zwar äußerlich rein romanhaft, in Form von höfischen,
eleganten und kabalenreichen Skizzen, die eine genaueste Kenntnis aller Vorgänge
an sämtlichen europäischen Residenzen verraten, tiefer betrachtet aber eine fort¬
laufende Geschichte der Kabinettsregierungen, als deren vorgeschobene und an
unsichtbaren Drähten bewegte Marionetten die Herrscher allesamt uns letztlich doch
erscheinen. Es geht sehr intim, aber auch sehr bestimmt in diesem Buche her, es
liest sich ungemein reizvoll, weil man überall die Fürstenbegegnungen und Dialoge
an Hand der geschichtlichen Quellen nachkontrollieren kann. Das auf mehrere
Bände berechnete Werk ist ein äußerst anziehendes Novum. Aus wessen Feder es
wohl stammt? — Mühlmanns Verlag bringt daneben noch ein ähnliches anonymes
(mehrbändiges) Werk „Die sterbende Monarchie" heraus, welches im reinen,
irgendwo spielenden Romon angewandte Geschichte Preußens geben will, dabei
aber einerseits im trockenen Material erstickt, andrerseits in arge Filmmanier
versinkt. Das Buch ist gewiß gutgemeint, will jedem etwas bringen und bis zu
den Abdankungen von 1913 hinführen, aber es bewahrheitet nur ein altes Wort:
(M trop einhi'Asse, mal entrg,wo. Wer dagegen ein echtes Buch des aveisu röglin«
lesen will, wer die Zeit des „Alten Herrn" mit all ihrem weichen Glanz der
Güte und Einfachheit, des preußischen Pflichtbewußtseins noch einmal ganz auf sich
einwirken lassen will, der lese Otto von Gottbergs ebenso flottes wie pietät¬
volles Buch aus den besten Tagen des alten Kaisers Wilhelm und seines preußischen
Berlin „Kaiserglanz" (Buchverlag der Täglichen Rundschau, Berlin). Da ist
über alle neumodisch versuchten Schlüsselromane hinaus der Versuch gelungen, jene
Zeit wahrhaft lebendig zu machen, welche die Älteren unter uns noch erlebten und
welche den Jüngsten in Deutschland so bitter not tut, weil wir kein Heer und
kaum noch eine Ehr' haben — das Zeitalter der Pflichterfüllung!
^le Anklage, die das Ultimatum der Entente vom 16. Juni 1919
enthält und die die Begründung für den Artikel 231 des
Friedensvertrages darstellt, lautet zusammengefaßt auf einen
längst vorbereiteten, mit Vorbedacht herbeigeführten Angriffs-,
, Eroberungs- und Unterjochungskrieg seitens Deutschland.^>
Il2 Graf Montgelas unternimmt es in einer kleinen Broschüre, die
im Verlage der Kulturliga unter^obigemTitel erschienen ist und nur 2 Mark kostet, diese
Anklage zu zergliedern und zu widerlegen. Leider kann der bekannte Graf sich
nicht freimachen davon, gleich auf der ersten Seite den Anteil Deutschlands an
der gemeinsamen Schuld anzuerkennen. Wir sind anderer Ansicht: die Schuld am Kriege
nlcyts an dem on eigen Werte ver BrcWUre, un ^egemeu, lyr ^mya» or^u>"u
unsere Ansicht. Das zeigt insbesondere der Abschnitt „Die Gelegenheiten zum Kriege"
Daß Zahlen beweisen, ergibt sich aus Abschnitt 3, „Deutschlands Haltung
»ach dem Russisch-Japanischen Kriege". Der Graf sagt:
„Völlig unvereinbar mit der Wahrheit ist die Behauptung des Ultimatums
der Entente, die deutsche Negierung habe
unmittelbar nachdem Rußland von Japan im fernen Osten geschlagen und
durch die nachfolgende Revolution nahezu gelähmt war, sofort ihre Bemühungen
verdoppelt, die Rüstungen zu vergrößern und ihre Nachbarn unter Androhung
des Krieges zu tyrannisieren/
Tatsache ist, daß in der Zeit unmittelbar nach dein Russisch-Japanischen
Kriege, von 1905 bis 1907, die Heere vergrößert wurden in:
Die zahlenmäßige Übermacht des französisch-russischen Zweibundes war auf
Friedens- und Kriegsfuß eine geradezu überwältigende.
Die Anspannung der Volkskraft für das Heer im Frieden betrug in Frank¬
reich 2 Prozent der Bevölkerung, in Deutschland nur 1,17 Prozent, in Österreich-
Ungarn sogar nur 0,94 Prozent."
Der Broschüre ist weiteste Verbreitung zu wünschen.
Ist in Deutschland noch eine Volksgemeinschaft möglich? R. spähn, Die deutsche
Arbeiterschaft und der Aufbau. Ring-Flugschriften Heft 3. Preis 2 Mark.
Der Ring, Vertriebsstelle politischer Schriften, Berlin S'A 61.
Martin spähn hat in dieser Schrift erneut gezeigt, daß er zu den Pfadfindern
in eine neue Zeit gehört. Sein den Blick erweiterndes, das Gemüt bildendes,
den Willen weckendes Schriftchen sollte gelesen und wieder gelesen werden von
jedem Arbeitgeber und -nehmer, der sich Sinn für das Allgemeine bewahrt und
durch Rettung der Gemeinschaft den eigenen physischen oder moralischen Untergang
abwenden will. Es sollen im folgenden einige Grundgedanken Spahns wieder¬
gegeben und zugleich mit den im Ziel verwandten Ausführungen im Beiheft zu
Heft 47 der „Grenzboten" 1920 gedanklich verwoben werden.
spähn schildert zunächst, wie unter dem Vordringen der kapitalistischen
Wirtschaft und Gesinnung die alten Stände abgelöst werden durch Klassen, der
Adel durch die Kapitalistenklasse, der Beamtenstand durch die Angestelltenklasse,
der Nährstand weithin durch die Arbeiterklasse. Die Stände waren organisch zu
einer Volksgemeinschaft verwachsen und richteten gemeinschaftlich ihre Kraft nach
außen. Die Klassen stehen sich als Wettbewerber um den Wirtschaftsertrag
feindlich gegenüber und richten ihre Energie nach innen. Die deutsche Niederlage
von 1918 war zum Teil die Frucht dieser inneren Zerrissenheit. „Das Vorurteil
der Arbeiter gegen die Unternehmer als Kriegsverlängerer" (S. 3), die Preisgabe
„der Kameradschaft und Führerschaft über die Arbeiter seitens des händlerisch
gewordenen Unternehmertums" (S. 9), das Herüberpendeln des einstmals rein der
Allgemeinheit dienenden Beamtentums zum kapitalistischen Verdienen (S. 12, 19)
und zum Berufspolitikertum (S. 21) wirkte auflösend zusammen. Wir steckten schon
1914 nicht mehr in lebendiger Gemeinschaft, sondern in einem Gegeneinander sich
reibender und den Gemeingeist wie den Gemeinwillen lähmender Mechanismen
(S. 19 f.). Das gemeinschaftliche Unglück kann nun zwar einerseits der Anstoß zu
neuer innerer Verknüpfung werden. Anderseits aber haben die Verluste, die gern
jeder von sich abwälzen möchte, und das eingetretene Chaos auch starke Antriebe
zur vollständigen und endgültigen Auflösung erzeugt. Die Schwierigkeiten eines
Zusammenfindens haben sich materiell wie geistig im Unglück zunächst nur gehäuft.
Dabei erwähnt spähn nicht einmal die entmutigenden Aussichten, welche unser
Sklaventum gegenüber England und Frankreich ausströmt. Auch wenn wir uns
selbst überlassen blieben, würden die ausgeprägten Züge unserer materialistischen
civitas tori'Mg, die allein hosfnunggebende Entwicklung zu einer opferwilligen
Rücksicht und Wohlwollen für das Ganze atmenden Gemeinschaft (civitas voi)
erschweren.
Daß die Revolution der Arbeiterschaft die Erfüllung ihrer Klassenziele nur
scheinbar bringen konnte, daß die Wurzel, aus welcher heraus die sozialen
Beziehungen der Volksgenossen zueinander sich neugestalten sollen, noch nicht
gefunden ist (S. 3), erklärt sich aus der Entseelung, oder wie spähn sagt, Ent¬
Heiligung der Arbeit (S. 4, 25). Die mittelalterliche Wirtschaft (die Wirtschafts¬
ethik jedes spiritualistischen Zeitalters) hatte die Arbeit als „Pflichterfüllung gegen
die Gesamtheit und Unterwerfung unter ein göttliches Geheiß" (S. 4) aufgefaßt.
Unsere kapitalistische (besser: materialistische) Wirtschaftsethik setzt das Raffen
obenan. Sie nimmt nicht einen durch sittliche Genügsamkeit normierten Verbrauch
zum Maßstab, sondern reizt die Bedürfnisse des Verbrauchers schrankenlos, um
durch Gütererzeugung zu verdienen. Nicht der innere Wert der Ware, die
Gediegenheit der Arbeit, der gerechte Preis sind ihr wertvoll, sondern im Gegenteil
eine rasch vergängliche, deshalb zur Neulieferung drängende Ware, eine auf den
Schein gestellte, nur eben noch den Käufer lockende Arbeit und ein möglichst hoher,
einzig an der Marktlage sich regelnder Preis. Die Arbeitsleistung, der Arbeiter
selbst wird nur Mittel des Verdienens, man rechnet mit Bilanzen statt mit
Menschen. Die gegliedert aussteigende Arbeitsgemeinschaft der mittelalterlichen
Wirtschaft, mit ihrer Berufsehre, ihrer Erziehung des Nachwuchses, ihrem
Gediegenheitsideal der Arbeit, ihrem senkrechten Aufstieg vom Lehrling zum Meister
und ihrer Zusammenbindung aller Berufsangehörigen zu einem Stande wich dem
freien Spiel der atomisterten Kräfte, wobei die Gewandten und Energischen die übrigen
als bloße Produktionsmittel gebrauchten, deren Aufstieg niemand kümmerte. Wer
arbeitet, denkt nur an sich (S> 6). Auch der Marxismus ändert daran nur die Verteilung
des Gewinns: er front dem materiellen Individualismus des Massenmenschen,
wie der Kapitalismus dem des unternehmenden Menschen. So bilden sich drei
nicht mehr senkrecht verbundene Stände, sondern wagrecht getrennt übereinander
herlaufende Klassen der Reichen, mäßig Begüterten und Armen. Das Organisations¬
prinzip der Klasse kommt nicht wie das des Standes von außen und oben, in dem
der Stand als Organ eines noch größeren Ganzen gegliedert ist. Der Sinn der
Klasse erschöpft sich in der Vertretung der Klasseninteressen gegen die anderen
Klassen. Die Klas engenossen werden unter sich durch das nackte Interesse, wett
weniger durch Bande der Geburt oder des Gemüts zusammengehalten. Das
Wesen der Klasse ist materialistisch, folglich Fehde, Mißgunst, Trennung. Im
Stande lag das Einigende, der Ausgleich, der Aufstieg, der Aufbau (S. 7).
Die naheliegende Frage, weshalb diese allgemeinen Kennzeichen des kapita¬
listischen Geistes gerade im deutschen Volke, das ihnen bis vor wenige Menscken-
alter ferner stand als die Westvölkcr, die ausgeprägtesten Formen und die schad-
liebsten Folgen gezeitigt haben, wird von spähn nur gestreift. So z. B. in der
treffenden Bemerkung (S. 14):
„Unseren Arbeitgebern fehlt die beruhigende Geste des englischen, die
Bonhomie des französischen Arbeitgebers, unserem Volke insgesamt der
sichere politische Takt und die konservative Art des englischen, das
gemessen kleinbürgerliche und mehr aufs Rentenansammeln als auf den
raschen Umschlag des Kapitals angelegte Verhalten des französischen
Volkes. Auch ist es beinahe ein Gesetz aller geschichtlichen Entwicklung,
daß, wenn erst das Wesen eines Volkes nicht mehr dicht hält, die ein¬
dringenden Keime desto zerstörender wirken, je fremder sie der Volksart
sind."
Daß das desorganisierend Individualistische bei uns schroffer wirkt und den
Gegensatz zwischen Gemeinschaft und einzelnen stärker aufreißt als bei den West¬
völkern, ist leider richtig und die fundamentale Erklärung unseres jetzigen Unglücks.
Wir haben die Schäden eines zu raschen Reichwerdens an uns erfahren und
erleben jetzt dazu gehäuft die Zersetzungserscheinungen jäher Verarmung mit ihrem
auflösenden ,Rette sich, wer kann'. Der starke Staatsinstinkt des Engländers
oder Franzosen mildert die Klassengegensätze. Bei uns war die größte National¬
tugend, die Arbeitsamkeit, an sich sehr leicht der materialistischen Verführung aus¬
gesetzt. Seit 1879 ermöglichte der Schutz der nationalen Arbeit ein beispiellos
rasches wirtschaftliches Aufholen der Westvölker, dank der individualistischen
Arbeitstüchtigkeit des Deutschen. Aber in Wirtschaft wie in Politik setzte das
Individuum und sein Ausdruck in Klasse und Partei sich weit rücksichtsloser gegen
die Volks- und Staatsgemeinschaft durch als bei den Westvölkern, deren Indi¬
viduen, in ihrer Entfaltung geleitet, ebensowohl gebügelt wie gesichert waren durch
den altausgebildeten, in langsamen, gemeinsamen Erfolgen gereiften nationalen
und staatlichen Gesamtinstinkt.
Es würde locken, diesen Gegensatz des Deutschen zu der Art der Westvölker
in seinen Folgerungen zu entwickeln. Spahn zeigt feinfühlig dies Versagen des
Individuums, dieses Absterben des Volksorganismus und die Aushöhlung seiner
Einrichtungen zu leblosen Mechanismen,' er zeigt, wie das Aufflackern des großen
Gemeingeistes, z. B- im Jahre 1914, die Probe harter Prüfungen nicht bestehen
konnte.
Das zur kapitalistischen Rechnung entseelte Unternehmertum (S. 10), das
dem Heimatgefühl, den sittlich-religiösen Überlieferungen, dem Familienleben, der
Liebe zur Arbeit entzogene Proletariertum, welches entwurzelt in den Großstädten
wie Staubwolken dahintrcibt (S. 11), das dem ehrenamtlich gemeinnützigen
Denken immer mehr entführte Beamten- und Angestelltentum, die im Kriege
vollendete Matcrialisierung auch der am meisten überlieferungstreuen Bauern-
und Handwerkerschicht, das alles erscheint ihm ,nur noch wie Flugsand' (S. 14),
trotz gesteigerter Arbeitsamkeit der einzelnen in größerer Zerrüttung und Auflösung
als irgendwo. Ja, man bemerkt, wie die unsere Zukunft belastende, vielleicht
vernichtende Zerstörung von Staat und Gesellschaft den profitgierigen Klassen,
Unternehmern wie Proletariern, gerade recht ist, weil ihre Macht dabei auf
Kosten des Ganzen zu wachsen scheint. Mit außerordentlicher Kurzsicht werden
noch immer Klassenziele auf Kosten einer dem geistig - materiellen Raubbau ver¬
fallenden Gemeinschaft erhofft.
Gibt es einen Ausweg aus dieser Sündenüberflutung? Spahn glaubt an
einen Weg, der zu den schöpferischen Überlieferungen unserer deutschen Art zurück¬
findet. Aber bevor er diesen schwer zu findenden und zu beschreitenden Weg
andeutet, erweist er erst die billige und weitverbreitete Hoffnung auf den Staat
als trügerisch. Nur in der Selbsthilfe der Gesellschaft, nicht in den uns ver¬
bliebenen staatlichen Ansatzpunkten gewahrt er Rettung. Denn wie haben wir
auch unseren Staat zugerichtet! Ein Diktator könnte ihn nicht heilen, denn er ist
nicht minder zersetzt als Wirtschaft und Gesellschaft/ ja bei ihm hat sich die Ent¬
wicklung am unnatürlichsten und raschesten von deutschen Überlieferungen entfernt.
Die Bourgeoisie hat Mitte des 19. Jahrhunderts der Monarchie und dem
Beamtentum durch eine „Umgehungsbewegung" auf staatlichem Machtgebiet die
gesellschaftlich-wirtschaftliche Führung abgerungen/ dazu mußte sie die konstitutionelle
Demokratie nach westlichem Vorbild einführen. Aber sie vermochte nicht bei der
ihren Interessen am meisten entsprechenden gemäßigten Form haltzumachen.
Indem nämlich sich das Unternehmertum nun mit dem Beamtentum in Verwaltung
und Gesetzgebung teilte, wuchs die Arbeiterschaft mit Hilfe des vom Bürgertum
als geheiligtes Menschenrecht geachteten allgemeinen Wahlrechts zu einem Faktor
heran, der zwar nicht mitregieren, aber den Staat blockieren und die Massen
mit einem negativen Machtgemhl erfüllen konnte. Die Parteien ähneln den
Klassen in ihrer horizontalen Schichtung. Die Bureaukratisierung der Verwaltung
hat ihr Gegenstück in der Bureaukratisierung der Parteien und Klassen¬
organisationen. Im kapitalistischen Zeitalter hat der einzelne keine Zeit mehr
frei für die Anliegen der Allgemeinheit, er überläßt diese seinen bezahlten An¬
gestellten, und schrumpft als öffentliche Persönlichkeit ein, während der angestellte
Berufspolitiker nicht als freies Manneswesen, sondern als immer ausgebreitetere
unproduktive Verbraucherschicht dem Gew um- und Klassengeist und dem charakter¬
losen Beutesystem huldigt. In so verflüchtigter Verantwortung zeigt keiner der
zahllosen Mtregenten des Gemeinwesens mehr landesvärerliches Fühlen, nicht
einmal staatsmännisches Denken. Mit der Verantwortung aber weicht das
Vertrauen der Regierten zum Staat, und niemand mag mehr opfern, wo an
Stelle eines Landesvaters oder Staatsmannes ein Erzberger steht, der Politik
und Geschäft verwechselt. spähn meint, daß, vor allem nach der Zerstörung
unseres Heeres durch den Feind eigentliches Führertum in unserem Staat nicht
mehr möglich sei, da diese nicht nur auf periönlichen Fähigkeiten, sondern auch
auf Treue und Opferbereitschast einer Gefolgschaft beruht. Wir sind in diesem
Punkt einer weniger pessimistischen Ansicht und meinen, daß auch in Zukunft der
Deutsche, wenn gut geführt, alles, wenn schlecht geführt, nichts ist. Allerdings ist
er undankbar und reißt den Führer gern vom Pferde. Das bekannte Wort
Friedrichs des Großen zu dem Schweizer Sulzer behält leider geschichtliche
Gesetzeskraft für den deutschen Charakter. Indes hat mindestens der preußisch
erzogene Teil unseres unerschöpflich jungen und begabten Volkes die anererbte
Fähigkeit, einem Staatsmann zeitweilig zu gehorchen, und die Not der Zeit
erteilt deutliche Lehren auf den Zwingherrn zum Guten hin. Verantwortungs¬
gefühl eines wirklichen Staatsmanns oder einer Gruppe fähiger Staatsmänner
erzeugt auch das notwendige Vertrauen in der Schicht der Unterführer. Aller¬
dings ist die Voraussetzung oben, in der Mitte und unten ein überindividueller
Opfergeist. Nur ein gesunder Mittelstand kann die unentbehrliche Unterführer¬
schicht, nur eine Heimattreue Masse dann die sich der Führung anvertrauende
Substanz lebendiger Kraft liefern. Und hier münden wir wieder in den Spahn-
schen Gedankengang ein. Er sieht in der Wirtschaft die endgültige Zerrüttung
noch nicht als gewiß an, da diese im Unterschied zum Staat in Stinnes,
Thyssen usw. wirkliche Führer besitzt. Leben oder Tod unserer Wirtschaft hängt
zunächst davon ab, ob diese Führer staatsmännisch groß, weit und deutsch denken
oder nicht. Im Staat dagegen glaubt Spahn den Weg eines Führers durch
Klassen- und Parteigeist, Mechanisierung, Bureaukratisierung und Materialcheruna.
versperrt. Den tiefsten Pessimismus aber flößt ihm folgender innerer Widerspruch
unserer Lage ein: Die Masse, die infolge des allgemeinen Sttmmrechts alle
staatlichen'Entscheidungen bestimmt, ist ihrer heutigen geistigen Struktur nach
unfähig zum Verständnis der Staatsnotwendigkeiten, unfähig zur Verantwortung.
Sie kann politisch nicht mehr entrechtet werden, folglich alle Führerschaft in
Staat, Gesellschaft und Wirtschaft unterbinden (S. L3).
Diesen Pessimismus, wie gesagt, vermögen wir nicht zu teilen. Hatten
wir nur die tragfähige Unterführerschicht, d. h. einen einheitlich fühlenden und
wollenden opferbereiten Mittelstand, so würde der Stimmzettel nicht mehr alles
tyrannisieren können. Die Heilung muß unserer Meinung nach mehr von oben
nach unten gehen. Trotz dieser abweichenden Ansicht pflichten wir aber spähn
in allem übrigen bei, wenn er nun den Schluszteil seiner Schrift auf die Möglich¬
keiten wendet, wie die Masse zum Gemeingeist herangezogen werden könne. Er
sieht darin die einzige Rettung vor dem Volkstod. Wir legen den Hauptnachdruck
auf die Neubildung eines Mittelstandes, und halten die Entwicklung der Arbeiter¬
klasse zu einem Staatsbürgerstand sür das Spätere und Zweite, was nur aus
dem Ersten, dem neuen Mittelstand, folgen kann, ihm aber auch mit großer
Wahrscheinlimkeit folgen wird. Erst die Zukunft kann lehren, wer recht behält,
ob wir erst eine staatsbewußte Masse oder einen neuen großen Führer und die
entsprechende Unterführerschicht neuen Stiles erhalten werden. Das wünschens¬
werteste wäre natürlich, wenn beides konvergierend zusammenträfe. In einem
geben wir Spahn recht. Die berussständische Volksvertretung bleibt eine ver¬
schwommene Hoffnung, solange wir keine Berufsstünde, sondern Bevölkerungs¬
klassen haben.
Um nun den einzigen Rettungsweg, den spähn sieht, noch anzudeuten:
auf dem Weg des kapitalistischen Geistes und des Klassenkampfes gibt es keine
Zukunft. Notwendig ist, daß wir unsere Arbeit wieder heiligen ^ notwendig ist
eine Änderung der Lebensbedingungen, unter welchen der Arbeiter seiner Arbeit
nachgeht (S. 25). Der Arbeiter muß erstens wieder im Familienleben ein¬
wurzeln, Häuslichkeit, Sparsinn, aufsteigende Erziehungsleistung der Generationen
gewinnen. Die hierfür nötige Siedelung mit eigenem Haus und Hof führt
hinüber zu zweitens, der Entfaltung freier genossenschaftlicher Bethätigung,
welche außer dem Wohnbau wirtschaftliche, soziale und Bildungsaufgaben ent¬
wickeln soll. Und wenn hierdurch der neue gesellschaftliche Aufbau gefördert wird,
so ist drittens der Anteil des Arbeiters an der Gemeinde, der Keimzelle des
Staates, der natürliche Anfang staatlichen Verständnisses und verantwortlichen
Gemeinsinnes. Die Selbstverwaltung ist deshalb gegenüber dem Bureaukratismus
des Parlaments zu schützen, Steins und Bismarcks Überlieferungen gegenüber
dem westlerischen Staatsabsolutismus der zentralisierenden Demokratie weiter
zu entfalten.
„Durch seine zentralistischeFinanzpolitiklegte derwestlerischeParlamentarismus
bereits die Axt an die Wurzel unserer gemeinlichen Selbständigkeit. Wir dürfen
ihn nicht weiter schalten und walten lassen. Das Eigenleben unserer Gemeinden
muß von uns verteidigt und gerettet werden. Denn wir brauchen es für die
Aufrichtung des freien Männertums in unserer Arbeiterschaft und sür ihre volle
Eingliederung in die Gemeinschaft unserer Volksgenossen so notwendig wie die
Familie, um unsere Arbeiter gesellschaftlich zu stützen. Es bleibt uns keine Wahl.
Wir müssen für die Erhaltung und weitere Belebung der Gemeinde kämpfen!
Gewinnen wir diese Schlacht und gewinnen wir mit ihr den Arbeiter sür die
Beteiligung am Leben seiner Gemeinde, in der er durch Familie und Genossenschaft
allmählich wieder einwurzeln wird, so ist wahrscheinlich nicht nur ein dritter
Schritt zur freundschaftlichen Regelung des Verhältnisses der Arbeiterschaft zu den
anderen Schickten getan, sondern auch schon der Sieg in dem Ringen um die
Erneuerungsfählgkeit unseres Volkstums, wie seines Staates und seiner
Gesellschaft erfochten. Dem Arbeiter werden dann wieder die Glocken seiner
verlorenen Heimat läuten."
Das werden sie doch nur, wenn gleichzeitig auch eine idealistische Welt¬
anschauung, vorgedacht und vorgelebt von den führenden Ständen, nicht den
besitzenden Klassen, ihn wieder ergreift und auch die geistige „alte Heimat", die
Ehrfurcht vor dem iiberindividuellen wie vor der eigenen Persönlichkeit ihn und
uns alle umfängt und über unsere unschöpferische Gegenwart hinaushebt! Dies
ist der zweite Punkt, worin wir spähn ergänzen möchten. Wie wir an die Not¬
wendigkeit, aber auch an die Möglichkeit einer Führung im Staate glauben, so
an die Notwendigkeit und Möglichkeit einer Wiedergeburt der Weltanschauung-
Wenn Familie, Genossenschaft und Gemeinde die Arbeiterklasse wieder in
organische ^Zergliederungen mit dem Volksganzen hinein auflösen können, dann
erst sieht spähn den Augenblick für gekommen, auch die wahre wirtschaftliche
Arbeitsgemeinschaft zwischen Unternehmer und Arbeiter zurückzubringen. Der
vierte und letzte Schritt in der aufbauenden Entwicklung des Arbeitertums wäre
also die Zurückgewinnung eines einheitlichen großen Nährstandes. Unter diesem
Gesichtspunkt bespricht spähn die Kleinaktie und die Betriebsräte, und er schließt
mit eindringlich ernsten Worten an Parteibedienstete, Gewerkschaftler und Unter¬
nehmertum, die neue Gesinnung als Grundlage der neuen Organisation zu
betätigen. Die Probe für das Unternehmertum sieht er darin, ob es auch in
Zukunft die nationalen und sozialen Gemeinaufgaben seinen Angestellten überläßt
und selbst nur das Geschäft bearbeitet, oder ob es seine beste persönliche Kraft an
das Gemeinsame wendet, in welchem Fall nur es Führertum bleiben kann und wird.
Wir haben an uns selbst gesündigt, indem wir die Seele vernachlässigten.
Menschenalter hindurch gedieh unser Volkskörper dabei so kräftig, daß der Methoden¬
fehler sich nicht recht entdecken ließ. Heute kann auch der Körper zur Heilung
seiner fressenden Schäden nur gelangen, indem sich die Seele wiederfindet. Dies
ist unausgesprochen das Fazit der Schrift, die eben von der Seele aus neue, uns
verkümmerte Gemeinschaftsorgane schaffen helfen will.
Zu breiter Wirkung wünschen wir dem manchmal etwas beziehungsbeladenen
Stil des gedankentiefen Publizisten ein markiges Heraustreten der Wahrheiten,
welche Willensimpulse auslösen. Der Deutsche verwechselt zu leicht Theorien mit
Tatsachen. Die Stimme des lebenskundigen Ethikers ist uns notwendiger als je,'
sie muß das lärmende Chaos politischer Hälbwahrheiter einfach und klar
Dein heutigen Hefte liegt ein Prospekt des Verlags Der Kommende Tag A.-G.,
Stuttgart, betr. Die Kernpunkte der Sozialen Frage bei.
Wen» ich mich jedesmal der Mehrheit
des Landtags und des Reichstags hätte
fügen wollen, wo wären wir?
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behandelt Wilhelm II. . . .
Neue Preußische Kreuz-Zeirlma,.
M
UMWMM«
MirKge von Dr. E. ZWAr
preis 1,3.75 Mark
Inhalt
Die Ursachen der russischen Märzrevolu-
tion — Der Bolschewismus und seine
Ueberwindung. — Bolschewismus und
Wirtschaftsleben, — Der kommende Krieg.
Bolschewistische Iveltrcvolutlonspiane. —
Ist Spartakus besiegt? — Weltkrieg —
Zvelttragodie — lveltbolschewisinus. — Die
Revolution und das alte pmteiwesen, —
Der einzige weg zum Weltfrieden — Mein
antibolschcwistischcn Bewegung und vor-
kampfer gegen partciegoismus In veutsch-
laud, ist durch seine überaus erfolgreiche
Vortragstätigkeit seit der Revolution i»
weitesten Kreisen bekannt geworden. Das
vorliegende Buch bietet eine zeitgemäße
überarbeitete Ausgabe seiner wichtigsten
vortrage und bildet ein treffliches geistiges
Rüstzeug zur Bekämpfung des Radikalismus,
zur Erneuerung unseres Volkes und damit
zur Losung der europäischen Aeitfrage».
K.F.Koester. N-vwg.Kelpxig—»«»»»»»»»«»»»»»»»»»»»»»»»»»»«,»»»»»»««»»»»»«
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Woch^^Rung^für pottttsche^Vt^u^ Zz
Die ^kclisenci« ki«»«rK«rü«ii>alö et«« Envi-sens
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z Direktor Or. Il. o. widert VöZler, Qenei»n»r »
z ReKierunAsrat Or. Keinnold lZeor^ t)uaatZ, z
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Z ckurcli am Verlax, im Pöhlde-UK M.!
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stärker ein Volk sich als Organismus schöpferisch, wollend ve-
W^ '^Ä« W tätige, desto mächtiger wird im Verhältnis zu den Gliedern
V die Funktion des Oberhauptes. Dieses spielt hier dieselbe
Rolle wie das Jchzentrum, das Bewußtsein beim einzelnen
Individuum. Deshalb findet man überall in der Geschichte das
Heraustreten der Leitung dort, wo großer Krafteinsatz der Gesamtheit ist. Zersplittert
sich dieser in Kraftbetätigungen der einzelnen oder der gesonderten Volksteile, dann
verwischt sich auch der Umriß des Oberhauptes. Man kann nun geschichtlich zwei
Hauptphasen im Leben der Völker unterscheiden. In der einen ist der instinktive
Zusammenhalt der Volksaugehörigen noch schwach, unerzogen, widerspruchsvoll
durchkreuzt von zentrifugalen Kräften. In diesem Zustand verlangt das Volk,
wenn es aus den oben augeführten Gründen eine Kraftzusammenballung begehrt,
nach einer monarchischen Spitze. Die zweite Phase tritt ein, wenn der National¬
instinkt sich so durch alle Bestandteile des Volkes durchgesetzt hat, daß diese auch
ohne persönliches Oberhaupt doch nach einer Richtung wirken und schaffen. In
diesem Fall kann die Regierung aus einem Parlament bestehen und das Staats¬
oberhaupt, heiße es König oder Präsident, zu einer bloßen Dekoration werden.
Wir sehen diese beiden Phasen deutlich zum Beispiel in der englischen und
französischen Geschichte. Die Angelsachsen und die Franken treten in eine große
Anzahl von Stämmen und Gauen zersplittert in die Geschichte ein. Die Bildung
eines einheitlichen Staates fällt dann bei beiden zusammen mit dem Bedürfnis nach
der Monarchie. Der Monarch ist viele Jahrhunderte hindurch unentbehrlich.
Ist er schwach oder unglücklich/ so gerät der Staat in den äußersten Verfall. All¬
mählich aber wächst die Nation so zusammen, daß sie der monarchischen Regierungs¬
weise zu entraten vermag. Auch die Volksvertretung kann hier das Jchzentrum
der Nation bestellen, weil in jedem Volksangehörigen mehr oder minder der
staatsschöpferische Trieb zu Fleisch und Blut geworden ist.
'
Das Schicksal des deutschen Volkes war abnorm. In den entscheidenden
sechshundert Jahren, vom 13. bis zum 19. Jahrhundert, hat eS des Einheits¬
staats und des zusammenfassenden Monarchen entbehrt. Es mußte die monarchische
Periode erst spät nachholen. Viele Anzeichen sprechen dafür, daß noch heute für
unser Volk eine starke persönliche Spitze so unerläßlich ist, wie für die Russen.
Die Regierung, welche die deutsche Volksvertretung aus sich heraussetzt, hat aus
zwei Gründen nichts schöpferisches und Staatsbildendes. Einmal, weil im
Deutschen selbst der Staatsinstinkt noch zu schwach und überschnitten ist, sind
auch seine Gewählten nicht sowohl Volksvertreter als Parteiangestellte, welche
den Mangel an Instinkt und Verantwortung für Leben und Ehre der Nation
mit der Mehrzahl ihrer Wähler teilen. Zweitens sind die Parteien in Deutsch¬
land so eigentümlich gruppiert und zahlenmäßig so verhältnismäßig konstant, daß
ein Parlamentskabmctt immer pur durch ein Kompromiß der Mittelmäßigkeit mit
der Untätigkeit zustande kommen kann. Für jede schwierigere, schöpferische Tätig¬
keit gibt eS keine Mehrheit und keine geeignete Ministerauswahl. Die Koalition,
so ziemlich immer dieselbe, bei unwandelbarer Herrschaft des Zentrums und
steter Kontrolle durch Demokraten und MehrheitSsozialisten, bedeutet die Ver¬
ewigung des Fortwurstelns. Deshalb bedarf unser Volk, will es leben und nicht
schrumpfen, einer Regierung, die verhältnismäßig unabhängig über dein Parlament
steht, ohne und gegen dieses, mindestens aber mit wechselnden Mehrheiten regieren
kann. Die Deckung durch die Parlamentsmehrheit ist ein bequemes Mittel für
die schläfrige Vemntwvrtungsscheu mittelmäßiger Koalitionsininister. Für einen
wahrhaft hingebenden Patrioten, einen wirklich schöpferischen Staatsmann aber
bedarf es der Unabhängigkeit seiner Macht von diesem unfertig staatlich fühlenden
Reichstag. Jeder Monat unserer republikanischen Geschichte beweist nachdrücklich,
daß wir noch nicht in der Entwicklungsphase der Engländer oder Franzosen
stehen, noch kein Parlament haben, in dem die Zukunft der Nation geborgen ist.
Deshalb war es ein richtiger Gedanke unserer derzeitigen Verfassung, daß wenn
wir schon einen Präsidenten haben sollen, dieser nicht vom Parlament, sondern
unmittelbar vom Volk gewählt werde. Aber der Geist der Verfassungen ist
stärker als ihr Buchstabe.
Die Frage, wie das Staatsoberhaupt ausgewählt und bestimmt werden
solle, gehört zu den mannigfaltigsten der Verfassungsgeschichte. Man kann an
den immer wechselnden Lösungen beobachten, wie die Menschheit auf der Flucht
vor ihren eigenen Unzulänglichkeiten und bösen Erfahrungen mit sich selbst immer
zu neuen Formen greift, die eine Blöße zudecken, um eine andere freizulegen.
Der natürliche und so berechtigte Wunsch ist, den Tüchtigsten aus dem Volk
an die Spitze zu stellen. Aber wer soll Richter sein? Es gibt keine unbestechliche
Wählerschaft. Je größer sie ist, desto leichter läßt sie sich von Schlagwarten
und äußerlichen Blendvorzügen bestechen. Ein engerer Kreis kann zwar die
Person besser beurteilen, aber wird nur zu leicht von seinen eigenen Interessen
bestochen. Gerade die großen, strenggerechten und das Staatswohl über alles
Private stellenden Herrscher sind unbequeme Herren, und die deutschen Kurfürsten,
nur sieben an der Zahl, also an sich ein recht bewegliches Wahlkolleg, haben
häufig absichtlich einen schwachen Kaiser gewählt, von anderen Privatgründen
ganz zu schweigen.
Schließlich kam man fast überall auf die erbliche Monarchie. Sie ist zwar
eine Lotterie mit nieder und seltenen großen Lösen, aber wenn man zum Beispiel die
Reihe der nordamerikanischen Präsidenten mustert, so findet man erstaunt, daß
das souveräne Volk kaum mehr Qualitätssinn oder Intelligenz verrät als der
Zufall der Erblichkeit, der etwas gemildert wird durch Überlieferungen
Bevor sich indes die Erblichkeit durchsetzte, gab es eine Fülle anderer Losungen,
welche das blinde Walten der Geburt verbessern und mehr Treffer in der
Negentenreihe erzielen wollten. Diese Versuche haben noch heute ein gewisses
Interesse. Gemeinsam ist allen, daß der Ehrgeiz der vielen Volksgenossen zurück¬
gebannt und die passive Wahlfähigkeit nur einem einzigen Geschlecht vorbehalten
wird, um Bürgerkriege zu vermeiden. Aber innerhalb dieses Geschlechts wird
bald der jeweils Älteste (als der Erfahrenste), bald der jeweils Jüngste (als der
Kräftigste und Zukunftsreichste), häufiger indes ein vom König selbst zu designierender
Verwandter oder ein von den hofkundigen Großen als tüchtigster Angehöriger des
Geschlechts ausgewählter Prinz berufen. Wenn neue Dynastien begründet werden,
ist der Berufene begreiflicherweise stets ein hervorragender Mann. Jene Mischung
von Erblichkeit und Wahl, wobei also das Glücksspiel der Geburt durch Auslese,
verbessert, anderseits aber kein uferloses Jagen nach der Krone möglich ist, hat
viel Bestechendes, und dieser Modus hat sich lange im Mittelalter behauptet.
Indes kam man doch allgemein zur einfachen Thronerbfolge des erstgeborenen
Sohnes, welche allein Intrigen und Kämpfe um das Ganze ausschaltet. Das
nichtige Korrektiv gegen zu starke Unbilden des Zufalls wurde im konstitutionellen
Staat gefunden dadurch, daß das Staatsoberhaupt in zwei Männern zusammen
besteht, einem erblichen Monarchen und einem gewählten beziehungsweise berufenen
Ministerpräsidenten. In dem Paar Wilhelm I. - Bismarck hatten wir Deutsche
das allerdings nur in Jahrhunderten verwirklichte Glück einer vollkommen idealen
Staatsspitze. Es war für das Wohl Deutschlands unerläßlich, daß der erbliche
Monarch damals einen solchen Kanzler fand, aber noch viel unerläßlicher, daß
dieser, wie Bismarck sich ausdrückte, nur von einem einzigen „Wähler", nämlich
dem Monarchen, abhing. Diesem idealen Normalfall der Ergänzung steht der
unnormale Jdealfall einer rein einköpfigen Spitze gegenüber in Friedrich dem
Großen, dem geborenen König-Staatsmann. Unter Friedrich Wilhelm III. dagegen
beklagten die Einsichtigsten, daß nicht der Freiherr vom Stein, ein geborener
Monarch, Staatsoberhaupt war, nur zeitweilig konnte er mit dem König zusammen¬
wirken. Wir hatten Zeiten, in denen es noch schlimmer stand, indem man nicht
einmal ungewöhnliche staatsmännische Talente in der Nation namhaft machen
kann, welche zur schöpferischen Ergänzung eines talentlosen Königs hätten dienen
können. Aber so hoffnungsarm war seit langem keine Epoche deutscher Geschichte
mehr, wie die augenblickliche. Denn jetzt scheint es das oberste Gesetz des
Staatswohles zu verlangen, daß der Reichskanzler eine möglichst farblose und
willensschwache Natur aus dem an sich Willensschwächen ReichstagSkolleg, der
Reichspräsident aber ein womöglich noch passiverer, kompromißhaft aus dem
Gesichtsfeld der Fraktionen ausgewählter ruhiger Mann sein müsse.
Wir haben jetzt das Recht, zu wählen, auszuwählen, urzuwühlen. Und das
Ergebnis ist, daß das gewählte Staatsoberhaupt, welches durch überragende
persönliche Würde die fehlende Autorität der Geburt und Überlieferungen ersetzen
müßte, und sein Reichskanzler, zwei Doubletten aus der Spezies Parteisekretär
werden. Anderes kann die Nation anscheinend nicht aus sich gebären, wenn ihre
Berge kreißen. Der Zustand wird allgemein als unbefriedigend empfunden.
Die einen denken an die Zurückkunft der Monarchie, wobei verschiedene Spiel¬
arten, strenge Legitimität, Persönliche Tüchtigkeit des neuen Dynastiegründers,
sogar Wahlmonarchie, abgesehen von der speziell deutschen Unklarheit, ob Einheits¬
oder Bundesstaatsmonarchie, die oben geschilderte Lösungsmannigfaltigkeit des
monarchischen Prinzips widerspiegeln. Bleibt die Regierungsbildung und
Präsidentenauslese in der Republik so wie sie ist, so wird allerdings das Volk
nach der Monarchie in irgendeiner Form hungern, wobei natürlich nur die
konstitutionelle Form in Frage kommt. Will man aber, solange wir die Republik
haben, diese nicht sabotieren, sondern für das deutsche Volk so nützlich und
schöpferisch wie möglich gestalten, so wird die tunlichst weite persönliche und
rechtliche Ablösung des Präsidenten vom Parlament und die äußerste Stärkung
seiner Autorität unter Entwicklung der in der Verfassung gegebenen Ansätze
eine der wichtigsten Forderungen sein. Der Präsident muß sich im Notfall gegen
das Parlament auf das Volk stützen, das Volk sich auf sein Staatsoberhaupt
auch gegen das Parlament verlassen können.
er russische Bolschewismus litt von vornherein unter einem inneren
Widerspruch. Einmal entstand die zweite russische Revolution unter
der Losung der Bauern "„Frieden und Land" und aus der alten
russischen Verachtung der europäischen Kultur, die als zum Unter¬
gange reif betrachtet wird. Andererseits pflanzten auf diesem Boden
der russische Idealist Lenin und der Ostjude Trotzki das System' des westlerischen
Marxismus und Kommunismus und die Diktatur des Proletariats aus.
Zunächst siegte der Kommunismus. Aber gleichzeitig warfen die Bauern
den althergebrachten bäuerlichen Kommunismus ab, verteilten das Land der
Gutsbesitzer und wurden selbst Privatbesitzer.
Die allgemeinen Mißstände brachten die Bauern immer mehr in Gegensatz
zur kommunistischen Diktatur. Ihr Widerstand ist den neuen Herren Rußlands,
den jüdischen Kommissären, gefährlicher als die zum Teil nationalistischen Auf¬
stände in der Ukraine, Weißrußland usw., und jetzt scheint Lenin selbst sich an die
Spitze der bäuerlichen Bewegung zu stellen. Er will den Sowjetstaat aufrecht¬
erhalten, lehnt aber den Kommunismus, die jüdische Führung Und die Welt¬
revolution ab. Er will nur einen bäuerlichen altrussischen Staat.
Auf die Dauer dürften die Bauern siegen. Aber die Gefahr der Welt¬
revolution ist damit nicht gebannt. Die Raubstaaten, die mit Hilfe einer halb¬
bolschewistischen Enteignung sich halten wollen, aber bei der Korruption und
Unfähigkeit ihrer Beamtenschaft sich nicht halten können, dürften einer revo¬
lutionären Entwicklung entgegengehen. Die Weltwirtschaftskrisis bedroht Deutsch¬
land, aber auch das übrige Europa, und die allgemeine, überall verbreitete sittliche
Fäulnis ist im Bunde mit dem Finanzbankerott der beste Boden für eine Revolution.
Außerdem darf man Rußland nicht als wiederhergestellt ansehen, wenn die
Bauern ihre jüdischen Peiniger totschlagen. Zuerst folgt dann dort die Anarchie,
das Chaos zahlreicher, selbständiger Dorfgemeinden oder Bauernstaaten, die ohne
Intelligenz entwicklungsunfähig sind. Von Bedeutung wird die Frage sein, welche
Rolle das rote Heer spielen wird. Wird es russisch^.ytional werden und seinen
Cäsar finden? Wird dieser so klug sein, den Bauern alles Land zu lassen, was
sie selbständig beackern können? Wird er es verstehen, die Emigranten, die dann
zurückkehren wollen und von denen mancher „nichts vergessen und nichts zugelernt"
hat, mit den neuen Verhältnissen und den Bauern zu versöhnen?
Auf die Dauer dürfte nur ein Bauern-Zar Rußland regieren und nur
deutsche Intelligenz in Nußland und den Raubstaaten wieder geordnete staatliche
und wirtschaftliche Verhältnisse herstellen können. Dazu ist aber nötig, daß das
deutsche Volk erst einmal selbst innerlich und moralisch gesund wird.
Rußland, die Raubstaaten und daS Verhältnis beider zueinander werden
"och lange eine Sphinx bleiben. Das geschlagene Deutschland wird guttun, sich
dabei auf mehrere Möglichkeiten einzustellen und das Hauptziel nie aus dem Auge
M verlieren, aus der Einkreisung und dem Zweifrontenkrieg herauszukommen.
Diesem Gedanken müssen alle anderen Wünsche untergeordnet werden.
Über die Motive der russischen Politik von 1881 hat sich später Giers
ausgesprochen. 22) Saburvw läßt viele Fragen offen, die nur ein Goriainow
beantworten konnte. Mer die Vorgänge im Schoße der russischen Regierung
erfährt man nichts. Auf die Rolle des alten Gortschakow, des Zaren, des Kriegs¬
ministers Miliutin und der anderen Mitspieler am Zarenhofe fällt kein neues
Licht. Der Auftrag Saburows im August 1879 und was seinen Instruktionen
im September 1879 und im März 1880 vorausgegangen ist, bleibt im dunkeln.
Nur aus einem Briefe des Botschafters an Baron Jomini vom 11. November 1880
läßt sich entnehmen, daß dieser Diplomat dem Verzicht Rußlands auf Koalitionen
das Wort redete, während' Saburow damals die Ansicht vertrat, daß Nußland
und Deutschland nur als Verbündete oder als Feinde nebeneinander leben könnten.»")
Die Richtung der russischen Politik, die sich aus den inneren Gegensätzen heraus¬
gearbeitet hat, läßt sich aber auch aus dem Memoirenauszug erkennen. Schon
den Zarenbrief vom 15. August 1879 begleitet die Sorge, daß der Draht mit
Berlin abreißen könnte. Deutschland verdankt dem Zweibund, bevor er unter
Dach ist, daß seine Freundschaft von Nußland wieder gesucht wird. Sogar die
zweifelhafte Freundschaft mit Oesterreich wird in Kauf genommen, um sich
Bismarck nicht zum Feinde zu machen. Die Geduld des Wartens kann nicht
größer gedacht werden.
Die Gründe der Wartezeit enthalten weniger die Wiener Akten, die wir
hoffentlich bald durch Pribrcnn kennen lernen, als die noch unberührten Akten
über die parallelen deutsch-englischen Bündnisverhandlungen in Berlin und London.
Vorläufig wissen wir nur, daß Lord Beaeonsfield noch kurz vor seinem Rücktritt,
im April 1880 einen Bündnisentwurf ausgearbeitet hat.^) Saburows Witterung
war richtig, als er im März 1880 sich von dem Regierungswechsel in England
größeres Entgegenkommen in Berlin wie in Wien versprach. Beaeonsfields
Rücktritt hat seinen Schatten lange vorher geworfen. Aus der Wendung der
russisch-deutschen Verhandlungen wird man auf die Länge dieses Schattens und
auf Bismarcks Rechnen mit der Gefahr eines Ministeriums Gladstone schließen
dürfen. Ob Bismarck auf den Gedanken des Dreikaiserbundes verzichtet hätte,
wenn Beaeonsfield länger am Ruder blieb und das Bündnis mit England
zustande kam, darf trotzdem bezweifelt werden. Er hat nur auf den englischen
Trumpf in seinem Spiel gewartet, um, als er ausblieb, den Trumpf des Zwei-
blindes, ehe eS zu spät war, für seine Sicherungspolitik zu benutzen. Wie ihm
das 1881 gelungen ist, hat Saburow trotz allen Mängeln seiner Darstellung mit
großer Anschaulichkeit geschildert. Das, was er als Quelle vermissen läßt, findet
sich bei feinern Fortsetzer Goriainow.
Am 20. Mai 1883 legte der russische Minister des Äußeren, Giers, in
Moskau einem Kronrat die Frage der Erneuerung des Dreikaiserbundes vor.
Der Berliner Botschafter Saburow meinte, der Bund sei für Deutschland vor¬
teilhafter als für Rußland. Artikel I gäbe Deutschland im Westen Aktionsfrei¬
heit, während im Osten jede Aktion von vorheriger Verständigung zwischen
Deutschland und Österreich-Ungarn abhinge.°°) Er könnte daher die Erneuerung
nur empfehlen, wenn die Vorteile auf russischer Seite die gleichen seien oder
wenn beide Mächte im Osten und Westen Aktionsfreiheit Hütten oder wenn
die Aktionsfreiheit auf beiden Seiten an die gleichen Bedingungen geknüpft wäre. !
Vorteilhafter sei für Rußland die volle Aktionsfreiheit. Im Falle der Auflösung!
der Türkei wäre die Besetzung der Meerengen für Rußland eine Lebensfrage.!
Volle Neutralität Deutschlands und Österreich-Ungarns sicherte Rußland gegen¬
eine europäische Koalition und isolierte England, das Rußland die Meerengen
niemals überlassen würde. Giers, Miliutin, Fürst Lobanvw und NostowSki
waren der Ansicht, daß Bismarck diesen Vorschlägen^ niemals zustimmen würde.
Im November 1883 benutzte Giers eine Reise nach Montreux zu einem >
Besuche Berlins, wo er von Kaiser Wilhelm I. und Kronprinz Friedrich Wilhelm
empfangen wurde, und zu einem Abstecher nach Friedrichsruh. Am 7./19. No¬
vember schrieb er darüber aus Montreux an seineu Gehilfen Vlangalu „Bismarck
holte mich (am 14. November) an der Station ab und fuhr mit mir zu seinem
Hanse, wo mir ein Gabelfrühstück serviert wurde. Um 2 Uhr angekommen ver¬
ließ ich Friedrichsruh um 10 Uhr, um in Hamburg zu übernachten. Ich berichtete^
dem Kanzler zuerst von demi angenehmen Eindruck meiner Audienz bei dem Kaiser.
,///Ja — sagte er — an» kann Gott nicht genug bitten, uns unseren ehrwürdigen,
Herrscher noch lange zu erhalten. Man kann sich ganz auf ihn verlassen, und ich
teile durchaus seine Gefühle für Rußland und seinen Wunsch der Aufrechterhaltung
freundschaftlicher Beziehungen. Ich erfülle darin treulich meine Pflicht gegen.
ihn."" Bismarck bemühte sich darauf, mir darzutun, daß er während seiner ganzen >
politischen Tätigkeit ständig für ein Bündnis mit Rußland eingetreten sei, obwohl /
er auf unserer Seite nicht immer richtig verstanden worden sei. Er verweilte
lange bei dem Gedanken, daß es für uns sehr nützlich gewesen wäre, sich mit
Österreich über die Abgrenzung unserer Interessensphäre auf dem Balkan ver¬
ständigt zu haben. Ich bemerkte, daß die Ausführung der formalen Abgrenzung
von Interessensphären sehr schwierig sei. Wir könnten zum Beispiel weder Monte¬
negro noch Serbien den, ausschließliche,! Einfluß Wiens überlassen. Bismarck
'vor seinerseits völlig bereit, in Verhandlungen über eine Erneuerung des Ver¬
trages der drei Kaiser einzutreten. Aus Saburows Erklärungen hatte er gefolgert,
daß wir seine Zwecke zu erweitern wünschten dnrch Nückgreifen auf die Vorschläge
von Reichstadt und durch Wiederaufnahme der mit dem Fall der Türkei ver¬
knüpften Fragen. ////Das Problem ist sehr schwierig — sagte er —, aber Graf
Kalnüky und ich haben gleichwohl beschlossen/ Ihre Vorschläge anzuhören."" „„In
der Tat sehr schwierig — antwortete ich — und wirklich nicht sehr zeitgemäß/ da
wir freundliche Beziehungen mit dem Sultan unterhalten wollen/ aber es wäre
besser, nicht zu weit zu gehen und im Augenblick den Vertrag einfach zu erneuern
mit einigen nötigen Änderungen."" Bismarck wollte mir den großen Nutzen einer
Annäherung und sogar einer geschlossenen Allianz zwischen den drei Kaisern be¬
weisen. Er sagte, daß er bereit gewesen wäre, sofort ein Offensiv- und Defensiv¬
bündnis zwischen ihnen vorzuschlagen. Es sei wahr, daß es sich in Anbetracht
der Zeitumstände nicht heilige Allianz nennen könnte, aber nichtsdestoweniger würde
es Europa ebenso nützlich sein wie diese, indem es für viele Jahre den Frieden
erhielte. Dieser Vorschlag überraschte mich nicht wenig. Ich hielt mich nicht für
ermächtigt, ihn anzunehmen, zudem schien mir sein Wert für Nußland in der
augenblicklichen Lage Europas in Wahrheit sehr zweifelhaft. Ich ließ mich daher
nicht darauf ein, sondern bemerkte dem Kanzler, daß die Lage in den drei Kaiser¬
reichen mir zur Erreichung eines solchen Ergebnisses nicht sehr günstig erschiene.
„Ich schlug ihm dann vor, daß gewisse Änderungen in dem Text des
Vertrages gemacht werden sollten, unter anderm Auslassung des dritten Absatzes
des ersten Artikels/") der mir ganz nutzlos erschiene und zwischen den Kontrahenten
eine gewisse Ungleichheit aufrichte. Bismarck verstand mich sofort. Er gab mir
auf der Stelle die Versicherung, daß dieser Absatz für uns nützlich wäre/ denn
für den Fall, daß Rußland sich mit Osterreich in einem Krieg gegen die Türkei
verbünden wollte, wäre Deutschland verpflichtet, England zurückzuhalten/ wenn ich
ihm aber erklärte, daß eine solche Eventualität gewiß nicht bald kommen würde,
und daß man eher erwartete, Deutschland werde im Bunde mit Osterreich und
vielleicht mit Italien Frankreich angreifen, so nähme er meinen Vorschlag an und
verspräche mir, ihn in Wien zu vertreten."
Im Laufe der Unterhaltung sagte Bismarck zu Giers, er werde nach dem
Ableben Wilhelms I. seinen Abschied nehmen. Denn der Kronprinz sei ein Be¬
wunderer Gladstones, dessen Regierungssystem nicht nach Deutschland passe. Alles
werde dann in die Brüche gehen, und er wolle deshalb sein Werk so fest wie
möglich machen. Eine der Sicherungen für die Existenz des Deutschen Reiches
sei die Freundschaft Rußlands.
Von Montreux nahm Giers seinen Rückweg über Wien, wo er von Franz
Josef empfangen wurde und mit Kalnöky eine Besprechung hatte.
Im Dezember 1883 erörterte Baron Jomini in einer Denkschrift die Frage
der Erneuerung. Im Programm von Livadia von 1879 habe Rußland drei
Wege zur Erreichung seines Zieles — Konstantinopels und der Meerengen —
ins Auge gefaßt, und zwar 1. Wiederherstellung des finanziellen Gleichgewichts
durch jährliche Einziehung von 50 Millionen Rubelnoten/ 2. Ausbau einer
Schwarzmeerflotte) 3. Gewißheit der Neutralität der Nachbarn. Im letzten
Kriege seien mehr als 400 Millionen Rubelnoten ausgegeben worden, acht bis
zehn Jahre seien also zur Herstellung des Gleichgewichts erforderlich. Das
Flottenprogramm verlange noch längere Zeit. Wenn Rußland während dieser
Zeit mit Deutschland auf der Grundlage voller Aktionsfreiheit Deutschlands gegen
Frankreich, Rußlands gegen Konstantinopel abschließe, hätte Deutschland einen
unmittelbaren Vorteil, Rußland eine Versicherung, die es erst in etwa fünfzehn
Jahren realisieren könne. Wenn Bismarck der russischen Neutralität sicher sei, so
werde er gewiß die erste Gelegenheit benutzen, um mit Frankreich Schluß zu
machen. Würde dann Rußland gleichzeitig gegen Englands Widerstand mit
Konstantinopel Schluß machen können? Und wenn nicht, könne Nußland darauf
rechnen, daß Deutschland, vom französischen Drucke befreit und in Europa
allmächtig geworden, später Rußland sein orientalisches Programm verwirklichen
lasse? Durch Erneuerung des Bundes auf drei Jahre gewinne man dagegen Zeit.
Deutschland hätte, für den Augenblick gesichert, weniger Ursache, eine Auseinander¬
setzung mit Frankreich zu beschleunigen, zu der auch Wilhelm I. sich vermutlich
nur im äußersten Notfall entschließen würde. Auch Frankreichs Revanchelust
wäre dann gedämpft, und die Tripleentente würde Erschütterungen verhüten, die
zum Zusammenbruch der Türkei führen könnten.
Am 8.««) Februar 1884 wurde darauf Saburows Nachfolger in Berlin
Fürst Orlow- zu Verhandlungen über die Erneuerung beauftragt. In seiner
Instruktion hieß es, an sich zöge der Zar Aktionsfreiheit vor. Weigerung, zu
erneuern, oder Vorschlag zu kurzer Dauer könnten jedoch schädlich wirken. Der
Vertrag sei wegen der wachsenden Gefahr der sozialen Revolution wertvoll.
Die Solidarität der Regierungen sei zwar vorhanden, aber schöne Worte ge¬
nügten nicht. -
Bismarck versicherte, daß er gegenüber Frankreich jede Provokation ver¬
meiden wolle, selbst im Falle einer Restauration der Orleans, vorausgesetzt, daß
die Restauration nicht auf das Programm eines Revanchekrieges aufgebaut sei.
Kalnüky erklärte, daß Österreich-Ungarn nicht beabsichtige, auf der Balkanhalbinsel
seinen Einfluß auszudehnen und im Augenblick nicht daran dächte, Bosnien und
Herzegowina endgültig und formell zu annektieren (to brinZ about immeäiatel?
» äetinitivo s,va t'ormal imnexion ok Losr-la, . . .)
So konnte am 15./27. März 1884 die Erneuerung des Bundes stattfinden.
Der Bund lief danach am 18. Juni 1887 ab. Der Berliner Botschafter
Graf Schuwalow schrieb (im September 1886) an Giers über den Wert der
russischen Freundschaft für Deutschland: Deutschland kosteten seine Versicherungen
hinsichtlich Bulgariens sehr wenig. Denn in Berlin wisse man trotz allem Geschrei
in den Delegationen in Pest ganz genau, daß Österreich-Ungarn gegen Nußland
außer platonischen Protesten nichts zu unternehmen wage. Deutschland riskiere
also nichts, wenn es Rußland erkläre, daß Osterreich auf seine Hilfe nicht
rechnen könne. Was aber, wenn Rußland widerwillig mit Osterreich aneinander¬
gerät? Empfiehlt es sich nicht, den Drcikaiserbund, wenn er zerfällt, durch
einen vor der Explosion geschlossenen Zwciverband (soiue clual arranZoment)
zu ersetzen? Sollte sich neben dem Dreikaiserbund ein Zweiverbcmdmir Deutsch¬
land auf der Basis des „<Zo ut ach" erreichen lassen? Da Bismarck keinen
anderen Gedanken und Wunsch habe als die Sicherung des allgemeinen Friedens,
könne er kaum Kombinationen ablehnen, die ihn dieses Ziel erreichen ließen.
Giers antwortete am 14. September 1886, er sei damit einverstanden, daß
der Dreibund durch einen Zweibund (an-ü alli-nov) mit Deutschland ersetzt werde,
was auch dem Wunsche des Zaren entspreche. 1881 habe Rußland zunächst nur
mit Deutschland abschließen wollen, »in sich gegen Koalitionen zu sichern, die
wegen der Ausführung des Berliner Vertrages entstehen konnten, und um England
zu isolieren, wenn es Rußland bekriegen wollte. Auch wünschte es die Unterstützung
Deutschlands in der Frage der Meerengen. Deutschland verlangte dagegen
Neutralität und Lokalisierung des Konfliktes im Falle eines Krieges mit Frankreich
und Respektierung der Integrität Österreich-Ungarns unter der Voraussetzung,
daß dieses seine Aktion im Orient nicht über die im Berliner Vertrag ihm zu¬
gewiesene Sphäre ohne vorausgegangene Verständigung mit Nußland ausdehne.
Auf dieser Basis suchte Saburow zu verhandeln. Bismarck habe jedoch sogleich
erklärt, daß er, durch Abmachungen mit Österreich-Ungarn gebunden, ohne die
Monarchie auf die vorgeschlagenen Verpflichtungen sich uicht einlasse. Auch habe
Bismarck für die Zuziehung Österreich-Ungarns die Sicherung gegen die republi¬
kanischen und anarchischen Tendenzen und gegen die Möglichkeit eines Bündnisses
der Monarchie mit England gegen Nußland oder mit Frankreich gegen Deutsch¬
land geltend gemacht. Giers hielt eine österreichisch-französische Allianz gegen
Deutschland nicht für wahrscheinlich, eine österreichisch-englische Allianz gegen
Rußland für möglich. Da Bismarck erklärt hatte, Deutschland könnte in einem
Kriege Rußlands und Österreichs nicht zusehen, daß eine beider Mächte tödlich
verwundet würde, und da Rußland in einem Krieg zwischen Osterreich und
Deutschland für sich keinen Vorteil zu sehen vermochte, war die Tripleentente
durch die Politischen Notwendigkeiten des Augenblickes angezeigt. Hahmerle habe
jedoch gezögert, und hätte es vorgezogen, sich nicht mit Rußland zu binden.
Seine Einwilligung sei dann erfolgt wegen der Artikel des Separat-
protokvlls über Bosnien und den Sandschar. Jetzt aber stehe Bulgarien
zwischen Nußland und Osterreich. Giers empfahl daher Schuwalow, eine
Verständigung mit Deutschland allein ins Auge zu fassen. Giers erwartete
von einem aufrichtigen Bund mit seinen, mächtigsten Nachbar, dessen Einfluß in
den meisten europäischen und sogar orientalischen Fragen entscheidend sei, Sicherung
der militärischen, maritimen und finanziellen Entwicklung Rußlands durch solide
Friedensgarantien, Verhütung willkürlicher Änderungen des Status quo auf der
Balkanhalbinsel, Anerkennung der russischen Eiuflußzvne in beiden Bulgarien
(Bulgarien und Ostrumelien) und Deutschlands Beistand in der Frage der
Meerengen.
Die Politik des Ministers wurde von Jgnatiew, Sabnrvw, Tastischew und
anderen, die an dem Journalisten Katkow Unterstützung fanden, heftig bekämpft
und sah sich (Anfangs 1887) durch einen französischen Fühler durchkreuzt. In einer
Unterhaltung mit dem Pariser Botschafter Baron Mohrenheim setzte der neue
Minister deS Äußeren, Flourens, auseinander, Frankreich sei auf alles gefaßt,
müsse aber zugleich alles vermeiden, was wie kriegerische Absichten gedeutet
werden könnte. Frankreich werde Deutschland nicht angreifen, es sei denn, daß
dieses anderwärts stark engagiert wäre.-") Es rechne aber auf die moralische
Unterstützung Rußlands für den Fall, daß Deutschland von ihm Abrüstung fordern
sollte. Zu Mohrenheims Bericht über diese Unterredung machte Alexander III.
die Randbemerkung, daß Frankreich in dem vorgenannten Fall auf Rußland
rechnen dürfe. Giers aber schrieb am 22. Januar 1887 an Mvhrenheim, die
Besorgnis deS französischen Ministers vor Angriffsabsichten Bismarcks sei über¬
trieben. Dieser habe in letzter Zeit wiederholt versichert, daß Deutschland
Frankreich nicht angreifen werde. Giers vertrat die Ansicht, daß die russisch¬
deutsche Freundschaft die beste Sicherung für Frankreich und ganz Europa sei.
Er instruierte daher Mohrenheiu, Flourens beizubringen, daß eine russisch-franzö¬
sische Entente die Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich verschlechtern
würde. Die französische Regierung nahm davon Kenntnis und machte sich die
Ansicht zu eigen (soesptscl elf vivo), daß Bismarck gute Beziehungen zu Rußland
allein zur Sicherung der friedlichen Entwicklung seiner Schöpfung benutzen werde.
Als Flourens die Entsendung einer Vertrauensperson nach Petersburg ins
Auge faßte, machte Alexander III. zu Mohrenheims Telegramm die Randbemerkung:
„Das könnte uns sehr nützlich sein in einem gegebenen Augenblicke, und wir sollten
sie nicht entmutigen." Zu dieser Sendung war Vicomte Melchior de Vogue aus¬
ersehen. Mohrenheim hielt sie jedoch nicht für angezeigt.
Trotz diesem Zwischenfall blieb es bei der schon im November 1886 an
Schuwalow weitergegebenen Weisung Alexanders III., er lege Wert auf ein Ein¬
vernehmen mit Deutschland, wünsche aber, daß es ernst, aufrichtig und vollständig
sei. Die erste Konferenz Schuwalows mit Bismarck über diese Frage fand am
11. Mai 1887 statt. Schuwalow erinnerte Bismarck an seine Worte: „Wenn
Frankreich uns angreift, werden wir uns verteidigen, aber wir werden nicht gegen
die befestigten französischen Linien anrennen." Bismarck: „Im Falle eines
französischen Angriffs haben wir Eure wohlwollende Neutralität. Ihr habt die
unsrige im Falle eines Krieges mit einer dritten Macht, England, der Türkei oder
Osterreich. Der Kriegsfall zwischen Euch und Österreich würde mich in außer¬
ordentliche Verlegenheit bringen wegen gewisser Verpflichtungen, die uns an diese
Macht binden. Was wollt Ihr haben? Sie sind so beschaffen, daß sie uns nicht
gestatten, ohne Vorbehalt Euren ersten Artikel in der Form, die Ihr ihm gegeben
habt, anzunehmen."^) Mit diesen Worten nahm Bismarck aus seiner Mappe
den Zweibund von 1879 und las ihn deutsch Schuwalow vor, der ihn auf diese
Weise kennen lernte und daraus erfuhr, daß er sich nur gegen Rußland richtete.
Bismarck sagte Schuwalow, er bedaure aufrichtig, daß die Ereignisse von 1879
ihn gezwungen hätten, sich gegen Rußland dadurch zu schützen. Da er aber da
sei, vertrage sich der erste Artikel nicht damit. „Könnten wir" — fuhr er fort —
„nicht dem ersten Artikel folgende Worte einfügen ,ausgenommen den im Zwei¬
bund vorgesehenen Fall eines russischen Angriffs auf Osterreich/" Schuwalow
erwiderte, eine derartige Bedingung verkehre den Sinn des ganzen Artikels.
Wenn unerwartete Komplikationen auf der Balkanhalbinsel die russisch-österreichischen
Beziehungen alterierten, wäre es schwer zu entscheiden, wer der Angreifer sei.
In den folgenden Konferenzen schlug Bismarck zu Artikel I den Zusatz vor:
unbeschadet der durch den Zweibund übernommenen Verpflichtungen Deutschlands.
Schuwalow erklärte den Zusatz für annehmbar, wenn außerdem hinzugefügt werde:
und mit Vorbehalt Rußlands im Falle eines deutschen Angriffes auf Frankreich.^)
Bismarck meinte ärgerlich, ein solcher Zusatz sei durch nichts gerechtfertigt. Der
deutsche Zusatz sei die Konsequenz des Zweibundes. Rußland aber sei an
Frankreich durch keinen Vertrag gebunden. Der ganz defensive Zweibund sichere
sozusagen auch Frankreich gegen einen deutschen Angriff. Schuwalow suchte
Bismarck zu beschwichtigen. Rußland führe nichts im Schilde. Der wohlwollenden
Neutralität Rußlands in, einem Revanchekrieg Frankreichs gegen Deutschland,
entspreche der Wunsch des Zaren, daß keinem der Kriegführenden der Todesstreich
versetzt werde. Bismarck: „Kein tödlicher Schlag? Was soll das heißen?
Niemand beabsichtigt Frankreich zu vernichten. Ist es denn überhaupt möglich,
eine Nationalität zu zerstören?"
Da es nicht möglich war, sich über die Fassung des Zusatzes zu einigen,
schlug Schuwalow vor, auf die erste Fassung des I. Artikels zurückzugreifen,
weder Osterreich noch Frankreich zu erwähnen und die Frage der Vorbehalte
eventuell in einen Notenwechsel zu verweisen, worin Deutschlands Verpflichtungen
gegen Osterreich und Alexanders III. Wunsch, Frankreich vor eventueller Ver-
nichtung (trou ano mort-ü divo) zu bewahren, erwähnt werdet») Bismarck ant¬
wortete: „Lassen Sie uns auf die Fassung^) zurückkommen, die ich Ihnen dieser
Tage vorschlug, Artikel I wieder ganz defensiv für den Fall des Krieges mit einer
dritten Macht zu gestalten." Schuwalow lehnte ab. Deutschland habe nur einen
Feind, Rußland habe mehrere. Rußland könne sich nicht binden, gegen jede Be¬
drohung durch Osterreich oder die Türkei unempfindlich zu bleiben und dem Er¬
messen Deutschlands anheimzustellen, ob es in solchen Fällen der Angreifer sei.
Bismarck: „Dann beanspruchen Sie unsere Neutralität im Falle eines
Krieges zwischen Euch und England oder der Türkei oder Italien und konzedieren
uns dagegen nur eine Halbneutralität, und zwar nur im Falle eines deutsch¬
französischen Krieges. Gestehen wir einander, daß diese Halbneutralität das
Äquivalent ist für das, was wir im Falle eines Krieges zwischen Euch und
Osterreich versprechen. Außerdem soll Deutschland aber drei ganze Neutralitäten
auf sich nehmen. Ist das billig?"-»)
Schuwalow: „Ich gebe Ihnen die Versicherung, Durchlaucht, daß ich mich
nicht stark genug fühle, mit Ihnen zu streiten. Ich lege Ihnen die Dinge vor,
wie sie sind. Ich gebe Ihnen auch die Versicherung, daß ich Persönlich an einem
Erfolg meiner Verhandlungen nicht interessiert bin. Ich erfülle lediglich meine
Pflicht. Ich rede deshalb ganz offen, ohne zu feilschen, und wenn ich auf dem
Zusatz wegen Frankreichs bestehe, geschieht es, weil ich weiß, daß dies eine
eonäitio sink «ZM non ist."
Bismarck diktierte nach kurzem Überlegen folgende Fassung: „Diese Be¬
stimmung soll auf Osterreich und Frankreich keine Anwendung finden, es sei
denn, daß einer der Kontrahenten von Osterreich oder Frankreich angegriffen wird."^)
In der nächsten Konferenz schlug Bismarck die Fassung vor, die Rußlands
Billigung fand. Diese Bestimmung würde keine Anwendung finden auf einen
Krieg gegen Oesterreich oder Frankreich für den Fall, daß eine dieser beiden
Mächte von einem der beiden Kontrahenten angegriffen würde. Der Artikel in
des Entwurfs gab Bismarck Gelegenheit, wieder einmal zu erklären, daß
Deutschland bereit sei, Nußland als Besitzer seines Hausschlüssels, Konstantinopels
und der Meerengen, anzuerkennen, doch riet er, ihn in ein geheimes Zusatzprotokoll
zu verweisen, damit nicht durch eine Indiskretion die russischen Aspirationen zu
früh enthüllt würden.^) Schuwalow arbeitete das Zusatzprotokoll aus. Am
18. Juni wurde der Vertrag auf drei Jahre unterzeichnet. Schuwalow hätte fünf
Jahre vorgezogen. Von deutscher Seite unterzeichnete Herbert Bismarck. Giers
zog aus der Tatsache, daß Kaiser Wilhelm I. drei Jahre wünschte, und Bismarck an
seiner Stelle Herbert unterzeichnen ließ, die Folgerung, daß der Vertrag für
Rußland vorteilhafter sei als für Deutschland. Alexander III, bemerkte dazu am
Rande: „Vielleicht".
Im Sommer fand eine Begegnung Wilhelms I. und Franz Josefs in
Gastein statt. Franz Josef bedauerte, daß Rußland sich von dem Dreikaiserbund
zurückgezogen habe. Wilhelm I. sagte kein Wort von dem deutsch-russischen Vertrag.
Bismarck erzählte das Schuwalow mit dem Zusatz: „Ich werde es ebenso
machen, wenn ich Kalnöky sehe."^)
^Ende'I 1889 erhielt Giers den Auftrag, die Frage der Erneuerung des
RückVersicherungsvertrags und der Form der Erneuerung zu studieren. Das
Gutachten des Ministers lautete, daß Rußland mit der Erneuemug nichts riskiere,
da ein Angriff Frankreichs gegen Deutschland nicht wahrscheinlich, und ein Bruch
zwischen Deutschland und den anderen Mächten noch weniger zu erwarten sei.
Alexander III. genehmigte daher am 19. Dezember 1889 die Erneuerung. Die
Verhandlungen sollten jedoch nicht vor April 1890 eröffnet werden.
Am 12. Februar 1890^) sagte Bismarck zu Schuwalow, sein Zusammen¬
arbeiten mit Kaiser Wilhelm II. sei so schwierig geworden, daß er an seinen
Rücktritt denke, um dann fortzufahren: „obwohl mein Souverän im Grunde
genommen wenig Vertrauen zu seiner Mutter hat, kann er sich doch nicht von
gewissen englischen Einflüssen, die sie auf ihn einwirken läßt, freimachen. Es
besteht eine richtige Verschwörung zwischen englischen Radikalen und deutscheu
Sozialisten. Ich hatte eine gewisse Witterung der Lage, als ich die Kaiserin Viktoria
nach Berlin zurückkehren sah. Ich frug- mich dann: Was zum Teufel will sie
hier tun? Das Instrument, dessen sie sich bei ihrem Sohne bedient, ist Hinz¬
peter, sein früherer Erzieher, der, wie ich annehme, keine Ahnung hat, welche
Rolle er spielt. Die Kaiserin hat es fertig gebracht, ihn als Mann liberaler Über¬
zeugungen ganz einzuspannen, und augenblicklich ist er der große Ratgeber unseres
Souveräns. Ich verstehe jetzt, weshalb ich ferngehalten wurde, weshalb der Kaiser
mir fast täglich durch meinen Sohn nach Friedrichsruh sagen ließ, ich solle mich
nicht stören lassen (not to clisturd mz^sell). Sie bereiteten deu Streicht) vor,
und die Arbeiterfrage war gerade bei dem Ihnen bekannten Punkte angelangt.
Trotz meiner geringen Sympathie für jegliche liberale Kampagne bin ich als
treuer Untertan verpflichtet, die Pläne meines Königs nicht ganz ihrem Schicksal
zu überlassen. Ich habe Ihnen schon von meiner Absicht, mich völlig aus der
preußischen Verwaltung zurückzuziehen, gesprochen. Wird das aber möglich sein?
Der Vorsitz im Bundesrat ist mit meiner preußischen Tätigkeit so eng verbunden,
daß es schwer ist, diesen zu behalten, wenn ich jene aufgebe. Vielleicht wird es
das beste sein, im gegebenen Augenblick die ganze Sache aufzugeben".
Das Gespräch wandte sich danach der auswärtigen Politik zu. Schuwalow
benutzte die Gelegenheit zu der Bemerkung, daß der englische Einfluß in der
inneren Politik sich auch in der äußeren Politik geltend machen könnte. Er
erinnerte dann an den Vertrag von 1887 und meinte, daß dieser trotz dem Wert,
den man ihm beiderseits beigelegt habe, tatsächlich nur geringen Einfluß auf die
guten Beziehungen beider Reiche gehabt habe, und daß auch ohne Vertrag solche
Beziehungen zweifellos erhalten geblieben wären.") „Wie denken Sie darüber?"
Bismarck: „Wenn Sie uach meiner persönlichen Ansicht fragen, so will ich
ohne Zögern antworten. Ich stimme für die Fortsetzung unserer Entente.
Ich gebe gern zu, daß unser Vertrag an sich für die Erhaltung guter Beziehungen
zwischen uns uicht unentbehrlich gewesen ist. Er ist aber einmal da und bestimmt
klar die Politik, der wir folgen, und die meines Erachtens nicht geändert werden
sollte. Ich habe es öffentlich gesagt, ich habe es Ihrem Souverän unter vier Augen
gesagt, ich habe es Ihnen oft wiederholt. Meine Meinung, meine Gefühle sind
stets die gleichen. Ich habe weder an Bulgarien noch an Konstantinopel ein
Interesse. Ihr könnt dort machen, was Ihr wollt. Ich werde Euch nicht
hindern. Wir haben nur die territoriale Integrität Österreich-Ungarns zu
verteidigen. Sie wissen das. Es handelt sich da, so wie ich die Dinge ansehe,
um eine politische Notwendigkeit. Osterreich kann von der Karte Europas nicht
weggewischt werden, aber Eure Streitigkeiten außerhalb seines Staatsgebiets
gehen mich nichts an. Man hat mich schrecken wollen durch Andeutungen, daß
Osterreich sich mit Rußland unmittelbar verständigen und sein Geschäft ohne mich
machen könnte. Darauf erwiderte ich, das wäre nicht nur kein Unglück, sondern
im Gegenteil ein großes Glück, und ich würde dadurch ganz gewiß nicht beunruhigt.
Meine Gleichgültigkeit hinsichtlich Konstantinopels und der Meerengen würde
dadurch in keiner Weise berührt. Was Frankreich betrifft, so hat die Besorgnis,
daß wir dieses Land aufessen könnten, wie ich glaube, Zeit gehabt, sich zu
verziehen. Wir werden nie so töricht sein, einen Krieg anzufangen, der uns nichts
einbringen könnte.
„So sehe ich die Dinge an. Ich glaube nicht an irgendwelche vorbedachte
Feindseligkeit Eures Kaisers gegen Deutschland. Ich glaube sogar nicht, daß Ihr
im Falle eines deutsch-französischen Krieges sofort zu den Waffen greifen würdet,
um Frankreich beizustehen. Ihr würdet zweifellos in einem solchen Fall zu einer
bewaffneten Demonstration schreiten, und wenn die ersten Siege uns zufielen, uns
Einhalt tun durch die Ankündigung, daß wir nicht weitergehen dürften.^) Wir
sind überdies nicht gierig nach neuen Provinzen. Die, die wir jetzt haben, machen
uns schon genug zu schaffen, und vor allem: man zerstört keine Nationalität. Ich
will sogar so weit gehen, zu sagen, daß die Erhaltung Frankreichs auch für
Deutschland eine Notwendigkeit ist in Anbetracht gewisser Eventualitäten, die in
unserm Beziehungen zu England eintreten könnten. Als ich in Reims war, sagte
mir jemand: Geh voran und kröne Euren König zum Kaiser Germaniens und
Galliens. Ich lachte und sagte selbst damals, Nationalitäten werden nicht durch
einen Federstrich vertilgt, wie die polnische Nationalität bezeugt, die es fertig
gebracht hat, sich trotz Verlust ihrer politischen Einheit am Leben zu erhalten."
Schuwalow meinte, der Vertrag definiere unmißverständlich den Standpunkt
Rußlands hinsichtlich Frankreichs. Die Integrität des französischen Staatsgebiets
sei eine wesentliche Bedingung des europäischen Gleichgewichts. Bismarck fand,
der Vertrag wäre den Intentionen der Kontrahenten so konform, daß genau
genommen die Festsetzung seiner Dauer unnütz wäre, da er einer festen, unver¬
änderlichen Lage entspräche.
Schuwalow schloß seinen Bericht über diese Unterredung mit der Feststellung,
daß Bismarck nichts Besseres verlange als die Erneuerung. Alexander III. be¬
merkte dazu am Rand: „Ich denke in der Tat, daß für Bismarck unsere Entente
eine Art Garantie ist, daß kein schriftliches Abkommen zwischen uns und Frank¬
reich existiert, und das ist sehr wichtig für Deutschland."
Nach mehrwöchiger Abwesenheit fandSchuwalvw am 5./17. März Bismarck sehr
erregt. Denn der Rücktritt des Fürsten war entschieden. ' Der Kaiser hatte Bis¬
marck seine Russenfreundschast vorgeworfen. Er hatte ihn in Verdacht, ihm zu
verhehlen, daß er es heimlich darauf angelegt habe, Oesterreich und den Drei¬
bund im Stich zu lassen, um Rußland die Hand zu reichen. Schuwalow berichtete,
was in Berlin vorginge, wäre mehr als sonderbar, und man müßte sich fragen,
ob der junge Kaiser normal wäre.
In der Nacht des 9./21. März wurde Schuwalow geweckt durch einen
Boten Wilhelms II., der ihn bat, morgens um 8 Uhr (am 21.) zu ihm zu kommen.
Der Kaiser empfing ihn mit großer Freundlichkeit und Herzlichkeit.
Wilhelm II.: Setzen Sie sich und hören Sie mich an. Sie wissen, wie
sehr ich Ihren Souverän liebe und verehre. Ihr Kaiser ist zu gut gegen mich
gewesen, als daß ich ihn anders als persönlich über die durch die jüngsten Er¬
eignisse geschaffene Lage unterrichten möchte. Sagen Sie Seiner Majestät, daß
ich mich von meinem alten Kanzler getrennt habe/ denn es war ganz unmöglich,
mit ihm weiterzuarbeiten in Anbetracht seines Gesundheitszustandes und der
Reizbarkeit seiner Nerven. Herbert Bismarck erzählte mir gestern abend, Sie
wären durch ihren Souverän bevollmächtigt, die Verhandlungen wegen Erneuerung
unseres Geheimvertrages fortzusetzen, Sie hätten sie aber momentan aufgegeben.
Weshalb? Ich bitte Sie, Seiner Majestät zu sagen, daß ich meinerseits ganz
geneigt bin, unser Abkommen zu erneuern, daß meine Politik die gleiche bleibt
und bleiben will, die sie zur Zeit meines Großvaters war. Das ist mein fester
Entschluß. Ich werde davon nicht abgehen und Sie können Ihre Verhandlungen
mit Graf Herbert wieder aufnehmen^). Ich glaube, er wünscht mich zu ver¬
lassen, aber ich werde versuchen, ihn auf seinem Posten zu halten."
Schuwalow bemerkte, er hätte die Verhandlungen suspendieren müssen, da
er nicht wußte, mit wem er sie führen sollte.
Wilhelm II.: „Ich war über Ihre Unterhaltung mit Fürst Bismarck in¬
formiert, und der Kanzler war auch bevollmächtigt, die Verhandlungen zu dem
beabsichtigten Abschluß zu führen"). Nichts hat sich geändert, und ich zähle auf
Ihre Freundschaft, die Lage dem Kaiser vorzutragen mit der Versicherung, daß
sich nichts geändert habe, weder in meinen persönlichen Gefühlen für ihn, noch
in meiner Politik gegenüber Rußland.
„Sie wissen, wie viele übelwollende Behauptungen meine Thronbesteigung
begleiteten. Man stellte mich als kriegslustig hin, sagte, ich sei ruhmbegierig usw.
Dennoch habe ich getan, was ich konnte, für die Erhaltung des Friedens und das
ist es, was ich für Deutschland wünsche, darum kämpfte ich in meiner äußeren
Politik geradeso, wie ich im Innern Erhaltung der Ordnung wünsche."
Randbemerkung Alexanders III. zu Schuwalows Bericht: „Man hätte nichts
Befriedigenderes erwarten können. Wir wollen in der Folgezeit sehen, ob den
Worten Taten entsprechen. Vorläufig ist es ganz beruhigend."
Auf Herberts Vorschlag wurden die Verhandlungen nach Petersburg verlegt
und dem deutschen Botschafter General Schweinitz anvertraut. Schweinitz
wartete lange auf seine Instruktionen. Als sie ankamen, fand er, daß Deutschland
die Erneuerung verweigerte. Am 26. März") 1390 setzte Schweinitz Giers den
Standpunkt Caprivis auseinander. Caprivi wünsche keine Änderung der deutsch¬
russischen Beziehungen, seine Politik solle einfach und durchsichtig sein, keine Ge¬
legenheit für Mißverständnisse bieten und weder Unruhe noch Mißtrauen hervor¬
rufen. Eine solche Politik lasse keine Geheimvertrüge zu, besonders mit Rußland,
dessen öffentliche Meinung einem solchen Bertrag wenig günstig sei.
Alexander III. bemerkte zu dem Bericht seines Ministers über diese Eröffnung:
//Im Innern meines Herzens bin ich ganz zufrieden, daß Deutschland zuerst die
Erneuerung des Vertrages verweigert hat, und ich bedaure das Ende der Entente
nicht sonderlich. Aber die Ansichten des neuen Kanzlers über unsere Beziehungen
sind recht bezeichnend. Es scheint mir, daß Bismarck recht hatte, als er sagte,
daß die Politik des Deutschen Kaisers sich mit dem Tage seines Rücktritts ändern
würde."")
Schuwalow hatte für Caprivis Weigerung zwei Erklärungen. Entweder
rechnete Wilhelm II. auf den Beitritt Englands zum Dreibund^) oder Caprivi
nahm den Zweibund ernster als sein Vorgänger. Caprivi hatte zu Schuwalvw
gesagt, er sei in diplomatischen Künsten wenig bewandert. Sein Vorgänger habe
die Geschicklichkeit besessen, mit mehreren Kugeln auf einmal zu spielen^ er schätze
sich glücklich, wenn es ihm nur mit zweien glücke.^)
Giers antwortete«) Schuwalvw, ihm schienen Caprivis -Weigerungsgründe
wenig überzeugend. In früheren Jahren hätten zwischen Deutschland und Ru߬
land auch ohne formalen Vertrag freundschaftliche Beziehungen bestanden. Seit¬
dem aber hätte Deutschland Bündnisse geschlossen, die unter Umständen einen mit
guten Beziehung«» zu Rußland nicht verträglichen Charakter annehmen könnten.
Er habe daher Schweinitz sein Erstaunen nicht verhehlt, daß Caprivis Einwände
über die von seinem Souverän Persönlich ausgesprochenen Wünsche das Über¬
gewicht erlangt hätten. Er wolle die Aufrichtigkeit Wilhelms II. und Caprivis
nicht bezweifeln, hätte aber von Schuwalow erwartet, daß er dieses Rätsel durch
Herauslockung einer unumwundenen Erklärung Caprivis aufklärte. Schuwalow
hätte Caprivi einen Notenwechsel vorschlagen sollen, worin beide Mächte, ohne
den Vertrag von 1887 zu erneuern, ihre Freundschaft beteuernd, die Fortdauer
der Basis ihrer Entente in Ansehung des Balkans und der Meerengen aner¬
kannten.
Als Schuwalow daraufhin bei Caprivi sondierte, erklärte dieser, eine An¬
näherung Deutschlands und Rußlands harmonierte nicht mit der öffentlichen
Meinung in Rußland. Er zweifle an dem Wert von Verträgen, die nicht der
echte Ausdruck nationaler Gefühle seien. Er fürchte"») daher die Folgen einer
eventuellen Enthüllung des RückVersicherungsvertrages. Alexander III. bemerkte
dazu: „Das ist mehr als korrekt."
Schuwalow sah den wahren Grund der Nichterneuerung in der Hoffnung
Wilhelms II., England für den Dreibund zu gewinnen. Schon vor zwei Jahren
habe er argwöhnisch die sich anbahnende Verständigung zwischen England und
Deutschland beobachtet. Unter diesen Umständen gab der Botschafter zu erwägen,
ob Rußland in dem von Giers angeregten Notenaustausch nicht Mißerfolg haben
würde.
Alexander III. entschied am 11. Juni 1890:») „Ich bin eher der Ansicht
Schuwalows. Sobald es sich herausstellt, daß Deutschland nicht geneigt ist,
unseren Geheimvertrag zu erneuern, scheint eS mir, daß unsere Würde uns nicht
zu fragen gestattet, warum. Zweifellos hat in der äußeren Politik Deutschlands
ein Wechsel stattgefunden, und wir sollten auf alle Fälle vorbereitet sein."
Am 14. Juni°2) bemerkte der Zar auf einen Bericht des Ministers: „Graf
Kutusow hat mich soeben verlassen und mir seine Eindrücke mitgeteilt. Sie sind
nicht beruhigend oder tröstlich. Von Tag zu Tag verschlimmert sich die wachsende
Nervosität des Kaisers, und seine Umgebung ist bestürzt über die Veränderlichkeit
seines Charakters und seiner Ideen. Die^ wachsende Entwicklung der Rüstungen
macht die Lage noch beunruhigender."
Fürst Lobanow-Rostowski, russischer Botschafter in Wien, sah in der
deutschen Weigerung ein sehr ernstes Ereignis. Er hielt Kalnöky nicht nur für
eingeweiht, sondern vermutete in ihm den Urheber der Weigerung, weil Wien sich
die deutsche Hilfe gegen Rußland für alle Fälle sichern wollte.
Am 5. August kam Wilhelm II. mit Caprivi zu den Manövern bei Narwa.
In einer Depesche von: 19. August 1890 unterrichtete Giers den russischen
Geschäftsträger Graf Murawiew über seine Besprechung mit Caprivi. Der
Reichskanzler hatte danach Giers erklärt, daß der allgemeine, in Deutschland
besonders aufrichtige Friedenswunsch alle Wolken vom politischen Horizont ent¬
fernt habe. Das Leitmotiv der Regierung Wilhelms II. sei die Beschwörung der
wachsenden Gefahr des Sozialismus und die Beseitigung aller Bedrohungen der
inneren Ruhe und Ordnung. Der Kaiser setze seine ganze Macht dafür ein und
verstehe es sehr wohl, daß zur Erreichung dieses Zweckes dauernder äußerer
Friede absolut notwendig sei. Giers hatte sich bemüht, Caprivi darzutun, daß
Nußland die traditionelle Freundschaft mit Deutschland weniger durch geschriebene
Verträge als durch ununterbrochenes wechselseitiges Vertrauen zu erhalten bestrebt
sei. Er hatte sodann den Reichskanzler gefragt, wie er über Bulgarien und die
Meerengen dächte. Rußland könnte nach all seinen Opfern nie die illegale
Gewalt des Prinzen Ferdinand sanktionieren. An die Sperre der Meerengen
seien alle Signatarmächtc des Berliner Vertrages gebunden. Caprivi erklärte
sich damit einverstanden. Die gleiche Versicherung empfing Alexander III. in der
Audienz Caprivis. Giers beauftragte Murawiew, Caprivi diese Darstellung mit¬
zuteilen und sich eine schriftliche Bestätigung seiner Fixierung der Unterredung
Kor Narwa geben zu lassen.
Als Murawiew Caprivi die Bitte um die Bescheinigung vortrug, sagte
^esev sehr erstaunt: „Warum? Das scheint mir ganz nutzlos. Ich bin fest ent¬
schlossen, nichts Schriftliches von mir zu geben. Sie waren instruiert, mir eine
Depesche vorzulesen, die, wie ich zugebe, den Gedankenaustausch zwischen Giers
und mir sehr getreu wiedergibt. Sie haben das ausgeführt. Aber Ihnen etwas
Schriftliches zu geben, nein. Ich besitze nicht die politische Macht Bismarcks,
"ber ich bin loyal, und Sie können sich auf unsere Loyalität verlassen, die Sie
nie im Stiche lassen wird."
Murawiew beeilte sich zu sagen, daß er aus eigenem Antrieb gehandelt habe.
Caprivi: „Ich weiß wohl. Herr von Giers würde Sie nie beauftragt haben, das von
nur zu verlangen, da ich ihm oft gesagt habe, ich würde mich unter allen Umständen
weigern, ihm etwas Schriftliches über unseren Gedankenaustausch zu geben."
Murawiews Bericht fährt fort: „Ich war nahe daran zu lachen, als der
General mir auf Deutsch sagte: ,Da Sie in Berlin eine Reihe von Jahren gelebt
haben, wissen Sie besser als irgend jemand, mit welchen ernsten Schwierigkeiten
die Negierung im Innern zu kämpfen hat. Diese Schwierigkeiten sind enorm,
und unser Souverän würde, selbst wenn er nach Triumphen begierig wäre, bei
ihrer Überwindung Lorbeeren genug einernten, die seine Regierung, wenn sie noch
so lang wäre, ruhmreicher machten, als wenn er sie durch Siege auf dem Schlacht¬
feld berühmt machte. Wir wünschen Frieden über alles, und Sie sollten davon
überzeugt sein/"
Soweit Goricnnow, Ungefähr gleichzeitig mit Murawiew, am 24. August 1890,
berichtete der französische Gesandte Laboulaye in Petersburg an den Außenminister
Ribot über die militärischen Anfänge der französisch-russischen Entente. Auch Giers
hatte sich der Überzeugung nicht länger verschließen können, daß in Berlin ein völliger'
Systemwechsel eingetreten sei. Die Vergangenheit des Ministers spricht dasür,
daß er durch den Fühler Murawiews einen letzten Versuch zur Rettung des
RückVersicherungsvertrages und zur Vermeidung der russisch-französischen Entente
machen wollte. Denn es versteht sich von selbst, daß Caprivi die gewünschte
Bescheinigung nicht geben konnte, weil das einer Bestätigung des Vertrages
von 1887 ohne das beiderseitige Neutralitätsversprcchen gleichgekommen wäre.
Die Annäherung Deutschlands an England würde 1L90 ebensowenig wie zehn
Jahre früher den Draht zerrissen haben. Im Gegenteil. Die Aktien Berlins
stiegen in Petersburg regelmäßig, wenn sie anderwärts höher notiert wurden.
Weder die Panslawisten noch Alexander III. haben die Richtung der russischen
Politik verändert, die ihr durch Bismarcks Überlegenheit 1879 gegeben worden
war. Die deutsche Anziehungskraft hat sich bis 1890 gegen alles panslawistische,'
stockrussische Sträuben siegreich behauptet. Es hätte Caprivi noch im August 1890
nur ein Wort gekostet, den Weg zu der weisen Politik seines Vorgängers zurück¬
zufinden. Wenn er es nicht ausgesprochen hat, so wird man zu seiner Verteidigung
nicht einmal sagen dürfen, daß er Giers nicht verstehen wollte. Das Verstehen
hatte mit Bismarcks Sturz der absoluten Verständnislosigkeit Platz gemacht.
Was auch zur Rechtfertigung der Erben Bismarcks angeführt worden ist, die
Tatsache kann nach den russischen Enthüllungen nicht mehr aus der Welt geschafft
werden, daß der Draht durch Männer, die sich der Tragweite ihrer Tat in keiner
Weise bewußt waren,^) durchschnitten worden ist. Bahnhofsanlagen Pflegen gegen
mutwillige oder böswillige Zerstörung geschützt zu werden. Das Deutsche Reich
war nach dem Sturze seines Begründers schutzlos Politischen Kindern cutsgeliefcrt.
>^lie völkerrechtliche Stellung der ehemaligen deutschen Südseebesitzungen
hat sich seit dem Versailler Friedensverträge noch nicht geändert.
Die in Artikel 119 des Friedensvertrages vorgesehene Verteilung
der gemeinsamen Beute durch den Völkerbund ist auf dessen erster
Tagung in Genf nicht geschehen. Zwar hat der Oberste Rat der
Alliierten — ohne Zustimmung der Vereinigten Staaten von Amerika — im
Mai 1919 die Kolonialmandate so verteilt, daß die Südseekolonien Deutschlands
durch den Äquator zwischen Japan und dem Britischen Reich geteilt wurden und
der Völkerbundrat, also in der Hauptsache die Mandatare selbst haben am
17. Dezember 1920 während der Tagung des Völkerbundes in Genf jene Verfügung
inhaltlich bestätigt, indem sie ihre eigenen Vorschläge annahmen. Gegen dieses,
dem Friedensvertrag und der in ihm enthaltenen Völkerbundsatzung widersprechende
Verfahren hat Deutschland Einspruch eingelegt und das Verfahren muß als
völkerrechtlich bindend nicht betrachtet werden. Auch die Vereinigten Staaten
von Amerika erkennen den Beschluß des Völkerbundrats vom 17. Dezember 1920
nicht an, wenn auch, wie weiter unten dargelegt werden wird, aus anderen
Gründen und mit anderen Zielen als Deutschland.
An der tatsächlichen Staatsgewalt über die Inseln ist durch diese Vorgänge
nichts geändert. Die formelle UnVollkommenheit der völkerrechtlichen Stellung der
Inseln scheint jedoch auch ihren neuen Herren Schwierigkeiten zu machen, wenigstens
hat man sich im neuseeländischen Parlament darüber gestritten, ob die neusee¬
ländischen Gesetze auf dem neu erworbenen Samoa - man Pflegt es jetzt West-
Samoa im Gegensatz zu dem amerikanischen Ost-Samoa zu nennen — anzuwenden
seien, solange dieses nicht verfassungsmäßig dem neuseeländischen Staate einverleibt
sei. Man hat sich regierungsseitig nicht zu einer Bejahung dieser Frage entschließen
können.
Auch sonst zeigt sich die neuseeländische Verwaltung von einer Starrköpfig¬
keit und Pedanterie, die den Wohlstand dieser Insel gründlich zu vernichten droht.
Besonders wirkt dabei auch die in Neuseeland wie in Australien herrschende
Furcht vor der gelben Gefahr, d. h. hier der Beschäftigung chinesischer Arbeiter,
von denen unter deutscher Herrschaft der Plantagenbetrieb wesentlich abhing.
Endlich entschloß sich die neuseeländische Negierung im August v. I., im Wege der
Ausnahmegesetzgebung das Verbot der Chinesenkvntrakte für Samoa aufzuheben.
Inzwischen waren die meisten deutschen Kautschuk- und Kakaopflanzungen schon
mehr oder weniger verwahrlost. Die Teutschen, die während des Krieges noch
in Samoa hatten bleiben dürfen oder in ein Jnternierungslager in Neuseeland
gebracht worden waren, etwa 300 an Zahl, sind Mitte 1920 von der neusee¬
ländischen Negierung in höchst unwürdiger Weise nach Deutschland abgeschoben
worden, mit Ausnahme der mit Eingeborenen Verheirateten und der von ein¬
geborenen Müttern abstammenden Halbblutdeutschen. Auch die Unternehmungen
der Deutschen Handels- und Plantagcngesellschaft sind von der neuen Regierung
in Zwangsverwaltung genommen worden, wobei sich aber nach allen vorliegenden
Nachrichten wieder die, schon in dem Mangel an geschulten und tropenerfahrenem
Personal begründete, Unfähigkeit Neuseelands zur Verwaltung dieser Kolonie
gezeigt hat.
Auch Australien ist dem traurigen Beispiel der Negierung des Mutterlandes
gefolgt, indem es für Neu-Guinea nicht das Mandat des Völkerbundes abgewartet
hat, sondern schon auf Grund des Friedensvertrags und der Abmachungen, welche
die Alliierten unter sich getroffen haben, die Herrschaft über die Kolonie ausübt.
An das mit dem deutschen Gouverneur bei der Kapitulation im Jahre 1914
geschlossene Abkommen, nach welchem die Deutschen dort während des Krieges
ungestört weiterleben durften, betrachtet sie sich nicht mehr als gebunden. Eine
Verordnung vom 1. September 1920 sieht die Enteignung des dortigen deutschen
Eigentums und die Ausweisung der dort noch ansässigen etwa 680 Deutschen vor.
Bis jetzt scheint man von dieser Ausweisungsbefugnis noch keinen Gebrauch
gemacht zu haben) im Gegenteil man verwehrt den Deutschen heimzukehren
oder erschwert ihnen wenigstens die Heimkehr, jedenfalls ist die Entlassung von
Angestellten der liquidierten deutschen Unternehmungen, offenbar aus Mangel an
geeignetem Personal, verboten worden — eine Behandlung, die nicht mehr sehr
verschieden von Sklaverei ist. Für manche dieser fast unglaublichen Erscheinungen
mag die Erklärung darin liegen, daß an die Spitze der Enteignungsbehörde der
Leiter eines australischen Handels- und Schiffahrtunternehmens berufen ist, das
von jeher in scharfem wirtschaftlichen Wettkampf mit den deutschen Unternehmungen
gestanden hat.
Nächst den blühenden deutschen Plantagen- und Handelsunternehmungen
interessiert man sich in Australien hauptsächlich für Neu-Guineas Petroleum¬
vorkommen, auf das die holländisch-englischen Verhandlungen um das die anglo-
Persische Gesellschaft anscheinend sehr interessierende Petroleum des holländischen
Teils Neu-Guineas die Aufmerksamkeit gelenkt zu haben scheinen. Im Mai v. I.
erklärte die australische Regierung im Parlament ihre Bereitwilligkeit, Petroleum¬
forschungen in Deutsch-Neu-Guinea zu unterstützen, und im November v. I. ist
eine von der australischen Regierung unterstützte wissenschaftliche Expedition nach
Neu-Guinea gegangen. Sonst aber scheint man in Australien die Neuerwerbungen
in der Südsee nicht besonders froh aufgenommen zu haben) eine von der
Regierung dorthin geschickte Kommission hat sich laut Parlamentserklärung des
sonst viel zuversichtlicher urteilenden Ministerpräsidenten recht pessimistisch über
die Zukunft der Südseebesitzungen geäußert.
Das Abkommen zwischen der britischen Regierung und den Regierungen
von Australien und Neuseeland, welches die dem Britischen Reich zukommende
Verwaltung der Insel Nauru auf Grund der Pariser Verhandlungen zwischen
den drei Regierungen geteilt hat Muru Islanä Agreement vom 2. 7. 20),
ist inzwischen im Wortlaut bekannt geworden. Danach ist dort eine Zivilverwal¬
tung eingerichtet mit einem Administrator an der Spitze, der für die nächsten
fünf Jahre von Australien ernannt ist, und einem IZoarä ok eommissivners, von
denen je einer von den drei Regierungen bestellt wird. Der Kern des Abkommens,
die Übernahme der Phosphatlager gegen Entschädigung der bisherigen Besitzerin,
der ?g,Liüv ?IwsxI>als eomMnz?, durch die drei Mandatsregierungen zwecks Ver¬
waltung durch ihre drei Kommissare, hat Anlaß zu einer Debatte im englischen
Parlament gegeben, bei der sehr nachdrücklich gegen die den Art. 22 des Friedens -
Vertrags verletzende Übernahme der Verwaltung ohne Ermächtigung des Völker¬
bundes protestiert wurde, ganz besonders aber gegen die im Gegensatz zu der
früheren deutschen Handhabung geplante Beschränkung des Freihandels der Kolonie
zugunsten der drei Regierungen durch die Vertragsbestimmungen, laut deren die
drei Mandatsländer bei der Versorgung mit dem Phosphat bevorzugt werden
und ihnen auch Vorzugspreise vor allen anderen Ländern gewährt werden,
Vorzugspreise, die ihnen die Tonne Phosphat um 1 Pfund Sterling billiger als
zur Zeit der deutschen Herrschaft sichern sollen. Dabei wurde als Entschädigung
der ?aeikc: MospKatö <no. (einhebt. ihrer Phosphatlager ausOeoan Island) regierungs¬
seitig der Betrag von 3,5 Mill. Pfund Sterling angegeben und das Gesamt¬
vorkommen an Phosphat, das deutscherseits mit 216 bis 300 Mill. Tonnen
angenommen worden sei, soweit zur Zeit erkennbar und ausbeutbar, auf 80 bis
100 Mill. Tonnen geschätzt, sowie die Produktion, die ursprünglich von der
Regierung mit 100 000 Tonnen angenommen worden war und die im letzten
Jahre deutscher Herrschaft 375 000 Tonnen betrug, jetzt als auf 400 000 bis
500 000 Tonnen steigerungsfähig bezeichnet.
Japan kümmert sich anscheinend am wenigsten um die völkerrechtlichen
UnVollkommenheiten seiner Kriegsbeute. Die Verwaltung, die es jetzt auf den
neuerworbenen Südseeinseln eingerichtet hat, erinnert an das Vorbild der ehe¬
maligen deutschen Verwaltung Kiautschous. Es ist eine dem Marineministerium
in Tokio unterstellte Marineverwaltung, aber unter ihr steht ein Zivilgouverneur
mit den auch in Japan üblichen Zivilbehörden. Sitz der Verwaltung ist Trül.
Die Einwohnerzahl der Inseln wird von japanischer Seite mit 60 000, darunter
5000 Japaner, angegeben, während im Jahre 1918 die Zahl der Japaner mit
1270 und im letzten Berichtsjahre der deutschen Verwaltung mit 83 angegeben
wurde. Es findet also offenbar eine starke japanische Zuwanderung statt, die sich
hauptsächlich nach Saipan richten soll. Die Phosphatfelder von Angaur sollen
laut Zeitungsmeldungen in den Alleinbesitz der Mitsui-Gesellschaft übergegangen sein.
Japan hat auf der Völkerbundratssitzung in Genf bei Annahme des ihm
erteilten Kolonialmandats in Form einer Verwahrung zum Schutz seiner bisher
von Englands Dominions in der.Südsee unterschiedlich behandelten Staats¬
angehörigen erklärt, auf volle Gleichstellung in Handel und Verkehr der Mandats¬
gebiete zu bestehen und nach der Horn japanischen Minister des Auswärtigen im
Parlament geäußerten Auffassung wenigstens erreicht, daß die bisher, d. h. unter
der deutschen Herrschaft erworbenen Rechte japanischer Staatsangehöriger südlich
des Äquators anerkannt werden. Läßt Japan den von ihm aufgestellten weiter¬
gehenden Grundsatz seinerseits gelten, so wird es einem deutschen Verlangen nach
Zulassung und Geschäftsbetrieb auf den in seinen Besitz übergegangenen Südsee¬
inseln nicht widersprechen. Von anderen Ausländern wird freilich bisher sehr geklagt,
daß unter der japanischen Verwaltung, im Gegensatz zu der früheren deutschen,
Nichtjapanern der Wettbewerb, ja die Existenz auf den Inseln in jeder Weise
unmöglich gemacht werde. Auf den südlich des Äquators gelegenen Inseln
wird auf Zulassung deutscher Staatsangehöriger bis auf weiteres nicht zu
rechnen sein, solange Australien und Neuseeland fortfahren, die Deutschen aus ihren
eigenen Gebieten auszuweisen. Nicht einmal deutsche Waren sind dort wieder
zugelassen. Das absolute Einfuhrverbot gegen alle Waren, die zu mehr als 5°/<>
ihres Wertes aus dem Gebiete des heutigen Deutschland und seiner früheren Ver¬
bündeten stammen, besteht für Australien immer noch. Neuseeland hat es zwar
im Laufe des letzten Jahres aufgehoben, gestattet die Einfuhr solcher Waren aber
nur mit besonderer Erlaubnis des Zvllministers.
So werden eben die deutschen Waren ebenso wie Deutschlands Bezüge aus
der Südsee auf Umwegen gehen. Über die Philippinen läßt sich, solange die
Vereinigten Staaten von Nordamerika noch nicht Frieden mit Deutschland ge¬
schlossen haben, noch nicht viel sagen. Die Ausdehnung des japanischen Handels
und ganz besonders des chinesischen Handels dort, der jetzt schon mehr als
ein Drittel des Gesamthandels der Kolonie ausmacht, wird aber die Aufmerk¬
samkeit unserer Ostasienfirmen wert sein. Mer die Bedeutung Niederländisch-
Jndiens für den deutschen Handel von und nach der Südsee ist schon genug gesagt.
Mögen die englischen Dominions immerzu, von Haß, Selbstdünkel und Kurzsichtigkeit
geblendet, die Deutschen aus ihren Gebieten vertreiben. Schon öfter haben sich
in der Menschheitsgeschichte die aus einem Lande verjagten Emigranten als wert¬
voller Gewinn für den weitsichtigeren und weitherzigeren Nachbarn erwiesen, und
es scheint nach allem, was man über die niederländisch-indische Kolonialverwaltung
hört, daß die Holländer sich als bessere Geschichtskcnner zeigen als die Australier.
Die größte Bedeutung von allen Südsee-Jnseln hat in letzter Zeit die Insel
Uap gewonnen. Da sie zu den nördlich des Äquators gelegenen deutschen Inseln
gehört, fiel sie nach der Verfügung der Hauptverbandsmächte des Versailler
Friedens an Japan. Die Vereinigten Staaten von Amerika haben an diesen
Verfügungen nicht teilgenommen, denn sie sind nicht Mitglied des Völkerbundes
und waren zur Zeit, als Japan die ersten diesbezüglichen vertraglichen Zusiche-
rungen seiner Kriegsverbündeten erhielt, noch nicht am Kriege beteiligt. Die
Stellungnahme Wilsons bei den Viererratsverhandlungen, die zu jenen, auch die
Insel Map dem japanischen Mandat zuweisenden Beschlusse führten, scheint nicht
sehr klar gewesen zu sein,' die Vereinigten Staaten wollen nun jene Verfügung
gerade hinsichtlich der Insel Map nicht anerkennen, weil Uap der Ausgangspunkt
von Kabeln ist, an denen sie wirtschaftlich und strategisch sehr stark interessiert
sind, nämlich eines Kabels nach der amerikanischen Südseeinsel Guam, eines Kabels
nach Menado auf der holländischen Insel Celebes und eines Kabels nach Schanghai,
das während des Krieges von, den Japanern von Schanghai abgelenkt und in
Japan gelandet worden ist — alles Kabel, die von der deutsch-niederländischen
Telegraphen-Gesellschaft, einer deutschen Aktien-Gesellschaft, auf Grund eines
deutsch-niederländischen Staatsvertrages von 1902 gelegt waren und ihr gehörten.
Unmittelbare Beteiligung an diesen Kabellinien haben die Vereinigten Staaten
von Amerika nur insofern, als das eine Ende des Uap-Guam-Kabels auf ameri¬
kanischem Gebiet endigt. Die in der deutschen Presse verbreitete Nachricht, auch
der Uap-Kopf dieses Kabels werde von Amerikanern bedient, ist sicherlich ein
Irrtum, da die japanische Verwaltung schwerlich im Kriege den Amerikanern ein Recht
eingeräumt haben wird, das ihnen nicht einmal im Frieden unter deutscher Ver¬
waltung eingeräumt war. Jedes über Yap nach China oder niederländisch-Jndien
bestimmte amerikanische Kabelgramm unterliegt heute japanischer Kontrolle. Man
sollte meinen, daß die Vereinigten Staaten unter diesen Verhältnissen auf die
Benutzung der Day-Kabel verzichten und sich auf ihre eigenen Kabelverbindungen
Guams mit Manila und von dort mit China zurückziehen, oder eigene
Kabelverbindung zwischen den Philippinen und niederländisch-Indien herstellen
könnten^ aber man darf nicht vergessen, daß Uap für die Vereinigten Staaten
in ihrer ostasiatischen Politik, insbesondere auch in ihrer Stellung zu den Philippinen,
schon nach seiner geographischen Lage von größter strategischer Bedeutung ist und
mit seinem guten natürlichen Hafen in der Hand eines Feindes von größter
Gefahr werden kann.
In der amerikanischen Presse und auch im Parlament ist oft behauptet
worden, in Paris sei zwischen den Alliierten verabredet worden, Uap solle wegen
seiner strategischen Lage zu den Philippinen und zu Hawai versuchsweise den
Vereinigten Staaten übergeben werden. Feststeht jedenfalls, daß Präsident Wilson
auf Anfrage im Scnatsausschuß für auswärtige Angelegenheiten im August 1919
und vor dem Staatsdepartement im März 1921 erklärt hat, er habe niemals der
Übertragung des Maubads für die Insel Uap on Japan zugestimmt, vielmehr
habe er bei den Pariser Friedensverhandlungen darauf hingewiesen, daß die Ver¬
fügung oder richtiger die Kontrolle über diese Insel der allgemeinen Konferenz
vorbehalten bleiben müsse, die über Eigentum und Benutzung aller ehemals deut¬
schen Kabel abgehalten werden sollte. Diese Konferenz, zu der zunächst Japan von
vornherein die Zulassung der Vereinigten Staaten mit der Begründung beanstandet
hatte, daß diese nicht den Friedensvertrag ratifiziert hätten, auf Grund dessen die
Kabelverteilung erfolgen sollte, hat nun schließlich doch Ende des vorigen Jahres
in Washington getagt unter Beteiligung der Vereinigten Staaten sowie Englands,
Frankreichs, Italiens und Japans. Sie hatte aber nur hinsichtlich der atlantischen
Kabel das Ergebnis einer vorläufigen gemeinsamen Verwaltung bis zu einer im
Frühjahr 1921 abzuhaltenden Konferenz. Hinsichtlich der Südsee-Kabel ist es
nicht einmal zu einer solchen vorläufigen Vereinbarung gekommen. Gemeinsame
Verwaltung wurde hier von Japan schroff abgelehnt, da solche nach japanischem
Gesetz unzulässig sei und das japanische Gesetz auch auf Uap gelte, nachdem dieses
integrierender Bestandteil Japans (Art. 22, Abs. 6 des Friedensvertrags) geworden
sei. Den Vereinigten Staaten könne nur anheimgestellt werden, wenn sie der
japanischen Kontrolle entgehen wollen, sich eigene Kabel zu legen. Die Ansprüche
der Amerikaner, die, wie es scheint, zunächst sogar völlige Überlassung der Insel
mit dem Kabel verlangten als Ausgleich für die den Engländern und Franzosen
überlassenen, ja auch die Vereinigten Staaten berührenden deutschen Kabel, scheinen
nur bei Frankreich eine durch Anerkennung eigener Beuteansprüche bedingte Unter¬
stützung gefunden zu haben. Holland, von dem Staatsangehörige an der deutsch¬
niederländischen Telegraphen-Gesellschaft, der das I)ap-Kabel gehörte, beteiligt sind,
hat sich bisher damit begnügt, gegen die Verfügung über dieses Kabel ohne seine
Mitwirkung Protest einzulegen. Wie ernst die Regierung der Vereinigten Staaten
die Aap-Frage ansieht, zeigen die Noten, die sie Ende Februar dieses Jahres an
den Bölkerbundrat und Anfang April an die beteiligten Mächte gerichtet hat,
in denen sie sehr nachdrücklich darauf hinweist, daß die Verteilung der Kolonial¬
mandate unter Nichtbeachtung des auf dem gemeinsamen Siege und auf Art. 119
des Friedensvertrages beruhenden Mitverfügungsrechts der Vereinigten Staaten,
ohne ihre Zustimmung zustandegekommen sei, und daß sie insbesondere der
Einbeziehung der Insel YaP in das» japanische Mandat niemals zugestimmt
habe, weil diese Insel notwendigerweise zu jedem Kabelsystem oder -Projekt
im Stillen Ozean gehöre und deshalb durch kein Land in ihrer freien Benutzung
beschränkt oder kontrolliert werden dürfe. Die Wirkung dieser Noten scheint
bisher nur gewesen zu sein, daß die japanische Regierung die unmittelbaren
Verhandlungen mit Washington über diese Frage eingestellt hat.
Wie immer der Kampf zwischen Japan und den Vereinigten Staaten von
Amerika (denn ein solcher besteht, mag es zum Kriege kommen oder nicht) aus¬
gehen wird — die Entwicklung zu immer weiterem Vordringen Ostasiens nach
Süden wird durch ihn nur aufgehalten, nicht verhindert werden. Vergebens
suchen Australien und Neuseeland ihre Tore der asiatischen Zuwanderung zu
sperren, es fehlt ihnen jetzt nach den Menschenverlusten des Krieges noch mehr als
vorher an dem notwendigsten Mittel, ihre Weiß-Australien-Politik durchzu¬
setzen, an den Weißen Menschen. Von den Inseln südlich des Äquators werden
jetzt nur die Deutschen verdrängt,- auf den nördlichen können sich auch die anderen
Weißen nicht länger halten. Immer mehr wird die Grenze zwischen Weiß und
Gelb nach Süden verschoben, auch ohne kriegerische Eroberungen. Klagen aus
Nord-Australien, Berichte von den Fidschi-Inseln, von den Neuen Hebriden und
Neu-Kaledonien beweisen es. Immer weiter wächst Asien nach Australien zu,
schon sind die Grenzen zwischen den beiden, von europäischer Geographie selb¬
ständig nebeneinander gestellten Erdteilen beseitigt. Wird diese Entwicklung
noch einmal aufgehalten werden oder kommt der Tag, wo der selbständige
australische Erdteil verschwunden sein wird? In diesem Sinne gehört eine
Betrachtung , der, australischen Südseeinseln ebenso wie die der japanischen in eine
Betrachtung Ostasiens.
jekenuen wir: Nie trat Ichsucht krasser hervor wie heute. Ichsucht
aber macht unnachdenklich, leichtlebig, frivol. Daher ist heute
alles so widerspruchsvoll — so heterogen Zeiternst und Lebeiisart.
Alle Suchenden, die wieder neu gestalten wollen nach Sinn
. und Willen, müssen zur Pflege einfacher und vertiefter Lebens-
Naufgerufen werden. Die auf sittliche Erneuerung unseres Volkes gerichtete
Ki - ^ '""^ ^ nächsten Objekt, am täglichen Leben beginnen. An dich, deine
eivung, deine Wohnung, deinen Verbrauch an Lebens- und Genußmittcln ist
bes ? und die Forderung des Andersseinsollens zu stellen. Jns-
Denn ^ ^' ^ Vereinfachung und Vergeistigung unserer „Geselligkeit"!
um",Sö" , " welcher Geist beherrschte unsere bisherige Geselligkeit?,
S'l " l > Das Geld beherrschte sie. Stoff ohne Geist und
Miyeit. Der Amerikanismus war auch bei uns eingezogen, hatte den Sinn
für die Geheimnisse von Religion und Philosophie abgestumpft, Herzenstakt und
Gefühlswärme erstarren lassen, den deutschen Höhenschwung in Leben und Kunst
niedergedrückt. Und wie überhaupt der Hang der Zeit äußeren Reiz und Wohl¬
leben suchte, so zeigte auch die Geselligkeit ein vorwiegend materielles Gepräge.
Feste reihten sich in unaufhörlicher Folge, ein Haus überbot das andere an
Speisen und Weinen, Dienerschaft und Tafelgeschirr, Kleidern und Edelsteinen,
Blumen und Musik. Ins Absurde gingen die Erfindungen des Luxus) das Hasten
und Jagen, um das am meisten „fashionable" Haus zu machen, entzog die große
Dame ihrer Familie und zehrte den Ehrgeiz der Töchter des Hauses auf, deren
„Beliebtheit" stieg und sank mit der Tatsache, was für ein Haus die Eltern
machten. Die jungen Heiratskandidaten drängten sich in solche Häuser, die dafür
Garantie leisteten, daß die spätere Gemahlin sowohl dazu erzogen war, diesen
Stil zu betreiben, als auch die Mittel besaß, ihn durchzuführen.
Schlimmer noch als die Luxuswut bei dem äußeren Verlauf der Gesell¬
schaften war der Mangel an wahren Freundschaftsgefühlen und geistigen Be¬
dürfnissen: das Strebertum, das eine solche „Dinergesellschaft" zusammenführte.
„Wer war da?" wurde eine wichtigere Frage als die „Wie war es?" Die An¬
wesenden des Salons nach ihrer bloßen Namenszusammenstellung machten in
größerem Maße den Ruf des Hauses aus, als Gang und Art des Festes. Auf
der einen Seite heißes Bemühen, sich gesellschaftlich zu lancieren, auf der anderen
der ängstliche Wunsch, von dem gesellschaftlich Geringeren abzurücken und ihm
begreiflich zu machen, daß er eben der gesellschaftlich Geringere sei. Und so tobte
der unsichtbare Kampf nicht um wirklich bestehende Unterschiede, sondern um bloße
Borurteile gesellschaftlicher Schichtung. Dies.ging so weit, daß sich den Rang
abliefen die verschiedenen Regimenter nach Waffe und Garnison, die Fakultäten
der Akademiker, Adlige und Bürgerliche, Beamte und freie Berufe, Fabrik und
Handel, Engros und Endetail.
In der Tat hat die Geselligkeit der letzten Jahrzehnte sich überlebt. Der
Sturz der Zeit riß auch sie mit. Es gilt also eine neue Geselligkeit schaffen mit
neuen Formen und neuem Inhalt. Gehen wir zurück auf das, was die Gesellig¬
keit sein soll: Seelische Gemeinschaft, Vereinigung mit seinen Freunden. Auswahl
trifft die Stimme des Herzens. Jugend und jugendliche Zeiten haben diese Aus¬
wahl meist richtig getroffen. In satten und reifen Jahren und Zeiten wird der
Strom kalt, der Instinkt unsicher, die natürliche Form Konvention. So war es
mit der Geselligkeit des beginnenden 20. Jahrhunderts. Geist und die ganze
zarte Kultur des Herzens fehlten. Es fehlten der herrsch.ende Gedanke sowohl
wie die wahrhaftige Gesinnung. Beides soll der neuen Geselligkeit Wert und
Wärme geben.
Wird das aber so sein, so sind die äußeren Einschränkungen, die im neuen
geselligen Leben Platz greifen müssen, leicht zu ertragen.
Wenn es meiner wahrhaftigen Gesinnung entspricht, dem anderen keine
Umstände machen zu wollen und ich es nicht nur sage, so schadet es nichts, wenn
ich den Freund picknickartig überfalle und mit Seelenruhe das von mir mitgebrachte
Abendessen lieber in seiner Gesellschaft verzehre als bei mir allein. Wenn mir
wirklich der Mensch wichtiger ist als die Aufmachung, so ist es mir einerlei, ob
meine Gäste nicht alle im vorgeschriebenen Kleide erscheinen. Es ist unmöglich,
daß ein ins Leben tretender Student, ein in den Zivilberuf übergegangener
Offizier sich einen Frack, einen Smoking, einen Cutaway, einen Gehrock, das
Anhängsel der dazu gehörigen Schupse, Kragen, Stiefel, Strümpfe, Mäntel,
Hüte, Manschettenknöpfe usw. anschafft, was doch früher alles den Nimbus des
„Elegants" ausmachte. Heute hat man weder Geld noch Zeit, am wenigsten
aber sollte man Sinn für solche Auswahl haben. Der vornehmste Anzug für den
Mann jeder Klasse ist der Arbeitsanzug, da nur die Arbeit in dem Ernst der
Stunde Würde verrät. Darum muß vor allem der Arbeitsanzug gut und
geschmackvoll und, soweit er nicht gerade eine spezielle Berufskleidung darstellt,
auch gesellschaftsfähig sein. Wenn man daneben noch einen schwarzen Anzug
besitzt, den man bei besonderen Festlichkeiten trägt, so ist der Bedarf des gesellig
lebenden Deutschen in dieser verzweifelten Zeit erschöpft. Und sollte einer meiner
Gäste von dem Zopf alter Gewohnheiten, die unter anderen Verhältnissen Be¬
rechtigung hatten, nicht lassen können, so werde ich schon versuchen, seinen Sinn
dahin zu wandeln, daß er die Menschen künftig nicht mehr nach Kravatten ein¬
schätzt. ES könnte eher vorkommen, daß ich ihm den scherzhaft angebrachten, aber
ernst gemeinten Rat gebe, sich den nächsten Anzug aus deutschem Stoff anfertigen
zu lassen,' den vielleicht weniger großen Chic würden wir dann an seiner Person
zu „tragen" wissen.
Wenn ich wirklich hilfsbereite Gesinnung habe, so werde ich einen durch¬
reisenden unbemittelten Freund ganz sicher auffordern, lieber auf meiner Chaiselongue
zu übernachten, als daß ich ihn den unerschwinglichen Preisen eines Hotels aus¬
setze. Mit dem „Wir haben kein Fremdenzimmer" ist es heute nicht mehr getan.
Wer wird in Zukunft noch ein Fremdenzimmer haben? Jetzt heißt es eben kleine
Opfer bringen. Heute erst, wo die „Geselligkeit" im bisher üblichen Sinne
aufhört, heute erst stellt sich heraus, wer wahrhaft gastlich ist. Heute erst mögen
wir wirkliche Gastfreundschaft beweisen, wenn wir den Freund an unserem
bescheidenen Mahl teilnehmen lassen. Traiteure bestellen und bezahlen kann jeder,
der das Geld dazu hat. Aber ein klein wenig sich einschränken in seinem guten
Appetit und das wenige Gute, was man hat, mit Freunden teilen, auch wenn man
selbst ein bißchen entbehren muß, diese Praxis ist selten.
Im Laufe der Jahrhunderte führte der Weg der deutschen Geselligkeit
vom geheiligten Gastfreund der alten Germanen bis zum „Geschäftsfreund" der
heutigen Zeit, begrifflich ausgedrückt: von der rein menschlichen Hilfsbereitschaft
für jeden, der mein schützendes Dach sucht, bis zur Erfüllung konventioneller
Pflichten, bis zur zweckmäßigen und rechnerischem Abschätzung der damit ver¬
bundenen Vorteile. Kehren wir zum Ausgangspunkt dieser Entwicklung, zur
edleren Auffassung unserer Vorfahren zurück!
^im ich wirklich hilfsbereit bin, so werde ich an den sich in jetziger Zeit
c>in"??^ steigernden Nöten des Freundes wieder mehr Anteil nehmen. Es
ti !? s'?"^'" ""^ bei Umzügen und Aussteuern, Geburten und Krankenlagern
abzuwerfen^ man muß wieder tätige Mithilfe leisten, wirklich
„teilnehmen" am Leben anderer.
von ^om ""^ Galligkeit wieder von Gedanken beherrscht wird anstatt
trösten ?v?^i^° '""6 man sich bei einem geistig fördernden Abend darüber
! o,ehe Unterhaltungen nicht mehr in einer Flucht von Zimmern statt-
finden, die nach Tisch rechts die Herren, links die Damen zu mehr oder weniger
bedeutungslosen Gesprächen aufnehmen.
Wenn wirklich Gedanken unsere Geselligkeit leiten, so wird sich in ihrem
Rahmen auch wieder produktives geistiges Leben entzünden, wie geistigere Zeiten
es kannten. Weimars Musenhvf, die Kreise der Romantiker, die Salons der
Varnhagen .... diese Beispiele zeigen, daß es eine Geselligkeit geben kann, die
fruchtbarer ist als Diners und Soupers.
Gewiß hat der Deutsche von jeher Neigung gehabt, bei geselligen Gelegen¬
heiten in materiellen Genüssen zu .schwelgen. Wer weit gereist ist, weiß, daß der
Nordländer in seinem Genußleben unmäßiger ist als der mit schwächerer Physis
ausgestattete Südeuropäer. Die trunkenen Festlichkeiten der Med und Wildschwein
genießenden Germanen stehen im grellen Gegensatz zu den Gastmählern der
Griechen, bei denen das Maß und die Kallokagathia, die Schöngutheit, als selbst¬
geladene Gäste zugegen waren. Heute aber sollte nicht nur aus ästhetischen
Gründen Urmaß und Volleres verpönt sein, sondern vor allem aus nationalen.
Geselligkeit sollte überhaupt nicht oder nur aus ganz bestimmten Anlässen in
Abhaltung von Mahlzeiten bestehen, schon um nicht die karg bemessene Volks¬
ernährung noch mehr zu beschneiden) die Darbietung einer bescheidenen Erfrischung
nach der im eigenen Hause eingenommenen Mahlzeit genügt.
Wird ein Volk sich erfolgreich gegen feindliche Erdrosselungsversuche wehren
können, dem es eine unerfüllbare Zumutung zu sein scheint, sich die unnötigsten
Dinge abzugewöhnen? Nicht mehr ausländische Parfüms und Seifen zu benutzen,
fremde Liköre und Weine zu trinken, ausländische Konfektion zu tragen? Oder
gibt es doch noch immer Leute, die solche Dinge bewundern? Die der um das
Wohl ihrer Familie täglich kämpfenden deutschen Hausfrau die elegante Nichts¬
tuerin vorziehen, deren Attitüde von der Pariser Halbweltsdame kaum zu unter¬
scheiden ist? Es ist kein Platz für solches Tun und ebensowenig für solches
Bewundern in der kommenden Geselligkeit deutsch empfindender" und nach Wahr¬
haftigkeit strebender Menschen!
Nur ein paar Gedanken waren es, die hier zur Anregung des eigenen Nach¬
denkens gegeben wurden. Eins sei noch betont: daß nichts verkehrter sein würde,
als die durch die Zeitverhältnisse gebotene Vereinfachung der geselligen Form
etwa mit Formlosigkeit zu verwechseln. Aus der Bekämpfung äußerer Uberkultur
folgt noch nicht die Aufforderung zu Nonchalance und Ungepflegtheit. Niemand
wird wünschen können, daß Nur das heutige rücksichtslose Gebaren des Publikums
auf Eisenbahnen und Elektrischen, an Bank- und Postschaltern, die UnHöflichkeit
.von Männern gegen Frauen, Jungen gegen Alte, als neue, freie und erstrebens¬
werte Form empfinden. Die Form ist nicht alles, aber sie ist etwas. Es hat
keinen Sinn aus dem Etwas nichts zu machen, weil es nicht alles ist. Retten
wir also die edle Form in die neue Geselligkeit, aber beugen Nur ihre Starrheit,
füllen wir sie mit Geist!
Allzu groß sind am Ende die Opfer nicht, welche die Erneuerung des
menschlichen Gemeinschaftslebens von uns verlangt. Aber gerade die kleinen
Opfer sind oft schwerer zu bringen als die großen) denn sie sind nicht getragen
von dem Pathos des Heldentums, das trotz allem erhebt und tröstet und versöhnt!
Nur Mühe wird gefordert, die Mühe der Umstellung, Mcinkrieg mit ureigenster
Bequemlichkeit und Anstrengung, beständig Phantasie, Denkkraft und Willen wach
zu halten, um Kritik, Überwindung und Neuschöpfung zu üben. Denke keiner:
es nützt nichts, wenn ich es tue, wo doch so viele andere es nicht tun werden.
Richard Wagner hat einmal gesagt: „Deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer
selbst willen tun". Das unselige Blicken aus andere hat schon manche Kraft
gebrochen! Handle ich zuerst, so kann ich auch den Glauben haben, daß meine
Tat ihre Kreise zieht,- denn nichts geht unter im vielerlei des Geschehens, und
alle Tat wird wieder Motiv. Wenn wir uns gewöhnen, auch die individuellsten
Dinge des täglichen Lebens unter die große vaterländische Idee zu stellen, so
werden wir damit den ersten Schritt tun, diese materiellste aller Zeiten zu über¬
winden. Wenn wir die größte wirtschaftliche Not, in die je ein Volk schicksalhaft
geriet, anfangen zu bejahen, d. h. danach zu handeln, anstatt wie bisher sie durch
unser Verhalten noch immer wegzuleugnen, dann erst haben wir den Grund gelegt
zu neuen Entwicklungen, die auf Verlogenheit und Schein nicht gedeihen können.
Zu solchen Taten haben sich Männer und Frauen aus allen Schichten des Volkes
im„Bunde der Erneuerung wirtschaftlicher Sitte und Verantwortung"
(Berlin °W 35, Schöneberger Ufer 36a) zusammengefunden. Sie erlassen den
Weckruf an alle, daß jeder auf den Gebieten des täglichen, wirtschaftlichen Lebens
seine nationale ethische Pflicht tue, und wollen durch Sammlung der Geister alle
Tatfreudigen stärken.
^turn heult sein uraltes Schauerlied ums Haus. Hagel und Regen
schlagen gegen die Fenster. Die alten Bäume im Gerten nebenan
beugen sich ächzend, kampfesmüde. Schwer liegt die lichtverlassene
Winternacht auf meiner umdüsterten Seele. Da spricht einer das
Wort: „Isenburg". Ich lausche in suchender Sehnsucht. Ist's
nicht auf einmal lichter geworden? Hat sich der müdegeraste Sturm zur Seite
geschlichen? Leises Raunen und Rauschen klingt herüber aus weiter, weiter Ferne.
Es ist das Lebenslied der alten Buchen und Eichen, die hinausblicken zu den
trotzigen Mauerresten der einst so stolzen Isenburg. Ich liege hoch oben zwischen
den Ruinen im gelben Ginster, über mir im unendlichen Blau Lerchenjubel.
-Ole Sonne brennt auf dem Ginster, als wolle sie ihn als feurigen Busch ent¬
zünden., Betäubend duften Hollunderbüsche, die ihre breiten, weißen Gesichter
ilir^M^ Aschen das tief schweigende Mauerwerk drängen. O könntet ihr reden,
^erste s?"^ ^ Prächtige Säle umschlossen, ihr tiefen, geheimnisvollen
^ ' ^'^ ihr Türme mit den unheimlichen Burgverließen. Einst raunten
My^??^ ^r Vergangenheit. Leben und Schicksal eines mächtigen
Geschlechts spalten sich in der stolzen Burg ab.
trollend bin^ ?bar überragte sie die bewaldeten Hügel, schaute schützend oder
) vmao ins Tal, zu den Niederungen der Menschen, die ihre Hütten schütz-
suchend an ihren Fuß drängten. Dort steht noch fest und trotzig das alte
Eingangstor. Welcher Art waren wohl die Menschen, die es durchschritten?
Wuchsen dort oben in der stolzen Einsamkeit Edelmenschen heran, wahrhaft Adlige?
Aus den hohen Bogenfenstern grüßte ihr Blick als Nachbarn nur bewaldete
Bergeshäupter, in der Ferne den Felsen der Alteck, hinter den Wäldern den ver¬
trauten Turm der Braunsburg. Sahen glucks- und schönheitstrunkene Augen in
diese Täter hinab?
O Lebensmittag, feierliche Zeit!
Und wenn die Burg vergraben lag im Schnee, wenn der Wind an den
hohen Bogenfenstern vorbeiraste?
Rang sich dann der Schrei der Sehnsucht aus der stolzen Einsamkeit der
Wenigen hinunter in die linde, weiche, lockende Gemeinschaft der Vielen? spähten
verlangende, suchende Augen nach Sonnenuntergang, wo die Abendröte das
glitzernde Band des Rheins aufleuchten ließ, des deutschen Stroms, an dem der
Pulsschlag des deutschen Lebens war?
„Wir lernen alles aus dem Schutt der Zeit,
Und aus Ruinen hebt sich die Vergangenheit."
Der tiefste Kern der Eindrücke, die man zwischen diesen Ruinen erhält, ihre
fast schmerzhafte Großartigkeit bleibt dem Wort entrückt. Man fühlt hier, daß
das Lebensgefühl, der Siegerwille, das seelische Herrschertum der Menschen, die
in längst versunkenen Zeiten die Bergesluft hier atmeten, nicht mit ihnen unter¬
gegangen, nicht verloren ist. Es lebt hier verborgen, treu aufbewahrt von
Mutter Erde für ihre müden, abgehetzten, zerrissenen Kinder, die aus dem lauten
Tag herauf zu den schweigenden Ruinen fliehen.
Als ich im Tal das alte Burgtor durchschritt und langsam zur Höhe
hinaufstieg, sah ich zurückblickend so viel menschliche Mühseligkeit, so viel UnVoll¬
kommenheit und Klage. Dort am schroffen Abhang holten Leute mit unendlicher
Mühe Gras für ihre Ziegen herunter. Auf jener Sonnenseite des Berges waren
mit rührender Sorgfalt Gemüsegärten angelegt. Auf den großen Steinen im
wilden Bach standen Frauen und wuschen Wäsche. Armselig und schwer erschien
mir das Leben in den gedrängten Hütten unten im Tal. Doch die Größe und
Schönheit der wunderbaren Natur hier legt sich wie linde, weiche Mutterhände
tröstend, beschwichtigend auf alle Mühsal, alles Leid. Der köstliche Wind, der
von den Höhen rasch mal ins Tal hinabspringt, fegt die Schleier von den Augen
fort. Die Sonne zündet in hundert trüben Fensterchen Freudenfeuer an. Fernes
Lachen klingt zu mir herauf, helle Kinderstimmen. „Auf den Bergen ist Freiheit!"
Jetzt trifft die scheidende Sonne noch einmal den stolzen Strom dort in der
Ferne. O du heißumstrittener, geliebter Rhein) es gibt nicht deinesgleichen im
deutschen Land. Und ich denke bei seinem Anblick «n jenen anderen schönen
deutschen Strom, an dessen Ufern auch Burgen stehen, von deutschen Rittern
erbaut, mit deutschem Blut verteidigt. Verloren! In Feindeshand! — Die
Feste Ehrenbreitstein auf schroffem Felsen leuchtet zu mir herüber. Von ihr
herab weht das Sternenbanner. Ein Flammenzeichen vom Berge, das sich nicht
diss genug in unser Herz graben kann.
Ich gehe noch einmal über den Burghof, trete aus dem Ruinenfeld. Bor
mir liegt ein kleiner Friedhof, der letzte Höhenweg der müden Talbewohner,
daneben ein Kirchlein, wunderbar malerisch in diese Welt hineingestellt. Die
Menschen haben versucht, die gewaltigen Andachtsgedanken, die in den Bäumen
rauschen, in Stein zu bannen. Ich kenne nichts, was den Gegensatz zwischen
dem „Allumfasser, dem Allerhalter" und dem zagenden, vergänglichen Menschen¬
kinde schärfer zum Ausdruck bringt als solch ein düsteres, einsames Kirchlein auf
dem Berge, umrauscht von Urweltsliedern. Goethe sagt einmal: „Die Gottheit
ist wirksam im Lebendigen, aber nicht im Toten) sie ist im Werdenden und sich
Verwandelnden, aber nicht im Gewordenen, im Erstarrten." — Noch einen Blick
aus dem Portal des Kirchleins über die Wälder, die Täter, und ich reiße mich
los von den Stätten, wo ich „unaussprechliche Worte Gottes" vernehmen durfte.
jäh Aufblühen des österreichischen Verlagsbuchhandels in den letzten
Jahren wollen viele als eine Valutaspekulation abtun, die nur für
kurze Zeit berechnet ist. Sie verkennen damit die ernste besonnene
Arbeit, die im Rahmen der neuen Verlagsgründungen wie in den
kleineren alten Häusern geleistet wurde und sie verkennen auch den
langgehegten Wunsch österreichischer Schriftsteller, für ausgesprochen österreichische
Werke in ihrer Heimat tatkräftige Vertreter zu finden.
Der Verlag Streiche in Wien war einer der ersten, der mit Büchern jüngster
Richtung in Osterreich herauskam. Seine Autoren sind in der Mehrzahl Grosz-
stadtbegabungen, eigenwillig und sehr intellektuell. Damit soll nicht gesagt sein,
daß die Bücher dieses Verlages eine allzu bedenkliche Annäherung an die „letzten.
Uterarischen Moden" erkennen lassen. Die Gedichte derElisabeth Ianstein
sind von der wundervollen Schlichtheit und Größe der Form, wie sie einst nur
vie Droste schuf, wie sie nur die unerhörteste und keusche Erlebnisnähe zu Welt
und Ich schenkt. Ihre „Gebete um Wirklichkeit" strömen aus Tiefen, in die wohl
selten sonst ein Weib sah und sind erfüllt von einem Ernst, dem das Spiel mit
dem Wort Frevel wäre. Auch FranzSpundas Dithyramben „Astralis" ist j«n-
ul,n?^ gegeben, welche die Welt aus dein Gefühl zu erfassen sucht und
eine La^r^^" Zusammenhängen vordringt. I o s ef G r e g o r ist es gelungen,
Sooden ?? ^ geahnten Sinn, ihre Wesenheit in einigen formenklaren
drinat er " ^ '^in zu lassen. Und derart - als Maler und demütig schauender —
ist die von K heimlichen Landschaften der Seele. Ein sehr schönes Werk
aus Österreich ^ Reinhardt herausgegebene „Botschaft" (Neue Gedichte
die in Werfet i's,.^^?^ ^r lebendiges Bild jener österreichischen Jugend,
gestellt ist chi um^ ^ Da diese Sammlung sehr persönlich zusammen-
Grm b t ^'es in einer Sammlung aus Österreich nicht
fehlen dürfte. Eines der besten Bücher des Verlages sind die „Miniaturen" von
Johann Pilz, Pilz stammt von deutschen Bauern und so lebt in seinen
Gedichten jene blutstolze Kraft, jene keusche Innigkeit, die wir in Großstadtbüchern
vergebens suchen. Manche seiner Gedichte sind so starkes Erlebnis, daß man sie
nie vergessen kann. Sehr verdienstlich und empfehlenswert ist die Sammlung
„Rossija", russische Lyrik in Nachdichtungen von K. R o elk i n g h o f f. Dieses
Buch öffnet die Tore zu einer Welt, die den deutschem Menschen wundersam ver¬
wandt anmutet — zur Seele des russischen Volkes. Naturbilder von köstlicher
Einfachheit, Empfindungen so erdennah und blühend gefund!
Abseits der jüngsten Richtungen arbeitet der A l in a es e ni v c r l a g des
Deutschschweizers Dr. Heinrich Studer. Seine Verlagserscheinungen lassen
eine zielsichere Richtung erkennen. Eine Brücke zwischen den süddeutschen Stämmen
der Schweiz und Österreichs zu schaffen, ist sein Ziel. In seinem Verlagsalmanach
bekennt der Herausgeber, daß er alle auf kulturellen Gebiet sich laut und aufdringlich
geberdenden kommunistischen und farblos internationalisierenden Tendenzen scharf
ablehne. Das sind tapfere Mannesworte in unseren, Tagen! Von seine» Büchern
nenne ich des Schweizers Faesi fesselndes Buch über Rainer Maria Rilke, das
den österreichischen Lyriker in seelischer Verwandtschaft mit Hosmannstal,
C, F, Mayer, vor allem aber mit Thomas Mann, dessen Buddenbrooks auf eine
tiefe und schwermütige Weise mit Rittes „Malte Laurids Brigge" zusammenklingen,
erkennt und Rilke vor allem als religiösen Lyriker unserem Verständnis nahe
bringt. Auch Max Hochdorfs Studie „Zum geistigen Bilde Gottfried Kellers",
Nanny von Eschers u. „Alt-Zürich", Fraenkels durchgeistigtes Porträt
„I. V. Widmann", fügen sich in das Verlagsprogramm glücklich ein. Wien und
der österreichischen Kultur ist manches Buch des Verlags geweiht, so das so anmutig
plaudernde Erinnerungsbuch einer alten Burgschauspielerin, der Wilbrandt-
Baudius „Aus Kunst und Leben", des Dichters Kobald schönes, reich
bebildertes Werk „Alt-Wiener Musikstätten", das auf einer Wanderung durch
Wien dessen große musikerfüllte Vergangenheit vor uns lebendig werden läßt.
Hierher gehört auch eines der letzten Verlagserscheinungen, I, M i n o r s gesammelte
Theateraufsätze „Alis dem alten und neuen Burgtheater". Die von F o u r n i e r -
Winkler herausgegebenen „Tagebücher von Gentz" sind eine wertvolle Be¬
reicherung für jede Bücherei, enthalten sie doch bisher Ungecrucktes. Eine Tat
auf verlagstcchnischein Gebiet darf die soeben begründete Kleine Amalthea-Bücherei
genannt werden, die ihr Daseinsrecht darin sieht, Mcistergobilde aller Literaturen und
Epochen in einer dem Wesen des einzelnen Werkes nachgefühlten Ausstattung einer
breiteren Öffentlichkeit darzubieten. Jedes Bändchen wird einem wesensverwandten
Blichkünstler anvertraut, der den Werdegang des Buches voll den Bildbeigaben
über Typcnwahl und Buchschmuck bis zum Vorsatz und Einbandentwurf überwacht.
Für die erste Gruppe zu sechs Bänden zeichnet Dr. Karl Tods als Herausgeber.
Anakreon, Marie de France, die Legenden des heiligen Franz von Assisi, „Nineonete
und Cortadillo" von Cervantes, wie „Vathek" von Beckford, erfüllen je eines der
Bändchen, die je mit 8 bis 10 Originallithographien oder Dreifarbendrucken nach
Aquarellen erster Künstler wie Emil Preetorius, Karl Alexander
Wille, Otto Friedrich und Maximilian Liebenwein geschmückt
sind und so kleine, rund geschlossene Kunstwerke für sich bilden.
Der österreichische Verlag „W it a" (Wiener Literarische Anstalt) arbeitet
insofern großzügig, als er sehr tatkräftig für seine Bücher eintritt. Dieser Verlag
müht sich im Gegensatz zu den meisten anderen Verlegern in Österreich, die mehr
Spezialitäten in geringeren Auflagen herausbringen, um den Auflagenerfolg seiner
Bücher in anerkennenswerter Weise. Daß ihm trotz mancher Erfolge im allgemeinen,
der einzelne große Erfolg versagt blieb, mag in den Zeitverhältnissen liegen. Die
„Wila" pflegt den guten Unterhaltungsroman konservativer Richtung, verlegte aber
auch einige andere Nomanwerke'von hoher literarischer Bedeutung. Delle Grazies
Roman „Homo" und Rent ers Roman „Der Abend des Heinrich Biester" wären
an erster Stelle zu nennen; während „Homo" eine aufwühlende Sinfonie des
Menschheitserlebens „Krieg" darstellt, ist Reuters Buch fern aller Beziehung zur
Jetztzeit, ein Brich wundervoller Stille, erfüllt von der sonnigen Reife eines warmen
Dichterherzens. Die besten Bücher des Verlages sind seine Novellenbände. Da
sind drei Bändchen des jungen Grazer Dichters Bruno Eitler, die ein lite-
rarisches Ereignis genannt werden dürfen. Bruno Ertler ist ein Eigener. Un¬
bekümmert um Konjunktur und Mode geht er seinen Weg, welcher der steile Weg
eines ringenden, deutschen Menschen ist. Seine „Königin von Tasmanien", ein
strahlend keusches und männliches Werk, erzählt von dem Werden eines jungen
Menschen an den Widerständen der Welt. Seine Novelle „Venus die Feindin"
weiß um bitterste Mannesnot am Weibe, aber sie weiß auch um jene letzte Einsamkeit,
in der allein sich der heilige Gral höchstem Sehnen neigt. Seine „Venus am
Morgen" erzählt von der harten Tugend der Menschen mit blondem Haar, die Ent¬
sagung heißt. In diesen drei Büchern ist kein spielerisches Wort, keine Gier, und
keine Schwäche. Es sind sehr deutsche und sehr menschliche Bücher im letzten Sinne.
Auch Terra in a r e s Novelle „Mathias Grcmdegger" ist ein Kunstwerk von starker
Eigenart und zeigt den tiefschürfenden Scclenkenner, während desselben Autors
Bühncnwerk „Ein Spiel von der Geburt des Herrn" die köstliche Einfalt eines
liefen Dichtergemütes offenbart. Hans Nüchterns ernste, nordische Art er¬
weist sich am reinsten in seiner wuchtigen Novelle „Der Haß gegen die Stadt".
Pontius Pilatus ist der Held dieses Buches. Der römische Statthalter, Rom
selbst und sein Kampf gegen Juda, gegen dieses Volk schachernder Priester und
Verbuhltcr Frauen, ist sein Inhalt. Wie die stolzen Römer dieses Jerusalem begehren
"ut hassen, wie jeder müde und verbraucht wird an dieser Stadt, die mit Waffen
"'ehe zu tiefst zu bezwingen ist, wie das Volk der Juden mit heimlichen, fremden,
^gifteten Mitteln arbeitet und der Römer sich schließlich dieser heimlichen liber-
^gerben beugen muß, das ist prachtvoll gestaltet. Von den Lhrikwerkcn der „Wila"
Und die Bücher der Grazer Dichter Bruno Ertler und Julius Franz
schütz an erster Stelle zu nennen. Ertlers „Eva-Lilith" ist von der Schönheit
Ader Volkslieder erfüllt und jenem Ernst, dem das Wort nicht Inhalt, sondern
.Meet ist. Julius Franz Schütz ist ein Gottsucher von trotziger Eigenwilligkeit,
>arbig und stark in seinen Rhythmen, frisch zupackend in der Gestaltung. Fernweh
"ach unerhörten Erlebnissen der Erde und Heimweh nach den Tiefen des Besinnens
grüßen sich verheißend in seinen Dichtungen. Die „Wila" bringt viele, fast zu
'>ele Bücher heraus. So befindet sich manches unter den Verlagswerken, das ver-
i mund und enttäuscht, wie Maria Lameth expressionistisch sein möchtendes
"Pastorale" und der allzu unreife „Vogel Sehnsucht" E r n se F i s es e r s, ferner
die wenig anziehenden Legenden Paul Rainers. Entschieden hat die „Wila"
aber heute im österreichischen Verlegerwescn eine führende Stellung inne.
So hat der österreichische Verlagsbuchhandel in den letzten Jahren ernst ge¬
arbeitet. Das alles ist freilich nur ein Anfang. Denn noch! kommt das in Österreich
verlegte Buch wenig über Österreich hinaus und das mag mit ein Grund sein, warum
eine große Anzahl der österreichischen Autoren ihre Werke lieber dem deutschen Ver¬
leger anvertraut, dem das österreichische Schrifttum so viel verdankt. Ein weiterer
Grund ist Wohl der, daß sich der österreichische Verleger nicht zu den Honoraren
seiner deutschen Kollegen entschließen kann. Der östereichische Schriftsteller wird
in Osterreich sehr schlecht bezahlt. Das mag ja nun wohl auch daran liegen, daß
der östereichische Verleger sich erst den deutschen Markt erobern muß, um größere
Auflagen absetzen zu können. Es liegt aber natürlich auch daran, daß es dem
österreichischen Verleger in diesem Punkte an der nötigen Großzügigkeit fehlt lind
so kommt es, daß der österreichische Autor seine größeren Romane immer wieder den,
deutschen Verleger überläßt, und nur kleinere Bücher an den österreichischen Ver¬
leger vergibt, der mit diesen wieder nie größere Erfolge haben kann. Auch der
österreichische Schriststeller muß leben!
Der österreichische Verlagsbuchhandel hat allen Widerständen trotzend, eine
verheißende Kraft geoffenbart. Mit besonderer Freude dürfen wir wohl jene Ver¬
lagshäuser begrüßen, die sich zum Ziele gesetzt haben, nicht nur die Zahl der Groß-
stadtbücher zu vermehren, sondern die dem österreichischen deutschen Menschentum
dort nachspüren und von dort seine Reinsten Kräfte anziehen, wo es noch am reinsten
lebt und schafft, im flachen Lande, in den Alpenländern, in den kleinen ProvinZ-
städten. Das könnte eine Bereicherung des deutschen Volkstums geben, die von
ungeahnter Bedeutung wäre. Denn es sind viele, die jenseits, der großen Städte,
den Bergen nahe und dem jungen Wind, der über Äcker streicht, ihren eigenwilligen
Weg gehen und harren, daß man sie rufe, zu Tat und Werk des Wiederaufbaues.
Es sind viele, die sich Verladern und verschenken wollen in diesem unglücklich«!,
armen Lande Osterreich.
Bor dem 1. Mai. In dem Augenblick, da diese Zeilen geschrieben werden,
sind die Zeitungen voll von Nachrichten über neue deutsche Borschläge wie Deutsch¬
land den Forderungen des Versinller Vertrages am besten Genüge tun könnte.
Neue Vorschläge? Nachdem wir so und so viele Male unser äußerstes Angebot
gemacht haben? Bereits im Oktober vorigen Jahres ist (Grenzboten, Heft 40/41)
an dieser Stelle gefordert worden, daß man ein endgültiges und festes Angebot
macht. Man hat mir damals eingewendet, die Wirtschaftslage, die ungelöste
Oberschlesienfragc, die Ungewißheit über Amerika gestatte die Aufstellung solcher
Pläne nicht. Was aber hat man in London getan? Die Lage der Wirtschaft war
genau so ungewiß, in Oberschlesien war nicht abgestimmt und über Amerika war
man nach wie vor im unklaren. Dennoch hat man Pläne aufgestellt. Aber in
London war es bereits zu spät. Man hätte es niemals zur Pariser Konferenz
kommen lassen dürfen. ES gibt keinen plausibler Grund, der dieses Versäumnis
entschuldigte.
Aber man hat in London noch mehr getan. Man hat nicht nur ein Höchst¬
angebot gemacht, man hat dies Höchstangebot binnen acht Tagen überschritten.
Und man verlangt/ daß irgend jemand im Ausland deutschen Versicherungen hin¬
fort Glauben schenke? Nachdem dann die Londoner Konferenz gescheitert war,
nachdem alle Welt (in Deutschland) begeistert war über das „erste deutsche Nein"
und versicherte, „wir lassen uns nicht zwingen", werden unter dem Druck der
„Sanktionen" neue Vorschläge formuliert. Endgültige? Wer kann es wissen.
Obwohl fast die gesamte Pariser Presse diese Vorschläge — noch ohne sie zu
kennen — ablehnt und als AufschubSmanöver kennzeichnet. Erinnert die Lag?
nicht verzweifelt an die Zeit des deutschen Friedensangebots von 1917?
Kein Zweifel, daß sich die politische Leitung seit London überaus listig
benommen hat. Zunächst erweckte man den Anschein, als wollte man Amerika
um Vermittlung bitten. Es wäre ja auch wunderbar gewesen, wenn man die
russische oder englische Illusion nicht alsbald gegen eine neue, die amerikanische,
ausgetauscht hatte. Hatten nicht die beiden bösen Ententegcgner nebst
dem unsicheren Kantonisten Italien Angst vor Amerika? Würden sie nicht
schleunigst ducken, wenn der mächtige Emporkömmling ihnen befahl, Deutsch¬
land mit Nachsicht zu behandeln. (Mot We-de.bovcl, sagen die Flamen von Pferden.)
Ja, wenn! Wann werden wir endlich lernen, uns nur auf uns selbst zu verlassen?!
Wenn irgend etwas in der bei allem durch den Krieg neugewonnenen Selbst¬
bewußtsein sehr vorsichtigen und auch durch die Botschaft des Präsidenten noch
lange nicht geklärten Politik sicher ist, so ist es Amerikas feste Entschlossenheit, sich
auf alle Fälle, soweit es businsss irgend zuläßt, außerhalb der innereuropäischen
Streitigkeiten zu halten. Ferner übersah man, daß die Stimmung in Amerika
noch nie so deutschfeindlich gewesen ist, wie gerade jetzt. Das Schlimmste aber
war wohl die wiederholte Beteuerung, Deutschland wolle „bis zur Grenze seiner
Leistungsfähigkeit (Dresel quittierte sogleich mit der Ententenuance: Zahlungs¬
fähigkeit) Schadellersatz leisten". Bis zur Grenze seiner Leistungsfähigkeit? Aber
diese Grenze ist ja gerade strittig. Und was heißt Leistungsfähigkeit? Die Franzosen
wollen jetzt ja sogar das Gold der Reichsbank, die ein Privatinstitut ist, rauben
und machen Vorschläge, die deutschen Privatleute auszuplündern. Die Grenze der
Leistungsfähigkeit liegt beim Verrenken! Wir »vollen nicht verrecken.
Gesetzt den Fall, daß wir nach bisher hier und da üblichen Grund¬
sätzen, da wir den Krieg verloren haben, bezahlen müßten, so lagen die Ver¬
hältnisse bei Eingehen' des Waffenstillstandes doch wesentlich anders. Es
gab «nämlich einmal gewisse 14 Punkte, in denen Kriegsentschädigungen
abgelehnt wurden. Aber Wilson ist „mort ot enterrö". Es soll weiter
als richtig angesehen werden, daß der Unterlegene für die Schäden auskommt,
die er aus militärischer Notwendigkeit angerichtet hat. Die zerstörten Berg¬
werke, die zcrschrottcten Maschinell, die rasierten Obstbciume, dle Schädigungen
"er Deportierten, das alles müßte dann bezahlt werden. Das wäre eine Korse
P'euz der Niederlage. Man könnte auch darüber streiten, ob wir das tragen sollen,
was aus der Gegenseite aus militärischer Notwendigkeit zerstört worden 'ist. Aber
da hört es auch auf. Wir haben keine Lust, eine Rechnung zu bezahlen, an deren
genauer Nachprüfung wir verhindert werden. Wir haben keine Lust, die französischen
^chieberlöhne für den Wiederaufbau, die französischen Unternehmergcwinne, die
unfähigen französischen Wiederaufbaubeamten, die Bcstechungsgelder für Abschätzungs-
wnnnissionen und Architekten zu zahlen. Wir haben keine Lust „bis zur Grenze
der Leistungsfähigkeit" Kohlen zu drinnen, damit Frankreich damit Exporthandel
treiben uno die Wiederherstellung der eigenen Bergwerke als unrentabel vernach¬
lässigen kann. (Schon in den nnzerstörten Bergwerken muß die Arbeit gestreckt
werden.) Wir haben keine Lust, die Kosten für eme Besetzung zu tragen, die, wie
M letzt auch wohl für den Dümmsten herausstellt, weiter nichts ist als eine ver-
'Weierte Annexion und für die sich angesichts der fortschreitenden Entwaffnung
Deutschlands auch nicht die leiseste Notwendigkeit mehr anführen läßt.
Das Schönste aber kommt noch. Nachdem man sich von Amerika eine kühle
Abfuhr geholt hat, reist der deutsche Außenminister „zur Erholung" in die Schweiz.
Warum auch nicht? Das Pensum war ja aufgesagt. Man hatte Nein gesagt.
Was konnte man weiter tun? Das heißt, eigentlich hatte die Entente Nein gesagt.
Aber was war da zu machen? Man mußte eben abwarten. „Bis zur Grenze
der Leistungsfähigkeit." Aber die war nicht sehr groß. Bereits am 11. April
verkündete Jules Sauerwein im „Matin", der Reichsminister habe ihm mitgeteilt,
Deutschland wolle neue Angebote machen. Er sagte diesmal nicht: äußerste. Aber
er orakelte: „Wir müssen verhandeln, bevor wir neue Angebote machen, die zu
einer neuen Ablehnung führen könnten, was bei der augenblicklichen Spannung
eine schwere Gefahr wäre". Also trotz den widerrechtlichen Sanktionen wollte man
die Flinte nicht ins Korn werfen? Sehr brav. Aber wie wollte man verhandeln,
ohne neue Angebote zu machen? „Ich habe niemals auf die Uneinigkeit unter den
Alliierten gerechnet. Also muß man mit Frankreich verhandeln." Nein, dann
mußte man mit der Redaktionskommission verhandeln. Um aber diese Vorschläge
zu qualifizieren, nannte sich der Minister „einen Mann, der viel mehr das Gefühl
für unsere Verpflichtungen hat, als diejenigen, die ihre Blicke hauptsächlich auf die
innere Politik lenken""und beteuerte, daß er über die Zahlungsfähigkeit Deutsch¬
lands viel optimistischer denke als viele andere. Im übrigen müsse er sich erst
mit seinen Kollegen besprechen.
Alle Welt in Deutschland ist perpler. Das erinnerte ja an die schönsten
Improvisationen Wilhelms II. Und genau wie im vorigen Jahre heißt es vor¬
sichtig: so kann er das ja nicht gesagt haben und man säuselt etwas von ungenauer
Übermittlung, bis der über solche Dementis mit Recht verärgerte Korrespondent
des immerhin nicht ganz einflußloser Blattes den Tatbestand feststellt. „Mein
junger Mann!", entschuldigt sich Herr Simons. Und Herr von Simson geht aus
Urlaub. Aber zu bedeuten hat das nichts.
Nun wird also ein neues Höchstangebot gemacht werden. Die Entente wird
es konsequenterweise in Erwartung eines noch höheren ablehnen, ein Ultimatum
stellen, und die Franzosen werden einmarschieren. Denn seit Herr Lehgues,
Mitterands Platzhalter im Ministerrat, über die Intrigen der Unentwegten stürzte
und Herr Briand täglich vom IZIm: national vorgepeitscht wird, hat sich dieLage geändert.
Da auch die hoffnungsfreudigsten Franzosen begriffen haben, daß sie auf das ihnen
als Ersatz für ihren Verzicht auf das linke Rheinufer zugesicherte französisch-englisch¬
amerikanische Garantiebündnis nicht mehr rechnen können, da ihnen zudem der
englische Streik vor Augen führt, daß selbst eine Unterstützung Englands ihnen
nicht jeder Zeit sicher ist, so sind sie entschlossen, das linke Rheinufer und w'vmöglicl^auch
das Nuhrgebiet zu annektieren. Es liegt ihnen — Briand selbst hat das deutlich
genug zu verstehen gegeben — jetzt gar nicht mehr so viel daran, über den Friedens-
vertrag eine Einigung zu erzielen, deren Ergebnisse selbst in: günstigsten Falle zu
gering wären, um die Rieseulöcher im französischen Budget auszustopfen, sie ziehen
es vor, sich an Rheinland und Nuhrgebiet selbst unmittelbar schadlos zu halten.
Daran kann kein deutscher Vorschlag mehr etwas ändern. Amerika wird, soviel
ist sicher, Frankreich nicht hindern,' und auf England braucht man jetzt keine
Rücksicht zu nehmen, da man infolge des Spa-Äbkommens Kohle im Überfluß
besitzt und von England somit unabhängig ist, das angesichts der Gefahr zu¬
künftiger Verwicklungen mit Amerika (z. B. in Sachen des mesopotamisehen
„Maubads") nicht riskieren kann, sich die diplomatische Unterstützung Frank¬
reichs zu verscherzen. So großen Wert auch Briand in seinen Reden auf
ein geschlossenes Vorgehen der Alliierten legt, zur Not kann man es gerade jetzt
recht gut wagen, allein auf das wehrlose Deutschland loszustürzen. Man wird sich
in Frankreich acht mobilisieren lassen? Oh, das wird schon gehen. Man macht
es wie einst in Casabianca, man provoziert so lange, bis sich die friedliche
Bevölkenmg empört. Dann ist die „deutsche Hinterhältigkeit" bewiesen und die
„deutsche Gefahr" wieder da. schlimmstenfalls verschärft man in Frankreich
künstlich die Arbeitskrise und engagiert freiwillige Arbeitslose.
Nein, die Aussichten sind nicht günstig für Deutschland. Weil wir nicht
wissen, was wir wollen und alles aufs Geratewohl durcheinander und gegen¬
einander arbeitet. Die Zusannnenhangslosigkeit zwischen den einzelnen Andern
einerseits, zwischen ihnen und der öffentlichen Meinung anderseits ist schlimmer
denn je, zumal auch die Ausnutzung außenpolitischer Verhältnisse zu demagogischen
und parteipolitischer Zwecken bei uns das Maß des in allen Ländern Üblichen längst
überschritten hat. Anstatt auch nur den Versuch zu machen, seine Landsleute, da der
Feind vor den Toren steht, zusammenzureißen, appelliert der deutsche Außen¬
minister, die eigene Gesinnung rühmend, ans Ausland. Schon wieder zeigt jeder,
anstatt zu säuseln, anstatt das Höchstmaß an Begabung und Diplomatie zu ent¬
falten, auf den andern: der hat schuld, wenn die Sache nicht gut geht.
Damit all diesen betrüblichen Vorgängen auch das Satirspiel nicht fehlte,
berieten zu Anfang des Monats die Sozialsten in Amsterdam über den Wieder¬
aufbau. Der Gedanke, angesichts der genugsam erwiesenen Unfähigkeit der bürger¬
lichen Regierungen, in der Wiederaufbaufrage zu einer billigen, vernünftigen und
für alle' Teile' vorteilhaften Regelung zu gelangen, das Problem jetzt von
sozialistischer Seite her in die Hand zu nehmen, lag ja nahe genug. Aber wie
alle Pazifisten war auch diesen Reformatoren mehr am Zank denn an Handeln
gelegen. Statt einer Versammlung gab es drei, die — hauptsächlich natürlich
Wieder infolge der Haltung eines Deutschen — es — aus prinzipiellen Gründen —
sorgfältigst vermieden, sich untereinander zu einigen und somit nicht nur jedes Recht
verwirkten, auf die Unverträglichkeit der bürgerlichen Regierungen zu schelten,
sondern auch den Anspruch, daß ihre Resolutionen besonders beachtet würden. Wo
immer man hinblickt, Europa scheint zum Untergange reif und das ständige Lieb¬
äugeln aller europäischen Staaten mit'Amerika zeigt, daß Europa vor sich selbst
abzudanken und zu einem Erdteil zweiter Klasse herabzusinken im Begriffe ist. In
Frankreich Napolevnitis, in Deutschland Unklarheit und Anarchie^ in Rußland
Ruin, in England Revolution oder doch Revolutionsgefahr, die die Lebensquellen
des Landes zu verstopfen droht. Das ist das Paradies, das man den Völkern
nach dem Frieden gebracht hat. —
Im Ausland war das wichtigste Ereignis der große Streik in England.
Einen Augenblick schien es, als ob Lloyd George auf das falsche Pferd gesetzt hatte.
Hielt der „Arbeiter-Dreiverband" zusammen, so lag die bürgerliche Negierung an
Boden. Aber die Arbeiter selbst erkannten im letzten Augenblick, daß ihr Sieg
nur auf Kosten des allgemeinen Ruins zu haben gewesen wäre und rückten in
letzter Stunde von den 'intransigenten Elementen ab. Wie dringend die Kohlen-
swge der Regelung bedarf, geht aus der Tatsache hervor, daß der englische Export
gegen 1913 auf etwa ein Drittel gefallen, der amerikanische auf das Neunfache
angewachsen ist. Noch bedenklicher sind folgende Zahlen: in den ersten zehn
Monaten 1919 exportierte Amerika nach Südamerika 1 456 285 t, nach Europa
Z 917 t, 1920 nach Südamerika 2 850 297 t, nach Europa 10 935 015 t, nach
Ägypten 1919 36 043 t, 1920 501 515 t. Die amerikanische Kohle stellt sich in
Europa fast an 4 Shilling billiger als englische. Macht man sich klar, daß das
britische Welthandels'shstem'auf der Möglichkeit, Kohle zu exportieren, basiert
wir!) 's°> '"an ermessen, was das für England bedeutet. Entweder England
Semlin ^ ^elthandelshegemonie aufgeben oder die Kvhlcnpreise senken müssen,
unter ^„ »^""üter werden darüber seufzen, daß wieder gerade die Arbeiter
mitaelwl -» Notwendigkeit zu leiden haben werden. Aber haben sie nicht tapfer
Es gäbe ^^^ä gegen Deutschland mittels der Hungerblockade zu „gewinnen"?
teil haben sollte ^ nicht auch sie an den Ergebnissen dieses Krieges
^
In der 1911 erschienenen „Geschichte der Frankfurter Zeitung" wird gesagt,
„daß sie (die Zeitung) von Anfang an den Beruf in sich fühlte, nicht so sehr
von Parteiwogen sich tragen zu lassen, als geistige Lenkerin der öffentlichen Meinung
zu werden".
Es ist nicht uninteressant, ciiunal nachzuspüren, in welchem Sinne die Frank¬
furter Zeitung die öffentliche Meinung zu lenken sich bemühte. Zwei deutsche
Zeitungen') haben sich in den letzten Wochen der Arbeit unterzogen, in früheren
Jahrgängen der Frankfurter Zeitung zu blättern. Es verlohnt sich, einige Stellen
herauszugreifen, und man ivird finden, daß sich die jeweilige Leitung dieser Zeitung
zum Ziele gesetzt hat, den Einhettswillcn in Deutschland zu untergraben, das sich
regende Nationalbewußtsein zu ersticken, gegen die Oberen zu Hetzen, das Volk
aufzuwiegeln und unter dem Deckmantel demokratischer Bestrebungen fremden
Raffen und Völkern Einfluß auf die Geschichte des deutschen Volkes zu verschaffen.
Man wird weiter finden, daß die Frankfurter Zeitung nicht kleinlich in der Wahl
der Mittel ist, um die öffentliche Meinung zu lenken, wenn es ihr darauf ankommt,
die Staatsautorität zu unterhöhlen, daß sie dann unbedenklich den Ausweg wählt,
den zu loben, den sie einst geschmäht, kurz, daß ihre Taktik ist, den einen Deutschen
oc en den anderen auszuspielen. Das hohe Ziel „Einheit von Reich und Volk"
war von jeher für sie von untergeordneter Bedeutung, solange sie nicht die Mög¬
lichkeit sah, dabei ihre undeutschen und feindlichen Interessen dienenden Zwecke zu
erfüllen. Einige Beispiele mögen genügen:
Als Vismarck 1862 von König Wilhelm I. an die Spitze' des preußischen
Staatsministeriums berufen worden war, begrüßte ihn die Frankfurtern mit
den Worten:
„Also diese Krautjunker, deren Gesichtskreis durch ihre Rüüenfelder beschränkt
ist, diese Nachteulcnburger einer noch übcrmanteuffcltcn Reaktion, diese Kasernen-
Polterer, deren ganzer rhetorischer Ehrgeiz darin besteht, die .Kammer, den Präsidenten
und die Glocke zu überschreien, diese Schäker, die hinter der Tür stehen und dann lachend
hervorschwänzeln, diese ganze Gesellschaft, die ein sonderbares Gemisch von Untcr-
offizierswescn, Pietisterei, uckermärkischcr Grandezza und kladdcradatschiger Tollheit ist,
soll den Fürsten gut bedienen?"
Nach Vismarcks Entlassung, als es darauf ankam, dein jungen Kaiser die
Demokratie geziemend zu empfehlen, schreibt sie, nachdem sie Lassalles vernünftige
Gedanken,
„daß die Diener der Fürsten keine Schönredner, aber doch praktische Männer
seien, die gleichviel ob mit mehr oder weniger ausgearbeitetem theoretische:» Bewußtsein,
doch den Instinkt haben, worauf es ankomme",
mit den Worten abgefertigt hatte:
„Dies ist eine von den groben Schmeicheleien, wie sie aus dem Munde keines wahren
Demokraten kommen."
am 21. März 1890:
„Das ,Niemals' seines Großvaters, dessen Erneuerung ein Organ der Kartell-
Parteien als die einzige Lösung der Kauzlcrkrtsis, welche die Nation zu beruhigen ver¬
langt hatte, hat Kaiser Wilhelm (II.) nicht ausgesprochen. Fürst Bismarck hat den
erbetenen Abschied erhalten »ut die Nation ist ruhig____"
und am 1, Januar 1891:
„Der Sturz Bismarcks war eine Art Erlösung für Deutschland an Haupt und Gliedern.
Persönlichkeit und Tradition, mehr aber noch ein charakterloser Knechtssinn hatte die
Machtstellung des ersten Reichskanzlers zu einem Absolutismus gemacht, der unbezwing-
lich zu sein schien und sich auch als unbezwinglich dünken mochte. Die Nation hatte
den Anfang gemacht, diesem Wahn entgegenzutreten, ihr folgte mit einer Entschlossenheit,
deren volle Bedeutung erst die spätere Generation wird würdigen können, die Krone
und erfüllte damit eine doppelte Aufgabe: ihre Macht wiederherzustellen und dem Volks-
uiillen Genüge zu leisten."
Die Einigung der deutschen Stämme am 18. Januar 1871 veranlaßt die
Frankfurter Zeitung in einer späteren Betrachtung am 22. Februar 1871 fest¬
zustellen:
„Wenn jemals einem Volke statt des verlangten Brotes ein Stein geboten wurde,
so geschah dies durch die in solcher Weise erfolgte Wiederherstellung der deutschen
Kaiserwürde."____„Die Süddeutschen werden um 50 Jahre zurückgeworfen, die wichtigsten Resultate
ihres Verfassungskampfes werden mit einemmal annulliert."
Nachdem sie an 3. Dezember l870 berichtet hatte:
„Fast jedes Zeitungsblatt, das seit der Publikation der Verträge mit Bayern und
Württemberg uns zu Händen kommt, bestätigt unsere Bemerkung, daß niemand in
Bayern und Württemberg — den Moniteur am Nescnbnche etwa ausgenommen — ein
dem deutschen Einigringswerke rechte Freude hat."
fügte sie am 4. Dezember 1870 hinzu:
„Der eben bekannt werdende Vertrag der bayerischen mit der preußischen Regierung
wegen Beitritts zum Nordbundc hat wenigstens bei manchem- schmerzlichstes Erstaunen
erregt."
25 Jahre später hat sie dann begonnen, die Bedeutung der damaligen Er¬
eignisse zu erkennen und sie bequemt sich, sie zu würdigen mit den Worten:
„Jedem das Seine, an Preis und Ehren. Zu solcher Feier ist in erster Reihe die
deutsche Demokratie berechtigt und berufen, denn sie hat, „ob finstre Nacht, ob Heller
Sonnenschein" sich stets zu der Idee der nationalen Einheit bekannt...."
Ja sie meint sogar, es sei
„selbstverständlich, daß aus der Waffenbrüderschaft auch eine politische herauswachsen
müßte und also natürlich war es, daß diese Einigung durch Angliederung an den nord¬
deutschen Bund geschehen müsse. Wo die Notwendigkeit gebietet, bedarf es keiner
besonderen Überredungskünste."
- Und sie kommt in demselben Aufsatz vom 18. Januar 1896 zu der Ansicht,
daß es für Vismarck kein leichtes Werk gewesen sei,
„das er auf seine Schulter nahm, er hatte seine Hauptgegner gerade in. dein Lager, aus
dein er hervorgegangen war, in dem preußischen Junkertum---- Es galt für Bismarck,
den Widerstand dieser Elemente zu brechen und sich zugleich an die Spitze der nationalen
Idee zu setzen, um sich ihre Hilfe zu sichern. Den Boden dafür hatte ihm die wiedcr-
aufstrebende Demokratie bereitet, die ihren Mittelpunkt im Nationalverein fand".
Diese Ansicht hatte sie aber nicht gehindert, einige Jahre vorher, als das
geweckte Nationalbewußtsein sich in Volkskundgebungen gegen die Entlassung Bismarcks
regte, am 27. Juli 1892 zu schreiben:
„Diese Tage haben auch auf alle Parteien gewirkt und brachten mich aus dem Lager
des Zentrums und der Freisinnigen Ovationsfrcudige. Was dabei einen befremdlichen
Eindruck macht, ist der Umstand, daß vor dem Gedanken „Träger der nationalen Idee"
alle anderen wichtigen, den Fürsten betreffenden Erwägungen und Erinnerungen zurück¬
gestellt wurden. Vismarck war doch ein gewalttätiger Mann, der allen Parteien und
jedem, der nicht seinen Ideen diente, rücksichtslos den Fuß auf den Nacken setzte. Daß
diese Tatsache von dem Teil der Bürgerschaft, der in diesen Tagen so begeistert getan
hat, ignoriert wurde, ist ein schlimmes Zeichen für die Kraft und das politische Denken
der Bürgerschaft."
Inzwischen haben wir ja in Deutschland reichlich Zeit gehabt, die Bedeutung
des Verlassens bismarckischer Politik zu würdigen, und scheinbar ist auch die Frank¬
furter Zeitung sehr schnell — schneller jedenfalls als man annehmen konnte —
anderer Ansicht geworden, denn drei Jahre später ignoriert sie selbst diese Gewalt¬
tätigkeiten. Sie spricht am 31. März 1895 von der
„von weiser Voraussicht diktierten Mäßigung", „die den Grund legte, daß im Jahre
1870 Alldeutschland sich gegen den französischen Friedensbruch erhob, daß wir nicht
zum zweiten Male Österreich gegen Preußen in Waffen sahen. Das war das Werk
Bismarcks, das war die segensreiche Frucht einer Politik, die beherzt zu treffen und
weise zu schonen wußte, wo Großes auf dem Spiele stand...."
Und am 100. Geburtstage des Altreichskanzlers, am 1. April 1915 versteigt
sie sich sogar zu der Ansicht, daß durch den Frieden, der dem Weltkriege folgen
werde,
„noch reiner als jetzt schon Millionen Deutscher Bismarcks Bild' für die ganze Nation
historisch, nur noch als das des gewaltigen. Vollenders der deutschen. Einheit und das
des Gründers des Deutschen Reiches dastehen, und er wird, von der Legende verklärt, in
Erz und Stein und in dankbarem Gedächtnis kommender Generationen dauern: als der
stärkste politische Wille, als der deutscheste Deutsche, als der männlichste Mann. Z»
ihm wie zu einem Nationalheros wenden sich die Gedanken und Herzen von Millionen
am 100. Jahrestage seiner Geburt mitten in diesem Kriege, in dein wir innerlich und
äußerlich einig, wie als etwas Selbstverständliches, Hunderttausende von Menschenleben
und nie geahnte. Werte hingeben zum Schutz des Reiches, das er geschaffen hat und das
nach ihm und über ihn hinaus so herrlich gediehen ist, daß der Neid und die Furcht
der anderen als letzte Quelle sür die Koalition der Feinde festzustellen ist, die unsere
nationale Existenz jetzt vernichten wollen. Es entspricht in dieser schweren Zeit dem
Volksempfinden, daß am 1. April Stadt und Staat und Reich und nicht zuletzt der
Kaiser durch einen jungen Prinzen als seinen Vertreter — denn alle anderen, stehen
im Felde — um Bismarcks Denkmal gemeinsam Kränze der Dankbarkeit niederlegen.
Ein Gelöbnis und Bekenntnis liegt in diesem Hnldigungsakt, und eine Zuversicht und
starke Hoffnung".
Mit dem Talmisiege der Revolutionen und ihrer Gefolgschaft im November
1918 hat sich dann das Blättchen wieder zum Ausgangspunkt der politischen Be¬
lehrungen der Frankfurter Zeitung gewendet. Jetzt gilt es, alles das in Schmutz
und Dreck zu zerren, was einst Deutschland groß gemacht hatte, was die Plane der
Frankfurter Zeitung wirksam durchkreuzt hatte. Nun ist Vismarck wieder lediglich
der Gewaltpolitiker; jetzt ist er nicht mehr der gewaltige Vollender der deutschen
Einheit, jetzt heißt es (18.'Januar 1921):
„Bismarcks Sieg hat den unmöglich gewordenen, preußischen Klassensinnt gegen die
Natur erhalten und Deutschland darüber zugrunde gehen lassen."
Wir sehen, daß die Frankfurter Zeitung die öffentliche Meinung lenkt.
Historiker, Politiker oder Männer mit stnatsmännischem Verständnis scheinen nicht
zum engeren Mitnrbeiterstab zu gehören; sonst könnte die Bewertung historischer Er¬
eignisse und großer Staatsmänner nicht so wechselnd und gegenteilig sein. Aber
die Bewertung spielt bei der Frankfurter Zeitung keine Rolle; der Zweck heiligt
die Mittel; ihre Absichten sind immer die gleichen geblieben: Zersetzung des Deutsch¬
tums mit internationalen Pazifisten und Zertrümmerung der deutschen Einigkeit.
Die Hinwendung unserer Zeit zum Mittelalter bedingt auch die Verherrlichung
Asiens, und das berechtigte Mißfallen des Europäers am heutigen Europa begünstigt
diese Richtung. „Asien als Erzieher" wurde zum Schlagwort. Unsere lärmende,
massive, materialistische Art ist freilich nicht immer imstande, den richtigen Zugang
zu der leise abgetöntem östlichen Kultur zu finden, in der das Verwischen der
egoistischen Konturen die erste Borbedingung ist. Asien will gar nicht als an¬
spruchsvoller Erzieher uns gegenüber auftreten, sondern als alter Freund, der uns
stürmische und zur Zeit etwas bankerotte jüngere Vettern in die Köstlichkeit des
einfachen und doch durchgeistigten Lebens einzuführen bereit ist. Ein solcher Führer
ist Okakura-Kakuzo. Man trifft das Wesen Asiens nicht, wenn man von Haupt-
und Staatsaktionen ausgeht, sondern wenn man den Geschmack auch im schlichtesten,
die wählerische Genügsamkeit edler Gesellschaft, die heitere Beziehung des Alltäg¬
lichen auf das Letzte, die tröstliche Ironie zarten unpersönlichen Humors aufsucht.
Dies alles und vam einen geschmackvoll gewundenen Strauß kultivierter Über¬
lieferungen aus Philosophie, Kunst und Geschichte kredenzt dieser Japaner uns —
mit einer Schale Tee. Im Teekult liegt der Inbegriff jener Verbindung des
Kleinsten mit dem Größten, er ist „die Kunst, Schönheit zu verbergen, auf daß
Man sie entdecke, und anzudeuten, was man nicht zu enthüllen wagt". Wir sind
natürlich geneigt, diesen japanischen Teephilosophen erst skeptisch zu betrachten) bald
liber gewahren wir, daß er Grund hat, über uns Europäer zu lächeln, und wir
genießen von Kapitel zu Kapitel williger diese Philosophie des Tees, der „unsere
Seele unmittelbar wie eine Stimme überflutet und dessen feine Bitterkeit an den
Nachgeschmack eines guten Rates erinnert", um mit dem alten chinesischen Weisen
Wang M-es'eng 5" sprechen. K.
^ Die hauptsächliche Erkenntnis des Buches findet sich gegen den Schluß:
AM der Welt ist es wie eine Nacht in der Nacht, und es gibt zwei Morgen,
^er eine bricht aus dem Blut hervor, der andere aus dem Geist, verstehe es,
'^er Mag/ Gott ist in beiden, denn in beiden sind Lust und Heimweh, auch
Zuversicht der Wiederkehr, der Dauer, der Ewigkeit und Freiheit. Wie soll das
Herz sich entscheiden? Ist das nicht unser einziges Leid?" Der Held des Buches
^rd nacheinander von der himmlischen Liebe und von der Liebe zum Erdgeist
^griffen. Die sterbende Asja lehrt ihn das Glück der geistigen Lösung vom
^ben: „Krank zu werden ist viel schmerzlicher als krank zu sein, denn zu Anfang
lUhlt sich unsere Seele noch an die Welt der Sinne gebunden, in der sie gefangen
6g/ und wir verstehen ihre neue Freiheit nur langsam. Aber sie stellt sich wider
^?ern Willen ein, und mehr und mehr gelangen wir aus den Regionen des
A/gänglichen in die Bereiche des Unvergänglichen. Alle .Krankheiten sind Ent-
Mungen der Seele aus der Welt der Sinne. Ich glaube, daß der Tod der
AUste Wipfel dieser Höhen der Freiheit für unser Bewußtsein zu werden vermag."
^ !se für unsere Zeit bezeichnend, daß Literaten von Bonsels Art sich M't
derartigen Problemstellungen beschäftigen. Es führt nicht gerade sehr in die Tiefe
ö" neuen Symbolen, wenn Bonsels seine Asja die Dreieinigkeit so erklaren
in5 ."In der Liebe ist alles beschlossen, der Vater, das ist der Gehorsam in
^s,- der Sohn, das ist die Offenbarung in uns, und der Geist, das lst die
^Aemschaft." Und so ist noch viel krause Theologie und Mystik in das weiche,
sjjMo.se, zum Teil wenig erlebte Asthetentum dieses Buchs verwoben. Aber man
ans s Kne uralte Symbole auch wieder durch die Dunstkreise unklarer Welt-
'miauung hindurchzuschimmern beginnen. Satan ist für Asja die Mischung des
Lichts der Liebe mit der Finsternis des Unwahrhaftigen in unzähligen Schattieruugei?,
und die Auferstehung wird von ihr wesentlich gedeutet als Wiedergeburt der
Seele, die sich in der „Schmerzensfmsternis ihres Grabes" fühlt.
Nachdem Asja gestorben ist, fällt der Held des Buches in das Netz der
irdischen, der vergänglichen Liebe. Sein drängendes Blut, seine Sinne werden
gestillt, der Höhepunkt des Lebens wird erlebt. ' Aber die Kraft dieses Glücks hat
wesentlich in sich die Merkmale der Vergänglichkeit^ sie kommt aus der Erde und
erfüllt sich in ihr. Der Held lehnt sich auf gegen die „trügerische Standhaftigkeit
- des Vergänglichen". Es mag eine Erinnerung an Dante sein, wie der Wanderer
nun, von der irdischen Liebe sich scheidend, in der Nacht am Meeresstrand und
im Wald Pilgert, bis seine Beatrice, die verstorbene ASja, dem Gebrochenen und
Erschöpften als Vision erscheint und ihn aufstehen heißt. An der Formlosigkeit
der Komposition, der gekünstelter Schwere des Gedankens und der gesuchten
Diktion ermessen wir den Abstand solcher spirituellen Kultur zu der echten alten,
ähnlich etwa wie bei einem Vergleich moderner Christusmalerei mit derjenigen
des Mittelalters. Immerhin aber: Leben und Geist, Weltgenuß und Erlösung,
Ode und Wiederauferstehung sind wieder Themen der Modernsten geworden. Es
mag zweifelhaft erscheinen, was mehr dazu beiträgt, heute derartige Bücher zur
Mode zu machen, ihre gezierte Poesie — also der ungebildete Geschmack unserer
Zeitgenossen —, oder das Stammeln einer neuen Weltanschauung, also das
Zarteste und in seiner ganzen Verschwommenheit und Zerfahrenheit vielleicht doch
Das Westeuropäische Sekretariat der Kommunistischen
Internationale erfüllt seine Aufgabe, West- und Mitteleuropa mit der Gedanken¬
welt der Moskaner kommunistischen Cäsaren und ihres internationalen Anhangs
bekannt zu machen, in ausgiebiger Weise. Am meisten interessieren zweifellos
die Schriften Lenins, von denen die eine „Die Wahlen zur Konstituierenden
Versammlung und die Diktatur des Proletariats" (M. 1,20) behandelt, während
eine andere „Die Weltlage und die Aufgaben der Kommunistischen Internationale"
(Rede in der ersten Sitzung des Zweiten Weltkongresses der Kommunistischen
Internationale, Petrograd, 19. Juli 1920 (M. 1,30) wiedergibt. Zahlreich sind
die Schriften Sinowjews, der durch sein Auftreten in Halle im Oktober vorigen
Jahres unmittelbar in die deutschen Verhältnisse eingegriffen hat. Bon ihm
interessieren besonders der „Bericht des Exekutivkomitees der Kommunistischen
Internationale" (M. 3) und seine Programmschrift: „Was die Kommunistische
Internationale bisher war und was sie nun werden muß" (M. 1). Das wort¬
reiche Manifest des II. Kongresses der Kommunistischen Internationale: „Die
kapitalistische Welt und die Kommunistische Internationale" (M. 1) leitet hinüber
zu der besonders für deutsche Propaganda geschriebenen Kampfschrift Karl Nabels:
„Die Entwicklung der Weltrevolution und die Taktik der Kommunistischen Parteien
im Kampfe» um die Diktatur des Proletariats" (M. 3) und zu seinem Dioskuren¬
kampf mit den Unabhängigen „Die Masken sind gefallen. Eine Antwort an
Crispien, Dittmann und Hilferding" (M. 1,50). Der Moskaner Volks¬
beauftragte für Außenpolitik, Tschitscherin, spricht über „Die internationale
Politik zweier Internationalen!" (M. —,75). Von deutschen Parteigängern
schreiben Heinrich Laufenberg und Fritz Wolffheim gemeinsam über „Nation und
Arbeiterklasse" (2,— M.), „Revolutionärer Volkskrieg oder konterrevolutionärer
Bürgerkrieg? Erste kommunistische Adresse an das deutsche Proletariat" (2,—M.),
„Moskau und die deutsche Revolution. Eine kritische Erledigung der bolschewisti¬
schen Methoden." Einer ihrer Gefolgsleute, Otto Lindemann, der sich als Ober¬
leutnant a. D. bezeichnet, unternimmt es, die Grundlinien für den Aufbau des
revolutionären Heeres zu zeigen. Der nationalbolschewistische Justizrat KrüPN
g antz begründet in einem offenen Brief an Herrn Generalmajor von Lettow-
Vordeck den Kommunismus als eine nationale Notwendigkeit (2,— M.), und zwar
mit einer Nüchternheit, die wirksamer ist als der Aufruf von Josef Viera, „Natto-
nater Kommunismus, Deutschlands Bollwerk gegen Ost und West." Ein Weckruf
an den deutschen Michel. Verlag Bruno Kuehn, München. 3,— M.
Im allgemeinen braucht der Leser dieser Blätter vor diesen gefährlichen
Weltverbesserern nicht gewarnt werden.
Die vorstehenden Schriften, die in verschiedenen Verlagen erscheinen, im
allgemeinen durch die Parteipresse der V. K. P. D. oder den Kommunistischen
Kulturverlag, Hamburg 5, Steindamm 98, zu beziehen sind, gipfeln in dem von
Karl Räder eingeleiteten „Programm der Kommunistischen Partei Rußlands"
(Bolschewiki), Internationaler Verlag, Zürich 1920, das seine wahre Beleuchtung
erfährt, wenn man mit der Dichtung dieses Programms das Wirklichkeitsbild ver¬
gleicht, welches Arthur Feiler (Flugschriften der Frankfurter Zeitung (1,50 M.)
auf Grund der zuverlässigen Quellen von der „Wirtschaft des Kommunismus"
entwirft. Die kommunistischen Versuche des 19. Jahrhunderts schildert anschaulich
„Die kommunistischen Gemeinwesen der Neuzeit". Von Michael Tugan-
Baranowsky. Aus dem Russischen von Dr. Elias Hurwicz. Verlag Friedrich
Andreas Perthes A.-G. Gotha. 6,— M.
Es war an der Zeit, daß ein Buch über den deutschen Gedanken geschrieben
wurde, und es ist im hohen Grade erfreulich, daß es A. Rapp war, der auf diesen
glücklichen Plan verfallen ist. In Beschränkung auf das 19. Jahrhundert — das
dem vorangehenden gewidmete Kapitel kann als Einleitung angesehen werden —
Mittet das Werk eine ganze Fülle von Gedanken über Art und Volk der Deut¬
schen über uns aus. Der Verfasser tritt mit seinem Urteil meist zurück, ohne doch
Mendwie verleugnen zu wollen, wohin seine Vorliebe und seine Überzeugung geht,
^rotzdem also das Buch ganz vorwiegeich eine Wiedergabe der Ansichten Dritter
darstellt, ist eS voller Leben und es liest sich spannender als manche Schilderung
großer Ereignisse. Jeder Leser, auch der Fachmann, wird außerordentlich viel
^us ihm lernen, denn RaPP hat nicht nur diejenigen Worte gesammelt und Bücher
^nutzt, die uns geläufig sind, sondern er hat auch viel gänzlich Vergessenes aus-
hegraben, so z. B. die Werke von Gustav Diezel aus den fünfziger Jahren. Sehr
Menswert ist auch das Kapitel 11 über den Kampf um deutsche Art im neuen
^eus, der deutlich sichtbar seit den achtziger Jahren einsetzt. Wieviel von dem, das
"a gesammelt und lichtvoll dargestellt ist, war schon wieder fast völliger Bergessen-
anheimgefallen! Und doch handelt es sich dabei in besonderem Grade um
-Probleme von heute. Einen Höhepunkt deS Werkes bildet auch daS 8. Kapitel:
?u 5"^eutsch und Kleindcutsch" mit seinen vielfach neuen Gedankenqünqen und
Gesichtspunkten.
bei ?^ ^"es stimmt nachdenklich auf vielen seiner Blätter. Weit häufiger als
den Aderer Völkern finden wir den Nachweis des Wertes der eigenen Art bei
«ratschen. Selbst bei den „nationalen" Deutschen ist der nationale Gedanke
^enger ursprünglich und naiv als bei anderen Völkern. Wie oft kehrt der
wieder, nachzuweisen, daß die deutsche Art für die „Menschheit" besonders
sick? ""d unentbehrlich sei, statt daß der Deutsche aus selbstverständlichein und
,,Ä^in Stolz heraus für seine Art und sein Volk eintrete, eben weil es seine Art
so^.FM Volk ist. Daher letzten Endes die so oft beklagte Erscheinung, daß,
lx^/5 c Fremde auch Gutes und Schönes findet, vieles, was der „Mensch-
>x >ronn,t, er seine Art so schnell abstreift. Dabei faßt er den Begriff „Mensch-
das /u""es in völlig unklarer Weise, als ob es sich in ihr um etwas handelte,
sein?,- ^ . ^" einzelnen, und zwar selbst den größten Völkern stehe, um etwas
>"ner Art nach Höheres.
Bei der Begründung des Wertes der deutschen Art laufen dann zahlreiche
Urteile unter, über die man früher lächeln konnte und über die man heute weinen
möchte. Nur mit Schamröte kann man heute an das Programm Geibels denken,
wonach die Welt am deutschen Wesen genesen sollte, da doch heute die Gefahr
besteht, daß deutsches Wesen die Welt vergifte/ oder sich deS bekannten Gedankens
Fichtes erinnern, wonach deutsch sein und Charakter haben dasselbe sei, während
wir doch seit 2 bis Z Jahren den Eindruck haben, als müßte dieser Satz vollkommen
umgekehrt werden, um wahr zu sein. In der Tat: wir erschaudern ob der Fülle
von Charakterlosigkeit und Feigheit, inmitten der wir leben. Aber nein: wir
wollen nicht die Verirrungen und Illusionen einer verführten Masse und ihrer
Schmeichler für Äußerungen des inneren Wesens eines Volkes halten und nicht
alles, was Deutsche tun und sagen, und sei es ihre Mehrzahl, als Ausdruck
deutscher Art gelten lassen. Wir wollen sie hoch halten — freilich nicht, um damit
zu begründen, warum wir deutsch gesinnt sein dürfen — und sei es auch nur
als Postulat. Wie wir sie aber zu fassen haben — ganz gewiß neu zu fassen! —,
dazu bieten die zahllosen Äußerungen vergangener Geschlechter, die Napp gesammelt
hat und vor uns ausbreitet, auf alle Fälle wertvolle Fingerzeige.
Rücksendung von Manuskripten erfolgt nur gegen beigefügtes Rückporto.
Nachdruck sämtlicher Aufsätze ist nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlages gestattet.
Mein ganzes Unglück, in welchem ich mich lange Zeit
befunden habe, kommt allein nur daher, daß ich in Verhandlungen
mit meinen Feinden und Widersachern ihnen zuviel getraut
und vermeint habe.Wenn ich aber als Feind meinen Feinden nicht getraut
habe, wie es zu Zeiten wohl mag geschehen sein, ist es mir immer
durch Gottes Gnade und Hilfe glücklich und wohl ergangen,
anders kann ich, Gott sei Lob! nicht sagen; denn dann habe ich
gewußt, wie ich mich Feinden gegenüber zu verhalten hatte.
Gott der Allmächtige helfe mir weiter!Götz von Serlichingen zu Hornberg
Moderne
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ihr Wortlaut und ihr Wesen
gemeinverständlich dargestellt von
Dr. Karl Zuchardt
Preis 4,25 geh.. 6,50 gbd.
K. F. Koester, Uerlag,
^Halbmonatsschrift „Biichcr-
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Dies lZuen, veteres hier mit einem 8cKlag in
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senxvungen Kst, ersenien im
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^IltiVllp KlavierauSgnbc des Deutschen Kommersbuches besorgt von or. Karl Reiser t. s., ver-
s^lis,^ ' ^ ^teor». mehrte Aufl., enthaltend 720 Vaterlands-, Studenten- und Volkslieder, sowie ein- und
>"»n>nge Solo-Gesänge mit »lavierbegleitmig. 4« («4S S.) Geb. MI. 100,—
^!nelLebcnSgcscncn demi
Aufl. «Teile, s».
Sss,
Jolle, Dr.Die Ablöslma der Staatsleistungen an die Religions-
Die Schrift verlangt im Falle der Trennung von Kirche und StaatI-,
^bllsknast«»», ^- «» <s>c> S.) A-e 3»,-
u^i ' s>^' kathi'lische und evangelische !ki>ehe Ablösung der Staatslcistungcn in Grundstücken, ^ind
?l»>Iiz. N Mnsigabe ihres RrinertragS und beansprucht für die deutschen Konkordate die Anerkennung als völterrechtS-
>>Ub E..^">ruge im Sinne des Nit. 4 Reichsverfassung. Die Schrift ist nnentbeyrlich für obere und untere Kirchen-
""USbchdrdeu und insbesondere für den Politiker!
____ Die Preise erhöhen sich n»i die im Buchhandel üblichen Zuschlage.
^ Co. G.in.b.H. Berlagsbuchhandluna, Freiburg i.Br. / Durch alle Buchhandlungen zu beziehen
At«»K ^lib»l»K<le Vs^zu»
^örxerschcrft und Gemeinwesen
. (Grundbegriffe der Politik ^est 1)
! KK^^.' Nredergaun des Staates. — Zerschuna des Volkskörpers. — Der korporative Gedanke,
"rperschaftlichcr Aufbau. — Durch Selbsthilfe zum neuen Gemeinwesen--Preis Is Mi.
d?>n zA" r">v°rschafttichc Gedanke wird i
ÄH«>> Theorie ^le pdieser neuen Schrift von Max Hildcbert Boehin mi« ersten Male in sein-r
«», ">>v«u z-s. - ---.."»..» politische NcuauSrichtung erfasst. Die Schrift rührt an die Grundfragen der
>.,"°sie>, i-!>7 5!?' '"'6 "icht an den verengten und vereinseitigten Maßstäben der Partcilchrcn und Klassenvorurteile
'""'»g Wie Grundsätzlichkeit dieser Anregungen erfordert es, daß die junge Generation in Anerkennung oder Ab-
" i» dieser Se.inne auÄ ihre» Reihen Stellung nimmt.
^LNsehlsr,
^^ sivzis5ö
L
S
Um das
Leben der Angeborenen
Von Hermann Muckermann
LN. 4,30
Die fesselnde Schrift bietet eine eingehende
Erörterung des wichtigen Problems, das die dem
Reichstag vorliegenden Anträge auf Straffreiheit
von Eingriffen in das kennende Leben mit höchster
Dringlichkeit neu aufwerfen. Alle, die daS Wohl
von Kind und Mutter, von Familie und Volk
hüten dürfen, werden die ebenso sachlichen wie
edlen Ausführungen des bekannten Biologen
dankbar begrüßen.
Deutschlands Wiedergeburt
Von Medizinalrat or. Joseph Graßl
M> 16 —; geb. M. 20.—
Inhalt: i, Natur und Staat. — 2. Die Grundlagen
des Staates. ^- ». Der antike u. moderne Staat. — 4. Der
Dekalog «Is Staatsgrundgcsetz. — r> Die Fortbildung der
Gesellschaft n. des Staates. Die Juden als Rassevolt. —
«. Die Umwelt. — 7. Die Naturanlagen des deutschen
Volles. — «. Von der französische» bis zur deutschen
Revolution. — », Wir vor dem Kriege. — 10. Der Krieg
und die Revolution. — 11. Kapitalismus u. Sozialismus.
DcrBorwurs gegen die bürgerliche Gesellschaft. — 12. Ausiere
und innere Kampfe. — i». Arbeit — Kultur — Rasse. —
!«. Die Grundlage» des VolkSgesundheitslcbens. Die Erb¬
masse. Die Tätigkeit der Geschlechtsdriis-». Die Beherrschung
der Umwelt. — is. Die genitalen Blutdrüse» des Weibes
im Dienste der Rasse und des Volkes. — i». Situgltngs-
und Kletnkinderschuji. — 17. Die Verstaatlichung der Heil¬
behandlung. — 1». Zur Frage der Fruchtsähigt-it und der
Mutterschaft. — 10. Praktische Bauernhygiene. — so. Die
FrUH-h-. — 21, Die Milchdrüse der Mutter. — SS. Wohnungs-
Politir, — SS. Die Gemsinsam-Erziehung und die Lehrerinncu-
ehe. — se. Lösnngsversuch. — SS. Der Radikalismus. —
so. Die Stellung der Frau im Wirtschaftsleben. — 27. Die
überseeische» Wanderungen. — SS. Aussicht für die Zukunft.
Das Kommende Geschlecht
Zeitschrift für Familienpflege und geschlecht¬
liche Bolkserzirhnng auf biologischer und
ethischer Grundlage,
herausgegeben von Faßbender, Krohne, Krnse
Muckermann, Seeberg.
Einzclheft M. 4.60, Band von 4 Heften M. 1«.
Inhalt des i. Heftes: Vom Sinn der Ehe. (S-e-
lxrg.) — Die Familie im Einklang mit den LebeuSgesefzen.
(Muclermann,) — Frauensortschritt und Volksnachwuchs.
(Schallmayer.) — Zukunft der Beamtenfamilie. (Zeidler., —
Die Bereinigung für Familienwohl. (Kruse.) — Deutsche
Lebenskraft. (Hellpach.) — Die Gebildeten und die Frühche.
(v. Kopfs.) — Umschau.
Freiheit.
Von Dr. Albert Nachtigal.
Karl. M. 10 —
„Der Berfasser des vorliegende» kleine», fr>»si»»i»en
Buche» spricht von der Freiheit im höchsten und zugleich
tiefste» Sinne: im philosophisch-religiösen. Freiheit ist für
den Verfasser in erster Linie Unabhängigkeit und LoSs-in
von sich selbst...... Erst wenn der Mensch dnrch das
Stahlbad der Not hindurchgegangen ist und im Leide -inen
Giirungsprozefi durchgemacht hat — erst dann empfangt er
die Weihe des Leben» und geht der Freiheit -reg-g-n . . .
Man kann s-in Buch ein Buch des Trostes nennen.»
_ <Halb«rst«dder Tageblatt.)
Ferd. Mmmlers Uerlag. Kerim SW 68
lP-fesche» Kerim I4S)neues sum von
^Valdemar öonsels
Nie
WMiMeilMW
MM von N.E.StMler
Preis <s.?s Mark
Die Ursachen der russischen Märzrevolu¬
tion »SN. Der Bolschewismus und seine
Ueberwindung. — Bolschewismus und
Mirtschastsl-b-n. — Der konmi-ut- «rieg.
Bolschewistisch- w-ter-volutlon-plane. —
Ist Spartakus besiegt? — Weltkrieg —
welttragödi- — lveltbolschewismus. — Die
Revolution und das alte Parteiwesen. —
Der einzig- Iveg zum Weltfrieden, — Mein
Aktionsprogramm. — Anarchischer Jusom-
menbruch «der solidarischer Wiederaufbau.
Sonord Stabeler, der geistig- Führer der
antibolscheroistisch-n B-weg»ng und Vor¬
kämpfer geg-n parteiezoismus in Deutsch¬
land, ist durch seine überaus «rfolgreich-
voriragstätizkeit s-it der Revolution in
weit-se-n Ar-is-n b-kannt g-word-n. Das
vorliegend« Buch bietet ein« zeitgemäße
überarbeitete Ausgabe seiner wichtigsten
vortrüge und bildet ein treffliche- g-istig-s
Rüstzeug zur Bekämpfung des Radikalismus,
zur Erneuerung unseres Volkes und damit
zur Lösung der europäischen Aeitfragc».
K.z.K««dz>«r, N»l«,>z-«V!»»Gros und
die Evangelien
ZluFl den Kotizrn eine?Vagabunden
^t?>'ut? se/östäTt^'s-s /^»/'tsetsuns
MmühmVege
AuB den Korizrn einrzi Vagabunven
«i»Kv» »«,««« Hx«i»»Vl»re
Vo»n »e/im Vt?/-/«s»e»- »se s^so^>s?is7l
Indientchrt
IV«,VUV «x««»pi»rv
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S-^s/tet/Z.Zt?^/.. schun«?«» S0?ick.
V»r«I» »tlo K»«I»I»»i»«.
!!>»uAei,
Verlag Rütten ^Toening
ManSturt am Main
eit dem Jahre 1909, in welchem Bethmmm Hollweg das Reichs¬
kanzleramt antrat, hat der deutsche Staat in einem beschleunigten
Zeitmaß abgerüstet, die Geister und den staatlichen Organismus
demobilisiert. Mehr und mehr wurden, während England und
Frankreich seine härtesten Männer an die Spitze stellten, bei uns
harte Männer ausgeschaltet. Im Jahre 1917 vollzogen die weichen Männer
ihren entscheidenden Durchbruch in der Friedensresolntion, und sie siegten 1918
im Oktoberkabinett des Prinzen Max. Nun ging es in reißenden Zeitmaß
bergab. Alle die weichen Männer jubelten zunächst. So wie einst der Mensch
und der Gorilla auseinander traten, dieser ungeheuer an Maul und Bauch, jener
groß durch Schüdelbildung und Gehirn, so sollte jetzt eine abermalige entscheidende
Höherführung der Weltentwicklung eintreten, indem auf der ganzen Erde Macht¬
gier und Herrschsucht, Vermchtungsfreude und alle sonstigen altherkömmlichen tier¬
artigen Eigenschaften des homo s-Msos verschwänden. An Stelle des sinnwidrigen
Kriegswütens sollte sich der „Tempel der Menschheit" erheben, herrlicher als ihn
Fidus entwarf, denn welche Kräfte und Mittel wurden mit einem Male für das
goldene Zeitalter der menschlichen Organisation frei in dem Augenblick, da wir
uns alle das Wort darauf gaben, die Begriffe Macht, Nation und Raub
abzuschwören.,
Stiller wurde es von diesem Traum und immer stiller. Und heute ist es
davon fast ganz still, und heimlich sieht sich der deutsche Schwärmer um nach
harten Männern. Aber sie finden sich in seinem Staat nicht mehr und der Staat
kann und darf sie nicht mehr finden. Denn unser Staat ist unfrei geworden, ein
Gefangener des Feindes und des Versailler Vertrages, ein Gefangener seiner
eigenen durch so viele Jahre bethätigten Grundsätze, welche den Lebensnotwendigkeiteu
unseres Volkes widersprechen und nun das Leben der Nation selbst zum äußersten
Rande der Not und des Unterganges zurückgedrängt haben.
Da der Staat nicht mehr frei ist und er sich seine Freiheit nicht wieder
schaffen kann, so erwacht die Gesellschaft langsam zu der Notwendigkeit und der
Pflicht der Selbsthilfe. Der Begriff der Macht ist für sie erloschen. Aufgestiegen
ist neu für sie der Begriff der Freiheit. Nachdem alle Hoffnungen auf England,
Amerika, die französischen Sozialisten usw. so und so oft vergeblich abgetastet und
als Nebelbilder erkannt werden mußten, ist eine dunkle, noch ziellose Freiheits¬
sehnsucht die Grundstimmung derer geworden, welche leben wollen, weil sie leben
müssen. Die anachronistische und widerwärtige französische Politik gehorcht ihrem
eigenen Gesetz, welches Napoleonismus heißt. Indem Deutschland entwaffnet ist,
wird Frankreichs Macht automatisch in das Vakuum Mitteleuropas hereingesaugt.
Wohin das führen soll, macht sich niemand klar und am wenigsten die französischen
Staatsmänner, die von ihren Eintagserfolgen ihren Lebensunterhalt bestreiten,
solange, bis das ganze Vakuum durch das vergebliche Klirren französischer Waffen
ausgefüllt sein wird. Was dann ist, weiß kein Mensch/ nur eines wächst und
wächst: die Klarheit in 80 Millionen Deutsch sprechender und fühlender Menschen:
daß jetzt kein Geldverdienen, kein Lebensgenuß, kein individuelles Streben mehr
Sinn und Geltung haben, bis alles zusammen durch die so notwendige Freiheit
seinen Wert zurück empfängt. Die deutsche Freiheit hat wieder ihren alten
goldenen Klang, und es gibt auch im Innern keine Freiheit mehr ohne Freiheit
nach außen.
Wenn dn Inder in das ihm vom Engländer infolge der geschickten indischen
Nationalistenpropaganda endlich eingeräumte Parlament nicht hineingeht, solange
bis der letzte Engländer herausgegangen sein wird, so ist das noch kein indischer
Staat und keine indische Macht, auch keine indische Freiheit) aber es ist Selbst¬
hilfe und eine unvermeidliche Etappe auf dem Weg zur Freiheit. Wenn der Ire
an seine Aepublik glaubt und ihr ideales Bild für wirklicher hält als die reale
Gestalt des Tom Aelius, der mit vollem Patronengürtel den Union Jack auf dein
Dach der Dubliner Statthalterburg schützt, so ist dies noch keine Macht, kein
Glück, keine Freiheit/ aber es ist eine unvermeidliche Etappe auf dem Weg zur
Freiheit. Wenn der Bürgermeister von Cork und andere mit ihm im englischen
Gefängnis Hungers sterben, weil sie gegen die Einkerkerung ihrer Person durch die
Engländer und die Knechtung ihres Volkes durch dieselben Engländer zur Zeit
noch keine andere Rechtsverwahrung einlegen können, so ist ein solch qualvoller
Tod für den einzelnen ein Unglück und doch das schönste Los: denn es ist eine
unvermeidliche Etappe auf dem Weg zur Freiheit. Wenn jetzt unsere Zollbeamten
im Rheinland nicht einmal mehr ihr Amt niederlegen und ins unbesetzte Deutschland
übertreten dürfen, wenn sie sogar nur noch mit Erlaubnis ihres neuen Vorgesetzten
Philippi, eines deutschen Überläufers, der Franzose geworden ist, die Straße
betreten dürfen, so ist ihr Dienst zu einer wahren angeketteten Galeerenarbeit
geworden. Wenn aber sie selbst und diejenigen Deutschen, welche an der neuen
Zollgrenze durch diese grün bekleideten deutschen Landsleute zwangsweise für eine
widerrechtliche Erpressung des Feindes einer Taschendurchsuchung sich unterziehen
lassen müssen, bei diesem symbolischen Akt der Knechtschaft einander mit einem
langen Blick ansehen, mit einem Vlick der sich findet, nachdem solange die Blicke
der Deutschen untereinander noch Zwietracht und Hader geschossen haben, dann
ist ein solch erwachender Blick zwar noch keine oooxeration im Sinne der
Inder, noch kein standhafter Opfertod im Sinne der Iren, aber er ist eine
unumgängliche Etappe auf dem Weg zur Selbsthilfe, eine unvermeidliche Vor¬
bedingung auf dem Weg zur Freiheit.
Am Tag dieser Niederschrift ist die Note des Ministers Simons an Harding
abgegangen. Der Leser dieser Zeilen wird um einige Tage unterrichteter sein
als ihr Schreiber. Aber auch heute schon ist folgendes vollkommen klar. Der
deutsche Staat hat aufgehört, als eigener Willensträger zu existieren. Wenn er
es einmal wieder werden sollte, so würde ein vollständiges Herumwerfen des
Steuers Vorbedingung sein. Simons steuert den Bethmann-Kurs weiter, und
man mag ihn beurteilen wie man will, er steuert ihn wenigstens konsequent.
Zum zweiten Male ergeht die Kapitulation an England und Frankreich auf dem
formalen Umweg über New-Uork. Wenn die erste Kapitulation des Prinzen
Max im Oktober 1918 von gewissen Illusionen begleitet war, so dürfte dies bei
der zweiten im April 1921 kaum mehr der Fall sein. Die eigentliche Weltlage
wird heute durch die Möglichkeit eines Krieges zwischen England und Amerika
bestimmt, wenn dieser Krieg selbst auch noch in weiter Ferne liegt. Seine bloße
Möglichkeit aber regelt das Verhältnis der vier einzigen Großmächte unserer
Tage, England, Amerika, Frankreich und Japan. Amerika braucht erstens Zeit¬
gewinn, um seine Flotte zu vollenden, und zweitens Bundesgenossen. In Japan
hat es einen sicheren Gegner. Es bleibt als wertvoller Bundesgenosse nur
Frankreich. Amerika ist zur Zeit bestrebt, ein Bündnis mit Frankreich abzuschließen,
das seine Spitze selbstverständlich nicht gegen den Schatten Deutschlands richtet
^ der ist nur für das Publikum im Parterre da —, sondern gegen England.
Frankreich, die umworbene Macht, hat das Interesse daran, sich zwischen England
und Amerika die Hände möglichst lange frei zu halten. Deutschland, welches
nicht aktiver Staat, sondern nur eorxus vile ist, dient für Amerika wie für
England als Kompensationsobjekt gegenüber Frankreich. Als zweites Motiv
spricht bei Amerika allerdings der Wunsch, mit Deutschland wieder in das Welt-
geschähe zu kommen. Aus diesem Grunde ist für Deutschland die versuchte
Anlehnung an Amerika immer noch aussichtsreicher als die an England. Eine
eigentliche Anlehnung freilich wird es niemals werden/ Amerika wünscht einen
lebendigen, starken Freund, nicht einen leeren Schatten zu umarmen.
Simons hat dies begriffen und deshalb bietet er über Amerika eine glatte
Kapitulation an, weil er weiß, daß Hartig irgendwelche ernsthaften Vorbehalte
nicht an Paris weitergeben würde. Simons' ganzer diplomatischer Erfolg —
wenn es überhaupt einer wird — kann von vornherein nur darin bestehen, eine
Gelegenheit zu finden, nunmehr das zuzugestehen, was man in Paris und London
von uns verlangt, Simons aber bisher abgelehnt hat, mit anderen Worten, er
bittet um die Erlaubnis, diejenige Todesart zu wählen, die uns seinerzeit vom
Henker vorgeschlagen und von .Ms damals noch abgelehnt worden war. Die
Simonssche Politik ist insofern konsequent, als sie auf der schiefen Ebene, die
wir seit dem Friedensangebot von 1916 beschritten haben, nicht gerade jetzt halt-
machen will. Selbstverständlich wird es immer schwerer, auf einer schiefen Ebene
haltzumachen, in je beschleunigterem Maße man nach unten rutscht. Deshalb ist
es heute schwieriger, das System zu ändern, als es vor einem Jahr war usw.
Simons will das System also nicht ändern, sondern eine an sich unhaltbare
Politik weiterführen, bis sich ihre absurden Folgerungen vielleicht später zeigen,
jedenfalls uns noch einmal eine kleine Luftpause verschaffen. Das ist die Logik
der Schwäche, wie Tirpitz das System Bethmann-Erzberger-Simons treffend
genannt hat. Dieses System in seiner unerbittlichen immanenten Logik kann
selbstverständlich nicht Plötzlich zur Stärke werden, kann es immer weniger.
Der Staat hat also nicht, wozu im Februar und März noch einmal
Gelegenheit war, das Volk zur passiven Resistenz aufgerufen. Der Staat erkennt
die drei nach Briands Ausspruch allein wesentlichen Dinge an: Deutschland ist
verantwortlich, Deutschland hat verloren, Deutschland muß zahlen. Wir sind
ganz Kautschuk geworden. Der Begriff deutsche Leistungsfähigkeit, an den wir
uns, weil er in einem der Papierparagraphen von Versailles steht, krampfhaft
anklammerten, wird auch von uns jetzt als Kautschuk anerkannt. Das letzte Wort,
mit dem wir unser Recht auf Existenz zu behaupten wagten, ist verstummt. Das
ist das dicke Ende der Unterzeichnung des Friedens mit der Nevisionsillnsion.
Wenn wir uns die Arme abgehackt haben, wird man von uns um so rascher die
„Leistungsfähigkeit" verlangen, auch die Beine abzudanken, denn wer einmal mit
dem gehorsamen Selbstmord begonnen hat, kann selbstverständlich auch in dieser
Tätigkeit so leicht eine Grenze nicht mehr ziehen.
Ein Systemwechsel im Staate fordert heute eine ganz andere Gesinnung
und Einsicht im Volk. Erst dann kann das Steuer herumgeworfen werden.
Nachdem der Staat in Sklavengehorsam erstorben ist, muß notwendigerweise die
Volksgemeinschaft erstarken. Schwache Männer formten zusammen mit den
äußeren Umständen unser Schicksal. Starke Männer werden aus diesem Schicksal
die Volksgemeinschaft formen.
Der Sieger diktiert den Frieden, er schreibt die Geschichte und der besiegte
deutsche Staat unterschreibt den Diktatfrieden und schreibt die Geschichtsfälschung
von der deutschen Verantwortung und Schuld nach. Das deutsche Volk aber ist
unbesiegt. Es will den Vertrag von Versailles nicht „revidieren durch Er-
füllung" (!), sondern es will ihn zerbrechen/ und es wird die Geschichte der
Wahrheit gemäß schreiben, die mit dem Sichtvermerk der Wilhelmstraße versehenen
Lügen über Kriegsschuld verbrennen wie Luther die Bannbulle 'des Papstes. An
demselben Tage, da wir in der Note an Harding ein neues Dokument der Schmach
über die anderen legten, ein Dokument, das unseren Staat wortlos und willenlos
machte, hat das deutsche Volk in einem seiner kleinsten, ärmsten Und edelsten
Teile den Weg der Selbsthilfe beschritten, Tirol hat abgestimmt! Hier lebt
Deutschland! Die Herrlein von Verona, die an demselben Tag in die Bozener
Mustermesse hincinknallten und aus unbewaffneten Sonntagsspaziergängern fürs
Baterland gestorbene Andreas-Hofer-Enkel machten, haben das rote Siegel unter
das Plebiszit Tirols gesetzt. An dem Tag, da Deutschland das Interesse an
Osterreich oder Elsaß-Lothringen verlöre, gäbe es sich selber auf. Aber das
Interesse wächst, es wächst mit Naturgewalt, denn nicht um Macht, sondern um
Freiheit geht es jetzt. Für Macht hat das deutsche Volk stets nur geringen Sinn
bewiesen. Aber Unfreiheit hat es als ganzes und in seinen Teilen stets nur
kurze Zeit ertragen.
jm Augenblick, wo diese Zeilen vor der Öffentlichkeit erscheinen, wird
aller Voraussicht nach bereits über das Schicksal Oberschlesiens
entschieden, das Urteil gesprochen sein über das größte Verbrechen,
das jemals gegen das oberschlesische Volk begangen worden ist,
. über den oberschlesischen Polenaufruhr. Wie aber auch die Ent¬
scheidung der Ententemächte ausfallen möge, von bleibendem Interesse wird es
>ein, wie sich jene seit der Abstimmung zur oberschlesischen Frage als solcher und
dann zu dem jetzigen Polenaufruhr von Anfang an gestellt haben.
Die polnische Regierung hat seit der Abstimmung kein Mittel gescheut, um
trotz des für Polen ungünstigen Ergebnisses eine ihr günstige Entscheidung des
Obersten Rath in der oberschlesischen Frage zu erringen und zumindest das
ganze Industriegebiet zugeteilt zu erhalten. Sie entfaltete im In- und Ausland
eine außerordentliche rege Werbetätigkeit und suchte besonders in den Haupt¬
städten der Ententeländer diese für die polnischen Pläne zu gewinnen,- denn so
günstig auch naturgemäß die polnischen Aussichten in Frankreich von vornherein
waren, ebenso wenig aussichtsreich waren sie in England und Italien.
Frankreich schloß sich, ohne sich auch nur im geringsten um das Abstimmungs¬
ergebnis zu kümmern, der von Korfcmth vorgeschlagenen und nach ihm benannten
Linie an. Es bestand auf einer Teilung Oberschlesiens, die das gesamte Industrie¬
gebiet den Polen zusprach. Im übrigen hoffte Frankreich, daß die Beteiligung
Polens an den weiteren Strafmaßnahmen gegen Deutschland durch den polnischen
Einmarsch in Oberschlesien eine Entscheidung des Obersten Rates erübrigen, das
Abstimmungsergebnis hmwegwischen und Oberschlesien ungeteilt den Polen in die
Hand spielen werde. In England und Italien stand man einer Lösung des ober-
schlesischen Problems in rein Polnisch-französischem Sinne ablehnend gegenüber.
Den Engländern war die französisch-polnische Freundschaft schon lange ein Dorn
im Auge. Ihre Sympathien für das Polentum hatten sich merklich abgekühlt.
Sie dachten gar nicht daran, dem französischen Kapital die Festsetzung in Ober¬
schlesien zu erleichtern. Andererseits lehnte England eine ungelenke Zuteilung
Oberschlesiens an Deutschland ebenso ab wie einen polnischen Einmarsch in das
Abstimmungsgebiet. Es wollte im Höchstfalle den Polen die Kreise Pleß und
Rhbnik mit einem schmalen Streifen des Industriegebiets an der polnischen Grenze
zugestehen, es liebäugelte besonders mit der Idee eines neutralen Freistaats
Oberschlesien nach Schweizer oder Luxemburger Muster, in dem es eine mächtige
Feinindustrie zur Verarbeitung der russischen Rohstoffe zu errichten, und den es so
allmählich zur englischen Kolonie zu machen hoffte, zumindest erstrebte es aber
eine weitere Besetzung durch interalliierte Kräfte, um in Oberschlesien ein wert¬
volles Handelsobjekt gegenüber Frankreich in der Hand zu behalten. Noch weniger
günstig waren die polnischen Aussichten in Italien. Dieses stand dem deutschen
Standpunkt unzweifelhaft am wohlwollendsten gegenüber. Für seine Stellung¬
nahme war die Befürchtung maßgebend, daß durch eine Zuteilung des Industrie¬
gebietes an Polen Italien nur noch mehr in die Abhängigkeit Frankreichs geraten,
dann aber, daß Polen wohl kaum imstande sein würde, Italien die Kohlenmengen
zu liefern, die ihm von Deutschland, entsprechend dem Spaer Abkommen, zur
Verfügung gestellt werden.
Die polnische Propaganda war deshalb in London und Rom besonders
rührig, und sie fand ihren Rückhalt in Paris, wo Herr Korfanth zusammen mit
dem Polnischen Außenminister Savieha und dem ehemaligen Präsidenten des Pariser
polnischen Nationalrates und Vertreters in Versailles Dinowski sein Hauptquartier
aufgeschlagen hatte. Neben den zur Genüge bekannten Märchen, daß Deutschland
die oberschlesische Kohle gar nicht brauche, daß Oberschlesien das Kricgsarsenal
Deutschlands zur Verwirklichung seiner Nevanchepläne und daß die Zuteilung des
oberschlesischen Industriegebiets an Polen daher die wichtigste Vorbedingung für
die Aufrechterhaltung des Friedens in Europa sei, wurden Sonderabordnungcn
nach London und Rom entsandt, zu deren Mission es namentlich gehörte, den
dortigen Kapitalkreisen günstige Zusicherungen in bezug auf eine Betätigung in
Oberschlesien und ganz Polen zu machen. In England wie in Italien stieß diese
Propaganda auf glatte Ablehnung. Vergebens schickte man den polnischen sozialistischen
Abgeordneten Diamant nach London, um die englischen Sozialistenführer für die
Stellungnahme Polens in der oberschlesischen Frage zu gewinnen, vergebens sagte
sich der polnische Außenminister beim Grafen Sforza an, vergebens sandte man
eine Sonderabordnung oberschlesischer Arbeiter, die in Wirklichkeit natürlich rein
Polnische Arbeiter waren, in die Hauptstädte der Ententemächte, vergebens suchte
man durch Herausgabe von Broschüren über polnische Verhältnisse in italienischer
Sprache, durch Gründung Polnisch-italienischer Vereine und Klubs, durch auffällige,
widerliche, echt polnisG hündische Verhimmelung Italiens in der polnischen Presse
dieses umzustimmen. Alles umsonst — der italienische Außenminister winkte ab,
und die italienische Presse geißelte die polnischen Angaben- als Fälschung und
Betrug. Die Abstimmung sei zugunsten Deutschlands ausgefallen, und Italien
habe nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, für das einzutreten, was der
Versailler Vertrag als Recht sanktioniere, das ungelenke Verbleiben Oberschlesiens
bei Deutschland. Als letzten Versuch begab sich der polnische Außenminister in
Begleitung des Warschauer italienischen Botschafters nach Paris, um dort den
Grafen Sforza auf seiner Reise zur Londoner Konferenz abzufangen und zusammen
mit Frankreich auf ihn einzuwirken,' Herr Sapieha antichambrierte in London —
aber er hatte keinen Erfolg.
Wie die Haltung der entscheidenden Ententemächte vor dem Polenaufruhr
zur oberschlesischen Frage gewesen war, so blieb sie, als Korsanty unter dem
Deckmantel von Lug und Trug die Brandfackel in das oberschlesische Pulverfaß
geworfen hatte, um sich mit Gewalt zu holen, was ihm auf rechtmäßigem Wege
durch das Ergebnis der Abstimmung und die Stellungnahme Englands und
Italiens versagt zu werden schien. Was man Polnischer- und französischerseits
als spontane Protestkundgebung der polnischen Bevölkerung Oberschlesiens gegen
e.me angebliche Entscheidung der Interalliierten Kommission Anzustellen versucht
hatte, zeigte sich sehr bald als ein zwischen Polen und Frau, es bis in alle
Einzelheiten genau verabredetes Spiel, nur daß man sich den Verlauf der
Bewegung etwas anders vorgestellt hatte. Man wiederholte die Wilnakomödie
nur in einer etwas anderen, aber nicht weniger plump gespielten Form. Herr
Le Rout fuhr mit seinem Bericht angeblich ahnungslos zum Obersten Rat und
Herr Korsanty schlug los. Warschau ließ ihn fallen und gab sich den Anschein,
als suche es zu beruhigen) das gänzlich überraschte Frankreich aber erhob bei
seinem Spießgesellen Vorstellungen, nicht ohne die polnische Regierung auf den
unangenehmen Eindruck der Handlungsweise Korfantys in Paris, London und
Rom hinzuweisen. Die französischen Besatzungstruppen in Oberschlesien taten,
als ob sie gegen die Aufrührer einschritten, in Wirklichkeit wehrten sie sich nur
dort ihrer Haut, wo sie von diesen angegriffen wurden. Sie beschränkten sich
auf die Besetzung einiger fester Plätze in den Städten, angeblich, um diese schützen,
in Wirklichkeit, um so die Bewegung sich auf dem Lande weiter ausbreiten lassen
M können, wo die Entscheidung lag. Ganz anders das Verhalten der Engländer
und Italiener. Sie griffen von Anfang an fest zu und erlitten Verluste. Der
italienische General de Martino erklärte in seiner Eigenschaft als stellvertretender
Präsident der Interalliierten Kommission die Polen für die Schuldigen und stellte
Deutsche in die Abstimmungspolizei ein. Ein englischer Offizier aber warf den
Franzosen angesichts dieses Lügenspiels sein Amt vor die Füße.
Durch den Aufruhr gedachten Polen und Frankreich den Engländern und
Italienern die Folgen einer den Polen ungünstigen Entscheidung in der ober¬
schlesischen Frage vor Augen zu führen und sie so den französisch-polnischen
Absichten willfähiger zu machen, hoffte man, durch Provokation die deutsche
Bevölkerung zum Losschlagen zu bringen, um dann den Spieß umzudrehen und in
dem Terror der Deutschen gegen die polnische Bevölkerung den an der Grenze
stehenden Polnischen Truppen den Vorwand zum Einmarsch zu geben. Bis zum
Augenblick, wo diese Zeilen geschrieben werden, ist dies den Polen und Franzosen
nicht gelungen. In England wie in Italien hat man. das französisch-Polnische
Lügenspiel anscheinend erkannt, man verurteilt das Vorgehen der Polen aufs
schärfste und erklärt, in keinem Falle sich vor vollendete Tatsachen stellen lassen
zu wollen.
Gebe Gott, daß dem noch so ist, wenn diese Zeilen vor der Öffentlichkeit
erscheinen.
AU^
«^^^^me starke nationale Bewegung hat weite Kreise des deutschen
Volkes in den ehemals österreichischen Ländern erfaßt und drängt
nach einer staatsrechtlichen Verbindung mit dem Deutschen Reich.
Die tausendfältigen Gründe, welche hierfür sprechen, hat der Ver¬
fasser an verschiedenen Orten auseinandergesetzt und alles, was
sich seit dem Zusammenbruch ereignete, hat ihn in seiner Überzeugung nur bestärkt.
Die Absicht dieser Zeilen ist es nicht, die ganze Frage nochmals aufzurollen und
alle Gründe, welche für diese natürlichste Lösung sprechen, neuerlich darzulegen.
Es wird vielmehr nur die Auseinandersetzung mit einem Argument
beabsichtigt, welches vielfach, mitunter auch von ernsten Kreisen, denen man im
allgemeinen nicht von vornherein nationale Gesinnung absprechen kann, gegen den
Anschluß ins Treffen geführt wird. Denn wenn es der Anschluß-Propaganda
nicht gelungen ist, jene durchschlagende politische Wirkung zu erzielen, die wir ihr
gewünscht hätten, so liegt der Grund gerade darin, daß viele Anschlußfreunde
sich mit ernsten Gegenargumenten nicht ernst auseinandergesetzt, die immerhin
auch vorhandene Entwicklungstendenz nach der anderen Richtung hin unterschätzt
und so den Anschluß gerade dadurch, daß sie sich ihn allzu leicht vorstellten,
gefährdet haben.
Das Argument, welches wir hier ins Auge fassen wollen, läßt sich etwa
folgendermaßen zusammenfassen: schwerwiegende wirtschaftsgeographische Tatsachen
weisen das Deutschtum der Donau- und der Alpenländer, welche sich gewiß nicht
Zufällig (wie allerdings der einstige deutschösterreichische Staatssekretär des
Äußern Dr. Otto Bauer merkwürdigerweise einmal erklärte) im Zug einer langen
Entwicklung aus dem römischen Reich deutscher Nation losgelöst haben, auf eine
Verbindung mit den kleineren, dem Deutschtum im Südosten vorgelagerten
Völkern, insbesondere mit den Ungarn und Jugoslawen, vielleicht auch mit den
Bulgaren und Rumänen. Es sei daher die Schaffung einer lockeren Donau-
Konföderation, der sich wohl auch der tschechoslovakische Staat anschließen würde,
das Natürliche. Indem Deutsch-Österreich in einen derartigen Bund eintrete,
brauche es keineswegs auf die Betätigung seiner nationalen Eigenart zu ver¬
zichten,- im Gegenteil erfülle es gerade in diesem Bund „seine alte Ostmark-
Aufgabe". Denn es liege auf absehbare Zeit, vielfach infolge der Siedelungs-
v-rhältnisse sogar dauernd, außerhalb der politischen Macht des deutschen Volkes,
die unter den genannten Völkern, bzw. Staaten, siedelnden Volkstelle vollzählig
mit sich politisch zu vereinigen. Die völlige auch kulturelle Loslösung dieser
Volksteile werde gerade dadurch verhindert, daß Deutsch-Österreich in eme Donau-
Konföderation der erwähnten Art eintrete und so ein Bindeglied zwischen der
Gesamtnation und dieser nationalen Diaspora, der auch eine große Kulturaufgabe
zukommt, darstelle. Indem Deutsch-Österreich in diese Donau-Konfoderatton
eintrete, sei einer näheren Verbindung mit der Gesamtnation nicht vorgegriffen,
weil diese Konföderation durch das Gewicht der Tatsachen früher oder spater
doch in irgendwelche Bindungen oder mindestens in eine Interessengemeinschaft
mit der zweiten großen mitteleuropäischen Macht, mit Deutschland, eintreten werde
und bei ihrem losen Gefüge nichts im Wege stehe, daß Deutsch-Österreich in
gewissen kulturellen, vielleicht sogar politischen Belangen in nähere Beziehungen
zum Deutschen Reiche trete.
Gegenüber dieser Argumentation muß man zwei Gesichtspunkte scharf
auseinanderhalten: 1. die Frage, ob wirklich die wirtschaftsgeographischen Tat¬
sachen, die zur Donau-Konföderation drängen, so stark sind, wie sie hingestellt
werden, 2. die Frage, ob die nationale Gefahr im Falle der Donau-Konföderation
wirklich so gering ist, wie man uns glauben machen will.
Was den ersten Punkt anlangt, so klebt diese Anschauung doch in sehr
ungeschichtlicher Weise nur an einer einzigen Periode der Vergangenheit. Die
geographische Lage der Donauländer war während des Mittelalters keine andere
als später, und doch hat bis zum Ausgang des Mittelalters jene politische Lage
bestanden, welche die Großdeutschen (das Wort natürlich nicht im parteipolitischer
Sinn gebraucht) wieder herstellen wollen. Dazu muß bemerkt werden, daß in
der Zeit, in der die österreichischen Länder am allerstärksten in das Reich ein¬
gegliedert waren, in der sie untereinander keinen anderen staatsrechtlichen
Zusammenhang hatten, als daß sie eben alle Glieder des Deutschen Reiches
waren, nämlich in der ersten Hälfte des deutschen Mittelalters bis ins 13. Jahr¬
hundert, gerade die Donaustraße handelspolitisch von der allergrößten Bedeutung
war, da sich ja erst kurz vor dem Ablauf dieser Periode die handelspolitische
Achse Europas drehte und die große Hauptverkehrsstraße von Süddeutschland
über den Brenner nach Italien in den Vordergrund trat. Es ist nun nicht ein¬
zusehen, warum gerade heute diese wirtschaftsgeographischen Tatsachen so in den
Vordergrund gehoben werden sollen, daß daneben die geistigen und nationalen
Lebensnotwendigkeiten des Volkes zurücktreten müssen.
Vergessen wir nicht, daß nicht diese wirtschaftsgeographischen Tat¬
sachen das Habsburger-Reich geschaffen haben, sondern eine große
militärisch-politische Aufgabe, vor die sich Mitteleuropa als Vorposten
des christlichen Abendlandes am Ende des Mittelalters gestellt sah:
die Abwehr des Türkensturmes. Österreich hat sich in der Erfüllung dieser
Aufgabe verschiedene Male glänzend bewährt. Die Abwehr des Türkensturmes
in der ersten Hälfte der Neuzeit wird für alle Ewigkeit ein Ruhmesblatt auch in
unserer nationalen Geschichte bleiben. Heute, da auch das große, aus den Steppen
Asiens gespeiste Reich im Osten, Rußland, in dessen Abwehr wir uns, vereint
mit den deutschen Brüdern, verblutet haben, zusammengebrochen ist, besteht die
Notwendigkeit einer Donau-Großmacht nicht mehr in dem Maße wie früher.
Wenn man aber heute die wirtschaftsgeographischen Tatsachen so sehr in den
Vordergrund schiebt, so kann übrigens nckchdrücklich darauf verwiesen werden, daß
gerade jene politische Gestaltung, die von uns Großdeutschen angestrebt wird und
der des Mittelalters ähnlich wäre, diese wirtschaftsgeographischen Tatsachen zur
vollen Auswirkung brächte. Denn dasjenige, was nach dem Machtspruch von
Se. Germain vom alten Osterreich übrig geblieben ist, ist für sich allein viel zu
schwach, um den anderen Nachfolgestaaten wirtschaftliche Werte zu bieten, mit
denen es imstande wäre, sich ihnen gegenüber in einer Konförderation zur Geltung
zu bringen. Erst durch den Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich
Würde die Gesamtmacht des deutschen Volkes so gestärkt werden, daß,
wennauch nicht im Augenblick, so doch in der Zukunft die vorgelagerten
Staaten ohne irgendeinen andern Zwang als das Gewicht natürlicher
Tatsachen und gegenseitiger Interessen dazu kämen, sich in wirtschaft¬
licher Hinsicht an Großdeutschland anzulehnen. Dann wäre das deutsche
Volk erst so recht in der Lage, seinen natürlichen Weg nach dem Osten zu gehen,
und die Donau, die ja nach den Friedensverträgen ein internationaler Strom ist,
würde einer der wichtigsten Handelswege bleiben oder vielmehr wieder werden.
Gerade in dieser Kombination wird der alten Ostmark mit der Stadt Wien
eine neue Bedeutung zukommen. Man bedenke- nur, daß Wien gewissermaßen
durch die Donau am Schwarzen Meer liegt, und so der Ausfallshafen Gro߬
deutschlands nach dem nahen Osten einschließlich des fruchtbarsten Landes Europas,
der Ukraine, würde, die in ihrer metertiefen schwarzen Erde einen Born
unerschöpflichen Reichtums birgt.
Zeigt sich so, daß den wirtschaftsgeographischen Tatsachen auch im Rahmen
der großdeutschen Gestaltung vollkommen Rechnung getragen werden kann, so
ergibt umgekehrt eine einfache Erwägung, daß die Donau-Konföderation für die
Behauptung unseres Volkstums die allerschwersten Gefahren in sich schließt. In
diese Donau-Konföderation würden wir als der wirtschaftlich weitaus schwächste
Staat eintreten. Die anderen in Aussicht genommenen Teilhaber aber, welche
eben erst ein nationalstaatliches Leben wieder errungen haben und — es spielt
hier keine Rolle, ob mit Recht oder nicht — mit>urch Jahrzehnte angehäuften
Groll aus der Gemeinschaft mit Deutschösterreich geschieden sind, sehen auch einer
neuen Form der Verbindung mit Mißtrauen entgegen, zumal sie ihnen unmittel¬
bare wirtschaftliche Vorteile nicht zu bringen vermag. Aus diesen beiden Prä¬
missen ergibt sich, daß die Donau-Konföderation nur unter dem Protektorate der
Entente zustande kommen könnte, so daß durch sie die dem Deutschtum vor¬
gelagerten Staaten ihm nicht angenähert, sondern in eine mehr deutschfeindliche
Politik geradezu hineingedrängt würden. Da wir wirtschaftlich die Schwächeren
wären und von allen diesen Staaten wirtschaftlich etwas fordern müßten, soll die
Donau-Konföderation überhaupt einen Zweck erfüllen, so würde sich der unerträg¬
liche Zustand ergeben, daß wir wirtschaftliche Gaben mit natlvnalpoll-
tischen Konzessionen erkaufen müßten, daß wir, weit entfernt, für dre
Deutschen in den anderen Sukzessionsstaaten etwas tun zu können, sie im Gegen¬
teil als das schwächste und nur geduldete Glied nicht einmal moralisch wirksam
unterstützen könnten, daß wir aber umgekehrt der tschechischen Minorität weit über
den Friedensvertrag von Se. Germain hinausreichende Rechte einräumen müßten.
Schon heute zeigt sich - man denke nur an den berüchtigten, vom Mimstermm
Renner geschlossenen Staatsvertrag von Brünn zwischen Deutschösterrech und der
Tschechoslowakei - dieses Abhängigkeitsverhältnis deutlich, welches durch d.e
Donau-Konföderation doch auf keinen Fall enger sein könnte als die Amor
Mischen Osterreich und Ungarn vom Jahre 1867 bis zum Zusammenbruch des
Jahres 1913. Es hat aber noch kein Anhänger der Donau-Konföderation einen
einzigen Fall beizubringen vermocht, in dem die Deutschen Österreichs vermöge
der staatsrechtlichen Verbindung mit Ungarn etwas für d,e Volksgenossen
in Ungarn tun konnten,- im Gegenteil: wir mußten schweigen, weil wir Ungarn
nicht verstimmen durften. Die Aufrichtung einer politischen und wirtschaftlichen
Grenze gegen die Hauptmasse des übrigen Deutschtums und die Schaffung einer
Wirtschaftseinheit zwischen Deutschösterreich und den übrigen Sukzessionsstaaten,
wobei — darin liegt der große Unterschied gegenüber dem alten Oster¬
reich — der deutschösterreichische Stamm auch innerhalb dieses Gebildes in poli¬
tischer Hinsicht künstlich zerrissen wäre und daher nicht entsprechend zur Geltung
käme, müßte mit der Zeit dazu sichren, auch die kulturellen Zusammenhänge mit
der Gesamtnation in bedenklichster Weise zu lockern. Ich persönlich scheue mich
nicht, der Überzeugung Ausdruck zu geben, daß im Falle einer dauernden-
politischenLoslHsung vom Gesamtdeutschtum deutsche Kultur in Deutsch¬
österreich überhaupt nicht zu erhalten wäre- Alle das Staatsbudget so
so schwer betastenden Kulturinstitute, vor allem die Hochschulen, haben nur einen
Sinn in der Voraussicht einer Wiederherstellung auch eines gemeinsamen politischen
Lebens mit unserem Gesamtvolk. Wenn wir keinen höheren Ehrgeiz haben als
eine politische Dependance der Entente bzw. ein Teilnehmer minderen Rechtes —
wenn auch nicht dem Buchstaben nach, so doch as taeto minder — einer Donau-
Konföderation zu sein, dann ist es schade um jeden Kreuzer, den der österreichische
Staat für seine Hochschulen und Akademien ausgibt. Auch das Geistesleben
eines Volkes muß verkümmern, das sich künstlich von der ewigen
Erneuerung seiner Kräfte aus dem Urborn des nationalen Lebens
ausschließt. Und die paar Beamten, die wir brauchen würden, könnten wir ja
an französischen Hochschulen ausbilden lassen, wie es sich für ein Kolonialland
geziemt.
Die vorstehenden Ausführungen zusammenfassend, können wir feststellen,
daß die Donau-Konföderation keineswegs eine „Rückkehr Österreichs zu seiner
alten Ostmark-Aufgabe", sondern im Gegenteil eine vollständige Abkehr davon
bedeuten würde. Gerade der Anschluß an Deutschland wäre mit einer Rückkehr
zur Ostmark-Aufgabe im alten Sinne verbunden, so wie sie im Mittelalter
bestand, da Osterreich wirklich die Ostmark des Reiches war. In der neuzeitlichen
Gestaltung ist Osterreich in gewissem Sinn aus dieser Aufgabe herausgewachsen.
In diesem Zusammenhange kann aber folgendes nicht übersehen werden: das
deutsche Volk ist im Herzen Europas so gelagert, daß es immer schwer war,
seine wirtschaftliche Expansion und seine Politik nach einer Richtung zusammen¬
zufassen. Auf lange Wegstrecken hat immer wieder eine westliche bzw. südliche
(italienische) Richtung mit einer östlichen gerungen. Schon dem Ghibellinentum
und dem Welfentum liegt neben vielen anderen Gegensätzen auch diese Ver¬
schiedenheit der Orientierung zugrunde. Das neuzeitliche Deutschland hat sich
unter gewissen geschichtlichen Voraussetzungen, die darzulegen den Rahmen dieses
Aufsatzes weit überschreiten würde, stark westlich orientiert, in der letzten Phase
sogar die Uberseepolitik in den Mittelpunkt gerückt. Dabei hat allerdings für
den südostdeutschen Stamm die besondere Aufgabe bestanden, die Verbindungen,
die donauabwärts nach dem nahen Osten führen, nicht abreißen zu lassen. Aber
schon unmittelbar vor dem Krieg begann das deutsche Volk seine osteuropäische
und asiatische Aufgabe zu erkennen, und das traurige Ende des Krieges hat dem
deutschen Volk nur den Weg nach dem Osten als natürliches Wirkungsfeld seines
kulturellen und politischen Einflusses halbwegs offen gelassen. Auch auf diesem
Wege sind für das deutsche Volk schwer zu überwindende Schranken aufgerichtet.
Je mehr aber das deutsche Volk dieser natürlichen Richtung seiner Expansion
folgt, desto sicherer kann es auf Gesundung hoffen. Den bedeutendsten Weg nach
diesem Wirkungsfeld des deutschen Volkes bildet natürlich die Donau. In dem
Maße, als die deutsche Gesamtpolitik mehr auf den Osten eingestellt
ist, ist auch unter diesem Gesichtspunkt die Voraussetzung für eine
außenpolitische Sonderaufgabe und damit für die politische „Unab¬
hängigkeit" des Südostdeutschtums gegenstandslos geworden.
em Gedächtnis unseres Volks ist nahezu alles entschwunden, was
über die Zeit der Schwedennot und der Reformation zurückliegt.
So äußerte sich einst Heinrich von Treitschke. Heute kann man
getrost behaupten, daß die Masse unseres Volks schon von den
politischen Vorgängen, die den deutsch-französischen Krieg mit ver¬
anlaßt haben, nichts weiß. Es erscheint daher von Wert, sich die Ereignisse
Mer Zeit erneut zu vergegenwärtigen, um daraus die Zusammenhänge der
französischen Politik von heute und damals zu erkennen.
Unmittelbar nach der Schlacht von Königgrätz hatte Kaiser Franz Joseph
Venetien, um dessen Besitz Italien kämpfte, an Frankreich abgetreten, und schon
bin 5. IM 18S6 verkündete Napoleon im Moniteur, Osterreich habe seine Ver¬
mittlung zur Herbeiführung eines Waffenstillstandes mit Preußen angerufen.
Das -Telegramm Napoleons, das den König Wilhelm aufforderte, die französische
Vermittlung anzunehmen und die preußischen Friedensbedingungen zu nennen,
^af an demselben 5. Juli im Hauptquartier zu Horschwitz ein. Die Wirkung
war erschütternd. Napoleon, der soviel Zusicherungen wohlwollender Neutralität
gegeben hatte, fiel plötzlich dem Sieger in den Arm, um ihm den Siegespreis
zu verkürzen. So groß der Zorn des Königs und Bismarcks auch war, man
entschloß sich doch zu einer versöhnlichen Antwort. Die Annahme des An-rbietens
wurde ausgesprochen und Prinz Reuß mit einem eigenhändigen Brief des Königs
«ach Paris geschickt.
Am 23. Juli ließ die französische Regierung durch Benedetti erklären, die
Anerkennung einer Vergrößerung Preußens könne nur in Verbindung mit der
Frage der französischen Kompensationen verhandelt werden, und am 89. Juli
«"riß der französische Minister Drouyn de l'Huys im Verein mit der Kaiserin
Eugenie in Viehs dem kränken Napoleon die Erlaubnis, die Abtretung großer
Landstriche von Deutschland zu fordern. Benedetti trug Bismarck die unerhörten
Forderungen vor: das Saargebiet, Rheinbayern und Rheinhessen sollten französisch
werden, also auch die uralten deutschen Städte Worms und Speyer. Über die
zu erteilende Antwort war sich Bismarck von vornherein im klaren. Am 7. August
gab er mit Zustimmung des Königs die feste Antwort, nicht ein Zoll breit
deutschen Landes könne abgetreten werden. Er fügte ruhig hinzu: „Wenn Sie
auf dieser Forderung bestehen, so machen wir mit Osterreich und Süddeutschland
Frieden auf jede Bedingung. Dann marschieren wir mit 800 000 Mann über
den Rhein. Unsere Armeen sind mobil, die Eurige ist es nicht. Denken Sie
sich selbst die Konsequenzen." Die französische Regierung wich vor dieser festen
Sprache zurück. Napoleon erklärte die Gebietsforderung für ein Mißverständnis.
Rheinbayern und Rheinhessen waren durch den preußischen Minister gerettet.
Aber die Ironie des Schicksals wollte, daß der hessische Minister v. Dalwigk
gerade in jenen Tagen in Paris um den Einmarsch der Rothosen in Süddeutsch¬
land bat, um durch sie vor den ländergierigen Preußen geschützt zu werden.
Nach diesem Mißerfolg befand sich Napoleon seinem Volk gegenüber in
einer üblen Lage. Sie zwang ihn zu neuen Versuchen, durch Vergrößerung
Frankreichs der Eitelkeit der Franzosen zu schmeicheln und seinen Thron zu
befestigen. Zuerst kam von der französischen Negierung das Ansinnen, Preußen
möge amtlich erklären, daß es mit der Besetzung Luxemburgs durch die Franzosen
einverstanden sei. Bismarck verzögerte die Antwort, und als Napoleon im
geheimen einen Kaufvertrag mit dem König von Holland vorbereitete, trat er
am 1. April 1867 diesem Handelsgeschäft entgegen, da Deutschland nicht dulden
könnte, daß eine großenteils deutsche Bevölkerung den Franzosen ausgeliefert
und eine starke Festung in bedrohlicher Nähe der Grenze dem westlichen Nachbar
übergeben werde. Aber um Frankreichs Empfindlichkeit zu schonen und einen
Konflikt zu vermeiden, willigte Bismarck auf dem Londoner Kongreß ein, daß
die preußische Besatzung aus der Festung Luxemburg zurückgezogen und das
Großherzogtum für neutral erklärt wurde. Auch dem Streben Napoleons, mit
Preußens Hilfe Belgien zu gewinnen, trat Bismarck entgegen.
Die Mißerfolge seiner Bergrößerungspolitik drängten Napoleon dazu, das,
was durch geheime Verhandlungen nicht zu erreichen war, sich durch Waffengewalt
zu verschaffen. Im Herbst 1868 war der Ausbruch des Krieges ganz nahegerückt.
Napoleon wollte seine Truppen aus dem Kirchenstaat zurückziehen und Spanien
sollte vertragsmäßig den Schutz des Papstes übernehmen. Da wurde unerwartet
die Königen Jsabella aus ihrem Lande vertrieben, und der Angriff auf Deutschland
mußte vertagt werden. Gleicher Zeit knüpfte Napoleon in Salzburg mit Kaiser
Franz Joseph nähere Beziehungen an, deren Endzweck war, Preußen zu einer
Macht dritten Ranges herabzudrücken. Die unwiderleglicher Beweise dafür, daß
Frankreich im Juli 1870 nicht unvermutet.in einen Krieg hineingezogen worden
ist, sondern Napoleon und seine Regierung die Niederwerfung Preußens längst
beschlossen und vorbereitet hatten, liegen uns vor. Die wichtigsten Gewährsmänner
auf französischer Seite, die uns Aufklärung verschafft haben, sind General Lebrun
in seinen 1895 erschienenen Louvenirs militiüros, der Deputierte Alfred Dari-
mont in seinen Beiträgen zur Geschichte des Krieges von 1870 und Emile Ollivier
in seiner Schrift I,es xi-SIiwinkii-ks av la. gueirs, die im Jahre 1909 in der
lievus äos äoux monäes erschienen ist.
Von geheimen Verhandlungen, die gegen Preußen gerichtet waren, erhielt
König Wilhelm 1869 aus Florenz Kunde. Ihren Gang kennen wir nicht, aber wir
wissen durch Ollivier, daß, als am 6. Juli 1870 in Se. Cloud von den Ministern
die Bündnisfrage erwogen wurde, Napoleon zwei eigenhändige Briefe vom Sep¬
tember 1869 von Franz Joseph und Viktor Emanuel herbeiholte und sie vorlas.
Der Kaiser erklärte, er könne auf diese beiden Bundesgenossen mit Sicherheit
rechnen. Im September 1869 waren also die drei Monarchen dazu gelangt, sich
gegenseitig gleichartiges Vorgehen zu versprechen, doch kam es nicht zu einem
förmlichen Vertrage. Im März 1870 jedoch kam man um einen großen Schritt
weiter. Der angesehenste Feldherr der Österreicher, Erzherzog Albrecht, Oheim
des Kaisers, kam nach Frankreich. Nachdem er sich von der Kriegstüchtigkeit des
französischen Heeres überzeugt hatte und verschiedene Beratungen mit Napoleon
stattgefunden hatten, berief dieser seinen Generaladjutanten Lebrun zu sich und
empfahl den baldigen Entwurf eines gemeinsamen Feldzugsplanes. Der Erzherzog
werde nach Wien zurückkehren, um sich des Einverständnisses seines Souveräns
zu versichern,' dann solle ein französischer General nach Wien kommen, um mit
dem Prinzen die Grundzüge des Planes festzustellen. — Lebrun wurde hierfür
bestimmt. Am 18. Mai 1870 empfing Napoleon in den Tuilerien die Generale
Leboeuf, Frossard, Jarras und Lebrun, erklärte ihnen, daß man auf die Teil¬
nahme Italiens rechnen könne und beriet mit ihnen einen Plan, der einen Bor¬
marsch der drei Heere über Bayern nach Leipzig zum Ziele hatte.
Am 5. Juni traf Lebrun mit einem eigenhändigen Schreiben Napoleons an
den Erzherzog in Wien ein und verhandelte mit ihm sehr eingehend 5 Tage.
Er berichtete, die französische Armee werde in 14 Tagen mobil sein und am 15.
die Grenze überschreiten. Die österreichische sollte am gleichen Tage vorrücken.
Albrecht erklärte jedoch, Osterreich bedürfe 42 Tage, um seine Armee schlagfertig
zu machen. So wurde denn verabredet, Osterreich solle wenigstens sofort am
Tage der Kriegserklärung Frankreichs ein der Grenze von Schlesien und von
Sachsen je 40 000 Mann aufstellen und dadurch mehrere preußische Armeekorps
im Osten fesseln. Nach Vollendung der Mobilisierung solle es die Maske
der Neutralität abwerfen und sich mit Frankreich vereinigen. Am 14. Juni hatte
Lebrun auf Schloß Laxenburg eine Audienz bei Franz Joseph. Dieser, weniger
kriegslustig als sein Oheim, erklärte, er könne nur dann in den Krieg eintreten,
wenn die Franzosen in Bayern eingedrungen, sich zu Beschützern der Süddeutschen
gegen die Anmaßungen Preußens aufgeworfen hätten- Am 22. Juni traf
Lebrun wiederum Paris ein und erstattete darauf dem Kaiser ausführlichen
Bericht.
Zwei Tage später, als der vom Erzherzog Albrecht entworfene, durch Kabinetts¬
kurier übersandte Feldzugsplan eingetroffen war, trug Lebrun denselben demKai'er
vor. Napoleon war enttäuscht dadurch, daß Franz Joseph sich auf gleichzetttge
Kriegserklärung nicht einlassen wollte, doch Lebrun sagte, die Stimmung in
Österreich sei Frankreich durchaus günstig, das Zusammenziehen von Truppen in
Böhmen werde in Berlin einen erschütternden Eindruck machen, der noch acht
wdgültig abgeschlossene Vertrag könne ja noch im Sinne Napoleons ergänzt werden.
Von dem ausführlichen Feldzugsplan des Erzherzogs, der nach dessen Tode
von Lebrun veröffentlicht worden ist, einige Hauptsachen:
Eine starke französische Armee in Lothringen sollte die Aufmerksamkeit der
Preußen dorthin lenken, doch würden die Deutschen vor Ende der dritten Woche
nicht an irgendeinem Punkte der Westgrenze erscheinen können, ihnen gegenüber
könne man sich auf die Defensive beschränken, die Hauptmacht der Franzosen sollte
schon am 16. Tage nach der Kriegserklärung den Rhein bei Straßburg und
Neu-Breisach überschreiten. Am 32. Tage sollten vier Divisionen Stuttgart
besetzen, stände aber dort ein feindliches Heer, so sollten am 27. Tage 180 000
Franzosen zur Schlacht bereit sein. Von Württemberg aus würde der Vormarsch
der Franzosen nach Nordosten so weiter gehen, daß am 37. Tage Bamberg und
Bayreuth erreicht würden. Hier sollten sich, von Böhmen heranrückend, die Öster-
reicher mit den Franzosen vereinigen und in erdrückender Übermacht über Plauen
und Altenburg gegen die Preußen vordringen. Inzwischen wären die Italiener
auf der Brennerbahn durch Tirol nach Bayern geschafft worden, hätten sich all¬
mählich auf 100 000 Mann verstärkt und München besetzt. Im Norden aber
würde die französische Flotte sich mit den Dänen vereinigen, um von Schleswig
her auf Kiel vorzudringen.
Wir sehen, die Feinde Preußens im Westen, im Süden und im Norden waren
im Juni 1870 bereit, über Deutschland herzufallen, den Norddeutschen Bund zu
zertrümmern und die Aufrichtung eines Deutschen Reiches unmöglich zu machen.
Während so von Frankreich her drohende dunkle Wetterwolken heraufzogen,
waren viele Deutsche kurzsichtig genug, die Gefahren nicht zu sehen und unbedingt
auf Napoleons Friedensliebe zu vertrauen. Virchow stellte sieben Monate vor
Ausbruch des Krieges den Antrag das Heer zu verringern, um Ersparnisse zu
machen/ die bayerischen Ultramontanen wollten die Armee durch eine Miliz mit
achtmonatiger Ausbildung ersetzen, die württembergischen Demokraten waren von
Haß gegen alles Preußische erfüllt, und der Abgeordnete Laster beantragte im
Februar 1870, ohne über die Folgen im klaren zu sein, die möglichst ungesäumte
Aufnahme Badens in den Norddeutschen Bund. Bismarck war durch diesen
Antrag höchst unangenehm überrascht, denn er wußte, daß die Überschreitung der
Mainlinie für Napoleon der willkommene Anlaß zum Kriege sein würde, während
er das junge, von ihm gegründete Staatswesen solange wie irgend möglich vor
einem Kriege bewahren wollte.
Am 30. Juni noch erklärte Ollivier in der Kammer, der Friede Europas
sei niemals besser gesichert gewesen, als eben jetzt. Da traf am 2. Juli eine
Depesche von Mercier, dem französischen Gesandten in Madrid, in Paris ein,
des Inhalts, die spanische Regierung habe vertraulich dem Prinzen Leopold
von Hohenzollern die Königskrone angeboten. Es folgte am 6. Juli durch den
Herzog von Grammont mit Zustimmung Napoleons eine drohende Erklärung in
der Kammer, und daran anschließend die Sendung Benedettis nach Ems, die
allem diplomatischen Brauch widersprach. Der Krieg war da, Napoleons Ziel
erreicht.
Für Osterreich kam der plötzliche Ausbruch des Krieges sehr ungelegen,
und die preußenfreundliche Haltung Rußlands legte ihm Zurückhaltung auf.
Vergeblich bemühte sich Napoleon im August, die durch die Niederlagen
zerrissene Fühlung mit Italien wieder aufzunehmen. Die Schlacht von Sedan
machte der Kaiserherrlichkeit Louis Napoleons ein Ende.
Die Notwehr, in der wir uns 1870 befanden, liegt klar zutage. Nicht
anders lägen die Dinge 1914.
Die Fäden, die durch den Sturz des französischen Kaiserreichs zerrissen
worden waren, nahmen die Leiter der französischen Republik wieder auf und
unter Englands Führung wurde der Feindbund geschlossen, dem wir heute
wehrlos gegenüberstehen. Mit ihm hat die Sozialdemokratie in ihrem Haß
gegen das feste Gefüge des Preußischen Staates, der der Verwirklichung ihrer
internationalen Verbrüderungstheorien im Wege stand, in der Fälschung geschicht¬
licher Wahrheiten gewetteifert.
Die deutsche Revolution ist nicht aus elementaren Kräften wie die französische
emporgewuchtet, sie ist von Menschen gemacht!
Sobald die hochgemute Stimmung von 1914 verflogen war, erhob sich
im eigenen Volk aufs neue, mit den radikalsten Leuten an der Spitze, der
Internationalismus. Nach dem Eingeständnis von Richard Müller sind die
Vorbereitungen zur Revolution schon im Juli 1916 getroffen worden. Die erste
Wirkung zeigte sich im Sommer 1917 in der offenen Auflehnung der Matrosen
in Kiel. Mit Beginn des Jahres 1918 setzte dann die Hetzaktion, wirksam unter¬
stützt durch die feindliche Propaganda, hinter der Front mit Hochdruck ein.
Albert Vater, der vorübergehend Polizeipräsident in Magdeburg war, bekennt:
„Uns ist diese Revolution nicht überraschend gekommen. Seit dem 25. Januar
haben wir den Umsturz systematisch vorbereitet. Die Partei hat eingesehen, daß
die großen Streiks nicht zur Revolution führen, es mußten andere Wege
beschritten werden. Die Arbeit hat sich gelohnt. Wir haben unsere Leute, die
an die Front gingen, zur Fahnenflucht veranlaßt, die Fahnenflüchtigen haben
wir organisiert, mit falschen Papieren ausgestattet, mit Geld und unterschrifts¬
losen Flugblättern versehen. Wir haben diese Leute nach allen Himmelsrichtungen/
hauptsächlich wieder an die Front geschickt, damit sie die Frontsoldaten bearbeiten
und die Front zermürben sollten. Sie haben die Soldaten bestimmt, überzulaufen,
und so hat sich der Zerfall allmählich, aber sicher vollzogen."
Nicht aus deutschem Munde, sondern von dem englischen General Maurice
stammt der Ausspruch: „Deutschlands Heer ist von rückwärts erdolcht worden!" —
Im Taumel ihrer pazifistischen Wahnideen erließ, nachdem die glorreiche Revolution
ihr Ziel erreicht hatte, die sozialistische Regierung den Demobilmachungsbefehl,
obgleich dies in den Bedingungen der Waffenruhe nicht verlangt war. Heute
sind wir durch die Entwaffnung wehrlos bis zur Nacktheit. Was uns noch
bevorsteht an Drangsal und Not, davon machen sich wohl die wenigsten eine
klare Vorstellung — am, allerwenigsten aber die von der Sozialdemokratie ver¬
führten Massen.
lillionen von Deutschen haben durch den Friedensvertrag ihre bis¬
herige Staatsangehörigkeit verloren. Ein großer Teil von diesen,
dem es leider nicht möglich ist, auf den Außenposten als Vorkämpfer
des Deutschtums auszuharren, muß seine Zuflucht innerhalb der
neuen deutschen Grenzen suchen. Sie kommen wegen ihres Volks-
tums verfolgt zu ihren deutschen Stammesbrüdern und müssen hier, was vielen
noch gar nicht recht zum Bewußtsein gekommen ist, die Erfahrung machen, daß sie
„Ausländer" sind. Vom Nechtsstandpunkt ist dies in der Tat so. Von Ausnahmen
abgesehen, haben alle Deutschen, die am 10. Januar 1920, dem Tage des Inkraft¬
tretens des Friedensvertrages, ihren Wohnsitz außerhalb der neuen Grenzen hatten,
ihre deutsche Staatsangehörigkeit verloren. ^Darüber hinaus sind jedoch auch
tausende in der neuen engeren Heimat Wohnhafte, ja z. T. seit Generationen
Ansässige zu ausländischen Untertanen geworden) so z. B. Elsaß-Lothringer, deren
Borfahren vor 1871 die französische Staatsangehörigkeit hatten. Polen und die
Tschechoslowakei haben auch alle in Gebieten Geborenen, die jetzt zu ihnen gehören,
als ihre Staatsangehörigen in Anspruch genommen.^) Vielen ist dies bisher
unbekannt. Zu ihrer meist nicht gerade angenehmen Überraschung erfahren sie es,
wenn sie aus irgendeinem Grunde staatlicher Genehmigungen bedürfen, bei Ehe¬
schließungen oder vor Gericht, wenn ihnen Sicherheit für die Prozeßkosten abverlangt
oder das Armenrecht versagt wird. Häufig werden sie alsdann vor die „zuständigen
Behörden ihres Heimatstaates" verwiesen und müssen den Gang zu dem Konsulat
eines Staates antreten, von dessen Sprache sie auch nicht die geringste Ahnung
haben. Von besonderer öffentlicher Bedeutung ist aber, daß ihnen die politischen
Wahlrechte versagt sind und daß Wahlen, an denen sie versehentlich teilgenommen
haben, angefochten werden können.
Bei der bereits in die Hunderttausende gehenden Anzahl dieses Personen¬
kreises ist Abhilfe dringend erforderlich. Es müssen Mittel und Wege gefunden
werden, diesen ehemaligen Deutschen schleunigst wieder ihre alte Staatsangehörigkeit
zu verschaffend) Der Friedensvertrag gewährt der Mehrzahl der von dem Staats¬
angehörigkeitswechsel Betroffenen ein Optionsrecht für ihre bisherige Staats¬
angehörigkeit. Leider ist ihnen damit bisher nicht geholfen. Über ein Jahr ist
seit Inkrafttreten des Friedensvertrags vergangen, und noch ist in keinem Falle
der Abtretungen mangels Erlaß der notwendigen Ausführungsbestimmungen der
Weg der Option wirklich eröffnet. Die betreffenden Personen besitzen in der Mehr¬
zahl ein Optionsrecht für die deutsche Staatsangehörigkeit, es gibt aber bisher
keine deutsche Behörde, vor der sie die Optionserklärung abgeben könnten. Mit
Danzig und der Tschechoslowakei sind inzwischen Optionsverträge zustande gekommen,
die jedoch bisher nicht ratifiziert sind. Namentlich scheint die Ratifikation des
Danziger Vertrags in weiter Ferne zu liegen. In anderen Fällen hofft man zu
vertraglicher Regelung zu kommen. Wenig Hoffnung besteht jedoch im Falle Polen,
wo bisher alle Verhandlungen in der Optionsfrage fehlgeschlagen sind. Polen ist
inzwischen dazu übergegangen, die Optivnsfrage von sich aus einseitig zu regeln,
mit dem Erfolge jedoch, daß diese Optionen von Deutschland mangels vertraglicher
Regelung nicht als gültig anerkannt werden. Personen, die in Polen von diesem
Optionsrecht Gebrauch gemacht haben, werden dort nicht mehr als Polen, hier
noch nicht als Deutsche betrachtet, sind also praktisch staatenlos.
Man hat die Frage aufgeworfen, warum die deutsche Regierung nicht mangels
des Zustandekommens von Optionsverträgen nach polnischem Vorbild zu einseitiger
Regelung gegriffen hat. Aber gerade das polnische Beispiel zeigt das Bedenkliche
eines solchen einseitigen Schrittes. Eine wirkliche Lösung bedeutet sie nie. Sie
schafft stets nur staatenlose oder doppelstaatsangehörige Personen. Nur ein
Vertrag kann diese unerwünschten Nebenfolgcn beseitigen. Da zum Verhandeln
aber zwei gehören, kann man der deutschen Regierung aus dem Nichtzustande-
kommen der Verträge einen Vorwurf nicht machen. Nun wäre über die rein
formale Frage, welche Behörden zur Entgegennahme der Optionserklärungen
zuständig sein sollen, Wohl eine Einigung in den meisten Fällen möglich. Eine
solche Einigung hat aber wenig Wert, solange sämtliche übrigen streitigen Punkte
zwischen den Parteien ungeklärt bleiben. Gerade im Falle Polen bestehen solche
in großer Zahl. Nach dem Friedensvertrag haben sämtliche in irgendeinem Teil
Polens seit vor dem 2. Januar 1908 ansässige Deutsche die Polnische Staats¬
angehörigkeit erworben, also auch in Russisch-Polen und Galizien,' Polen hat
dagegen in seinem Staatsangehörigkeitsgesetz diese Bestimmung auf die ehemals
preußischen Gebiete beschränkt. Deutsche in den anderen polnischen Teilgebieten
sind damit staatenlos geworden, da von deutscher Seite auf sie die Bestimmung
des Friedensvertrags, wonach sie die deutsche Staatsangehörigkeit verloren haben,
zur Anwendung gelangt. Im polnischen Abtretungsgebiet Geborene werden im
Widerspruch zum Fr. V. von den Polen als polnische Staatsangehörige in Anspruch
genommen, so daß dieser Personenkreis doppelstaatsangehörig ist. Schließlich
besteht keinerlei Einigkeit darüber, wer als ein Pole deutscher Reichsangehörigkeit
zu verstehen ist, dem nach dem Fr. V. ein Optionsrecht für Polen zusteht. Wenn
nicht alle diese Streitfragen aus der Welt geschafft werden, hat ein Optionsvertrag
mit Polen keinen Zweck. Daß eine vertragliche Einigung möglich ist, beweist
das Beispiel der Tschechoslowakei, wo die gleichen Streitfragen bestanden und durch
deutsch-tschechischen Vertrag gelöst sind. Allerdings gehört zu einem Vertragsschluß
ein beiderseitiges Nachgeben, eine Erkenntnis, die Polen nach dem Beispiel seines
französischen Protektors noch nicht ausgegangen zu sein scheint. Erweist es sich,
daß bei der polnischen Denkweise eine Lösung aller dieser Fragen nicht zu erhoffen
ist, so haben weitere Verhandlungen über die Option allein keinen Zweck. Dann
bleibt auch für Deutschland nur der Weg der einseitigen Lösung. Auf diese Weise
würden wenigstens alle diese Fragen innerhalb der Grenzen des Reiches ihre
Lösung finden. Im Interesse der beteiligten Kreise muß hier endlich eine baldige
Klärung geschaffen werden.
Noch andere Fragen sind dabei zu lösen. Bekanntlich hat nach den Bestimmungen
des Fr. V. die gesamte Bevölkerung des Memelgebiets und der altdeutsche Teil
der elsaß-lothringischen Bevölkerung eine fremde Staatsangehörigkeit nicht erworben.
Es sind Stimmen aufgetaucht, die in beiden Fällen einen Weiterstand der deutschen
Staatsangehörigkeit verneinen und statt dessen Staatenlosigkeit dieser Bevölkerungs¬
kreise angenommen haben. Eine authentische Anerkennung ihrer deutschen Staats¬
angehörigkeit dürfte dringend zu wünschen sein, im Falle Elsaß-Lothringen auch
eine Klärung der Frage, ob sie weiter als deutsche Elsaß-Lothringer oder als
unmittelbare Reichsangehörige anzusehen sind oder ob ihnen die Staatsangehörigkeit
eines anderen deutschen Landes verliehen werden soll.
Schließlich ist eine große Ungerechtigkeit des Fr. B. auszugleichen: die
Versagung des Optionsrechtes an die französisch gewordenen Elsaß-Lothringer.
Es ist dies eine Folge der französischen Idee von der Wiedergutmachung des
Unrechts von 1871. Die beteiligten Personen hätten nach französischer Auffassung
nie die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben dürfen, haben folglich auch keinen
Anspruch, sich jetzt wahlweise für sie zu entscheiden. Zugleich bringt diese Lösung
den politischen Vorteil mit sich, daß aus der Zahl der Optionserklärungen für
Deutschland, die zweifellos von allen in Deutschland ansässigen sehr zahlreich sein
würden, nicht etwa Zweifel an der unbedingten Zuneigung aller Elsaß-Lothringer
zu Frankreich hergeleitet werden können. Vom deutschen Standpunkt aus ist diese
Lösung jedoch auf die Dauer unhaltbar. Es geht einfach nicht an, daß seit
Generationen in Deutschland Wohnhafte gegen ihren Willen Franzosen bleiben
ohne Aussicht auf Wiedererwerb der deutschen Staatsangehörigkeit, daß wir deutsche
Beamte und Offiziere französischer Staatsangehörigkeit haben, daß Ehefrauen
deutscher Männer Franzosen sind usw. Auf eine vertragliche Lösung ist noch viel
weniger als im Falle Polen zu hoffen. Einer einseitigen Lösung steht aber eine
ausdrückliche Bestimmung des Fr. V. entgegen, nach der Deutschland auf keinen
Fall Personen für sich in Anspruch nehmen darf, die nach französischer Anschauung
Franzosen sind. Eine gesetzliche Regelung der Art, daß hier von deutscher Seite
aus eine Art Optionsrecht gewährt oder daß alle deutschen Beamten oder Ehefrauen
Deutscher oder in Deutschland als Deutsche Geborenen wieder zu Deutschen
gemacht werden, ist daher nicht möglich. Hier kann nur der Weg der Ein¬
bürgerung helfen.
Die Forderung, die erhoben werden muß, ist daher eine Vereinfachung der
Einbürgung für ehemalige Deutsche. Auch in den Fällen, wo noch "auf Eröffnung des
Optionsweges zu hoffen ist, wird man vielfach der Einbürgerung nicht entraten
können. Die Option ist zeitlich beschränkt, wirkt notwendigerweise auf Frau und Kinder,
bringt in der Regel Abzugszwang mit sich. Alles dies wird an sich Options¬
berechtigte vielfach von der Ausübung der Option abhalten, während später der
Wiederwerb der deutschen Staatsangehörigkeit für sie oder ihre. Nachkommen
wünschenswert erscheint. In allen diesen Fällen darf die Gewährung der Wieder¬
aufnahme nicht in das Ermessen der Behörden gestellt werden, hier bedarf es der
Verleihung eines ausdrücklichen Anspruchs auf Wiederannahme der deutschen
Staatsangehörigkeit und der Eröffnung eines Rechtswegs im Falle der Versagung
der Wiederaufnahme, wie wir ähnliches im französischen Staatsangehörigkeitrechte
finden. Ein Widerspruch seitens unserer Gegener wird in einem solchen Falle
trotz Art. 53 und 273 Fr. V. kaum zu fürchten sein, da der Wiedererwerb der
deutschen Staatsangehörigkeit ja in das freie Ermessen der betreffenden Personen
gestellt wird und wir nur dem französischen Vorbild zu folgen brauchen, wo in
zahlreichen Fällen ein Anspruch auf Verleihung der französischen Staatsangehörigkeit
anerkannt ist. Geschehen muß aber jedenfalls in absehbarer Zeit etwas. Es ist
ein unhaltbarer Zustand, daß Hunderttausende deutschstämmiger Personen von der
deutschen Staatsbürgerschaft ausgeschlossen werden, nur weil einige unserer Gegner
sich zu einer vernünftigen vertraglichen Regelung nicht bereit finden. Was Deutsch
spricht und fühlt, muß sich auch vor aller Welt wieder deutsch nennen dürfen!
Briefe liegen vor mir, die eine erschütternde Sprache führen.
«^UsM Ein junger englischer Jurist schreibt: „Ohne mich auf das, was
dem Waffenstillstand vorherging, einzulassen, bis zu welchem Punkte
wir meines Wissens ehrenhaft gehandelt haben, sage ich doch, daß
«^»««W ich mich schäme, daß mein Land dazu beigetragen hat zu dem
^ertrag von Versailles, der nicht nur ein Wortbruch ist, sondern einfach ein
Racheakt. Der christliche Geist scheint nicht der Geist der sogenannten Friedens¬
wacher gewesen zu sein, welche, durch ihr zynisches Nachgeben an das Vergnügen
(amusomsnt), die Zentralmächte noch zu schlagen, als sie bereits an: Boden lagen,
Saaten ausgestreut haben, welche, wenn nicht drastische Mittel angewendet werden,
unvermeidlich Frucht tragen werden in einem noch furchtbaren Kriege. Vielleicht
kommt dies drastische Mittel in der Form von Versöhnung, Annullierung und
Wiederherstellung schon zu spät, und dein Volk wird über jedes menschliche Maß
hinaus verbittert sein durch die wirtschaftliche Sklaverei, welche der Vertrag
Deutschland auferlegt. Aber wisse, daß es hier viele junge Männer gibt, welche
daran arbeiten, daß der Frieden ein wirklicher Frieden wird."
Die „deutsche Politik" bringt das Schreiben eines Finnländers zum Abdruck,
der den Deutschen den Vorwurf macht, daß sie die Schuldfrage nicht immer wieder
Zur Besprechung bringen. „Sie wissen, wie die Anklage der Entente lautet:
Deutschland habe vorsätzlich den Weltkrieg herbeigeführt. Sie wissen, daß Sie
gezwungen worden sind, ein Schuldbekenntnis dieser Art selbst zu unterschreiben,
und daß sich aus dem Satze, Deutschland sei auf solche Weise schuldig, der ganze
Frieden der Rache und Strafe erhebt. Sie wissen, daß dieser Frieden von selber
bricht, wenn seine Grundlage zerbrochen wird. Das kann der Kaiser tun: die
Grundlage dieses Friedens zerbrechen____ Es sind viele Zeugnisse dafür ans
Licht gekommen, daß der Kaiser und daß die deutsche Negierung nicht den Welt¬
krieg gewollt haben, sondern den Frieden der Welt, die Regierungen der Entente
aber den Krieg. Die Männer, die verantwortlich sind für den Krieg unter Ihren
Feinden, müssen dies wissen... Der Kaiser könnte es jetzt dahin bringen, daß
alle diese Dinge öffentlich vor der Welt verhandelt werden. Dieser Prozeß würde
der größte politische und moralische Sieg werden, den Deutschland gewinnen kann.
Auch dann wäre es ein moralischer Sieg, wenn die Regierungen der Ententeländer
sich fürchten, den Prozeß zu eröffnen... Bitte, öffnen Sie Ihre Augen! Glauben
Sie, daß Frankreich ein anderes Ziel hat, als die Bevölkerungsmenge Deutschlands
so sehr zu verringern, daß sie nicht mehr größer ist als die Menge des französischen
Volkes? Gibt es Leute bei Ihnen, die glauben, daß durch Verhandlungen...
die Menschen, die die französische Politik regieren, dahin gebracht werden können,
daß sie freiwillig Erleichterungen für Deutschland zustimmen? Sie haben nichts
von der Einsicht oder vom Wohlwollen Ihrer Feinde zu erwarten. Frankreich
ist stark. Man weiß nicht, wie lange es stark sein wird, aber jedenfalls ist es
jetzt stark und jedenfalls wird es noch eine Zeitlang stark sein. Dieser Frieden
wird nicht ewig dauern, aber er wird doch länger dauern als Ihre Widerstands¬
kraft dauern kann. Dieser Friede ist nur an einer einzigen Stelle für Sie
anzugreifen. Gerade gegen diese Stelle steht ein Sturmbock von zerstörender
Kraft zu Ihrer Verfügung: öffentliche Verhandlung der Schuldfrage. Niemand
hindert Sie daran, niemand kann Sie daran hindern. Warum tun Sie es nicht?
Um Gotteswillen, warum tun Sie es nicht?"
Der dritte Brief ist der eines angesehenen englischen Geistlichen mit weit¬
gehenden politischen Beziehungen: „Niemand, der auch nur die geringste Kenntnis
von England 1914 hatte, konnte annehmen, daß wir Krieg wünschten. Das
hauptsächlichste Interesse Englands ist immer der Friede gewesen — wir hatten
nichts zu gewinnen, aber alles zu verlieren durch einen Appell an die Waffen.
Es ist merkwürdig, daß alle Deutschen, welche die Schuld auf uns legen möchten,
keinen besseren Beweis haben als einen einzigen Artikel (den der Kawrcla? Rsvio>v
mit dem berüchtigten Satze: (Zorn-niam ohl-o ni<z1<znäain)." Das Kabinett sei im
Sommer 1914 bis auf drei Mitglieder für Neutralität gewesen. „Dann kam der
Einmarsch in Belgien, dieser flagrante Bruch des Völkerrechts und damit die
direkte Bedrohung unserer Küsten. (Was war daran ängstlich, wenn England
neutral blieb?) Asquith konnte sagen: hier ist unsere Unterschrift zu dem Vertrag,
worauf Belgien seine Sicherheit stützt. Wünscht Ihr dies abzuleugnen aus Furcht
vor Deutschland? Tut Ihr das, so wird Euch niemand wieder trauen, wir
werden ohne einen Freund in der Welt sein (da Deutschland nicht gerechnet wurde),
und kein Engländer wird imstande sein, einem Franzosen (warum gerade den:)
wieder ins Antlitz zu blicken . . . Ich werde niemals die allgemeine Bestürzung
und das Elend jener Woche vergessen/ niemand hatte an eine solche Kalamität
gedacht . . ., es gab hier keinen Haß gegen Deutschland, bis Ihr begännet, unsere
Frauen und Kinder zu morden, etwas, was der Engländer nie vergiebt." Der
Schreiber ist noch immer fest davon überzeugt, daß Deutschland den Krieg lange
planmäßig vorbereitet hat, und daß die Blockade ein ebenso gesetzliches Mittel
war wie unsere Belagerung von Paris, wo die Einwohner genötigt waren, Ratten
zu essen, während der Untergang der Lusitmna ihm ein fluchwürdiges Verbrechen
der deutschen Kriegsführung zu sein scheint, auf das aber in Deutschland eine
infame Medaille geprägt worden sei. Daß diese Medaille das Machwerk eines
betriebsamen süddeutschen Goldschmieds gewesen ist, daß das von der Regierung streng
gemißbilligt wurde und kaum zur Kenntnis weiterer Kreise gekommen ist, hat
man in England natürlich nicht gesagt. Und daß die Lusitania vor ihrer Abfahrt
von Amerika zweimal offiziell von deutscher Seite gewarnt worden ist, keine
Passagiere zur Maskierung ihrer großen Munitionsladung mitzunehmen, scheint
der Briefschreiber auch nicht zu wissen. Er müßte die Artikelserie von Lowes
Dickinson im „UxmeKestor 6u»räi!in" von Ende November bis Anfang Dezember
1920 lesen „Deutschland unter dem Friedensvertrag", wo den Engländern die
Pflicht eingeschärft wird, die von den Bolschewisten und der deutschen Regierung
veröffentlichten Dokumente über den Ursprung des Krieges zu lesen. „Der ganze
Verstand und die Seele Englands ist wahrhaftig durch die Presse vergiftet. Aber
man soll sich nicht passiv der Vergiftung unterwerfen, und wer es tut, kann vom
Tadel nicht freigesprochen werden." Auch Dickinson ist der Ansicht, daß das
einzelne Individuum sich „von der Lüge abwendet und zu den Tatsachen und der
Wahrheit zurückkehrt". Die jetzt in England regierenden Leidenschaften sind Furcht,
Gier und Rache. Der Wähler denkt, weil Deutschland den Krieg gemacht hat,
müsse man es niederhalten. Furcht als Klugheit. Deutschland hat viele Engländer
getötet, muß also gestraft werden. Rache maskiert als Gerechtigkeit. Deutschland
hat Eigentum zerstört: man kann es mit Zinsen zurückerhalten. Begierde
maskiert als Wiederherstellung. Diese Gedanken sind dem britischen Volke Nacht
und Tag durch vier Kriegs- und zwei Friedensjahre eingehämmert worden.
Der vierte Brief ist der eines alten Amerikaners, dessen Vater ein Deutscher,
dessen Mutter eine Französin war und der seine Studienzeit in Deutschland
zugebracht hat. Er findet es vor allem notwendig, daß Deutschland seine
Handlungsweise ändert. Es muß sobald als möglich den Vertrag, den er freilich
hart nennt, auszuführen suchen, und „freundlich gegen andere Völker sein", dann
werden, besonders wenn die Alliierten sehen, daß Deutschland ehrlich sein will,
sie geneigt sein, Erleichterungen zu gewähren? andernfalls wird Deutschland noch
wehr zu leiden haben, da die Welt seinen Standpunkt in bezug auf die Schuld¬
frage nicht annehmen kann. Unsere Beschwerde wegen Ablieferung der Milchkühe,
die unsere verhungernden Kinder rettungslos dem Siechtum in die Arme er eibt
weist er mit der kühlen Bemerkung zurück, daß die Deutschen zehnmal soviel Kühe
in Belgien vernichtet (ässtr^ca) hätten, von anderen Dingen, die den Abscheu der
Welt erregt hätten, gar nicht zu reden. Dann schlägt er uns vor, aus Amerika
einen Ratgeber (coimoillor) zu beziehen, der uns lehre, wie eine Republik beschaffen
sein muß, z. B. Mr. Herbert Hoover! Das würde Deutschland außerordentlich
helfen, weil es die Deutschen instandsetzen würde, daß sie mit ihren früheren
Feinden zum Einverständnis gelangten. Man sieht aus diesen Äußerungen die
Borniertheit des Puritaners, vereint mit der Ignoranz und dem Hochmut des
„gebildeten" Amerikaners, der jede Belehrung zurückweist (die ihm von mir un
reichlichem Maße zuteil geworden ist), weil er nicht zugeben kann, durch englische
Lügen und Verleumdungen betrogen worden zu sein. . „... ^ .
Überall mehren sich im Inland, das ja leider auch berücksichtigt werden
muß, wie im Ausland die Zeichen, daß die Einsicht in Deutschlands Unschuld um
Wachsen ist. Das Eingeständnis eines der größten Feinde des alten Systems,
Kautsky, der bekennt, er habe der alten Negierung unrecht getan — „ich war
überrascht als ich Einblick in die Akten bekam. Meine ursprüngliche Auffassung
erwies sich mir als unhaltbar. Deutschland hat auf den Weltkrieg nicht
planmäßig hingearbeitet) es hat ihn schließlich zu vermeiden gesucht" —
wird bei den Denkenden im Auslande schweres Gewicht haben. Auch die Verurteilung
des deutschen Ubootkrieges ist nicht mehr aufrechtzuerhalten,' seitdem die Revue
militairs nicht allein die militärische Berechtigung desselben anerkannt, sondern
sogar das Gebot der Warnung eines feindlichen Schiffes vor der Torpedierung
als „vollkommen ungerechtfertigt" dargetan hat. „Die Verwendung der Uboot-
waffe als entscheidenden Faktor in dem verflossenen Weltkrieg war daher in jeder
Weise gerecht." Den Engländern aber muß man die Stelle aus dem Balmoral-
brief Sasonows des Jahres 1912 vor Augen halten, wo der englische König mit
„sichtlicher Erregung" sagt, die „Engländer würden jedes deutsche Schiff, das ihnen
in die Hände kommt, in den Grund bohren", woran der russische Minister die
befriedigende Äußerung knüpft, daß diese Worte „augenscheinlich nicht nur persönliche
Gefühle Seiner Majestät widerspiegeln, sondern auch die in England herrschende
Stimmung in bezug auf Deutschland".
Die Forderung Deutschlands an die Entente, eine öffentliche Verhandlung
der Schuldfrage zuzulassen, muß immer von neuem aufgestellt werden. Daneben
soll sich der einzelne bemühen, durch Briefwechsel mit Angehörigen der feindlichen
Länder in Verbindung zu treten, um an seiner Stelle das Gespenst der Camouflage,
das für uns eine so furchtbare Gestalt angenommen hat, zu vernichten.
Deutschland als Ententekolonie. „Im Jahre 1850, sieben Jahre vor dem
Aufstand, wurde das Einkommen in Britisch-Jndien auf 17 Pfennig den Kopf
täglich geschätzt. Im Jahre 1882, eine Generation später, betrug das amtlich
geschätzte Einkommen nur 13V« Pfennig, im Jahre 1900 ergab eine Untersuchung
aller Einkommensquellen weniger als 2^/s Pfennig auf den Kopf täglich. Wie
groß die wirkliche Verarmung des indischen Bauern oder ländlichen Arbeiters in
Britisch-Jndien heute sein mag, wenn das Einkommen der ganzen wohlhabenden
Bevölkerung in den Städten und Bezirken Ungko-Jndiens abgezogen wird, ver¬
mögen sich kaum die Einwohner der ärmsten europäischen Staaten vorzustellen."
„Von der ganzen in Britisch-Jndien, d. h. in dem unter unmittelbarer
britischer Herrschaft stehenden Indien, erhobenen Steuersumme geben wir nur
1 Penny auf den Kopf für Erziehung aus, und nur 1,9 °/° der Bevölkerung geht
zur Schule. Die Verbesserungen der letzten 10 Jahre stehen nur auf dem Papier.
Sogar in Rußland, einem sehr armen und rückständigen Lande, betrug die Aus¬
gabe für Erziehungszwecke 7Vs Penny auf den Kopf, und die Schulkinder machen
4 bis 5°/° der Gesamtbevölkerung aus. Die Saumseligkeit der britischen Herr¬
schaft in dieser Richtung wird noch durch die Tatsache tiefer gestellt, daß in dem
Eingeborenenstaat Baroda im Jahre 1900 mehr als 8,6 7° der Gesamtbevölkerung
eingeschult waren, während es nunmehr feststeht, daß 100 7° der Jungens im
Schulalter in Baroda unterrichtet werden, gegenüber 21,5 in Britisch-Jndien und
81,6 7« der Mädchen gegenüber etwa 4 7°. Und doch nimmt das anglo-britische
Regiment Indiens für sich in Ar.syr.und, eine zivilisierte und hochfortschrittliche
Verwaltung zu sein." !i" . " -> ! ^ /! ! /
„Können wir uns wundern, wenn ein Gefühl tödlicher Mattigkeit, Nieder¬
geschlagenheit und des Bernichtetseins auf dem Teil Indiens ruht, wo die
Europäisierung am weitesten fortgeschritten ist? Alles Große und Bcwunderns-
werte in Indien ist in der Zeit geschaffen worden, wo es ein unabhängiges Reich
mit einer Reihe blühender Provinzen war. .... Frieden kann auch zu teuer
erkauft werden. Auch Gesetz und Ordnung, mögen sie theoretisch noch so be-
wundernswert sein, können zu einer zermalmenden Wirtschafts- und Rassentyrannei
werden, wenn sie von Fremden, aufgezwungen werden. Der Friede kann etwas
Verfluchenswertes sein, wenn er von fremder Gewaltherrschaft und wirtschaftlichem
Verderben begleitet ist."
Man hat viel und heiß darüber gestritten, ob die von Fehrenbach und
Simons unterzeichnete flehentliche Bitte um den Schiedsspruch des Präsidenten
der Vereinigten Staaten Politisch richtig war und ob sie der Würde der Nation
etwas vergab. Ich halte sie nicht für richtig. Ich bin durchaus gegen Maul¬
heldentum. Der einfachste Anstand verbietet es, scheppernd mit einem Säbel zu
rasseln, selbst wenn man einen hat. Wenn einem aber nur noch ein Kochtopf
gelassen worden ist, so kann man mit dem Scheppern höchstens Buschmänner
erschrecken oder Böswilligen Anlaß zu schnellerem Zuschlagen geben. Wir haben
ganz gewiß keinen Anlaß, uns in unserer Miserabligkeit noch auf Plätzen breit
zu machen, die wir tatsächlich nicht halten können. Aber sich noch kleiner zu
machen, als man wirklich ist, ist niemals klug und nur gerechtfertigt, wenn man
sich zum Sprunge duckt. Ich bin blindlings bereit, anzunehmen, daß der Reichs¬
minister über die Erfolgschancen seines Schrittes besser orientiert ist als ich, und
will freudig bekennen, daß ich mich geirrt habe, wenn er durch diesen Schritt dem
deutschen Westen weitere schwere Segnungen des Sieges der völkerbefreienden
Entente erspart, aber dennoch kann ein derartiges Aufgeben der eigenen Sache,
der bedingungs- und restlosen Übergabe an die Entscheidung eines Landfremden,
der obendrein eben noch Feind gewesen ist, nur mit der äußersten Notlage
entschuldigt, gerechtfertigt niemals werden. In dieser Note lag das Geständnis-
Deutschland ist ein Nichts, eine Sache, über die nicht Deutsche, sondern Fremde
Zu entscheiden haben. Daß Reichsministcr Simons trotz der Weltlage an den
endlichen Durchbruch des Rechtsgedankens so fest zu glauben vermag, wie er es
tut, ist ein schönes, ein erschütternd schönes Zeugnis für seine Idealität, und ganz
gewiß der philiströsen und verheerenden Mentalität des „Macht geht vor Recht"
vorzuziehen Aber was heißt hier Recht? Wer sthrieb dieses Recht? Ist der
Versailler Vertrag ein Ausdruck dieses Rechtsbewußtsems, das über uns entscheiden
soll? Soll ein Gesetzbuch über uns entscheiden, in dem unser Fall überhaupt
"icht vorgesehen ist? Ist es recht, wenn ein Mitglied einer Gemeinschaft für d,e
Folgen einer Katastrophe aufkommen, und nicht nur aufkommen, sondern schimpflich
büßen sol^ die7 seit? man die Auffassung des Ministers Massen wollte,
höchstens ourch seine aber nicht einmal seine alleinige Fahrwsstgkeit über alle
gekommen ist? Und gibt es nicht unter allen Umstanden ein Recht, in Freiheit,
d- h- nach den Gesetzen des eigenen Selbstbewußtseins und des eigenen Wachs¬
tums zu leben? Der einzelne kann, wenn er sich gegen das Gesetz, geschriebenes
°der ^geschriebenes, vergangen hat, wie Hebbels Kandaules, das Leben a^oder ehrlos in die Hand eines fremden Richters legen. Em Voll n,e Denn em
Volk ist nicht Vergangenheit und Gegenwart allem, em Voll ist «my Zu^und wer der ungebor-enen Generation durch Lebens^der mordet, und 1>le Verantwortung dafür wird 'hin acht erlassen, gie^d e er Mors, in.« Irrtum oder um edler Grundsätze willen begangen wuroe.
Eulen VA^ an gib! hilft kein gütiger^oll mehr und em Staats¬
mann, der ein Volk aufgibt, kann dauernde Er olge nicht mehr erringen. .
So vieleWorverfehlte Maßnahme! Es geht acht um die eme
Maß,lahm-e Es geiht um d e große Entscheidung. Die Bitte an Amerika ist das
Symptom einer gefährlichen Erkrankung, die °us der N.ederlage eilest^Eine Welle des verhängnisvollsten Quietismus ist über Deutschland gekommen.
Schon während des Krieges fiel in einer Versammlung führender Männer
Deutschlands das aufregende Wort: Die jetzige Generation ist doch schon verpfuscht.
Dann kam nach dem unheilvollen Telegramm der Obersten Heeresleitung die erste
Abdankung an Amerika, an ein Ideal, das nicht auf deutschem Boden gewachsen
war und darum deutschem Leben niemals gerecht werden konnte. Und dann
zerschlagen sich die Deutschen die Köpfe untereinander und die letzten Chancen für
ein freies Weiterbestehen der Nation, um Grundsätzen Geltung zu schaffen, die auf
russischem Boden gewachsen oder in Köpfen von wurzellosen, anationalen, also vom
Politischen abstrahierenden Theoretikern konstruiert worden waren. Und dann
entdeckte der Graf Keyserling, daß das ganze politische Leben Deutschlands in
den letzten fünfzig Jahren überhaupt ein grundsätzlicher Irrtum gewesen war
(„Deutschlands wahre Politische Mission". Otto Reicht Verlag Darmstadt).
Dieses sehr ernste und an sich vieles Wahre enthaltende Schriftchen begegnet
sich vielfach mit anderen Gedankengängen, die man schon vor dem Kriege äußern
hören konnte. Wozu dies Streben nach Weltpolitik, es entspricht nicht dem
deutschen Wesen, dessen wahre Aufgabe eine viel höhere ist. Ins Banausische über¬
setzt, heißt das: Warum lassen wir uns nicht einfach von den Engländern (aber
selbst die gleichgültigsten wagen bezeichnenderweise nicht hinzuzufügen: und von den
Franzosen) kolonisieren? Wir hätten augenblicklich ganz andere Aufgaben, als
unser staatspolitisches Bestehen zu erhalten.
Graf Keyserlings Denken ist bekanntlich stark von chinesischen und indischen
Gedankengängen beeinflußt worden. Gerade aber die Fälle Chinas und Indiens
lassen sich insofern mit Deutschland vergleichen, als auch dort nicht kulturell tiefer
stehende Völker wie Neger oder Indianer kolonisiert wurden, sondern kulturell
mindestens ebenbürtige, nach Meinung der kolonisierten Völker selbst aber über¬
legene. Und bekanntlich gibt es sowohl in China wie in Indien kluge führende
Männer, die Widerstand gegen das siegreiche Herrschervolk für unnütz und zerstörerisch
halten und es sogar begrüßen, daß die Engländer ihnen gewisse unangenehme
Dinge wie Polizei und Steuerwesen abnehmen. Aber wie glücklich die Chinesen
mit dieser Auffassung geworden sind, lehrt ihre Geschichte im 19. Jahrhundert, wie
glücklich die Inder, die Zitate, die diesen Aufsatz einleiten und dem sehr lesenswerten
und gerade jetzt für Deutsche lehrreichen Buche des Engländes Hyndmcm „Der
Aufstieg des Morgenlandes" (deutsch erschienen bei K. F. Koester, Leipzig 1921)
entnommen sind. Daß die kolonisatorischen Fähigkeiten der Engländer vielfach über¬
schätzt wurden, konnte, wer es nicht aus eigener Beobachtung wußte, bereits aus den
indischen Erzählungen des Imperialisten Kipling entnehmen. Welches Glück, auch
in unseren so zivilisierten Zeiten, die Kolonisierung selbst durch die angeblich
zivilisierteste Nation, die die Franzosen ganz gewiß nicht sind, bedeutet, beweist eben
das Buch von Hyndmcm, das das Erweichen der Asiaten schildert, beweisen auch
die erschütternden Zahlen für Irland, der ältesten Kolonie der Briten. Irland
zählte — immer wieder muß es gesagt werden — im Jahre 1840 8 287 848 Ein¬
wohner, im Jahre 1911 4 379 076, während die Bevölkerung Großbritanniens in
der gleichen Zeit von 18 534 332 auf 40 831 396 stieg. Kein Sophisma) keine
Militaristische Überlegung kann über diese Tatsachen hinwegkommen. Ein Volk,
das sich selbst aufgibt, ist verloren und kann auch idealen Aufgaben nicht mehr
genügen.
Aber freilich, es muß auch ein Volk sein, es muß sich auch als Volk fühlen.
Ist es dazu wirklich nötig, daß ihm die Fremden, Engländer, Amerikaner,
Franzosen, Polen, Tschechen handgreiflich zu verstehen geben, daß es ein Volk
ist? Deutsche sind es gewesen, die ihrem Volke nach der Katastrophe das Schicksal
der Juden prophezeit haben. Wollten doch Deutsche wenigstens das von den
Vielgeschmähten lernen, daß der eine Volksgenosse dem andern in allen Lebens¬
lagen hilfreich beisprang, unter allen Umständen den Volksgenossen höher stellte
als den Fremden. Wo immer ich im Auslande Deutschen begegnet bin, ob es
Kaufleute waren, Politiker oder Künstler, immer zeterten sie gegeneinander oder
setzten zu allererst einmal den Konkurrenten oder Mitstrebenden vor den Ohren
der Fremden herab. Das muß aufhören. Es muß auch im Inneren aufhören.
Deutsche sollten, welche Meinung immer der Volksgenosse vertritt, den guten
Glauben ihm niemals absprechen und sich hüten, den Kampf der Meinungen unnütz
durch Schmähungen zu vergiften. So oft ein Deutscher einen anderen kränkt
und beleidigt, wäre es nicht schöner und heilsamer, der andere dächte: auch der ist
ein Deutscher, er hat wie ich die verhängnisvolle Leidenschaft, den Volksgenossen
herabzusetzen und demütigen zu wollen und hat noch nicht wie ich gelernt, diese Leiden¬
schaft zu beherrschen, als daß er die Kränkung mit einer andern und womöglich noch
schmerzlicheren erwidert? Es ist das Verhängnis der deutschen Gesclnchte, daß dies Volk
in so vielen Fragen in zwei annähernd gleich starke Teile zerfällt, daß Industrie gegen
Landwirtschaft, der Norden gegen den Süden, Sozmlisten gegen Bürgertum,
Katholiken gegen Protestanten stehen. Werden wir unter dem äußeren Druck
entlud lernen, daß staatsmännische Kunst, die wider den starken natürlichen
Widerstand der unterliegenden Hälfte der einen Richtung Siege zu schaffen weiß,
?ur zweiten Ranges ist gegenüber einer, die den Widerstrebenden gemeinsame
Ziele zu weisen und beider Kräfte zur Erreichung dieser Kräfte zusammen¬
zufassen weiß? Aber möglich ist solche Staatskunst nur, wo das Streben der
Individuen, Parteien, Stände, Klassen, Konfessionen, Länder sich in sachlichen
Grenzen zu halten versteht und über die eigene Befriedigung die natürliche Ehr¬
furcht vor dem Volksgenossen stellt. Erst dann werden die Deutschen, alle
Deutschen sich wieder als ein Volk fühlen lernen, erst dann auch Mittel und
Wege, die Kraft zu einheitlichem Widerstande finden, die nötig sind, um seinen
B
.. Eines der lehrreichsten, ja notwendigsten Bücher, die im abgelaufenen Jahr
Mienen sind, ist die stoffreiche und formvollendete Geschichte des französischen
^attonallsmus von 1870 bis 1920, welche I. Kühn in Gemeinschaft mit trefflichen
^"^rbeitern verfaßt hat.*) Unendlich viel Erklärung, Anregung, Bereicherung
»u?^ > Rutsche Politiker dem Studium dieses Werkes entnehmen. Ich deute
c!A„Ztvei Grundlinien aus dem reichen und erschöpfenden Bilde an. Zunächst
im^ i Deutsche wohl danach, wie hat die geschlagene Nation in den Jahren
Se? l " Selbstgefühl wieder ausgebaut? Wir sehen, wie pflichtbewußte
t. uatsmänner in der Periode völliger Ohnmacht zwar nach außen korrekt auf-
^ri " und jedes herausfordernde Wort vermeiden, die Erfüllung des Frankfurter
^leoens und höchstens seine diplomatische Revision betonen, wie sie aber im
Di^'u alles tun, um im Volk die Erinnerung an das Erlittene wachzuhalten,
^n« ^ ^ Sinn des berühmten ^unus en parler, toHours 7 pevskr. Im
^"nem hat auch in der Zeit größter Schwäche die Regierung immer genügend
vn ver Niederlage und Wiederherstellung „gesprochen" oder doch sprechen lassen,
"^Mls aber die Nevanchegefühle in der Gesellschaft etwa zurückgedrängt. Der
'ucy außen so opportunistische, abwartende Gambetta sagt: „An dem Tage, da
Frankreich das Interesse an Elsaß-Lothringen verlöre, gäbe es kein Frankreich
mehr." Er gründet eine Revanchezeitschrift, die für Wiedergewinnung der ver¬
lorenen Provinzen arbeitet. Die Straffung des Volksgeistes ist die eine
Seite, die Wiedererlangung der verlorenen Bündnisfähigkeit die anderer Seite
seines Strebens. Gambetta hat schon 1877 ein interessantes Gespräch mit dein
späteren Eduard Vit. und bahnt 1875 die Entente mit Rußland an, vierzig
Jahre vor dem Ziel, so lange, zäh, geduldig, konsequent arbeitet diese
Politik. Nach Gambettas Tod wird die außenpolitische Linie mit' Erfolg
durch Freycinet, die innerpolitische Propaganda, die nationale Volkserziehung'
durch D6roulöde, den in Deutschland mit Unrecht verspotteten, weitergeführt.
Die Gründung der Patriotenliga 1882 ist ein großer Einschnitt. Man lese bei
Kühn nach, wie sie gearbeitet hat. Man verfolgt bewundernd die Summe von
Kraft, Hingebung und Intelligenz, die auf die Nationalisierung der verschiedenen
Schichten des Volks verwendet worden ist. Der übliche deutsche Standpunkt,
über den Chauvinismus die Achseln zu zucken, ist wirklich durch die Ereignisse
überholt. Man lernt aus dem Buch nachfühlen, mit wie großen Schwierigkeiten
die Nationalisten zu kämpfen hatten. In den neunziger Jahren schien ihre
Propaganda zu ermatten. Da aber kam durch Delcassö die außenpolitische
Bündniskette zum Abschluß. Und nun, seit 1904 vornehmlich, gelangt unter
bewußter, tätigster Pflege der Regierung (der Name Poincarö war hier ein
Programm) und der Intelligenz das Werk der geistigen Vorbereitung auf den
Rache- und Angriffskrieg zum Kulminationspunkt. Kubus Mitarbeiter haben
mit großer Gründlichkeit die einzelnen Zweige und Vehikel der Nationalisierung
verfolgt, die Arbeit in der Schule, im Roman, auf der Bühne, im Kino, in der
Militärliteratur, durch die Geschichtspslege, durch die Freimaurerei ebensowohl wie
durch die Kirche. Hier wirkte alles zusammen, und das „nationale Credo" wurde
der einigende Ersatz für das religiöse. Selbst die Börse wird rationalistisch
(S. 40, 319). Bemerkenswert ist, mit wie wenig Angst die Franzosen, seit sie
sich durch Bundesgenossen gedeckt wußten, der Gefahr einer zeitweiligen Über¬
flutung ihres eigenen Landes durch deutsche Heere entgegensahen. Man vergleiche
die den Schlieffenplan umstürzende Furcht der deutschen Regierungen vor einem
französischen Einfall nach Süddeutschland mit diesem disziplinierten Mut! Die
Franzosen wußten überdies, daß dieses Unglück niemals von Deutschland herauf¬
beschworen würde, denn, wie die Autorin 1901 schreibt: „Wenn die Wirkung deS
russischen Bündnisses die ist, daß es uns nicht unsere verlorenen Provinzen wieder¬
gibt, dann hätten wir es gar nicht nötig, gegen Deutschland geschützt zu sein,
das nur die Erhaltung des bestehenden Zustandes wünscht." Für die Frage der
Kriegsschuld enthält auch dies Buch erdrückendes Material. Die Offenheit, mit
welcher die französischen Militärs etwa seit 1912 den nahen Angriffskrieg
siegessicher verkünden, ist geradezu überwältigend. Davon weiß man bei uns
noch viel zu wenig. Auch die moralische Hauptschuld Englands tritt klar ins
Licht. Während die im ganzen friedliche und vermittelnde Haltung Nikolaus
des Zweiten die Franzosen meist enttäuscht, ist die Welle des Nationalgeistes und
der offensiven Bolksverhetzung unaufhörlich im Steigen, seit 1904, seit man
England auf dem Sprunge weiß. Jetzt reift die geduldig gesäte Ernte des Volks¬
hasses. So groß die Schuld Frankreichs ist, so sehr muß man aber auch die
gesunden und feinen Züge in der Pflege seines Nationalgefühls nach 1870 aner¬
kennen, die versuchte Ausmerzung der Nationalfehler, welche die Niederlage ver¬
schuldet hatten, das Lernen vom Sieger, die Pflege des Gemeingeistes, des Stolzes,
der Überlieferungen, des Heimatsinns. Wir können auch in dieser Hinsicht aus
dem Buche unerschöpflich lernen. Daß die Elsässer 1870 Wider ihren Willen
durch Deutschland zurückgeholt waren, während Frankreich in Savoyen und
Nizza abstimmen ließ, daß also Frankreich das Recht geschützt durch die Macht
verkörpere, Deutschland Gewalt vor Recht gehen lasse, ist nur eines der von der
deutschen Oppositionspresse der Zeit den Franzosen bereitgestellten Schlagwörter.
Dabei wa-r es für die Franzosen gar nicht leicht, die Massen im Haß zu erhalten.
Bedrückte doch Deutschland die Franzosen nicht im mindesten, ja die ganze Kriegs-
Entschädigung wurde ... in Deutschland selbst vielfach überzeichnet! Man fragt
sich, was aus Frankreich geworden wäre, wenn es künstlicher Aufreizung gar
nicht bedurft, wenn Deutschland ihm auch nur den zehnten Teil des dauernden
Leides zugefügt hätte, wie Frankreich uns von 1792 bis^1815 oder in unseren
Tagen. . .
Damit schweifen wir zu dem zweiten Grundzug hinüber, den ich aus dem
Buch hervorheben will. In einem gehaltreichen Schlußkapitel zeigt Kühn, wie
nach Ausbruch des Krieges die französische Ausdehnungspolitik über die Revanche,
die nur der alte Eroberungsdrang mit negativem Vorzeichen war, zurückbiegt in
die Säkulare Vormachtpolitik. Er zeigt, wie die Revision des Versailler Vertrags
heute die Hauptforderung in Frankreich ist. Denn dieser Vertrag ist viel zu
milde, er bleibt hinter den Mindestansprüchen der Kammer zurück, die Clemenceau
als „Kriegsverlierer" in Ungnade stürzt. Mit allem Ernst, allem Nachdruck wird
die Zerstückelung des Reichs, die Befreiung der Deutschen von Preußen, die
Herstellung der natürlichen Grenzen und, va es seit Ludwig dem Vierzehnten
und Napoleon bei den natürlichen Grenzen doch nicht bleibt, sobald sie erreicht
sind, die Beherrschung des Ruhrgebiets verlangt. Die Börse, die Industrie, das
Militär, die Kammer, die Massen, die Politisch kein anderes Kredo mehr haben
als Vernichtung des Boche, sind einig in diesem neuen Krieg, der weit größere
Triumphe, weit gesichertere und glänzendere Erfolge einbringen muß als der
schlechte, durch Engländer und Amerikaner verpfuschte Friede von Versailles.
Frankreich ist nicht saturiert. Es kann es immer weniger sein, je mehr es frißt,
und es wird immer unruhiger schlafen, je breiter es sich über Deutschland und
Europa legt. Kubus Schlußkapitel ist nicht das letzte, was in dieser Angelegen¬
heit geschrieben wird.
Rücksendung von Manuskripten erfolgt nur gegen beigefügtes Rückporto.
Nachdruck sämtlicher Aufsätze ist nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlages gestattet.
DTK ^V^S^ITQ 5l0K<5L5?l^5s0L8
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Von WI. »G» W>zf»»inn,»ii. Dberset^t von I^eggtions-Sekretär Dr. V. 0. von rientlg
II. bekandelt die "vVecKselwirKungen swiscken England, Europa und ^.hier in
gesckicktlick umfassender, volkstümlicker, auel vor Keiner Kritik des Engländers
und Europäers z-urücksckreckenden ^Veise. Lr zeigt guck, wie bei den Vor-
stölZen, die bald von asiatischer, bald europäischer Leite genante worden sind,
die Keine nunmekr wieder an ^hier ist, und — das ist für uns von nickt ge¬
ringer Bedeutung — dan dieser neueste jet?t einsetzende StolZ sick gegen
England ricktet. Das'WerK gibt mitkin gerade in unseren lagen—wo sick die sow^j elf
dieser Bewegung kükrend bemäcktigt Kaden — den ScKIüssel für das Ver-
ständnis von unsvsutscken fernliegenden, aber besonders -u bekei^igenden tragen.
vasLueK eines engliscKsnSoz-ialisten, wie fürs deutscke Volk gesckrieben. eine^ibel
f«r ^eden, der die Le-ieKungen der Erdteile Kennen lernen, umfassend politisck
denken, die Zeitereignisse in tieferen ^ussrnmenkängsn verödeten lernen will.
?reif Z4 1^.. gebunden 40 III.
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Ich habe gesehen, daß man mit Mut
und Willenskraft alles überwindet,
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^.«oevler.verlllz,
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Moderne
ztMtsvttftffullgen
ihr Wortlaut und ihr Wesen
gemeinverständlich dargestellt von
Dr. Karl ZichM
Preis 4,25 geh,. 6,50 gbd.
K. F. Koester, Verlag,
LeipzigAlexander Frhr. von lvangenheim
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Bergpredigt und Eddalehre
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Professor F. Helinke
Das werden u. vergehen der Völker
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Demnächst erscheinen folgende Werke
5r. Kolzhausen: „Das tausendjährige Reich", Dr, Hugo
Lach: „CrKenne dich selbst", Dr. is. Nähert: „Das deutsche
Volk, sein Sprachgebiet in Curopa und seine Sprache"
und „Die Kultur der germanischen Stämme bis zum
Ende des SranKenreiches der Merowinger", L. Tetzlasf:
„vom Märchen zum Evangelium".
5is-verlag in Zeitz-Gr.
Mo-stsrhrr^ S336S ^Lvipzi-g
A
I
I
IJer Untergang der österreichisch-
«ngarischen Monarchie
von Friedrich F. G. Kleinwaechter
Preis geheftet Mk. 84,—, gebunden Mi. 33.-.
Der Verfasser, dessen Name auch in Deutschland bekannt ist, schildert mit großer Anschaulichkeit die
verwickelten Verhältnisse Österreich-Ungarns. Der habsburgische Hausmachtgedanke, die Stellung der
Kaser zum Staatsgedanken, die Persönlichkeit Franz Josephs, die Bedeutung des Adels, vor allem
aber die Entwicklung des Deutschen Reiches zur Donaumonarchie werden von neuen wichtigen
Gesichtspunkten aus beleuchtet.I
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>F. Roehler, Verlag, Leipzi
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vleWlliiilzeii «er!« voiivmMll
Die Verötkentlicimngen a»5 cZem
Kommentar 211in ^rieclen^vertragse
rierauzgegeben von prot. Dr. kalter LcktloKing
Onroni^ aler ^riedenxvernanctinngen
net>5t einer Überiicbt über 6le Diplomatie 6e5 XVeltKriege!
Dr. jur. Norbert Krau! ^ (Zu^tap Un6iger
Privat6ozent an 6er Universität I-eipiig (Zeneimer t:«pe6. Leliretär im Auswärtigen ^ente
5teil t>ro5cniert 8,80 t^art
t^uülanci im frieö'enivertrag von Verziaillex
(^reit-el 116, 117, 292, 29Z, 4ZZ 6e5 friecien^vertrage!)
Kommentar net>5t ein5ctilägigen Idioten
bearbeitet von Dr. jur. I^. L. ÄtelmsNN
Deutsclier Konsul, ?.ur 2eit 6es ?rie6enszc>>Iusses Ketervnt tur 6lo russiscnen
5teil brozcniert 18 dlark °
Oaz internationale ^rbeitzrecnt im frieclenxvertrage
Kommentar inen l^sit XIII et« frie6enivertrage! von Verzaillez
Dr. jur. Paul L<^car6t ^ Lxvslci Kuttig
XVirlll. OeK. Legationsrat im Auswärtigen ^ente Lioriclitzassessor, Attacliv im Auswärtigen ^into
nebzt Entlang: Die soziale Verzicberung in ekelt abgetretenen Oebieten
von Prof. Dr. Zur. Dr. phil. streck t^Iane!
Lteik dro5cniert 18 r<darin
Qexverblicner ^ecntzxcnutz (^°«°rb)
uncl I^irneberreent im f^rie<jeu5vertrag von Verxaiilex
(Artikel Z06—Z11 5vo,le 274 uno 275 6e; frieäenzvertrage;)
von prokeüor Dr. Albert Oüterrietb
Lteik brozcbiert 15 r-lark
Die öenanctlung ater Verxicnerungxverträge im friecienx-
vertrage ?u Veriaillez.
(Artikel ZOZ Anlage 8 bi; 24 edel frie6en5vertragez)
Kommentar bearbeitet von
Dr. jur. L. LruoK
o. prokessor tur Verziclisrungsvissenscnakt an 6er Universität riamburx
Lteik dro5cnisrt 9 l^Jarle
privatrecntiicne Bedienungen ^xvixcnen krüneren s^eincZen
nacb elem friecZenivertrage
von Dr. Lrn-it
Lteik brozcbiert l l l^tarie
Oeut5er-<^xterreicn im f^riellenxvertrag von Verxaillez
(Artikel 80 6e5 f^rieclenzvertrage!)
Kommentar meh;t einzcnlägigen flöten
bearbeitet von Dr. üultolk I^SUN
Orckentl. Professor 6er Universität Hamburg, i. ^. 6es ?rie6onssci>Iusses Prof. 6er Universität Vier, Kekerent im
Ovutscliösterr. Ltaatsamt kiir ^ukeres un6 t»iitglie6 6er c!eutscr>öitvrr.?ris6eus6elvgation in Le. tZermain-on-t-ave
Lteik brozcbiert 14 l>4art '
Verlag von frsn? Vsnlen in verum XV 9, tünlutraKe 16
L)eut;alte Verlsg5ge!eil5mahl tur Politik und Oezcniente rü. ti. t^l.
in Kerim XV 8, Unter 6en Un6en 17/18
n folgendem werden Sätze wiedergegeben, die man im besetzten
Gebiet immer häufiger aus dem Munde einfacher Leute hören
kann. Sie zeigen, daß die Erfahrungen unserer Leidensgeschichte
nicht vergeblich gewesen sind, und geben denen, welche sich zur
Aufgabe gesetzt haben, die Massen national zu erziehen, Anhalts¬
punkte dafür, wie durch einfaches Aussprechen handgreiflich gewordener Wahrheiten
den Volksversührern Gelände abgewonnen werden kann.
1. „Solange die Verräter und Angeber bei uns ungestraft ihr Haupt hoch
tragen dürfen, kann es mit Deutschland nicht besser werden. Der Franzose hat
seine Landsleute nie verraten, das haben wir während der Kriegsjahre in Frank¬
reich selbst erlebt."
selbstsüchtiges Denunzianten- und Verrätertum wird allgemein verurteilt,
aber noch hat der gutmütige und schwerfällige Deutsche kein Mittel gefunden, den
Verrätern das Handwerk zu legen. Aber auch die Selbstbezichtiger, welche den
Standpunkt des Feindes sich zu eigen gemacht haben ohne unmittelbar selbst¬
süchtige Beweggründe, sondern aus verschwommenen Weltbürgertum oder weich¬
lichem Nachgeben, haben den Resonanzboden in der Bevölkerung verloren. Die
Macht der superkluger „Frankfurter Zeitung" und ihrer Geistesverwandten über
das Volk des besetzten Gebietes ist im Hinscheiden.
2. „Wenn es dem Vaterland schlecht geht, muß es auch dem einzelnen
schlecht gehen."
Die Geschäftsstockung beginnt diese Lehre zu enthüllen, die bisher, im
Fieberzustand unserer Wirtschaft während des Valuta-Umsturzes, noch nicht ge¬
nügend heraustreten konnte. Der noch immer hochbezahlte Arbeiterstand vermag
allerdings erst in seinem einsichtigeren Teil sich dieser Erkenntnis zu öffnen.
3. „Bei den Franzosen steht das Nationale über dem Politischen, bei uns
ist alles Politik."
Die Mißwirtschaft der weltbürgerlichen und utopischen Parteien in den
Gemeinderäten und Gemeindeverwaltungen befördert zugleich mit der bürgerlichen
Reaktion das Verständnis dafür, daß die nationalen Parteien realer, nüchterner,
pflichtbewußter und praktischer handeln; die „Politiker" sind infolge ihrer immer
mehr erkannten Unproduktivität weithin in Mißkredit gekommen. Die nächsten
Kommunalwahlen werden dies zahlenmäßig zeigen, und noch über das Zahlen¬
mäßige hinaus dürfte diese Ernüchterung auch bei den dem Sozialismus und
dem Zentrum eingeschworenen Massen wenigstens in der verminderten Energie
ihrer Überzeugungen wirken.
4. „Es ist alles wie vor hundert Jahren. Die Franzosen werden sich den
Kopf an der Wand einrennen, vorher freilich uns ruinieren. Wären wir einig,
so würden sich die Franzosen ein derartiges Verhalten gar nicht herausnehmen.
Das Schimpfen auf Preußen oder auf irgend einen anderen Teil Deutschlands
ist schädlich und sinnlos geworden."
Die Behauptung, daß ein wehrloses Volk sich mit seinen Nachbarn „ver¬
ständigen" könne, wird schon fast allgemein als Lüge empfunden. Es fehlt nur
an den unparteiischen und allgemein anerkannten Persönlichkeiten, um diese offiziell
noch vielfach aufrecht erhaltene lügnerische Hoffnung der allgemeinen Verachtung
und dem Zorn der heute noch so stumpfen Menge preiszugeben.
5. „Die, welche dem Machtstaat abschwören, haben am meisten dazu bei¬
getragen, auch die Freiheit zu zerstören."
Heute handelt es sich nicht mehr um Macht, sondern nur um Freiheit;
auch keine Verbesserung der Lage einzelner Volksschichten gegenüber anderen hilft
irgend etwas, bevor nicht die äußere Freiheit wieder errungen ist.
6. „Hätten wir nur ein Zehntel der jetzt dem Feinde geschuldeten 132
Milliarden Goldmark auf die eigene Wehrkraft gewendet, so würden wir jetzt jene
nicht zahlen brauchen. Weshalb legten wir die jetzt jährlich von uns geforderten
80 Papiermilliarden nicht lieber früher einmalig in Kanonen an?"
Eine anschauliche Gegenüberstellung aller Dividendenerträge der deutschen
Industrie auf der einen Seite, der erpreßten Zahlungen an die Entente anderer¬
seits beginnt heute auf die Massen zu wirken. Sie sind zum großen Teil schon
empfänglich dafür, daß die Summen, welche sie für ihre Arbeitgeber so ungern
erarbeiten, verschwindend gering sind im Vergleich zu den Summen, welche sie
jetzt für die Feinde erschuften müssen.
Die Franzosen sind nicht in der Lage, ganz Deutschland zu besetzen und
infolgedessen vermögen sie auch nicht zu verhindern, daß in dem äußerlich frei
verbliebenen Teil Deutschlands eine entsprechende Nutzanwendung aus den Er¬
fahrungen gezogen wird, welche die Bevölkerung der besetzten Gebiete handgreis-
lich und anschaulich zu machen begonnen hat. Das deutsche Volk soll sich jetzt
alljährlich um die Summen schröpfen lassen, welche es unumgänglich nötig zu
seinem eigenen Lebensunterhalt, für seine Schulen, Krankenhäuser, Versicherungen,
Straßenbau, Schaffung von Arbeitsstätten, überhaupt für die Möglichkeit zu
leben und zu wirken benötigt. Daß eine solche Lehre die Anschauungswelt des
Volkes verändert, wäre selbst bei Chinesen anzunehmen.
eit den Neuwahlen im Frühjahr 1919 sind die Stadtverordneten¬
versammlungen im parteipolitischer Sinne politisiert worden.
Es wird keine größere Gemeinde mehr geben, wo dies nicht der
Fall ist, selbst in kleineren Orten sind die Wahlen nach diesem
Gesichtspunkte vollzogen. .Nachdem alsdann im Herbst desselben
Jahres die Neuwahlen der unbesoldeten Magistratsmitglieder folgten, gilt dies nun
auch von den Magistraten, in denen sich nur noch vereinzelte frccktionSlvse besoldete
Mitglieder befinden. Jetzt herrschen die politischen Parteien in den Kommunal¬
verwaltungen. Anders war es vordem! Wenn früher auch schon in einigen Städten
die Politisierung durchgeführt war, so traf dies doch nur in kleinem Umfange zu/
man wird nicht fehlgehen, wenn man behauptet, daß zuvor in der Mehrzahl der
Gemeinden sich die Gemeindekörperschaften in politische Parteien nicht gliederten.
Allerdings, die Sozialdemokratie machte regelmäßig eine Ausnahme, sie trat da,
wo sie in den Gemeindekörperschaften Sitze inne hatte, als Politische Partei
mit Entschiedenheit auf/ und im Westen standen sich stellenweise Liberale und
das Zentrum gegenüber. Fragt man, wie sich diese Wandlung sachlich durch
kommunale Notwendigkeiten erklärt, so fällt es schwer, eine befriedigende Antwort
zu finden. Hatten sich die kommunalen Körperschaften in ihrer bisherigen
Gruppierung bewährt? Hatten sie das Interesse der Kommune gewahrt? Die
Leistungen der Gemeinden vor dem Krieg, erst recht aber die wahrend des Krieges
sprechen ein deutliches Ja! Die deutschen Stadtgemeinden waren Muster eines
gesunden Fortschrittes. Als die Politischen Parteien bei der Neubildung der
Gemeindevertretungen allgemein mit ihren Listen für die Wahlen auftraten, mag
dies hier und dort deshalb geschehen sein, weil die Vertreter der nichtsozialdemo-
kratischen Richtungen glaubten, sie könnten der Sozialdcmokmtie im Wahlkampf
besser begegnen, wenn sie die nichtsozialdemokratischcn Wähler unter Parteipolitischer
Parole zur Wahl ausriefen. Ausschlaggebend war aber doch ein anderes. Nach
der Revolution fühlten sich die politischen Parteien zu einer gewaltigen Macht
gewachsen, die gewillt ist, das -ganze öffentliche Leben zu beherrschen. Nach diesem
Willen find alle öffentlichen Dinge von dieser Macht zu übernehmen. Zweifelndes
Fragen, inwiefern die Politisierung der Verwaltungen eine Notwendigkeit sei, wurde
dahin beantwortet, Politik sei die Forderung des Tages, die Stadtparlamente
müßten parteipolitisch zusammengesetzt werden. Auch hob man hervor, daß die
politische Partei weite Ziele verfolge, daß sie nach großen Gesichtspunkten arbeite,
und daß in den Stadtverwaltungen auch solche Arbeit zu leisten sei. Doch auch
anderes vernahm man) Stimmen erhoben sich, und gerade auch solche von Männern,
die bisher in der Kommunalverwaltung erfolgreich gewesen, die da^ warnten, die for¬
derten, Parteipolitik müsse aus dem Rathaus ferngehalten werden) aber es war kein
Rufen im Streite, kein kraftvolles Entgegenstemmen, und nur wenige werden es
überall gewesen^ sein, die sich mit Energie gegen diese Entwicklung wehrten, die
alsbald auch die Kreis- und Provinzinalvertretungcn ergriff. Und doch, ist es der
richtige Weg, der hier gewiesen worden?
Die Neuwahlen in den Gemeinden stehen in absehbarer Zeit bevor. Ein
entsprechendes Gesetz muß bald erscheinen, denn die jetzigen, im Frühjahr 1.919
gewählten Stadtverordnetenversammlungen sind ohne Fristsetzung gewählt, ihre
Zusammensetzung entspricht nicht mehr dem Willen der Wähler, wie die späteren
Wahlen gezeigt haben. ES erhebt sich da die ernste Frage, ob der jetzige Zustand
ein solcher ist, der unter allen Umständen beibehalten werden muß oder ob wieder
andere Bahnen zu beschreiten find. Man beantworte es doch einmal ruhig, inwie¬
fern berührt die Arbeit in der Gemeinde die Parteipolitik? Die Politik gewiß,
insofern unter dieser Staats- und Regierungskunst verstanden wird. In der
Hauptsache ist aber die Arbeit in ihr verwaltend, die getragen sein soll von
gesunden wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen, nach vorwärts gerichteten
Gedanken, ist aber doch eben verwaltender Art. Ich greife eines Beispiels wegen
zu einer Tagesordnung einer öffentlichen Stadtverordnetenversammlung) sie lautet,
soweit es sich um Magistratsvorlagen handelt, wie folgt: 1. Mitteilungen 2. Auf¬
nahme einer Anleihe für Zwecke der Wvhnungsfiirsorge^ 3. Ortsftatut betr. die
Erhebung der Wertzuwachsstcuer 4. Gebührenordnung für die Freigabe von Bau¬
materialien 5. Teuerungszulagen für die städtischen Arbeiter und Arbeiterinnen
K.Richtlinien fürbas in den städtischen Kaufverträgen vorzubehaltendeWiederkaufsrecht
der Stadt 7. Bereitstellung eines Betrages zur Errichtung eines Glasverschlags
im Sockelgeschoß des Rathauses für ein Bureau 8. desgleichen eines Betrages zur
Aufstellung eines Windfangs 9. desgleichen eines Betrages für Herstellung eines
Toilcttenrcmms im Hauptgeschoß 10. desgleichen für Herstellung einer Scheidewand in
einem Bureau 11 desgleichen eines Betrages für die Instandsetzung und Erneuerung
von Inventarstücken einer Bürgerschule 12. Nachbewilligung zum Polizeikvstenstock
13. desgleichen eines Betrages zu einem Etatverlag 14. Schuljahresrechnungen
15. Rechnung der Elementarlehrer-Witwen-und Waisenkasse 16. desgleichen eines
städtischen Gutes 17. desgleichen der städtischen Wohnhäuser.
Ein Beispiel an Stelle von vielen! Was haben diese Vorlagen mit der
Parteipolitik zu tun? Nichts oder doch nur sehr, sehr wenig. Zahllose andere
Tagesordnungen könnte man vorlegen, aus denen sich dieselbe Antwort ergibt.
Es kann nicht geleugnet werden, daß die politischen Parteien sich große
Ziele gesteckt haben und die Dinge aus weitem Gesichtswinkel betrachten, aber
der Schwerpunkt der Verwaltung liegt doch in der täglichen Kleinarbeit, die,
wird sie nur treu und gewissenhaft ausgeübt, nicht weniger ehrenvoll ist. Eine
ganze Reihe von Vorlagen beschäftigt ständig die Gemeindevertretungen, bei denen
große politische Gesichtspunkte nicht in Frage kommen. Bei den meisten handelt
es sich darum, Dinge des täglichen Lebens sachkundig zu beurteilen, und hierzu
sind diejenigen Männer und Frauen in erster Linie berufen, die auf Grund ihrer
Erfahrung die Dinge fach- und fachgemäß zu betrachten vermögen. Freilich, es
muß ein großer Zug durch die Verwaltung gehen, an ihrer Spitze müssen Führer
stehen) großzügig läßt sich aber auch außerhalb der Parteipolitik arbeite», und
Persönlichkeiten, die zu führen vermögen, gibt es auch außerhalb der politischen
Fraktionen. Nun soll zwar nicht behauptet werden, daß unter den von den Poli¬
tischen Parteien Nominierten sich nicht sachkundige Kräfte befänden! Dies
zu behaupten wäre unsinnig, aber es liegt doch auf der Hand, daß bei der Auf¬
stellung der Listen die Politischen Parteien sich nicht allein von Gemeindenotwendig¬
keiten leiten lassen können, sie haben noch andere, im Interesse der Partei liegende
Rücksichten zu nehmen) sie haben auch Rücksicht zu nehmen auf solche Partei¬
mitglieder, die in der Partei bisher hervorragend tätig gewesen und sich um die
Partei verdient gemacht haben, und es scheiden hierbei vor allem alle diejenigen
Männer und Frauen für die Auswahl aus, und es sind dies nicht die unfähigsten,
die einer politischen Partei sich zu verschreiben nicht gesonnen sind. Wie viele
tüchtige Kräfte liegen dieserhalb brach. So versuchten früher die Stellen, in der
Hauptsache die Bürgervereine, die die Kandidaten aufstellten, sachverständige
Männer aus allen Ständen und Berufen zur Wahl zu präsentieren, wobei
allerdings in schwerer Benennung der tatsächlichen Verhältnisse die Arbeiterschaft
zu wenig berücksichtigt wurde. Die Aufstellung solcher aus fach- und sachkundigen
Männern sich zusammensetzender Kandidatenlisten wird nun erheblich erschwert
dadurch, daß die politischen Parteien je eine eigene Liste bilden, wodurch es aus¬
geschlossen ist, daß die einzelnen Stände und Berufe für die ganze Stadtverord¬
netenversammlung zweckentsprechend berücksichtigt werden. Das System der Ver¬
hältniswahl leistet zudem diesem Mangel überhaupt Vorschub. ES droht jetzt die
Gefahr, daß die einzelnen Stände und Berufe nicht in der Weise vertreten sind,
die ihnen nach ihrer Bedeutung für die Gemeinde zukommt, eine Gefahr, die bei
der Art der gemeindlichen Arbeit nicht zu unterschätzen ist,- es besteht die Möglich¬
keit, daß ein Teil der Mandatare, eben infolge mangelnder Sachkunde für die
hier in Betracht kommenden Dinge, den Führern der Parteien mehr oder weniger
willenlos folgt, wodurch das Gefühl der Verantwortlichkeit des einzelnen geschwächt
wird, und daß ein Teil für die eigentliche gemeindliche Arbeit ausscheidet. Es besteht
die weitere Gefahr, daß die parteipolitischer Fraktionen der Gemeindekörperschaften
bei dem besten Willen zu tüchtiger Arbeit, den niemand ihnen absprechen darf,
sich bei ihrer gemeindlichen Arbeit nicht in vollem Umfange von ihren Partei¬
politischen Interessen freimachen können. Das ist menschlich. Wer die Sitzungen
der Stadtverordnetenversammlungen verfolgt, kennt diese Gefahr und wird sie
nicht leugnen können. So werden die Stadtverordnetenversammlungen zum
Tummelplatz politischen Streits in einem Umfange, wie er den Geschäften nicht
dienlich, so erregen sich hier die politischen Leidenschaften in einem Maße, wie eS
einem kühlen Abwägen schädlich ist, so wird das Stadtparlament zur Kämpfer-
Stellung für den politischen Streiter. Besteht doch für den einseitigen Parteipolitiker
keine bessere Gelegenheit/ politische Gegensätze auszutragen, als hier allwöchentlich
oder alle 14 Tage in den Stadtparlamenten. Hier kann der politische Gegner
bekämpf^ hier kann er geschlagen werden. Schwer wird der Parteifanatiker dieser
Versuchung widerstehen, die sich ihm bietende Gelegenheit zu benutzen/ und auch
nicht immer wird er dem Hange begegnen/ im Rathause Erörterungen zu Pflegen,
die nicht in dieses/ sondern vor seine politischen Wähler gehören. Wie aber trägt
dies dazu bei/ die Sitzungen in das Unermeßliche wachsen zu lassen, welche Ver¬
schwendung wird auf solche Weise getrieben mit der Zeit und der Arbeitskraft
der Beteiligten, die stundenlang untätig zuhören müssen, ein nicht zu verant¬
wortender Raubbau, wo es gilt, zu arbeiten, aber nicht zu reden! Es wird so
dazu beigetragen, daß die politischen Leidenschaften nicht zur Ruhe kommen und
die Gegensätze in unserem Volke sich immer mehr verstärken. Eine traurige
Folgeerscheinung, wozu gerade die Stadtparlamente nicht das Mittel sein sollten/
im Gegenteil/ sie sollten zusammenführen/ nicht trennen/ sie, in denen die Bürger
sich in sachlicher Arbeit um das Wohl der Gemeinden zu finden vermöchten, in
denen Anhänger der verschiedenen politischen und Weltanschauungen sich am besten
kennen lernen und nähern könnten. Sie könnten es Wohl, aber eine Mauer schiebt
sich zwischen Mensch und Mensch/ hoch und schier unübersteigbar: die Partei!
Schmerzlich bewegt muß immer wieder dies Schauspiel von dem empfunden
werden/ der mit warmem Herzen/ doch kühlen Sinnen von der Tribüne darauf
herniederschaut. Soll niemals mehr hier ein Wandel werden?
Wie sagt doch Freiherr vom Stein/ der Schöpfer der Städteordnung?
„Sie — die Stadtverordneten — sind im vollsten Sinne Vertreter der ganzen
Bürgerschaft/ mithin so wenig Vertreter des einzelnen Bezirks, der sie gewählt
hat, noch einer Korporation, Zunft usw., der sie zufällig gehören." Auch nicht
einer Partei!
Welches Mißtrauen herrscht vielfach, welche Voreingenommenheit. Mensch
spricht nicht zu Mensch, Seele spinnt nicht zu Seele hinüber/ Partei spricht zu
Partei, Partei kämpft gegen Partei! Ist wirklich das/ was wir jetzt haben/ ein
Vorwärts/ ein Aufwärts? Deutscher muß wieder zu Deutschem sprechen/ Bürger
zu Bürger-/ jeder des anderen Wollen und Meinung ehren. Freiherr vom Stein
spricht: //Jeder Stadtverordnete wird durch das Vertrauen/ welches die Bürger¬
schaft vermöge der auf ihn gefallenen Wahl ihm bezeugt/ in einem hohen Grade
geehrt und hat daher unter seinen Mitbürgern auf eine vorzügliche öffentliche
Achtung Anspruch."
Das Leben in unseren Gemeinden gliedert sich nicht nach partei¬
politischer Gesichtspunkten/ sondern nach wirtschaftlichen und stän¬
dischen. Nach solchen Gesichtspunkten muß deshalb die Wahl zu den
städtischen Körperschaften erfolgen.
Noch eine große Gefahr birgt das heutige System. Die Versuchung ist
groß/ daß die politischen Parteien ihre Macht bei Besetzung der Ämter im Rat¬
haus gebrauchen. Wer der Versuchung unterliegt, kann unermeßlichen Schaden
anrichten, indem er statt freie Männer abhängige schafft, indem er politisches
Strebertum in die Kommunalverwaltungen hineinträgt. Wehe alsdann den Ge¬
meindeverwaltungen!
Diejenigen/ welche glaubten/ daß sie in der Übertragung des westlichen
Parlamentarismus auch auf unsere Kommunen eine fortschrittliche Idee verfolgte«/
irren sich. Fortschrittlich ist diese Idee nicht. Sie ist alt. Neu ist sie nur für
uns/ jungen frischen Blutes voll ist sie nicht. Männer und Frauen müssen in die
Gemeindekörperschaften berufen werden, die ohne Rücksicht auf Parteizugehörigkeit
gewählt sind, die ohne Parteifesseln frei sich entwickeln können an der schlichten
Arbeit in einer Gemeindeverwaltung/ die, in verschiedenen Weltanschauungen
wurzelnd, sich in dem einen Ziele leidenschaftlich zusammenfinden und zusammen¬
schließen: Deutschland wieder in die Höhe zu führen. Täglich bietet sich sür sie
hier die schönste Möglichkeit in Arbeit und entsagungsvoller Pflichterfüllung. Wo
ein Wille ist/ ist auch ein Weg. Noch gibt es ein Zurück auf den hier
beschrittenen Bahnen und ein Vorwärts auf neuen Wegen. Schon regt es
sich dieserhalb in der Bürgerschaft. Unpolitische Listen sei die Losung für
die nächsten Gemeindewahlen!
Langsam/ langsam zieht das Schiff die Bahn/ denn schwer ist es belastet/
schwer stampft es im Sturm/ aber vorwärts will wieder der Kurs. Das ferne
Ziel, das winkt, ist wirtschaftliches Blühen, sozialer Friede und edle Kultur in
unseren Gemeinden/ und mit ihnen, den Zellen des staatlichen Lebens, wächst auch
das Reich zu neuer Kraft.
in 8. Februar konnte man im Petit Journal einen kleinen, aber
sehr instruktiven Aussatz lesen mit der emphatischen Überschrift:
„lÄrlous av I-r ?oioZmz", aus dem wir erfahren, daß am 5> Februar
in den französischen Schulen aller Gattungen eine besondere Stunde
über Polen eingelegt worden ist. Der Versasser schildert uns eine
solche tepor, der er selbst beigewohnt hat, in der begeistert von dem Heroismus der
Polen gesprochen worden sei, von 1792 und 93, von 1830, auch von der Dankbar¬
keit Frankreichs gegen Polen/ er unterläßt aber auch nicht zu erzählen, daß die
Kinder, die er selbst über das Gehörte befragt habe, sehr wenig von all dem
Vorgetragenen verstanden hätten,- ein zehnjähriger Junge habe sogar nicht einmal
etwas von der polnischen Schapka gewußt! Der Berichterstatter fügt hinzu, es
sei besonders dankenswert, daß der Minister die kostenlose Verteilung der kurzen
Broschüre über „Polen und Frankreich", die das polnische Pariser Komitee heraus¬
gegeben hat, an französische Schüler zugelassen hat.
Früher, zur Zeit der LntWts cvräials, gab es für Frankreich natürlich
keine Polenpolitik in der Schule. Heute, wo alle ehemaligen Sympathien Frank¬
reichs für das unterdrückte Polen zusammengeflossen sind mit dem Haß Polens
gegen Deutschland, gibt es wieder eine aktive französische Polenpolitik mit positiven
Zielen. Der Zusammenbruch Rußlands und die dadurch eintretende Entlastung
Deutschlands im Osten zwang Frankreich zu einer aktiven Politik Polen gegen¬
über. Die allgemeine Entwicklung Deutschlands im vergangenen Jahre, besonders
die günstigen Abstimmungsergebnisse in Westpreußen, nicht weniger die drohende
bolschewistische Gefahr drängte das offizielle Frankreich zu immer aktiverer Polen¬
politik. Nicht durch Worte, nicht durch Paragraphen, so sagte Clömeneeau einmal,
könne ein neuer Staat konstituiert werden, sondern nur durch Handlungen,' man
müsse an die Zukunft Polens glauben, wie der Pole selbst an die Zukunft seiner
Rasse glaube, man müsse es schon um der französischen Interessen willen! Man
wurde nicht müde zu erklären, daß diese französischen Interessen an Polen Lebens¬
interessen des französischen Volkes seien. Selbst sozialistische Kreise forderten einen
starken polnischen Staat als Gegengewicht gegen das ihnen noch immer reaktionär
erscheinende Deutschland. Daß es bei alledem Frankreich nicht so sehr auf ein
wirklich freies Polen ankommt, sondern nur auf die brutale Vertretung der
eigenen Interessen, ist nicht schwer zu zeigen.
Die Rolle, die Frankreich Polen zugedacht hat, schildert uns Keynes treffend
in seinen „Wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrags" (S. 238): „Polen soll
stark, katholisch, militaristisch und treu sein, der Genosse oder wenigstens der
Liebling des siegreichen Frankreichs, glücklich und prächtig zwischen der Asche
Rußlands und den Trümmern Deutschlands." Vor allen Dingen soll das ideale
Polen, wie Frankreich es sich denkt, ein antideutscher Staat sein. All seinen
eigenen Haß gegen Deutschland sucht das offizielle Frankreich den Freunden an
der Weichsel einzuimpfen und findet dort gewiß viele, die dieses Gift gern in sich
aufnehmen. Auch hat man in Paris ein zu feines Organ für die Auswertung
politischer Tatsachen, um nicht alle nutzbaren deutschen Torheiten aufzuspüren und,
effektvoll beleuchtet, im richtigen Augenblick zu zeigen. Die Angst vor Deutschland,
besonders die Angst vor seinem wirtschaftlichen Wiedererstarken beherrscht seit
unserem Zusammenbruch die französische auswärtige Politik so vollständig, daß sie,
wie überhaupt, auch für die französische Polenpolitik das Leitmotiv ist. Seit der
Eröffnung der Friedenskonferenz im Januar 1919 bis heute ist es Frankreichs
größte Sorge, daß Deutschland mit dem bolschewistischen Rußland zusammengehen
könnte. Wie oft ist in der französischen Presse von einer geheimen Allianz
zwischen Deutschland und Rußland die Rede gewesen, die, wie Pichon am
17. Juni 1919 bei der großen Kammerdcbatte über die Vorgänge in Odessa
sagte, nur den Zweck habe, ein gemeinsames Borgehen gegen das geschwächte
Polen zu ermöglichen. Darum hat Frankreich auch sehr oft recht deutlich zu
erkennen gegeben, daß es in einen deutsch-polnischen Krieg sofort direkt eingreifen
würde. Die Legende eines bevorstehenden Angriffskrieges von Deutschland auf
Polen ist in Frankreich oft genug, so noch am 23. Dezember v. I. in der Pariser
Kammer erzählt worden und hat an der Seine wie in Polen stets gläubige
Gemüter gefunden. Sie war es, die schon im Februar 1919, als sich bei den
eben erst eröffneten Pariser Verhandlungen die ersten großen Schwierigkeiten im
Aufbau eines polnischen Staates nach französischem Geschmack ergaben, als es
unwahrscheinlich wurde, daß auf dem Wege der Verhandlungen zwischen den
Alliierten Polen die Westgrenze erhalten würde, die es im Interesse Frankreichs
brauchte, die Legende vom bevorstehenden deutschen Angriff, sage ich, war es, die
damals ClÄnenceau die sofortige Festlegung einer „Demarkationslinie" fordern
ließ. Er wußte zu genau, daß, solange eine französische Armee am Rhein stand,
die Deutschen das, was sie einmal an die Polen ausgeliefert hatten, nicht zurück¬
erhalten würden, selbst wenn der endgültige Friedensvertrag es bestimmen sollte.
Tatsächlich übernahm derFriedensvertrag dieDemarkationslinievom 16. Februar 1919
als polnische Westgrenze.
Um nämlich den französischen Interessen wirklich dienen zu können, mußte
das neue Polen sofort auf eine breite territoriale Grundlage gestellt werden.
Was war da wohl günstiger als die den französischen Chauvinisten besonders
wohltuende Phrase von der Wiederherstellung der historischen Grenzen! Dabei
dachte man vor allem an die Grenze gegen Deutschland. Buckle doch auch Polen
in dieser Zeit der Befreiung vom deutschen Joch hauptsächlich nach Westen. Die
russische Knute hatte man ja lange genug nicht mehr gespürt, hatte wohl auch die
von Osten her drohende Gefahr, die bis dahin von den deutschen Truppen fern¬
gehalten worden war, nicht richtig eingeschätzt. Ehe man sich von der Aufhebung
der deutschen Okkupation erholt und begriffen hatte, daß die so lang ersehnte
Freiheit Wirklichkeit geworden war, hatte man den überaus günstigen Augenblick
versäumt, den flüchtigen deutschen Truppen sofort nachzurücken. Selbst noch ohne
tüchtige eigene Armee, sah man sich an der alten deutschen Grenze vor einer
Schranke, die den Weg in die deutsch-polnischen Provinzen rücksichtslos versperrte.
Hier konnte nur die Friedenskonferenz in Paris helfen. Und die Hilfe von dort
mußte schnell kommen! Denn inzwischen regten sich die Bolschewisten im Osten,
vor denen Polen offen dalag. Ja, durch die Wendung der Dinge in Deutschland
hatten sie dort unerwartet einen Bundesgenossen gefunden. Alles deutete darauf
hin, daß Deutschland auf dem besten Wege zum Sowjetstaat war. Die Lage im
Osten hatte sich also durch den Zusammenbruch Deutschlands völlig verändert,
und zwar durchaus nicht zum Vorteil für die Entente. Am meisten empfand
Frankreich diese Wendung. Man müsse einem Zusammengehen Rußlands mit
Deutschland unbedingt zuvorkommen. Tauchte doch allgemein die kaum über¬
wundene Angst vor dem „boellö" von neuem auf, der als Verbündeter der
russischen Bestie noch gefährlicher erschien. Clsmenceau sah ein, daß man
schnellstens handeln müsse. Die Konferenz konnte noch kaum helfen. Auch waren
dort gleich zu Anfang starke Antipathien und widerstreitende Interessen zutage
getreten, so daß es ziemlich aussichtslos erschien, zu Beginn der Verhandlungen
bereits etwas Positives für die Lösung des polnischen Problems durchzusetzen.
Um eine provisorische Lösung im Sinne Frankreichs zu erreichen, bedürfte man
aber sehr sinnfälliger Schreckmittel, die Clömenceau in der Legende vom deutschen
Angriffskrieg auf Polen und mehr noch in der allgemeinen Furcht vor dem Bol¬
schewismus fand. Wie groß die Sorge vor den russischen Roten Armeen war,
ersieht man besonders deutlich aus der gesamten Ententepresse in den ersten
Monaten 1919) man fürchtete auch, daß ein Sieg des Spartakismus in Deutsch¬
land die Einleitung der Weltrevolution bedeuten könne und sah, daß die Ver¬
bindung beider Länder sicher allen Erwartungen ein Ende machen würde, die sich
auf die wirtschaftlichen und finanziellen Friedensbedingungen gründeten. (Keynes
S. 237.) Diese beiden Gründe rechtfertigten schnelles entschlossenes Handeln,
wozu man die schwerfällige Friedenskonferenz gar nicht brauchte. Der Marschall
Fons lauerte ja förmlich auf einen Wink) mit seiner Hilfe konnte man sofort
erreichen, was nötig schien. Clömenceau ließ denn auch diese Waffe nicht ungenutzt.
Bei der Waffenstillstandserneuerung im Februar 1919 stellte er als neue Forde¬
rung: „Die Deutschen müssen unverzüglich alle Offensivbewegungen gegen die
Polen in dem Gebiet von Posen oder in jedem anderen Gebiet aufgeben. — Zu
diesem Zweck wird ihnen untersagt, durch ihre Truppen überschreiten zu lassen"
folgende Linie.. .^) Die Festlegung dieser „Demarkationslinie" bedeutete praktisch
die Besitznahme Posens durch die Polen. Liest man die Verhandlungen vom
14. bis 16. Februar zwischen Fons und Erzberger über diese Frage, so sieht man
deutlich, daß der französische Marschall unbedingt gewillt ist, diese polnisch¬
französische Forderung durchzusetzen. Trotzdem wurde von Erzberger (oder von
General v. Hammerstein, dem die Verhandlungen in der posenschen Frage auf
Fonds Vorschlag übertragen wurden) damals ein großer Erfolg davongetragen.
Hatten doch die Alliierten am 14. Februar sogar verlangt, daß auch aus Ober¬
schlesien sämtliche deutschen Truppen zurückgezogen werden sollten,") was Wohl
gleichbedeutend gewesen wäre mit dem Verlust Oberschlesiens, das ohne Abstimmung
an Polen übergehen zu lassen einer der Hauptprogrammpunkte der französischen
Polenpolitik war.
Dieser Versuch scheiterte. So mußte denn mit allen Mitteln darauf hin¬
gearbeitet werden, die sofortige Übergabe Oberschlesiens an Polen ohne jede
Abstimmung im Friedensverträge festzulegen. Man behauptete, die Stimmung in
den Randgebieten sei so polenfreundlich, daß die Bevölkerung eine Abstimmung
überhaupt nicht wünsche, daß sie vielmehr ohne jedes Plebiszit an Polen über¬
gehen wolle. Und Wmenceau erreichte tatsächlich, was er wollte. In dem Ver¬
trage, der den Deutschen am 7. Mai vorgelegt wurde, war die Grenze so ge¬
zogen, daß Oberschlesien von Deutschland abgetrennt war.s) Nur durch die
Zähigkeit der deutschen Delegation während der Verhandlungen im Mai und
Juni bis zur endgültigen Unterzeichnung des Friedens und wohl auch durch die
gerechte deutsche Sache wurde eine Änderung dieser Bestimmung erkämpft: die
Alliierten gestehen die Abstimmung in Oberschlesien zu. In ihrer umfangreichen
Antwort vom 16. Juni heißt es: „...es mag zugegeben werden, daß Polen
keinen gesetzlichen Anspruch (no leZal olaiin) auf die Abtretung von Oberschlesien
hat,- es ist aber völlig falsch, ihm überhaupt keinen Anspruch zuzubilligen, der
sich auf die Prinzipien des Präsidenten Wilson stützen könnte. In dem Gebiete,
das abgetreten werden soll, ist die Mehrheit der Bevölkerung unstreitig polnisch.
Jedes deutsche Nachschlagewerk, jedes deutsche Schulbuch zeigt den deutschen
Kindern, daß die Einwohner ihrer Abstammung und ihrer Sprache nach Polen
sind. Die alliierten Mächte würden gegen die Prinzipien, die die deutsche Regie¬
rung angenommen zu haben behauptet, verstoßen, wenn sie die Ansprüche der
Polen auf dieses Gebiet unberücksichtigt ließen. — Die deutsche Regierung
bestreitet indessen jetzt diese Sätze und behauptet, die Lostrennung von Deutsch¬
land stehe nicht in Einklang mit den Wünschen und den Interessen der Bevölke¬
rung. Unter diesen Verhältnissen sind die Alliierten gewillt zu erlauben, daß die
Frage von der Bevölkerung selbst entschieden wird. Sie haben daher beschlossen,
daß dieses Gebiet nicht unmittelbar an Polen abgetreten werden soll, sondern daß
Vorkehrungen für eine Abstimmung dort getroffen werden sollen..." (Abs. VII).
Der diesem Abschnitte über Oberschlesien angefügte erklärende Satz: „Die Wieder¬
herstellung des polnischen Staates ist eine große historische Tat, bei der es nicht
vermieden werden kann, manche alte Bande zu zerreißen..klingt fast wie eine
Entschuldigung. Der Temps vom S6. Juni ist aufs höchste entrüstet über dieses
Zugeständnis/ er sagt, anstatt auf die deutschen Vorbereitungen zum Kriege gegen
Polen mit der Entziehung aller Plebiszite zu antworten, gebe die Konferenz noch
eins dazu! Keynes nennt diese Volksabstimmung in Oberschlesien „das wichtigste
von den Zugeständnissen, die Deutschland in der Schlußnote der Verbündeten
gewährt wurden" (S. 66).
Durch den am 23. Juni unterzeichneten Vertrag war die Westgrenze Polens
in der Hauptsache festgelegt. Oberschlesien und ein Teil von Ost- und West-
Preußen sollte seinen Willen durch Abstimmung zum Ausdruck bringen. Der ver¬
gangene Sommer trug uns im nördlichen dieser beiden Gebiete einen gewaltigen
Sieg ein. Welche Wirkung dieser Sieg auf Frankreich ausübte, weiß jeder. Es
versuchte von da ab mit allen Mitteln, die Abstimmung in Oberschlesien zu einem
Polnischen Siege zu machen. Der Versuch, getrennte Abstimmung zu erzwingen,
wurde aufgegeben. Die Pariser Beschlüsse vom Januar d. I. und die Londoner
Konferenz beeinflußten genug. Keynes hat völlig recht, wenn er sagt: „Jede
Ortschaft kann dadurch, daß sie für Polen stimmt, der Last der Kriegsentschädigung
und der zermalmenden Besteuerung entgehen, die die Abstimmung für Deutschland
zur Folge hat. Das ist nicht zu vergessen. Andererseits könnte der bankerotte
Zustand, so fährt Keynes fort, und die Unfähigkeit des neuen polnischen Staates
die abschrecken, die eher aus wirtschaftlichen als aus Rassegründen (für Polen)
zu stimmen geneigt wären. Man hat auch darauf hingewiesen, daß die Lebens¬
bedingungen, was Hygiene und soziale Gesetzgebung betrifft, in Oberschlesien
unvergleichlich besser sind als in den angrenzenden Gebieten Polens, wo eine
ähnliche Gesetzgebung noch in den Kinderschuhen steckt."') Die Abstimmung vom
20. März hat eine entschiedene deutsche Mehrheit ergeben. So muß denn der
Friedensvertrag herhalten, um eine für Polen günstige Grenze zu schaffen (Z 5
der Anlage zu Art. 88). Das Ziel ist, Deutschlands Kohlenförderung zu treffen/')
Die Abtrennung Oberschlesiens von Deuischland soll besiegeln, was so viele
Franzosen von Herzen wünschen: den völligen Zerfall Deutschlands. Sagte doch
Gabriel Hanotaux einmal ganz offen, die eigentliche Schwäche des Vertrags
bestehe darin, daß er ein einiges Deutschland bestehen lasse.") Diese Loslösung
Oberschlesiens von Deutschland, die man heute mit allen Mitteln in Paris betreibt,
sucht Frankreich auch dadurch zu erreichen, daß es immer wieder hervorhebt:
Polen brauche die oberschlesischen Gruben unbedingt für die Entwicklung seiner
Industrie. Keynes, der allerdings gerade kein Freund Polens ist, ist da ganz
anderer Ansicht, wie aus den „Wirtschaftlichen Folgen" und noch deutlicher aus
der Broschüre: „Der Friedensvertrag von Versailles" hervorgeht. Er sagt,
Polen brauche die Gruben, die für das deutsche Wirtschaftsleben wesentlich seien,
nicht, es könne ohne Zuschuß aus Oberschlesien seinen Bedarf durch bessere Aus¬
beutung seiner eigenen, noch nicht wissenschaftlich betriebenen Gruben oder aus
den von ihm jetzt annektierten westgalizischen Gruben befriedigen/) So sehr
man nun in Frankreich wünscht, Oberschlesien von Deutschland abzutrennen, so
wenig geschieht das im eigentlichen Interesse Polens. Denn einen Aufbau der
polnischen Industrie wollen die Franzosen durchaus nicht? das hieße ja, sich eine
Konkurrentin selbst heranziehen! Dagegen würde das oberschlesische Kohlengebiet
in polnischen Händen den jungen Staat zu einem wertvollen Ausbeuteobjekt
machen? es würde Polen, dessen trostlose Finanzlage man an der Seine allzu
genau kennt, auch etwas zahlungsfähiger machen, worauf die Franzosen großen
Wert legen, nachdem sie in Rußland so viele Milliarden eingebüßt haben. Nachdem
alle bisherigen, scheinbar auf den Friedensvertrag gestützten, Versuche nicht zum
Ziele führten, wurde dann im Einverständnis mit Korfanty und polnischer Re¬
gierung der Aufstand in Szene gesetzt. ^)
Ähnlich wie die oberschlesische Frage behandelte Frankreich auch die
Danziger Frage. Auch hier war das Ziel: sofortige Abtrennung von Deutsch¬
land ohne irgendwelche Abstimmung. Dieses Ziel wurde durch den Friedens¬
vertrag voll erreicht (Art. 100 bis 108). Es ist recht wahrscheinlich, daß der
Abtransport der Hallerschen Legionen über Danzig, wie er von Fons im März 1919
auf Grund des Artikels XVI des Waffenstillstandsabkommcns gefordert wurde,
auf eine Besetzung der Stadt durch diese Truppen hinaufgelaufen wäre. Aus
den Verhandlungen, die seit dem 5. März 1919 geführt wurden,") geht mit
Sicherheit hervor, daß die von den Alliierten offenbar ganz unerwartet gestellte
Forderungzum Ziele hatte, was Paderewski bei seiner Anwesenheit in Danzig
im Dezember 1918 unverblümt ausgesprochen hatte: „Wenn die polnischen Divi¬
sionen aus Frankreich und Italien erst einmal in Danzig sind, so werden Danzig
und ganz Westpreußen Polnisch werden,") Hätten die Engländer sich nicht sehr
ablehnend gegen Clömenceaus Danziger Politik verhalten, so hätte die deutsche
Weigerung schwerlich viel genützt. Bezeichnend aber ist, daß der Marschall Fons,
obwohl er am 3. April ausdrücklich erklärte, seine Forderung entspreche völlig
der Rechtsgrundlage des Artikels XVI, auch könne er eine andere Auslegung^)
des Artikels nicht annehmen, ja hinzufügt, dies sei ein formeller Beschluß der
alliierten und assoziierten Regierungen und auch die Meinung des Präsidenten
Wilson, trotzdem nicht abgeneigt ist, seine Forderung fallen zu lassen.^) Dieser
Schritt war also gescheitert. So mußte- der Friedensvertrag die Lösung bringen.
Das Ziel, ein Eingangstor nach Polen sich zu öffnen, durch das sie ihre Ver¬
bündeten schnell mit Waffen, Munition und nötigenfalls mit Truppen unterstützen
konnten, ließen die Franzosen nicht aus den Augen. Sie sahen in Danzig weniger
eine Handelsstadt, die dem jungen polnischen Staate zu überlassen sei, um seine
wirtschaftliche Entwicklung zu fördern) sie sahen vielmehr in ihr — und trugen
das gern schwungvoll vor — die ehemals polnische Stadt, die aus historischen
Gründen, um „das größte Verbrechen der Geschichte wieder gut zu machen",")
den Deutschen genommen werden müsse. Danzig war für sie eine rein polnische
Stadt, die ebenso wie das „polnische" Westpreußen den Polen zukomme. Aber
auf der Konferenz war es durchaus nicht allgemein anerkannt, daß Danzig eine
Polnische Stadt sei, vielmehr bekämpften die Engländer und Amerikaner diese
Auffassung ziemlich scharf, ohne deshalb etwa Danzig den Deutschen lassen zu
wollen. Der Kompromiß, der geschlossen wurde, ^°) bestimmte, ohne die Stadt
auch nur im geringsten über ihr eigenes Schicksal zu befragen, die Abtrennung von
Deutschland und den ziemlich engen Anschluß an Polen, -voran auch alle deutschen
Proteste nichts haben ändern können.
Damit ist die deutsche Seite der französischen Polenpvlitik in der Haupt¬
sache erschöpft. Es bleibt uns noch die russische. Polen fand in seinem Gegensatz
zu Nußland einen guten Verbündeten in der allgemeinen Furcht vor dem Bolsche¬
wismus, der die Pariser Konferenz und insbesondere die Franzosen beherrschte.
Die Polenpolitik, die man.am Quai d'Orsai seit 1917 trieb, trägt einen ent-
schiedenen antibolschewistischen Zug, aus dem heraus sie den Polen nicht ungern
einen gewissen Imperialismus zugesteht. Frankreichs zäher Kampf gegen das
bolschewistische Rußland, in dem die Polen nichts weiter waren als ein für
französische Interessen kämpfender und blutender Stoßtrupp, verleitete die Polen
zu dem Glauben, der große Bruder im Westen billige den polnischen Imperialis¬
mus, während doch in Wahrheit Frankreich durch Niederwerfung des Bolschewis¬
mus nichts anderes erstrebte als die Wiederaufrichtung eines starken Rußlands,
um einen mächtigen Bundesgenossen gegen Deutschland zu haben. So zeigte es
in den letzten Jahren auch durchaus keine antirussische Tendenz (nur eine anti¬
bolschewistische!), was bei der typisch antideutschen Einstellung der französischen
Politik ja auch nicht verständlich wäre. Natürlich werden diese nationalistischen
französischen Interessen geschickt maskiert mit Redewendungen vom Kampfe um
die Kultur usw. Man müsse, sagte Cl6menceau am 23. Dezember 1919, einen
Stacheldraht um das bolschewistische Rußland ziehen und denkt dabei neben einem
starken Polen, das er ausdrücklich erwähnt, an die Reihe der anderen Raubstaaten.
Polen erscheint in diesem ganzen Spiele als ein raffiniert gesetzter, außerordentlich
wichtiger Stein, der Frankreichs offene Flanke im Osten decken sollte. Die
Anzeichen mehren sich, daß Polens hochpolitische Rolle, die es für Frankreich seit
dem Waffenstillstand gespielt hat, zu Ende geht. Pilsudskis Mißerfolg in Paris
und die Wiederaufnahme der Handelsbeziehungen zu Sowjetrußland künden eine
Neuorientierung der französischen Politik im Osten an. Gewiß haben die Polen
durch ihre sinnlose imperialistische Politik, durch Extratouren, wie den Überfall
Wilnas im Oktober v. I. durch General ZeligorSki, sich manche Sympathien in
Frankreich verscherzt, aber bestimmend für Frankreich ist eben doch sein eigenes
Interesse. Die doppelte Tendenz der französischen Polenpolitik seit dem
November 1918, antideutsch und antibolschewistisch, herausgeboren aus einer
völlig unklaren Lage im Osten, wie sie der Zusammenbruch Rußlands gebracht
hatte, war auf die Dauer unmöglich. Die Klärung der östlichen Verhältnisse hat
auch am Quai d'Orsai klärend gewirkt: die bisherige antideutsche und anti-
bolschewistische Polenpolitik ist im Begriff, sich umzustellen zu einer reinen anti¬
deutschen Ostpolitik Frankreichs.
in Märzheft der Preußischen Jahrbücher gibt der Professor Hans
Delbrück in einer Abhandlung über „die strategische Grundfrage
des Weltkriegs" eine kurzgefaßte Beurteilung des deutschen Auf¬
marschs von 1914 und der Führung der Operationen nach dem
Scheitern der Wcstoffensive an der Marne. Der Aufsatz, der zum
Teil Wiederholungen schon früher niedergelegter Anschauungen enthält/ bringt trotz
der verheißungsvoller „Benutzung ungedruckter Aktenstücke" keine Tatsachen, die
nicht bereits von anderen Fachmännern veröffentlicht worden wären. Seine
Bedeutung liegt in seiner Eigenschaft als Vademekum für Delbrücks Anhänger, die
nun glauben werden, endlich in den Besitz der Patentlösung jener schwierigen
Fragen gelangt zu sein. Bei den Gläubigen ketzerische Gedanken zu erwecken und
für die nicht auf Hans Delbrück eingeschworenen Leser jenes Artikels die irrtüm¬
lichen Anschauungen seines Verfassers nachzuweisen, ist der Zweck dieser Zeilen.
Sie sollen sich nur mit dem Aufmarsch beschäftigen, dem der größte Teil der
Delbrückschen Erörterungen gewidmet ist.
Delbrücks Gedankengang ist folgender: Der Schlieffensche Plan — vor¬
läufige Verteidigung gegen Rußland, Angriff gegen die feindlichen Westheere mit
der Masse der Armee und mit einem durch Belgien marschierenden möglichst starken
rechten UmfassungSflügel — hat Praktisch genommen gar nicht bestanden, da seine
für das Entstehungsjahr 1905 richtige Voraussetzung einer nur sehr geringen
Leistungsfähigkeit des russischen Heeres 1914 nicht mehr zutraf. Schliessen hat
ferner 1912 nnter Berücksichtigung der inzwischen veränderten Verhältnisse dein
Plan von 1905 widersprechende Betrachtungen niedergeschrieben, die einen gleich¬
zeitigen Angriff gegen alle Teile der feindlichen Westfront vorsahen, zu dem die
zahlenmäßige Stärke des deutschen Heeres aber nicht ausreichte. Er war sich
außerdem darüber klar, daß wir auch nach einem entscheidenden großen Sieg in
Frankreich nicht in der Lage sein würden, die Armeen mach Nußland zu überführen.
Auf diese Feststellung ist es zurückzuführen, daß Moltke so zögernd den Entschluß
zum Kriege fand und daß der Kaiser und Bethmann Hollweg von Anfang an so
Pessimistisch über den KriegsauSgcmg dachten.
Unter dem General v. Moltke, so fährt Delbrück fort, ist, sehr wahrscheinlich
auf Anregung des damaligen Obersten Ludendorff, der Schlieffensche Plan dahin
geändert worden, daß der Umfassnngsgedanle zwar beibehalten, der linke Flügel
aber in Erwartung eines französischen Angriffs nach Lothringen und aus anderen
Gründen allmählich mehr und mehr'verstärkt wurde, so daß schließlich nicht mehr
alle Kraft im rechten Flügel lag, sondern die Truppen ziemlich gleichmäßig über
die ganze Front verteilt waren. Zur Verteidigung dieses „Ludendorffschcn" Planes
glaubt Delbrück manches anführen zu können, unter anderem: daß man sich im
Generalstab vorgestellt haben könne, daß der allerdings komplizierte Plan die
Möglichkeit eines schnelleren und sehr viel größeren Sieges böte, nämlich eines
solchen in Lothringen, als der Schlieffensche. Dieser ist aber auch nach Delbrück
der bessere gewesen und schloß größere Erfolgsmöglichkeiten in sich als seine
Umformung.
Der Moltkesche Plan ist gescheitert. Zweifellos, sagt Delbrück, sind bei
seiner Ausführung Fehler gemacht worden. Die Führung durch die Oberste
Heeresleitung war mangelhaft, Vülows Lage am 9. 9. machte einen Rückzug der
2. Armee vielleicht nicht erforderlich. Infolge der Wegnahme zweier Korps vom
rechten Flügel scheiterte die geplante Umfassung des feindlichen Gesamtheeres, die
beabsichtigte Verstärkung des rechten deutschen Flügels durch Teile des linken
während der Marneschlacht kam zu spät. Aber Fehler sind in allen Kriegen
gemacht worden, auch erhebliche blieben ohne Wirkung auf einen günstigen End¬
erfolg, wenn nur die Anlage des Feldzuges richtig war. Sogar schwerere Fehler
preußischerseitö als sie 1914 vorkamen, haben z."B. 1866 die Niederlage der
Österreicher nicht abwenden können. Zu erheblich dürfen die Fehler freilich nicht
sein. 1914 aber fehlte es an der richtigen Anlage. Der Plan war falsch, deswegen
mußte er scheitern. Wir waren zu schwach, um die Niederwerfung der feindlichen
Westheerc anstreben zu können. Schon aus diesem Grunde hatten wir nach Delbrück
von vorderem keine Aussicht, den Westfeind „abzutun", während wir die Russen
inzwischen abwehrten. Hatten doch im Osten nur 1 740 000 Deutsche und Öster¬
reicher gegen 3 800 000 Russen und Serben zu kämpfen. Sie konnten unmöglich
so lange standstalten, bis der Gegner im Westen niedergeworfen war. Denn auch
wenn die Marneschlacht siegreich für uns ausgelaufen wäre, Hütten wir, wie auch
der General v. Kühl zugebe, eine Niederwerfung der Westgegner damit noch nicht
erreicht, sondern dazu die Operationen in Frankreich fortsetzen müssen. Die dafür
nötigen Kräfte würden die Russen uns nicht »gelassen haben. Schon nach dem
Verlust von Lemberg und Galizien wurde das deutsche Westheer für seine Aufgabe
zu schwach, da es „Divisionen über Divisionen" nach dem Osten abgeben mußte.
Außerdem aber hätten im Fall eines deutschen Marnesieges die Engländer sofort
die allgemeine Wehrpflicht eingeführt und die Amerikaner wären sofort in den Krieg
eingetreten. Bis zum Eintreffen der Helfer hätten die Franzosen sich hinter die
Loire oder gar die Garonne zurückgezogen, vielleicht sogar vorübergehend einen
Tilsiter Frieden geschlossen. Das Ergebnis wäre immer ein Stellungskrieg in
Frankreich gewesen.
Da also, so meint Delbrück, unsere Gesamtkräfte zu schwach waren, um
Bernichtungsstrategie zu treiben, hätten wir unseren Operationsplan unter Verzicht
auf das Aufdrehen einer schnellen Entscheidung auf der Zermürbungsstrategic auf¬
bauen müssen. Die erste Folge dieses Entschlusses wäre die Einstellung auf einen
langen Krieg und dementsprechend eine weitgehende wirtschaftliche Vorbereitung
gewesen. Da aber Graf Schliessen im Gegensatz zum Feldmarschall Moltke eine
lange Dauer moderner Kriege verneinte, wurden wirtschaftliche Vorbereitungen
nicht getroffen. Die zweite Folge wäre dann ein Operationsplan gewesen, der sich
das Verfahren Friedrichs des Großen zum Vorbild nahm. Er konnte nach Delbrück
etwa folgende Gestalt haben:
1. Defensive gegen Frankreich. Dadurch wurde der Durchmarsch durch
Belgien unnötig, und es ist sehr fraglich, ob England dann nicht überhaupt oder
wenigstens noch längere Zeit neutral geblieben wäre. Hielt man aber einen Durch¬
marsch durch Belgien für eine unvermeidliche Notwendigkeit, so durfte dieser nicht
in der Absicht erfolgen, dem Westgegner einen vernichtenden Schlag zu versetzen,
sondern durfte nur den Zweck haben, uns durch Besetzung von Belgien und Nord¬
frankreich einschließlich der Kanalküste von der Scheide bis zur Sommemündung
eine breite und sichere Basis zu schaffen. Diesen Erfolg konnten wir auch bei einer
Schwächung des Westheeres zugunsten des Ostens mit Sicherheit erreichen. In
ganz ähnlicher Weise hat Friedrich der Große 1756 unter Verzicht auf den ihm
gegen die Österreicher in sicherer Aussicht stehenden Erfolg sich mit der durch
Besitznahme Sachsens gewonnenen Basis begnügt.
2. Unter Verstärkung des Ostheeres auf Kosten des Westheeres deutsch¬
österreichischer Angriff gegen die Russen mit dem beschränkten Ziel, uns mit einem
sicheren großen Erfolg gegen die vorgeschobenen Teile der Nüssen in Litauen,
Polen und Wvlhhnien zu begnügen. Durch ein solches Verfahren wäre gleichzeitig
die frühe Niederlage der Österreicher in Galizien vermieden worden.
Der Leser wird fragen, wie nach einer solchen FeldzugSeröffnung die Weiter¬
führung der Operationen gedacht war, um unsere Gegner friedenswillig zu machen,
denn dieses Ziel muß doch in mehr oder weniger starker Ausgeprägtheit jedem
OperationZPlan zugrunde liegen. Delbrücks Antwort läßt sich aus seiner Beurteilung
der späteren Kriegführung entnehmen. Sie lautet: Defensive im großen, die aber
nicht den Charakter der starren Abwehr tragen darf, sondern durch kräftige Angriffs¬
schläge dem Gegner allmählich die Überzeugung einhämmert, daß er trotz zahlen¬
mäßiger Überlegenheit nicht imstande ist zu siegen. Er wird um so eher geneigt
sein den Krieg zu beendigen, als eine Anlage des Krieges wie die vorgeschlagene
den Gedanken eines Berständigungsfriedens in sich schließt.
Ein solcher Operationsplan konnte nach Delbrück im deutschen Generalstab
allerdings unmöglich entstehen. Dem standen die festgewurzelte Auffassung von
der kurzen Dauer zukünftiger Kriege und der „orthodoxe Dogmatismus" der ein¬
seitig geschulten Generalstabsvffiziere entgegen, die Friedrich den Großen nicht
verstehen gelernt hatten und deshalb eine Strategie nicht anerkannten, die nicht
auf die Niederwerfung des Gegners ausging.
So weit Hans Delbrück. Sehen wir uns nun die Bausteine und die
Konstruktion seines anscheinend schönen Gebäudes etwas näher an.
Es ist zutreffend, daß Schliessen 1905 dem durch den japanischen Krieg
und die Revolution geschwächten Nußland nur eine geringe Berücksichtigung schenken
zu dürfen glaubte. Das ändert aber nichts daran, daß der General dem starken
Rußland vor 1904 und dem später wiedererstarkten gegenüber dasselbe Verfahren
eingeschlagen hat wie im Operationsplan von 1905. Er hat ja doch auch in
seinen Betrachtungen von 1912 sich mit allen irgendwie verfügbar zu machenden
Kräften auf Frankreich stürzen wollen, also bis zu seinem Tode an dem Plan von
1905 festgehalten, trotzdem er selbstverständlich unterrichtet war über den großzügigen
Neuaufbau der Wehrmacht Rußlands, dessen große Heeresvorlage von 1910, die
einen bedeutenden Kräftezuwachs an Feldtruppen und eine Beschleunigung der
Mobilmachung brachte, bis 1912 durchgeführt war. Diese Tatsachen, die Delbrück
übersieht, beweisen hinreichend, daß der Plan von 1905, an den VerlMmssm von
1914 gemessen, nicht zu einer bloßen Idee geworden, sondern der auch für die
damalige Lage grundlegende Plan geblieben war.
Des Feldmarschalls Aufzeichnungen von 1912 können auch nicht als Beweis
dafür angeführt werden, daß Schliessen selbst in der Folgezeit seinen Feldzugsplan
gegen Frankreich grundlegend geändert hatte. Er hat ihn nur in der Ausführung
noch gewaltiger gestaltet als den von 1905, indem er an die Stelle der einseitigen
großen Umfassung die nach Eindrücken der Flügel des auf der ganzen Front im
Gegenangriff angenommenen Gegners einsetzende beiderseitige, zur Einkreisung
führende Umfassung gesetzt hat. Auch bei dieser wird aber wie bisher der Haupt¬
druck mit dem rechten deutschen Flügel ausgeübt. Bei seiner Kritik dieser Variante,
die er für unausführbar hält, übersieht Delbrück wieder etwas, nämlich daß
Schliessen in einer anderen, schlagfertigeren Organisation des deutschen Feldheeres
die Voraussetzung des Gelingens sah unter gleichzeitigem Beibehalten seines
Gedankens der Aufstellung von 8 Ersatzkorps.') Es muß dem General ohne weiteres
zugebilligt werden, daß, falls er 1912 noch im Amte gewesen, seine damalige Studie
Studie geblieben wäre, solange er auf die Verwirklichung seiner hauptsächlichsten
Voraussetzung, die nur das Kriegsministerium veranlassen konnte, nicht rechnen durste.
Es ist Delbrück vorbehalten geblieben, Schliessen selbst als Kronzeugen dafür
anzuführen, daß wir auch nach einem noch so großen Erfolge in Frankreich nicht
in der Lage gewesen wären, unsere Armeen nach Nußland zu werfen. Die gesamten
Armeen natürlich nicht, eine solche Vorstellung könnte nur in einem kindlichen Gehirn
entstehen. Aber einen großen Teil von ihnen nach getaner Arbeit in Frankreich
gegen Rußland zu verwenden, ist, wie jeder weiß, der einmal etwas von Schliessen
gehört hat, das A und O der operativen Gedankenarbeit des Generals gewesen,
und dem Bestreben, diesen Teil möglichst stark und möglichst bald verfügbar zu
machen, entsprang die nicht auf einen „ordinären" Sieg, sondern auf eine vernichtende
Entscheidung gerichtete Anlage des Feldzugsentwurfs gegen Frankreich. Die von
Delbrück aus Foerfter^) entnommene Äußerung des Generals sollte nur vor zu
optimistischen Hoffnungen auf einen sehr bald möglichen Abtransport nach Nußland
warnen und die Notwendigkeit des Verbleibs nicht zu schwacher deutscher Kräfte
im Osten begründen, womit anscheinend ein Teil der Kriegsspielteilnehmer, an die
die Worte gerichtet waren, nicht einverstanden war. Die von Delbrück ihm unter¬
gelegte Feststellung hat der Graf Schliessen also nicht gemacht, es ist daher auch
eine haltlose Annahme, Moltkes angebliches Zögern beim Entschluß zum Kriege,
die verzweifelte Randbemerkung des Kaisers und die Hoffnungslosigkeit Bethmanns
hinsichtlich des wahrscheinlichen Kriegsausganges auf sie zurückzuführen, all das
erklärt sich angesichts der gewiß sehr schwierigen Lage Deutschlands ohne weiteres
aus der pessimistischen Veranlagung dieser drei Männer.
Die Moltkesche Abänderung des Schlieffenschen Planes gibt Delbrück
im wesentlichen richtig wieder, ein Irrtum aber ist es, den neuen Plan als
„Ludendorffschm" zu bezeichnen. Delbrück setzt ja überhaupt gern den Generalstabs¬
chef an die Stelle des allein -Verantwortlicher Leiters, der damit in der Versenkung
verschwindet, eine ähnliche Ehre erweist er hier dem Chef der Ausmarschabteilung.
Wer die Foerstersche Schrift aufmerksam liest — und Delbrück hat sie ja gelesen —,
muß aber erkennen, daß die Änderung in Stärke und Aufgabe des linken Flügels
auf Gedankengänge Moltkes zurückzuführen ist/ denen er bereits 1906 Ausdruck
gegeben hat.") Als Begründung für die Abänderung des alten Planes hält Delbrück
die Vorstellung im Generalstab für möglich, daß der neue Plan die Chance eines
schnelleren und sehr viel größeren Sieges, nämlich eines solchen in Lothringen, böte
als der Schlieffensche, was mit Rücksicht auf die seit 1905 eingetretene Veränderung
der Verhältnisse im Osten nur wünschenswert geschienen haben könne. Dieser
Delbrücksche Gedanke auf operativen Gebiet bedarf der näheren Beleuchtung. Wenn
die Franzosen in Lothringen angriffen — und sie haben es ja auch getan, wie
schon Schliessen vermutete und hoffte —, so konnten sie in dem ihnen zwischen dem
Westhang der Vogesen und den Kanonen von Metz zur Verfügung stehenden Raume
von 75 Ku Breite vielleicht 20 Divisionen vorführen, also etwa ein Viertel ihrer
Gesamtktäfte. Tatsächlich kamen sie nur mit etwa 15 Divisionen. Man darf die
Breitenausdehnung moderner Heere nicht vergessen. Was uns in Lothringen
winkte, war also im besten Falle, ein Teilsieg. Die Hoffnung auf einen „sehr
viel größeren" Sieg, als er bei Durchführung des Schlieffenschcn Planes möglich
war, konnte demnach keinen geschulten Generalstabsoffizier zu einer Verstärkung
des linken deutschen Flügels veranlassen und hat eS natürlich auch nicht getan.
Damit fällt auch die Vermutung der Rücksicht aus die Verhältnisse im Osten als
Beweggrund für die Änderung des Aufmarsches in sich zusammen. Auch daß Moltke
'auf Grund des Sieges in Lothringen sich zu der Entsendung von, 6 Korps nach
dem Osten entschlossen haben soll, wie man aus Delbrücks Arikcl entnehmen muß,
ist unrichtig. Der Entschluß hierzu wurde erst am 25. August gefaßt, die Erfolge
auf der Gesamtfront des Heeres, über deren Tragweite Moltke sich einer
Täuschung hingab, haben ihn, wie bei Tappen') zu lesen ist, gezeitigt.
Delbrück gibt zu, daß bei der Durchführung des Operationsplanes Fehler
gemacht worden sind, doch hält er sie nicht für so erheblich, daß an ihnen der ganze
Plan scheitern mußte, wenn er nur selbst richtig gewesen wäre. Es läßt sich
unschwer nachweisen, daß die Fehler sogar „zu erheblich" waren, und der Ansicht,
daß sie dann auch den beseelt Plan zu Fall bringen können, pflichtet ja auch
Delbrück bei. Wir haben in zweifacher Hinsicht gesündigt, erstens durch die
Abschwächung des Schlieffcnschen Planes, die sich in der veränderten Kräfteverteilung
im Aufmarsch kundgab, und dann bei der Ausführung dieses verwässerten Planes.
Schliessen arbeitete mit einem rechten Angriffsschwenkungsflügel (1. bis 5. Armee)
und einem linken Abwehrflügel (6. und 7. Armee). Er rechnete 1905 im Fall
eines Zweifrontenkrieges mit einem Westheer von 62 Divisionen und 16 Ersatz¬
divisionen (ganz abgesehen von Kavalleriedivisionen, Landwehrbrigaden und Kriegs¬
besatzungen von Metz und Straßburg), von denen 54 Divisionen, denen die
16 Ersatzdivisionen zu folgen hatten, die 1. bis 5. Armee, nur 8 die 6. und
7. Armee bildeten. Moltke marschierte 1914 mit 68 Divisionen auf, von
denen aber nur 52 Divisionen, denen außerdem keine Ersatzdivisionen folgten,
ans den AngriffsschwenkungsMgel gesetzt wurden, während 16 die 6. und
7. Armee ausmachten. An eine Verwendung der nur 6'/- (statt 16) Einsatz .Visionen
auf dem westlichen Kriegsschauplatz dachte man zunächst nicht. Wollte man
Schliessen treu bleiben, so mußte man entsprechend der inzwischen eingetretenen
eigenen Heeresvermehrung und der Frankreichs das Verhältnis der beiden Gruppen
zueinander, etwa 7 :1, beibehalten, während man es auf 3,3 :1 heruntersetzte, wobei
die Ersatzdivisionen nicht einmal mitgerechnet sind. Wären wir in Schliessers
Bahnen gewandelt, so mußten 1914 die 1. bis 5. Armee mit 59 Divisionen statt
mit 52 aufmarschieren. Wir begannen die Operationen mit einem Angriffsflügel,
der von vornherein um 7 Divisionen schwächer war, als er hätte sein dürfen.
Auf diesen Flügel aber kam alles an. Er durfte umso weniger geschwächt werden,
als die ungeheuren Marschanfordernngen, die an ihn gestellt werden mußten, die
zu beobachtenden, einzuschließenden oder wegzunehmenden Festungen, an denen
er sich vorbei oder über die er sich hinweg zu wälzen hatte, und die Sicherung
seiner rechten Flanke ohnehin stärkere Kräfte von ihm aufsaugen mußten. Freilich
wollten wir diesen schweren Fehler wieder gutmachen, sobald der linke Flügel seine
vorübergehende Aufgabe in Lothringen erfüllt haben würde. Als es aber so weit
war, taten wir es nicht, Wohl weniger aus dem Grunde, weil wir glaubten, die
bei der 6. und 7. Armee freizumachenden Kräfte würden doch nicht mehr rechtzeitig
auf den rechten Flügel kommen, als weil wir es' nicht mehr wollten. Wir wiegten
uns in der Hoffnung, durch einen Angriff mit dem linken Flügel die französische
Befestigungslinie an der oberen Mosel durchbrechen und so das feindliche Heer
einkreisen zu können. Was Schliessen nicht zu erstreben wagte, glaubte Moltke
mit relativ nicht stärkeren Kräften erreichen zu können. Jetzt rächte sich die
Änderung des Aufmarschs, die die Gefahr der Überspannung des Bogens im
Fall einer glücklichen Lösung der vorübergehenden Aufgabe des linken Flügels
von Anfang an in sich barg. Wir gaben aber nicht nur die Absicht der späteren
Verstärkung des rechten Flügels auf, wir schwachem ihn sogar noch, erstens
dadurch, daß wir ihm das XI. und das Garde-Reserve-Korps wegnahmen, dann
dadurch, daß wir die Ersatzdivisionen ihm nicht folgen ließen, sondern dem linken
Flügel zuwiesen. Die Folge davon war, daß beim Entscheidungskampf an der
Marne dem rechten Flügel weitere 4 Divisionen fehlten, die vor Antwerpen und
Maubeuge festlagen (III. Reservekorps und VIl. Neservekorps), zu denen man noch
die 24. Reserve-Division als fünfte zählen kann, die, von der Belagerung von
Glock kommend, erst am 8. September abends bei ihrer Armee wieder eintraf,
bei dem Entscheidungskampf also auch nicht hat mitwirken können. Nicht vier
Divisionen haben an der Marne dem entscheidenden Flügel gefehlt, nein, volle
sechzehn Divisionen war er mit Sicherheit stärker, wenn wir Schliessen gefolgt
wären und ihn nicht noch Hütten übertrumpfen wollen. Es leuchtet ohne weiteres
ein, daß uns bei einer Schliessen treubleibenden Anlage und Durchführung der
Operationen im Westen ein vernichtender Sieg über das französische Gesamtheer
winkte und daß wir nicht zu schwach, sondern vor allem falsch gruppiert waren
und dies in immer mehr sich verschärfender Weise während des ganzen Marne-
fcldzuges blieben. Dadurch gaben wir die Möglichkeiten zu einem entscheidenden
Siege aus der Hand. In noch schwerwiegenderer Weise kann man gegen den
Grundgedanken eines Feldzugsplanes nicht verstoßen. Die Fehler von 1914
bestanden eben nicht nur in Versäumnissen oder falschen Maßnahmen einzelner
Armeen, mit denen ich mich hier nicht beschäftigen will, sondern vornehmlich in
der VerWässerung der ursprünglichen Anlage des Westfeldzuges — nicht des
Gesamtkriegcs — und in ihrem gänzlichen Fallenlassen während der Durchführung
seitens der Obersten Heeresleitung. Es ist daher unzulässig und irreführend,
fehlerhafte Maßnahmen einzelner Armeen usw. z. B. im Jahre 1866 mit solchen
von 1914 unter Bewertung ihrer Wirkung auf den Gesamtverlauf zu vergleichen.
Trotz aller Fehler aber brauchten wir die Marneschlacht nicht zu verlieren.
Der verhängnisvolle Rückzugsentschluß des Generalobersten von Bülow war durch
die Gesamtlage/ die ihm freilich unbekannt war, nicht begründet. Darüber wird
heute kaum noch ein Zweifel herrschen.
Freilich, mit dem „ordinären" Sieg, den wir trotz aller unserer Fehler an der
Marne doch noch erringen konnten, wäre die Entscheidung in Frankreich nicht
herbeigeführt worden, dazu hätte es weiterer Operationen bedurft. Nur so ist die
Kritik des Generals v. Kühl aufzufassen, ein Irrtum aber ist es, wenn Delbrück
glaubt, ihn gewissermaßen als Zeugen dafür benennen zu können, daß auch bei
einem Schlieffenschen Vernichtungssiege unsere Armeen in Frankreich gefesselt
geblieben wären. Diese Ansicht Delbrücks muß man jedenfalls aus dem ganzen
Zusammenhang herauslesen. Der General v. Kühl teilt sie gewiß nicht. Nach
einem Schlieffenschen Siege konnten wir mindestens die Hälfte unseres Westheeres
gegen Rußland freimachen. Dem stand, wie bereits oben erwähnt, keine Schlieffensche
„Feststellung" im Wege, wobei ich noch hinzufügen möchte, daß unsere militärische
Lage 1914 nach einem Schlieffenschen Siege besser gewesen wäre als die Lage
nach Sedan 1870, die Schliessen seiner Äußerung über das Freiwerden von
Armeen zugrundelegte. Das französische Feldheer von 1914 umfaßte einen sehr
viel größeren Teil der wehrfähigen Bevölkerung als das kaiserliche von 1870) die
Volkskräfte, die 1914 Frankreich nach einer den August- und Septemberschlägen
von 1870 ähnlichen Entscheidung verblieben wären, hätten demnach nicht zur
Neuorganisation eines Widerstandes genügt, der unser Wcstheer in Frankreich
gefesselt hätte.
Delbrück hat aber noch einen Pfeil im Köcher. Selbst ein Sieg in
Frankreich — natürlich auch selbst ein Schlieffenscher Sieg — hätte uns nichts
genützt, denn dann hätte England sofort die allgemeine Wehrpflicht eingeführt
und die Amerikaner wären schon damals in den Krieg eingetreten.
Schon Jahre vor dem Kriege setzte in England eine lebhafte Propaganda
für die allgemeine Milizpflicht ein, hinter der sich der Gedanke einer allgemeinen
Wehrpflicht verbarg. Dieselben Kreise, die die Milizpflicht vertraten, begannen
sehr bald nach Kriegsausbruch für die allgemeine Wehrpflicht zu werben. Trotz¬
dem bedürfte es recht langer Zeit, ehe die Regierung daran denken konnte, im
Parlament ein Gesetz über die allgemeine Wehrpflicht einzubringen. Die härtesten
Kämpfe sind darum geführt worden, ohne Einbeziehung der Verheirateten wurde
es Ende Januar 1916, nach einer Abänderung, die auch die Verheirateten ver¬
pflichtete, erst Ende Mai 1916 endgültig angenommen, also erst beinahe zwei Jahre
nach Kriegsausbruch. Die Mehrheit, mit der es schließlich durchging, war nur
scheinbar groß, rund zweihundert Abgeordnete enthielten sich der Stimme. Was
den Engländer so gegen die allgemeine Wehrpflicht einnahm, war sein ausgeprägtes
Freiheitsgefühl, das sich gegen diese Einrichtung sträubte, in der er die schlimmste
Ausgeburt des Militarismus erblickte. Und da soll man glauben, daß dieses
Volk einen knappen Monat nach Kriegsbeginn, wo es noch gänzlich in dem
Glauben lebte, daß die silbernen Kugeln 'den Krieg entscheiden würden, für die
allgemeine Wehrpflicht zu haben gewesen wäre?
In Amerika sind gewiß von Anfang an einflußreiche Kreise für eine aktive
Beteiligung am Kriege gewesen, ohne aber die öffentliche Meinung für sich zu
haben, konnte die Regierung nicht wagen, sich der Entente anzuschließen. Jeder
weiß, daß es jahrelanger großzügiger Propaganda bedürfte, die durch die englische
auf das energischste unterstützt wurde, um das amerikanische Volk kriegswillig zu
machen. Übrigens sagen auch die Hanotauxschen Veröffentlichungen, auf die
Delbrück Wohl anspielt, nichts von einem sofortigen Kriegseintritt Amerikas. Also
auch dieses Schreckgespenst schrumpft in sich zusammen, wenn man es scharf inS
Auge faßt. Und selbst wenn Amerika zu deu Waffen griff, vor Jahr und Tag
konnte es, wie die spätere Erfahrung gelehrt hat, mit nennenswerten Kräften in
Europa nicht erscheinen. Das hätte für uns genügt, Nußland inzwischen zum
Frieden zu bringen, und in noch kürzerer Frist wäre dies gelungen, wenn der
Hammer eines französischen Tilsiter Friedens auf die moralische Widerstandskraft
Rußlands herniedergcsaust wäre. —
Die weitausholende Operation Schliessers hätte uns den Entscheidungs¬
kampf allerdings nicht schon Anfang September, sondern Wochen, vielleicht einen
Monat später gebracht. Drei Monate mußten die Österreicher und unsere
dortigen Kräfte mindestens halten. War das möglich? Wenn man Delbrücks
Zahlen liest — 1 740 000 Österreicher und Deutsche gegen 3 800 000 Russen und
Serben — also 10 : 22 — möchte man es verneinen. Aber diese dem Werk des
Generals v. Kühl entnommenen, die Papierne Kriegsstärke bezeichnenden Ziffern
geben die tatsächlichen Verhältnisse bei Kriegsbeginn nicht wieder. Nußland konnte
Asien nicht ganz von aktiven Truppen entblößen, es mußte stärkere Kräfte gegen
die Türkei stehen lassen, es konnte endlich trotz schon im tiefsten Frieden be¬
gonnener Herstellung der Kriegsbereitschaft doch erst nach Monaten seine Kriegs¬
stärken annähernd ganz zur Wirkung bringen. Genaue russische Zahlen stehen
uns nicht zur Verfügung, die annähernden Stärken der Kampftruppen gibt uns
Falkenhahn. °) Danach standen Mitte September 1914 an der Ostfront
Si53 000 Verbündete gegen 950 000 Russen, also 10 : 17. Das ist ein für uns
wesentlich besseres Verhältnis als 10 : 22, und es konnte noch günstiger sein, wenn
die Österreicher nicht ohne Not viel zu starke Kräfte gegen Serbien verwendet
hätten. War es wirklich so töricht, den Operationsplan, der sich einen entscheiden¬
den Sieg im Westen als erste Aufgabe stellte, auf der Annahme aufzubauen, daß
die schwächeren Kräfte im Osten sogar monatelang imstande sein würden, den
stärkeren Gegner, am besten durch sofortige Offensivstöße in Schach zu halten,
ohne dabei selbst in Lebensgefahr zu kommen? Mit Landverlust mußte dabei
selbstverständlich gerechnet werden. Die gewiß recht schwierige Aufgabe der
österreichischen Armee konnte vielleicht geschickter gelöst werden, ohne daß ich der
Führung damit den geringsten Borwurf machen will, aber im ganzen genommen
haben die Ostkräfte ihre Aufgabe erfüllt, wenn die österreichische Armee auch über
Gebühr mitgenommen wurde. Delbrücks Behauptung, daß nach dem Verlust von
Lemberg und Galizien, also Mitte September, das Westhcer bereits zugunsten
des Ostens um „Divisionen über Divisionen" geschwächt werden mußte, ist gänzlich
falsch, wie er sich leicht selbst hätte überzeugen können.' Die österreichische Nieder¬
lage hat gar keinen Einfluß aus die Operationen im Westen gehabt, General
v. Falkenhcchn führte seine Absichten unbeirrt weiter durch, nicht eine Division
ließ er vom Westen nach dem Osten rollen, zog vielmehr fünf neugebildete
Reservekorps aus Deutschland an sich, und erst als er erkannt hatte, daß er im
Westen die Entscheidung zunächst nicht erzwingen konnte, gingen acht Divisionen
vom Westen nach dem Osten/) dem inzwischen aus der Heimat nur ein neu¬
gebildetes Neservekorps zugeführt worden war. Am 20. November, über zwei
Monate nach der Niederlage bei Lemberg, begann man im Westen mit dem
Herausziehen dieser acht Divisionen. Die tatsächliche Lage war also gerade um¬
gekehrt, als wie Delbrück sie darstellt. Der Osten machte dem Westen die Er¬
füllung seiner Aufgabe nicht unmöglich, vielmehr sandte der Westen dem Osten
erst Hilfe, als auch die neue Offensive eingestellt werden mußte, die die durch
frühere Fehler verfahrene Lage zu unseren Gunsten wenden sollte, und infolge¬
dessen im Westen Truppen verfügbar wurden. Nur aus richtig erfaßten Tatsachen
lassen sich zutreffende Schlußfolgerungen ziehen, Peinliche Sorgfalt beim Studium
der Tatsachen ist daher die erste an den Kritiker zu stellende Forderung.
Der Versuch Delbrücks, den Schlieffenschen Plan Praktisch genommen als
für 1914 nicht mehr existierend hinzustellen, muß nach vorstehendem als ebenso
gescheitert angesehen werden, wie sein Versuch zu beweisen, daß der Grundgedanke
dieses Planes — Niederwerfung Frankreichs unter vorläufiger Abwehr Rußlands —
falsch war, weil wir dazu zu schwach gewesen wären.
Eine Kritik, die nutzbringend sein soll, darf nicht nur verdammen, sie soll
den Weg weisen, der zum Erfolg geführt hätte. Delbrück hat sich dieser Forderung
nicht entzogen. Was hätten wir erreicht, wenn wir nach seinen Vorschlägen
gehandelt?
Die Möglichkeit anfänglicher großer Erfolge gegen Nußland in Litauen,
Polen und Wolhynien war zweifellos vorhanden. Natürlich hätten wir wesentlich
stärkere Kräfte im Osten einsetzen müssen, als es im August 1914 geschah. Die
Erreichung der Linie Kowno—Grodno—Brest Litowsk—ostgalizischc Grenze, um
dann in.ihr in beweglicher Verteidigung stehen zu bleiben, hätte etwa das
Operationsziel sein müssen. Ähnlich verlief unsere Front Mitte August 1915.
Etwa 44 Divisionen hatten wir damals im Osten stehen. Tatsächlich waren es
annähernd 53, doch können etwa 9 von ihnen als aus Abgaben der übrigen 44
gebildet angenommen werden. Eines so starken Einsatzes hätten wir zu Kriegs¬
beginn zur Erringung eines gleichen Erfolges nun nicht bedurft, immerhin dürfte
sich durch diese überschlägliche Berechnung die Behauptung stützen lassen, daß wir
M einer Offensive mit beschränktem Ziel im August 1914 mindestens 35 Divisionen
gebraucht hätten. Da wir zu Kriegsbeginn mit 9 Divisionen im Osten auftraten
(außer Laudwehrformationen und Kricgsbesatzungen), hätten wir 26 dem Westheer
entnehmen müssen, für das dann noch 42 (außer den Ersatzdivisionen usw.) ver¬
blieben. Diese hätten einen' sehr schweren Stand gegen die französische Armee
gehabt, aber ich will annehmen, daß sie geraume Zeit imstande gewesen wären,
die Westgrenze gegen Frankreich zu halten. Jedoch nur unter der Voraussetzung,
daß Frankreich von seinen stark überlegenen Kräften nicht durch eine Belgien
durchschreitende Umfassung des rechten deutschen Flügels Gebrauch machte/ daß
Belgien, letzten Endes, daß England neutral blieb. Die Frage, ob Belgien sich
einem französischen Durchmarsch widersetzt oder in diesem Falle oder sogar von
vornherein sich Frankreich angeschlossen hätte, kann hier ganz unerörtert bleiben;
in dem Augenblick, wo England auf Frankreichs Seite trat, mußte Belgien
Durchmarschgebiet für die Verbündeten werden und wäre mit ihnen gegangen,
froh, nach außen den Schein gewahrt zu haben. Auf Englands Haltung kam es
also an. Wäre dies neutral geblieben, wenn wir den Einmarsch in Belgien ver¬
mieden hätten? Dagegen spricht Hans Delbrück selbst, der in seiner Abhandlung
über Tirpitz') erklärt, daß England sich „unter allen Umständen" unseren Gegnern
angeschlossen haben würde, dagegen die moralische Bindung der englischen Regierung,
die Verpfändung der englischen Ehre in dem Briefaustausch Grey-Cambon vom
November 1912, dagegen die Erklärung Grehs am 1. August 1914, daß er auch
gegen ein Versprechen Deutschlands, die Neutralität Belgiens zu achten, die
Zusage einer Neutralität Englands nicht geben könne/) dagegen der am Morgen
des 2. August 1914 erfolgte englische Kabinetsbeschluß der Verpflichtung zum
Schutz der französischen Küste und Schiffahrt gegen deutsche Angriffe, um von den
vielen bekannten schwerwiegenden Tatsachen nur einige wenige den Lesern ins
Gedächtnis zurückzurufen. Cambons von Delbrück erwähnte ängstliche Gedanken
beweisen nur, wie geschickt die englische Diplomatie arbeitete, um auch in zukünftigen
Geschlechtern den Verdacht nicht aufsteigen zu lassen, sie habe sich mit der Absicht
sofortigen Kriegseintritts getragen. Das englische Kabinet trieb keine Politik,
deren Durchkreuzung durch die öffentliche Meinung es ernstlich besorgen mußte.
Ob wir also Belgien schonten oder nicht, der Anschluß Englands an Frankreich,
somit ein französisch-enzlisch-belgischer Angriff von Belgien aus war mit Sicher¬
heit zu erwarten. Da der Chef des Generalstabes dieser Ansicht war, deren
Richtigkeit die Ereignisse bestätigt haben, hätte er eine eventuelle Defensive im
Westen nicht auf die elsaß-lothringische Grenze von rund 300 Kilometer Länge,
sondern auf die Westgrenze bis Aachen, also auf rund 460 Kilometer zu¬
schneiden müssen, hinter deren nördlichem Teil das rheinische Industriegebiet in
erreichbarer Nähe lag. Diese Linie konnten wir mit den oben erwähnten, zugunsten
einer Offensive nach Nußland geschwächten Kräften gegen die von Engländern
und Belgiern noch verstärkte vortreffliche gesamte französische Armee nicht halten.
Eine solche Annahme wäre ein unverzeihlicher Optimismus des Generalstabschefs
gewesen. Delbrücks Vorschlag hätte zu einer schweren Niederlage im Westen geführt.
Aber nehmen wir einmal an, England wäre neutral geblieben und wir
hätten es nur mit Rußland und Frankreich zu tun gehabt. Durch den Entschluß,
von der Niederwerfung erst des einen, dann des anderen Feindes abzusehen, uns
im großen auf die mit kräftigen Angriffsschlägen durchsetzte Verteidigung der
elsaß-lothringischen Grenze und einer zunächst zu gewinnenden Linie in Rußland
zu beschränken, überließen wir die Initiative im großen unseren Feinden. Wir
nahmen ferner von vornherein eine lange Kriegsdauer auf uns, die nur der Gegen¬
seite zugutekommen konnte. Nicht in wenigen Monaten, sondern nur in Jahren
konnten Nüssen, weiße und schwarze Franzosen die um mehr als das doppelte
überlegenen Kräfte zu planmäßig organisierter Wirkung bringen, die sie in ihren
267 Millionen Menschen gegenüber den 121 Millionen Deutschen und Österreichern
besaßen. Und ebenso verhielt es sich mit der Möglichkeit des DurchhaltenS auf
dem Gebiet der Finanzen, des Kriegsmaterials und der Volksernährung. Reich¬
liche Versorgung in jener Hinsicht war Rußland und Frankreich durch die zweifellos
mehr als wohlwollende Neutralität Englands und Amerikas sicher, wir aber
hätten verschlossene Türen gefunden. Auch auf das Unterbinden der Hauptlebens¬
ader Rußlands hätten wir verzichten müssen, denn niemals hätte die Türkei die
Meerengen gesperrt, wenn England nicht durch uns gebunden gewesen wäre.
Ein Delbrücks Vorschlag ähnliches Verfahren mutete uns die Erlaubnis an unsere
Gegner zu, einen beliebigen Gebrauch von dem Faktor Zeit zu machen, der
schließlich gegen uns entscheiden mußte, wie er es ja auch tatsächlich getan hat.
Ja, sagt Delbrück, wir hätten natürlich diesen Faktor durch eine wirtschaftliche
Kriegsvorbereitung ausschalten müssen. Es ist richtig, daß wir in Deutschland —
und nicht nur die Militärs — nicht an die wirtschaftliche Möglichkeit einer so
langen Kriegsdauer geglaubt haben, wie sie dann eingetreten ist. Was aber die
von Delbrück angeführte Äußerung Schliessers betrifft, so bin ich immer der
Ansicht gewesen, der auch Oberstleutnant Foerfter") Ausdruck gibt, daß Schliessen
mit ihr verblümt auf die Gefahren hinweisen wollte, die für Deutschland in einem
langen Kriege liegen mußten. Ferner müßte es Delbrück bekannt sein, daß der
Generalstab wirtschaftliche Kriegsvorbereitungen nicht treffen, sondern nur anregen
konnte, und daß er als einzige Behörde es daran auch nicht hat fehlen lassen,
aber auf gänzliche Ablehnung gestoßen ist.">) Endlich — und das scheint mir das
Entscheidende zu sein — hätten die für eine auch nur zweijährige, geschweige denn
eine drei- oder gar vier- und noch mehrjährige Kriegsdauer erforderlichen wirtschaft¬
lichen Vorbereitungen ungeheure Geldmittel verlangt, an deren Bewilligung durch
den Deutschen Reichstag niemals zu denken gewesen wäre.
Wie bereits ausgeführt, glaubt Delbrück sich mit einem Durchmarsch durch
Belgien abfinden zu können, aber nur als mit einem Mittel zu dem Zweck, uns
durch Besetzung Nordfrankreichs und der Kanalküste eine sichere Basis zu schaffen.
Das Elsaß sollte natürlich auch nicht aufgegeben werden. Wie steht es mit dieser
Variante seines Planes, die seiner Ansicht nach auch bei einer Schwächung des
Westheeres zugunsten des Ostens möglich gewesen wäre? 48 Divisionen (42 und
6 Ersatzdivisionen)") ziehen aus, uM sich in einen Schützengraben von der Schweizer
Grenze über Metz bis zur Svmmemündung zu legen. Sechs von ihnen, will ich
annehmen, legen sich von der Burgunder Pforte bis unter die Kanonen von Metz
nieder und paralysieren gleichstarke gegnerische Kräfte. Die übrigen 42 überschreiten
Zwischen Metz und Aachen die Grenze, zwingen die belgische Armee zum Rückzug —
meinetwegen nach Antwerpen hinein, zu unseren Gunsten! —, schließen Antwerpen
mit schwachen Kräften ab und streben, sich fächerartig nach Westen ausbreitend,
ihrem von Metz bis Abböville reichenden, 350 Ku langen ersehnten Schützengraben
zu. Aber noch ehe sie ihn erreichen, trifft sie der fürchterliche Stoß der aus der
Linie Constans—Se. Quentin zum Angriff mit starkem rechten Flügel nach Norden
vorgehenden doppelt überlegenen französisch-englischen Armee. Alles, was sich etwa
schon westlich der Linie Gent—Se. Quentin im Marsch nach der Küste und der
unteren Somme befindet, muß zu der großen Begegnungsschlacht zurückgerufen
werden, kann aber auch nicht mehr die Niederlage des Westheeres abwenden, das
einem sicheren Untergange entgegen auf Antwerpen geworfen wird. Jeder operativ
geschulte Offizier wird mit mir über dies voraussichtliche Schicksal eines solchen
Unterfangens übereinstimmen. Der Vorschlag ist unausführbar. Er ist es übrigens
auch unter der Voraussetzung, die Delbrück aber nicht macht, daß er nicht von
einem geschwächten, sondern von dem ganzen Westheer des Jahres 1914 in die Tat
übersetzt werden soll. Auch dieses trifft auf dein Wege zu seinem negativen Ziel
auf den Gegenangriff des mindestens gleichstarken Feindes, es darf sich nicht durch
Entsendung starker Kräfte nach der Kanalküsle und der Somme unterhalb Amiens
zersplittern und sich darauf beschränken wollen, mit den übrigen den Gegner
abzuschütteln, es muß mit allen Kräften die ihm aufgezwungene Entscheidung
annehmen, und wehe ihm, wenn es bei ihr als Folge eines falschen Planes dem
Gegner das Gesetz nicht vorschreiben kann, es sich vielmehr von ihm diktieren
lassen muß.
Delbrück nennt den von ihm vorgeschlagenen Operationsplan friderizicmisch,
auch einen solchen mit der eben besprochenen Variante im Westen. Er ist
bekanntlich mit der Geschichte des großen Königs sehr vertraut und jedenfalls in
der Lage, eine ganze Anzahl von Beweisen für die Nichtigkeit seiner Ansicht an¬
zuführen. Meine Kritik kann sich nur mit dem einen Beweis beschäftigen, den
er in seiner Abhandlung bringt. Gleich uns, setzt Delbrück auseinander, befand
sich Friedrich der Große 1756 einer überlegenen Koalition von Feinden gegen¬
über. Er stürzte sich aber nicht, wie er es gekonnt hätte, mit überlegener .Kraft
auf den gefährlichsten, sondern begnügte sich mit der Besetzung Sachsens als
Basis für die späteren Operationen. Dem würde 1914 Delbrücks Vorschlag der
erwähnten Westvariante, dem Sinne nach aber auch der der Offensive mit be¬
schränktem Ziel im Osten und der gänzlichen Defensive im Westen entsprochen
haben. Auch für 1757 beabsichtigte der König keine Offensive, sondern wollte
den Feind in Sachsen erwarten, um ihn erst anzugreifen, wenn er sich ihm
näherte. Dasselbe Verfahren würden wir eingeschlagen haben, wenn wir nach
Erreichung der Delbrückschen Kriegseröffnungsziele stehen geblieben wären und uns
auf eine mit Angriffsschlägen durchsetzte Defensive beschränkt hätten. Davon, daß
Friedrich der Große 1757 tatsächlich ganz anders handelte, will Delbrück absehen.
Eine in noch höherem Grade mißglückte Beweisführung kann es nicht
geben. In den Operationsplänen des 18. Jahrhunderts spielten die rückwärtigen
Verbindungen eine sehr viel größere Rolle als später. Bei der Schwache der
damaligen Heere und der geringen Frontbreite, die diese beim Vormarsch ein¬
nahmen, waren sie in viel höherem Maße gefährdet als in modernen Kriegen.
Friedrich konnte unmöglich von Schlesien aus in Osterreich einbrechen, während
20 000 Feinde in seinem Rücken im Kurfürstentum Sachsen standen, das an die
Oder reichte und dessen Nordgrenze knapp 60 Jan von Berlin entfernt lag. Er
mußte diese Gefahr beseitigen, ehe er sich auf Osterreich werfen konnte, und da
er den Feldzug 1756 erst verhältnismäßig spät begann (29. August), so konnte er
für dieses Jahr gar nichts weiteres planen als Erledigung der sächsischen Armee,
Besetzung Sachsens und Beziehen von Winterquartieren in Böhmen. Er hat
nicht freiwillig auf ein größeres Ziel verzichtet, vielmehr gestattete ihm die Lage
nicht mehr zu erstreben, und selbst das Gewollte hat er nicht voll erreichen
können, auf die Winterquartiere in Böhmen mußte er verzichten.
Mit diesem Teil des Delbrückschen Beweises ist' also nichts anzufangen,
mit dem zweiten aber noch weniger. Wenn man ein Verfahren als friderizianisch
hinstellen will, so scheint es mir nicht zulässig, sich dabei der Ansichten zu bedienen,
die der König eine Zeit lang gehabt, dann aber besserer Einsicht folgend auf¬
gegeben hat. Doch auch auf einen Kampf mit dem Streitmittel der Ansichten
des Königs kann ich es ankommen lassen. Gibt es eine schärfere Kritik des
Delbrückschen Planes der Teilung der deutschen Kräfte im Verhältnis von drei
zu zwei zu Defensivzwecken — denn darauf wäre Delbrücks Plan in der PrciriS
herausgekommen —, als die Delbrück so gut bekannte Stelle aus den General-
Prinzipien: „Am schwierigsten sind die FeldzugSPläne, bei denen man sich vieler
starker und mächtiger Feinde zu erwehren hat......In militärischer Hinsicht
muß man dann zur rechten Zeit zu verlieren wissen (wer alles verteidigen will,
verteidigt nichts), muß eine Provinz dem Feinde opfern und derweil mit seiner
ganzen Macht den andern zu Leibe gehen, sie zur Schlacht zwingen und alles
aufbieten, um sie zu vernichten."^) Oder den Brief Friedrichs an Lehwaldt vom
März 1749, dem die gleiche Gesamtlage zugrunde liegt: „Bei solchen ganz be¬
sonderen Umständen nun, da Ich nicht alle meine von einander entlegene Provinzen
zugleich decken kann, sehe Ich Mich genöthiget, daß, wenn ein Oorxs Russischer
Truppen auf Preußen marschieren sollte, um daselbst einzufallen, auch die Öster¬
reicher sich gegen mich zugleich bewegen wollten, die in Preußen stehende sämtliche
Regimenter, auch (Zg-rnison-Regimenter, in Summa, das ganze dort befindliche
Oorps, als welches Ich hier sodann ohnumgänglich nöthig habe, unter Eurem
Kommando ander zu ziehen, um Meinen Feinden mit l-ovo zu rösistivron und
ihnen mit göttlicher Hilfe den mit ganz offenbarem Unrecht Wider Mich an¬
gefangenen Krieg bald gereuen machen zu können."^)
Entsprach die deutsche Kricgservffnung 1914 oder die Delbrücksche diesen
Ansichten des Königs? Die Antwort ist Wohl nicht zweifelhaft.
Doch lassen wir die Ansichten. Halten wir uns an die Taten des Großen
Friedrich. Da können wir nicht, wie Delbrück es möchte, von dem Jahre 1757
absehen, gerade mit ihm müssen wir uns vielmehr beschäftigen. Was tat hier in
einer 1914 ähnlichen Lage der König? Er überließ die Franzosen dem „Obser-
vativnskorps" seines englischen Verbündeten (die Österreicher von 1914), das er
durch die 5000 Mann starke Besatzung von Wesel verstärkte, ließ gegen die
Russen 33 000 Mann in Ostpreußen stehen (die deutsche 3. Armee von 1914) und
warf sich mit der Masse von rund 120 000 Mann auf Osterreich (das deutsche
Westheer von 1914), um zunächst über dieses einen entscheidenden Sieg zu erringen.
Der Feldzug in Böhmen scheiterte bei Kolin, aber nicht, weil der Plan des
Königs falsch gewesen war, sondern weil Friedrich bei Kolin ohne Not mit zu
schwachen Kräften auftrat, er hätte die Belagerungsarmee unbedenklich noch um
erhebliche Kräfte schwächen können. Delbrück gibt selbst zu, daß es sich bei
Kolin um einen „Fehler im einzelnen" gehandelt hat. War die Anlage des
Operationsplans von 1914 anders als Friedrichs Feldzug von 1757? Sie war
ihm gleich, sie war friderizianisch, der Borschlag Delbrllcks aber ist das Gegen¬
teil. Die den Feldzugsplan von 1914 entwarfen, hatten den großen König
studiert und sie hatten ihn verstanden, sie waren nicht zu einseitig geschult.
Die Bausteine des Delbrückschen Gebäudes sind bröckelig, seine Konstruktion
ist fehlerhaft, es stürzt zusammen, wenn man an ihm rüttelt.
an übertreibt kaum, wenn man sagt, daß wir den Krieg schließlich
verloren haben, weil wir die Vereinigten Staaten von Amerika
nicht genügend kannten und einschätzten. Wir haben sogar den
Frieden von Versailles verloren, weil wir uns Wilsons Stellung
zu seinem Volk nicht klarmachen konnten,' denn bei einem wirklichen
Verständnis der amerikanischen Politik hätten wir gewisse Trugschlüsse einfach
nicht ziehen können. Versäumte Gelegenheiten lassen sich nicht mehr einholen,
deshalb braucht man nicht viel Worte darum zu verlieren, aber aus so folgen¬
schweren Fehlern sollten wir endlich lernen. Selbst wenn es mit einer deutschen
Machtpolitik im richtigen Sinn des Wortes aus sehr lange Zeit vorbei sein sollte,
bedarf trotzdem die deutsche Außenpolitik in Zukunft eines klaren Verhältnisses zu
Amerika. Dazu gehört, daß wir den ungeheuren Machtzuwachs der Vereinigten
Staaten als Tatsache hinnehmen, mit der man sich so oder so abfinden muß.
Auch eine andere Tatsache ist gleich von Anfang an festzustellen, daß sich nämlich
die Vereinigten Staaten im allgemeinen und besonderen nicht für europäische
Politik als solche interessieren. Sie werden auch in Zukunft nicht von diesem
ihrem Amerikanismus in der Politik abgehen, zumal ja dem ihre erfolgreiche
Geschichte seit der Unabhängigkeit Recht und Begründung gibt. Amerikas Verhältnis
zu Europa wird also vorwiegend vom wirtschaftspolitischen Gesichtspunkt zu
betrachten sein. Aber die erwähnten Tatsachen müssen erst wissenschaftlich erforscht
und dargestellt werden, ehe man damit richtig rechnen kann. Und besonders alle,
die beruflich und amtlich deutsche Interessen in den Vereinigten Staaten vertreten
wollen, brauchen eine umfassende Kenntnis von Land und Leuten. Mit anderen
Worten, das geschichtliche Werden Amerikas, sein Geist, seine Kultur und seine
Wirtschaft müssen studiert und bekannt gemacht werden, was ganz natürlich zu
der ernsten und nachdrücklichen Forderung einer wissenschaftlichen Amerikakunde führt.
Eine solche Amerikakunde muß mit einem fast unbebauten Boden rechnen,-
denn wirklich ist unsere allgemeine Kenntnis amerikanischer Zustände und Verhältnisse
lächerlich gering. Der Platz, den Amerika z. B. an unserm höchsten Bildungs¬
anstalten schon viele Jahre einnimmt, ist überhaupt kaum mit bloßen Augen
wahrzunehmen. Das läßt sich gut in der Geschichte und der Literaturwissenschaft
beweisen. Die kürzlich erschienene zweibändige Geschichte der Vereinigten Staaten,
die der Danziger Friedrich Luckwaldt geschrieben hat, ist der erste deutsche Versuch
einer umfassenden amerikanischen Geschichte. Was wir bisher von der deutschen
Geschichtswissenschaft darüber erhalten haben, ist außer einigen einzelnen Unter¬
suchungen eine Reihe kurzer und anregender Monographien, denen sich die letzten
zwanzig Jahre verschiedene Bücher voll Neiseeindrücken angeschlossen haben. Die
gesamte äußere und innere Entwicklung der Vereinigten Staaten seit dem Bürger¬
krieg ist uns ein verschlossenes Buch geblieben. Daß hier eine große Unterlassungs¬
sünde vorliegt, ist klar, und weil sie zu wichtigen politischen Folgen geführt hat,
kann man sie auch gar nicht ernst genug nehmen. Der verhältnismäßig geringen
Beachtung, die Amerika in wissenschaftlichen Abhandlungen genoß, entsprach auch
der Mangel an Vorlesungen und Übungen über die amerikanische Geschichte, der
dann wieder zusammenhängt mit der allgemeineren Mißachtung der allerneusten
europäischen/ besonders englichen Verfassungs- und Wirtschaftsgeschichte samt Politik.
Zu meiner Zeit, so vor etwa fünfzehn Jahren, gab es selbst an der Berliner
Universität nur alle Jubeljahre ein Kolleg über Englands Geschichte. Von den
Bereinigten Staaten gar hörte man dort vor der Einrichtung der Austausch¬
professuren kaum etwas. Ein deutscher Kaufmann und ein amerikanischer Professor
machten mich auf eins der vorzüglichsten englischen Bücher über das moderne
Amerika aufmerksam, nämlich James Bryces „^merle-ni vommomvog.M".
Wie mit der Geschichte so stand es mit der Philologie. Neuere Sprachen
studiert man ja noch heute bei uns ohne ein rechtes volles Eindringen in die
Realia, weil 'die historische Grammatik Lehrer und Schüler^ über Gebühr in
Anspruch nimmt. Es ist hier allerdings langsam besser geworden, aber was an
Unterricht für die praktischen wissenschaftlichen und erzieherischen Bedürfnisse geboten
wird, genügt längst noch nicht. Früher konnten die Auslandreisen verschiedenes
einholen,' freilich nicht alles, was man für sie aufhob, konnten sie leisten. Auch
gingen viele Studierende mit ungenügenden Vorkenntnissen ins Ausland und
begrenzten damit ihr Lernen von vornherein. Heute, wo auf Jahre hinaus
derartige Reisen unmöglich sind, sollte zumindest eine „pädagogische Nothilfe"
einsetzen, wenn man sich zu einer Neuordnung der Ausbildung nicht verstehen
kann. Innerhalb der englischen Philologie hatte Amerika früher, wenn über¬
haupt, nur eine ganz kleine dunkle Ecke inne. Ich habe mit vielen Studenten
meiner Jahre gesprochen, und wir sind eigentlich immer enttäuscht gewesen ob des
wenigen Einblicks in die moderne angelsächsische Kultur. Ich weiß auch, daß
vielen von uns erst durch das Erscheinen der ersten Austauschprvfessoren etwas
von dem aufging, was die Vereinigten Staaten von Amerika von Großbritannien
trennte, was amerikanisches Wesen von englischem unterschied. Aber diese ersten
Lichtblicke gewährten selbstverständlich nicht ein verstehendes Näherkommen an das
fremde Volkstum.
Und die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem amerikanischen Schrifttum?
Eine gewisse Anzahl von Doktorarbeiten und Schriften über einige der bekanntesten
Dichter Amerikas wäre zu nennen, aber des Deutschamerikaners Knortz' Geschichte
der nordanierikanischen Literatur, die 1891 erschien, fand erst 1913 in Leon Kellners
zwei Göschenbändchen Nachahmung und Ergänzung. Was sonst an Zusammen¬
fassungen der amerikanischen Literaturgeschichte geliefert wurde, erschien im Anhang
oder Nachtrag zur englischen Literaturgeschichte. Und doch ist seit Cooper und
Vryant eine selbständige und echt amerikanische Literatur gewachsen, die heute riesige
Weiten hat wie der amerikanische Kontinent, aber auch künstlerische Vertiefung, eben
die amerikanische Tiefe und amerikanische Kunst, nicht entbehren läßt. Wie alle
Literatur ist auch die amerikanische ein getreues Spiegelbild des Volkslebens und
der gesamten Volkskultur. Wer sie kennt, kommt dem Geist Amerikas nahe.
Besonders wer Land und Leute nicht persönlich kennenlernen und beobachten kann,
braucht eine gute Belesenheit unter kundiger Anleitung) und natürlich kann man
nicht moderne amerikanische Literatur lehren, ohne mit der lebendigen amerikanischen
Gegenwart ganz vertraut zu sein. Denn vor allen anderen Literaturen der Welt hat
die amerikanische den frischen und starken politischen Grundton voraus: alles ist
eingetaucht in einen Republikanismus, der sich selbstgewiß gibt und, von sich selbst
überzeugt, auch andere überzeugen möchte. Diesen angriffslustiger Republikmnsmus,
wofür der Amerikaner von heute gern Amerikanismus sagt, unterschätzen die
Deutschen durchweg. Wenn sie sich die amerikanische Romanliteratur seit dem
Bürgerkrieg ernsthaft vornahmen, könnten sie ihn jedoch leicht verstehen und sogar
achten. Sie würden aus dem amerikanischen Roman beispielsweise auch viele
reinamerikanischen Einrichtungen und Gedanken erfahren.
Ein ernsthaftes Studium der amerikanischen Literatur hätte den Deutschen
auch die Augen geöffnet vor den Strömungen der öffentlichen Meinung im modernen
Amerika. Das ganze 19. Jahrhundert zeigt dort nämlich ein Ringen zwischen
einem natürlichen echten Amerikanertum und einem Kolonialismus, der einstmals
politische Abhängigkeit von Großbritannien, nach dem Unabhängigkeitskrieg jedoch
kulturelle und geistige Abhängigkeit von England bedeutete. Und im entscheidenden
Kampf gegen den Kolonialismus kam der amerikanischen Literatur der deutsche
Geist zu Hilfe. Das war von 1820 bis 1880 etwa. Mit den achtziger Jahren
beginnt der deutsche Einfluß schnell abzunehmen. Das freie und weitherzige
Studium der deutschen Kultur hört auf. Vom Ende des 19. Jahrhunderts an
interessieren sich nur noch wissenschaftliche Fachkreise und Beamte der einen oder
andern Gemeindeverwaltung für uns, aber nicht mehr die amerikanischen Führer,
die Vertreter der Literatur und Kunst. Und wo sich eine tiefere Anteilnahme
zeigt, kommt sie fast nie mehr dem gesamten deutschen Volk zugute. Im Maße
wie drüben Deutschland an innerem Ansehen verlor, gewannen England und
Frankreich das amerikanische Herz, und am Anfang des 20. Jahrhunderts hatten
die Amerikaner, die Westeuropa und England vergötterten, nur noch verächtliche
Ablehnung für „(Z^örmau Kultur".
Hätten die Deutschen zur rechten Zeit das moderne Schrifttum Amerikas
ernst genommen und ständig verfolgt, besonders den Roman und den Essay, aber
auch die ganze Zeitschriften- und Zeitungsliteratur, so wären sie vor gefährlichen
Entwicklungen in der amerikanischen Volksstimmung, gebührend gewarnt worden
und die giftige Propaganda der Kriegsjahre hätte sie nicht ganz fassungslos und
unvorbereitet dastehen lassen. Als die Deutschen in den ersten Kriegsjahren mit
einer Art Gegenpropaganda auf dem Plan erschienen, kamen sie beinahe zwanzig
Jahre zu spät. Sie glaubten naiv genug noch zu überzeugen, wo die Amerikaner
bewußt oder unbewußt, überredet oder nicht, das Deutsche gar nicht mehr an ihre
Seelen heranließen. Wir wußten bei weitem nicht genug von Amerika, deshalb
haben wir eine so kindliche Amerikapolitik getrieben.
Im allgemeinen hängen Wissen und Politik, Erziehung und Diplomatie
inniger und unmittelbarer zusammen, als es bei uns allgemein bekannt ist. Wir
werden mit dem Ausland erst dann besser umgehen, wenn wir es besser kennen.
Und von allen fremden Kulturen sind heute die englische und die amerikanische
am wichtigsten und wissenswertesten. Das sollte uns auch neue Ziele für das
Studium der fremden Sprache und Literatur geben. Auf der letzten Tagung des
Allgemeinen deutschen Neuphilologenverbandes hat man z. B. schon sehr vernünftige
Grundsätze über die ncusprachliche Wissenschaft unserer Zeit aufgestellt, u. a. mehr
als bisher die kulturgeschichtliche Einstellung verlangt. Man müsse vor allem
die Geschichte und die gegenwärtigen geistigen, wirtschaftlichen und Politischen
Bestrebungen der Fremdvölker beachten und müsse das deutsche Volk gleichweit
von kritikloser Überschätzung wie von gedankenloser Unterschätzung sremdvölkischer
Kulturleistung bewahren.
Diese Aufgaben würde eine Amerikakunde nach meinem Sinn leisten müssen
und auch können. Sie würde die Forschungsweise der Literaturwissenschaft mit
der scharfen Beobachtung und Ausdeutung der Volkswirtschaft verbinden. Sie
würde Studium und Erlebnis fruchtbar vereinen und eine wirkliche lebendige
Wissenschaft sein. Sie würde folgerichtig Lebens-, Kultur- und Literaturbeziehungen
aufdecken und so zu folgerichtigem Handeln anleiten. Kurz, Amerikakunde würde
etwas durchaus Nötiges zum deutschen Wiederaufbau beitragen.
Der erste Schritt zur Verwirklichung solcher neuen Wissenschaft wäre die
Einrichtung von Lektoraten für Amerikakunde an möglichst vielen der hierzu
geeigneten Hochschulen, z. B. Berlin und Hamburg. Die Errichtung der einen
oder andern Professur für Amerikanistik ergäbe sich dann im Laufe der Zeit von
selbst. Und sollten den Staatskassen, die freilich für viel weniger dringliche Sachen
immer noch reichliche Mittel auswerfen, die nötigen Summen für die wissenschaft¬
liche und erzieherische Vertretung der Amerikakunde fehlen, so fände sich vielleicht
ein großzügiger und großherziger deutscher Kapitalist, der hier den Behörden mit
gutem Beispiel voranginge. In England sind im letzten Jahre zwei Lehrstellen
für amerikanische Kulturgeschichte gestiftet worden. Dergleichen wissenschaftliche
Schenkungen würden zugleich dem Ansehen Deutschlands in der feindlichen Welt
bedeutend mehr dienen als alle Austauschprofessuren zusammengenommen. Die
nüchterne Haltung des Studierenwollens überzeugt mehr als sämtliche Versicherungen
von Freundschaft, die in der angelsächsischen Welt keine Erwiderung finden. Eine
ernste Amerikakunde würde uns sicher viel gutes Interesse in Amerika neu und
manches alte wiedergewinnen.
„Es ist richtig und läßt sich nicht ändern, daß ich am 14. August d. I.,
falls ich dann noch lebe — dies hoffe ich aber mit den Meinen —, 70 Jahre alt
werde. Ich teile Ihnen noch Mit, daß ich in diesem Sommer nach Kanada reise,
um dort Kinder und Großkinder zu besuchen. Ich reise am 20. April von Bremer-
haven ab und werde gegen Ende Juli wieder hier sein..." So schrieb mir
Trojan. Und mir wollte es kaum glaubhaft erscheinen, daß er, dessen sonniger
Humor uns gar manche Gabe bescherte, zuletzt seine „Erinnerungen", dessen jugent-
frischer Geist in seinen Kinderliedern sich heute im Sturm die Herzen der Kleinen
erobert, der über das große Meer reiste und in den Wäldern Kanadas botanisierte/
schon die Schwelle des Greisenalters überschritt.
Wieder sind 6 Jahre vergangen. Der Greis erlitt in den Tagen, da er
sich zur Ruhe zurückzog, einen schweren Unglücksfall. Er stand mit seinen sieben
Jahrzehnten vor einer nicht leichten Operation und schrieb von seinem Krankenbett
das reizvolle, humorvolle Poem, das durch alle Zeitungen ging. Glücklicher
Optimist! Wo andere in Schmerz und Sorge verzweifeln, da findet er noch genug
der Sonnenstrahlen, um zu scherzen. Das ist Johannes Trojan. Ein lachender
Philosoph, ein deutscher Dichter. Julius Stinte nennt ihn den „Dichter des frohen
Gemüts". Die Zeit zu einem historischen Urteil über Trojans Kunst ist noch
nicht gekommen. Wilhelm Raabe, Heinrich Seidel, Julius Stinte, Wilhelm Busch
sind seine Geistesverwandten.
Interessant ist es zu lesen, wie Johannes Trojan über seine Werke
dachte. Unter den vielen Erinnerungszeichen und Briefen, die er an mich sandte,
ist sein erster Brief von allgemeiner Bedeutung. Ich hielt damals einen Vortrag
über Johannes Trojan und bat ihn, mir über einige Punkte Auskunft zu geben.
Wir traten dann in nähere Beziehungen. Er schrieb in dem ersten Brief:
Berlin, den 8. Febr. 1...
>V, Marburger Ser. 12.
... Es ist schon lange her, daß eine Biographie von mir in Schorers
Familienblatt, das ja längst eingegangen ist, stand, daher ist diese Biographie
unvollständig. Eine etwas ausführlichere und daher vollständige Biographie von
mir, die ich selbst geschrieben habe, erschien mit verschiedenen Porträts von mir
in vorigem Jahr in „Über Land und Meer" und Sie können diese leihweise von
mir bekommen, wenn Sie sie haben wollen.
In „Gedichte" und „Scherzgedichte" ist, glaube ich, viel für mich Charakte¬
ristisches" enthalten. In den Scherzgedichten, alten und neuen, finden sich zahl¬
reiche unpolitische humoristische Sachen aus dem „Kladderadatsch", darunter
„Die 88 er Weine",'die sehr verbreitet sind und viel rezitiert werden.
Besonderen Wert lege ich auf die „Kleinen Bilder", „Für gewöhnliche
Leute", „Zwei Monat Festung", „Hundert Kinderlieder", und „Von Einem zum
Andern".
In „Von Einem zum Andern" enthält die erste Hälfte unter der Über¬
schrift „Ein Kaufmann von alter Art" eine Lebensgeschichte meines Vaters, die
viel Freunde gesunden hat. „Für gewöhnliche Leute" halte ich mit für das Beste,
das ich gemacht habe.
Die „Hundert Kinderlieder" (erschienen 1898) sind zusammengestellt zum
größten Teil aus der großen Anzahl von Kinderbüchern, die ich in älterer Zeit
geschrieben habe. Das Buch hat gute Aufnahme gefunden, und einzelne Sachen
sind in unzählige Lesebücher übergegangen. Was mich aber besonders freut, ist,
daß von den 100 Kinderliedern im Lauf der letzten Jahre 36 komponiert worden
sind, darunter 9 zweimal, 2 dreimal und eines fünfmal.
„Zwei Monat Festung" ist ein Buch, das hervorgegangen ist aus der
Festungshaft, die ich wegen Preßvergehens 1898 in Weichselmünde bei meiner
Vaterstadt Danzig verbüßte. Das Buch, das seitdem fünf Auflagen erlebt hat,
enthält viel aus meiner Jugendzeit und aus meiner Heimat.
,,Auf der andern Seite" enthält den Bericht über eine 1900 gemachte
Fahrt nach Kanada und meine Erlebnisse dort. Das Buch ist in der englischen
Presse gelobt worden, die es empfahl mit der Bemerkung, daß ich Natur und
Menschen dort gut und scharf beobachtet habe.
„Kleine Bilder" und „Von drinnen und draußen" enthalten allerhand, was
besonders gefallen hat.
Auf dix „Berliner Bilder", erschienen 1903, tue ich mir etwas zugut. Ich
bin 27 Jahre Mitarbeiter der „National-Zeitung" gewesen und habe als solcher
außer Feuilletons eine große Zahl von Lokalartikeln geschrieben, mit dem
Bemühen, auch in solche kleine Sachen etwas von Poesie hineinzulegen.
„Aus dem Leben" ist mein letztes Buch, das außer anderem zahlreiche
Gelegenheitsgedichte enthält, die vielleicht etwas historischen Wert haben. Es
sind u. a. Gedichte, an den Fürsten Bismarck gerichtet, dessen Gast ich manches
Mal in Friedrichsruh gewesen bin. Bon den Bismarckgedichten des Kladderadatsch,
die der Verleger, ohne Namen der einzelnen Autoren zu nennen, herausgegeben
hat, sind gegen 80 von mir.
Beim „Kladderadatsch" bin ich seit 1862, seit 1886 Chefredakteur des
Blattes. Ein großer Teil der Gedichte auf der ersten Seite des Blattes ist von
der ersten Zeit meiner Mitarbeit an von mir.
Alles dies schreibe ich Ihnen, sehr geehrter Herr, nicht um mich heraus¬
zustreichen, sondern nur um Sie zu informieren und Ihnen einen Dienst leisten
zu können, wo es Ihnen etwa erwünscht erscheint. Ich bin bereit, Ihnen von
meinen oben angeführten Büchern, was Sie etwa noch ansehen wollen, zur
Einsicht zuzuschicken.
le Erforschung der Verfassungs- und Wirtschaftszustände des deutschen
Mittelalters hat lange im Banne der sogenannten grundherrlichen oder
hofrechtlichen Theorie gestanden. Ihre Anhänger bemühten sich, den
Ursprung der wichtigsten Erscheinungen und Gebilde des mittelalter¬
lichen Verfassungs- und Wirtschaftslebens aus der Grundhcrrschaft
und dem ihr entsprossenen Hofrecht herzuleiten, so namentlich die Entstehung der
Stadtverfaffund und des Stadtrechts, des städtischen Handwerkerstandes, der Zünfte
und der Landesherrschaften. Der Bekämpfung dieser Auffassungen vornehmlich
haben die zahlreichen verfassungs- und wirtschaftsgeschichtlichen Arbeiten Georg
von Belows gegolten. Es ist in erster Reihe sein Verdienst, die hofrechtliche
Theorie widerlegt und die übertriebene Einschätzung der Bedeutung der Grundherr¬
schaften auf das richtige Maß zurückgeführt zu haben. Erst dadurch wurde die
Bahn frei für eine wirkliche Erkenntnis der mittelalterlichen Verhältnisse. Die
Ergebnisse dieser tiefschürfenden Untersuchungen haben in der Folge die Zustimmung
der weitaus überwiegenden Mehrheit der Forscher gefunden.
Es ist daher lebhaft zu begrüßen, daß v. Below sich auf mehrfache Auf¬
forderung hin entschlossen hat, seine an den verschiedensten Stellen zerstreuten wirt-
schaftsgcschichtlichen Abhandlungen in erweiterter Gestalt wieder zu veröffentlichen
und durch Vereinigung zu einer Sammlung weiteren Kreisen zugänglich zu machen.
Außer sieben schon veröffentlichten Abhandlungen enthält das vorliegende Werk
„Probleme der Wirtschaftsgeschichte" noch zwei bisher unveröffentlichte Aufsätze
(Ur. 2 und 9). Obwohl zu verschiedener Zeit und aus verschiedensten Anlässe»
entstanden, stehen diese Abhandlungen doch in einem inneren Zusammenhang. Da
sie annähernd alle wichtigeren Fragen der deutschen Wirtschaftsgeschichte berühren
und. strengste Wissenschaftlichkeit mit Klarheit und Verständlichkeit der Darstellung
verbinden, geben sie eine ausgezeichnete Einführung in das Studium der Wirt¬
schaftsgeschichte, freilich „nicht in der abgemessenen Gestalt eines Lehrbuchs, sondern
in der beweglicheren Form der Problemstellung und des Versuchs der Lösung
dieser Probleme".
Die drei ersten Abhandlungen sind der Geschichte der Landwirt¬
schaft gewidmet. Der erste Aufsatz „Das kurze Leben einer viel¬
genannten Theorie. Über die Lehre vom Ureigentu in" (S. 1
bis 26) beschäftigt sich mit den Eigentumsverhältnissen am Ackerland der Urzeit.
Über das Agrarwesen der alten Germanen haben wir an unmittelbaren Quellen
hauptsächlich nur die Berichte von Cäsar und Tacitus. Sie weisen auf ein ursprüng¬
liches Gemeineigentum am Grund und Boden hin, bieten aber im einzelnen der
Auslegung zahlreiche Schwierigkeiten dar. Man suchte daher ihr Verständnis zu
erschließen durch Heranziehung von Gebilden der Gegenwart, die man als Reste
des ursprünglichen germanischen und indogermanischen Gemeineigentums auffaßte
(Gchöferschaften im Regierungsbezirk Trier, Haubberggenossenschaften des Kreises
Siegen, russischer Mir, südslavische Zadruga), Schließlich, glaubte man genau
dieselbe Feldgemeinschaft auch in Arabien, Peru, Mexiko, Indien und China
wiederzufinden und zog daraus den Schluß, daß bei allen Völkern eine Art von
allgemeingültigen Gesetz in der Bewegung der Grundeigentumsformen vorwalte
und daß überall die Entwicklung von ursprünglichem Gemeineigentum ausgegangen
sei. Diese längere Zeit herrschende Lehre ist aber durch die neueste Forschung in
ihren Grundlagen erschüttert worden. Heute steht fest, daß Einrichtungen wie die
Gehöferschaften, Haubberggenossenschaften, Mir, Zadruga und die neuzeitliche indische
Feldgemeinschaft keine Überbleibsel ursprünglichen Gemeineigentums, sondern ver¬
hältnismäßig sehr späte Neubildungen sind, die, unter ganz anderen Vorbedingungen
entstanden, bloß oberflächliche äußere Ähnlichkeiten mit der altgermanischen Feld¬
gemeinschaft aufweisen. Es bleiben nur noch sehr wenige Fälle von Gemeineigentum
übrig, von denen man annehmen darf, daß sie einen ursprünglichen Zustand fortsetzen.
So bildet die Lehre von: Ureigentum eine besonders eindringliche Warnung vor den
Gefahren des wirtschaftsgeschichtlichen Dilettantismus, der auf Grund einiger
eilig zusammengeraffter, ungenügend untersuchter Vergleichsgegenstände schnell-
fertig eine übereinstimmende stufcnmäßige Entwicklung bei allen Völkern konstruieren
will. Die Vielgestaltigkeit des geschichtlichen Lebens läßt sich nicht auf wenige
einfache Formeln bringen.
Im Anschluß hieran zeichnet die folgende Abhandlung „Die Haupt¬
tatsachen der älteren deutschen A g r a r g e s es i es t e" (S. 27—77)
in kräftigen Strichen ein anschauliches Bild der Entwicklung der deutschen Land¬
wirtschaft von der Urzeit bis zum Schlüsse des Mittelalters, Zu den Haupt¬
ergebnissen der neueren Forschungen gehört die Erkenntnis, daß die Germanen zu der
Zeit, aus der wir die ersten schriftlichen Quellen über ihr Leben haben, nicht mehr
Nomaden, sondern seßhaft sind. Im Mittelpunkt der Wirtschaft steht die Viehzucht,
Der Ackerbau tritt hinter ihr an Bedeutung zurück; dem entspricht das Betriebs¬
system der Feldgraswirtschaft (abwechselnde Benutzung derselben Fläche als Acker¬
land und Grasland). Pflug und Egge sind den Germanen schon vor der Berührung
mit den Römern bekannt. Ebenso sind -die feldmäßig im großen angebauten
Pflanzen, insbesondere unsere sämtlichen Halmfrüchte, schon altgermanisch. Dagegen
verdanken die Germanen den Römern den feineren Gartenbau. Die ständischen und
die Bcsitzverhältnisse der alten Deutschen weisen annähernde Gleichheit auf. Die
Masse des Volkes besteht aus freien Bauern. Erst nach der Völkerwanderung stellen
sich stärkere wirtschaftliche und gesellschaftliche Gegensätze ein im Zusammenhang
mit der Entstehung eines Großgrundbesitzes. Das frühe Mittelalter vom späteren
Frankenreich bis zum Aufkommen der Städte ist die Zeit der großen G r u n d h e r r -
Schafte n. Diese großen'Besitzungen sind keine mit Sklavenscharen bewirtschafteten
Latifundien gewesen. Sie haben anch nichts gemein mit den heutigen ostdeutschen
Gutsherrschaften; letztere haben sich erst seit Beginn der Neuzeit entwickelt. Im
Gegensatz hierzu ist die mittelalterliche Grundherrschaft regelmäßig kein abgerundeter
Landbezirk, sondern Streubesitz, der sich aus vielen über zahlreiche Gemarkungen
zerstreuten Grundstücken zusammensetzt, und kein wirtschaftlicher Großbetrieb, sondern
ein Verband von wirtschaftlichen Kleinbetrieben. Während die ganze Tätigkeit
des nordostdeutschen Gutsherrn auf Landwirtschaft gerichtet ist, treibt der mittel¬
alterliche Grundherr nicht oder kaum Landwirtschaft. Er ist in der Hauptsache
Rentenbezieher, überwiegend wird der große Besitz genutzt durch Übertragung
einzelner Güter an Bauern gegen die Verpflichtung zur Lieferung von Abgaben und
zur Leistung von Diensten, wobei aber der Nachdruck durchaus auf den Abgaben
liegt. Während die nordostdeutsche Gutswirtschaft in erster Reihe für den Verkauf
ihrer Erzeugnisse auf dem Markt arbeitet, kauft im Mittelalter der Händler land¬
wirtschaftliche Erzeugnisse überwiegend vom Bauern, weit weniger vom Grundherrn.
Die Grundherrschaft bildet keine geschlossene Hauswirtschaft. Sie hat keineswegs
das Wirtschaftsleben der damaligen Zeit fast ausschließlich beherrscht, wie man früher
glaubte, vielmehr hat neben ihr die bäuerliche Bevölkerung stets einen mehr oder
weniger selbständigen Platz behauptet. Die Bedeutung der Grundherrschast ist vor
allem auf kulturgeschichtlichem Gebiete zu suchen. Der Fortschritt der Kultur ist an
die Ungleichheit der Güterverteilung und an die Arbcitsverteilung geknüpft, vermöge
deren sich der eine gewissen besonderen Bestrebungen widmen kann, weil ihm der
andere gewisse Arbeiten abnimmt. Reiche Einnahmen aus Grundbesitz bildeten die
notwendige Voraussetzung für die Pflege der Wissenschaft in den Klöstern und für
die Ausbildung einer ritterlichen Kultur. Als Haupttatsachen der Agrargeschichte
des hohen Mittelalters werden sodann erörtert der Landesausbau in Altdeutsch¬
land durch Rodungen, die Kolonisierung und Germanisierung des slavischen Ostens,
die Rückwirkung des aufblühenden Städtewesens auf die Landwirtschaft, die Auf¬
lösung der alten Villikationsverfassung der Grundhcrrschaft und das Eingreifen der
Gerichtsherrschast in die wirtschaftlichen Verhältnisse. Die große technische Leistung
der deutschen Landwirtschaft im Mittelalter erhellt vor allem daraus, daß bis zum
13. Jahrhundert die Zahl der Ortschaften in Altdeutschland erreicht wird, die
auch das 19. Jahrhundert kennt, daß im 8. Jahrhundert im Zusammenhang mit
der vermehrten Pflege des Ackerbaues ein Betriebssystem, die Dreifelderwirtschaft
aufkommt, mit demi Deutschland bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts aus¬
zukommen vermag, und daß die höhere landwirtschaftliche Kultur nach dem slawischen
Osten erst durch die Deutschen gebracht worden ist. Ebenso günstig gestalteten sich
aber auch die sozialen Verhältnisse. Der deutsche Bauer erfreute sich im Mittelalter
rechtlich und wirtschaftlich einer gesicherten Stellung. Die bunte Mannigfaltigkeit
der Besitzverhältnissc, die Verteilung des Besitzes auf sehr viele Hände und die
milden standesrechtlichen Unterschiede in Deutschland stehen in wohltuendem Gegen¬
satz zu den schroffen Einseitigkeiten, denen wir in anderen Ländern begegnen.
Die Scholle hat ihren Mann durchaus ernährt. Ein verarmtes Proletariat finden
wir nirgends. Der Ertrag des Landbaues kam in den meisten Gebieten mehr dem
Bauern als dem Grundherrn zu. Mit der rechtlichen Abhängigkeit von einem
Grundherrn war ein weitgehendes Maß wirtschaftlicher Selbständigkeit verbunden.
Die dritte Abhandlung, „Die Fürsorge des Staates für die
Landwirtschaft eine Errungenschaft der Neuzeit" (S. 78
bis 142) schildert die Weiterentwicklung der Landwirtschaft vom Ausgang des
Mittelalters bis zur Gegenwart unter dem Gesichtspunkte der Fürsorge, die der
Staat ihr zuwendet. Man begegnet nicht selten der Auffassung, daß der staatliche
Schutz der Landwirtschaft ein überlebter Rest mittelalterlicher Gedankenwelt und mit
den Verhältnissen der Neuzeit nicht recht vereinbar sei. In Wirklichkeit ist es
gerade für das Mittelalter kennzeichnend, daß eine staatliche Fürsorge für die
Landwirtschaft fehlt. Soweit sich der Staat überhaupt der wirtschaftlichen und
sozialen Verhältnisse annimmt, tritt er für die städtischen Anliegen ein. Die Politik
der mittelalterlichen Städte ist gerichtet ans die Beherrschung des umliegenden
platten Landes durch die Stadt. Die Landleute müssen einerseits ihre landwirt¬
schaftlichen Erzeugnisse in die Stadt bringen, dürfen sie nicht außerhalb der Stadt
verkaufen, sondern nur auf dem städtischen Markt; andererseits müssen sie die
gewerblichen Erzeugnisse, die sienölig haben, in der Stadt kaufen; ländliche Hand¬
werker werden nicht zugelassen. Die Landesherren erblickten in der Förderung
des Städtewesens eine ihrer Hauptaufgaben. Der Gedanke ist: Bauern gibt es>
genug, um sie braucht man nicht zu sorgen. Die Landwirtschaft bedarf keiner
Aufmerksamkeit. Dagegen sind die Städte ein wertvoller Besitz, den man hegen und
pflegen muß. Erst in der Neuzeit widmet der Staat seine Aufmerksamkeit mehr
und mehr auch den ländlichen Verhältnissen. Aber noch die merkantilistische Wirt¬
schaftspolitik beruht auf derselben grundsätzlichen Höherwertung der städtischen
Berufe gegenüber der Landwirtschaft. Doch haben einige Staaten wie Preußen
der Durchführung des Mcrkantilshstems Schranken zugunsten der Landwirtschaft
gesetzt. Die tatkräftige Handhabung einer Bauernschutzpolitik und die bewußte
Förderung der inneren Besiedlung bildet einen besonderen Ruhmestitel der preußi¬
schen Könige. Seit dem 18. Jahrhundert führen volkswirtschaftliche und allgemeine
geistige Strömungen zu einer höheren Schätzung der Landleute und des ländlichen
Lebens (Physiokraten, Rousseaus Forderung der Rückkehr zur Natur, Geßners
Idyllen, Romantiker, geschichtliche Rechtsschule). Die individualistische Wirt¬
schaftslehre des Liberalismus erstrebt die Beseitigung der mittelalterlichen Bin¬
dungen der Landwirtschaft, und zwar ebensowohl der Vorherrschaft der Stadt
über das Platte Land wie der markgenassenschaftlichen und grundherrlich-gutsherr¬
lichen Gebundenheiten. Ihren niederschlug findet sie in der großen liberal¬
individualistischen Agrargesetzgebung des 19. Jahrhunderts. Diese Bauernbefreiung
beschränkt sich aber auf die bloße Aufhebung der alten Schranken. Um das-
Schicksal der aus den bisherigen Gebundenheitsverhältnissen losgelösten Bauern
hat sich der Staat nicht weiter gekümmert. Geradezu verhängnisvoll wirkte die rück¬
sichtslose Aufteilung der Allmenden und die Preisgabe der Bauernschutzgcsctz-
gcbung des 18. Jahrhunderts, wodurch ein massenhaftes Aufsaugen von Bauern-
land durch den Großgrundbesitz ermöglicht wurde. Der wirtschaftliche Liberalismus
jener Zeit gab aus landwirtschaftlich-technischen Erwägungen dem Großbetrieb
den Vorzug vor dem bäuerlichen Kleinbetrieb. So bringt das 19. Jahrhundert
zunächst einen Rückschlag in der positiven Fürsorge des Staates für die Land¬
wirtschaft. Erst im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts erstarkt im Zusammen¬
hang mit der von Vismarck eingeleiteten Abkehr von der manchesterlich-liberalen
Wirtschaftspolitik wieder die staatliche Fürsorge für die Landwirtschaft und für die
Erhaltung und Vermehrung des Bauernstandes ^(lgildwirtschaftliche Schutzzölle,
Wiederaufnahme'der inneren Besiedlung). Die neuzeitliche Auffassung über das
Verhältnis von Landwirtschaft und Gewerbe, wie sie am schärfsten von 5k. Otter-
berg ausgeprägt ist, bedeutet eine Umkehrung der mittelalterlichen: Handel und
Industrie wachsen ganz von selbst; sie künstlich zu fördern, ist Luxus, ja gefährlich-
Es besteht die Gefahr, daß wir an Landwirten und Landwirtschaft Mangel leiden;
sie zu erhalten, ist vor allem wichtig, während sich die Notwendigkeit ergeben kann,
der weiteren Entfaltung der Industrie Grenzen zu ziehen.
Die folgenden fünf Abhandlungen beziehen sich a»f die Entwicklung
des Gewerbewesens. Der vierte Aufsatz „liber Theorien der wirt¬
schaftlichen Entwicklung der Völker mit besonderer Rück¬
sicht auf die S t a d t w i r t s es a f t des deutschen M i t t e l a l t c r s"
(S, 143—257) bringt zunächst eine Geschichte und Kritik der Wirtschaftsstufcn-
thcoricn. Er zeigt, daß diese Theorien keine allgemein gültigen Entwicklungsgesetze
darstellen; die angeblichen Ausnahmen umfassen oft oder so'gar meistens ebenso viele
Fälle wie die behauptete Regel, Gleichwohl kann die Aufstellung von Stufen-
begriffen für den Geschichtsforscher ersprießlich sein. Es sind Jdealtyven, an denen
man die Zustände eines Volkes in einer bestimmten Zeit messen kann, Sie müssen
sich aber aufbauen auf zuverlässig gewonnenem geschichtlichen Bcobachtungsstoff,
Sodann untersucht v, Below die Stufe der Stadtwirtschaft im besonderen. Nach
Bücher besteht das Wesen der mittelalterlichen Stadtwirtschaft darin, daß sich jede
Stadt mit ihrer unmittelbaren, ländlichen Umgebung zu einem geschlossenen Wirt¬
schaftsgebiet zusammenschließt, innerhalb dessen sich der ganze Kreislauf des wirt¬
schaftlichen Lebens nach eigener Norm selbständig vollzieht; es gebe, abgesehen
von den wenigen Gegenständen des auswärtigen Handels, keinen über das Stadt-
wirtschaftsgcbiet hinausreichenden Güterumlauf, Demgegenüber wird festgestellt,
daß die Stadtwirtschaft keinen so geschlossenen Charakter hat, wie Bücher lehrt.
Der Verkehr von Ort zu Ort ist stärker, die Listen der Waren, die einen weiten
Weg über einen Ort hinaus zurücklegen, größer, als man oft angenommen hat.
Immerhin war im Mittelalter der Austausch von Ort zu Ort im Verhältnis zu
den heutigen Zuständen (man denke an die Massenbeförderung von Kohlen, Ge¬
treide, Baumwolle usw.) so viel geringer, daß die Bildung des Begriffs der
besonderen mittelalterlichen Stadtwirtschaft gerechtfertigt erscheint. Unhaltbar ist
aber die von Bücher versuchte Ableitung der Stadtwirtschaft aus der Haus¬
wirtschaft (als Fortbildung der Fronhofsordnung der Grundherrschaften)
und seine Annahme, daß das Handwerk in den mittelalterlichen Städten vorwiegend
Lohnwerk, d, h, bloße Verarbeitung des von, Besteller gestellten Rohstoffes
gewesen sei.
Die fünfte Abhandlung „D ieMotivede r Z uuftbild u n gimdeut -
schen Mittelalter" (S. 258—301) beantwortet die Frage nach der Ent¬
stehung des städtischen Handwerks, Nicht durch Loslösung ans der Grundherrschaft,
und aus der Unfreiheit ist das deutsche Handwerk entstanden. Wir haben vielmehr
drei Entwicklungslinien zu unterscheiden, welche Anknüpfungen für die Aus¬
bildung eines stärkeren freien Handwerks gewährt haben, nämlich die von alters
her bestehenden wenigen selbständigen Gewerbe (insbesondere des Schmiedes), die
römischen Anregungen in den alten Römcrstädten und endlich die allmähliche
Lockerung der gewerblichen Erzeugung von der verbrauchenden Familie, indem
gewerbliche Tätigkeiten, die ursprünglich von allen im eigenen Haushalt besorgt,
später nur noch von einzelnen als lan'dwirtsclMftliche Nebenbeschäftigung und
schließlich im Hauptberuf vorgenommen werden. In beträchtlicher Gestalt erscheint
dieses selbständige freie Handwerk seit der zweiten Hälfte des 11, Jahrhunderts
zusammen mit den Anfängen der neuen mittelalterlichen Stadtverfassung, In
dieselbe Zeit füllt auch das Aufkommen von Zünften, die zugleich einen Beweis
dafür liefern, daß die Gewerbetreibenden zahlreich geworden sind und darum eines
Zusammenschlusses bedürfen. Die Zünfte sind nicht herausgewachsen aus den
hofrechtlichen Verbänden der unfreien Handwerker der Grundherrschaften, sie gehen
auch nicht zurück auf verwaltungstechnische Erwägungen des Stadtherrn, sondern
sind dem eigenen Antriebe der Handwerker entsprungen. Der Zweck, den die Hand¬
werker mit der Begründung einer Zunft verfolgen, ist in erster Reihe die Er¬
langung des Zunftzwanges. Die Zunft tritt uns als ein unter Sanktion der
Gemeindcgewalt errichteter Zwangsverband entgegen, dessen Mitgliedschaft die
Voraussetzung für die Ausübung eines bestimmten Gewerbes innerhalb der Ge¬
meinde bildet. Der Zunftzwang als bloßer formaler Beitrittszwang ist allerdings
nur das Mittel zur Errichtung weiterer sachlicher Zwecke, namentlich der Fern¬
haltung unbequemer Wettbewerber. Die Zünfte entstehen hiernach als wirtschaft¬
liche Verbände wesentlich aus wirtschaftlichen Beweggründen, wenngleich sie viel¬
fach religiöse und gesellige Zwecke mit übernehmen. In denjenigen Städten, in
denen sie im Kampfe mit den Patriziern siegen, verändert sich meistens ihr Wesen,
sie werden zu politischen Zünften, deren Gliederung und Aufbau sich nach den
Bedürfnissen der Stadtverfassung bestimmt.
Die sechste Abhandlung „Großhändler und Kleinhändler im
deutschen Mittelalter" (S. 302—398) tritt der Ansicht von Nitzsch und
anderen entgegen, die den mittelalterlichen Handel zu hoch anschlagen, fast ganz
wie einen neuzeitlichen auffassen und in den alten Städten insbesondere Scharen
von berufsmäßigen Großhändlern zu sehen glauben. Dem Mittelalter eigentümlich
ist die Vereinigung von Groß- und Kleinhandel in einer Hand, der Kleinhändler
übt regelmäßig den Großhandel im Nebenberuf aus. Wareneinbringer sind regel¬
mäßig die Erzeuger und Kleinhändler. Der Kaufmann, der sich berufsmäßig auf
die Ausübung des Großhandels beschränkt, ist eine späte Ausnahmeerscheinung.
Reine Großhändlergilden hat es nicht gegeben. Die Gründe für das Fehlen eines
Großkaufmannstandes sind zu suchen einmal in dem verhältnismäßig geringen
Kapitalvorrat und in den schwierigen Verkehrsverhältnissen und sodann in der
städtischen Sozial- und Wirtschaftspolitik (Abschließung der Städte gegeneinander,
Beherrschung des platten Landes durch die Bürgerschaft, Gästerecht und Zunft-
verfassung).
Zur Neuzeit leitet über die nächste Abhandlung über //Die Entstehung
des modernen Kapitalismus" (S. 399—500). Im ausgehenden Mittel-
alter zeigen sich die ersten Ansätze zur kapitalistischen Wirtschaftsweise, deren
Hauptkennzeichen v. Below in der Verwendung von viel Kapital erblickt. Wo
und aus welchen Quellen hat sich während des Mittelalters so viel Kapital an¬
gehäuft/ daß an dessen Schluß diese Ansätze zur kapitalistischen Wirtschaftsweise
hervortreten konnten? W. Sombarr hat als Erster die Frage nach der Entstehung
des modernen Kapitalismus planmäßig gestellt und in einer größeren Darstellung
zu beantworten versucht (Sombart/ Moderner Kapitalismus/ 1. Auflage 1902).
Er bemühte sich nachzuweisen, daß die Kapitalansammlung im Mittelalter nicht
etwa aus Handelsgewinn entstanden sei — der Bürger der mittelalterlichen Stadt
habe es durch Handelsbetrieb schlechterdings nicht zum reichen Mann bringen
können — sondern durch Anhäufung von ländlicher und städtischer Grundrente.
Mit dieser Lehre Sombarts setzt sich v. Below hier kritisch auseinander. Er
legt dar, daß an der Bildung großer Vermögen eine Reihe von Ursachen neben-
einander mitgewirkt haben^ daß insbesondere Ertrag aus Handel, aus Grund¬
besitz und Bergwerksbesitz zusammengekommen sind. Wenn der Handelsgewinn
damals auch aus bescheideneren Betrieben floß, war er immerhin beträchtlich
genug, um manchen Kaufmann zum reichen Mann zu machen. Der Gewinn aus
der Grundrente wurde erst durch die Entwicklung von Handel und Gewerbe in
den Städten erheblich.
Mit der Frage, durch welche Verhältnisse die mittelalterliche Stadtwirt¬
schaft abgelöst worden ist, beschäftigt sich die achte Abhandlung „Der Unter¬
gang der mittelalterlichen Stadtwirtschaft. Qber den Begriff der
Territorialwirtschaft" (S. 501—621). Im Gegensatz zu Schmoller, der
eine Stufe der „Territorialwirtschaft" annahm, betont sie, daß es wohl eine
bemerkenswerte territoriale Wirtschaftspolitik gegeben hat, aber darum noch nicht
eine „Territorialwirtschaft". Mit dem 16. Jahrhundert beginnt eine Wirtschafts¬
politik der Landesherren, die durch Gewerbe- und Polizeiordnungen in das
Gewerbewesen ihrer Gebiete ordnend eingreifen. Die landesherrliche Gewerbe-
und Handelspolitik gipfelt im Merkantilismus, der in der Hauptsache eine Fort¬
führung stadtwirtschaftlicher Gedanken und ihre Übertragung von der Stadt auf
das Territorium ist. Die Grundlagen der mittelalterlichen Handwerks- und
Gewerbeverfassung, insbesondere der Zunftzwang und die Regelung der Erzeugung
der einzelnen Handwerker zugunsten der ganzen Genossenschaft, bleiben bis zum
Beginn des 19. Jahrhunderts bestehen. Sie müssen sich aber im einzelnen
manche Abbröcklungen gefallen lassen, so durch die beschränkte Zulassung von
Freimeistern und die ebenfalls beschränkte Anerkennung einer großindustriellcn
Tätigkeit (Verlegertum und Fabriken). Die Zahl der großindustriellcn Unter¬
nehmungen ist indes in den ersten Jahrhunderten der Neuzeit noch immer eine
ziemlich bescheidene. Einen erheblichen Aufschwung nehmen sie erst im 18. Jahr¬
hundert mit den unter dem Einfluß des Merkantilsystems gegründeten Fabriken,
die der Mehrzahl nach teils staatliche Begünstigung erfuhren, teils unmittelbare
staatliche Unternehmungen waren und deshalb auch vielfach einen künstlichen
Charakter trugen.
Wirtschafts- und verfassungsgeschichtlichen Inhalts zugleich ist die letzte
Abhandlung über „Die älteste deutsche Steuer" (S. 622 bis 662). Der
altdeutsche Staat kannte noch keine Steuer, weil kein Bedürfnis dafür vorhanden
war. Staats- und Kriegsdienst wurden von den Staatsbürgern in eigener
Person und auf eigene Kosten geleistet. Als die Franken Gallien eroberten,
fanden sie dort das römische Steuerwesen vor, ließen es aber verfallen,- auf die
deutschen Stammesgebiete wurde es nicht ausgedehnt. Die älteste deutsche Steuer
ist die Bete, die seit dem Ende des 12. Jahrhunderts uns in voller Deutlichkeit
als landesherrliche Abgabe begegnet, aber schon eine längere Geschichte hinter sich
hat. Rechtsgrundlage der Bete ist nicht die Grundherrschaft, sondern die von
den fränkischen Herrschern geschaffene gräfliche Gewalt. Der Ausbau der Bete
füllt zusammen mit der Begründung und Festigung der landesherrlichen Gewalt.
In der Tatsache, daß nicht der König, sondern die Landesherren sich dieses
Machtmittels der Steuer bemächtigen, spiegelt sich der ganze Verlauf der deut¬
schen Verfassungsgeschichte des Mittelalters wieder. Ihrem Grundgedanken nach
sollte die Bete Vermögenssteuer sein, tatsächlich wurden jedoch bei ihr regelmäßig-
nur Grundbesitz und Gebäude berücksichtigt. Schon früh wurde die Bete ihrem
Betrage nach festgelegt. Indem die Landesherren von einer Erhöhung der Bete
absahen, beschritten sie zwei Wege zur Beschaffung neuer Einnahmen: den der
Einführung von Nebenabgaben und Nebenleistungen neben der Bete — die
gleichfalls wie die Bete nicht von einer besonderen Bewilligung abhängig sind
und im allgemeinen von denselben Personen und Sachen verlangt werden — und
den der Verhandlung mit den Landständen über die Bewilligung außerordentlicher
Steuern. Diese landstandische Steuer war ursprünglich — abgesehen von den
drei herkömmlichen Fällen der Gefangenschaft des Landesherrn, des Ritterschlags
seines Sohnes und der Verheiratung der Tochter — freies Geschenk der Stände
und wurde in den ersten Jahrhunderten nur selten bewilligt. Seit der zweiten
Hälfte des 16. Jahrhunderts wurde sie allmählich zu einer jährlich gezählten,
wenngleich immer besonders bewilligten Steuer. Neben der landständischen
Steuer und von ihr überschattet, hat die alte landesherrliche Bete in Altdeutsch¬
land als Steuer noch weiter bestanden bis zu den großen Neuerungen im
19. Jahrhundert, durch welche die mittelalterlichen Lasten aufgehoben wurden und
das Steuerwesen eine völlige Umwälzung erfuhr. In Ostdeutschland dagegen ist
die alte Bete seit dem 14. Jahrhundert dem Staate großenteils aus der Hand
geglitten und — soweit der Landesherr nicht selbst Grundherr war — auf die
geistlichen und weltlichen Grundherren und die Städte übergegangen,' sie wurde
hier zu einer reinen Reallast, die nichts mehr von einer Steuer an sich trug.
Im Nahmen eines kurzen Berichts ist es nicht möglich, den reichen Inhalt
der Schrift auch nur anzudeuten, geschweige denn auf Einzelheiten näher einzu¬
gehen. Für den deutschen Wirtschafts- und Rechtshistoriker werden Belows
Probleme der Wirtschaftsgeschichte künftig schlechthin unentbehrlich sein. Über
diesen engeren Fachkreis hinaus möge das treffliche Werk des hervorragenden
Kenners unserer Wirtschaftsgeschichte recht vielen Gebildeten Belehrung und Auf¬
klärung über die großen Ergebnisse der deutschen wirtschaftsgeschichtlichen Forschung
des letzten Jahrhunderts bringen. Es gibt kaum ein Gebiet, auf dem der
Durchschnittsgebildcte eine gleich beschämende Unkenntnis verrät, wie die Geschichte
der wirtschaftlichen Entwicklung seines Volkes. Heute, wo die wirtschaftlichen
Fragen in unserem öffentlichen Leben einen so breiten Raum einnehmen, sollte
niemand auf politische Bildung Anspruch erheben können, dem die Kenntnis der
einfachsten Haupttatsachen der Wirtschaftsgeschichte abgeht. Wenn auch die Politik
die bestimmten Bedürfnisse der Zeit sich zur Richtschnur nimmt, so kann sie doch
„einer darüber hinausgehenden Besinnung nicht entbehren, und eben für sie vermag
die historische Betrachtung Dienste zu leisten. So wenig wir aus der Beobachtung
der bisherigen Entwicklung Richtlinien für unser Praktisches Verhalten einfach
ablesen können, so fördert uns doch der Blick auf die Tendenzen, die in der
Entwicklung liegen. Wir urteilen sicherer über die Fragen des Tages, wenn wir
auf die großen Zusammenhänge achten, denen sie angehören" (v. Below S. 138). ,
Das Londoner Ultimatum. Man hat mir vorgeworfen, daß meine Be¬
trachtungen über außenpolitische Fehler und Versäumnisse die innere Lage in
Deutschland unberücksichtigt ließen. Aber gerade den Standpunkt dieser Tadler
bekämpfe ich. Das Volk ist verloren, das es nicht über sich zu gewinnen vermag,
die Schwierigkeiten seiner inneren Lage den Erfordernissen der Außenpolitik unter,
zuordnen. Diese Schwierigkeiten lassen Versäumnisse und Fehler begreiflich er-
scheinen, sie entschuldigen sie nicht. Denn gerade dies muß man vom Außen-
Politiker verlangen, daß er seinen Gesichtspunkten im eigenen Hause Geltung zu
schaffen weiß. Zugegeben, daß das in Deutschland schwerer ist als anderswo,
aber wer eine Aufgabe übernimmt, muß, wenn er sie nicht zu erfüllen vermag,
eben Angriffe dulden. Mit anderen Worten: Wer es übernimmt, dies außen¬
politisch unbegabte Volk zu führen, soll sich nicht damit entschuldigen, daß bei der
Unbegabtheit des Volkes als Ganzes auch von ihm keine besseren Leistungen zu
erwarten seien. Die Ereignisse der letzten Monate haben deutlich genug gezeigt,
wie unfähig augenblicklich die Parteien als solche zur Lösung dringender Aufgaben
sind, aber ein starker Mann hätte es eben verstanden, über die Parteien hinweg
ans Volk zu appellieren und die Untüchtigkeit des reinen Parteiregimes dem Volke
deutlich vor Augen zu führen. Auch Dr. Simons hat es nach innen in noch
stärkerem Grade als nach außen hin an Aktivität gefehlt.
Wenn irgend etwas typisch ist, für die allgemeine deutsche Unfähigkeit,
Politik zu machen, so ist es die Tatsache, daß Deutschland in einem der wichtigsten
Augenblicke seines nationalen Lebens, der Annahme des Londoner Ultimatums,
keinen Außenminister hatte. Nicht auf Parteikonstellationen und sonstige Rück¬
sichten ist das zurückzuführen, sondern auf die Unfähigkeit, Entschlüsse zu fassen
und Verantwortungen zu übernehmen. Nehmen wir an, was ich nicht glaube,
aber nehmen wir an, die Unterzeichnung war sachlich richtig — und in der Tat
standen Sachverständigenurteile, sowohl wirtschaftliche wie politische, gegen Sach¬
verständigenurteile: Keiner fand den Mut, für eine außenpolitische Entscheidung
die Verantwortung zu übernehmen, die doch von vielen für die richtige gehalten
wurde. Jeder Nachfolger Simons' kann sagen: ich bin es nicht gewesen, ich habe
mich nur auf den Boden vorhandener Tatsachen gestellt. Aber wie soll er
Aktivität entfalten, wenn er diese Tatsachen innerlich nicht anerkennt? -
"
Wir wissen nicht, was wir wollen. „Haben Sie bemerkt, schreibt Viviani
im „Petit Journal" vom 7. Mai ganz richtig, „daß Deutschland sich fast immer
auf andere verläßt, auf ihre Schwäche oder auf ihre Bedenken, und daß es
weniger auf sich selber rechnet? ... Die ganze Geschichte seiner Kriegführung
bezeugte das, in der immer ein kindisches Räsonnement auf die diplomatischen
Entscheidungen der Regierung eingewirkt hat. Und ebenso wird dies durch die
Geschichte der vergangenen und jetzigen Unterhandlungen belegt."
Was immer geschieht, immer gibt es einen Teil der nicht mitmacht und
immer wird durch nach außen schwächlich wirkendes Lavieren auf diesen Teil
Rücksicht genommen. Wie anders in England. „Der Klub der Liberalen" hat
Lloyd George erst unlängst in einer Rede geäußert, „hat mein Porträt aus
seinen Räumen in den Keller verbannt, weil ich versucht habe, mit anderen
Männern zu arbeiten, die nicht zur gleichen Partei wie ich gehören, aber mein
Vaterland ebenso lieben. Ich werde weiter mit ihnen arbeiten." Der „Vorwärts"
aber schrieb im November 1918: „Wir vertrauen auf den Weltsozmlismus der
friedlichen Arbeiterdemokratien, der früher oder später kommen und aller Un-
gerechtigkeit zwischen den Völkern ein Ende machen wird." Früher oder spater l
Mir scheint, wir werden recht lange auf das Später zu warten haben.¬
Nicht das Ja oder Nein der Annahme des Londoner Ultimatums steht zu
nächst zur Rede, sondern die allgemeine Ziellosigkeit. Die Drohung mit der Be-
setzung des Nuhrgebiets ist nicht von heute und nicht von gestern. Daß sie ein¬
mal aktuell wurde, war vorauszusehen. Man hat also Zeit genug gehabt, sich
204
darüber klar zu werden, ob man einmal diesem Druck weichen würde oder nicht.
Wollte man es nicht, mußte man aktiverweise unter allen Umständen vermeiden,
Gelegenheiten zu seiner Anwendung zu schaffen oder eintreten zu lassen, dann
aber auch, wenn sie trotzdem eintraten, unter allen Umständen fest bleiben und
sich nicht ins Bockshorn jagen lassen, wenn der Druck tatsächlich eintrat. War
man aber überzeugt, daß man das Risiko der Besetzung nicht auf sich nehmen
konnte, so hatte es keinen Zweck, mit Stentorstimme ein Niemals hinauszu¬
posaunen, an das man selber nicht glaubte und das dann, verleugnet, nicht
gerade dazu diente, bei den Feinden den Glauben an Deutschlands Entschlossen¬
heit zu stärken.
Wie wenig aber das deutsche Volk sich in den letzten Monaten bewußt
gewesen ist, um was es eigentlich ging, beweist die Reichstagssitzung vom
10. Mai: .Es steht mehr als Geld und Gut auf dem Spiel. Es handelt sich um
die Zukunft unseres hartgeprüften Vaterlandes" sagte der neue Kanzler. Aber
es fehlten bei dieser entscheidenden Sitzung nicht weniger als 76 Abgeordnete.
Abgesehen von der moralischen Seite der Sache möchte ich wissen, wofür diese
Herren eigentlich ihre Diäten beziehen und wie viele ihrer Wähler den Schneid
aufbringen werden, sie für ihre Faulheit zur Rechenschaft zu ziehen. Und dann
das Niveau der Debatte. Der Redner der Sozialdemokraten weiß nichts besseres
zu tun, als die Verantwortung abzulehnen, aber die Annahme trotzdem anzuraten.
„Die politische Verantwortung für Annahme und Ausführung des Ultimatums
siel nach Auffassung der Fraktion jenen Parteien zu, die am meisten zur Ver¬
längerung des Krieges und zur Vermehrung seiner Lasten beigetragen hatten."
Man kann stehen auf welchem Parteistandpunkt man immer will, aber das ist
doch blanker Unsinn. Wenn ich zur Annahme eines Ultimatums rate, bin ich
dafür verantwortlich, und wenn ich die Annahme für schädlich oder gefährlich
halte, so nehme ich eben nicht an. Aber es ist widersinnig, zu sagen, ich nehme
zwar an, aber die Verantwortung dafür haben die, die schuld haben, daß ich
annehmen muß. Kein Mensch muß müssen, niemals I- Bei jeder außenpolitischen
Katastrophe gilt der Satz: mitgegangen, angehangen. Wer mit geht, ist mit¬
verantwortlich, denn keiner kann gezwungen werden, mitzugehen. Wer sich zwingen
läßt, ist eben passiv, und politische Passivität führt ein für allemal zu Kata¬
strophen. Daran ist nicht zu rütteln. Und haben loir denn seit Unterzeichnung
des Friedens keine sozialdemokratische Negierung, keine sozialdemokratischen Außen¬
minister gehabt? Was haben Herr die erreicht? Haben sie irgend etwas durch¬
gesetzt, nach innen oder außen, das die Lage des deutschen Volkes erleichtert
hätte? Wenn einer immer den Vorgänger für- seine Handlungen verantwortlich
macht, so kann man daraus ein Gesellschaftsspiel machen und bis auf Olims
Zeiten zurückgehen, aber an der Verantwortlichkeit für die Handlung, die er sich
im Augenblick abnötigen läßt, wird dadurch nichts geändert. Daß nach solchem
Anfang die Debatte sich zu einem Parteigetümmel zwischen rechts und links ent¬
wickeln mußte, war klar. Nötig war es nicht und die Deutschnationalen hätten
ihre Argumente wirksamer gemacht, wenn sie nicht gerade einen Redner vor¬
geschickt hätten, dessen Person, gleichgültig ob mit Recht oder Umecht, allein schon,
wie man recht gut wissen konnte, auf die Linke aufreizend wirkte. Das ent¬
schuldigt die unsachliche Animosität der Linken selbst natürlich in keiner Weise,
ober wenn die Parteien nur allgemein den Takt aufbringen würden, diejenigen
Persönlichkeiten, deren Bestrebungen der Ausgang des Krieges im Unrecht er¬
scheinen läßt, bis auf weiteres in den Hintergrund treten zu lassen, wie das in
allen andern Ländern der Fall ist, so würde das die Lösung außenpolitischer
Probleme sehr erleichtern.' Gerade in außenpolitischen Dingen, wo selten be¬
wiesen werden kann, ob eine Handlung oder Richtung absolut falsch ist, ist Einheit
der Richtung notwendig und es erleichtert den Kämpfern ihren Widerstand nicht,
wenn die Verwundeten oder Angeschossenen hartnäckig das Feld behaupten, anstatt
sich heilen zu lassen und einen günstigeren Zeitpunkt zum Eingreifen abzuwarten,
an dein, wie das in allen parlamentarisch regierten Ländern einzutreten pflegt,
die jetzigen Führer abgekämpft sind und das Steuer dann mit voller und um so
wirksamerer Wucht herumgeworfen werden kann. Wo Widerstand nichts nützt,
darf man keine Kräfte verzetteln.
Was die Annahme des Ultimatums selbst betrifft, so halte ich sie für einen
ebenso schweren Fehler wie die Unterschrift des Friedensvertrages, d. h. für den
schwersten, den man überhaupt begehen konnte. Und wenn man damals die
Absicht hatte, die Absplitierung deutschen Gebietes, den Zerfall der deutschen
Einheit und weiteres Einrücken der Feinde zu verhindern, so bestehen heute diese
damals immerhin begründeten Rücksichten nicht mehr. Die Rheinländer haben
längst erkannt, daß ihr Heil bei Frankreich nicht sein kann, die französische
Presse ist voll von Klagen über den Umschwung der Stimmung. Der Zerfall
der deutschen Einheit droht durch Bayerns Haltung in der Entwaffnungsfrage
nach wie vor, und weitere Besetzung deutschen Gebietes, insbesondere des Ruhr-
beckens. wird durch Annahme des Ultimatums eben nicht abgewendet. Schon
jetzt ist von einer Aufhebung der zur Erzwingung der Unterschrift bisher an¬
gewandten „Sanktionen" keine Rede. Aber man übersieht, dasz die öffentliche
Meinung in Frankreich mit den finanziellen Bestimmungen des Londoner Ab¬
kommens keineswegs zufrieden ist, die Garantien für durchaus ungenügend hält
und der festen Überzeugung ist, man müßte sich Pfänder für die Ausführung
des Londoner Abkommens durch Deutschland sichern. Schon erklärt Vriand, der
am 19. Mai vor Kammer und Senat einen harten Kampf zu bestehen haben
wird, die fünfzehn Jahre der Besetzung der Rheinlande seien ein Minimum, schon
jetzt suchen französische Blätter nach Vorwänden, um Verfehlungen Deutschlands
feststellen zu können, die eine sofortige Besetzung des Ruhrgebiets rechtfertigen
würden. Die mobilisierte Jahresklasse 19 wird weiter unter den Waffen gehalten.
Nicht umsonst schreibt der Autzenpolitiker des „Echo de Paris". General Rottet
sei der Befehl gegeben worden, aus die strikteste Beobachtung der Entwasfnungs-
klauseln zu achten, nicht umsonst veröffentlichen andere Blätter Kalender mit
Terminen, bis zu denen die unterschiedlichen Verpflichtungen erfüllt sein müssen,
nicht umsonst zieht „Action frau?aise" jeden Tag gegen Briands Unentschlossenheit
zu Felde, nicht umsonst läßt Poincare als präsumiiver Nachfolger Briands in
dem letzten seiner „Freien Briefe" im „Temps" einen Bewohner der zerstörten
Gebiete folgendermaßen sprechen: „Haben die Engländer die deutschen Zeppeline
vergessen? Glauben sie, daß sie in einem neuen Kriege geschützter sind als wir?
Deutschland entwaffnet nicht und zahlt nicht. Worauf warten wir. es selbst zu
entwaffnen und es selber zum Zahlen zu bringen? Zwei Jahre warten wir
schon. War es nicht ausgemacht, daß wir uns am 1. Mai selber materielle
Pfänder suchen würden? Nehmen wir an, daß die Deutschen die Geschicklichkeit
haben, unsere Bedingungen anzunehmen, was bleibt uns an Stelle eines Pfandes,
das wir eventuell zur Tilgung unserer Schulden ausbeuten könnten, in, Händen?
Deutschlands Versprechen und Bons, also ein paar Papiere mehr. Wenn sich
Deutschland eines Tages weigerte zu zahlen, welche Mittel werben wir haben,
es zu zwingen?" Es mag leicht sein, daß auch in Frankreich WirtschaftS-
sachverständige die Besetzung des NuhrgebietS als nicht einträglich ablehnen, aber
die Geschichte des Krieges ist reich genug an Beispielen dafür, daß in Fällen, wo
in den Parlamenten die Wogen patriotischer Erregung hochgehen, eben nicht nach
sachlichen Gesichtspunkten entschieden wird. . „ ^
Eins freilich ist den Franzosen bisher nicht gelungen, was ihnen in London
gewiß äußerst erwünscht gewesen wäre: die Deutschen durch den oberschlestschen
Einfall zu provozieren. Man hätte es gar zu gern gesehen, daß Reichswehr
oder Freikorps eingegriffen hätten, um dann sagen zu tonnen : die Deutschen be¬
ginnen aufs neue einen Krieg, sie haben nicht entwaffnet, da ist der Beweis. Es
muß eingerückt werden. — Dann würde im Westen verloren gehen, was un
Osten gewonnen würde. Es besteht allerdings wenig Hoffnung, daß die ober-
schlesische Frage eine gerechte Lösung findet. Lloyd George hat freilich erklärt,
daß die Alliierten, wie sie Deutschland entwaffnet hätten, verpflichtet seien, Deutsch-
land davor zu bewahren, infolge seiner Entwaffnung das Opfer eines militärischen
Angriffs durch eine dritte Partei zu werden, aber „Daily Chronicle" fügte gleich
hinzu, ein großer Teil im Korfantygebiet werde doch so wie so polnisch und es
sei unklug, von feiten der Alliierten, die polnischen Aufständischen auf einem Boden
niederzuschießen, den sie Polen schließlich doch zuweisen wollten. Das ist
natürlich nichts anderes, als die Vorbereitung einer Kapitulation und auch Lloyd
Georges große Unterhausrede, die höchstwahrscheinlich so nur gehalten wurde, um
Briands Stellung im Parlament zu festigen, kann bei der militärischen Ohnmacht
Englands, das durch Irland und den Streik stark erschüttert ist, daran wenig
ändern. Die Engländer sind den offenkundig parteiischen Franzosen gegenüber
militärisch absolut ohnmächtig und wie am Bug und in Wilna werden die Polen
trotz England auch ihre dritte Eigenmächtigkeit durchsetzen. Und in einem solchen
Augenblick sollen wir, wie der Kanzler verlangte, „den ernsten und entschlossenen
Willen (welch schönes Deutsch!) haben, das Äußerste aufzubieten, um den uns
auferlegten Lasten gerecht zu werden"? Ist es nicht ein wenig viel verlangt?
Franz Rosenzweig, Hegel und der Staat. Bd. I: Lebensstationen (1770—1806),
Bd. II: Weltepochen (1806—1831). München und Berlin (R. Oldenbourg)
1920. XVI und 252 S.,' VI und 260 S. M. 20,—/ M. 24,— und T. Z.
Gedr. mit Unterstützung der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.
Die 150. Wiederkehr von Hegels Geburtstag ist in eine Zeit mächtig auf¬
lebenden Interesses für die Kultur- und Geschichtsbetrachtung des großen Geistes¬
philosophen gefallen. Seit es W. Dilthey 1887 ausgesprochen hat, daß die Zeit
des Kampfes mit Hegel vorüber und die seiner historischen Erkenntnis gekommen
sei, ist sogar eine teilweise Neubelebung Hegelscher Ideen erfolgt, die noch in den
letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts für endgültig begraben galten. Der
auf den verschiedensten Feldern unseres geistigen Lebens aufkeimende Drang nach
synthetischer Durchdringung aller wissenschaftlichen Einzelarbeit durch die Macht
des freien Gedankens, nach Philosophie im Sinne einer schöpferischen Gesamt¬
anschauung unseres Weltbildes hat die Sehnsucht nach der großartigen Ge¬
schlossenheit der idealistischen Systeme neu erwachen lassen. Und selbst die
geschichtliche Forschung im engeren Sinne, infolge ihrer besonderen Entwicklung
und der — heute mehr denn je bewußten — Jüngerschaft des großen Hegel¬
gegners Ranke von Hause aus im anderen Lager stehend, erkennt mit zunehmender
Klarheit, wieviel sie innerlich und für ihre (ehemalige) Stellung im geistigen
Leben der Nation den Ideen des schwäbischen Philosophen verdankt, der den Staat
so bewußt und eindrucksvoll in den Mittelpunkt seiner Kulturbetrachtung stellte.
Von der Idee des Staates her versucht denn auch das angezeigte Buch in
das Innere dieser Gedankenwelt einzudringen. Der Verfasser bekennt sich als
Schüler Friedrich Meincckes,' aber von Anfängerarbeit kann diesem Werke gegen¬
über nicht eigentlich die Rede sein. Es steht auf einer so bedeutenden geistigen
Höhe, daß man es unbedenklich unter die besten Schriften der gesamten Hegel¬
literatur wird zählen dürfen. Weite des Gesichtskreises, Fülle und Tiefe der
historischen und philosophischen Bildung, Kraft und lebendige Anschaulichkeit der
Sprache erheben es über den Rang einer fachwissenschaftlichen Leistung im engeren
Sinne/ und so kann seine Lektüre auch im Nahmen dieser Zeitschrift empfohlen
Werden, deren politische Traditionen ja zum guten Teil in der Richtung jener
freudigen Bejahung des Staates liegen, wie sie uns in Hegels „Rechtsphilosophie"
mit einer gerade heute erfrischend wirkenden Klarheit vernünftigen Wollens entgegen¬
tritt.") ""
Wenn unsere Generation die Zerstörung (nicht eigentlich den „Zusammen¬
bruch!") unseres nationalen Machtstaates und damit zugleich eine unendliche
Verwirrung der Staatsgesinnung, das Aufbrodeln zahlreicher dumpfer Idealismen
und Egoismen erlebt hat, so ist Hegel gerade umgekehrt aus verworrenen natur¬
rechtlichen Vorstellungen eines Staatsfremden Geschlechts durch erschütternde geschicht¬
liche Wandlungen zu dem Erlebnis des souveränen, seiner Freiheit bewußten
Machtstaates emporgeführt worden, wie er ihn in dem Preußen der Restaurations-
epoche zu erblicken glaubte und wie er ihn vollends mit überraschender Klar¬
heit als nationalen Staat schon um die Jahrhundertwende prophezeit hat,
N. hält deshalb sein eigenes, im wesentlichen vor dem großen Kriege vollendetes
Buch in gewissem Sinne für überholt durch die Katastrophe von 1918/19. Er spricht
jetzt im Vorwort von dem „harten und beschränkten Hegelschen Staatsgedanken"
und meint, seine Darstellung habe eben diesen Staatsgedanken analysierend zer¬
setzen, als unfrei dartun wollen. In Wahrheit läßt aber der Inhalt des Werkes
diese kritische Empfindung in der Hauptsache als nachträglich erscheinen. Es ist
im Interesse des Buche/ zu bedauern, daß der bewegliche Geist des Autors seit
der großen Katastrophe von diesem Stoffe so weit abgerückt ist (wie es scheint,
u. a. unter dem Einfluß des Heidelberger Philosophen Ehrenberg, der wohl auch
dem seither angekündigten philosophischen Werke R.'s „Der Stern der Erlösung",
nicht fern stehen dürfte). Der Autor Rosenzweig von 1914 ist innerlich nicht
gerade Hegelianer, aber doch fühlbar beseelt von der Größe seines Gegenstandes^
ja zuweilen möchte man gar etwas deutlicher, als geschehen, die Stimme des
modernen kritischen Betrachters hören. Die elegischen Zutaten von 1919 aber
schwächen ni. E. den Eindruck und die politische Wirkung des Ganzen, ohne den
Kern des Buches irgendwie zu ändern. Man kann Hegel fruchtbar machen für
unsere Zeit, ohne ihn preiszugeben und ohne deshalb anderseits einer unbesehenen
Erneuerung Hegelscher Staat'sphilosophie das Wort zu reden.
Schon daß diese Staatslehre die Idee der Nationalität nicht befriedigend
u verarbeiten vermochte, war — wie R. richtig hervorhebt — eine Schwäche,
le ihr historisch verhängnisvoll geworden ist. Die Erklärung, die R. dafür gibt
(Hegels Staatslehre sei zu einseitig auf dem Willen aufgebaut, um die Nation in
ihrem ruhenden „Sein" zu verstehen), ist freilich nicht recht befriedigend: auch
die Idee der Nationalität läßt sich aus dem Willen konstruieren/ in Wahrheit liegt
hier wohl dasselbe Motiv zugrunde, das die auffallende Unsicherheit Hegels in dem
systematischen Verhältnis des'Staates zu den großen Kultursystemen der Religion,
Wissenschaft und Kunst begründet (ein Verhältnis, das auch in der letzten Fassung
wenig befriedigt)/ dies Motiv ist doch wohl der übermächtige Drang, die
Subjektivität des romantischen Zeitalters unter allen Umständen unter den Bann
der großen Lebensmächte der Zeit zu zwingen, wie sie dem Denker die Anschauung
der Wirklichkeit bot. Wie der selbstherrliche Theoretiker der lebendigen geschicht¬
lichen Fortentwicklung jener obersten geistigen Knlturmächte halt gebot zugunsten
der absoluten Erkenntnis seines Systems, so wollte er den zerfließenden idealistischen
Willen seiner deutschen Zeitgenossen, die erst auf dem Wege waren zu politischem
Denken, unter die Ordnung "des bestehenden Staates zwingen.
Doch ist damit ein Problem angerührt, das hier nicht erledigt werden kann
und in mannigfachen Gestalten das ganze Buch durchzieht: die spezifisch Hegelsche
Bemühung, mit philosophischen Mitteln „ein konkretes Bild, eine breite inhaltvolle
Anschauung vom Ganzen der Welt und des Lebens zu entwerfen" (R. Haym).
Wie dieser Wirklichkeitssinn in geheimnisvoller Paarung mit einem zähen gewalt-
tätigen Trieb zur gedanklichen Ordnung, zur Systembildung — eine Mischung
gewissermaßen aus dem Geiste des 19. und 18. Jahrhunderts — dieses ganze
Leben durchzieht, das macht insbesondere den Reiz der Jugendentwicklung Hegels
aus. Die Darstellung dieser äußerst schwierigen Dinge durch N. sucht auf Grund
mühsamster Handschriftenvorarbeit mit liebevoller biographischer Versenkung und
nachdenkender Betrachtung, tausend feine Verbindungsfäden innerhalb des Systems
und zur Romantik (Hölderlin!) und Aufklärung (Rousseau, Montesquieu!) hinüber
blvßzulegen, darin alle früheren Bearbeiter übertreffend. Die Rekonstruktion der
geistigen Entwicklung Hegels mit biographisch-psychologischen und physiologischen
Mitteln ist die beste Leistung des Buches. Freilich scheint mir, das Ganze
hätte sich vereinfachen und zugleich fester fundieren lassen durch den nicht
immer ausreichend gelieferten, ja gelegentlich bewußt abgelehnten Nachweis der
realen Zeiterlebnisse, die dem Denker den Anstoß gaben: sieht man doch deutlich
den jungen Württemberger Theologen aus persönlicher Not, aus der Machtstellung
der Kirche in seinem Heimatsstaate den ersten Anstoß zum Nachdenken über den
Staat empfangen — später dann mit Hilfe des Erlebnisses der militärisch-politischen
Hilflosigkeit Deutschlands im Zeitalter der Revolutionskriege den (rein biographisch
trotz aller Bemühung nicht zu begreifenden) Sprung vom individualistischen
Vernunft- zum nationalen Machtstaat vollführen! Und sollte nicht die lebendige
Anschauung des sich selbst als Träger der Staatsidee (schon vor 1806!) empfindenden
hohen Preußischen Beamtentums irgendwie schon in Jena (1805) jene merkwürdige
Verherrlichung der Bürokratie als „Organ der öffentlichen Meinung" mitbestimmt
haben, ebenso wie die politische Hoffnungslosigkeit Deutschlands seit 1806 den
Philosophen zu einer zeitweiligen metaphysischen Verdunstung der Staatsidee
überhaupt verführte? Der oft hervortretende Gegensatz R.'s gegen seinen Vorgänger
Hahn mag ihn gegen solche Erklärungen abgeneigt gestimmt haben. Und doch wird
der Betrachter dieser geistigen Entwicklung die Empfindung nicht ganz los, daß
alle diese tiefsinnigen metaphysischen Fvmeln im letzten Kerne nichts anderes
verhüllen, als ganz reale Erlebnisse der Zeit, durch eine unerhörte dialektische
Begabung ins Absolute gesteigert.
Ganz gerecht urteilt eine solche Empfindung freilich nicht. Sehr einleuchtend
und fein zeigt N., wie die berühmte Formel: „Was wirklich ist, das ist vernünftig",
eben doch weit mehr besagt, als eine mehr oder weniger umwundene Anerkennung
des Bestehenden. Erst in der Herausarbeitung des Wesentlichen, geschichtlich
Begründeten aus der Masse des zufällig Wirklichen betätigt sich die ungeheure
Energie des Hegelschen Denkens, das ja denn auch in seiner politischen Nach¬
wirkung stärker auf der linken als auf der rechten Seite zu spüren war. Unserer
Zeit aber, der ein in Generationen mühsam für das Volk erworbener Schatz
politischer Begriffe plötzlich in der Katastrophe zerstoben scheint, möchte man nichts
dringender wünschen als einen gedankenmächtigen Mahner, der wie Hegel (im
Borwort zur Rechtsphilosophie) gegen alle die unpolitischen Politiker angeht, die
„den gebildeten Bau des Staates in einen Brei des Herzens, der Freundschaft
und Begeisterung zusammenfließen lassen".
Meinem eisernen Willen verdanke ich alles.
Rücksendung von Manuskripten erfolgt nur gegen beigefügtes Rückporto.
Nachdruck sämtlicher Aufsätze ist nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlages gestattet.
s gibt wohl kaum ein anderes Gebiet, auf dem sich so scharf die
Unterschiede deutscher und angelsächsischer Denkweise abheben, als
dasjenige, das von den Fragen der See handelt. Auf jener Seite
bis in alle Volksschichten hinein nicht nur das wärmste Interesse
für „See" und „Übersee", sondern auch ein außerordentlich ausge¬
prägtes Verständnis für die gewaltige Bedeutung selbst des kleinsten Teiles der
militärischen Seerüstung für jede wirtschaftliche Frage, die mit der See zusammen¬
hängt; hier in Deutschland wohl eine zeitweise aufflackernde Begeisterung, aber
im Grunde doch nur eine kontinentale Einschätzungsart und geringe Einsicht in-
bezug auf die Bedeutung jeder seemilitärischen Frage.
In dem Urteil der Mehrheit des deutschen Volkes erscheint daher die See¬
schlacht vor dem Skagerak nur als eine nebensächliche Gefechtshandlung ohne
wesentliche Bedeutung auf den Verlauf des Krieges. Und das ist so gründ-
verkehrtl Wie kann eine solche Schlacht, die gegen die Flottenhauptkräfte des
britischen Gewaltimperiums geschlagen wurde, in der auf britischer Seite der ganze
Stolz des Volkes, alle geschichtliche Tradition und ein unendlicher personeller und
materieller Wert verkörpert war, von nebensächlicher Bedeutung seinl! Man
studiere englische Stimmungsbilder aus jenen Tagen und man wird sich über¬
zeugen, welche Landestrauer über die geschlagene Flotte damals durch das Volk
zog, und wie erst „Machenschaften" der Regierung diesen Eindruck im Lande und
in der weiteren Welt verwischen mußten.
Worin liegt die Bedeutung der Seeschlacht vor dem Skagerrak?
Es ist oft behauptet worden, das Zusammentreffen der beiden Flotten am
Nachmittage des 31. Mai 1916 sei ein „zufälliges" gewesen. Dieses mag „taktisch"
der Fall gewesen sein. Gesamtstrategisch war jedoch eine solche Schlacht vor dem
Skagerrak im Sommer 1916 eine Notwendigkeit, die sich aus der ganzen Kriegs¬
lage mit eiserner Konsequenz ergab. Wäre sie nicht infolge schneller und ziel¬
bewußter Initiative des deutschen Flottenchefs, des Admirals Scheer, bereits Ende
Mai geschlagen worden, so hätte sie sich im Laufe des Sommers 1916 aus der
allgemeinen Kriegslage als eine notwendige Folge ergeben. Die deutsche Flotte
hätte jedoch zu einer späteren Zeit nicht in demselben Maße den Vorteil der
taktischen und strategischen Überraschung gehabt, zu dem sie wegen ihrer großen
Unterlegenheit gezwungen war.
In gewaltigster Konzentration wollten im Jahre 1916 die feindlichen Heere
zum Angriff ausholen. Im Westen und Osten drohten die deutschen Fronten zu
brechen. Jede nur verfügbare Kompagnie mußte zur Verteidigung eingesetzt
werden. Während sich so die gesamten Heereskräfte der gegenseitigen Feinde in
der Erwartung der kommenden Entscheidungskampfe gegenüberstanden, strebte die
Entente als Angreifer danach, zugunsten ihrer Entscheidung alle in der Welt noch
verfügbaren Kräfte auf ihre Seite zu scharen. Konnte sie Holland, Dänemark,
Norwegen, Schweden, Rumänien, Spanien zu sich hinüberziehen?
Die Haltung dieser Staaten war jetzt, wo sich die kämpfenden Heere gegen¬
seitig verbrauchten, in wesentlichsten Maße von der Kräftelags auf der See ab¬
hängig. So lange die deutsche Flotte lebte, so lange sie zur englischen Küste und
Zum Skagerrak Fernfahrten ausführte, waren die Seeverbindungen von Holland,
Dänemark, Schweden und Norwegen nach Übersee von der deutschen Flotte
strategisch beeinflußt und nicht ein ausschließlicher taktischer Besitz der Feinde.
Diese neutralen Staaten konnten sich nicht dem Willen der Entente unterwerfen,
denn ihre Verbindungen waren nicht gesichert. So lange die deutsche Flotte lebte,
waren daher auch die Meerengen zwischen Nord- und Ostsee — taktisch von den
nordischen Völkern bestimmt — kein strategischer Besitz der Feinde. Die für den
Feind wesentlichste Hauptverbindungsstraße zwischen der deutschen West- und
Ostfront — nämlich die Nord-Ostsee — war dadurch unterbrochen. Die Trennung
zwischen den Westmächten und Rußland war aber die Quelle der deutschen Heeres¬
erfolge; auf ihr basierte die Grundlage der deutschen Verteidigung gegen die
feindliche Übermacht? sie war der bestimmende Faktor für die Balkanstaaten und die
Türkei und dadurch auch für Spanien und die weitere Welt. So lange daher
auf den Meeren keine Gleichgewichts Verschiebung eintrat, hatten die deutschen
Heereskräfte keine grundsätzlichen strategischen Veränderungen zu befürchten.
England war jedoch durch eine längere Konzentrierung seiner Flotte an
der Südküste Norwegens (Skagerrak) imstande, dieses Gleichgewicht der See zu
erschüttern. Mit einer solchen Operation verminderte es nicht nur die Entfernung
von der deutschen Flotte um fast die Hälfte (von 600 auf 300 Seemeilen), son¬
dern es schnürte durch seine unmittelbare nördliche Position auch die Bewegungs¬
freiheit der deutschen Flotte nach Westen (holländische Verbindungen), nach Norden
(dänische, norwegische und schwedische Verbindungen), sowie nach Osten durch den
Nord-Ostsee-Kanal (russische Flotte) ein. Holland und die nordischen Staaten
wurden dadurch unmittelbar, alle anderen neutralen Staaten mittelbar seeabhängig
von der Entente. Die Bewegungsfähigkeit der russischen Flotte wurde gestärkt.
Es ist anzunehmen, daß eine derartige längere Aktion sich in immer wachsendem
Maße die Ausnutzung norwegischer Hilfsmittel und damit eine günstigere po-
Mische und militärische Position verschafft hätte. Dänemark und Holland hätten
immer weniger dem britischen Drucke widerstehen können. Auch alle anderen
neutralen Staaten hätten nach einer britischen Öffnung der Ostsee und der
hieraus sich ergebenden taktischen Verbindung zwischen Westen und Osten die
Fahne der Entente ergriffen.
Wie konnte Deutschland eine solche längere Aktion der britischen Flotte
eine solche Gleichgewichtsveränderung auf der See verhindern? Weder Untersee-
noch Torpedoboote sind imstande, die Schwerkräfte einer feindlichen Linienschiffs¬
flotte, die mit allen taktischen Mitteln des Kreuzer-, Torpedoboots- und Luft¬
schutzes versehen ist, zu verjagen. Wohl hätte eine solche Flotte einzelnen,
kühnen U-Booten und Torpedobooten manche Gelegenheit zum Schuß geboten.
Aber im allgemeinen wäre sie vor solchen Angriffen geschützt gewesen, zumal sie
sich bald die sichere Hut der norwegischen Häfen verschafft hätte.
Nur die deutsche Hochseeflotte war befähigt, dieses zu verhindern. Die
Schlacht vor dem Skagerrak mußte geschlagen werden. Mit elementarer Gewalt
brach am 31. Mai die deutsche Flotte in die erstrebte feindliche Hauptstellung
zwischen Nord- und Ostsee und bewies England und der ganzen Welt, daß dieses
Gebiet „neutral" ist. Trotz halbfacher Unterlegenheit vernichtete sie beim Feinde
fast das Dreifache ihrer eigenen Verluste. England hat es während der folgenden
gewaltigen Kämpfe des Jahres 1916 verschmäht, dieses Gebiet länger zu besetzen.
Alle Neutralen haben hieraus ihre Lehren gezogen. Die deutsche Trennung
zwischen Westen und Osten war hiermit aufrecht gehalten. Das deutsche Heer
war nicht genötigt, Kräfte gegen neue Fronten abzugeben.
Nicht nur die deutsche Heeresverteidigung des Jahres 1916, sondern auch
diejenige der Jahre 1917 und 1918 war in gewaltigem Maße von diesem Schlage
vom Skagerrak abhängig. Eine deutsche Flotte, die dort nicht bestanden hätte,
hätte alles von Grund aus geändert. Sie hätte den deutschen Zusammenbruch
bereits im Jahre 1916 bewirkt und durch diesen gewaltigen Zeitvorsprung den
Feinden unübersehbare Macht verliehen.
Man hört es heutzutage so oft, es wäre ja ganz gleichgültig, die britische Flotte
hätte ihr Ziel ja auch ohne Kampf erreicht. Das ist einer der größten denkbaren
Trugschlüsse. Napoleon sagte: „Der Krieg ist ein Wettrennen der Zeit." Keine
Ewigkeit ist befähigt, England die Vorteile wiederzugeben, die es 1916 gehabt
hätte durch eine Vernichtung der deutschen Flotte. Dadurch, daß England uns
1916 nicht schlug, hat es seine frühere vorherrschende Weltmachtstellung aus alle
Zeiten verloren. Amerika trat an seine Stelle.
Der Tag vorm Skagerrak bleibt Englands Verhängnis. Die Schlacht
bleibt auf dem Wasser der Entscheidungskampf des Krieges für die Art und Zeit-
dauer der deutschen kontinentalen Verteidigung. Die Schlacht ist in ihren stra¬
tegischen Gesichtspunkten und in ihrer taktischen Durchführung ein Musterbeispiel
kühnsten Angriffsgeistes eines Schwächeren. Darum Ehre und Dank allen den¬
jenigen, die zu diesem großen Erfolge beigetragen habent Ehre und Dank im
besonderen dem deutschen Flottenchef, Admiral Scheer, der die Verantwortung
getragen und den Erfolg so glänzend gesichert hat! Ehre und Dank all den
tapferen deutschen Söhnen, die in der Schlacht ihr Leben ließen für deutschen
Ruhm!
n meinem letzten Aufsatz in den „Grenzboten" wies ich darauf hin,
daß der Bolschewismus in Rußland am Bauerntum einen ge¬
fährlichen Feind gefunden hat und daran sterben wird, wenn ihm
nicht von außen Hilfe kommt. Deshalb geht das ganze Streben
der Sowjetregierung darauf aus, die wirtschaftliche, finanzielle,
sittliche, innen- und außenpolitische Krisis Westeuropas für seine Zwecke auszu¬
nützen und zur Weltrevolution ausreifen zu lassen.
Die letzten Etappen in dieser Arbeit sind folgende:
Die diesjährige Märzrevolution — bekanntlich hat Deutschland seit
1919 jedes Jahr eine Märzrevolution — ist als Werk russisch.bolschewistischer
Agenten erwiesen.
Der terroristische Aufstand in Oberschlesien ist einmal polnisch-rationa¬
listisch, in der Art seiner Durchführung aber, in seinen Morden und Schandtaten
bolschewistischer Natur. Er ist auf die niedrigsten Instinkte einer undisziplinierten
rohen Bande Arbeitsscheuer aufgebaut, wird mit Lug und Trug geführt und be¬
deutet im ganzen den Versuch eines wirtschaftlich bankerotten Staates, durch
Diebstahl das zu nehmen, was ihm das Recht bei der Abstimmung versagt hat.
Korfanty kann nicht räumen, weil dann offener Bolschewismus die Folge ist.
Daß die Sowjetregierung dem Aufruhr nicht fern steht, ist mir nicht zweifelhaft.
Sie betrachtet Polen mit und ohne Oberschlesien als revolutionsreif. Fällt Ober-
schlesien an Polen, dann rückt auch in Deutschland die Revolutionsstunde näher.
Denn dann muß ohne Kohlen das deutsche Wirtschaftsleben und mit ihm die
Lage des Mittelstandes und der Arbeitermassen zusammenbrechen.
Mit Polen steckt Frankreich unter einer Decke. Was selbst der Versailler
Schandvertrag ihm noch versagt, soll nun gestohlen werden: im Osten für den
dem Bolschewismus zutreibenden polnischen Staat das Oder- und Weichselgebiet,
im Westen das Rhein- und Ruhrgebiet. Ob zum ersten Male dieser Raubpolitik
von England und Amerika, „diesen Vorkämpfern für Kultur und Freiheit der
Völker", ernstlich entgegengetreten und verhindert werden wird, kann nur die
Zukunft lehren. In Ehrgeiz und Eifersucht bekämpfen sich gegenseitig die letzten
noch national empfindenden Männer und Organisationen. selbstloser Idealismus
gehört der großen deutschen Vergangenheit an.
Wenn eine Kulturwelt so unsittliche Blüten treibt, so ist sie zum Untergange
reif. Durch und durch morsch müssen früher oder später auch die jetzigen Sieger¬
staaten zusammenbrechen.
Um die Bewegung in Deutschland zu beschleunigen, setzt die russisch-bolsche¬
wistische Propagandarbeit jetzt nicht nur in die unabhängige, sondern auch in die
mehrheitssozialdemokratische Partei ihre Keimzellen hinein, damit nach
Wirrig, Roste und August Müller auch alle anderen politisch überlegten und
ehrlichen Führer ausgeschaltet werden und revolutionäre Hitzköpfe die Führung
übernehmen. Eine sozialistisch-revolutionäre Einheitspartei mit der Diktatur des
Gesamtproletariats ist das Ziel. Man lese das Werben des „Vorwärts" um die
Gunst der Unabhängigen und die Hetzrede Hermann Müllers im Augenblick
höchster vaterländischer Not und bestreite dann die Behauptung, daß auch die
mehrheitssozialdemokratische Führung den innen- und außenpolitischen Zusammen-
bruch herbeiführen will, um dann in der allgemeinen Anarchie zur Herrschaft zu
kommen. Das wäre dann aber die bolschewistische Herrschaft. Ob der gesunde
und Vielfach nationale Sinn des deutschen Arbeiters, dessen guten Kern ich im
Kriege lieben gelernt habe, der Hetzpropaganda widerstehen wird, ist mir leider
zweifelhaft.
Und was tut in dieser Not die deutsche Regierung?
Sie nimmt diese entartete mehrheitssozialdemokratische Partei in die Re¬
gierung auf. Sie untergräbt gleichzeitig die Disziplin in der Schutzpolizei, die
die Hauptstütze des jetzigen Ordnungsstaates darstellt, und macht die Truppe zur
sozialistischen Parteigarde.
Sie übergibt alle Hetzreden und Hetzartikel aus der Ententewelt ohne
Zusatz der deutschen Presse und verbreitet dadurch im Volke eine Luft von Er¬
schlaffung, Gleichgültigkeit, Stumpfsinn oder Verzweiflung.
Sie hat durch Entwaffnung Oberschlesien wehrlos sogar gegen Räuber¬
banden gemacht und tut nun nichts für dies deutsche Land. Aller Wahrscheinlich¬
keit nach wird so oder so Oberschlesien, das seit 1161 zu Deutschland gehört, trotz
seiner deutschen Abstimmung uns gestohlen werden, entweder für Polen oder für
den „Völkerbund". Im letzteren Falle würde das europäische Staaten-Mosaik
um einen weiteren lebensunfähigen Staat vermehrt werden.
Sie findet niemals auch nur ein würdiges Wort gegenüberunseren Peinigern.
Anstatt den Diebstahl unserer Feinde, ihre Lügen über die Kriegsschuld beim rechten
Namen zu nennen, aus das selbstverständliche Recht der Notwehr beim Polen¬
einbruch, auf die bis zur Siedehitze gesteigerte Wut weitester Kreise bis zu den
Arbeitern hinzuweisen, die unbedingt sich mal irgendwie entladen muß, erklärt
der neueste Nachfolger Bismarcks, ein Strohmann Erzbergers, dem Abgesandten
der französisch-polnischen Räuberbande, daß er nichts gegen sie tun wird. Er
merkt gar nicht mal, daß dieser als Spion zu ihm kam, um seine weiteren Pläne
nach der Antwort einrichten zu können.
Sie nimmt das Ultimatum an und weiß dabei ganz genau, daß sie beim
besten Wollen es nicht durchführen kann und sie dadurch immer wieder sich dem
Vorwurf der Zweideutigkeit aussetzt. Das ist jesuitisch und jüdisch, aber nicht
deutsch.
Unter Führung schwäbischer und badischer Demokraten ist der letzte Rest
altpreutzischen Geistes aus den Berliner Ministerien ausgerottet und man
geht nun von Berlin gegen den letzten deutschen Ordnungsstaat Bayern vor,
versetzt dadurch diesen in Haß und Wut gegen Preußen, obwohl dort kein
Preuße mehr etwas zu sagen hat und bereitet so die Zerstückelung Deutsch¬
lands vor. Damit wäre dann das Ziel derer erreicht, die unter Erzbergers
Führung im Kriege in Deutschland gegen dessen Sieg gearbeitet haben.
Sie tut nichts gegen den Zentralaktionsausschuß der K. P. D., obwohl
sie wissen muß, daß diese die Sowjetregierung zum Kriege gegen Deutschland
auffordert und sie um Unterstützung in seinem Kampfe gegen den bestehenden
deutschen Staat auffordert, also Hochverrat treibt.
Im Gegenteil, sie erkennt offiziell den Sowjetstaat als einzige recht¬
mäßige Regierung Rußlands an, so daß der Gesandte dieser Räuberbande, wie
Joffre 1918 von Berlin aus, unter dem Schutze der Exterritorialität die nächste
Revolution leiten kann. Freilich hat Sowjetrußland versprochen, sich aller Pro¬
paganda zu enthalten, aber nur ganz Weltfreude pflegen dem Worte von Banditen
zu trauen. Auf die sonstigen unerhörten politischen Folgen dieser Anerkennung
kann ich hier nicht eingehen. Nur so viel sei betont, daß hierdurch und durch die
mehr als schwache, unwürdige, charakterlose parteiegoistische und verantwortungs-
scheue nachrevolutionäre deutsche Politik wir immer mehr dem Abgrunde entgegen¬
treiben und die Rcichsregierung zusammen mit unsern Feinden in West und
Ost zum Schrittmacher der Weltrevolution sich herabwürdigt.
dem Eindruck des englisch-italienischen Widerstandes gegen
die französisch-polnischen Raubpläne in Oberschlesien hat eine rege
» M Propaganda für den alten, überholten oberschlesischen Freistaats-
gedanken sowohl in Oberschlesien selbst wie im Ausland ein-
gesetzt. Der Warschauer Korrespondent des „Temps" erblickt
in einem unabhängigen neutralen Freistaat Oberschlesien das einzige Mittel, um
aus der verwickelten Lage herauszukommen, ohne erneut Blut zu vergießen.
Es sei, nachdem einmal die Waffen gesprochen hätten, unmöglich, die Zonen
genau nach „deutsch" und „polnisch" zu unterscheiden, ohne neue Konflikte herauf¬
zubeschwören. Die beste Lösung sei daher, Oberschlesien weder der einen noch
der anderen der beiden Mächte zu geben. Zu gleicher Zeit berichten Pariser
Meldungen des „Chicago Tribune", daß in England und Italien der Plan eines
selbständigen Oberschlesiens lebhast erwogen werde, um die Gegensätze in der
Entente auszugleichen. Erst nach zehn bis dreißig Jahren solle eine erneute
Volksabstimmung über das endgültige Schicksal Oberschlesiens entscheiden.
Der oberschlesische Freistaatsgedanke ist unter dem Einfluß der segensreichen
Amtstätigkeit des damaligen Staatskommissars Hörsing entstanden. Er fand seine
Organisation in dem sogenannten Bunde der Oberschlesier. Seine Hauptvertreter
waren neben ehrlichen Leuten, die ihn als Mittel zum Zweck der Erhaltung des
Deutschtums ansahen, sozialisierungsängstliche Schwerindustrielle und starke Teile
des Zentrums. Sie erstrebten mit dem Freistaat Oberschlesien nach Schweizer oder
Luxemburger Muster, beziehungsweise nach dem Beispiel Dcmzigs eine Inter-
nationalisierung und Unterstellung Oberschlesiens unter den Völkerbund. Sie
wandten sich kurz nach der Besetzung Oberschlesiens durch die alliierten Truppen
im Frühjahr vorigen Jahres in einer Denkschrift an den Obersten Rat mit der
Bitte, in Verbindung mit den Regierungen Deutschlands, Polens und der
Tschechoslowakei die Bestimmungen des Artikels 88 des Versailler Friedens¬
vertrages dahin zu revidieren, daß dem oberschlesischen Volk erlaubt würde, durch
Abstimmung bekanntzugeben, ob aus Oberschlesien ein neutraler Freistaat gebildet
und Ostschlesien diesem angeschlossen werden solle. Die Denkschrift ging davon
aus, daß die maßgebenden Faktoren bei ihren Beschlüssen in Versailles und durch
unzutreffende Angaben über die wahren Wünsche des oberschlesischen Volkes und
die wirtschaftliche Struktur des Landes geleitet gewesen sein könnten. In Ober¬
schlesien gebe es weder eine rein deutsche noch eine rein polnische, sondern eine
bald deutsch, bald polnisch sprechende oberschlesische Nationalität, die unchauvinistisch
und mehr internationalen Charakters sei. Im übrigen begründete die Denkschrift
die Forderung der Errichtung eines neutralen Freistaats mit der Geschichte, der
geographischen, geologischen und wirtschaftlichen Einheit des oberschlesischen Landes,
mit den Beziehungen zu seinen Nachbarländern und schließlich mit seiner welt¬
wirtschaftlichen Bedeutung. Die Denkschrift fand bei den Alliierten keine ungün¬
stige Aufnahme. Sie paßte ihnen in den Rahmen ihrer Oberschlesien-Politik.
England hoffte, in einem selbständigen Freistaate Oberschlesien eine mächtige
Feinindustrie zur Verarbeitung der russischen Rohstoffe zu errichten und diesen so
allmählich zu einer englischen Kolonie zu machen. Für Frankreich aber war
angesichts der sich dauernd verschlechternden polnischen Abstimmungsaussichten die
Bnternationalisierung des Industriegebiets nichts anderes als Mittel und Deckmantel
SM späteren Zuteilung des Landes an Polen. Der oberschlesische Freistaat-
gedcmke, wurde in Verbindung mit der Teschener Frage und dem letzten ober¬
schlesischen Aufstande besonders von England, das geschickt von Frankreich in den
Vordergrund geschoben worden war, des öfteren vertreten. Er scheiterte aber
daran, daß sich die deutschen Teile des Bundes der Oberschlesier unter der Knute
der interalliierten Herrschaft auf ihr Deutschtum besannen, der Freistaatidee den
Rücken gekehrt hatten und in das Lager der Autonomisten übergegangen waren.
Damit war der Freistaatsgedanke als nennenswerter Faktor in der Zukunft
Oberschlesiens erledigt.
Das Wiederauftauchen der Freistaatpläne brauchte an sich nicht ernst ge¬
nommen zu werden, da sie weder in den Parteien noch in den wirtschaftlichen
Interessengruppen eine Stütze finden, im Gegenteil entschieden abgelehnt werden.
Trotzdem verdienen sie größte Beachtung. Die eigentlichen Urheber der plötzlich
wieder so regen Propaganda für den Freistaatgedanken sind Franzosen und
Polen. Sie sitzen in den französischen Kreisen der Interalliierten Kommission. in
den Kreisen des polnischen Abstimmungskommissariats und des Bundes der
Oberschlesier, der heute aber ausgesprochen polnisch gesinnt ist und unter der
Leitung des Grafen Oppersborf und des Herrn Kurseol steht. Vor aM Dingen
aber steht England — und darin liegt die Hauptgefahr — dem Freistaatgedcmkm
außerordentlich sympathisch gegenüber. Bereits vor dem Aufstande arbeitete die
französisch-polnische Propaganda in dieser Richtung mit Hochdruck. Die polnischen
Rechtsanwälte Skowronnek, Czapla und Chmilewski richteten an einzelne Kreis-
Vorsitzende der katholischen Volkspartei sehr bald nach der Abstimmung ein ver¬
trauliches Schreiben, in dem die Bereitwilligkeit General Le Routs betont wurde,
Vertreter des oberschlesischen Freistaatgedankens zu empfangen. Sehr bald danach
und scheinbar als Folge von Verhandlungen mit der interalliierten Kommission
wandte sich der Bund der Oberschlesier an die sämtlichen selbständigen Gemeinden
Oberschlesiens mit einem Schreiben, in dem gegen die Zerreißung Oberschlesiens
protestiert, an versteckter Stelle aber der Gedanke eines neutralen Freistaats
empfohlen wurde. Die Gemeinden wurden um Ausfüllung einer vorgedruckten
Zustimmungserklärung gebeten, aus der deutlich nur der Protest gegen die Zer-
reißung Oberschlesiens herauszulesen war, die aber gleichzeitig äußerst geschickt
eingeflochten die Zustimmung zu dem Gedanken eines neutralen Freistaats enthielt.
Der Verband der besoldeten Kommunalleitungen Oberschlesiens hat gegen diese
Methoden der Erschleichung von Unterschriften seinerzeit schärfsten Protest erhoben
und gleichzeitig darauf hingewiesen, daß unzweideutige Willenserklärungen der
befugten Gemeindeleitungen für den Anschluß Oberschlesiens an Deutschland und
damit gegen den neutralen Freistaat vorlagen. Dieser Protest war und ist um
so richtiger, als der Bund der Oberschlesier in seinem Rundschreiben ausdrücklich
darauf hingewiesen hatte, daß er das Ergebnis der Zustimmungserklärungen den
alliierten Stellen zuleiten werde.
Die Absichten, die Man mit der Propaganda für' den Freistaatgedänken
seitens der Franzosen im Bunde mit den Polen verfolgt, sind einleuchtend.
Oberschlesien soll — zu mindestens aber das ganze Industriegebiet —, nachdem
die Sanktionspolitik gescheitert ist und auch der Aufstand Korfaniys anscheinend
nicht zum Ziele führt, auf dem Wege über den neutralen Freistaat ungeteilt den
Polen in die Hand gespielt werden. Wenn sich Korfanty vor dem Aufstande in
seinem oberschlesischen Hauptorgan scharf gegen den Gedanken eines neutralen
Freistaats wandte und diesen als deutsche Machenschaften hinzustellen versuchte,
so war das alles nur Schein. ^ Die deutsche Regierung hat in ihrer Erklärung
jeden Gedanken an einen neutralen Freistaat Oberschlesien in unzweideutiger
Weise abgelehnt. Herr Korfanty aber sei an seine Worte im vergangenen
Sommer erinnert: „Ein neutraler Freistaat Oberschlesien wird binnen eines
Jahres den Anschluß an Polen beschlossen haben."
Diese Worte Korfantys zeigen uns den wahren Sinn und auch die Ge¬
fahren des oberschlesischen Freistaatgedankens. Für uns wäre ein solcher Frei¬
staat Oberschlesien gleichbedeutend mit dem Verlust des Jndustriebezirks. Er wäre
nichts anderes als eine unausgefochtene Domäne des Polenreiches. Von einem
selbständigen staatlichen Leben würde keine Rede sein. Seine freigewählte Ver¬
fassung würde den Richtlinien entsprechen, die man in Paris für die freie Ent¬
scheidung der Völker festsetzt. Polen aber würde in ihm etwas Vogelfreies und
das, was er wirklich sein soll, nur einen Übergang zur polnischen Provinz sehen.
Die nationalen Kämpfe würden in diesem Freistaat von den Polen auf die Spitze
getrieben werden, und der polnische Terror würde den Polen dann doch den
Grund zum Einmarsch geben. Für die Schaffung eines Freistaats Oberschlesien
liegt — das hat die Abstimmung in klarer Weise bewiesen, weder in politischer
noch in völkischer Beziehung ein Grund vor. Eine so lautende Entscheidung des
Obersten Rats wäre eine Fälschung des Volkswillens. Vernunft und Gerechtig'
keitsgefühl sprechen in gleichem Maße dafür, daß Oberschlesien ungeteilt im
deutschen Staatsverbande bleibt. Ein polnisches Oberschlesien und ebenso auch
jeder den Polen zugesprochene Teil des oberschlesischen Industriegebiets ginge nicht
nur Deutschland, sondern der Welt verloren.
is im Jahre 1901 die ersten diplomatischen Besprechungen über
eine „englisch-japanische Verständigung zur Aufrechterhaltung des
Friedens in Ostasien" stattfanden/die Anfang 1902 zum Abschluß
des englisch-japanischen Bündnisses führten, da war,
wie Graf Hayashi, der damalige japanische Gesandte in London,
in seinen Erinnerungen erzählt, beabsichtigt, auch Deutschland zu» diesem
Bündnis zuzuziehen. Erst Nach Vollzug des englisch-japanischen Vertrages ist
die Zuziehung Deutschlands endgültig aufgegeben worden. Es mag hier dahin¬
gestellt bleiben, ob Deutschlands Teilnahme gescheitert ist an Japans Erinne¬
rungen an das ungeschickte Auftreten Deutschlands bei seinem Einspruch gegen
den japanisch-chinesischen Frieden von Schimonoscki von 1895 (wie Hayashi in
seinen Aufzeichnungen andeutet) oder an Englands Mißgunst gegen Deutschland
(wie der britische, in ostasiatischer Politik erfahrene Herausgeber der Memoiren
des Grafen Hayashi anzunehmen scheint) oder an der auf Zwischenfälle und Nach¬
wirkungen des Burenkrieges zurückzuführenden scharfen Verstimmung zwischen
den beiden Monarchen (wie deren von dem damaligen deutschen Geschäftsträger
in London von Eckardstein berichteten Äußerungen vermuten lassen) oder (wie
von Eckardstein selbst es darstellt) an der ablehnenden Haltung des Berliner Aus¬
wärtigen Amts, das einen allgemeineren Anschluß Englands an den mittel¬
europäischen Dreibund erstrebte und ohne einen solchen eine Entzweiung mit Ru߬
land vermeiden wollte. Jedenfalls ist bei Abschluß jenes ersten englisch-japa¬
nischen Bündnisses sowohl von englischer als auch von japanischer Seite an die
Zuziehung eines Dritten gedacht worden. Wir wissen, daß Japans großer Staats¬
mann Fürst Jto anstatt deS Bündnisses mit England ein Bündnis mit Ru߬
land vorgezogen haben würde, auch er dachte dabei an einen Dreibund, indem
er mit Nußland zugleich dessen französischen Bundesgenossen auch für die ost¬
asiatische Politik zu gewinnen hoffte. Offenbar waren die leitenden japanischen
Staatsmänner sich bewußt, daß ein Bund mit nur einer europäischen Macht
sich für Japans politische Interessen in Ostasien leicht als zu schwach erweisen
könnte. Die Verträge über China, die Japan später mit Rußland und mit Frank¬
reich schloß, dienten zwar dazu, China auch da, wo es sich noch frei von aus¬
ländischem Druck bewegen konnte, zu umfassen und den Wettbewerb anderer
Völker, namentlich Deutschlands und Amerikas zu erschweren, aber einen wirk¬
samen Schutz bis zum Äußersten gegen machtpolitische Bestrebungen anderer Völker
und für die eigenen Ausdehnungsbestrebungen gewährte doch nur das Bündnis
mit England. Wie sehr diesem Bunde der Dritte fehlte, zeigte sich für Japan
schon zwei Jahre später in seinem Kriege mit Nußland. Zwar hatte man Ru߬
lands Macht überschätzt; aber auch gegenüber dein Rußland ^mit all den Schwächen,
die sich in diesem Kriege herausstellten, zeigte sich die Unvollkommenheit des
Bündnisses für Japan, das, selbst nachdem während des Krieges der Vertrag er¬
neuert worden und dabei England vertraglich auf seine Seite getreten war, doch
nicht die Früchte seiner Siege so voll ernten konnte, wie es das japanische Voll
erwartete und wie es ihm möglich gewesen wäre, wenn von der anderen Seite
auch Deutschland als Bundesgenosse Nußland angegriffen oder doch bedroht
hätte. Die Bedeutung dieses 'Mangels wird gerade heute recht klar, wenn man
sieht, unter welchen Schwierigkeiten Japan sich bemüht, sich diejenige Stellung,
in den zum ehemaligen russischen Reich gehörenden Gebieten zu schaffen, die es
schon vor 20 Jahren erstrebte und die es haben muß, wenn es nicht von seinen
großen Nachbarn jenseits der es rings umgebenden Meere erdrückt werden will.
Als nach der wiederholten Erneuerung des Bündnisvertrages er zum
zweiten'Mal wirksam werden sollte, im August 1914, war der Umstand, daß
Deutschland ihm nicht angehörte, zunächst nur für Deutschland von unheilvollen
Folgen, weil er England das Zusammengehen mit Deutschlands Feinden er¬
leichterte und Japan (obwohl ihm, wie erst kürzlich wieder der Ministerpräsident
von Neuseeland im Parlament ausdrücklich bestätigt hat, der Bündnisvertrag
keine Verpflichtung dazu gab) doch einen willkommenen Anlaß zur Kriegs¬
beteiligung gegen Deutschland bot. Für Japan hatte die Unvollkommenheit,
nur einen einzigen Verbündeten zu haben, jetzt keine Bedeutung, da auf Eng¬
lands und damit auf Japans Seite zahlreiche andere Verbündete standen.
Für beide Bundesgenossen hat also das Bündnis sich jedenfalls zweimal
als wirksam erwiesen. Beide Male mehr zu Japans als zu Englands Nutzen.
Auch 1914. Wenigstens was den unmittelbaren Gewinn Japans in Ostasien be¬
trifft. Die aus dem schließlichen Versagen der deutscheu Kraft entstehende Macht-
verschiebung zugunsten der beiden angelsächsischen Reiche hatte wohl kaum ein
Japaner damals erwartet, jedenfalls keiner gewünscht.
„Ob Deutschland oder England siegt, ist uns gleichgültig", sagte der da¬
malige japanische Minister des Äußeren, „aber an unserem Bündnis mit Eng¬
land müssen wir festhalten". Es scheint, daß Japans Regierende damals mit
einem kurzen Krieg rechneten, der mit seinem Ausgang nicht weiter als der
russisch-japanische Krieg wirken würde und dem bald eine der russtsch-japa-
Verständigung der Nachkriegsjahre entsprechende Verständigung zwischen Deutsch¬
land einerseits und England-Japan anderseits erfolgen könne. Noch 1918 muß
der damalige Ministerpräsident Terauchi unter solchen Vorstellungen und Zielen
gehandelt haben, als er die Aufsehen erregenden Lobpreisungen des dentschen
Heeres und die Möglichkeit einer künftigen deutsch-japanischen Verbindung aus--
sprach. „Japan darf nicht isoliert werden", war die Begründung, die Terauchi
dieser Meinungsäußerung gab. Auch damals also sah offenbar der leitende
japanische Staatsmann voraus, daß das Bündnis mit England allein Japan
nicht genügende Sicherheit böte.
Heute steht Japans Regierung wieder vor derselben Frage. Der am
1Z. Juli 1911 mit zehnjähriger Geltungsdauer geschlossene letzte englisch-japanische
Bündnisvertrag läuft, da er im vorigen Jahre, soviel bekannt geworden, nicht
gekündigt worden ist, an sich auch über den 13. Juli 1921 hinaus weiter; er
muß jedoch auf Grund einer von beiden Vertragsteilen am 8. Juli 1920 dein
Völkerbundsrat gegenüber eingegangenen Verpflichtung vor dem 1. Juli 1921 in
einer der Völkerbundssatzung entsprechenden Weise abgeändert werden. Auch ohne
djesen Völkerbundszwang würde er in seiner bisherigen Form nicht langer in
Geltung bleiben können. Man ist sich in Japan bewußt, daß dieser Zweibund
in der Stunde der Gefahr versagen wird, denn man weiß, daß die Gefahr, die
künftig Japan droht, der Konflikt mit den Vereinigten Staaten von Amerika ist,
und daß diese Gefahr heute schon näher ist als irgend eine andere Gefahr in den
früheren Zeiten des Bündnisses.
Das englisch-japanische Bündnis ist von vornherein zur Erreichung
mehrerer Ziele geschaffen worden. Das eine dieser Ziele ist während der zwei
Jahrzehnte seines Bestehens und durch seine wiederholten Erneuerungen hin¬
durch formell unverändert erhalten geblieben, Sicherung der Integrität des
chinesischen Reichs und der Offenen Tür dort, oder, wie dieser Grundsatz bei
seiner Anwendung in der Wirklichkeit sich gestaltete: Bindung der Vcrtragsteile,
so daß keiner Gefahr läuft, bei seiner eigenen Ausdehnung in China, sei es ge¬
schäftlicher, sei es politischer Art, mit dem anderen Teil in einen ernsten Konflikt
zu geraten. Daß die Unversehrtheit des chinesischen Staatsgebietes und der
Grundsatz der Offenen Tür von jedem der Vertragsteile immer streng beachtet
worden sei, ist in Ostasien häufig an der Hand der politischen Ereignisse be¬
zweifelt worden. Aber in dem ihm von der beiderseitigen Auslegung gegebenen
Sinne gegenseitiger Bindung nach jener Richtung ist dieser Zweck des englisch¬
japanischen Bündnisvertrages im allgemeinen erfüllt worden, wenn schon von,
englischer Seite, nicht ohne Neid und Besorgnis, auf Japans Vordringen in der
Mandschurei und in Schankung hingewiesen wurde.
Neben der in dieser Form ausgesprochenen Bindung steht die unaus¬
gesprochene, aber wenigstens ebenso wertvolle Bindung beider Vertragsteile, sich
nicht zum Nachteile des anderen auf den Gebieten des Vertrages mit einem
Dritten zu verbünden.
Außer diesen hauptsächlich negativen Aufgaben hatte der Bündnisvertrag
stets auch als positive Aufgabe die Verteidigung gegen Gefahren, die den Ver¬
tragsparteien von dritter Seite drohten, zum' Ziel, doch haben diese Aufgaben
bei dein dreimaligen Vertragsabschluß im Laufe der zwanzig Jahre gewechselt.
Der gefahrdrohende Dritte war zwar stets in erster Linie Nuß land,
wenigstens für Japan, das schon den ersten Vertrag 1902 besonders wegen seiner
von Rußland bedrohten Ansprüche auf Korea schloß, das denn auch im Vertrags¬
text ausdrücklich genannt wurde. Nicht anders! lag >,es für Japan bei der Er¬
neuerung des Vertrages im September 1905, wo Japans Interessen in Korea
noch schärfer als vorher betont wurden. Zur Zeit der zweiten Erneuerung, im
Juli 1911, war Korea zwar schon von Japan einverleibt worden und wurde
deshalb in dem Bündnisvertrage nicht mehr erwähnt, aber die Gefahr, daß Japan
von dort aus mit Nußland in der Mandschurei zusammenstoßen könnte, war
dadurch offenbar nicht beseitigt.
Auch für Engla n d war der drohende Gegner, gegen den es sich Japans -
Unterstützung sicherte, Rußland, wenigstens nach den Vertragserneueruugen
von 1905 und 1911, die den Geltungsbereich des Bündnisses auf ganz Ostasien
einschließlich der Grenzen Indiens erstreckten, während der erste Vertrag von
1902 ans ausdrücklichen Wunsch der japanischen Regierung nur den „Fernen
Osten" (China und Korea) betraf Fragt man sich, gegen wen England dort im
Fernen Osten Beistand brauchte, so gibt es nur die eine Antwort: China selbst.
Und in der Tat ist, wie Hayashi berichtet, das Bündnis ursprünglich gedacht
gewesen auch als Schutz der in China lebenden Engländer gegen etwaige fremden-
seindliche Bewegungen. Das ist sehr beachtenswert, da es eine Begründung dieses
jnpauisch-englischen Schntzverhältnisses gibt, die auch heute .noch geltend .ge¬
macht werden kann, nachdem der andere Feind, gegen den das Bündnis gerichtet
war, Rußlands uicht mehr, jedenfalls nicht mehr mit demselben Wert wie früher,
in der asiatischen Rechnung steht.
Da ist denn die schon seit Bestehen des englisch-japanischen Bündnisses
immer wieder in deu beiden Völkern aufgeworfene Frage, ob das Bündnis nützlich
und notwendig sei, unter den heutigen veränderten Verhältnissen berechtigter als
früher. Da die von den Vertragschließenden sorgfältig verhüllte gegen China
gerichtete Spitze von den Kritikern meist nicht beachtet und die russische Gefahr,
die sich heute durch die Verhandlungen in Moskau mit der Türkei und Afganistan
einerseits, mit China anderseits bekundet, unterschätzt wird, schauen sie sich oft
vergeblich nach Feinden um, gegen die dieses Vcrtragsinstrüment jetzt noch an¬
wendbar ist. Nur die Vereinigten Staaten von Amerika ziehen
immer wieder diese Blicke auf sich, denn die Vereinigten Staaten sind aus dem
Weltkrieg als mächtigster Nebenbuhler Großbritanniens auf der See und auf allen
Weltmärkten hervorgegangen, und die Reibungen zwischen den Vereinigten
Staaten und Japan in Kalifornien, in der Südsee, in China, in Korea, in
Russisch-Ostasien nehmen ständig zu.
Aber kein Engländer möchte mit den Japanern als Bundesgenossen gegen
das blut- und kulturverwandte Amerika zu Felde ziehen, zumal ein Sieg den
Sturz der angelsächsischen Herrschaften in ganz Ostasien und Australien und die
japanische Beherrschung fast aller Küstengebiete des Stillen Ozeans.zur Folge
haben könnte. In Japan aber weiß man, daß im Falle eines Krieges mit den
Vereinigten Staaten England keine Hilfe leisten wird. Schon als der Bündnis¬
vertrag von 1911 abgeschlossen wurde, dessen Artikel 4 die Verpflichtung zum
Kriegsbeistaud gegen einen Dritten für denjenigen Verbündeten aufhebt,
der mit diesem Dritten einen allgemeinen Schiedsvertrag geschlossen hat,
da waren, wie Baron Kato, Japans damaliger Botschafter in Washing¬
ton, erklärt hat, beide Vertragschließenden darüber einig, daß durch
diese Bestimmung Englands Kriegshilfe gegen die Vereinigten Staaten
von Amerika ausgeschlossen sein sollte. Mag es immerhin zweifelhaft sein, ob der
im Jahre 1908 zwischen England und den Vereinigten Staaten geschlossene
Schiedsvertrag oder der im Jahre 1911 unterzeichnete, aber vom amerikanischen
Senat ni,ehe ratifizierte, mis ein Schiedsvertrag im Sinne des Artikels 4 des
Bündnisvertrages anzusehen ist, und mag dies ebenfalls zweifelhaft hinsichtlich
der im September 1914 nach Angabe des damaligen amerikanischen Staatssekretärs
Bryan von ihm mit 30 Staaten, darunter anch mit Großbritannien, abgeschlosse¬
nen „Peace Commission Treaties" sein — für die Beurteilung des Wertes des
Bündnisses für den Fall eines japanisch-amerikanischen Krieges genügt es, 'daß
im japanischen Reichstag der gegenwärtige Minister des Auswärtigen erklärt
hat, er erwarte im Falle eines Krieges Japans mit den Vereinigten Staaten
den Beistand Englands auf Grund des Bündnisvertrages nicht, und daß auf
eine Anfrage im britischen Parlament der Parlamentssckretär des Auswärtigen
Amts erklärt hat, England könne durch seine Verpflichtungen gegen Japan
nicht in einen Krieg mit Amerika verwickelt werden.
Dennoch können die verantwortlichen Leiter der japanischen sowohl wie
der englischen Politik das Bündnis nicht als wertlos ansehen. Sein Wert liegt
für beide Teile besonders in der oben bezeichneten negativen Aufgabe gegenseitiger
Bindungen. Ohne den englischen Bundesgenossen wäre Japan einsam dem
Drucke der Vereinigten Staaten von Amerika, Chinas und Rußlands ausgesetzt,
wüßte nicht, auf welche Seite sich im Konfliktsfalle England und andere euro¬
päische oder südamerikanische Mächte stellen würden, könnte aber Wohl nicht im
Zweifel sein, wie England sich stellen müßte, wenn mangels einer Bindung an
Japan die an den Stillen Ozean grenzenden britischen Dominions die Ver¬
einigten Staaten von Amerika gegen Japan unterstützen könnten. Japan wäre
also isoliert; der asiatische Kontinent folgt ihm nicht — noch nicht, könnte heute
Wohl auch kaum vollwertigen Ersatz für die britische Macht bieten.
Auch England braucht das Bündnis mit Japan, solange es befürchten
muß, daß Japan ohne diese Bindung sich einer England nachteiligen Gruppierung
anschließen könnte. Solche wäre, da der russisch-japanische Gegensatz in Asien
gegenwärtig und für absehbare Zeit doch zu stark ist, und eine Verbindung mit
südamerikanischen Staaten für das britische Reich kaum bedrohlich sein könnte,
wohl nur mit Bezug auf die Vereinigten Staaten von Amerika zu befürchten,
Wenn nämlich Japan auf seine den Amerikanern unbequemer Ansprüche (Kali¬
fornien, Jay, Schankung) verzichtete. Ohne dringende Not würde Japan das
heute gewiß nicht tun; die dringende Not wäre aber da, sobald das Bündnis mit
England beseitigt wäre und Japan im Falle eines Konflikts mit einer anderen
Macht nicht mehr auf Unterstützung, ja nicht einmal auf Neutralität Englands
rechnen könnte. Weitere Voraussetzung für ein solches, England bedrohendes
Zusammengehen Japans mit Amerika, wäre freilich die Bereitwilligkeit der
Vereininten Staaten, auf eine solche Verständigung, die sich zwar nicht gegen
amerikanische, aber doch gegen angelsächsische Interessen kehren würde und die
auch mit der Monroe-Doktrin in Einklang gebracht werden müßte, einzu¬
gehen; diese Gefahr liegt aber für England heute jedenfalls näher als vor und
während dem Kriege. Solange England nicht gegen eine solche japanfreundliche
Politik der Vereinigten Staaten von Amerika gesichert ist, muß auch ihm an der
Aufrechterhaltung des englisch-japanischen Bündnisses gelegen sein.
Zu diesen negativen Interessen kommt an positiven Interessen — selbst
wenn beide Vertragsstaaten die russisch-bolschewistische Gefahr genug schätzten —
immer noch, besonders für England, das Interesse an der gegen China gerichteten
Sicherung vor fremdenfeindlichen Bewegungen; und in diesem Zusammenhange
ist zweifellos Englands Interesse an der Erhaltung des Bündnisses stärker als
Japans, da in Japan Englands Macht in Ostasien schon lange nicht mehr so
bedeutend wie früher eingeschätzt wird, während anderseits Japans Macht und
seine Stellung in China bei Abschluß des ersten Bündnisvertrages und be¬
sonders in den letzten Kriegsjahren sich gewaltig verstärkt hat. Erneuere Eng¬
land das Bündnis nicht, so riskiert es, aus China und anderen Teilen Asiens
herausgeworfen zu werden durch eine Bewegung, die umfassender und tiefer
wirken wird als der Boxeraufstand vor zwanzig Jahren und die indischen Be-
freuyigsversuche.
So erklärt sich, daß die ausschlaggebenden Ansichten in Japan sowohl wie
in England, wenn schon manche erst kürzlich und nach langem Zögern, auch
jetzt, unter den veränderten Verhältnissen wieder für eine Erneuerung des
Bündnisses eintreten. Der japanische Minister des Äußeren hat in einer
Parlamentsrede die Erneuerung als erwünscht bezeichnet. Wenn von englischer
Seite eine solche autoritative Erklärung bisher nicht bekannt geworden ist, so
liegt das Wohl an der Rücksicht, die die Londoner Regierung auf die britischen
Dominions nehmen muß. Besonders die am Stillen Ozean gelegenen Dominions
sind an diesem Bündnis sehr stark interessiert, und sie haben während des
Bestehens des bisherigen Bündnisses dieses Interesse so oft und deutlich zum
Ausdruck gebracht, daß die Londoner Regierung eine Entscheidung über die Er¬
neuerung des Bündnisses nicht mehr ohne Mitwirkung dieser Kolonial-Regie-
rungen wagen kann. Die Frage soll daher der im Juni dieses Jahres in London
lagerten Reichskonferenz vorgelegt werden. Wie die Entscheidung dort ausfallen
wird, läßt sich aber schon heute an deutlichen Anzeichen erkennen. Während
nämlich in früheren Jahren in Australien sowohl wie in Neuseeland in öffent¬
lichen Kundgebungen sehr heftig gegen den Verrat der weißen an die gelbe
Rasse, den man dort in dem englisch-japanischen Bündnis erblickt, protestiert
wurde und Australiens Ministerpräsident noch auf der Pariser Friedenskonferenz
außerordentlich scharf gegen die japanische Bundesgenossenschaft aufgetreten ist,
hat Herr Hughes kürzlich die Erneuerung des Bündnisses ausdrücklich im Parla¬
ment befürwortet, — wenn sie nur in einer Form geschehe, die nicht den Ver¬
einigten Staaten von Amerika mißfalle —, und der Ministerpräsident von Neu¬
seeland hat sich im gleichen Sinne geäußert — eine gewiß nicht bedeutungslose
Übereinstimmung.
Das deutlichste Anzeichen für die bevorstehende Erneuerung des Bündnisses
ist aber der Besuch des japanischen Kronprinzen in England, der Wohl kaum
hätte, stattfinden können, wenn nicht beide Regierungen sich schon grundsätzlich
über die Fortsetzung ihrer bisherigen engen Beziehungen verständigt hätten.
Und doch stehen dem Abschluß der Bündnis-Erneuerung noch bedeutende
Schwierigkeiten entgegen. Zunächst scheint wieder das Bedenken aufgetaucht zu
sein, daß der Bund zu Zweien zu schwach sein dürfte, verbunden mit der Frage,
wer als weiterer Bundesgenosse hinzugezogen werden könnte.
Deutschland kann in der ohnmächtigen Lage, in die es der Friedens-
vertrag von Versailles gebracht hat) solange nicht in Betracht kommen, als
England glaubt, zur Sicherung seiner Stellung in der Welt an Deutschlands
Zertrümmerung mitwirken zu müssen. Rußland ist heute — abgesehen von
seiner unverträglichen Staats- und Gesellschaftsordnung — mehr als je Japans
ausgesprochener Feind und kann sich mit ihm auf der Grundlage, die Japan
heute beanspruchen müßte (Überlassung der russisch-asiatischen Küstenprovinz),
nicht friedlich verständigen, gleichgültig, wie und von wem es regiert wird.
.Frankreich kam schon zu Jtos Zeiten für Japan nur gemeinsam mit Ru߬
land als Bundesgenosse in Betracht, und seine politische Unzulänglichkeit
konnten die japanischen Staatsmänner während und nach dem Kriege in Ost¬
asien wie in Europa deutlicher noch als früher feststellen. Die Mittel- und
süd am e r i k a n i s es e Hilfe, die in Frage kommen könnte, ist gegenwärtig
zu unbedeutend. Da war es denn kein gar so unnatürlicher Gedanke — der, so¬
viel ich sehe, zuerst vom japanischen Staatsmann Graf Oknma im August 1920
öffentlich ausgesprochen wurde —, gerade diejenige Macht in den Zweibund
hineinzuziehen, vor der jeder der beiden Verbündeten am meisten in Sorge
sein mußte: die Vereinigten Staaten von Amerika,
Der Gedanke war damals nicht neu; deun schon im März war im
japanischen Reichstag durch die Anfrage eines Abgeordneten enthüllt worden,
daß das Auswärtige Amt in Tokio sich mit der Frage el-nes Dreibundes be¬
schäftige. Nachdem so dieser Plan bekannt geworden war, wurde er sofort auch
von amerikanischer Seite (besonders vom Oberst House) aufgegriffen (wenn
er nicht vielleicht von dort überhaupt ausgegangen war), und auch in England
scheint nach dem, was darüber aus Washington bekannt geworden ist, der Ge¬
danke ans fruchtbaren Boden gefallen zu sein. Von der amerikanischen Seite
wurde jedoch sogleich die Forderung erhoben,, daß dabei auch Japans Stellung
zu China festgestellt werden müßte, — denn das ist 'e,in Ehrenpunkt für das
amerikanische Volk geworden, nachdem das chinesische Volk bei den Parise?
Friedensverhandlungen so kläglich von Wilson im Stich gelassen wurde.
Damit war auch Chinas Hinzuziehung zu dem neu abzuschließenden
Vertrage zur Erörterung gestellt. Am bisherigen englisch-japanischen Bündnis¬
vertrage ist China nur als Vertragsgegenstand, nicht als Partei beteiligt, ja, das
Bündnis war, wie man auch in China jetzt erkannt hat, deutlich genug, wenn
auch nicht offen ausgesprochen, gegen China gerichtet. Es ist ein Zeichen für das
Wachsen des Nationalgefühls und Machtbewußtseins Chinas, daß es gegen diese
Behandlung jetzt auftritt. Nachdem seine Proteste bei der englischen Regierung
keine Beachtung gefunden haben, wandte sich die chinesische Negierung 1920 durch
em Pressetelegramm an die Öffentlichkeit, in welchem sie bekannt gab, der
chinesische Gesandte in London sei angewiesen, gegen diese Behandlung Chinas
Einspruch zu erheben und deren Fortsetzung bei etwaiger Erneuerung des englisch¬
japanischen Bündnisses als eine unfreundliche Handlung gegen China zu bezeichnen.
Seitdem ist der Gedanke, China als Bundesgenossen mit heranzuziehen,
von den Beteiligten mit deutlichem Entgegenkommen behandelt worden, wozu
Wohl auch nicht wenig die Angebots, die China von Moskau und Tschita für ein
gemeinsames Vorgehen gegen Japan erhalten hat, beitragen. Offenbar macht es
aber noch Schwierigkeiten, für so verschiedenartige Vertragsparteien, wie England,
Japan und China, zu denen sich als fünfte auch Frankreich schon gemeldet zu
haben scheint, auf eine gemeinsame Grundlage zu bringen und sie auf gemein¬
same Ziele zu einigen. Es muß zunächst das Kunststück fertig gebracht werden,
Japan mit zwei seiner erbitterten Feinde an einen Tisch zu bringen, und es ist
schwer zu sagen, welchem dieser beiden Gegner gegenüber Japan die größeren
Schwierigkeiten haben wird. Im Jahre 1908 bezeichnete Graf Hayashi in seinen
Tagebuchaufzeichnungen als die zwischen Japan und Amerika schwebenden Fragen:
Die Einwanderungsfrage, die Schulfrage und das China-Problem. Die Schul-
frage ist inzwischen geregelt worden. Hinzugekommen sind inzwischen die Südsee-
kabelfrage sowie die. Schankung- und die Ostsibirienfrage als Sonderfragen des
China-Problems. Von der Opferbereitschaft, die Japan in diesen Fragen zeigen
wird, wird der Beitritt der Vereinigten Staaten zum englisch-japanischen Bündnis
wesentlich abhängen, und es scheint, daß in Japan immer mehr Bereit¬
willigkeit zur Nachgiebigkeit auf diesen Gebieten durchdringen wird, wenn dafür
eine der Sicherung gegen Großbritannien ähnliche Sicherung gegen die Vereinigten
Staaten und eine Bindung Chinas unter Anerkennung gemeinschaft¬
licher japanisch-chinesischer Interessen erreicht werden kann.
Daß der Inhalt eines solchen Bundes nicht mehr der gleiche sein könnte,
wie der des englisch-japanischen Bündnisses, ergibt sich schon aus der heutigen
Stellung der Vereinigten Staaten zu ihrer Monroelehre, die sie sogar hinderte,
dem Völkerbund des Versailler Friedensvertrages, obwohl dieser sie grundsätzlich
anerkennt, beizutreten. Es ergibt sich auch aus dem Völkerbund selbst, aus seinem
Sinn wie aus seiner Satzung, denn er schreibt für seine Mitglieder ein allge¬
meines Schiedsverfahren vor militärischen Zwangsmaßnahmen vor, während der
englisch-japanische Bündnisvertrag seine Parteien verpflichtet, im Falle eines An¬
griffs auf den anderen Teil ohne weiteres zu den Waffen zu greifen. Die
chinesische Regierung hat in ihrer öffentlichen Verwahrung gegen die geplante
Erneuerung des englisch-japanischen Bündnisses darauf hingewiesen, und nicht
ohne Erfolg. Zwar scheint Japan sich gegen diese das alte Bündnis vernichtende
Auffassung zunächst gewehrt zu haben. Es erregte Aufsehen, als im Sommer
1920 vom Auswärtigen Amt in Tokio her bekannt gegeben wurde, daß der
Völkerbundsvertrag der Erneuerung des englisch-japanischen Bündnisvertrages
ebensowenig im Wege stehe, wie er den Garantieverträgen im Wege gestanden
habe, die England und Amerika mit Frankreich gegen Deutschland gleichzeitig mit
der Unterzeichnung des den Völkerbund errichtenden Versailler Friedensvertrages
abgeschlossen. Man wird es auf englischen Einfluß zurückführen müssen, daß die
japanische Regierung diesen Standpunkt wieder aufgab und am 8. Juni vorigen
Jahres beide Regierungen eine übereinstimmende Note an den Völkerbundsrat
richteten, in der erklärt wurde, im Falle der Erneuerung des Vertrages über den
1. Juli 1921 hinaus würde er in Einklang mit der Völkerbundsverfassung ge¬
bracht werden. Geschieht dies im wahren Geist des Völkerbundes, so bleibt vom
Sinn des alten englisch-japanischen Bündnisses nicht mehr viel Wertvolles
übrig. Aber um so annehmbarer wird es dann den Vereinigten Staaten? von
Amerika sein.
Anscheinend haben die Vereinigten Staaten es sich zur Aufgabe gemacht,
diesem Bunde einen neuen Inhalt zu geben. Es wird ihnen, die ja schon vor
dem Kriege ernstlich mit China (und Deutschland) über vertragliche Festlegung
gemeinsamer ostasiatischer Politik verhandelten, und die Japan gegenüber schon
im Rook-Takahira-Abkommen von 1908 und im Jshii-Lansing-Abkommen von
1917 schon Grundlagen geschaffen haben, gewiß nicht an praktischen Vorschlägen
fehlen. Nach zwei Zielen weist ihre ostasiatische Politik der letzten Zeit, auf die sie
sich nach Beseitigung ihrer Gegensätze gegen Japan mit den gedachten Bundes¬
genossen einigen könnten: Verteidigung gegen Rußlands Bolsche¬
wismus und Befreiung der chinesischen Volkswirtschaft
vonausländischer Ausbeutung — beides durch internationalen Zu»
sammenschluß, wobei dann noch als drittes, unausgesprochenes, aber für Amerika wich,
tigstes Ziel erreicht würde: eine wirksamere Kontrolle und Bindung Japans,
Die Vereinigten Staaten von Amerika haben die Bekämpfung des russischen
Bolschewismus zunächst durch die interalliierte militärische Expedition nach
Sibirien versucht; sie haben es ausgeben und alle Erfolge den Japanern allein
überlassen müssen. Sie haben die wirtschaftlichen Jnternationalisierungspläne in
China, die ihr Staatssekretär Rook schon vor zwölf Jahren einmal anzubahnen
versucht hatte, jetzt wieder durch Schaffung eines internationalen Finanzkonsortiums
versucht; es ist unfruchtbar geblieben, hauptsächlich wegen der amerikanisch-japani-
schen Eifersucht und wegen des Widerstandes Chinas, das nicht mehr ohne seine
Mitwirkung Ausländer über die Volkswirtschaft des Landes verfügen lassen will.
Vielleicht schweben der amerikanischen Politik aber noch höhere Ziele vor.
Vielleicht erblickt sie in der Vereinigung der vier oder fünf Mächte den Beginn
eines neuen, ihren Anschauungen und Interessen entsprechenden Völkerbundes.
Ein Völkerbund ist wie jede menschliche Gemeinschaft nur möglich unter Opfern und
Selbstbeschränkungen aller Teilnehmer. Werden bei dem hier erstrebten Bunde die
asiatischen Teilnehmer die ihnen zugemuteten Opfer und Selbstbeschränkungen
wohl der ihnen verheißenen Vorteile wert und in Einklang mit den von den betei¬
ligten Völkern der weißen Rasse geleisteten Opfern und Selbstbeschränkungen finden?
Als Deutscher möchte man leicht zu alledem sagen: Was schert uns in
unserer vaterländischen europäischen Not ein ostasiatisches Bündnis? Wer
aber in Ostasien gelebt hat, weiß, daß es dort Völker und Staaten gibt, deren
Bedeutung der Europäer bisher mißachtet hat, deren Bedeutung aber immer
mehr, zunächst auf künstlerischem und kulturellen Gebiet, allmählich auch auf
wirtschaftlichen und machtpolitischen Gebieten in Europa sich geltend zu machen
begonnen hat. In mehr als einmal getäuschter Hoffnung haben sich deutsche
Blicke in dieser Zeit der Not nach dem fernen Osten gewandt. Japan war durch
ein Bündnis. China durch seine wirtschaftliche Abhängigkeit von den Großmächten
gebunden. Eine der stärksten Stützen dieses Zustandes ist seit zwanzig Jahren
das englisch-japanische Bündnis. Sein Weiterbestehen oder Aufhören kann also
mittelbar auch für Deutschland, auch für das Deutschland der Gegenwart, das
von eigener politischer Betätigung in Ostasien fast ausgeschlossen ist, von Be¬
deutung sein. Von weit größerer Bedeutung für Deutschland aber wäre die Er¬
weiterung dieses Bundes durch Hinzuziehung der genannten anderen Mächte unter
Ausschließung Deutschlands. Sie würde die Stellung der Deutschen in den von
jenen Mächten beherrschten Erdteilen noch mehr als bisher erschweren und auch
in der Durchführung des Versailler Friedensvertrages gegen Deutschland, in der
schon heute Japans Stellungnahme oft nur aus seinen Rücksichten auf den
Bundesgenossen zu erklären ist, sich mit vervielfachter Stärke fühlbar machen.
Der Wert eines solchen Deutschland ausschließenden Bundes läge für Deutschland
nur darin, daß er ein neuer starker Hinweis darauf wäre, wie Deutschlands und
Rußlands Politik immer mehr durch das Verhalten der Gegner zusammengebracht
werden. Und solch ein deutsch-russischer Bund müßte auch aus China und Amerika
— wenn sie nur erst den russischen Bolschewismus nicht mehr zu fürchten
brauchen — stärkere und natürlichere Anziehungskraft haben, als das sich jetzt
ihnen darbietende englisch-japanische Bündnis.
le Arbeitskraft eines Volkes ist sein höchstes nationales Gut.
Heute ist sie schlechterdings die erste Voraussetzung der gesunden
und selbständigen Stellung eines Volkskörpers in der Weltwirt¬
schaft und in der politischen Konstellation der Nationen. In enger
Wechselwirkung mit günstigen geographischen, geologischen und
klimatischen Verhältnissen ist sie die Haupjquelle, dynamisch betrachtet, die
einzige Quelle des „Reichtums der Nationen", dessen wirtschaftliche Funktion das
sogenannte Volksvermögen, statistisch faßbar, darstellt. Es muß daher vor¬
nehmste Aufgabe eines Volkes, das sich zur Geltung bringen will, sein, seine
nationale Arbeitskraft zweckmäßig zu verwalten. Das heißt, sie nach innen mög-
lichst reibungsarm zergliedern und harmonisch ordnen (nationale Arbeitsteilung
^ innere Wirtschaftspolitik), sie gleichzeitig klug-vorbeugend Pflegen (Sozialpolitik)
und nach außen hin energisch und zielbewußt zusammenfassen und in die welt¬
wirtschaftliche Wagschale werfen (natürlicher Wirtschaftsimperialismus). Die
Lösung dieser Aufgabe ist schon normalerweise schwierig und stellt an die Politik
des Staates und der privaten Beteiligten hohe Ansprüche. Tragisch zwingend,
weil lebensnotwendig im höchsten Grade, drängt sich aber die Lösung dieser Auf¬
gabe dem deutschen Volke auf: Es litt unter einem gigantischen Kriege, dessen
Ausgang seine geographisch-wirtschaftlichen Produktionsmittel scharf schmälerte und
sein Volksvermögen durch riesige Verschuldung unter das Existenzminimu.n preßte,
während noch dauernd die Blutegel wahnwitziger Forderungen an seinen kranken
Wirtschaftskörper gesetzt werden. Deutschlands Zukunft steht und fällt mit der
Lösung seines Wiederaufbauproblems, dessen Hauptforderung sich am klarsten auf
die nationalökonomische Formel: Bewirtschaftung der nationalen Arbeit bringen
läßt. Die praktische Beschäftigung mit diesem Problem, insbesondere auch im
einzelnen, fordert immerhin, sich in knappen, plastischen Gedankengängen in seine
historischen und dynamischen Voraussetzungen Hmemzufühlen, sich über die Ent¬
wicklungsgesetze und treibenden Energien klar zu werden, welche die Gesamtlösung
dieser Aufgabe bisher bestimmten und Richtungspunkte für ihre wahrscheinliche
zukünftige Gestaltung darbieten.
Die Arbeit eines Volkes vereint in heißen Brennpunkten die verschiedensten
Ausstrahlungen und Sphären seiner Kultur oder Zivilisation. Sie ist, wenn
man bei der Flüssigkeit und Elastizität des ganzen Problems überhaupt wagen
will, planvoll zu ordnen, hauptsächlich Gegenstand dreier nationaler Sphären, die
sich oft in ihr überschneiden:
a) der Kultur und ideellen Pflege, d. H. der vorhandenen Welt¬
anschauungen, der praktischen Ethik und typischen nationalen Haltung, der Bil¬
dung, der planvollen Standespflege, des bewußten Familienlebens. — Ergebnis:
Arbeit als Persönlichkeitsgehalt und Befriedigung, klassisch gefaßt: Arbeit ist des
Bürgers Zierde;
b) der Wirtschaft und Technik, d. h. als Teil des Produktionsprozesses
und Belcher und Verwirklicher von Projekten. — Ergebnis: die Arbeitsleistung,
der wirtschaftliche Gewinn, der technische Fortschritt;
c) des Rechts, einschließlich Staatsform, sowie der materiellen
Pflege, d. h. der Verfassung, des zivilem und öffentlichen Rechts, die Arbeit der
Zivilisation im Gegensatz zum Arbeitsbegriff der Kultur, insbesondere als Erreger
der sogenannten sozialen Frage. — Ergebnis: Freies und staatliches Arbeits¬
recht, freie und staatliche Sozialpolitik.
Im Leben der modernen Völker läßt sich sehr deutlich die Zeitspanns auf-
finden, in der die nationale Arbeit oder doch ihr wesentlicher Teil, der ihr vor
allem im Auslande das typische nationale Gepräge verleiht, den kritischen Schritt
aus dem Stilleben der Kultur in die nüchterne Zweckmäßigkeit der modernen
Zivilisation hineinwagt. England tat. diesen Schritt, der überall durch das auf¬
wuchtende industrielle Zeitalter bedingt wurde, bereits um die Wende des 18
Jahrhunderts. Deutschland folgte zaghaft in den fünfziger Jahren des 19., be-
wußter und energischer nach dem erfolgreichsten Dezennium preußischer Außen-
Politik und der Schaffung des jungen, starken Reiches. Dieser Schritt, der überall
für die praktische Ethik, die typische Haltung und soziale Schichtung eines Volkes
von größter Bedeutung ist, geschah in den Volkskörpern unter lebhaften kulturellen
Krisenstimmungen. In Deutschland wurde die zweite bewußte Phase des Hinüber¬
gleitens der nationalen Arbeit der Kultur in die moderne Zivilisation deutlich
begleitet von zwei tiefgreifenden Änderungen in Gliederung und Bewußtsein des
Volkes, die starken innerpolitischen Konfliktsstoff für die Zukunft enthielten: In
der sozialen Schichtung durch die Bildung eines neuen Wirtschaftsstandes und
staatsbürgerlichen Typus, des Industriearbeiters, in der geistig-philosophischen
Gliederung des Volksbewußtseins durch das Werden einer überraschend scharf
ausgeprägten, sehr aktiven Lebensanschauung, des marxistischen Sozialismus.
Beide unwillkürlichen Erscheinungen schaffen alsbald in enger Verbundenheit will¬
kürliche Gebilde: Partei und Gewerkschaft. — Der Versuch, den Typus des
Industriearbeiters wirtschaftlich wie kulturell dem organischen Volkskörper zu
assimilieren, bedeutet dann die Stellung der sozialen Frage, die bis heute,
auch vom Sozialismus und Kommunismus, keine befriedigende soziale Ant¬
wort gefunden hat. Der Arbeitsbegriff des modernen Industriearbeiters ent¬
wurzelte sich zum Schaden der nationalen Geschlossenheit dem Schoße der tra¬
ditionellen Kultur und ihrem Urträger, der Landschaft, völlig und suchte nach
entsprechenden Stützen in der Welt der Zivilisation. Das beweist sehr deutlich
die Ersetzung des organischen Standesgefüyls, das gleichsam biologisch im Volks¬
ganzen lebt, durch das konstruierte Klassenbewußtsein, das eine tatsächlich nicht
vorhandene, ebenfalls konstruierte „Menschheit" voraussetzt, die durch den Klassen-
kampf in zwei wagerechte Schichten: Kapitalisten — Proletarier gespalten wird,
welche, leider, durch die Nationen senkrecht gegliedert (in Wirklichkeit scharf und
organisch getrennt) werden. Aufhebung dieser Gliederung oder Trennung ist Ziel
der Internationale.
Tatsächlich legte auch der Arbeitsbegriff des einzelnen Arbeiters die kulturelle
Prägung ab. Er wurde vergröbert, gewissermaßen stark entseelt. Die Gewerk¬
schaften bildeten sehr deutlich den neuen Maßstab der Arbeitsbewertung aus:
materiell — meßbar. Daher ihre Forderung: Erhöhung der Entlohnung, Ver¬
kürzung der Arbeitszeit, Erleichterung der Arbeitsmuhe. Die logische Grundlage
ihrer Strategie ist etwa folgende: Wir schaffen unter dem verhaßten kapitalistischen
Wirtschafts- und Arbeitssystem, mit dem wir uns aber aus Existenzgründen
praktisch abfinden müssen. Daher Realpolitik, angetrieben von Dogmatik. Wir
müssen trachten, unsere Arbeitskraft, die wir zweifellos gern einer von uns er¬
sehnten sozialistischen Wirtschaft rückhaltlos zur Verfügung stellen würden, dieser
kapitalistischen Wirtschaftsform möglichst zu entziehen und sie ihr nur in (zeitlich
wie körperlich) beschränktem Umfange und möglichst teuer zur Verfügung zu stellen.
Daß wir auf Gedeih und Verderb mit der kapitalistischen Wirtschaftsform ver¬
bunden sind, nicht, weil sie just die kapitalistische ist, sondern die zufällige oder
vielmehr historisch notwendig gewordene, daß wir daher den Rhythmus dieser Form
innig mitmachen, von seiner Wohlfahrt Nutzen ziehen, unter seinen Krisen leiden,
wissen wir, wenigstens unter der Hand. Wir leiten aus diesem Wissen aber nicht
den Willen ab, mit dieser Form eine Interessengemeinschaft einzugehen, bei der
wir auf die Kosten kämen, die uns vernünftigerweise, nach unserer wichtigen Rolle
im Produktionsprozeß zustehen, in der wir besonders dafür sorgen, daß wir nicht
die letzten sind, die von seinen Konjunkturen profitieren, und nicht die ersten oder
gar einzigen, die unter seinen Krisen leiden. Wir wollen sie vielmehr zerstören,
aber vorsichtig zerstören und bei dieser Handlung noch einen möglichst hohen
Anteil der Arbeiterschaft am Zinsertrag der kapitalistischen Wirtschaft heraus-
schlagen.
Natürlich fehlen auch ideelle Momente nicht, aber sie bleiben durchweg
Mittel zur Erreichung materieller Vorteile oder zur Vorbereitung jener Zer-
störungsaktion.
Endglied so der neue Arbeitsbegriff der kulturellen Pflege in bedauerlichen
Maße, was heute bereits stark eingesehen und, auch von sozialistischer Seite,
lebhaft bekämpft wird, so wurde er von Wirtschaft und Technik überaus stark
beansprucht und naturgemäß weiter materialisiert, zunächst zuungunsten des
Arbeiterschutzes. Das liegt aber überall, nicht nur in Deutschland, in der Natur
der Sache. Die sozialistische These ist eben bedingt falsch, daß technische Er¬
rungenschaften ganz automatisch Entlastung des einzelnen Arbeiters und Ver¬
besserung der Lage der Arbeiterschaft bedeuteten. Diese entlastende, eminent soziale
Eigenschaft moderner Technik wird vielmehr erst nach geraumer Zeit mühsamer
Erfahrung, Schaffung einer gewissen industriellen Tradition und hinreichender
Kapitalbildung erreicht. Tatsache ist vielmehr, daß beim Auftakt der Industrie-
Wirtschaft die Arbeitskraft zunächst den Selbstkostenfaktor abgibt, der wegen seiner
Elastizität, seiner bequemen Erfassung und besonders der Eigenschaft halber, daß
er geliehene Produktionsenergie vorstellt und über die Leihfrist hinaus nicht oder
nur sehr beschränkt zu Sorgfalt oder Pflege verpflichtet, im Produktionsprozeß
am ehesten und schärfsten beansprucht wird. Das ist zwangsläufige Erfahrung,
die nicht zu umgehen und anfänglich auch nicht stark zu mildern war. Aber
allmählich wurde doch dank dem Aufblühen deutscher Industrie und mit Hilfe
des Staates und der Sozialpolitik ein Abebben dieser gefährlichen Spannung er¬
zielt, gewissermaßen immer stärker eine Balance angestrebt, deren Herstellung dicht
vor dem Kriege nicht mehr allzu fern sein konnte. Damals waren sowohl Ruf
der deutschen Industrie wie Typ des deutschen Qualitätsarbeiters stark und ver¬
sprechend ausgeprägt, die rationelle Verwertung der Arbeit durch Technik und
Wirtschaft bis zu einer gewissen Reife abgeschlossen, andererseits die wirtschaftliche
Lage des deutschen Arbeiters relativ erfreulich gehoben. Bei weiterem Aufblühen
der deutschen Industrie und Vermehrung des Nationalvermögens in gleichem
Tempo wäre die organisierte Arbeiterschaft voraussichtlich in der Lage gewesen,
ihren Anteil am Nationaleinkommen, den Prozentsatz vom Zinsertrag der Volks-
wirtschaft befriedigend zu steigern, was vorher noch als ausgeschlossen oder sehr
schwierig erschien. (Weitere Aufsätze zu dieser Frage folgen.)
s ist eine bekannte biologische Erscheinung, daß die Erinnerung
der Völker an längstvergangene Zeiten sich Mythen schafft, Mythen
aber sind Vorstellungen, die keinerlei exakten Wahrheitswert haben,
die nur aus einer vielfältigen, irrationalen Wirklichkeit einige
markante Züge herausheben, sie ausschmücken, vergrößern und zu
einem Bilde runden, das in Ermangelung wirklicher Erkenntnismöglichkeiten
dennoch als eine Art Erkenntnis gewertet wird. Die Weltgeschichte, auch dort,
wo sie sich dessen nicht bewußt wird, ist sehr stark mit solchen Mythen durchsetzt.
Nicht nur die Zeit des trojanischen Krieges oder der Völkerwanderung lebt als
Mythe weiter, auch Barbarossa, auch Napoleon, auch Bismarck sind zu solchen
mythischen Gestalten geworden. Diese Mythen sind keineswegs ohne weiteres
als „falsch" abzutun, wenn sie auch weit davon entfernt sind, porträthast „richtig"
zu sein: sie sind Vereinfachungen und Vergröberungen von oft richtig, oft aber
auch unrichtig erschauten Zügen und haben besonders für den Ungebildeten, aber
auch für den gebildeten Laien in der Historie den Ruf der Bequemlichkeit und
einer derben, gefühlsmäßigen Überzeugungskraft, so daß derartige Bilder vom
NichtHistoriker gern statt der Wahrheit hingenommen werden. Denn die „Wahrheit"
ist meist ungeheuer kompliziert, irrational und nicht auf so bequeme, schlag¬
kräftige Formeln zu bringen, wie man sie von der Geschichte für den praktischen
Gebrauch fordert.
Aber nicht nur von fernen Zeiten bilden sich Mythen, auch fremde Länder
und Völker verwandeln sich mythenhaft. Es gibt auch eine Mythe von Indien,
von Amerika, ja auch von Deutschland, bei anderen Völkern, selbst bei den
Nachbarn. Sind doch auch die Völker der Gegenwart, nicht nur die ferner Ver¬
gangenheiten, äußerst komplizierte, irrationale und nicht auf eine erschöpfende
Formel zu bringende Größen, und besteht doch auch ihnen gegenüber das Be¬
dürfnis, ein bequemes, schlagkräftiges Bild von ihnen zu schaffen. So entstehen
auch in der Beurteilung der Völker untereinander solche Vereinfachungen und
Vergröberungen, die als geistige Scheidemünze gern in Kurs genommen werden,
ohne jedesmal auf ihre Echtheit nachgeprüft worden zu sein. Wenn es schon dem
einzelnen Menschen gegenüber schwer ist, eine erschöpfende Formel für sein Wesen
zu finden, wie unendlich viel schwerer ist das ganzen Völkern gegenüber. Welche
Widersprüche vereinigt jedes Volk in sich an Gegensätzen des Charakters und des
Temperaments, der religiösen, wirtschaftlichen, künstlerischen, wissenschaftlichen
Bildung I Von all dem abstrahiert die Mythe und schafft sich jene bequemen
Vorstellungen vom geldgierigen Arete Sam, vom verschlagenen, selbstischen John
Bull, von der koketten, hysterischen Marianne. Man täusche sich nicht: keineswegs
bloß der Bildungspöbel rechnet mit diesen mythischen Größen, bis hoch in die
Höhen politischer Kreise hinein hat man mit diesen Trugbildern gearbeitet: teils
unbewußt, teils bewußt! Ja, genau betrachtet, ist der Weltkrieg gar nicht gegen
den wirklichen Deutschen, sondern jene Mythe vom Deutschen geführt worden.
Was wußten im Grunde der wenig reisende Franzose, der viel reisende, aber
doch stets etwas insular bleibende Engländer, der Rumäne, der Amerikaner, der
Senegalese vom wirklichen Deutschen? Nichts I Gegen den aber führten sie auch
gar nicht Krieg, wie ihre Staatsmänner oft betont haben, sondern gegen den
mythischen Deutschen, den „Boche", den „Hun", den „Militaristen". Man könnte
die ganze Weltgeschichte der letzten Jahre sehen wie die Sagen ältester Zeiten,
wo auch die Kämpfe nicht auf der Erde entschieden wurden, sondern in den
Lüften, hoch zu Häupten der Menschen aus Fleisch und Blut, im Kampfe zwischen
geisterhaften Wesen, eben der mythischen Göttergestalten. Und letzten Endes ist
gar nicht der deutsche Soldat in Feldgrau und Stahlhelm, sind auch nicht Luden-
dorff und Hindenburg besiegt worden, sondern jener mythische Deutsche, den die
Gegner bewußt zur Fratze verzerrt hatten, zur Fratze, an die der Deutsche zuletzt
selber glaubte, die ihm zuletzt selber zum Ekel wurde.
An sich braucht ein solcher mythischer Volksbegriff keineswegs gehässig zu
sein, obwohl Mythe und Karikatur nahe verwandt sind, da die mythische Ver¬
einfachung und Vergrößerung (besonders wenn diese einzelne Züge hervorhebt)
leicht komische Züge annehmen kann. Aber es kann sich auch um eine Vergröße¬
rung im Sinne der Verklärung handeln. So besteht kein Zweifel, daß das Bild
der Griechen, wie es durch die Weltgeschichte geht und von allen Klassikern und
Philhellenen geglaubt wird, eine sehr abstrakte Mythe ist, die der Wirklichkeit sehr
unähnlich ist. So umgibt die heutigen Franzosen noch immer ein Nimbus aus
der Zeit des Sonnen-Königtums und der galanten, aristokratischen Zeit, der für
die Republik der Advokaten und Krämer, die heute in Paris herrscht, nicht im
geringsten mehr paßt. In der schönen, eleganten Sprache wirkt noch etwas nach
von jener Epoche, aber selbst diese Sprache ist ja kläglich heruntergekommen in
der Zeit der Poincarö und Clemenceau. Das Frankreich von heute mit seinem
unvornehmen, hysterischen Gebaren hat keinen Anspruch mehr auf den Namen
einer ritterlichen Nation. Trotzdem ist die Mythe nicht unterzukriegen, da sie
stärker ist als Fleisch und Blut, und selbst in Deutschland glaubt man vielfach
noch an jenen mythischen Franzosen und selbst der Friedensvertrag hat das
Wahngebilde nicht zerstört.
Auch die Mythe vom Deutschen war nicht immer bloß Karikatur. Sie
richtete sich stets nach dem repräsentativsten, im Ausland sichtbarsten Typus. Im
Mittelalter galt der Deutsche, den man jenseits der Grenzen meist als Landsknecht
kennen lernte, als trinkfester Raufbold, später kam dann die Vorstellung vom
Pflanzenfressenden Philister auf, der politischen Schlafmütze, höflicher ausgedrückt,
dem „Dichter und Denker", Bilder, wie sie vor allem Frau von Stael und
Carlyle im Ausland verbreitet haben. Alles das aber ist ganz systematisch ver»
drängt durch die neue Mythe, an der das Ausland seit 1870 gearbeitet hat, und
die in der Tat in des Teufels Hexenküche gebraut zu sein scheint, so furchtbar
ist sie uns geworden, und daß sie uns selber unähnlich erscheint, macht sie nicht
harmloser, sondern gerade um so gefährlicher I
Ja, es gibt eine Mythe vom Deutschen, sie wird überall in der Welt
geglaubt wie das Evangelium, und so wenig wie diesem werden tatsächliche
Widersprüche in der Mythe oder zwischen ihr und der Wirklichkeit ihrer Über¬
zeugungskraft schaden. Der Deutsche muß sich heute darüber klar sein, daß zu
seinen Häupten ein Gespenst steht, das seine Realität völlig verdunkelt, daß die
ganze Welt gar nicht sie selber sieht, sondern jenen gespenstigen, ins Riesenhafte
vergrößerten und vergröberten Schatten, den es wirft.
Es ist töricht und kurzsichtig, über diese Mythe zu lachen; denn sie ist ein
Meisterwerk, an dessen Zustandekommen die Schläuchen Politiker der ganzen Welt
beteiligt sind. Schon seit vielen Jahren war diese Geistererscheinung vorbereitet,
schon seit vielen Jahren war die öffentliche Meinung bewußt in jenen hysterisch¬
überreizten Zustand versetzt worden, in dem jedes Gespenst glaubhaft wird, und so
war es eine Kleinigkeit, es im August des Jahres 1914 aus der Versenkung auf¬
tauchen zu lassen. Aber man täusche sich auch jetzt nicht mit dem Glauben, daß
nach der Niederlage dieses Gespenst etwa verschwinden werde wie andere Ge¬
spenster bei Schlag Eins um Mitternacht und daß sein Gerippe zerschellen werde
wie jenes der Goethescher Balladel Weit gefehlt! Die Staatsmänner der Entente
haben nicht das geringste Interesse daran, jetzt nach dem sogenannten Frieden
Tageshelle eintreten zu lassen, nein, sie sorgen mit allen Kräften dafür, daß jene
Dunkelheit bestehen bleibt, die die Atmosphäre für alle echten Gespenster ist, ja,
darüber hinaus arbeiten sie noch immer weiter mit emsigen Fleiß daran, das
mythische Zerrbild zu vertiefen und noch lebenswahrer zu machen und so sich
selber mit um so lichterer Glorie zu umhüllen. Denn was wäre der Drachen-
töterruhm des Lloyd George, des Clömenceau, des Wilson, wenn sich auf einmal
der Drache, den sie erschlagen, als ein gewöhnlicher Theaterdrache entpuppte?
Nicht nur darüber also müssen wir uns klar sein, daß die Welt an einen
solchen deutschen Drachen geglaubt hat, nein auch darüber, daß sie noch immer
daran glaubt und alles tut, um diesen Glauben zu verewigen. Je scheußlicher
der Deutsche ist, um so herrlicher sein Besieger. Darum wird die Mythe vom
deutschen Barbaren weiterleben in allen Schulbüchern von Frankreich, England
und Amerika, sie wird vielleicht in Volksliedern am Senegal, Ganges und bei
brasilianischen Indianern immer noch mythischer und immer noch scheußlicher
werden, und wir werden die Leidtragenden sein. Es gibt nichts Stärkeres in der
Welt als einen nützlichen und angenehm zu glaubenden Irrtum. Wenn der
Deutsche noch immer nicht seinen naiven Kinderglauben an den automatisch er¬
folgenden Sieg der „Wahrheit" begraben hat, so sollte er ihm schleunigst ein Be¬
gräbnis erster Klasse bereiten und sollte einsehen lernen, daß in der Weltgeschichte
die Wahrheit stets auf der Seite der am gewandtesten schreibenden Federn ist.
Die aber hat die Entente, und sie nutzt sie noch weiter aus und wird sie weiter
schreiben lassen, jahrhundertelang! Und wir werden einen furchtbaren Kampf
ausführen müssen gegen dieses uns übergeworfene Nessoshemd, wir müssen es
uns vom Leibe reißen, wenn es uns nicht ganz vergiften soll. Auch darüber darf
keine Täuschung obwalten, daß dieser Kampf ungeheuer schwer ist, weil er eben
nicht gegen Fleisch und Blut, sondern gegen ein Gespenst geführt wird, ein Ge¬
spenst, das von mehr als der halben Welt sekundiert wird. Es wird nicht
genügen, daß der Verkehr wieder aufgenommen wird, wir wieder zu den ehe¬
maligen Feinden, diese wieder zu uns reisen! Es ist ja leider eine feste psycho¬
logische Tatsache, daß die Menschen in der Regel nicht sehen, was sie wirklich
sehen, sondern das, was sie sehen wollen und zusehen erwarten. Wer's nicht
glaubt, lese die Berichte fremder Zeitungen aus Berlin des Jahres 1919. Ich
will keine in^la kiöeZ annehmen, die fremden Journalisten mögen nicht bewußt
gelogen haben, aber sie täuschten sich. Wie Tartarin von Tarascon sahen sie
nur die Vorstellungen ihres eigenen Hirns, eben die Mythe vom Deutschen. Und
dagegen müssen wir fechten.
Wie aber wird dieser Kampf zu führen sein? Das ist ein ungeheuer
schweres Problem, das nicht mit einem Schlagwort zu beantworten sein wird.
Das Nächstliegende muß natürlich sein, daß die Gefahr, in der wir schweben,
erkannt wird, daß wir uns klar darüber sind, daß dieser Gegner darum, weil
er eine Lüge ist, nicht ungefährlich, sondern tausendmal gefährlicher ist. als wenn
er von Fleisch und Blut und mit einem Kanonenschuß zu erledigen wäre. Wir
müssen wissen und müssen es unsern Kindern sagen: ihr werdet bewußt verleumdet
und verzerrt, euer Name ist beschmutzt und entehrt, und es hilft gar nichts,
darüber bloß entrüstet zu sein und den Kopf in den Sand zu stecken. Wir müssen
immer wieder die Methode aufdecken, nach der das Gespinnst gewoben wird, aus
dem wir nicht loskommen, wir müssen aber auch die Gründe aufdecken, warum
es geschieht. Wenn einer auf der Straße allzulaut schreit: Haltet den Dieb, so
liegt die Annahme sehr nahe, daß er selbst es ist, der den Diebstahl begangen hat.
Der Eifer, mit dem die Entente das Bild vom deutschen Teufel immer aufs neue
schwärzen läßt, ist höchst verräterisch. Und es wird immer neue schwarze Farbe aufge-
tragen, wozu gar noch Deutsche beständig die Palette reichen. Wir wollen gewiß nicht
verschweigen und abstreiten, daß Fehler bei uns begangen sind, aber im Gespräch
mit Ausländern setzt ein solches Bekenntnis die Gegenseitigkeit als selbstverständ¬
liche Anstandspflicht voraus. Das etwas masochistische Bedürfnis der Zer¬
knirschung und des Peccavisagens einzelner Deutschen mag ja zum Teil löblichen
moralischen Gefühlen entspringen, es ist aber in dieser Zeit ein Verbrechen gegen
das eigene Land eben darum, weil es dazu dient, der Mythe vom Deutschen neue
Farben zu leihen. Eine solche Handlungsweise verkennt, daß wir nicht vor ge¬
rechten Richtern, sondern vor Gegnern stehen, die alles Interesse daran haben,
daß wir die Schuld auf unsere Seite nehmen, weil dadurch ihre Wagschale, die
auch erheblich belastet ist, in die Höhe schnellt.
Durch die Erkenntnis der Gefahr und ein würdiges Wegschauen allein
freilich wird der Gegner nicht besiegt. Es ist gewiß eine heroische Haltung, wie
Dürers Ritter zwischen Tod und Teufel hindurchzureiten, ohne umzublicken: aber
es genügt nicht, wenn wir jene Gespenster aus der Welt verbannen wollen. Wir
müssen alles tun. um jenem Gespenst die Lebenskraft zu nehmen. Schließlich lebt
doch auch die Lüge nur davon, daß sie einen Schein der Wahrheit hat, daß sie
sich als Wahrheit verkleidet. Es wird also notwendig sein, daß wir alles ver¬
meiden, was nach einer Übereinstimmung zwischen der Wirklichkeit und jener
Chimäre aussieht. Das Unglück Deutschlands war ja. daß das Ausland seinein
Gespenste stets Worte der führenden deutschen Männer in den Mund legen konnte,
deren Theaterresonnanz jeder hinter den Kulissen einsah, die aber draußen, bei
der fremden Masse als Wahrheit und Wirklichkeit gewertet wurden. Es ist daher
selbstverständlich, daß die führenden Staatsmänner solche bramarbasierenden Worte
meiden müssen, selbst auf die Gefahr hin. daß die Zeitungspatrioten beim Früh-
stückstisch auf diesen Theaterdonner verzichten müssen. Es waren sicherlich acht
die wertvollsten Deutschen, die den theatralischen Fanfaromaden, wie wir sie in
der Vorkriegszeit in Abständen zu hören bekamen, zugestimmt haben. Aber auch
der einzelne Deutsche, besonders im Ausland, wird gut tun, alles Auftrumpfen
mit großen Worten zu meiden. Unsere großen Worte haben uns geschadet, nicht
unsere großen Taten. Aus ihnen zog jenes mythische Zerrbild seinen Schein von
Lebenswahrheit. Und wenn gar Max Reinhardt zur Kriegszeit mit Hauptmanns
Biberpelz ins Ausland reiste, so war das eine Handlungsweise, wie sie Lord
Northcliffe nicht zweckentsprechender hätte ersinnen können. Da hatte man ja die
,.!ZoLlieZ peints Mi- eux meines", Bilder wie sie die französischen Zeitungen
täglich aus deutschen Witzblättern, allerdings meist mit gefälschtem Text brachten.
Aber wir waren es doch, die die Vorlagen dazu lieferten. Das muß aufhören!
Freilich wird es sehr schwer sein, in dieser Hinsicht etwas zu erreichen, wo bei
den inneren Parteikämpfen stets sich einzelne Parteien auf feiten der Gegner
schlagen und in deren Horn stoßen, dieses Horn, das beständig die Schauermär
vom deutschen Militaristen in die Welt tutet.
Aber mit diesem negativen Verfahren der Vermeidung neuer Fehler allein
wird nicht sehr viel zu erreichen sein. Es kann ja gewiß eintreten, daß wir auch
die ungeheure Verleumdung „miterleben" (to live !t ciown sagt der Engländer sehr
gut) und dem bewußten Bestreben, jenes Zerrbild lebendig zu erhalten, steht
doch auch die Vergeßlichkeit der Massen bei den fremden Völkern gegenüber.
Wichtiger, aussichtsreicher und auch schneller zum Ziele führend scheint mir
ein anderer, positiverer Weg, der ja allerdings viel Takt erfordert: die Schaffung
einer neuen Mythe vom Deutschen. Jenes kriegsgeborene Drachenbild war ja
nicht immer da, es ist geboren worden und daher auch sterblich. Nun ging ja
eine andere Mythe voraus, das Bild vom deutschen Michel, dem deutschen „Dichter
und Denker", was ja weit mehr ein Tadel als ein Lob war, aber immerhin
weniger schädlich als die neueste Ausgeburt politischer Mythologie. Ob es uns
je gelingen wird, jenen alten biederen Michel wieder lebendig zu machen, ist sehr
zweifelhaft, der Erfolg sogar vielleicht gar nicht zu wünschen.
Woher aber die Umrisse für eine neue, bessere Mythe nehmen? Haben wir
überhaupt einen repräsentativen Typus, der geeignet wäre, als Vorlage zu dienen?
Nun, es kann kein Zweifel sein, daß zurzeit der sozialistische Gewerkschafter uns
nach außen hin am sichtbarsten repräsentiert. Ob mit Glück, ist eine andere
Frage.
Welche Eigenschaft des deutschen Charakters aber ist überhaupt geeignet,
zugleich uns den Respekt wie das Vertrauen des Auslands zu erwerben? Sie
ist selten geworden in diesen Tagen, aber sie ist vorhanden und muß wieder¬
kommen! Es ist die solide Tüchtigkeit, die phrasenlose Arbeitsfreude und Arbeits¬
kraft, die uns groß gemacht hat, und sie aLein, nicht bramcirbasierde „Schneidig¬
keit" auch nicht aalglattes Schiebertum, wird es möglich machen, daß eine wahrere
echtere Mythe oder (wie man mit edleren Klang sagt:) ein Mythos vom Deutschen
sich bilde. Daß das aber möglich werde, dazu müssen auch bei uns die Kräfte
zusammenwirken. Vor allem die Kunst ist ja für die Mythenbildung maßgebend.
Sowohl die bildende Kunst wie die Poesie vermögen es, einen Typus zu mythischer
Größe emporzutürmen. Hat nicht Meunier den belgischen Minenarbeiter zu
mythologischen Maßen emporgesteigert? Ist nicht in Tolstoischen Werken ber
russische Bauer ins Mythische gewachsen? Unmöglich ist nichts vor einem starken
künstlerischen Wollen! Das aber muß da sein. Die deutsche Kunst muß endlich
ihre oppositionelle Geste aufgeben und, nicht zur Dienerin der staatlichen Macht,
aber zu ihrem freien Verbündeten werden. So ist es ja früher gewesen. Damals
war nationales Bewußtsein (nicht etwas, dessen man sich schämte, wie in Berlin W
von 1914) und auch bald danach wieder. Schiller und Kleist konnten patriotisch
sein, ohne in den Verdacht des Byzantinismus zu kommen.
Es war gewiß zum Teil Schuld des neudeutschen Regimes, zum Teil
hatte es schwerer zu durchschauerte Gründe, daß die gute Kunst der letzten
Jahrzehnte eher in Opposition zur staatlichen Idee stand, als ihr Träger war.
Es wäre von Herzen zu hoffen, daß das jetzt anders würde. Denn die Mythen¬
bildung von einem Volke baut oft mehr auf der künstlerischen Darstellung auf
als auf der Wirklichkeit. Ist das Bild vom Russen, das wir haben, nicht weit
mehr auf der Lektüre Tolstoischer, Dostojewskischer, Gorkischer Bücher aufgebaut
als auf einem Studium der Wirklichkeit? Man erwäge nur, wie wenig Deutsche
verhältnismäßig nach Rußland reisten, in wieviel deutsche Häuser dagegen jene
Bücher kamen. Überlegen wir noch weiter, daß die besten Leser dieser Bücher
aber meist gerade jene Leute waren, die als Schriftsteller die öffentliche Meinung
machten, so wird man verstehen, wie wichtig die Dichtung für das Zustande¬
kommen einer Mythe ist.
Wir müssen mit dem Schaffen einer deutschen Mythe also bei uns selber
beginnen, nicht mit aufdringlicher Propaganda das Ausland mit solchen Dingen
belästigen. Mythos aber für den eigenen Gebrauch ist gleichbedeutend mit „Ideal".
Und damit komme ich auf das Wesentliche. Was wir brauchen, ist ein neues,
klarformuliertes Ideal vom Deutschen. Das der letzten Jahrzehnte, wenn es
überhaupt ein echtes Ideal war, ist zerschellt. Der „schneidige" Deutsche, der
smarte Machtverehrer, der zwar nicht der Volkswirklichkeit entsprach, aber vielen
doch als Ideal vorschwebte, ist am 9. November 1913 begraben, und es sind ihm
Totenopfer genug geschlachtet worden. Wir brauchen einen neuen Helden I Und
darauf wird es ankommen, ob es gelingt, einen solchen zu gestalten. Nur so,
von innen heraus, wird jenes mythische Gespenst der andern überwunden werden.
Nur indem wir eine geistige Macht diesem Gespenst entgegensetzen, können wir
es überwinden. Und echter Geist ist von jeher das beste Mittel gewesen, um
Gespenster aus der Welt zu schaffen!
MW
MM
MMS^rieg, Seuche, Hunger. Tod, die vier unheimlichen Reiter aus der
Offenbarung Se. Johannis, die alles Leben unter dem Hufschlag
ihrer Rosse zermalmen, sind auf das deutsche Volk losgelassen.
Dürers Holzschnitt zu dieser Stelle der Apokalypse mag manchem
als ein Bild erscheinen, das den Zustand unserer Zeit wider¬
spiegelt. Mancher mag sich selbst mitten in der Schar der ohnmächtig zu Boden
Stürzenden sehen.
Aber wir, die den zertrümmerten Bau des Reiches wiederaufrichten sollen,
müssen uns ein anderes Bild vor Augen halten, Dürers eisengepanzerten Ritter,
der Tod und Teufel trotzt. Will das deutsche Volk am 21. Mai in würdiger
Weise des alten Meisters gedenken und den Geist des Toten wieder aufstehen lassen
zu gegenwärtigem, Taten schaffenden Leben, so muß eine Betrachtung seiner Werke
von diesem Bild ausgehen, das schon während des Krieges unser treuer Begleiter
war und von den Kleinmütigen gar zu schnell vergessen worden ist.
Kampf war die Losung seines Künstlerlebens. Unermüdliches Ringen mit
der Form und den Ideen, ein faustischer Drang nach Erkenntnis, tiefgründiges
Grübeln nach den Richtlinien seiner Kunst, mit diesen Zügen steht er als echter
Deutscher vor uns. Hineingestellt in eine Zeit, in der dem erstaunten Menschen
auf Schritt und Tritt neue, nie geahnte Dinge entgegentraten, wandte er sich ab
von der „Falschheit im Gemal", die er bei den älteren Meistern mit scharfem
Blick erkannte, und wurde ein Bahnbrecher des neuen Kunstwollens. So sehen
wir ihn unablässig bemüht um eine richtige, mit der Wirklichkeit in Einklang
stehenden Darstellung der Dinge, um ein Schönheitsideal des menschlichen Körpers,
das über die Zufälligkeiten der Natur hinaufstrebt und in einem Kanon seinen
Niederschlag findet, um eine durchsichtige Anordnung des Bildinhaltes, bei dem
das wirre Durcheinander der gotischen Meister geklärt und geläutert ist.
Diese auf italischen Boden gewachsenen Anschauungen, die sich Dürer mit
der ganzen Kraft seiner Seele zu eigen machte, vermochten trotzdem nicht, !sein
angestammtes deutsches Kunstempfinden völlig in ihren Bann zu schlagen. Seine
Werke bleiben, von wenigen Ausnahmen abgesehen, voll von heimlicher Gotik.
Namentlich in seinen Holzschnitten läßt er seiner Freude an der Mannigfaltigkeit
der Erscheinungen, seiner Liebe zur Einzelform freien Lauf, und in den Ranken
und Schnörkeln, die er im Gebetbuch Kaiser Maximilians neben seine aus der
Buntheit des Lebens geschöpften Zeichnungen setzt, scheint die alte germanische
Kunst des Ornamentes fortzuleben.
Aus dem tiefsten Grund seiner Seele sind seine Werke entsprungen. Kein
Künstler hat die rauschende Phantastik der mystischen Apokalypse mit solcher
Innerlichkeit erfaßt und mit solchem dichterischen Empfinden gestaltet wie er.
Seine Blätter sind keine äußerliche Wiedergabe des Textes, sie sind durchschauert
von den fieberheißen Gesichten der Schrift und so kühn und gewaltig wie diese.
Hält man die apokalyptischen Reiter von Cornelius neben den Holzschnitt Dürers,
so wirken sie trotz ihres brausenden Ansturmes, trotz der schwungvollen Glätte ihrer
Zeichnung akademisch-kühl. Grauen vor einem unabwendbaren Schicksal verbreiten
Dürers Reiter um sich; wie die wilde Jagd sausen die Gestalten von Cornelius
durch die Lüfte, um ebenso schnell wieder zu verschwinden, wie sie aufgetaucht sind.
Kann man den jungen Dürer einen Dichter nennen, der die überströmende
Fülle seines Reichtums kaum zu bändigen weiß, so muß man den reifen Mann
als den Denker bezeichnen. Die christliche Tapferkeit, die kein Tod und Teufel
schrecken kann, das vergebliche Ringen des Menschen, die von der Natur gezogenen
Schranken zu durchbrechen, die Lehre der heiligen Schrift, die allein über alle
Trübsal hinweghilft, Gedanken, zu denen Krankheit und Tod der Mutter Anlaß
boten, gewinnen vollendete Gestalt in den drei großen Radierungen, die als
Ritter, Tod und Teufel, Melancholie und Hieronymus im Gehäus jedem ver¬
traut sind.
Die Tiefe seines Gemütes offenbart sich auf religiösem Gebiet als uner¬
schütterliches Gottvertrauen und wahre Frömmigkeit. Wie er als Maler nach der
neuen Form rang, so mag er sich auch als gläubiger Christ mit den Zweifeln,
die Luthers Auftreten in ihm anfachen mußten, abgemüht haben, ehe er sich für
den wittenbergischen Mönch entschied. Mit männlicher Qberzeugungstreue hat er
dann an der neuen Lehre festgehalten. Als er in den Niederlanden die Nachricht
von der vermeintlichen Gefangennahme Luthers erhält, wird sein Tagebuch, sonst
von rührender Trockenheit, plötzlich so schwungvoll und wortreich, daß man eimu
geharnischten theologischen Traktat gegen die Widersacher Luthers zu lesen neun.
Einem so gläubigen Mann bot die Lehre der Kirche ein unerschöpfliches
Stoffgebiet. In fünf Passionen hat er den Dornenweg Christi mit erschütternder
Wirkung erzählt; zeigt er doch den Heiland als den Schmerzensmann, der wie
ein Mensch unter den Martern seiner Peiniger leidet. Unter den Heiligen hat
ihn vor allen anderen immer wieder die Gestalt der Maria beschäftigt. Er stellt
sie dar als Himmelskönigin im Schmuck der Sternenkrone, am liebsten aber als
die reine Magd, an der sich das Wunder der Mutterschaft erfüllt hat. Auch sie
trägt dann menschliche Züge und erscheint in der liebreichen Besorgnis um ihr
Kind als eine Verkörperung des Mutterbegriffes überhaupt. Die auffällig große
Zahl der Marienbilder mag einer geheimen Sehnsucht entsprungen sein, eine
Jdealgestalt Marias zu schaffen, die er doch nie erreichen zu können glaubte. So
muß eine ähnliche Empfindung in ihm lebendig gewesen sein, wie sie Novalis in
die wundervollen Verse goß:
Das Bild, das wir von Dürer gezeichnet haben, würde jedoch unvollkommen
sein, wollten wir seinen köstlichen, deutschen Humor vergessen, dem er gern die
Zügel schießen ließ. Der Schalk sitzt dem Künstler im Nacken, wenn auf einer
Radierung ein grinsendes, kicherndes Teufelchen dem bejahrten, am Ofen einge-
schlummerten Bürgersmann einen lüsternen Traum mit einem Blasebalg einbläst
und der kleine Amor den Versuch macht, auf Stelzen zu gehen, wenn im Gebetbuch
Maximilians der Fuchs die Hühner mit Flötenspiel anlockt und die Worte ..Führe
uns nicht in Versuchung" auf diese Weise erklärt werden, oder wenn ein Löwe
mit seinem Gebrüll ein Mücklein in der Luft zu schrecken sucht.
Wie er auf sein Vaterland stolz war und seiner Vaterstadt die Treue bis
zum Tode hielt, so wollen wir auf ihn stolz sein und an seinem 430. Geburtstag
aus der Erinnerung an ihn Kraft gewinnen zu treu-deutschem Schaffen, das aus
allen seinen Werken hervorleuchtet.
in die Wende des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts war
wieder der seltene Fall eingetreten, daß die beiden Richtungen, in
denen sich der Bildungsverlauf unseres Volkes vollzogen hatte,
einander berührten und durchdrangen. Wieder einmal verschmolzen
die beiden Grundkräfte der deutschen Volksseele, die gelehrte und
die volkstümliche, diesmal geläutert im Feuer reiner Humanität, zur Einheit
eines die ganze Nation umfassenden Lebensideals. Im Zeichen dieses Ideals
hatte das deutsche Volk seine Befreiungsschlachten geschlagen und schien nun fest
entschlossen, sich die tätige Mitarbeit bei der Ausgestaltung seines nationalen
Eigenlebens nicht mehr rauben zu lassen.
Für das Theater, das nach dem ihm eigenen Gesetz mehr als alle anderen
Künste das soziale Gesamtempfinden einer Zeit zum Ausdruck bringt, bedeutete
diese Entwicklung einen wesentlichen Schritt weiter auf dem Wege zu dem von
den Besten unseres Volkes ersehnten Ziele, es wieder zum Heiligtum der Nation
zu erheben und ihm damit einen entscheidenden Anteil an ihrem kulturellen Aufstieg
zu sichern. Hatten die inneren Voraussetzungen für eine solche Erneuerung des
deutschen Theaters kaum jemals günstiger gelegen, so schien sich nun auch für
seine äußere Organisation fast mit Notwendigkeit die entsprechende Form aus den
umfassenden Reformvorschlägen zu ergeben, die, gleichfalls aus dem Geiste des
großen sittlichen Aufschwungs der Freiheitskriege geboren, dazu bestimmt waren,
das Leben der Nation von Grund aus neu aufzubauen. Kein Geringerer als
Wilhelm v. Humboldt, der das Ideal einer künstlerischen Kultur, wie er es sich
im Verein mit Goethe und Schiller gebildet hatte, nun in einem großen Staats¬
wesen zu verwirklichen hoffte, schenkte dem weit ausschauenden Plane seine An¬
teilnahme. Von ihm angeregt legte Stein Friedrich Wilhelm III. nach den Unheils¬
jahren 1806 und 1807 den Entwurf einer Theatergesetzgebung vor, wonach Staat
und Gemeinden verpflichtet sein sollten, ihre Theater gleich Schulen und Universi¬
täten als nationale Bildungsanstalten auszubauen, in eigene Wirtschaft zu nehmen
und nach den in der Verfassung zum Ausdruck gebrachten kulturellen Grundsätzen
zu verwalten. Am 16. Dezember 1803 erging von Königsberg ein königliches
Publikcmdum, das die geplanten Maßnahmen sanktionierte.
Das Schicksal dieses Entwurfs, mit dem die Idee des deutschen National¬
theaters zur höchsten Entfaltung kam und die man mit Recht das ergänzende
Gegenstück zu Fichtes großem Erziehungsprogramm genannt hat, ist bald genug
zum Schicksal des deutschen Theaters geworden, nicht zum mindesten aber der
Bühne, die wie keine zweite dazu berufen gewesen wäre, das aufsteigende Leben
der Nation in ihren Leistungen wiederzuspiegeln. Mit so mancher anderen
Reform scheiterte auch die beabsichtigte Reorganisation des Theaters an der allzu
früh einsetzenden Gegenbewegung 'und am Widerstande Ifflands, der das junge
Berliner „Nationaltheater" zwar soeben erst konsolidiert und zu rascher Blüte
gebracht hatte, dessen Verständnis jedoch angesichts einer Aufgabe von so grund¬
sätzlicher Bedeutung versagte. Schon zwei Jahre später fiel das Gesetz, indem
die veränderte Bestimmung der Verfassung das Theater unter die öffentlichen An¬
stalten „zur Bequemlichkeit und zum Vergnügen" einordnete und es als Gewerbe
unter Polizeiaufsicht stellte. Eine nicht wiederkehrende Gelegenheit war versäumt
und ein Prinzip anerkannt, das unser Thcaterleben bis zur Stunde unheilvoll
beherrscht hat. Über diese Thatfache konnte auch die äußerlich glänzende Entwick¬
lung nicht hinwegtäuschen, die das derzeit vornehmste Institut, das einstige
Berliner „Nationaltheater" und nunmehrige Königliche Schauspielhaus einschlug,
zumal als es nach dem Brande von 1817 vier Jahre später von Schinkels Hand
in klassischer Schönheit neu erstand. Verheißungsvoll genug ließ es sich ja an,
als es am 26. Mai 1821 mit Goethes Iphigenie und begleitet mit dem besonderen
Segen des Altmeisters seine Pforten wieder öffnete. Der herrliche Bau am
Gendarmenmarkt, der Zeuge eines das Bewußtsein der Zeit mächtig erhebenden
Stilwillens, schien ausersehen, dem wieder erwachten, unendlich bereicherten natio¬
nalen Ethos würdigen Ausdruck zu verleihen.
Aber bald zeigte sich, wie wenig man die Forderungen der Zeit verstand.
Unter der Leitung kunstfremder Bürokraten zehrte man zuerst vom alten Ruhme,
um dann, in dem Maße, als der so mühsam erstarkte Kulturwille der Nation sich
wieder in seine disparaten Elemente auflöste, dem herrschenden Tagesgeschmack zu
dienen. Ja. man war hier nicht einmal fähig, was man doch dank seiner be¬
vorzugten Stellung ohne große Mühe hätte erreichen können, dem immer ausge¬
dehnteren Wettbewerb der Geschäftstheater mit allen seinen Auswüchsen durch
eine konservative Theaterpolittk die Wage zu halten und an einem stehenden,
klassischen Repertoire einen festen traditionellen Kunftstil zu entwickeln, ein Ruhm,
den man unbedenklich an das unter glücklicheren Auspizien aufstrebende Vurg-
theater abtrat. Ohne den mahnenden Stimmen einer großen Vergangenheit
Gehör zu schenken und ohne den gebieterisch heischenden Bedürfnissen einer vor¬
wärts drängenden Entwicklung zu genügen, verfiel die verantwortungsreichste
Bühne des Reiches zunehmender Erstarrung. Die Idee des Nationaltheaters,
einst mit so großen Hoffnungen begrüßt, schien begraben und vergessen.
Die Sehnsucht danach freilich lebte unbefriedigt weiter. Sie war da und
wuchs, genährt durch eine unermüdliche Kritik, je weiter die gesellschaftliche Zer¬
setzung um sich griff und je weniger man ihr an maßgebender Stelle und überall
dort, wo man im Fahrwasser Berlins segelte, zu steuern wußte. Wann immer
im Verlaufe des Jahrhunderts der nationale Gedanke sich lebhafter regte, versuchte
man dort wieder anzuknüpfen, wo die organische Entwicklung so jäh abgebrochen
war. Das geschah 1848, als fast gleichzeitig Eduard Devrient und Richard
Wagner mit Reformvorschlägen hervortraten, die in ihren Grundzügen den
Humboldtschen Staatstheatergedanken wiederholten. Durchzusetzen vermochten sich
weder sie noch ihre zahlreichen Nachfolger, deren gutgemeinter Optimismus leider
zumeist der höheren Einsicht eines Richard Wagner entbehrte. Erst der jüngsten
Umwälzung war es vorbehalten, neben mancher anderen Errungenschaft auch dem
Staatstheater zum Leben zu verhelfen und damit die kühnsten Erwartungen aller
Leichtgläubigen zu übertreffen. Aber man braucht kein Schwarzseher zu sein, um
heute schon zu sagen, daß der Geist, der in unsere ehemaligen Hoftheater einge¬
zogen ist, wohl etwas Anderes, aber nichts Besseres an deren Stelle hat setzen
können. Das Berliner Staatstheater ist auch heute noch nicht ein Theater, das
der Nation gehört. So sind wir trotz allem dem Nationaltheater ferner als je,
und Lessings resignierte Erkenntnis: „Über den gutherzigen Einfall, den Deutschen
ein Nationaltheater zu verschaffen, da wir Deutsche noch keine Nation sindt" ge¬
winnt jetzt seine vollste und schwerste Bedeutung. Ja, man könnte versucht sein,
damit endgültig die Akten über das deutsche Theater zu schließen, wenn nicht sein
guter Genius auch jetzt wieder schirmend über ihm gestanden hätte. Indem
Richard Wagner mit dem Radikalismus des Genies den Eichendorffschen Satz:
„Ein nationales Schauspiel zu haben, hindert uns die Trennung zwischen Volk
und Gebildeten", in derselben Weise umkehrte wie es einst mit Lessings Resig¬
nation durch Schiller geschah, schenkte er dem Jahrhundert den reifsten dramatur¬
gischen Gedanken. Er war es, der zuerst wieder in der Form des Festspiels den
unverfälschten Charakter aller nationalen dramatisch-theatralischen Kunst aus an¬
tikem Geiste erneuerte, ihr die ihr von Haus aus zukommende soziale Funktion
als Trägerin großer ethischer Ideen mit Bestimmtheit vorrückte und damit den
als unüberbrückbar geltenden Gegensatz zwischen Volk und Gebildeten durch ein
höheres Drittes, das mehr ist als nur Unterhaltung und Bildung, überwand.
So krönt der Festspielgedanke die Idee des deutschen Nationaltheaters. Und
wenn das Werk von Bayreuth auch die Erwartungen nicht alle erfüllt hat, die
sein Schöpfer daran knüpfte, der große Gedanke lebt doch und bricht sich Bahn,
vor allem, seitdem die Heimatkunstbewegung ihn als wichtigen Faktor in ihr
Programm aufnahm, Über die Form aller dieser mit dem entscheidenden Moment
der festlichen Stimmungsbereitschaft arbeitenden Ausnahmeveranstaltungen herrscht
noch vielfache Unklarheit, aber sie alle, vom wiedererstandenen Passions-- und
Volksschauspiel bis zu den tastenden Versuchen der Freilichtbühnen, helfen mit am
Werke nationaler Selbstbesinnung. Meidet sich der Dichter, der aus ven Tiefen
unserer aufgewühlten Zeit den Glauben an unsere Einheit neu emporzuheben
vermag, gelingt es ihm, von geweihter Stelle die Gesamtheit der Nation zu er¬
greifen, dann beweisen wir, daß wir ein deutsches Nationaltheater haben.
Neue Bücher aus Österreich
us Deutschen in Osterreich verursacht es stets Schmerz, wenn wir
irgendwie an unser staatliches Sonderdasein erinnert werden. Auch
hier wieder, beim Schreiben der Worte: „neue Bücher aus Oster¬
reich." Fühlen wir uns doch gar nicht als Österreicher, da wir
diesen Begriff heute als bereits überlebt empfinden. Würde es doch
niemand z.B. einfallen zu schreiben: „neue Bücher aus Bayern". Und wir
wollen auch nichts anderes sein! Die Entente zwang uns nur wieder jenen
Namen auf, weil sie ihn brauchte, um uns unter das Joch des Se. Germainer
Friedens zu spannen. Leider ist dieser Zustand unserer Herzen draußen im Reiche
viel zu wenig bekannt, noch immer kann man, vor allein im Schrifttume, darauf
stoßen, daß die österreichische Dichtung scharf von der des Deutschen Reiches geschieden
wird, ja es finden sich im Reiche große Bücherkataloge zum Gebrauche für Volks-
bibliotheken und tgi., in denen es hinten, in einem besonderen Abschnitte heißt:
„Bücher für Osterreich". Und dort sind dann die Werke der österreichischen Dichter
aufgezählt. Damit wird gewissermaßen gesagt: Diese Bücher gehen dich als
Reichsdeutschen nichts an, überlaß das doch den guten Österreichern! Wie häufig
findet sich anch noch in Deutschland der durchaus falsche, schiefe Begriff eines
„österreichischen Volkes" vor! Gegen Mauern rennt an, wer es unternimmt,
gegen diese Fälschung anzukämpfen, die Schulbildung einer ganzen Geschlechtsreihe
stemmt sich dagegen! Ein Triumph des kleindeutschen Gedankens liegt darin
verborgen, völlig vergessen wurde es, daß unsere Trennung von Deutschland erst
seit dem Kriege von sechsundsechzig besteht, in dessen Folge man uns aus dem
deutschen Bunde stieß. Wir alle hüben und drüben wollen den Anschluß, die
Vereinigung mit Deutschland. Darum schaffe man vor allem einmal die Mauern
weg, reiße sie zusammen, die aus Unwissenheit noch immer im Geistigen zwischen
uns und Deutschland errichtet werden. Wir verzichten gern auf die Ehre eine
,/österreichische Literatur" zu haben, eine deutsche schlechtweg genügt uns, man
übertrage keinen zerstörten staatlichen Begriff auf unser Volkstum, das eben so
deutsch ist als jenes deS Bayern oder Schwaben!
Wie groß unsere Volkskraft stets war, welche Dienste wir dem Gesamt¬
deutschtum durch unermüdliche Germanisierungsarbeit innerhalb der anderen Völker
des alten Osterreich leisteten, dafür gibt es auch in diesem Aufsatze einen bedeutungs¬
vollen Hinweis. Vier undeutsche Namen finden sich unter den hier besprochenen
Verfassern vor (wobei allerdings der Elternname der Frauen nicht berücksichtigt ist),
fremde Namen, deren Träger sämtlich gute Deutsche sind, die völlig dem deutschen
Kulturkreise einverleibt wurden. Daß gerade aus Blutmischungen die besten
Talente entspringen, ist bekannt, das deutsche Blut blieb aber hier in Osterreich
immer obenauf.
Diese kleine Abschweifung gehört mehr zur Sache als gleich ersichtlich ist, und
Pflicht eines jeden Deutschen in Österreich bleibt es, bei jeder Gelegenheit darauf
hinzuweisen, mitzuhelfen, diesen verhängnisvollen Irrtum zu zerstören.
Da ist gleich der Roman einer österreichischen Dichterin, Grete von
Urbanitzkys, „Die Auswanderer" (Verlag der Wila, Wien), der so gut deutsch
ist. Wie nur irgendeiner. Eingeschlossen ist die Handlung in dem Schicksal eines
deutschen Offiziers, der nach dem Zusammenbruche, aller Grundlagen seines früheren
Daseins beraubt, mit Frau und Diener die alte Heimat verläßt, um in den
niederländischen Kolonien sich eine neue aufzubauen. Der Roman einer Ehe
entspinnt sich hier in einer besonderen Umgebung, die voller Einwirkungen auf die
Menschen ist, die, doch entwurzelt, sich einzig und allein der Arbeit, deutscher
Arbeit verschrieben haben. Die Fremde entfremdet auch die beiden einander
früher in inniger Liebe verbundenen Gatten. Dies bietet die Verfasserin als
psychologischen Kern der Handlung. Ist vielleicht in dem ersten Teile des Romans
der langsamen Entwicklung dieses Ehekonslikts ein etwas zu breiter Raum zu-
gewiesen, der nur von geringer äußerer Handlung durchzogen ist, so gewinnt das
Buch mit dem Auftauchen des Gegenspieles, das den mühevollen, arbeitsreichen
Aufbau dieser deutschen Menschen zerstören will, sogleich an Spannung, drohend
kündet sich ein Überfall der versetzten Eingeborenen an. Ein ganz besonderes
Zwischenstück des Romans bildet die Begegnung eines Engländers mit diesen
deutschen Kolonisten, die nach vielen Gegensätzlichkeiten doch schließlich zu einer
Verständigung in der gemeinsamen Arbeit führt. Die „Auswanderer" sind ein
hohes Lied auf deutsche Arbeit in der Fremde, auf die deutsche Tüchtigkeit, die
sich überall Raum schafft.
In das Ausland führt auch der neue phantastische Roman von Karl Hans
Strobl „Umsturz im Jenseits" (Rost u. Cie., München). Strobl war in
diesem Jahre sehr fruchtbar, aber er weiß seine Sache immer so geschickt anzu¬
packen, meistert virtuos jeden Stoff und hat immer etwas Besonderes zu sagen.
Die letzten Jahre führten ihn ganz in das Reich des Mystischen. Das neue
Buch nun schildert, wie sich ein Umsturz in der Geisterwelt, der Welt der Sphären,
auf Erden abmalt, welch heillose Verwirrung die Empörung der Geister in der
Welt anrichtet. Probleme der spiritistischen Lehren geben den Untergrund der
Handlung. Die kleinen, bösen, zahllosen Geister Verstorbener haben sich empört,
stürzen sich fessellos auf die Menschen der Erde, dringen ein in alle Gehirne,
wandeln die Charaktere ihrer Opfer völlig, spalten früher feste, gerade Persönlich¬
keiten. Auch der Schauplatz ist bunt genug und wechselnd. Wien, die Kordilleren,
China, Spanien, Algier und wieder Wien. Der Gedanke des Stroblschen Buches
ist entschieden eigenartig und wird in allen Kreisen, die zum Spiritismus neigen,
sicherlich beifällig aufgenommen werden. Aber auch den Fernerstehenden wird
das Buch einige angenehme Stunden der Anregung schenken.
Ein weiter Sprung ist es von diesem spiritistischen Romane hinüber zu der
einfachen klaren Erzählung Margarete Miltschinskys, der gebürtigen Deutsch-
böhmin, die kürzlich in anspruchslosen Gewände bei Franz Kraus in Reichenberg
erschien. „Wanderungen und Wandlungen der holden Einfalt" heißt
das stille Büchlein, hinter dem aber eine wahre Dichterin lebt, die keinerlei Auf¬
hebens von sich macht, dem literarischen Markte fernesteht, aber trotzdem
unbedingt zur Geltung kommen wird. Eine märchenhafte Geschichte ist es, spielt
im Zeitalter der Schlösser und Burgen, der wilden, trinkfesten Ritter, ferne
Romantik klingt auf ohne jede kitschige Verlogenheit. Die Liebe einer Bauern¬
tochter, die an einer aussichtslosen Liebe festhält zu einem Höheren, einem Ritter.
Ein des Landes verwiesener Herzog, höfische Feste, ein wilder Schneewinter:
hinter allem aber leuchtet das reine Lächeln der holden Einfalt/ des Mädchens
„Simplizitas".
Deutsch ist diese stille Märchengeschichte wie nicht bald ein anderes Buch,
wie ein Grimmsches Märchen liest sie sich, man versinkt in ihr wie in klarem
Gebirgswasser zur Hochsommerzeit. In Margarete Miltschinsky 'aber ist eine
Dichterin erstanden, die es heute wagt, unmodern im besten Wortsinne zu sein!
Angeschlossen an diese herzerquickende Erzählung einer noch Unbekannten
sei die Betrachtung über den letzten Roman der sehr bekannten Frau Marie
Eugenie della Grazie, die bei der Wila in Wien einen Roman in zwei
Bänden veröffentlichte, dessen Titel „Der Liebe und des Ruhmes Kränze"
ebenso unmöglich ist wie sein Inhalt. Und doch stammen von der gleichen Ver¬
fasserin andere, frühere Werke her, vor allem kleine Novellen, die auf einer
hohen Stufe der Darstellung stehen. Ein unbedingter Abstieg ist in dem Schaffen
dieser begabten Frau festzustellen. Der letzte Roman „Homo" war es schon, und
das neue Buch verstärkt nun noch diesen ungünstigen Eindruck. Die Handlung
spielt im alten Wien zur Zeit des Wiener Kongresses und erhebt sich im inneren
Gehalte nicht wesentlich über die Schöpfungen einer Courths-Mahler. Alles ist
darin kitschig, die abgegriffene Figur des „Borstadtkindes" ebenso wie die der
aristokratischen Damen, mögen sie nun Ausbünde der Tugend sein oder von einer
übelriechenden Wolke schwüler Sinnlichkeit umlagert bleiben. Auch die Schilderung
männlicher Wüstlinge und Lebemänner, die Gestaltung überlieferter historischer
Persönlichkeiten macht die Sache nicht besser. Nur in manchen gespitzten Dialog-
steilen fühlt man Talent, sonst atmet der Roman ödeste Trostlosigkeit. Auch die
Herbeiziehung Schuberts als Episodenfigur hilft nichts, macht die Sache vielmehr
noch schlimmer. Immer bleibt der größte deutsche Liederkomponist für Frau
Grazie nur der „Schulmeister von Lichtenthal", und die Rolle, die ihm in diesem
Romane zugewiesen ist, schmeckt in ihrer Darstellung stark nach dem geistigen
Gehalte der Operette „Dreimäderlhaus", in der sich schon einmal Geschäftemacher
an dem Leben Franz Schuberts vergriffen. Auch vor der Herbeiziehung Beethovens
scheute die Verfasserin nicht zurück, da er ihr als Aufputz für ihren Roman
nützlich erschien. Allerdings hat sie sich doch nicht näher an ihn herangctraut,
er soll nur aus der Ferne wirken, Hintergrund abgeben für das Wien dieser
Tage. Zu all diesen Rhein gesellt sich noch ein unheimlicher Umfang dieses
zweibändigen Romans, und es bedarf oft der ganzen Engelsgeduld eines gewissen¬
haften Berichterstatters, um sich durch diese breitspurigen Gewöhnlichkeiten und
langweiligen Schilderungen hindurchzubeißen.
Von diesem Romane aus der Wiener Kongreßzeit führt die Brücke hinüber
M dem Lenauroman Adam Müller-Guttenbrunns. Da der Dichter jener
Trilogie dem Verfasser dieser Zeilen besonders nahesteht, möge nur ein kurzer,
sachlicher Hinweis genügen. Drei geschlossene Einheiten sind es. „Sein Vater¬
haus", „Dämonische Jahre" und der Schlußband, der augenblicklich in der
„Täglichen Rundschau" (Berlin) unter dem Titel „Das Dichterherz der Zeit"
erscheint (als Bücher bei L. Staackmann, Leipzig). Neben der Gestaltung des
Dichters Lenau gibt diese Romandreihcit ein großes Kulturbild des vormärzlichen
Österreichs einer bisher noch nicht erreichten Art.
Eine Persönlichkeit reichster Eigenart strahlt aus den Werken MaxMells,
der nach jahrelangem Schweigen nun wieder mit einigen schmalen Bänden hervor¬
getreten ist. Da ist einmal „Das Wiener Kripperl von 1919". In Form eines
KriPPensvielcs hat hier Max Meil sowohl ein dichterisches als menschlich hoch¬
stehendes Werk gegeben. Die ganze Not der Wiener Bevölkerung, die ganze
schreckliche Nachkriegszeit wird hier in erschütterter Weise gestaltet. (Verlag der
Wila, Wien.) In einem anderen österreichischen Verlage (Eduard Strande) erschien
von dem gleichen Verfasser eine schmale Erzählung //Hans Hochgedacht und
sein Weib"/ die man ruhig unter die Perlen deutscher Novellistik reihen darf.
Niemand wird ohne tiefe Ergriffenheit diese ländliche Ehegeschichte lesen/ die neben
einem reinen klaren Stile auch den Vorzug reinlicher Psychologie besitzt. Der
Musarion-Verlag in München brachte eben auch eine Novelle in Versen //Die
Osterfeier" und ein schmales Bändchen „Gedichte" von Max Meil. Die
„Osterfeier" das ist eine stille/ feine Geschichte voll heimlicher Reize, in einem
ruhigen freundlichen Tone erzählt in behaglicher epischer Breite und doch reich an
dramatischen Augenblicken. Nur schade/ daß manchmal der Fluß der Verse gestört
ist. In den „Gedichten" schließlich sind einzelne köstliche Stücke enthalten, so vor
allem „Hochsvmmernacht".
Härter, männlicher vielleicht, ist Mirko Jelusich in seinem Romane
„Der Thyrsosstab" (Leonhardt-Verlag, Wien). Eine bedeutende Gestaltung
des Don-Juan-Problems stellt dieser Roman dar in einer Vertiefung, wie sie
dieser Stoff noch selten erfuhr. Gewagte, Szenen finden sich in dem Romane,
aber gerade diese sind von einer großen innerlichen Reinheit erfüllt, da sie von
der ernsten künstlerischen Absicht getragen sind, eine restlose Darstellung des
Menschen zu geben. Die Gestalt des Erotikers in Reinkultur beherrscht den Roman,
dessen unfehlbarer Zusammenbruch aber ist niemals zweifelhaft, an der Beschränktheit
des einzigen Wunsches dieses Daseins zerbricht es. Das macht das hohe Ethos
dieses Romans aus, der auch technisch auf einer ansehnlichen Höhe steht.
Den Beschluß dieser bunten Reihe möge die Erzählung eines der' ersten
deutschen Lyriker bilden, „Die einzige Sünde" von Franz Karl Ginzkey.
(Verlag, L. Staakmann, Leipzig.) sprachlich allein schon ist diese Novelle dem
„Ketzer von Socmci" Gerhart Hauptmanns gleichzustellen. Ginzkey ist einer von
denen, die jahrelang schweigen, um dann plötzlich mit einer so feinen, reifen Gabe
wieder hervorzutreten. Die einzige Sünde, das ist die Sünde im Geiste. Major
Degenhart erzählt dem Verfasser während eines nächtlichen Spazierganges in der
herrlichen Gebirgswelc Südtirols die Geschichte einer Liebe, die Geschichte einer
Frau von überirdischer Reinheit und Milde. Selten wurde ein so reines, kristall-
klares Buch geschrieben. Es wird dauernd unter den Schätzen deutscher Dichtung
lebend bleiben.
Wenn es diesem Aufsatze, in dem leider nicht mehr als kurze Hinweise
enthalten sein können, gelingt, das Interesse im Reiche draußen für unser Schrifttum
zu heben, so hat er seine Aufgabe erfüllt. Man betrachte uns nur nicht immer
als „Österreicher", als Deutsche minderer Güte, sondern erinnere sich, wie viele
Jahrhunderte keinerlei Grenzlinien zwischen uns bestanden. Daß wir als Süd¬
deutsche unsere Eigenarten haben, als Deutsche, die so lange Zeit das staatserhaltende
und bildende Element im alten Osterreich waren, das ist wohl selbstverständlich.
Schwer genug haben heute die deutschen Dichter Österreichs zu kämpfen. Die
hohen augenblicklichen Preise des deutschen Buches in Osterreich infolge der
Verelendung unserer Krone rücken drohend die Gefahr näher, daß wir noch
abgeschnitten werden von dem geistigen Leben Deutschlands, daß unser großer
Reichtum an Talenten, an volklicher Eigenart brachgelegt werden soll. Nicht
kleindeutsch sei nunmehr die Losung, sondern großdeutsch! Dies aber vor allem
in der Welt des Geistes, der Kultur, des deutschen Schrifttums. Damit legen wir
die besten, sichersten Grundlagen zu unserer unausbleiblichen staatlichen Vereinigung.
Obcrschlesie» «ut die Entente. Deutschland ist augenblicklich in der Lage
eines Menschen, der. durch wiederholte schwere Schicksalslchlage verwundet und
verwirrt, durch gehässige Kränkungen seiner Gegner in tiefster Seele verbittert,
durch physische Übermacht seiner Widersacher ständig in entehrender Form bedroht,
durch häusliches Unglück erschüttert, ohne Aussicht auf Rettung, ohne Hoffnung
auf Erleichterung, so überaus reizbar geworden ist, daß der geringste Anlaß
genügt, ihn plötzlich alle Überlegung außer acht und wie enim Rasenden blind-
wütig, sich an der Fülle des eigenen Unglücks und an der letzten Lust selbst¬
mörderischer Wut berauschend, um sich schlagen M lassen Niemand ^vermessen dürfen, über einen solchen Ausgang mit pharisäischer Selbstgefälligkeit
sich zu Gericht zu setzen, am allerwenigsten der Hauptpeiniger des bis zum Wahn¬
sinn Geguälten selbst, und der in solcher Lage zu ruhiger Besinnung Mahnende
gerät leicht in Gefahr, sich lächerlich zu machen. Dennoch muß. solange man
noch von Politik sprechen will, festgehalten werden, daß ein Zahnschmerz wohl
unerträglich werden kann, daß jedoch kein Vernünftiger einem Zahnschmerz ent¬
scheidenden Einfluß auf die Gestaltung seines Schicksals einräumen wird
Unendlich schwer hat man es Deutschland gemacht, in Oberschlesien nicht
Zum Selbstschutz zu greifen und es ist wie gesagt, nicht nur eine schwere, sondern
w diesem Fall auch eine undankbare Aufgabe, gegen diejenigen sich zu ent¬
scheiden, die das zu tun beabsichtigen, was Ehr- und Nationalgefühl dem in
ungebrochenen Impulsen Empfindenden unmittelbar als selbstverständlich nahe¬
legen. Aber Oberschlesien ist denn doch nnr innerhalb der Gesamtlage ein Teil-
Problem und niemand kann gelobt werden, der, um den Teil zu retten, das
Ganze riskiert. Was würde — im besten Falle — ein selbständiges Eingreifen
regulärer oder irregulärer deutscher Truppen in Oberschlesien, das infolge der
Übergriffe der Korfanty-Banden, der erwiesenen Mitschuld der Polen, der durch
den französischen Ministerpräsidenten selbst eingestandenen Parteilichkeit der fran¬
zösischen Truppen moralisch nur allzu gerechtfertigt wäre, erzielen? Die Insur¬
genten würden zurückgeschlagen. Gut. Was wirb die Folge sein? Selbst wenn
die Polen. Irreguläre oder Reguläre, ihren bedrängten Freunden keine Hilfe
brächten, was den allgemeinen Krieg an der Ostgrenze nach sich ziehen würde,
selbst wenn die Insurgenten, wozu sie nach Korfantys mehr oder weniger
offenen Drohungen und den Anzeichen von Bolschewismus entschlossen zu sein
scheinen, vor der Räumung den ganzen besetzten Jndustriebezirk nicht kurz und
klein schlügen, meint man, die Franzosen würden sich auch nur einen Augenblick
besinnen, ins Nuhrgebiet einzurücken? Der Wortlaut des polnisch-französischen
Abkommens, von dem Briand gesprochen hat, ist nicht bekannt, aber selbst wenn
es in dieser Beziehung keine bestimmten Abmachungen enthielte, würden die
Franzosen dennoch das Nuhrgebiet besetzen.
Aber ist nicht Lloyd George dagegen und hat sich nicht in der oberschlesischen
Frage fast die gesamte öffentliche Meinung hinter ihn gestellt? Hat nicht Lloyd
George selbst fair für Deutschland verlangt?
Jak Und obwohl Lloyd George seinen festen Willen zum iair pia^ Deutsch¬
land gegenüber bis jetzt höchstens mit Worten bekundet hat, soll die Aufrichtigkeit
dieses Willens garnicht in Zweifel gezogen werden. Aber welche Macht hat
denn Lloyd George, diesen Willen durchzusetzen? Vergißt man, das? England
seine wenigen Truppen dringend für Irland braucht, vergißt man, daß England
infolge des immer noch andauernden Bergarbeiterstreiks dicht vor einer schweren
revolutionären Krise steht? Kein Mensch hat zu mucksen gewagt, als Briand
offen das Bestehen eines polnisch-französischen Abkommens zugab, obwohl dies
Abkommen dem Völkerbund nicht zur Kenntnisnahme unterbreitet worden ist und
somit gegen den Friedensvertrag verstößt. Alle die zahlreichen Völkerbundfreunde
in England, die aufrichtigen sowohl wie diejenigen, die es aus politischen, an
dieser Stelle oftmals auseinandergesetzten Gründen zu sein vorgeben, hätten
sofort und laut dagegen protestieren müssen. Das ist nicht geschehen, weil man
über keinerlei Machtmittel verfügte, Frankreich zu zwingen. Es ist ganz richtig,
daß man es in Frankreich nicht gern zum offenen Bruch der englisch-französischen
Entente kommen lassen will. Geschieht es aber doch, so ist ein Eingreifen Eng¬
lands unmittelbar — und darauf allein kommt es an — garnicht möglich.
Vor allem aber hat man bei der Beurteilung der auf Oberschlesien bezüg¬
lichen Äußerungen Lloyd Georges ganz übersehen, daß sie einem unmittelbaren
politischen Ziel dienten: der Verhinderung der Besetzung des Nuhrgebiets. Es
kann als sicher angenommen werden, daß der oberschlestsche Aufstand von Polen
und Frankreich gerade in die Tage der Londoner Ultimatums-Verhandlungen
verlegt wurde, sowohl um die Deutschen zu einer Gegenaktion zu provozieren
wie die Unterzeichnung des Ultimatums, ohne daß Frankreich sich zuvor in den
Besitz seiner Pfänder, gesetzt hätte, zu verhindern. Die Ratschläge englischer Per¬
sönlichkeiten zur, Annahme des Ultimatums, von denen die französische Presse
erzählt, waren, falls sie wirklich erteilt wurden, aus den Wunsch Englands zurück¬
zuführen, die Besetzung des Nuhrgebiets, die Frankreich eine von England wie
von Italien gefürchtete Monopolstellung für Kohle- und Eisenproduktion geben
würden, zu verhindern. Nun aber herrschte in der französischen Kammer bekannt¬
lich große Erregung über das Londoner Abkommen und trotzdem Briaud es
durch die über den Kopf des noch immer zu weiterem Aufschub geneigten Senats
erfolgte provisorische Ernennung eines französischen Botschafters beim Vatikan
verstanden hatte, einen Teil der Gegner des Abkommens und Anhänger der Be¬
setzung des Ruhrgebiets für sich zu gewinnen, bestand Gefahr, daß er von den
Royalisten, von derem Anhang, von den Militaristen, von den Sozialisten und
den über diesen seinen innerpolitischen Schachzug erbitterten Radikal-Sozialisten,
denen sich dann, um bei der neuen Kabinettsbildung nicht ausgeschaltet zu werden,
trotz der Vatikanregelung auch die durch ihre Stimmenzahl ausschlaggebende
Partei der IZntente repudlicaine-clemoLratique angeschlossen hätte, gestürzt wurde.
Dann aber blieb dem neuen Ministerpräsidenten, mochte er nun, wie allgemein
angenommen wurde, Poincars oder, wie einige wollten, Clemenceau heißen, gar
nichts anderes übrig als eben das zu tun, was unterlassen zu haben die Kammer
seinem Vorgänger vorgeworfen hatte: die mobilisierte Jahresklasse l9 in Deutschland
einrücken zu lassen. Diese Gefahr galt es abzuwenden. Lloyd George tat es. indem
er die französische Negierung in einer scheinbar ganz anderen Angelegenheit mit
ungewöhnlicher Schärfe angriff. Damit die Sache grosz genug aufgemacht werden
konnte, antwortete Briand sofort, um sich alsbald neue Diatriben zuzuziehen.
Damit war ein Konflikt geschaffen, angesichts dessen der französischen Kammer,
abgesehen davon, daß niemand Lust haben mochte, in einem diplomatisch derartig
bedenklichen Augenblick, als Ministerpräsident einzuspringen, nichts anderes übrig
blieb, als ihre eigene Negierung zu stützen. Blieb aber Briand am Ruder, so
war zum mindesten wieder Zeit gewonnen, was Lloyd George schon an sich liebt.
Der französische Chauvinismus konnte sich abkühlen, das Land die Bedenken
französischer Wirtschaftstheoretiker gegen die Ruhrbesetzung in Ruhe überlegen,
hier und da auch, was die Kommunisten gründlich besorgen, gegen das mili¬
tärische Abenteuer protestieren. Vor allem konnte nun auch ein Druck in der
oberschlesischen Frage benutzt werden, um die Franzosen zum endgültigen Ver¬
zicht auf die Ruhrbesetzung zu bewegen. Lloyd George wird bis zu einem ge¬
wissen Grade in Oberschlesien nachgeben, wenn Briand am Rhein nachgibt. In
dem Augenblick aber, da Deutschland Lloyd George diesen Trumpf eigenmächtig
aus der Hand nimmt, wird diesem jede Möglichkeit, einen mäßigenden Druck auf
Frankreich' auszuüben, geraubt, seine innerpolitische Stellung aber wegen der dann
zu erwartenden Opposition der Morning Post-Kreise vollends so geschwächt, daß
er allen Versuchen Frankreichs, sich zum unumschränkten Herrn Europas zu
machen, tatenlos zusehen muß.
Diese Versuche machen kräftige Fortschritte. Nicht nur ist es der fran-
Mischen Diplomatie gelungen, auch Rumänien der kleinen Entente zu nähern,
Wischer Rumänien und Tschecho-Slowakai ein Defensivabkommen außer gegen
Ungarn auch gegen Rußland zustande zu bringen (in dem Sinne wenigstens, daß
die Tschecho-Slowakei im Konfliktsfalle die Durchfuhr von Kriegsmaterial nach
Rumänien duldet), sondern auch Tschecho-Slowakei und Südslawien sowohl wie
Rumänien in der österreichischen Frage mobil zu machen. Das Selbstbestimmungs-
recht als solches, auf das sich Frankreich in der oberschlesischen Frage nicht oft
genug, mit Argumenten übrigens von zweifelhaftem Wert, berufen kann, wird in
Osterreich, wieder vor den Augen des immer ohnmächtiger werdenden britischen
Bundesgenossen, keck mit Füßen getreten, und „Journal des Tebcits" wagt sogar
den Versuch, das Ergebnis der Abstimmung in Tirol mit der Behauptung zu
verdächtigen, zur Abstimmung seien Anschlußgcgner überhaupt nicht zugelassen
worden. Und nicht genug mit Rumänien, soll auch, wie Leitartikel des „Temps"
beweisen, Italien überredet werden, sich in die Reihe der entschiedenen Anschluß-
gsgner zu stellen. Offenbar nur dazu, daß Frankreich die Möglichkeit bekommt,
mit Hilft eines Sutzessionsstaatenblocks, einer mächtigen Donaukonfoderation,
später auf die lateinische Schwesternation einen geeigneten Druck zur Forderung
seiner Orient- und Mittelmeer-Jnteressen ausüben zu können. ,
Was Italien selbst betrifft, so ist der Ausfall der Kammerwahlen der Re-
gierungspolitik nicht ganz so günstig, wie man offiziell den Anschein zu erwecken
sucht. Wider alles Erwarten haben die Sozialisten, die sich letzt ohnehin, von der
lästigen Rücksichtnahme auf die Kommunisten befreit, besser rühren können, gar
nicht so schlecht abgeschnitten und haben die Popolciri, ebenfalls von Rechts- und
Linksradikalen befreit, noch zugenommen, so daß einem aus Liberal-Demokraten,
Radikalen, Reformsozialistcn, Kombattanten, Nittianern, Nationalisten und Fascisten
sehr bunt gemischten Nationalblock von 278 Stimmen an 260 Gegner, oder, die
es werden könnten, gegenüberstehen. Die Sache ist zwar nicht ganz so gefährlich,
wie sie aussieht, da die Popolari die Regierung in vielen Fällen unterstützen
werden, aber einerseits werden gerade sie, wie bisher schon, nicht selten genötigt
sein, der Regierung um die Wette mit den Sozialisten Opposition zu machen,
andererseits ist gerade auf gewisse Teile des Blockes wenig Verlaß. Die Schuld daran
trägt zum Teil wohl die geräuschvolle, Terror gegen Terror der Kommunisten
Setzende, Propaganda der Fascisten, die der Regierung zwar wertvolle Dienste
leistete, andererseits aber auch gerade die Opposition verschärfte. Nach innen wie
nach außen bliebe somit die Regierung wie bisher auf vorsichtiges Lavieren an-
gewiesen und wird die erfahrene Meisterhand Giolittis auch fürderhin nicht ent¬
b
In Herrn Siegfried Jacobsohns Weltbühne, dem Organ der „Edel°Kommu°
nisten", schreibt ein Herr, der sich Viator nennt (soll wohl „Reisender" heißen?),
über die Broschüre „Antisemitismus" des Herrn Friedrich von Oppeln-Bronikowski.
Er kann nicht umhin, dem Verfasser zunächst mäßiges Lob zu spenden, Weiler,
obwohl Angehöriger der Deutschnationalen Partei, „ausnahmsweise doch einmal"
den Antisemitismus verwirft. Aber dieser wohl temperierten Anerkennung folgt
sogleich herber Tadel, vorgetragen in dem anmutigen Ton, der Herrn Jacobsohn
und seinen Brüdern im Geiste eigen ist. „Selbstverständlich" wird auch von
Oppeln-Bronikowski nur durch höchst verwerfliche Beweggründe geleitet. Er will
die nationalgesinnten „und zugleich meist wohlhabenden" Juden in die deutsch-
nationale Partei hineinlocken, damit sie „den Allerhöchsten und Höchsten Herr¬
schaften, einem erlauchten Adel und wohlaffektionierten (I) arischen Bürgertum
wieder in den Sattel helfen", wobei besagte Partei „selbstverständlich" von vorn¬
herein die Absicht hat, den Juden nach vollzogener Ausnutzung „den erlösenden
Tritt zu versetzen". Also spricht Viator.
Merkwürdige Duplizität der Ereignisse. Vor einigen Monaten hörte man
zum ersten Mal von den Bestrebungen des Herrn Dr. Max Naumann (der
übrigens von Herrn Viator ganz nebenher ebenfalls angerempelt wird) zur
Sammlung der „natioualdeutschen Juden". (Siehe Heft 10.11 dieser Zeitschrift.)
Damals wurde diese jüdische Bewegung von deulschvölkischen Kreisen mit
ganz ähnlichen Argumenten bekämpft, wie jetzt der Nichtjude von Oppeln-
Bronikowski durch Herrn Jacobsohn und seinen jüdischen Anhang. Man sprach
damals von einer „Machination Judas", die nur den harmlosen Arier hinters
Licht führen sollte, von Abteilungen, die seitens der Juden in das nationale Lager
abkommandiert seien.
Auf den Gedanken, daß es ehrliche und bekenntnisfreudige Menschen gibt,
die nicht in das vorgestellte Gesamtbild passen, daß also vielleicht doch das Bild
als solches nicht richtig war, kommen solche Kritiker nicht. Die Wahrheit liegt,
wie meist, in der Mitte. Die nationalgesinnten, aber ruhigdenkenden Deutschen
arischen Stammes tun gut, die wirklich nationalgesinnten Juden, die den ehrlichen
Willen zur Eingliederung in das deutsche Volkstum haben, nicht ohne weiteres zurück¬
zustoßen, sondern die aufbauenden Kräfte, die in dieser Gruppe stecken, dem deutschen
Vaterland nutzbar zu machen. Und den nationaldeutschen Juden selbst, deren
Sammlungsaktion wir mit Interesse verfolgen, kann nur geraten werden, von
Herrn Jacobsohn und seinen Gesinnungsgenossen möglichst deutlich und nachdrücklich
abzurücken oder ihnen, um im Stil der Weltbühne zu sprechen, „den erlösenden
Die „Vossische Zeitung", die sich bekanntlich den Ehrennamen „Gazette de
Foche" erworben hat, scheint sich mit diesem Ruhm nicht begnügen zu wollen.
In ihrer Morgennummer vom 1. April bringt sie eine Anzeige, in welcher das
Polnische Generalkonsulat alle polnischen Staatsangehörigen auffordert, sich zur
Stammrolle zu melden. Um diese Anzeige wirkungsvoll zu unterstützen, ver¬
öffentlicht sie im redaktionellen Teil noch einen besonderen Hinweis auf diese
Anzeige. Vermutlich glaubte sie, es ihrem guten Ruf schuldig zu sein, den Polen
die Aufstellung ihrer Armee in dieser Form zu erleichtern.
Dieses Buch dürste das zur Zeit wert¬
vollste der deutschen KciegSliteratur sein. An
ein Gencralstabswerk über den ganzen Krieg
ist wohl kaum mehr zu denken, ganz abge¬
sehen von der Zeit, die seine Fertigstellung
in Anspruch nehmen würde. Das Buch Kuhls
ersetzt ein solches Gcnernlstabswerk bezüglich
der Marncschlachtvollständig. Genaues Studium
der Akten und der englisch-französischen KriegS-
literatur, eigene Erfahrungen, Mitteilungen
und Urteile von anderen Stabschefs und
Truppenführcrn sind in dem Buche verarbeitet.
General Kühl gibt eine zusammenhängende
Darstellung der Operationen bis zur Marne¬
schlacht, der Marneschlacht selbst und des Rück¬
zuges hinter die Aisne. Kritische Betrachtungen
am Schluß der einzelnen Opcrativnsabschnitte
erhöhen den Wert des Buches, das den Nach¬
weis erbringt, daß wir nicht an dem Rezept
des toten Schliessen gescheitert sind, sondern
daß das Abweichen von diesen: Plane uns
zum Verhängnis wurde. Kühl selbst hat dem
alten Schliessen sehr nahe gestanden. Es ist
ja wohl bekannt, daß er lange Jahre vor dem
Kriege Chef der 3. Abteilung des Großen
Generalstabs war. Das Buch ist fraglos ein
Quellenwerk, das mau bei Betrachtungen
über die Marueschlacht nicht entbehren kaun.
Der Führer der 9. Armee, der ehemalige
Chef des Generalstabs des Feldheeres, gibt
Aufschluß über die Entstehung des Feldzugs¬
plans, als er noch der O. H. L. vorstand,
und die mancherlei Veränderungen, denen er
nach Kenntnis der Lage an Ort und Stelle
unterworfen werden mühte. Er schildert die
Operationen, die zu den Schlachten von Her¬
mannstadt und Kronstäbe führten, und die
Schlachten selbst. Die Schrift gibt einen
tiefen Einblick in die Gedankenarbeit eines
Feldherrn und ihr hauptsächlichster Wert liegt
wohl darin, daß eine zusammenhängende
Darstellung dieses Feldzugs gegeben wird.
Bezüglich der Entstehung des Feldzugs ent¬
hält das Buch einige Abweichungen gegen¬
über dem, was Ludendorff darüber sagt. Es
handelt sich in der Hauptsache um die beab¬
sichtigte Verwendung der Armee Mcickenscn.
Inzwischen angestellte Nachforschungen in den
Operationsakten haben aber ergeben, daß die
Darstellung Ludendorffs die zutreffende ist.
und Rußland. Betrachtungen Wer die
Heerführung des Generals von Falken-
haun. Mit einer Karte. Preis 13 M.
Verlag E. S. Mittler und Sohn. Berlin
8^ 68.
Bevor man das Heft von 92 Seiten auf¬
schlägt, hat man das etwas beunruhigende
Gefühl: Was kommt nun? Schlieffensche
Operationsgcdanlen oder Falkenhcchnsche Heer¬
führung? Und wieviel Raum wird dann wohl
noch für das eigentliche Thema, die Ost-
offensive, bleiben? Ohne den lricgs-
geschichtlichen Wert des Heftes zu verkennen,
hat man auch beim Lesen das Gefühl, daß
schließlich viele Möglichkeiten bestehen, wie
man Schlieffensche Gedanken auf einen Feld¬
zug übertragen kann, den weder Schliessen
noch der große Generalstab vorausahnen konnte.
Immerhin gibt das Buch einen klaren Über¬
blick über die Operationen gegen Nußland 191S
und beleuchtet die Meinungsverschiedenheiten,
die zwischen Falkenhcchn einerseits und Hinden-
burg, Ludendorff und Conrad andererseits be¬
dauerlicherweise bestanden. Da die Studien
Fversters auf Akten des Neichsarchivs fußen,
so sind seine Angaben nicht anzuzweifeln. Zu
erwägen bleibt immerhin, ob es — wo wir
uns doch sonst so sehr sträuben, in der Schuld¬
frage herumzuwühlen — nötig ist, jetzt schon
diese Sachen aufzudecken. Die jetzige Zeit ist
doch wohl kaum geeignet für Betrachtungen,
die diesen oder jenen Führer aus dem schein
Volke über Gebühr bemängeln. Sachliche
Kritik, wie sie Kühl übt, soll sein; aber was
darüber ist, das ist vom Übel.
Schon bei Besprechung des Kuhlschen
Werkes „Der Marnefeldzug 1914" wiesen wir
darauf hin, daß der Verfasser seiner Arbeit
das Studium der französisch-englischen KriegS-
literatur in weitem Maße zugrunde gelegt
hat. Nun läßt er ein kleineres Buch «.Preis
geheftet 10,— M.) folgen, in dem er uns die
französisch - englische Kriegsliteratur eingehend
referiert und beleuchtet. In der Hauptsache
sind es Fons selbst, dann Gallieni, Haigh,
Pierrefeu, Mangin, Neginald Kann, Perris,
Pershing und Le Thomasson, die zu Worte
kommen. Aus dem reichen Inhalt dieses
Beiheftes verdient hervorgehoben zu werden,
das; die Kritik der Feinde uns zeigt, daß wir
wiederholt nahe daran waren, den Sieg zu
erringen, und das; man auf der Gegenseite
Krisen erlebte, die die unsrigen vom Sommer
1913 weit übertrafen. Dort aber herrichte
bei Regierung und Volksvertretung der eiserne
Wille, zum Siege zu kommen, während bei
Ans der Kleinmut Platz griff und von verant¬
wortlichen und unverantwortlichen Stellen
kräftig genährt wurde. Insbesondere erscheint
der Angriff auf Verdun im Jahre 191« als
erfolgreicher wie wir glaubten, und der Rück¬
zug in die Siegfriedstellung zu Beginn des
Jahres 1917 als eine Operation, die den
Alliierten ihr Konzept für dieses Jahr tat¬
sächlich verdarb.
Der Untertitel dieser Broschüre würde
richtiger heißen: eine Schmähschrift gegen
Ludendorff. Es genügt zu sagen, daß der
Verfasser keinesfalls Strategie wissenschaftlich
betrieben hat, sonst könnte er nicht auf Ne
ausgefallene Idee kommen, den Krieg in
Palästina entscheiden zu wollen. Die Charakte¬
risierung der Persönlichkeit Ludendorffs ist
gehässig und hinterhältig. Mehr zu sagen,
erübrigt sich.
Die kleine Schrift liegt in zweiter Auf¬
lage vor. Sie ist von Militärschriststellern
mei angegriffen worden, aber sie besitzt doch
einen dauernden Wert, da der Verfasser der
einzige lebende Zeuge für Vorgänge inner¬
halb der O. H. L., die sich unter vier Augen
abgespielt haben, ist. Tappen war zu Beginn
des Krieges Chef der Operationsabteilung der
O. H. L. Er selbst sagt über seine Schrift:
-.Ich Verfolgs mit meiner kurz gehaltenen
Schrift den Zweck, es jedem Deutschen und
besonders allen Kriegskameraden zu ermög¬
lichen, an der Hand einer leicht verständ¬
lichen Entwicklung der Entschlüsse der Obersten
Heeresleitung und der daraus entspringenden
Ereignisse sich Persönlich ein Urteil über die
oberste Führung von Kriegsbeginn bis zum
Abschluß der Marneschlacht zu bilden."
Diese Schriftenfolge über den Weltkrieg,
die im ganzen eiwa 30 Hefte umfassen wird,
ist die erste Veröffentlichung des Reichs¬
archivs. Die Büchlein wenden sich an das
gesamte deutsche Volk und geben in historisch
getreuer Wiedergabe den inneren Zusammen¬
hang der Geschehnisse und schildern in mili¬
tärisch-klarer und dabei anziehender Form
einzelne Schlachten und Kriegsabschnitte.
Das 1. Heft enthält neben der kciegs-
geschichtlichen Schilderung der Operationen
der Belagerungsarmee und der einzelnen
Vorgänge während der Belagerung, eine
überaus wertvolle Darlegung von Englands
Rettungsaktion für das belagerte Ant¬
werpen. Aus dem 2. Hefte verdient die
Darstellung der Krise in der Schlacht bei
Baranowitschi, sowie des deutschen Gegen¬
angriffs gehoben zu werden. ES sind über¬
aus wohlgelungene Arbeiten, die bis jetzt
vorliegen. Diese Hefie sind Quellenmaterial
für Studien und Volksbücher zugleich.
Eine kleine Schrift, die näheren Aufschluß
gibt über die Vorgeschichte der einzelne»
preußischen Kriegsorden, Vsrlcihungsart,
Tragweise und Aussehen. Sie wird manchem
Kriegsteilnehmer Freude machen.
will Wilhelm II. wieder auf den Thron holen
und dergleichen Schauergeschichten mehr. In
dem vorliegenden kleinen Büchlein wird Ent¬
stehung, Wrsen und Zweck der Orgesch ge¬
schildert, und der Verfasser hat es verstanden,
diese scheinbar trockene „Wissenschaft" höchst
anregend, teilweise sogar fesselnd zu gestalten.
Von Escherich selbst wird darin erzählt, von
seiner bestimmten, klaren Persönlichkeit, von
seinem Wirken in seinem engeren Heimatlande
Bayern, von der bayerischen Einwohnerwehr
und schließlich von der über ganz Deutschland
verzweigten Organisation Escherich. Ein
wertvolles kleines Büchlein!
Die Orgesch, will sagen die Organisation
Escherich, steht seit Monaten im Mittelpunkt
der iimerpolischen und teilweise sogar der
außenpolitischen Erörterungen. Den grimmig¬
sten Kampf gegen sie führt wohl das preußische
Ministerium Severing. Über die Orgesch sind
die, man kann sagen, wahnwitzigsten Gerüchte
im Umlauf. Alles Mögliche und Unmögliche
wird dieser Organisation, die nichts anderes
als Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung
und Sammlung aller Ordnungliebenden zu
gemeinsamer Wiederaufbauarbeit bezweckt, an¬
gedichtet. Sie soll Verschwörungen anzetteln,
Rücksendung von Manuskripten erfolgt nur gegen beigefügtes Rückporto.
Nachdruck sämtlicher Aufsätze ist nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlages gestattet.
Verlag von I. C. B. Mohr (Paul Siebeck).
Tübingen. 1920.
Jedes Wort,
das ihr von dem Fremden, Deutsche, nehmt,
ist ein Glied in der Kette, mit welcher ihr, die
stolz sein durften, demütig euch zu Sklaven
fesseln laßt.
T>as Buch der stunde!
Erwin Rosen
G 55 g e s <es
Wie entstand die Orgesch?
Was ist die Orgesch?
Was will die Orgesch?
Auf diese drei Fragen gibt dus Buch klare und ein¬
gehende Antworten. Man kann nur wünschen, dos! es
much von jedermann gelesen wird, damit die Orgesch
endlich überall die Achtung genießt, die ihren vom reinsten
Willen erfüllten Mitgliedern gebührt. (Köln, Ztg.)
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Dazu tritt der ortsübliche TeueruugSzuschlag.
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ausschauender, großzügiger Blick und vorzügliche klare Wiedergabe ....
General von Lrttow-VorberK: .... sehr gut und wertvoll ....
Geschichtsforscher Friedrich M. Nircheisen: .... das beste, was über
die Marneschlacht gesagt wurde ....
Militärisches Echo: .... Ein tiefgründiges, aufsehenerregendes Buch ....
Deutsches Ofstzivrblatt: .... Zweifellos gehört das Werk mit zu dem Bemerkens-
wertesten auf militärisch-kritischem Gebiet und verdient ^regste Beachtung in allen Kreisen . . . .
Weser-Zeitung: .... scharf, aber sachgemäß, ein außerordentlich interessantes
Werk, nicht nur für den Offizier, sondern vor allem auch für den Laien.
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t'^«> Ein Stück deutschen Lebens!
Ju Halbleinenband ans völlig holzfreiem Papier TO Mark A
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Mit offenem Freimut schildert der greise Philosoph seine geistige Entwicklung von der A
frühen Kindheit in seiner ostsriestschen Heimat bis zum echt deutschen Gelehrten, auf dessen
Stimme die ganze Welt hört. Das geistige Leben der letzten Jahrzehnte spiegelt sich in diesen S
« Erinnerungen Wider; auch zu den Politischen Ereignissen nimmt der Philosoph mit Wohl- A
a tuender Abgeklärtheit Stellung. Den Tausenden, die in Berlin, Frankfurt, Basel und Jena zu A
I EuckenS Füßen gesessen haben und in die leuchtenden Unzen dieses gütigen und doch starken ^
M Weltweisen schauen durften, werden diese Lebenserinnerungen eine Quelle freudigen Miterlebens A
N sein. Das deutsche Volk in seiner Gesamtheit Wird aber vielleicht erst durch dieses Buch A
D erfahren, was Eucken ihm in seiner Geistesarbeit geschenkt hat.
I K. F. Koester, Verlag, Leipzig ß
«
NW»»»SMa0S»SSIAS»SS«!S»SB0»kS»ILSSSSWS»AA«l>AISN!N»SSSSB»!L»»
it der Reichskanzlerschaft des Herrn Dr. Wirth hat ein neuer Ve-
griff von Freiheit seinen Einzug in: Deutschen Reiche gehalten.
Der neueste Platzhalter auf Bismarcks Stuhle — es wird nicht
mehr lange dauern, dann haben wir seit November 1918 soviel
Reichskanzler gehabt wie in der Zeit von 1871 bis 1918 — sieht
Sklavenarbeit im Dienste unserer Feinde für Freiheit an. Denn er gibt sich
einer argen Täuschung hin, wenn er die von ihm erhoffte, in die Reden in Karls¬
ruhe und im Reichstage als neues Schlagwort hineingeworfene Freiheit auf dem
Wege der Demütigung dem deutschen Volke zu bringen glaubt. Freiheit ist eine
Macht. Nur durch Macht, den Willen zur Macht, kann sie kommen. Selbst-
bewußtsein und Stolz sind dafür die grundlegenden Begriffe und dürfen nicht
verschleiert werden durch llberhebung und Eitelkeit. Die seit der Annahme des
Ultimatums amtierende Reichsregierung aber stellt nur die Passagiere dar eines
Schiffes, dessen Steuermann Erzberger oder doch wenigstens Erzbergerscher Geist
ist. Wir sind wieder zurückgefallen in die Zeit vor zwei und vier Jahren. Jedes¬
mal, wenn die Not des deutschen Volkes am größten ist, dann regt sich der Ab¬
geordnete Erzberger und versucht auf offene oder versteckte Weise zur Herrschaft
su gelangen. Und es ist ebenso erstaunlich wie beschämend für das deutsche
Volk, daß es nicht einmal soviel Kraft aus sich selbst heraus aufbringen kann,
diesem Erzbergerschen Geist den Eintritt in seine Heiligtümer zu verwehren. Es
ist dies doppelt erstaunlich, als der jüngst veröffentlichte Briefwechsels des ver¬
storbenen Kardwals von Hartmann mit einem Münchener Prälaten aus dem Jahre
1917 erkennen läßt, dasz man sich in matzgebenden Kreisen über die Persönlichkeit
des Herrn Matthias Erzberger durchaus klar war. Der Münchener Prälat schreibt:
„Ew. Eminenz — dieses bedarf keiner Hervorhebung — sind mit Hochihrer Mei¬
nung über den Abgeordneten Erzberger vollkommen im Rechte. Gott möge es
verhüten, daß dieser eigentümliche Herr weiteren Schaden anrichte. Ich habe ihm
bereits wiederholt sehr deutlich erklärt, daß er sich auf dem Holzwege befindet.
Er bildet sich, wie er vordem, wie so oft das erkant terrible des Zentrums in
Friedsnszeitcn gewesen ist, jetzt zu solchem von ganz Deutschland aus."
Die neue Reichsregierung sonnt sich an der Gunst der Entente. Jedes
Wort, das in London oder Paris füllt und nicht gerade eine „Ohrfeige" bedeutet,
wird dankbar gebucht und durch die Parteipresse als Loblied auf die neuen
Männer dem deutschen Volke auf den Frühstückstisch gelegt. Die Urteile und An¬
sichten, die nicht weite, sondern die weitesten Kreise in Deutschland äußern, aber
werden unbeachtet gelassen. „Feindesbeifall verdient stets Mißtrauen", sagte
Bismarck. Unsere neuen Männer dagegen sagen: „Feindesbeifall erleichtert uns
die Arbeit!" Was von diesem Feindesbeifall zu halten ist, zeigen schon die ersten
Wirkungen der Annahme des Ultimatums: Das kair pia^ Lloyd Georges hat in
Oberschlesien dahin geführt, daß Engländer, Franzosen und Italiener sich plötzlich
dahin geeinigt haben, vom General Höfer die Aufgabe der von ihm besetzten
Stellungen zu fordern, während die polnischen Insurgenten und Eindringlinge
die von ihnen auf deutschem Boden liegenden Linien innehalten dürfen. Die
Entscheidung über das Schicksal Oberschlesiens, über das die Bevölkerung schon
vor drei Monaten ihr Urteil gesprochen hat, wird von Woche zu Woche hinausge¬
schoben. — Die Zahlung einer Milliarde Goldmark hat den Schrei nach weiteren
in Ententekreisen ausgelöst. Unsere Regierung aber brüstet sich damit, wie schnell
und pünktlich sie allen Forderungen unserer Erpresser nachkommt. Mit Scham¬
röte, bei Nacht und Dunkel müßten diese Zahlungen geleistet werden. — Die
Ruhrorte sind nach wie vor besetzt, aber die Regierung beeilt sich, die Ent¬
mannung des Volkes zu vervollständigen. Selbstschutz und Notwehr sind heute
unbekannte Begriffe; an ihre Stelle sollen Preisgabe des Eigentums und Schutz-
losigkeit treten. In einer Zeit, da in allen Volksschichten der Wunsch und das
Verlangen nach überparteilichen Zusammenschluß sich Geltung verschaffen wollen, er¬
klärt ein Vertreter der Regierungsparteien, die nationale Einheitsfront sei nicht nötig.
Die „Freiheit" gar, das Organ derjenigen Partei, die Herr Dr. Wirth zu
gern mit in die Negierung hineinnehmen möchte, spricht von einer deutschen
„Blutschulo" am Weltkriege in dem Augenblick, wo deutsche Volksgenossen aus
allen Kreisen auf Befehl der Entente vor dem höchsten deutschen Gerichtshöfe
stehen und wo alle bisher veröffentlichten Dokumente und Aktenstücke den Beweis
erbringen, daß Deutschland an diesem Kriege kein Verschulden trifft, es sei denn,
daß Arbeit und Moral eine Schuld sind. Statt dessen gibt sich der höchste Beamte
des Reiches dazu her, im Anschluß an seine Programmrede von Rednern zu sprechen,
die wegen Hochverrat verfolgt werden sollen, obgleich schon am nächsten Tage
festgestellt wurde, daß es sich nicht um mehrere Redner, sondern um einen ge¬
handelt hat, daß es eine nichtöffentliche Versammlung war und daß der jugend¬
liche Redner nicht zum Sturze der Regierung aufgefordert hat, wie es in der
radikalen Linkspresse seit November 1918 täglich zu lesen ist, sondern nur von
einer Furcht der Negierung vor einem Sturze gesprochen hat.
Diese Regierung wird uns die Freiheit nicht bringen. Die Freiheit, die
wir ersehnen, ist von anderer Art. Wir wollen Herr im eigenen Hause sein, wollen
nicht mehr Schacherobjekt der Großmächte bleiben, sondern einen Faktor im politischen
und wirtschaftlichen Weltleben spielen, mit dem zu rechnen ist. Wir zahlen und liefern,
wenn man uns unsere Freiheit läßt, und wir weigern uns, und stellen unsere
Zahlungen ein bei jedem Versuch, den Strick, den man uns um den Hals gelegt
hat, enger zu ziehen. Auch waffenlose Völker stellen eine Macht dar, wenn sie
nur wollen und wenn sie den Machtgedanken wenigstens im Herzen tragen.
mener Wieder wird in einem Teile der Presse und des politischen
Lebens die Ansicht ausgesprochen, daß die Nichterneuerung des
Bismarckschen RückVersicherungsvertrages mit Nußland die Grund¬
lage alles Unglücks war. Nun ist es sicher richtig, daß es vor¬
teilhaft gewesen wäre, den Draht nach Petersburg nicht abzu-,
reißen und das Zarentum nach Möglichkeit festzuhalten. Die große Frage ist
nur die, was Rußland dafür gefordert hätte und ob der Preis, den man ihm
Mahle hätte, schließlich nicht doch verloren gegangen wäre.
Einige neue Dokumente werfen darauf ein interessantes Licht. Die deutsche
Negierung hat tatsächlich später versucht, einen neuen Vertrag mit Nußland zu
schließen. Die damit verbundenen Verhandlungen sind für unsere Frage überaus
interessant.
Die erwähnten Dokumente sind mitgeteilt in einer Veröffentlichung des
deutschen Auswärtigen Amtes: „Dokumente aus den russischen Geheimarchiven,
soweit sie bis zum 1. Juli 1918 eingegangen sind." So mangelhaft diese Ab¬
drucke sind und so lückenhaft auch das dargebotene Material ist, so gestattet es
doch einen interessanten Einblick in die deutsch-russischen Beziehungen ^). Vor
allem ersehen wir daraus, daß die Negierung Wilhelms II. es nicht an Bemühungen
fehlen ließ, Rußland festzuhalten, dieses Bestreben aber an den ganz unannehm¬
baren Forderungen Rußlands sich zerschlagen mußte.
Immer wieder übersehen diejenigen, welche Bismarcks Anklagen gegen die
deutsche Regierung wegen Nichterneuernng des RückVersicherungsvertrages teilen,
wichtige Momente, vor allem, daß Bismarck selbst im 29. Kapitel seiner „Ge¬
danken und Erinnerungen", wo er für den RückVersicherungsvertrag eintritt, die
großen Schwierigkeiten andeutet, das alte Verhältnis zu Rußland aufrecht zu er¬
halten. Bismarck erinnert mit nachdrücklichen Worten an die in Rußland durch
die Presse betriebene Deutschenhetze, an den Haß gegen alles Deutsche, „mit dem
die Dynastie rechnen muß, auch wenn der Kaiser die deutsche Freundschaft pflegen
will". Er verweist auf das gegen Deutschland gerichtete „ungewöhnliche Maß
von Dummheit und Verlogenheit in der öffentlichen Meinung und in der Presse
Rußlands" und auf den polnisch-französischen Einfluß bei dieser Hetze. Damit
deutet Bismarck selbst die Hinfälligkeit von Verträgen mit dem Zaren an, weil
die panslawistische Nebenregierung ihren eigenen Weg ginge. Den RückVersiche¬
rungsvertrag trotz dieser Gefahr und trotz der eventuellen aus ihm sich mit Öster¬
reich ergebenden Schwierigkeiten aufrecht zu erhalten, vermochte aber auch nur
ein Genie wie Bismarck. Nur ein Mann wie er, konnte trotz des 1887 ab¬
geschlossenen RückVersicherungsvertrages mit Rußland schon anfangs 1888 als
Drohung gegen Rußland den Vertrag von 1879 veröffentlichen und mit ähnlichen
Schachzügen die Staaten gerade dort stellen/ wo er sie haben wollte. Niemand
nach ihm hätte das vermocht. Und das ist der zweite Grund, weshalb der Rück¬
Versicherungsvertrag nicht aufrecht erhalten werden konnte, nachdem Bismarcks
Rücktritt erfolgt ist.
Zu dem allen kommt aber noch ein dritter Grund — die anwachsenden
Forderungen Rußlands. Darüber belehren uns die oben erwähnten Schriftstücke.
Aus dem einen (Oktober 1904), es ist offenbar ein Vortrag des Ministers
des Äußeren an den Zar Nikolaus, geht hervor, daß Deutschland sich bemühte,
ein engeres Verhältnis zu Rußland herbeizuführen, um Frankreichs Position zu
schwächen. Der russische Berichterstatter anerkannte „die Notwendigkeit eines
engeren Anschlusses an Deutschland, besonders unter den gegenwärtigen Verhält¬
nissen" (es wütete der japanische Krieg), wollte aber auf die deutschen Forde¬
rungen nicht eingehen, da er „in den Vorschlägen der deutschen Negierung (den
Wunsch) und das beständige Bestreben erblickte, Rußlands freundschaftliche Be¬
ziehungen zu Frankreich zu stören". Anderer Ansicht war damals der Zar. Am
29. Oktober entscheidet er: „Bin mit Ihnen nicht ganz einverstanden. Sie werden
aus meiner Antwort auf das Telegramm des Deutschen Kaisers ersehen, daß ich
gegenwärtig für ein solches Übereinkommen mit Deutschland und Frankreich sehr
eingenommen bin. Dies wird Europa von der übermäßigen Frechheit
Englands befreien und wird in der Zukunft von außerordentlichem
Nutzen sein." Die deutsche Negierung hat also die Bedrängnis Rußlands durch
Japan klug auszunützen versucht.
Als wenige Monate später Rußlands Niederlage feststand und zu den
Friedensverhandlungen schon die Einwilligung gegeben war (Juni 1905), überdies
die Revolution ausbrach und die russische Negierung zur Konstitution ihre Zu¬
stimmung gegeben hatte, da suchte der erschütterte Zar eine Stütze bei Wilhelm II.
und war nun auch zum Abschlüsse des schon 1904 angeregten Vertrages bereit.
-Am 23. und 24. Juni kamen die beiden Herrscher in den Schären bei Björto
(nördlich von Stockholm) zusammen und einigten sich über die Bedingungen eines
Bündnisses. Nach dem in der genannten Aktensammlung abgedruckten Textes ver¬
einbarten beide Kaiser „um den Frieden in Europa zu sichern" ein „Schutz- und
Trutzbündnis": „Im Falle des Angriffs auf eines der beiden Reiche seitens einer
europäischen Macht verpflichtet sich jeder Verbündetste mit allen seinen Land- und
Seestreitkräften dem anderen Hilfe zu leisten" und „keinen Separatfrieden mit
dem gemeinsamen Gegner zu schließen". Der Vertrag sollte erst ein Jahr nach
dem Friedensschluß zwischen Rußland und Japan in Kraft treten und in Geltung
bleiben, so lange er nicht mit einjähriger Frist gekündigt würde. Der Zar sollte
nach Inkrafttreten des Vertrages „Frankreich mit seinem Inhalt bekannt machen
und ihm den Vorschlag unterbreiten, sich dem Vertrage als Bundesgenosse anzu¬
schließen". . Der Vertrag ist ohne Datum, gezeichnet von Wilhelm, Nikolaus, -dem
Gesandten v. Tschirschky und Bögendorff und vom russischen Marineminister Birilew.
So ist es also tatsächlich Kaiser Wilhelm II. gelungen, eine Erneuerung des
Nückversicherungsvertrages herbeizuführen. Er sollte offenbar Deutschland gegen
Frankreich und England, Rußland gegen England und Österreich schützen. Der
Vertrag galt nur für den Fall eines Angriffs. Da ein solcher von feiten Öster¬
reichs auf Rußland nicht zu erwarten war, konnte Wilhelm ebenso wie früher
Bismarck darauf eingehen. Eine andere Frage ist, ob dieser Vertrag irgend einen
Wert besaß. Veröffentlich wurde er nicht und von irgend einer Wirkung scheint
er überhaupt nicht gewesen zu sein").
Bald sollte es sich nämlich zeigen, wie Nußland sich die Sache vorgestellt hatte.
Und das ist das wichtigste!
Sobald der japanische Krieg beendet war, Rußland über die asiatischen
Verhältnisse mit England das Abkommen vom 31. August 1907 geschlossen hatte
und seine Valkanpläne wieder aufnahm, da trat es mit seinen vollen Forderungen
hervor. Als Deutschland den „Wunsch" äußerte, „das anläßlich des österreichisch,
serbischen Konfliktes offen zutage getretene russisch-deutsche Mißverständnis zu
zerstreuen", da zeigte Rußland sein wahres Gesicht. Nach einem dem Zaren am
17- Mai 1908 ^) vorgelegten „Entwurf zu einer Verständigung mit Deutschland
(gezeichnet von Tscharykow) soll von Deutschland gefordert werden: „2. Deutschland
schließt sich dem russisch-österreichischen Abkommen vom Jahre 1897 mit den den
letzten Ereignissen entsprechenden Abänderungen an. 3. Deutschland garantiert
die Erfüllung der durch Österreich-Ungarn in dem erwähnten Vertrage über¬
nommenen Verpflichtung dahingehend, daß letzteres sich auf der Balkanhalbinsel
jeglicher über den Bereich seiner gegenwärtigen Besitzungen hinausgehenden Er¬
oberungspläne zu enthalten hat. Widrigenfalls wird Deutschland den
Einmarsch russischer Truppen in Österreich-Ungarn nicht als nasus
le>e<Zeris ansehen. 4. In Erwartung, daß die Mächte, die den Berliner
Vertrag unterzeichnet haben, die in diesem Vertrage notwendig gewordenen Ver¬
änderungen formell sanktionieren, wird Deutschland Nußland seine tätige diplo¬
matische Hilfe zur Erreichung einer für das letztere wünschenswerten Lösung
der Meerengenfrage leihen. 6. Dieselbe Unterstützung wird Deutschland der
möglichst schnellen Durchführung des Baues der Donau-Adriabcihn
angedeihen lassen. 6. In Persien erkennt Deutschland die für Rußland aus dem
russisch-englischen Abkommen vom Jahre 1907 sich ergebenden Rechte an".
Dafür wollte sich Rußland in einem Geheimvertrage verpflichten: „Im Falle
eines Angriffes Englands auf Deutschland wird Nußland Neutralität
bewahren." Auch soll „Italien, Frankreich und England den betreffenden
Teilen dieses Abkommens beitreten" (das heißt nach Möglichkeit dafür gewonnen
werden).
Kurz und bündig: Rußland fordert von Deutschland die Preisgabe Öster¬
reichs und sämtlicher österreichischer Interessen am Balkan, M es wollte geradezu
die Mithilfe Deutschlands zur Einschnürung Österreichs und zur Durchführung
der russisch-serbischen Wünsche am Balkan. Über die Tragweite dieser Forde¬
rungen, die selbstverständlich ein Aufheben des Zweibundes bezweckte, braucht
kein Wort verloren zu werden. Rußland wäre mit Hilfe Deutschlands
am Balkan und in Mitteleuropa vorgedrungen und hätte alle seine
ungemessenen Wünsche erfüllt. Wenn man aber etwa entgegnet, zu diesen
Forderungen sei Rußland erst 1908 unter geänderten Verhältnissen gelangt,
es hätte sie nicht gestellt, wenn der alte RückVersicherungsvertrag erhalten geblieben
wäre, so muß erwidert werden, daß Rußland weitgehende Forderungen schon
vor 1890 gestellt hatte und kein Grund dafür vorliegt, daß es nicht allerlei zu
erpressen suchte, ebenso wie Italien es seit seiner Zugehörigkeit zum Dreibund
bewiesenermaßen tat°). Die weitgehenden Forderungen Rußlands, die
Unsicherheit der Verträge mit der zaristischen Regierung wegen des
Bestehens der panslawischen Nebenregierung, die Schwierigkeit so
verwickelte Vertragsverhältnisse zu meistern, sind die Gründe, die
leider gegen den RückVersicherungsvertrag sprechen, trotzdem selbst¬
verständlich das Festhalten Rußlands für die Ruhe Europas von
höchster Bedeutung gewesen wäre.
Und noch eines: Man beachte das Urteil des Zaren von 1904 über
England und ebenso den geplanten Geheimparagraphen von 1908: „Im Falle
eines Angriffes Englands auf Deutschland wird Rußland Neutralität bewahren."
Von England war also die Ruhe Europas und Deutschlands nach
dem Urteil seines nachmaligen Verbündeten schon damals bedrohet
singapores Bedeutung als Handelsmittelpunk! Hinterindiens und
des Malayischen Archipels hatte sich schon vor dem Kriege von
Jahr zu Jahr mehr entwickelt, und doch hat die Erhaltung dieser
Bedeutung in den letzten Jahren vor dem Kriege der britischen
Kolonialverwaltung manche Sorge gemacht, und sie hat viel
Sorgfalt darauf verwendet, einer Dezentralisation seines Handels und der
Entstehung neuer, den Produktionsstätten näher gelegener Handelsplätze vorzu¬
beugen. Der Krieg und seine Nachwirkungen haben Singapores Stellung wieder
gestärkt. Einmal weil es fern von dem Kriegsschauplatz lag, von den Kriegs¬
opfern der übrigen Welt wenig zu tragen hatte und weil seine Landeserzeugnisse,
insbesondere sein Kautschuk und sein Zinn, von den Kriegführenden dringend
gebraucht wurden, sodann aber auch aus einem Grunde, der über den Krieg
hinaus jetzt noch wirkt: dem Schiffsmangel der ganzen Welt. Er nötigt die
großen Reedereien, die schon immer mehr dazu übergegangen waren, auch ent¬
legenere Häfen an ihre Hauptlinien anzuschließen/ sich jetzt wieder auf die Haupt-
Häfen zu beschränken, und so kam Singapore wieder zu neuer und stärkerer Be¬
deutung als Umschlagsplatz für den Verkehr von und nach Europa sowohl wie
Amerika.
Das Geschäftsleben Singapores hängt stets in erster Linie vom Kautschuk
ab, für den es jetzt wohl der Hauptwelthandelsmarkt geworden ist, von der Er¬
zeugung seines Hinterlandes, von der durch sie wesentlich beeinflußten Preis¬
gestaltung und der Spekulation. Der Preissturz in Kautschuk, das während des
Krieges bis über 70 Cents und im Dezember 1919 sogar auf 105 Cents für das
englische Pfund gestiegen war, bis auf 22 Cents im Jahre 1918 und auf 30 Cents
im Dezember 1920, bei Gestehungskosten von etwa 60 Cents, zog weite Kreise in
Mitleidenschaft und traf besonders auch die an der Kautschukspekulation immer
sehr beteiligten Chinesen. Die beträchtliche Abwanderung der chinesischen Be¬
völkerung und noch mehr der Rückgang der chinesischen Einwanderung, die damals
in den Straits settlements sowohl wie in den Malayen-Staaten festzustellen
war, hängt aber wahrscheinlich weniger mit dem Geschäft in Kautschuk als mit
der Lage des zweitwichtigsten Landesprodnktes in Singapores Ausfuhrhandel zu¬
sammen, nämlich rin dem Rückgang oder dem Stillstand der Zinnbergwerke und
°Hütten, in denen hauptsächlich Chinesen arbeiten. Das chinesische Handelsgeschäft
in Singapore aber scheint sich unter dem Einfluß des Krieges ganz besonders
blühend entwickelt zu haben. Jedem Reisenden fällt auf, wie viele chinesische
Firmen dort neu entstanden sind; ist doch die chinesische Bevölkerung sowohl in
ber britischen Kronkolonie als in den Malayen-Staaten die zahlreichste und über-
trifft sogar die malayische.
Weniger willkommen als die chinesische Einwanderung scheint der britischen
Herrschaft der Malayen-Halbinsel der japanische Zuzug zu sein, den Singapore
und die für den Gummianbau geeigneten Malayen-Staaten während des Krieges
erfahren haben. Gegen ihn richtete sich offenbar das Gesetz von 1918, das den
Landerwerb durch Ausländer in den Straits settlements und den Vereinigten
Malayen-Staaten einschränkte. Um so mehr haben die Japaner sich in den
Kautschukplantagen der anderen Malayen-Staaten, besonders in Johore festgesetzt.
Nach einem amerikanischen Konsulatsbericht vom Jahre 1919 waren damals fast
12 Prozent der Kautschukplantagen in den Malayen-Staaten in japanischem Besitz.
Welche Bedeutung die japanische Regierung Singapurs für das japanische Geschäft
beimißt, beweisen folgende drei Tatsachen:
1. Im Jahre 1919 wurde in Singapore eines der vom japanischen Mini¬
sterium für Handel und Landwirtschaft unterstützten Handelsmuseen eröffnet.
2. Im Jahre 1919 wurde das japanische Konsulat in Singapore zu einem
Generalkonsulat erhoben.
3. Seit 1920 zahlt die japanische Negierung Schiffahrtssubventionen außer
für die auch Singapore anlaufende Europalinie der Nippon Inser Kaishsa, auch
für die zwei neu eingerichteten Linien der Osaka Shosen Kaisha, von denen die
eine von Singapore über China—Japan—Panama nach New Aork, die andere von
Singapore nach Java und nach Bangkok — wie früher die deutsche Linie — geht.
Natürlich gehen außer diesen staatlich unterstützten noch andere japanische Schiff¬
fahrtslinien über Singapore.
Japans Einfuhr nach Singapore war im Jahre 1918 auf 28,6 Millionen
Dollar gestiegen, während sie im Jahre 1913 noch nicht 8 Millionen be¬
trug. Den Höhepunkt erreichte das japanische Geschäft in Singapore wie ja
auch daheim und anderwärts im Jahre 1919. Die japanische Jndustriekrisis
zeigte sich deutlich auch in dem Rückgang der Kautschukeinfuhr aus den Straits,
die in den ersten zehn Monaten des Jahres 1920 nur 5,8 Millionen Kilt gegen
15,4 Millionen der gleichen Zeit des Vorjahres betrug, während gleichzeitig die
Zinnausfuhr der Straits nach Japan von 3,1 Millionen auf 1,9 Millionen Kilt
zurückging.
Beachtenswert ist auch, wie die Vereinigten Staaten von Amerika sich
während des Krieges nach Singapore ausgedehnt haben. Nach einem ameri¬
kanischen Konsulatsbericht war die amerikanische Einfuhr des Jahres 1918 mehr
als zweieinhalbmal so viel wert als die des Jahres 1913. Mehr als zwei Drittel
der Kautschukausfuhr Singapores und mehr als die Hälfte seiner Zinnausfuhr
ging in den Kriegsjahren nach den Vereinigten Staaten von Amerika? und
während vor dem Kriege ein amerikanisches Handelsschiff eine große Seltenheit
im Hafen von Singapore war, wurden 1917 und 1918 dort von neun bis zehn
Millionen Tons an Schiffs-Ein und -Ausgängen 100- bis 150000 Tons unter
amerikanischer Flagge gemeldet. Auch von Europa (Rotterdam, Antwerpen) geht
eine amerikanische Linie nach Singapore.
Aus der Zunahme des amerikanischen und des japanischen Geschäfts erklärt
sich zum großen Teil das Wachstum des Außenhandels von Singapore seit der
Kriegszeit. Dazu kam, daß nach dem Kriege eine Anzahl englischer Handels¬
gesellschaften ihren Sitz von England wie nach anderen Kolonien so auch nach
Singapore verlegte, um den heimatlichen Steuern zu entgehen. Die Folge dieser
Zuwanderungen war eine Wohnungsnot, die zu gesetzlichen Höchstmieten für be-
scheidene Räume, im übrigen aber zu ganz ungewöhnlichen Mietssteigerungen führte
Auch die Preissteigerungen sonstiger Lebensbedürfnisse in Singapore verraten einen
ungewöhnlichen Luxus. Kennzeichnend für den Aufschwung, den der Krieg dem
Hafen von Singapore und seinem Hinterkante gebracht hat, ist seine Außen-
handelsstatistik, nach der sich der Wert der Ein- und Ausfuhr gegenüber dem
letzten Friedensjahr im Jahre 1917 schon verdoppelt, im Jahre 1920 fast ver¬
dreifacht hat, obwohl die allgemeine Weltkrisis der letzten Jahre — besonders
soweit sie Rohstoffkrisis ist — auch Singapore nicht verschont hat und die Re¬
gierung nötigte, dem Kautschukmarkt durch gesetzliche Produktionseinschränkung,
dem Zinnmarkt durch Ankauf der unverkäuflichen Vorräte zu helfen.
Der engeren Anschließung des Hinterlandes dient außer der während des
Krieges sehr gestiegenen Küstenschiffahrt der weiter entwickelte Eisenbahnverkehr.
Im Jahre 1917 wurde der Eisenbahnverkehr mit Bangkok eröffnet. Die Fahrt
nimmt zurzeit vier Tage in Anspruch, doch erwartet man in einigen Jahren von
der bereits beschlossenen Erbauung eines Fahr- und Eisenbahndammes zwischen
der Insel, auf der Singapore liegt, und dem malayischen Festland eine weitere
Beschleunigung dieser Verbindung.
Deutsche sind von Singapore auf drei Jahre seit Friedensschluß gänzlich
ausgeschlossen, nur ein siebentägiger Aufenthalt wird allgemein den durchreisenden
Deutschen, die nach Plätzen außerhalb der Straits settlements weiter reisen
wollen, bewilligt. Wie wenig Hoffnung der Deutsche auf eine erfreuliche Tätig¬
keit in Singapore nach Ablauf dieser drei Jahre setzen darf, läßt sich schon daraus
entnehmen, daß Beschlüsse der Handelskammer in Singapore, einer Versammlung
von Kaufleuten in Penang, des Jngenieurverbandes in Singapore die Aus¬
schließung der Deutschen auf 10 Jahre forderten, und dies sind Beschlüsse, die
nicht etwa während des Krieges, sondern nach Friedensschluß gefaßt wurden.
Das deutsche Eigentum in Singapore wurde wie in anderen britischen Kolonien
unter Zwangsverwaltung gestellt und durch Liquidation beseitigt; Ende 1919
hatte laut dem Kolonialbericht dieses Jahres der Verwalter des feindlichen Eigen¬
tums der Straits settlements deutsches Vermögen im Werte von 13 Millionen
Dollar in Händen.
Während so die Betätigung des Deutschen in der Kolonie mit allen Mitteln
verhindert wird, sind seit Friedensschluß deutsche Waren in Singapore wieder
zugelassen, wenn auch mit Ausnahmen zum Schutze der im Kriege entstandenen
englischen Industrien, zu denen vor allem die deutschen Farben gehören. Man
hatte erkannt, daß die Ausschließung deutscher Waren sich auf die Dauer doch
nicht durchführen ließ und den eigenen Interessen schließlich mehr schadete als
nützte. Zunächst kamen die deutschen Waren von Amerika und Niederländisch-
Indien, jetzt kommen sie auch wieder direkt von Europa. Englische Zeitungen
beklagen sehr die unverkennbar auf Wiederanknüpfung deutscher Geschäftsbeziehungen
gerichtete Stimmung im Basar von Singapore. Dieser Entwicklung gegenüber
muß es auffallen, daß Siam, das, abgesehen von seiner Abhängigkeit von Gro߬
britannien, in ähnlicher weltwirtschaftlicherLage sich befindet wie die Malayen-Staaten,
sich immer noch gegen die Rückkehr der deutschen Kaufleute und der deutschen
Waren sträubt. Merkt der Siamese nicht, wie ihm die deutschen Waren, die er
o not wendig braucht und die so viel besser sind als die Erzeugnisse anderer
Länder, auf Umwegen, durch englische oder französische Vermittlung, ins Land
geliefert werden, nur. dank diesen Umwegen und Zwischenstellen, zu viel teureren
Preisen, als er sie unmittelbar von Deutschland beziehen könnte?
Das eigenartige Bild, das die wirtschaftliche Entwicklung Singapores zeigt,
erklärt sich aus seiner geographischen Lage. An der durch eine Insel gebildeten
Spitze einer schmalen Halbinsel gelegen, hat es ein Hinterland, das, je weiter
man hinein kommt, um so mehr andere für den Überseehandel in Betracht
kommende Häfen aufweist, die von solcher Umgehung Singapores abzuhalten
bisher mit wechselndem Erfolge die Aufgabe der britischen Kolonialverwaltung
gewesen ist. Zweitens ist Singapore der Sitz einer zahlreichen und sehr wohl¬
habenden chinesischen Handelskolonie, die sich in einer nach europäischem Urteil
auffallend leichten Weise den veränderten wirtschaftlichen Verhältnissen anzupassen
versteht. Drittens ist Singapore der den Südseeinseln, besonders dein holländischen
Indien am nächsten gelegene Punkt des asiatischen Festlandes und daher mit
seinem von der Natur und durch billige Arbeitskräfte besonders begünstigten Hafen
derjenige Platz, von dem die Warenverteilung aus den an der asiatischen Küste
entlang von Europa kommenden Schiffen sich am günstigsten besorgen ließ, und
schließlich ist Singapore als bedeutendster Verschiffungshafen für Kautschuk und
Zinn der maßgebende Markt für diese beiden Welthandelswaren geworden und
hängt von deren Produktionsschwankungen ab.
Die beiden letztgenannten Punkte sind wohl diejenigen, die Singapores
stärkste Stütze für seine weltwirtschaftliche Stellung ausmachen. Sieht man aber
genauer hin, so stellt sich heraus, daß dies eigentlich nicht natürliche Stützpunkte
sind, sondern mehr oder weniger künstlich von der britischen Macht gehalten
werden.
Englische Privatstatistiken zeigen sowohl in der Gewinnung von Zinn wie
von Kautschuk, auf denen Singapores Außenhandel hauptsächlich beruht, eine ab¬
nehmende Tendenz des Hinterlandes von Singapore im Gegensatz zu einer
steigenden Tendenz von niederländisch-Jndien.
Auf dem Zinnmarkt kommt diese Tendenz hauptsächlich deshalb noch nicht
recht zur Geltung, weil in den Straits settlements diejenigen Zinnhütten gelegen
sind, die bei weitem die Höchstleistung in der Zinnverhüttung der Welt aufweisen. In
der Kautschukkultur und -Ausfuhr wird sich aber wahrscheinlich diese Tendenz zu¬
gunsten niederländisch-Indiens noch weiter entwickelt haben, besonders nachdem
die Straits settlements und die Malayen-Staaten die von den englischen Kautschuk¬
pflanzern angesichts der Überproduktion der letzten Jahre geforderte Einschränkung
der Produktion um 25 Prozent des Vorjahres zum Gesetz erhoben haben.
Was sodann Singapores Stellung als Umschlagshafen für den Süden be¬
trifft, so ist das holländische Kolonialreich weder für den Absatz dieser Erzeug¬
nisse, noch für den Bezug ausländischer Waren aus Singapore und sein Hinter¬
land angewiesen. Finden einmal holländische Reedereien die unmittelbare Fahrt
von Europa über Suez—Kolombo nach niederländisch-Jndien, ebenso wie japanische
Reedereien die unmittelbare Fahrt Japan—Java, lohnend genug, so hat Singa¬
pore seine Rolle als Umschlagshafen für die Südsee ausgespielt. Je mehr sich
niederländisch:Jndien industriell entwickelt und je höher sich seine Kolonialpro¬
duktion steigert, um so näher kommt dieser Zeitpunkt. Gibt es doch heute schon
mehr als eine japanische Reederei, deren Dampfer regelmäßig zwischen Japan,
China und niederländisch Indien verkehren, ohne Singapore anzukaufen. Das-
selbe gilt, wenn auch nicht in gleichem Maße, für Australien. Schon hat man
dort angefangen, sich von der Verteuerung und Verzögerung, die der Warenver¬
kehr von und nach Neu-Guinea und anderen Südseeinseln durch die bisher übliche
Umladung in Sydney erfuhr, frei zu machen durch Einstellung direkter Dampfer¬
verbindung mit Singapore; und die Erkenntnis, daß auch Singapore als Um¬
schlagshafen für diesen Verkehr entbehrlich ist, wird zum nicht geringen Teil von
der Entwicklung abhängen, die die niederländisch-indische Schiffahrt nehmen wird.
Sieht die deutsche Weltwirtschaft die Stellung Singapores so an, so braucht
ihr die Ausschließung des deutschen Kaufmanns aus jener britischen Kolonie keine
große Sorge für die Zukunft zu bereiten.
Inzwischen hat aber Singapore noch eine andere Aufgabe zu erfüllen.
Lord Jellicoe, damals Chef der englischen Admiralität, jetzt Generalgouvemeur
von Neuseeland, hat sie uns enthüllt, als sein Bericht an seine Regierung ver¬
öffentlicht wurde, in welchem er betont, das Meer zwischen den Küsten Indiens
bis zur Küste von Kanada sei eins und bedürfe zu seiner Verteidigung einer ein¬
heitlichen Flotte, die von Singapore aus geleitet werden müsse. Daß diese Auf¬
fassung zustimmenden Widerhall auch in Singapore gefunden hat, zeigt die dortige
Presse, die nach allgemeiner Wehrpflicht für die Kolonie, nach Freiwilligenkorps,
und Bürgergarde zum Schutz gegen äußere Angriffe sowohl wie gegen innere
Unruhen ruft und Verstärkung der Garnison verlangt. Die Stationierung briti¬
scher Flugzeuge in Singapore hat es schon zum Mittelpunkt des englischen Flug¬
dienstes für Südostasien gemacht. Auch für den drahtlosen Telegrammdienst der
Marconi-Gesellschaft um die Welt ist Singapore als eine Hauptstation gedacht.
Singapores politische Bedeutung geht aber noch weiter: es ist das Tor — zwar
nicht zwischen Europa und Asien, aber doch zwischen den europäischen und den
ostasiatischen Machtbereichen, wie sie sich heute ausgedehnt haben; das Bild er¬
scheint noch deutlicher und bedeutsamer, wenn man sich dazu die Kette der
holländischen Sundainseln und Australien als weiße Mauer vorstellt und bedenkt,
welche Bedeutung für das Tor in der weißen Mauer, für Singapore — sowohl
in seiner wirtschaftlichen wie in seiner strategischen Stellung — die heute in
amerikanischem Besitz befindlichen Philippinen vermöge ihrer geographischen Lage
haben. Japans oben geschildertes Auftreten in Singapore zeigt, daß man dort
seine Bedeutung erkannt hat.
j as offizielle Recht befaßte sich nur zögernd und unbeholfen mit
dem modernen Arbeitsbegriff und seinen sozialen Funktionen. Die
arbeitsrechllichm Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuches, das
den Niederschlag des Rechtsempfindens, besonders der privatwirt-
. schaftlichen Gewohnheitsnormen des Neuen Deutschland vorstellte, er¬
wies sich gegenüber der Materie Arbeit und ihren zeitgemäßen, komplizierteren Fragen
als noch recht unzulänglich, faßte die Arbeit, zwar folgerichtig im juristischen
Sinne, aber nicht praktisch-sozial, zu einseitig als Sachgut auf. Das sonstige
Arbeitsrecht (Gewerbeordnung) erschien bald als veraltet angesichts des stärker
werdenden Drängens, die Arbeit rendues-fortschrittlich zu behandeln. Diese For-
derung wurde vor allem von den Gewerkschaften gestellt, wobei ihnen die Ver¬
treter der freien Sozialpolitik und wissenschaftliche Fachleute oft lebhaft sekun¬
dierten. (Lotmar.) Von hier aus wurde auch praktische Vorarbeit für eine Neu¬
regelung geleistet, die in der Erforschung und gedanklichen Lösung neuer Arbeits-
rcchtprobleme einerseits, andererseits in der Spruchpraxis der Arbeitsgerichte sowie
in der öffentlichen Werbung für sozialpolitische Grundfordernngen durch Ver¬
öffentlichung freier sozialpolitischer Stellen wirksam war.
Eine besondere Stelle nahm in der Bewirtschaftung der nationalen Arbeit
die Sozialversicherung ein. In kurzer Frist etappenweise erbaut, wurde sie als¬
bald zu einem soliden Denkmal der sozialen Bewertung deutscher Arbeit. Mochte
sie angesichts weitergehender Forderungen der linksstehenden Arbeiterbewegung
und der Ziele des jungen, doktrinären Sozialismus vielfach als Tropfen auf den
heißen Stein bewertet werden, sie war entschieden mehr und erschien rein sachlich
als großer Wurf angesichts des Lösungsgrades dieser sozialen Frage in den
anderen Kulturstaaten, denen die deutsche Sozialversicherung bald Vorbild und
technisches Muster wurde. —
Das kräftige Zusammenfinden aller deutschen Volksschichten zu Kriegsbeginn,
in das sich die deutsche Arbeiterschaft mit gesundem nationalen Instinkt bewußt
eingliederte, zeigte wie in einem Brennpunkt, daß es im ganzen trotz starker
gegensätzlicher Strömungen doch gelungen war, die Jndustriearbeiterschaft dem
Volkstum und seiner Tradition einzugliedern und daß ihr Schaffen sich ein natür¬
liches Gepräge erhalten hatte. Nur hielt dies Gepräge nicht lange stand. Es
muß zugegeben werden, daß die Belastungen ungeheure waren, sowohl an passiven
Entbehrungen aller als auch an aktiven Anstrengungen vieler. Die Volksgemein¬
schaft, vom Staat verkörpert, forderte unablässig und der einzelne Staatsbürger
mußte sich immer wieder einschränken und bescheiden. Der Arbeitsbegriff wurde
für die meisten noch weniger individuell, wurde vielmehr immer schärfer und, für
die Persönlichkeit rücksichtsloser, zur nationalen Dienstpflicht entwickelt. Für diese
Notwendigkeit waren aber in breiten Volkskreisen nicht mehr die Voraussetzungen
vorhanden. Es begann sich bitter zu rächen, daß gerade der Arbeitsbegriff des
industriellen Arbeiters, auf den es in hohem Maße ankam, so materialisiert und
entseelt worden war, daß ihn ethische Ansprüche kaum mehr reizten, sondern ihn
vorwiegend nur materielle Hilfen stützen konnten. Immer schärfer wurde die
Arbeit von Wirtschaft und Technik erfaßt, ohne in der Freizeit genügend kulturell
entlastet und geläutert zu werden. Teile des gesetzlichen Arbeiterschutzes mußten
zudem für die Dauer des Kriegszustandes außer Kurs gesetzt werden. Das
Hilfsdienstgesetz militarisierte die Arbeit vollends und beschränkte die Freizügigkeit
stark, die eine der wichtigsten Programmforderungen der Arbeiterbewegung war,
während die Lohnpolitik ausartete. Es gelang nicht, das Ethos zur Bewältigung
dieser ungeheuren Widerstände aufzubringen, weil seine Quellen vielfach längst
verkümmert waren. Der mechanische moderne Arbeitsbegriff erlitt hier in heftigen
Stürmen Schiffbruch. Das ist damals in seiner tieferen Bedeutung von nur
wenigen erkannt worden.
Nach dem Kriege setzte die Gegenschwingung des Pendels ein, die natürlich
weit über ihr Ziel hinausschoß. War früher die Arbeit vom Recht etwas ver¬
nachlässigt worden, wurde sie nunmehr plötzlich stark verwöhnt. Eine Flut von
arbeitsrcchtlichen Verordnungen, technisch oft oberflächlich durchgebildet und über¬
hastet herausgegeben, brach auf die ohnehin erschöpfte und verwirrte Wirtschaft
herein und ließ nur zu oft billige Rücksichten auf ihre Notwendigkeiten und die
kritische Lage der Übergangswirtschaft vermissen. Einige Ziffern verdeutlichen hier.
Während die Vorkriegszeit insgesamt 12 arbeitsrechtliche Verordnungen und Ge¬
setze brachte, wurden im Kriege selbst 18, in den zwei ersten Revolutionsmonaten
13, im Jahre 1919 aber 63 und bis zum 1. September 1920 weitere 43 arbeits¬
rechtliche Verordnungen und Gesetze erlassen.' Das Arbeitsrecht wurde nicht ge¬
nügend rücksichtsvoll in die Wirtschaft, die doch den wertvollen Nährboden aller
Sozialpolitik vorstellt, hineingepflanzt. Überhaupt fehlte anfangs eine deutliche
synthetische Erkenntnis von der innigen Verbundenheit von Wirtschaft einerseits
und Arbeitskraft nebst ihrer Verwaltung andererseits, die praktisch eine gesundere
Ausbalanzierung des jungen, übereifrig angebauten Arbeitsrechtes mit dem min¬
destens ebenso wichtigen Wirtschaftsrecht, besonders eine Pflege der beiderseitigen
Grenzgebiete, bedeutet hätte. Man nahm als selbstverständlich an, daß der
Unternehmer schon imstande sein würde, die vielen, ihn stark betastenden Schutz¬
vorschriften zu verwirklichen und gleichzeitig seinen produktiven, sozial wertvollen,
Berufsaufgaben gerecht zu werden. Das gelang auch durchweg in ebenso selbst¬
verständlichen Ertragen dieser Belastung. Diese Tatsache stellt der privaten
Organisationsgabe und geschmeidigen Initiative, der inneren Lebenskraft des
Privatunternehmertums überhaupt, das in der Folge gerade von schroff betonter
sozialpolitischer Seite oft Anklagen hinnehmen mußte, ein vom Standpunkt
nationaler und praktischer Sozialpolitik glänzendes Zeugnis aus. Seine Wert¬
note wird noch gesteigert angesichts der vielen skrupelloser Streiks, die das Wirt¬
schaftsleben zeitweilig nicht zur Ruhe kommen ließen. Auch hier sind Zahlen
veranschaulichend: Während der Durchschnitt der Jahre 1912—14 etwa 1900
Streiks pro Jahr und der Durchschnitt der Kriegsjahre 427 Streiks ausmachte,
schnellte im Jahre 1919 die Streikziffer auf 4932, was für die Volkswirtschaft einen
Ausfall von 33 Millionen, teilweise unproduktiv bezahlten, Arbeitstagen bedeutete,
wobei die Herabsetzung der Arbeitszeit auf acht Stunden nicht einmal berücksichtigt
ist. Angesichts dieser Zahlen wirkt natürlich die Gründung und Tätigkeit der
industriellen Arbeitsgemeinschaften etwas paradox und wird der Eindruck verstärkt,
daß diese weniger als organisches Gewächs, denn als vorläufiger Abschluß eines
grundsätzlichen Streiks und mechanisches Ergebnis eines Balanzeversuches zustande¬
kam, wobei die eine Seite nachgab, die andere wesentlich gewann, und das
beiderseitige Wollen, die deutsche Wirtschaft und ihre Menschen möglichst reibungs-
los durch die Demobilmachungszeit zu führen, mehr Theorie der Zentralstellen
blieb. Vielleicht ist jetzt angesichts des immer deutlicher aufwuchtenden, vater¬
ländischen Schicksals die Zeit gekommen, den Arbeitgemeinschaftsgedanken mit
neuem, echterem Geist zu erfüllen, wenn sich auch der Optimist nicht verhehlen
wird, daß dazu auf der einen Seite zunächst zahlreiche dogmatische Scheidewände
und doktrinäre Scheuklappen beseitigt werden müßten. Im Bewußtsein der all¬
gemeinen Schicksalslast liegt der Arbeitsgemeinschaftsgedanke in seiner typischen
Fassung ja in der Luft und ist zu einer Sammelparole der nationalen Arbeit
sehr geeignet. Er äußert sich ja auch in dem Bestreben der Parteien, den
national-politischen Arbeitsausschuß, die Regierung, durch Verbreiterung zu stärken
und Parteien der negativen Kritik zu Parteien positiver Arbeit zu gestalten. Die
Erkenntnis, daß in unserer parlamentarischen Demokratie, die als politisches
Arbeitssystem an sich zur Vergeudung von Energie, Zeit und Geld neigt, ziel¬
bewußter und sparsamer gearbeitet werden müßte, wirkt auch in den Vorschlägen
von erfahrenen Parlamentarier, die eine Änderung der Geschäftsordnung wollen,
um dem sogenannten Parlament der Tat näher zu kommen. Im Arbeitsrecht
hat bereits das Bestreben eingesetzt, eine Anpassung des überschnell Gewordenen
an die Wirtschaftspraxis sowie beweglichere Auslegung des Starr-Paragraphischen
zu finden. Nebenher geht das Bemühen, das zersplitterte Arbeitsrecht in einem
Gesetzbuch der Arbeit großzügig zusammenzufassen. Seine baldige Fertigstellung
könnte der Wirtschaftspraktiker und Fachmann im Interesse einer endgültigen
klaren Übersicht nur wünschen, wenn bei seinem Ausbau und der letzten Durch-
feilung den Belangen der Wirtschaft genügend Rechnung getragen wird. Hier
erhebt sich das Problem, die vielfach stark empfundene Lücke zwischen Wirtschafts¬
recht und Arbeitsrecht zu überbrücken und beiden Rechtsgebieten den einheitlichen
Leitsatz unterzustellen, die nationale Arbeitskraft auf der Grundlage einer gesunden,
leistungsfähigen Wirtschaft zu verwalten. Zweifellos ist der Mensch Subjekt der
Wirtschaft in dem Sinne, daß er ihr Belcher, ihr Ausgang und Ziel ist, aber
die Volkswirtschaft ist sein soziales Fundament, das ihn trägt und sachlich¬
hingebende Pflege und Achtung seiner Entwickelungsgesetze verlangt. In diesem
Zusammenhange bedeuten sozialistische, lediglich aus Dogmatik und Grundsatz¬
politik geborene Wirtschaftsneuerungen nicht rationelle Bewirtschaftung der natio¬
nalen Arbeitskraft und Produktionsmittel, sondern Mißwirtschaft, über deren
Fehlschläge weder an sich achtungswerte soziale Ethik noch Gleichheitsromantik
hinwegtäuschen können.
Zusammenfassend kann man einen Auftrieb in der Dynamik der vater¬
ländischen Arbeit feststellen. Er tut sowohl wirtschaftlich als auch seelisch bitter
not angesichts der Gewißheit, daß wir auf Jahrzehnte hinaus tatsächlich nur die
Arbeitskraft haben, uns wieder zur gebührenden Geltung zu bringen. Sich über
die historischen Grundlagen und zeitlichen Entwickelungsbedingungen dieses Kraft¬
feldes der deutschen Arbeit bewußt zu werden, alle Fähigkeiten, Hilfsmittel und
Impulse kühl auf die zweckmäßige Verwaltung dieses Grundkapitals sowie auf
Verfeinerung und Verschärfung ihrer außenpolitischen Stoßkraft einzustellen, müßte
zum allgemeinen Vorsatz der in der Volkswirtschaft Tätigen, besonders der Führer¬
generation und der Jugend werden, und die engere Verufsaufgabe des einzelnen
zu einer weitsichtigen Lebensaufgabe erweitern.
MM
W> e chichte verschwimmt allmählich zur Sage — Sage verflüchtigt sich
zum Naturmythos. Das Märchen ist der dem Verständnis
des Volkes angepaßte Naturmythos — oder es ist verkleinerte,
ausgeschmückte, familiär dargestellte Sage; dies gilt von den echten
Märchen, wie zum Beispiel „Dornröschen" und „Schneewittchen",
in denen man die Herkunft vom Naturmythos am deutlichsten wahrzunehmen
vermag.
So enthalten Sage und Märchen aber auch meistens Kerne fernen, wirk¬
lichen Geschehens; sie sind ausgeschmückte Überbleibsel von längst Vergessenen.
Oft überwuchert die Ausschmückung so stark, daß der wahre Kern kaum noch darin
zu finden ist.
Schon Karl der Große und die ihn umgebenden Personen erscheinen halb
als sagenhafte Figuren; vieles in ihrem Wesen und Tun wird ungewiß und
willkürlich ausgemalt. Die geschichtlichen Beweise und Anhaltspunkte fehlen in
der Schilderung der Person. Andererseits ist sein Leben und Wirken geschichtlich
mannigfach verbürgt. Auch Armin, der Befreier, erscheint als Sagenfigur, denn
man weiß nicht einmal gewiß, ob er auch von seinen Stammesgenossen „Armin"
genannt wurde. Manche nennen ihn „Herrmann", andere verknüpfen ihn mit
der mythischen Figur des Siegfried, wollen ihn zum Begriff des Befreiers von
Winter und Kälte auflösen — dagegen machen römische Geschichtsquellen sein
menschliches Dasein (als schlauer, rümpfender Cherusker) unzweifelhaft. Die Sage
idealisiert und es gibt noch immer Köpfe, die eine kleine Wirklichkeit zur großen
UnWirklichkeit verflüchtigen, um sie mit allen Attributen erhabenen Heldentums
ausstatten zu können.
In der Gegend von Detmold sangen vor Jahrzehnten noch die Kinder ein
Liedchen: ^- » ^
Man will das Lied als Erinnerung an Armin darstellen. Die einzige
Berechtigung hierzu läge in dem Namen Varus — allein dieser ist von dem
Sammler des Liedes in dieses hineingebracht worden.
Nach Mommsen ist die Örtlichkeit der Hermannschlacht das Verner Moor,
nahe Osnabrück; es bestehen daneben noch mehrere andere Meinungen.
Sehr viele Sagen sind Nachklänge unterdrückten Heidentuines und Vor¬
stellungen aus heidnischer Götterwelt, unter christliche Namen verborgen. Die
Sage der Weißen Frau ist fast allen alten Geschlechtern gemeinsam und scheint
zu beweisen, daß diese Erscheinung die Personifikation einer heidnischen Unglücks¬
gottheit oder eines warnenden Dämonen darstellt.
In zahlreichen Fällen schwebt die Sage hartnäckig an Orten, an denen
dann auch irgend eine Ausgrabung gemacht wird. Viele sogenannte Depotfunde
sind gehoben worden, wo der Volksmund von versunkenen Schätzen wisperte.
Eines der schönsten Beispiele vom wahren Kern vieler Sagen ist der Fund im
„Königsgrabhügel" von Seddin in der westlichen Prignitz:
Seit alters erzählte das Volk, daß in jenem (auffallenden) Hügel ein König
mit seinem Roß begraben liege — und zwar in einem goldenen Sarge, der
wieder in einem tönernen Sarge stehe. Im Jahre 1900 endlich begann man
unter Leitung der Professoren. Friedel und Kiekebusch mit der Ausgrabung und
fand in der Tat, wenn auch keine Särge, so doch ein großes Tongefäß in der
Grabkammer und in diesem Gefäß ein sehr fein ausgeführtes Bronzegesäß, welches
die Brandreste und Schmuckbeigaben eines vorzeitlichen Fürsten nebst seinem Reit¬
pferd enthielt.
Ähnliche Sagen haben ähnliche Funde in Menge bestätigt; so sind Berichte
der Altvorderen durch mehrere Jahrtausende von Mund zu Mund bis auf unsere
Tage gelangt. Aber wie viele andere reiche Depotfunde mögen für immer ver¬
borgen bleiben, nur weil der einzige Mann, der um sie wußte, ins Grab sank,
ehe er es anderen weitergeben konnte. Andererseits sind wieder großartige Funde
gemacht worden, von denen keine Sage etwas meldete; so zum Beispiel der
große Hildesheimer Silberschatz, eine ganze Reihe römischer Gesäße von höchster
technischer und künstlerischer Vollendung, der durch Alter und Fundort beweist,
daß er aus den Zeiten des Varus und Armin stammt.
Die Phantasie vergrößerte die kleine Wirklichkeit; das „Jägerlatein" und
das „Seemannsgarn" zeigen den Weg. wie Märchen entstanden, um die angeblich
geschehenen und erlebten Dinge, die die bewundernd lauschenden Hörer
doch nicht nachprüfen konntenl
Seit den Tagen der ersten Heidenbekehrer ist unsäglich vieles zerstört, erstickt
und ausgerottet worden an Überlieferungen, Gebräuchen und Denkmälern unserer
Vorzeit — so daß man sich nur ein sehr lückenhaftes Bild von ihr machen kann.
Opferstätten, Weißtümer, Zaubersprüche, Gebräuche, Götternamen sind von der
frühmittelalterlichen Geschichtsschreibung totgeschwiegen und in Grund und Boden
verflucht worden — noch ehe Reste davon sich in die aufgeklärtere Jetztzeit hin¬
überretten konnte. Vieles blieb zufällig und wunderbar erhalten, weil es unter
tiefem Schütte lag. Aber es sind kleinste Bruchstücke I Während wir aus den
Liedern, Urkunden und Denkmälern der nordischen Germanen genaue Vorstellungen
von Göttern, Opfern, Tempeln, Gesetzen und Gebräuchen haben, so stehen wir
vor der deutschen Vorzeit wie vor tiefer Dunkelheit. Aus den verschüttet ge¬
wesenen Stücken kann man immerhin oft aufs weitere schließen. Die einzelnen
Holzkirchlein Schlesiens zeigen zum Beispiel den Zustand der Bauart um das
Jahr 1200; wenn sie auch nicht aus so fernen Tagen stammen, so ist diese
Bauart doch noch lange geübt worden, während anderswo neue fremde Ein¬
flüsse neue Formen brachten. Der Holzbau ging dem Steinbau voraus. Die
Kirche von Großkinder in Hessen ist eine der ältesten Deutschlands und zeigt <in
ihrem steinernen Torbogen rohe Skulpturen altertümlichster heidnischer Art von
einer Technik, die sehr an Holzschnitzerei erinnert. Die Schüler des Apostels
Bonifatius sollen von diesem Kirchlein aus in die deutschen Gaue hinausgewandert
sein; Bonifatius selbst soll in der ersten hölzernen Kirche daselbst gepredigt haben.
Auch am Erfurter Dom wird ein uraltes Häuslein als Bonifatiuskapelle be--
zeichnet.
Besonders reich an Sagen ist der Boden der Mark. Als die Markgrafen
in das Gebiet östlich der Elbe einzogen, bestanden sie allerorten Kämpfe gegen die
wendischen Götzenanbeter. Dunkle undeutliche Sagen heften sich dort an jedes
alte, versunkene Gemäuer. Überall, wo noch Heidentum war, würde die Geschichte
zur Sage, denn die damalige Geistlichkeit wollte von objektiven Darstellungen heid¬
nischen Wesens nichts wissen und vertuschte alles, was auf sie Bezug hatte. Bei Arend-
see soll ein wendisches Schloß im See versunken sein; bei Buch an der Elbe soll eine
Rolandsburg gestanden haben. Die Stadt Salzwedel wird schon in einer Urkunde
vom Jahre 1112 als eine alte Stadt bezeichnet. An der Mauer der um 780
auf der Jeetzeinsel angelegten Burg will man noch vor Jahren „Wendenblut" ge¬
sehen haben. In der Bierstädter Heide war eine „heidnische Gerichtsstätte to der
Linden" genannt, In der Letzlinger Heide lagen viele „wendische Dörfer", die
der Überlieferung nach im Dreißigjährigen Kriege zur Wüste gemacht wurden —
in Wahrheit wohl weit früher. Das Volk schiebt seine Zeitangaben gern in
neuere Zeiten vor, die den Zuhörern geläufiger sind. Im Dreißigjährigen Kriege
waren angeblich viele „Heidendörfer" zerstört, was indessen wohl schon zu den
Zeiten der Markgrafen geschah. „Vor hundert Jahren —" ist eine beliebte un¬
gefähre Zeitangabe des Volkes und auch des Kindes — und gemeint ist damit:
eine sehr, sehr lange ZeitI
Nach den zahlreichen, kaum noch kenntlichen Mauerresten war die Altmark
reich an adeligen Herrensitzen, teils wendischen, teils solchen der Kolonisatoren,
die sich alter Festungen bemächtigten. Jeder Ort hat seine Lokalsage. Die Fa¬
milie von Alvensleben, deren erste Burg zu Albrechts des Bären Tagen beim
Orte Neuhaldensleben stand, hat zum Beispiel eine Ringsage von besonderer
Schönheit, die altnordische Züge zu enthalten scheint. Auf der Gansburg bei
Garbe in der Altmark, ein Stammschloß des Geschlechtes der Edlen Gans zu
Putlitz, wollte das Volk vor Zeiten Schätze graben, die vor langen Jahren dort
versunken seien. Bei Werben an der Elbe hat man vor Jahren im Wiesenboden
viele Funde gemacht, welche die Sage bestätigen, daß Karl der Große hier
Tausende von Sachsen hinrichten ließ. In der „wüsten Kirche" zu Darme soll
vor langer Zeit ein hölzernes Götzenbild gestanden haben, welches alle Tierleiden
heilte, wiewohl die Geistlichkeit hiervon nichts wissen wollte.
In Groß-Garz in der Altmark sieht man in der Kirche das plumpe Grab¬
mal eines Herrn von Jagow mit zwei Frauen, von denen die eine Morgen«
landerin gewesen sein soll. Diese Sage vom Ritter mit zwei Frauen ist auf
unserem Boden so häufig, daß ihr gewiß mancher entsprechende Vorfall zugrunde
liegen mag. Das Motiv ist auch menschlich verständlich und nicht ungewöhnlich
vom damaligen niedrigen Stande der Ethik. In der Erfurter Domkirche ist ein
Denkmal des Grafen von Gleichen mit zwei Frauen; dem Ritter und Minne¬
sänger Otto von Bodenlaube (Burgruine bei Kissingen) wird gleichfalls Bigamie
nacherzählt.
Wohlbekannt sind die Sagen, die sich an den Brocken, den Kyffhäuser,
den Untersberg bei Salzburg, den Hörselberg heften. Hier liegen nicht Funde
zugrunde, sondern die auffällige Form der Berge hat das Volk veranlaßt, lieb-
gewordene Gestalten in sie zu verweisen. Seltsame Naturbildungen, wie zum
Beispiel der Hörselberg gaben allerlei Deutungen Raum. Als die Heidenbekehrer
die alten Götter und Hütten austrieben, gewährte ihnen das Volk wenigstens
in Gedanken Zuflucht in Höhlen und auf Anhöhen.
Trotz allem Eifer der Bekehrer und Geistlichen schwanden die einstigen
großen Opferstätten nicht aus der Erinnerung des Volkes. Die Insel Helgoland
war bis zu Bonifatius Zeiten ein großes heidnisches Heiligtum („Heligoland"),
was jetzt bei der geringen Größe der Insel kaum glaubhaft erscheint. Aus Ur¬
kunden ist ersichtlich, daß die Insel noch bis zum Jahre 1600 etwa hundertmal
größer war als jetzt und daß sie, reich an Hainen und Quellen, eine herzförmige
Gestalt hatte. Vielleicht war zu Bonifatius Tagen ihr Umfang noch so groß,
daß sie dem Festland nahe genug war, um von angelsächsischen Booten bequem
erreicht zu werden. Im Verfall der friesischen und schleswigischen Küstenstriche
haben wir ein Beispiel auch für den Verfall der Insel Helgoland, die heute sicher
nur ein winziges Restchen ihres einstigen Umfanges darstellt. Als wichtiges
Bekehrungsgebiet hatte Bonifatius (in seinen Mitteilungen an das Kloster Fulda)
„das Heligoland" genannt. — Die friesischen Inselketten zeigen noch die alte
Küstenlinie von Friesland. Gewaltige Wassereinbrüche und Unterspülungm haben
die zahlreiche Bevölkerung abgedrängt, zur Wanderschaft und Besiedelung anderer
Landesstriche (u. a. England) gedrängt! Zu jener Zeit mag auch die große
Handelsstädte irgendwo an der Odermündung gestanden haben, die als „Vineta"
in der Sage fortlebt. Auch hier verschlang Wohl das Meer ein ganzes Stück
Land mit der daraufliegenden Siedlung, deren wirklichen Namen man nicht
kennt. An manchen Stellen der Nordsee zeigen sich noch Brunnenlöcher, sobald
die Flut zurücktritt. Sie zeigen Stellen uralter Siedlungen an, die ein Raub
der Wellen wurden. Je weniger erkennbar ist, desto beredter ist die Sage; das
Volk kann nicht genug des Wundersamen von diesen alten Brunnen erzählen.
Vom Norden zum Südwesten Deutschlands — die Gegend zwischen Darm¬
stadt und Heidelberg ist reich an Sagen, wie kaum eine andere; viele der alten
lieben Märchen sind dort aus Bauernmund zuerst erzählt worden.
sagenhaft ist das Burgundenreich mit seiner Hauptstadt Worms; sagenhaft
sein König Gundahar. Kaum zeugen Gesteintrümmer hier und da von den
Stätten, wo Gestalten wandelten, die Siegfrieds und Brünhildens, Günthers und
Hagens Urbilder waren .... Versunkene Trümmer, vom Dornenrosengerank der
Sage dicht überwuchert! Dahinter schläft Dornröschen — Brunhilde. —
In Worms zeigt man die Stelle am Rhein, wo Hagen angeblich den
Nibelungenschatz in die Flut warf; in derselben Stadt steht ein „Niesenhaus".
Der Dom daselbst stammt in seinen Grundfesten gewiß aus burgundischen
Zeiten. In der Kapelle von Lorsch bei Worms soll Siegfried bestattet worden
sein; im Innern stehen einige sehr alte, aber leere Steinsarkophage. Bei
Graselenbach im Odenwald, etwa zwei Wegstunden von Lorsch, wird der „Sieg¬
friedbrunnen" gezeigt, an welchen die Volkssage die Tötung Siegfrieds verlegt.
Man will zuweilen um die Mittagszeit dort seinen Geist gesehen haben und die
Gegend ward von Schafhirten gemieden. Ein weiterer kleiner Platz in der Nähe aber
will auch als Stätte von Siegfrieds Tode gelten: der sogenannte „Lindbrunnen".
In dem Namen schon liegt manches, was Beziehungen zur Siegfriedsage aufweist.
In dem verfallenen Kloster zu Steinbach im Odenwald, einem frühroma¬
nischen Bau, der jetzt als Scheune benutzt wird, will man zur Nachtzeit Gesang
gehört haben und Nonnen mit Lichtern umherwandeln gesehen haben. Dasselbe
wird von anderen verfallenen Klöstern erzählt. Es handelt sich um Erinnerungen
des Volkes an früher dort alltäglich gesehene Vorgänge. Mehrere Sagen wissen
von jungen Nonnen, die heimlich ein Kindlein zur Welt brachten und nun weh¬
klagend am Rande eines Brunnens erscheinen, in den sie es einst warfen, da sie
Entdeckung und Schande fürchteten.....
In den Kellern verfallener Burgen müssen angeblich Schätze liegen, die nur
der Mutigste, oder ein Glückskind heben kann. Der ganze Odenwald ist erfüllt
von Berichten über den gespenstigen Rodensteiner, worunter sich nach Ansicht der
Forscher Wotan verbirgt. Allerorten zeigt man Gehöfte und Pfade, durch und
über welche seine wilde Jagd dahinritt. Im Jahre 1848 wollen ihn die Bauern
von Reichenbach im Odenwald zum letzten Male gesehen haben I An vielen
Stellen zeigt man Kinderbrunnen, aus deren Tiefe die Holda angeblich die
Kleinen brachte. Solche Kinderbrunnen sah ich bei Goslar, Friedrichroda und
Vensheim a. d. B. — In Darmstadt heißt eine Gasse die Hinkelsteingasse; es
zeigt sich da eines der ältesten Gehöfte der Stadt um eine große Hünenstein,
gruppe herumgebaut, die noch an den Mauern des Gehöftes hervorsteht und die
Straße sperrt. Die Sage hält diese Stelle für den Stadtkern, die erste Sied¬
lungsstelle der Stadt Darmstadt, die vor Zeiten anscheinend an dem jetzt ausge¬
trockneten Wasserlauf der „Darme" angelegt worden war.
Zahlreiche Überlieferungen wissen von „wilden Weibchen" im Odenwald,
die in den noch heute sichtbaren Höhlen wohnten und die aus wildem Salbei und
anderen Kräutern allerlei Tränke kochten, deren Herstellung nicht verraten werden
durfte, weil darauf ihr hohes Ansehen beim Volke beruhte. — Das „Felsenmeer"
im Odenwald soll von einem Kampf zweier Riesen herrühren, die auf zwei be¬
nachbarten Bergen hausten und sich mit Felsstücken bewarfen. Hier will die
Sage die dem Volk unverständlichen geologischen Vorgänge erklären, während im
Falle der „wilden Weibchen" Erinnerungen an heidnische Gebräuche vorzuliegen
scheinen. ^
Der Zauber der Sage und des Märchens ist tief begründet; wir erkennen
nicht deutlich, aber wir ahnen tief verborgene Wahrheiten und Beziehungen,
ahnen die seltsamen, fernen, wilden Zeiten, die heidnischen Menschenseelen, wie
sie in weit unmittelbareren Verhältnissen zu den Naturkräften standen. Geheime
Sehnsucht treibt auch den Wissenden in die Vorzeit; er sucht das leise Grauen im
Lesen ihrer Nachklänge, der Sagen. — Das Kind aber liest am liebsten das
echte Märchen (welches dem folgerichtig und nüchtern denkenden Erwachsenen
manchmal so sinnlos erscheint), da es dem Urzustand des menschlichen Gemütes
noch näher steht; weil es sich in der Märchenwelt auf geheimnisvolle Weise zu
Haus fühlt.....
Sagen und Märchen sind wie Wurzeln unserer Kraft, unseres UrWesens
tief im Grunde der Zeiten.
u den wenigen Franzosen, die dem deutschen Volke die Aner¬
kennung nicht versagten, gehört Romain Rolland, dessen zweiter
Band über den deutschen Musiker Kraft unter dem Titel „Johann
Christof in Paris" eine Schilderung des „wahren Frankreich",
auf dessen Suche sich der Held fortwährend befindet, enthält, die
auch unsere Kenntnis französischen Denkens wesentlich bereichern kann.
Den ironischen Hinweis auf das ihn etwas barbarisch anmutende Kraft-
meiertum des Germanen, dessen Genialität er sonst unbedingt zugibt, kann der
Franzose freilich nicht unterdrücken; Frankreich bleibt für ihn stets die Inhaberin
der feineren Kultur; und in der Musik räumt er den Deutschen eine überlegene
Stellung ein. Der Roman ist anfangs nur ein Monolog, der sich an den ver¬
rotteten Zuständen des literarischen Paris entzündet, erweitert sich aber später,
als Christof den jungen zartsinnigen Freund gefunden hat, zum Dialog. Rolland
schont seine Landsleute nicht: „es war damals unter den Feinfühligen Mode,
in der Musik leise zu reden. Und man tat recht daran, denn sobald man laut
sprach, begann man zu schreien. Man hatte nur die Wahl zwischen vornehmer
Schläfrigkeit und Schmierenpathos." Trotzdem kommt Christof, nachdem er „den
unverschämten Hochmut der heutigen Deutschen" abgelegt hat, zu der Erkenntnis,
daß es noch eine zweite Musik in Frankreich gibt, welches er erst so degeneriert
findet, daß er schon den Donner der Kanonen rollen hört, die diese „erschöpfte
Zivilisation, dies verseuchende kleine Griechenland zerschmettern würden." Aber
Rolland weist auch auf die „erschreckende Fäulnis einer Elite des kaiserlichen
Deutschlands hin, deren Schändlichkeit noch abstoßender durch Roheit wurde." Im
französischen Theater „machte Beredsamkeit das ganze Entzücken des Publikums
aus; es hätte sich für einen schönen Vortrag prügeln lassen; es schluckte jede
Pille, wenn sie nur mit klingenden Reimen und großen Worten vergoldet war."
Die Volkshochschulen nennt Rolland „kleine Bazare verworrener Kenntnisse aus
alten Zeiten und Ländern".
Mit Olivier tritt in Christofs Leben das reinste Element innigster Freund¬
schaft zwischen zwei von Grund auf guten Menschen. Man wird unwillkürlich
an Montaignes Freundschaft für Etienne de la Boetie erinnert. Olivier ver¬
mittelt Christof die Kenntnis des wahren Frankreich. Er spricht von den einsam
schaffenden Künstlern, die sich in der Stille verbrauchen, den wahrhaftigen Seelen,
die in „armseligen Behausungen in Pariser Mansarden, in der stummen Provinz
leben, die ein ganzes bescheidenes Leben lang an ernste Gedanken und täglichen
Verzicht gebunden sind; ihr Tun ist unscheinbar und doch liegt in ihnen die ganze
Kraft Frankreichs, die schweigt und dauert, während die, welche sich die Auslese
nennen, unaufhörlich verwesen und durch Neuankömmlinge ersetzt werden. —
Hast du jemals etwas von unseren heroischen Taten erfahren von den Kreuzzügen
bis zur Kommune? Hast du jemals das Tragische im französischen Geiste erfaßt?
Im allgemeinen wird die Politik nicht berührt; nur einmal als ein Krieg
mit Deutschland in Sicht kommt, der natürlich von uns vom Zaun gebrochen
wird, da macht der Pazifist Olivier dem verblüfften Christof klar, welches „Ver-
brechen" 1871 an dem elsässischen Volke begangen worden sei. Und der Musiker
sieht das deutsche Unrecht ein. Einsichtsvoll bemerkt Rolland, „ein anständiger
Deutscher beweist in einer Auseinandersetzung eine Ehrlichkeit, die die leiden¬
schaftliche Eigenliebe eines Lateiners, so aufrichtig dieser auch sein mag, nicht
immer aufbringt" und bekennt, daß Frankreich im Siege auch nicht maßvoller
gewesen sein würde. Er weiß, daß das Beste der europäischen Zivilisation ver¬
loren geht, wenn der „brudermörderische Zwist zwischen den beiden Nationen,
die mehr als alle dazu geschaffen sind, sich zu verständigen", von neuem aus¬
bricht, aber er behauptet, daß es Frankreichs Rolle sei, das Versuchsfeld für den
menschlichen Fortschritt abzugeben, und daß alle neuen Ideen, um zu blühen, mit
Frankreichs Blut getränkt sein müssen. Die Größe der „beiden feindlichen Über¬
zeugungen" müsse früher oder später einmal miteinander in Kampf geraten.
In der sozialistischen Bewegung sieht er neben dem ihm widerwärtigen
„bürgerlichen, feilschenden, friedensseligen" Sozialismus der Engländer die großen
Revolutionäre, welche die tragische Vorstellung eines Weltalls, das von be¬
ständigen Opfern lebt, hegen. „Ihr berauschter Pessimismus, ihre heldenhafte
Lebensraserei, ihr begeisterter Glaube an den Krieg (welchen?) und den Opfermut
glichen dem soldatischen und religiösen Ideal eines deutschen Ritterordens." In
Frankreich beherrsche der Kampf für die Vernunft alle anderen Bedürfnisse;
„wenige Kämpfe ehren das Leben mehr als die ewige Schlacht, die Frankreich
für oder gegen die Vernunft ausgefochten hat."
Neben dieser Auslese der Erhabenen lebt das Volk sorglos dahin, sich nicht
um die Marktschreierei der politischen Schaumschläger kümmernd. Die Erde ist
es, die den Franzosen an Frankreich fesselt. Der einzelne, der sich in seine
Parzelle abschließt, ist einsam, aber beständig. Die Juden möchte Rolland nicht
ausgewiesen sehen; sie sind oft fast die einzigen, mit denen man ein freies Wort
sprechen kann; sie sind im heutigen Europa die zähesten Agenten alles Guten,
aber auch alles Bösen, denn sie befördern aufs Geratewohl den Samen des
Gedankens; unsere kranke Kultur würde verkümmern, wenn man einen ihrer
lebendigsten Zweige abschnitte.
So treffen wir überall auf geistreiche, vorurteilsfreie Gedanken. Ein auf¬
richtiger höchst gebildeter, die Aufgaben seines Volkes fest ins Auge fassender
Franzose spricht zu uns. Manche der Urteile über seine Landsleute sind durch
den Gang des Weltenschicksals als unrichtig erwiesen worden, trotzdem muß man
sagen, daß hier ein Bild Frankreichs entrollt worden ist, das man hätte lieben
können, wenn es sich so bewährt hätte, wie Rolland wohl annahm.
Rußland. Während der am Horizont der Zeit bereits deutlich bemerkbare
Gegensatz zwischen Großbritannien und Amerika sich bis jetzt äußerlich fast nur in
Reden über Flottenabrüstung und Notenwechseln über mesopotamische und holländisch¬
indische Olfelder zeigt, im Grunde aber schon in nicht geringem Maße die Politik
Englands Deutschland gegenüber und damit auch die Lösung der oberschlesischen
Frage beeinflussen dürfte, während das durch das englische Verhalten in Polen
und im nahen Osten vergrämte Frankreich die Engländer mit einer französisch¬
deutschen Verständigung zu bedrohen sucht, von der die Engländer jedoch sehr gut
wissen, daß von ihr, bevor nicht die Franzosen mindestens die Rheinlands geräumt
haben, keine Rede sein kann, ist es von Rußland still geworden. Ab und zu
kommen Nachrichten von Hungersnöten und Aufständen, mit hämischen Hinweise
auf den Bankerott des bolschewistischen Systems verbrämt, aber daß Nußland
nach wie vor ein sehr bedeutender Faktor der Weltpolitik und für die nächste
Zukunft der gefährlichste Feind des britischen Weltreiches ist, scheint so gut wie
vergessen. Tatsächlich aber ist das Interesse an russischer Außenpolitik auch augen-
blicklich alles andere als bloß akademisch und mittelbar reicht die russische Außen¬
politik auch auf die deutsche zurück.
Während, rein außenpolitisch betrachtet, der russische Vorstoß auf Warschau
im Grunde eine Reaktion auf den deutschen Sieg an der Ostfront bildete, der ja
die Konstituierung des polnischen Feindesstaates ermöglicht hatte, hat sich jetzt
die Hauptfront der Russen verschoben und wieder gegen England gewandt. Das
grundlegende Ereignis aber auf dieser Front ist der Zusammenschluß zwischen
Rußland und dem Islam, die bis in den Weltkrieg hinein natürliche Gegner
gewesen sind. Dieser Zusammenschluß ist in erster Linie zurückzuführen auf die
Besetzung Konstantinopels durch die Engländer. Die Besitzergreifung durch den
tertius gauckens hatte im Nu zur Folge, daß sich die beiden Streitenden einigten.
Es ist leicht möglich und selbst wahrscheinlich, daß die Einigung nicht von langer
Dauer sein wird, solange aber der englische Druck sich bemerkar macht, wird mit
ihr gerechnet werden müssen. Vorläufig hat sie Erfolge gezeitigt. Nicht nur ist
das armenische Problem durch eine rasche Aufteilung dieses im Grunde nur in
den Theorien der Pariser Friedenskonferenz bestehenden Staates zwischen den
Beteiligten, der Türkei und den russischen Dependcmcestaaten Georgien und
Asserbeidschan „gelöst", auch die von England unterstützten und vorgetriebener
Griechen sind vernichtend geschlagen worden, was wieder zur Folge hatte, daß
die Sieger in Angora den von Bekir Sami in London mit den Franzosen ge¬
schlossenen Vertrag über Cilicien und Nordsyrien zerrissen, nach einem Kabinett¬
wechsel, der die unentwegtesten der Nationalisten ans Ruder brachte, die Feind¬
seligkeiten wieder aufnahmen und neuerdings sogar die Perle des französisch¬
syrischen Reiches. Alexandrette, fordern. Zu welchen Erwartungen sich die Sieger
von Eskischehar für berechtigt halten, geht aus den neuen Verhandlungsbedingungen
hervor, die der Abgesandte der Regierung von Angora, Manir Bei, nach Adana
gebracht hat, die nicht nur eine bedeutende Kürzung der Räumungsfristen für
die französischen Truppen vorsehen und Garantien für die französischen Schütz¬
linge und Schulen ablehnen, sondern auch Frankreichs Verzicht auf Einflußnahme
bei der Organisierung der cilicischen Gendarmerie, Unterdrückung der Frankreich
zugesprochenen Wirtschaftszone und der neutralen Zone zwischen türkischem und
syrischen Gebiet, sowie die Einbeziehung der ganzen Bagdadbahnlinie in türkisches
Gebiet fordern. Von hier bis zu den Träumen des „Temps", der zur Zeit der
Londoner Konferenz noch eine gegen Rußland gerichtete Verteidigung der Kau¬
kasusgebiete durch die Türken mit englisch-französischer Unterstützung vorschlug, ist
immerhin ein Abstand. Aber nicht nur als Sturmbock gegen Englands und Frank¬
reichs in sich zersplitterte Politik im nahen Orient dienen die Türken den Russen,
sondern auch als Vermittler in Innerasien, wo die bekannten Abmachungen des eng¬
lisch-russischen Handelsvertrages den Russen ein allzu offenes Hervortreten untersagen.
Es ist bezeichnend genug, daß der türkisch-afghanische Vertrag in — Moskau und
nur einen Tag nach Abschluß des russisch-afghanischen am 28. Februar abgeschlossen
worden ist. Beide ergänzen sich in einer Weise, daß die Russen auf englische
Beschwerden hin immer den türkischen vorschieben können, und beide zusammen
bilden nichts Geringeres als die Konstituierung eines mächtigen innerasiatischen
Dreibundes, dessen Spitze sich naturgemäß gegen England richtet. Beide Verträge
enthalten ausdrückliche Verpflichtungen der Kontrahenten, keine Bündnisse einzu-
gehen, die den anderen schädigen könnten. Im übrigen erkennt Afghanistan die
Türkei als führenden religiösen Staat an, und beide Teile verpflichten sich zu
gegenseitiger Unterstützung gegen jeden Angriff irgend einer imperialistischen Macht.
Die unmittelbaren russischen Absichten in Afghanistan aber werden durch die
weiteren Bestimmungen des russisch-afghanischen Abkommens beleuchtet, das nicht
nur die Errichtung russischer Konsulate in Herat. Meimene, Mazar-i-Scherif.
Kabul und Kandahar und die beiderseitige Anerkennung der Unabhängigkeit
Bucharas und Chiwas vorsieht, sondern Nußland auch zur Zahlung einer finanziellen
Unterstützung von jährlich 1 Million Goldrubel und zum Bau von Telegraphenlinien
und Chausseen verpflichtet. Besonders bemerkenswert ist bei der Formulierung sowohl
dieses Vertrages, wie des am 26. Februar mit Persien abgeschlossenen die Art, wie
Rußland sich als Befreier und Freund der asiatischen Völker hinstellt und sie durch
pomphafte Eingangsreden vom Selbstbestimmungsrecht der asiatischen Nationen,
durch Verurteilung des zaristischen Imperialismus und durch allerlei Grenz»
konzessionen zu gewinnen sucht. So erhält Persien die Grenze von 1881 zurück,
erhält das Eigentumsrecht an den von Rußland geplanten Straßen und Eisen¬
bahnen, die ihm durch den Friedensvertrag von Tuchmanschei 1828 genommenen
Schiffahrtsrechte auf dem Kaspischen Meer, Verfügungsrecht über den Hafen von
Eureli usw. Auch verzichtet Rußland aus alle früheren wirtschaftlichen Kor°
zessionen, sowie auf seine Rechte aus den früheren Anleihen und erstattet der
Persischen Kreditbank alle Werte zurück. Aber schon an diesem Punkte zeigt sich
der imperialistische Pferdefuß. Rußland verspricht zwar, sich jeder Einflußnahme
auf die inneren Angelegenheiten Persiens zu enthalten, aber die abgetretenen
Konzessionen dürfen auch an keine andere Macht abgetreten werden, und aus
Punkt 5, der die gegenseitige Verpflichtung enthält, auf dem eigenen Gebiet keine
die andere Macht bekämpfende Gruppe oder isolierte Individuen zu dulden, auch
nicht solche, die etwa russische Verbündete bekämpfen wollen, folgt sogleich Punkt 6,
der Rußland die Erlaubnis gibt, in persisches Gebiet einzudringen, falls Persien
nicht stark genug ist, solche Einmischung selber abzuwehren. Auch verzichtet Ru߬
land auf weitere Missionstätigkeit in Persien, verlangt aber dafür auch Entfernung
lästiger Ausländer aus der Kaspischen Meerflotte. Auf diese Weise hat also Ru߬
land alle Handhaben, das persische Volk, wie es im Eingangsparagraphen heißt,
„unabhängig, reich und im freien und vollständigen Genuß seiner Besitzrechte" zu
erhalten, das heißt alle Vorteile, die England aus dem englisch-russischen Ab¬
kommen von 1907 und dem englisch-persischen von 1919 ziehen konnte, zunichte
zu machen. Tatsächlich hat auch unlängst, anschließend infolge eines persisch-
nationalistischen Militärputsches der Schützling der Engländer, Ministerpräsident
Seyyed Zia Eddin das Feld räumen müssen. Der englischen Niederlage in
Afghanistan ist somit eine zweite nicht minder schwere in Persien gefolgt. EM-
wickelt sich die Revolution in Indien weiter in ruhigen Bahnen, das secht so.
daß die Engländer keinen Anlaß zu gewaltsamen Eingreifen bekommen, so drohen
der englischen Mittelasienpolitik in verhältnismäßig kurzer Frist die schwersten
Gefahren. Trotz aller inneren Umbildungen behält also in diesen Gebieten die
russische Außenpolitik die alte Richtung bei und tritt sogar mit Erfolg aktiv auf.
Das Gleiche läßt sich im Grunde auch trotz der Verschwommenheit der
spärlichen und in sich widerspruchsvollen Nachrichten und trotz der schweren Kampfe
Zwischen Bolschewisten und Antibolschewisten, durch die man sich acht verwirren
lassen darf, von der russischen Politik China und Japan gegenüber sagen. Zu¬
nächst haben Japan gegenüber die Bolschewisten in der Republik des Fernen
Ostens eine Ostmark zu errichten verstanden, die Japan trotz aller Versuche nicht
überrennen kann, teils weil das Klima den Japanern nicht zuträglich ist, teils
weil Amerika bei aller Reserve dem Bolschewismus gegenüber den neuen Staat
unterstützt. Das hindert aber die Japaner nicht, in der Mongolei die teils bolsche¬
wistischen, teils antibolschewistischen russischen Heerführer, die bei der „Befreiung"
der Mongolen bei allen inneren Gegensätzen doch die alte russische Politik fort¬
setzen helfen, zu unterstützen und es ruhig zuzulassen, daß russischer bolschewistischer
Einfluß sich in starkem Maße in Südchina geltend macht. Es kann ihnen ja
auch nur recht sein, wenn auf diese Weise die nordchinesische Regierung in eine
Zwickmühle gerät, denn je schwächer diese ist und je stärker sich die Verhältnisse
in der Mongolei verwirren, desto besser werden sie, ohne daß die übrigen Mächte
Einspruch erheben können, ihre Stellung in der Mandschurei zu festigen vermögen.
Aber auch den Russen kann letzten Endes eine solche Festlegung Japans in der
Mandschurei recht sein, weil sie die chinesische Zentralmacht schwächt und die
Amerikaner von Kamschatka ablenkt.
Daß auch im Westen die russische Außenpolitik trotz aller inneren Schwierig¬
keiten keineswegs abzudanken beabsichtigt, geht nicht nur aus der energischen
Erklärung an Lettland, daß Rußland den geplanten Zusammenschluß der
baltischen Staaten als nasus dslli betrachten werde, sondern auch aus
jenem Geheimbundschreiben Tschitscherins an die russischen Vertreter im Ausland
hervor, das französische Zeitschriften veröffentlicht haben und das dem Inhalt
nach durchaus den Eindruck der Echtheit macht. „Unsere Vertreter", heißt es
darin, „müssen die nationalen Streitigkeiten verstärken. Führen andere Völker
Krieg, wird unsere Stellung besser. Auf Grund unserer offiziellen Beziehungen
in Bulgarien und Rumänien, unserer heimlichen in Griechenland, in der Gegend
von Konstantinopel, in Südslawien entwickelt sich die Lage erfolgreich. Aber es
besteht die Gefahr, daß die großen Mächte den Konflikt lokalisieren können....
Unsere Aufgabe ist es, die englisch-französischen und französisch-italienischen
Interessen in Gegensatz zu bringen, die Lage in Griechenland bietet dazu Ge¬
legenheit." Es zeigt sich also, daß Nußland die Lage genau übersieht. Die Ende
Mai erfolgten sehr unbestimmten Erklärungen Joffes dagegen: Oberschlesien
interessiert Rußland nur insoweit wie es einen europäischen Krieg herbeiführen
könnte, in dem Rußland nicht gleichgültig bleiben könne und: an der Lösung der
Wilnafrage werde sich Rußland nicht beteiligen, doch werde die russische Neutralität
nie so weit gehen, daß ihm gleichgültig sein könne, wer an dieser Stelle Nutz¬
lands Nachbar sei, die russische Regierung beharre auf dem vertragsmäßig festge¬
setzten Standpunkt, daß Litauen ohne Wilna undenkbar sei, werden mehr auf das
gewöhnliche Bedürfnis des Bluffs zurückzuführen sein. Einen Krieg gegen Polen
zu führen ist Rußland vorläufig nicht in der Lage, überhaupt muß gesagt werden,
daß die russischen Westpolitiker im allgemeinen schlechter arbeiten als die asiatischen.
Es hängt das wahrscheinlich damit zusammen, daß man in Asien die alten Sach¬
verständigen hat gewähren lassen können, während nach Europa hin aus inner¬
politischen Gründen das alte Personal nahezu vollständig hat ausgewechselt
werden müssen.
Ob im Innern die Bolschewisten noch lange am Nuder bleiben können,
darüber gehen die Meinungen der Sachverständigen stark auseinander. Halten sie
sich, so ist das nicht nur auf ihr System des Terrors zurückzuführen, sondern auch
auf den Umstand, daß sich trotz der Ungeduld der Emigranten niemand so leicht dazu
verstehen wird, ihre Erbschaft anzutreten. Wie trostlos die Lage ist, geht nicht
nur aus den sachlich durchaus aufrichtig gemeinten Konzessionen an den Klein¬
besitz hervor, den Lenin trotz seines an sich gerechtfertigten Mißtrauens gegen die
von ihm als anarchisch bezeichneten Einflüsse des kleinbürgerlichen Liberalismus
als einzigen Retter aus der Not zu bezeichnen sich nicht gescheut hat, sondern aus
dem ganzen Tenor jener merkwürdigen aus schwärzesten Pessimismus und starrem
Doktrinarismus, wirtschaftlichen Überlegungen und freimütiger Eingeständnissen
der beim Feldzug gegen Polen, bei der Demobilisierung, bei der Getreideverteilung.
Hei der Sozialisierung der Großindustrie und der Bürokratisierung des Verwaltungs-
systems gemischten Rede hervor, die Lenin im März auf dem 10. Kongreß der
kommunistischen Partei gehalten hat. Es ist schade, und allerdings auch bezeichnend,
daß die sehr lehrreiche Rede in Deutschland nur in ganz ungenügenden Auszügen
bekannt geworden ist. Sie ist leider zu lang, um hier vollständig abgedruckt zu
werden, der wichtigste Absatz aber, die Quintessenz sozusagen, möge (aus Jsvestia
vom 1V. März) diesen gedrängten Überblick abschließen: „Mittelst der Konzessionen,
die notwendig sind, weil wir unsere ruinierte Wirtschaft aus eigener Kraft, ohne
das Material und die technische Hülfe des Auslandes nicht wieder aufbauen
können, kann sich die proletarische Regierung ein Bündnis mit den entwickeltsten
kapitalistischen Staaten sichern und dadurch ihre Industrie, ohne die keine Ent¬
wicklung zum Kommunismus hin möglich ist, kräftigen. Gleichzeitig müssen wir,
während dieser Übergangsperiode, in einem Lande wo die Bauernklasse dominiert,
das Maximum besitzen um diese Klasse wirtschaftlich zu stärken. Wir müssen ihr die
Möglichkeit geben, ihre Erzeugung frei zu entwickeln. Unsere Revolution ist von
kapitalistischen Staaten umgeben. Solange wir in diesem Nbergangsstadium uns
befinden, müssen wir Formen suchen, die möglichst viele Beziehungen! erlauben.
Unter dem Druck des Krieges haben wir unsere Aufmerksamkeit nicht auf die
wirtschftlichen Beziehungen richten können, die zwischen der proletarischen Gewalt,
die eine in unerhörtem Maße ruinierte Großindustrie in Händen hält, und den
kleinen Bauern, die, solange sie als solche bestehen, ohne eine gewisse Bewegungs¬
freiheit nicht existieren können. Und da ist diese Frage gegenwärtig für die Sowjet¬
regierung auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet die wichtigste .... Man
muß bedenken, daß der proletarische Staat sich in einem im Großen erzeugenden
Lande leichter verwirklichen läßt, als in einem, wo die Kleinerzeugung vorherrscht."
Damit ist im Grunde alles gesagt. Nur ist die Frage, ob's Lenin gelingen wird,
diese Erkenntnisse gegen den Widerstand der reinen Doktrinäre, den der Nutznießer
des Umsturzes und unter der ständig drohenden, durch die herrschende Not ver¬
Ohne sich mit den parteipolitischer Folge-
rungen des Verfassers zu identifizieren, ver-
dienen seine statistischen Berechnungen vollste
Beachtung. In demi hier angezeigten Band
hat K. seine in der von ihm herausgegebenen
Korrespondenz veröffentlichten Aufsätze 1919/20
gesammelt.
Wendet sich an die „Neuen Armen", die
Proletaristerten Schichten des Mittelstandes
mit dein Zweck, ihren berufsständischen Zu-
sammenschluß zu fördern.
Institut für Weltwirtschaft und Seeverkehr
an der Universität Kiel. Bearbeitet von
or. MI. Paul Hermberg, Leiter der
statistischen Abteilung des Instituts. 1920.
XII, 136 S. Lexikonoktav. 25,— M.
Die Tabellen des Buches geben ein
zahlenmäßiges Bild des Kampfes, den im
Frieden Deutschland, England, Amerika und
Frankreich um den Weltmarkt führten. Nach¬
dem grundlegend die Zusammensetzung des
Handels der vier Konkurrenten dargestellt ist,
wird ihr prozentualer Anteil am Handel jedes
Landes der Welt in seiner Entwicklung in
den letzten Jahrzehnten vor dem Kriege klar-
gelegt, überraschend einheitliche Entwicklungs-
linier treten hervor,
Das Material zu den Tabellen mußte
aus den Handesstatistiken der einzelnen Länder
zusammengetragen werden, daher wurde eine
Darstellung der Methoden der Handclsftatistiken
der einzelnen Länder notwendig, da diese
keineswegs gleichartig, sondern nach den ver¬
schiedensten Grundsätzen aufgebaut sind. Diese
ist in den Anmerkungen gegeben.
Enthält außer Beiträgen, die den Lesern
der „Grenzboten" schon aus diesen bekannt
sind (Äußerungen von Friedrich Edler v. Braun
und Professor Fritz Kern), kürzere und längere
Aufsätze und Zuschriften auch von Ebert,
Fehrcnbach, Dernburg, kurz von sehr ver¬
schiedenartigen Männern; es ist nicht leicht zu
sagen, in welchem Sinne der Herausgeber sie
als „führend" zusammenfaßt. Der Heraus¬
geber selbst hat einen Überblick über Form
und Inhalt der auswärtigen Politik in fleißiger
Zusammenstellung gegeben in dem Werk über
„Auswärtige Politik" Ebendort 19S0, Geb.
13,— M.
Könnte den Ansichten nach etwa von
Dernburg stammen, doch ist kaum anzunehmen,
daß ein noch rüstiger Politiker diese Samm¬
lung abgestandener Gemeinplätze zum Druck
befördert habe.
Otto Becker macht nicht den Versuch, den
Parteimann zu verstecken. Er kämpft für
schwarz-rot-goldene Ideale, indem er die
Schäden des schwarz-weiß-roten Bismarck-
schen Reiches erörtert. Das, wie er meint,
durch Schuld des Kaisers und seiner Be¬
rater gescheiterte deutsche „Volk?kaisertum",
der allzupreußische Charakter Deutschlands,
das „Untertanenheer" statt eines Volksheeres,
die Ausschließung der parlamentarischen
Parteien von der Regierung, die unrichtige
Auslese der Führer, darin sieht die von
Reichsminister Koch und Staatssekretär
Tröltsch aus der Taufe gehobene Schrift
die Gründe unseres Zusammenbruchs, und
demgemäß sind Delbrück, Naumann, Erz-
berger, Bernstorff, Eclardtstein, die liberalen
bismarckfeindlichen Professoren der Konfükts-
zeit ihre Kronzeugen. Meint Becker wirklich,
daß an diesen Punkten die hauptsächlichen
Schwächen unseres politischen Systems liegen,
und glaubt er heute noch an das Besser¬
machen und Besserkönnen der Demokratie?!
Für uns Gegner des demokratischen Dogmas
ist die Schrift sehr lehrreich, freilich noch in
anderem Sinne als der Verfasser es meint.
Man sieht, wie ein kenntnisreicher, vielbe¬
lesener und ohne Zweifel vaterlandsliebender
Deutscher noch heute an einer überwältigenden
Fülle von Tatsachen vorüberzugehen vermag,
wenn ihn rauh und warm der unzerstörbare
Parteinebel umhüllt. Wer den unsterblichen
deutschen Doktrinär sucht, lese dieses Buch.
Niemals kann man durch so einseitige An¬
schuldigungen, auch wo sie an sich manches
Nichtige enthalten, aus dem negativen Zirkel
der Parteivorstellungen herauskommen. Wir
Rechtsstehende geben gerne zu, daß die
nationale Unfertigkeit unseres Volkes und die
Schwäche der Persönlichkeiten und Charaktere
in unserer nachbiSmarckschen Generation
auch die Seite der Preußischen monarchi¬
schen, obrigkeitlichen Kräfte betraf. Aber
daß an der inneren Zwietracht, der inter¬
nationalen Wahnseligkeit, der klassenverhetzlen
Opposition der Massen und der feigen Lau¬
heit deS Bürgertums, also an den doch wesent¬
lichsten Faktoren unseres Unglücks die Linke
weit stärkere. Schuld trägt, kann nicht be¬
zweifelt werden. Wozu also diese beschuldi¬
genden Rückblicke eines Demokraten? Ist eS
Rechthaberei und Parteimache, nun gut.
Einem so ehrlichen und anständigen Gegner
wie Becker aber kann man nur zurufen:
Schaue nur vorwärts, nicht zurück, und
wähle dir Weggenossen für die Zukunft,
nicht für die Vergangenheit!
, Der bekannte Freund und doch auch
Kritiker Deutschlands, eine der besten Federn
des heutigen Dänemarks, sammelt in diesem
Bande Kriegsessays, die neben denen des
Schweden Kjellen nachdenklicher Beachtung
sicher sind und das gesunkene deutsche Selbst¬
gefühl stärken.
Es tut weh, von einem Straßburger
Verlag das deutschfeindliche Werk eines
Franzosen verlegt zu bekommen, das schwarz¬
rot-goldene Wappenschild „unserer" Republik
auf dem Titel. Got will die schaffenden
Kräfte im heutigen Deutschland schildern,
bleibt aber sehr im Vordergrund der Dinge
hängen.
Der Verfasser, Studicnrat in Potsdam,
versteht es, in knappster Form das für Ver¬
fassung, Geschichte und Zweck unserer öffent¬
lichen Einrichtungen seiner Ansicht nach
wichtigste Tatsachenmaterial zusammenzustellen.
Man fragt sich indes, was soll ein jugend¬
liches Gemüt mit diesen entfärbten Tatsachen
anfangen, in deren Nebeneinander sich die
ganze Unmöglichkeit abspiegelt, gleichzeitig ge¬
schichtlich und „verfassungstreu" im Sinne der
jetzigen Parlamentsmehrheit zu denken. Auch
gelingt es Karia bei allem anerkennenswerten
Bemühen nicht, wirklich ein farbloses Neutrum
zu sein. Soll es z. B. jedem Schulkind zum
unen Dogma werden: „Die Aufgabe Deutsch¬
lands muß es sein, den Zutritt zu diesen:
Völkerbünde für sich und seine ehemaligen
Verbündeten zu erlangen, um dann an der
gesetzmäßigen Umgestaltung des Bundes mit¬
zuwirken. Das politische Ziel wird dabei
sein müssen, mit der Hilfe der ehemaligen
neutralen und kleineren Staaten das allzu (!)
große Übergewicht der Mächte der Entente zu
mildern und ein möglichst (!) gleiches Recht
für alle zu erkämpfen" (S. 73). Hoffen und
harren macht das Schulkind zum Narren.
Grausamer haben wir nie die Stimme der
Geschichte gehört, als in dem Schulbuchsatz
(S. 24): „Der Weltkrieg führte zur Auf¬
lösung des deutschen Heeres und zur Aus¬
lieferung der deutschen Flotte an England
(Irrtum: zu ihrer Selbstversenkung in Scava
Flow!). DaS französische Heer und die eng¬
lische Flotte werden für die Sicherung des
Festlandes und der Meere als unentbehrlich
angesehen und können daher vorläufig (!)
nicht, wie die Völkcrbundsakte es vorsieht,
auf den gleichen Stand mit den übrigen
Staaten des Bundes (!) herabgesetzt werden."
Das Ende Deutschlands liegt nicht im
verlorenen Krieg, sondern es würde gekommen
sein, wenn solche Schulweisheit die Köpfe
einnähme. Wir behaupten nicht, daß Herr
Karia die Ansichten, die er predigt, selber
teilt. Wir können ihm so wenig — und
so viel nicht zutrauen. Aber wir ver¬
kennen nicht, daß die Maximen des ihm
vorgesetzten Unterrichtsministeriums sich von
denen der Franzosen nach 1870 unter¬
scheiden. „Die staatsbürgerliche Erziehung ist
unvollständig und untreu," sagt der Nannsl
x6n6rat, „wenn sie die Kinder nicht mit der
Achtung vor dem nationalen Ruhm erfüllt,
wenn sie die schreckenerregende Lehre unseres
verletzten Rechtes, des verratenen Heimat¬
bodens und des verstümmelten Frankreichs unter¬
drückt." Wieviel mehr Grund hätten wir ...
jedoch „vorläufig" ist wohl auch nur der
französische Patriotismus „zur Sicherung
des Festlandes unentbehrlich"?
Wie Gentz zu M-tternich, wie Clausewitz
zu Scharnhorst, wie Arndt zu Stein, so ver¬
hält sich der Fedcrbeamte Riezler zum Reichs¬
kanzler Vethmann-Hollweg. Damit soll natür¬
lich über die absolute Größe nichts präju-
diziert werden. Manche behaupten, der
geschichtliche Einfluß Niezlers überrage seinen
Stellt der unechten Demokratie, die wir
haben, die geforderte echte Volksgemeinschaft
gegenüber.
Dienstgrad, da der theoretisierende Praktiker
Bethmann dem praktizierenden Theoretiker
Riezler einen größeren Spielraum gelassen
habe. Jedenfalls erklärt dieses geschichtliche
Verhältnis das immer noch starke Interesse an
den vor dem Kriege zuerst erschienenen „Grlmd-
zügcn" des schöngeistigen philosophischen Poli¬
tikers, der ein Schwiegersohn des Malers
Liebcrmann ist. Riezler, der jetzt das durch¬
sichtig gewordene Pseudonym ohne Schaden
fallen lassen könnte, hat klugerweise an dem
Text von 1913 nichts geändert. Er hat ihm
aber ein Nachwort vom Sommer 1920 gegeben,
das mit den Vorzügen seines glänzenden Aus¬
drucksvermögens ein sprechendes Bild von der
hoffnungslosen Verwirrung Europas infolge
des Ententesieges entwirft. Eine „kleine Hoff¬
nung" sieht er noch, — England. Heute nach der
Konferenz von London, würde auch dieser übcr-
zeugtesteAnglophile diese Hoffnung Wohl schlicht
begraben und nach dem Verschwinden der deut¬
schen Macht für sein geliebtes Europa kein
Trostgcstirn am Horizont mehr erblicken. Das
Nachwort ist unter dem Titel:
Verteidigt eine abwartende deutsche Wirt¬
schaftspolitik und verwirft die Beschleunigung
der deutsch russischen Handelsbeziehungen, ohne
indes überzeugend zu wirken.
Ein gescheites Buch, das den Durchschnitt
unserer so angeschwollenen politischen Literatur
beträchtlich überragt. Der selbst über den
Parteien stehende Verfasser gibt jedem Leser,
der die psychologische Struktur von Parteien
und Parteipolitik verstehen will, eine Fülle
feiner Beobachtungen in klarer und gefälliger
Sprache.
Sollte von jedem, der sich geistig oder
parteipolitisch mit der Sozialdemokratie aus¬
einanderzusetzen hat, beachtet werden.
Die schwerflüssige, unanschauliche Sprache
und die Abneigung gegen klare Entschei¬
dungen lassen den Verfasser sein Ziel ver¬
fehlen, das Verhältnis der doktrinären
Parteiutopie zu den Wirklichkeiten der Welt¬
politik aufzuzeigen.
Geeignet zu gedrängter Orientierung über
die theoretischen Grundlagen des vielum¬
strittenen Politischen Schlagwortes. Auch um
den praktischen Einsührungsversuchen war
der Verfasser als Mitglied österreichischer
Kommissionen beteiligt.
Eine Nation kann nur ertragen, was
aus ihrem Kern, aus ihrem eigenen
Bedürfnis hervorgegangen ist.
Rücksendung von Manuskripten erfolgt nur gegen beigefügtes Rückporto.
Nachdruck sämtlicher Aufsätze ist nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlages gestattet.
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Der Deutsche OKmarkeu - Verein
ist am 8. November 1894 auf Veranlassung des Fürsten Bismarck zur Kräftigung und Sammlung
des Deutschtums in der mit polnischer Bevölkerung durchsetzten Ostmark gegründet worden. Er ist ein
aroher nationaler Volksverein, der keiner Partei, keiner einzelnen Bevölkerungs¬
klasse, keiner bestimmten Glaubensgemeinschaft dienstbar sein, sondern einzig und
allein die Gefahr des polnischen Ansturms von unserem Volkstum abwenden
will. Ihn bei der Errichtung dieser Ziels zu unterstützen, ist Pflicht jedes Deutschen.
D-r Mind-Myresbeitrag b-trSgt q ^ bei kostenlosem Bezug der Nercinsschrift „Die Ostmark", Anmeldung-» zum
Beitritt find zu richten an die
HauptgefchüftLstelle, Berlin W 62, Vayreuther Straße 13
—8—8 8
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Aus thüringer Vorzeit
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Edmund von lvecus
Deutsche Vornamen u. ihre Deutung
Preis s Mark
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Du deutsches Volk
preis gebunden 6 Mark
Gnril Tetzlaff
Bergpredigt und Cddalehre
preis z,so Mark
Professor F. Heimle
Das Werden u. vergehen der Völker
preis s Mark
Demnächst erscheinen folgende Werke
Sr. Holzhausen: „Das tausendjährige Reich". Dr. Kugo
Lach: „CrKenne dich selbst". Dr. H>, Nähert: „Das deutsche
Volk, sein Sprachgebiet in Europa und seine Sprache"
und „Die Kultur der germanischen Stämme bis zum
Crde des LranKcnreiches der Merowinger", G. Tetzlaff:
„vom Märchen zum Evangelium".
5is-verlag in Zeitz-Gr.
MostsrhorK L336S FSsizrzigüber
nationale
Literatur
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VeMg. - Leipzig
Die Halbmonatsschrift „Biicher-
post" unterrichtet über die Neu¬
erscheinungen des deutschen
Buchhandels aus allen Wissens¬
gebieten u. der Unterhaltungs¬
literatur. Vierteljährlich M,S,SO.
Probenummern sendet die Ge¬
schäftsstelle der„Bttcherpost", Frank¬
furt a. M., Niddastraße 74, postfrei
und umsonst.
Die Rechtslage der Ostxrovinzen
nach sein Frieöensvertrage
Line «ZZuellensammlung
Herausgegeben im Auftrage der Deutschen Vereinigung in Bromberg
von Carl Georg Bruns
Preis q,KO Mark.
R. F. Roehler, Abteilung Grenzboten, Leipzig und Berlin
er Reichskanzler Wirth und seine Ministerkollegen scheinen bei den
Regierungen der Entente doch nicht so beliebt zu sein, wie sie uns
glauben machen wollten. Es sagete nach wie vor Erpressernoten
und deutsche Vorstellungen bleiben unbeantwortet, während man
doch annehmen müßte, daß unsere Feinde Männern gegenüber,
denen sie wohlgesinnt sind, etwas mehr Takt und Höflichkeit an den Tag legen
würden. Dagegen scheint der General Höfer, eine einfache, schlichte Soldaten¬
natur mit deutschem Willen und deutschem Empfinden, sich der Entente gegenüber
eine achtunggebietende Stellung errungen zu haben. Mit ihm verhandelt man,
genau wie man mit dem alten kaiserlichen Deutschland nach Abschluß des Waffen¬
stillstandes verhandelt hätte. Es zeigt sich eben, daß man überall in der Welt,
sei es Feind oder Freund, doch Bekennermut und nationales Selbstgefühl höher
einschätzt als unterwürfiges Gehorchen und Ducker. Unser heutiges Regierungs¬
verfahren erinnert an die in Offizierskreisen des alten Heeres für gewisse Per¬
sönlichkeiten übliche Bezeichnung „militärischer Radfahrer". Man verstand
darunter solche Vorgesetzte, die nach oben den Rücken krumm machen und nach
unten mit den Füßen treten. Oben ist in diesem Falle die Entente, unten das
national denkende und fühlende Volk. Wie weit man mit diesem System des
„militärischen Radfahrers" kommt, zeigt der Besuch Rathenaus in Wiesbaden.
Während dieser, ursprünglich zu den „Neinsagern gehörend, sich jetzt zu der An¬
sicht bekennt, daß man die Forderungen des Ultimatums nicht nur erfüllen müsse,
sondern auch könne, und während die deutsche Presse gewisser Richtungen das
Ergebnis seiner Unterredungen mit Loucheur als günstig bezeichnet, läßt letzterer
in etwas verschleierter Form durch die französische Presse verbreiten, daß mit
Rathenau schwer zu verhandeln sei, da er immer wieder geneigt sei, das euro¬
päische Wirtschaftsproblem in den Mittelpunkt der Erörterungen zu stellen, anstatt
zu bedenken, daß es sich doch zunächst einmal um Deutschland und Frankreich
handele. Zudem scheint dieser unmittelbare Verkehr Rathenau-Loucheur im jetzigen
Augenblicke nicht gerade wohltuend auf Englands Haltung in der oberschlesischen
Frage gewirkt zu haben.
Mit dem Auftreten Rathsnaus in Wiesbaden ist eigentlich die ganze Denkart
der in maßgebenden Kreisen herrschenden Männer gekennzeichnet. Vor einigen
Monaten stand einmal in den „Grenzboten" zu lesen, daß es eine zum mindesten
irrtümliche Auffassung sei, wenn man die wirtschaftlichen Fragen so sehr in den
Vordergrund stellt. Es wurde da der Vergleich gezogen mit einem Hausbau auf
morastigen Untergrund. Dort beginnt man mit dem Bau erst dann, wenn man
in den faulen Boden Pfähle oder. Betonblocks eingesetzt hat. Das deutsche
Volk lebt zurzeit immer noch auf einem Sumpf, und bevor dieser nicht entwässert
und durch Schaffung eines festen Grundes haltbar gemacht ist, ist jeder Versuch
des Aufbaues einer lohnenden und Früchte tragenden Wirtschaft hinfällig. Der
feste Grund, den wir brauchen, ist eine nationale Geschlossenheit, eine Volks¬
gemeinschaft im weitesten Sinne. Engländer und Franzosen lassen mit vollem
Bewußtsein Wirtschaft Wirtschaft sein und schaffen zunächst ein Fundament. Sie
wollen Macht und wissen, daß, wer erst einmal über Macht gebietet, auf dieser
Macht seine Wirtschaft aufbauen und die in der Vorbereitungszeit erlittenen ma¬
teriellen Verluste sehr schnell wieder wett machen kann.
Macht ist durchaus nicht gleichbedeutend mit 600000 Soldaten; Macht ist
zunächst einmal Wille. Und daß der Wille Berge versetzt, hat uns Höfer in Ober¬
schlesien, haben uns die Deutschen in Südwestafrika erst kürzlich gezeigt. Nachdem
man sich dort weder mit Lewis, dem Vertreter des unionistischen Unterrichts¬
minister, noch mit Hofmeyer, dem Administrator und Gouverneur, in der Schul¬
frage einigen konnte, schritt man zur Tat. Dem Verlangen der Kapregienmg,
in den Schulen von einer bestimmten Stufe an die deutsche Muttersprache als
Unterrichtssprache verschwinden zu lassen und als Fremdsprache zu bezeichnen,
begegnete der Deutsche Landesschulverbcmd mit dem einstimmigen Beschluß, dann
eben auf die Regierungsschulen zu verzichten, und die deutschen Schulen wie
bisher als Privatschulen weiterzuführen. Das erfordert von den zurzeit recht
schlecht gestellten Deutschen in Südwestafrika, wie in einem der nächsten Heft^
der „Grenzboten" zu lesen sein wird, große Opferwilligkeit. Die Erhaltung der
Privatschulen kostet viel Geld, aber man ist bereit, die Opfer zu bringen, um
den Kindern die Erziehung zu geben, die zur Erhaltung des Deutschtums nötig
ist. Dort droht der Feind nicht, dort ist er im Lande und regiert, und es ging
doch, weil ein Wille herrschte. Wie wäre wohl die Besetzung des Ruhrgebiets aus¬
gefallen, wenn man nach Paris gedrahtet hätte: „Aus allen Gebieten, die ihr besetzen
wollt, ziehen wir die öffentlichen und technischen Beamten und Angestellten zurück?"
Ein solch' entschlossener Wille zur nationalen Selbständigkeit muß uns
kommen, bevor uns Heil gebracht wird. Nun befinden sich gewiß auch diejenigen
Kreise unseres Volkes, die die heutige Regierungsweise für die einzig mögliche
halten, in dem guten Glauben, daß sie national handeln. Auch sie streben nach
einer Volksgemeinschaft, und der Reichskanzler hat ja des öfteren betont, daß er
eine Verbreiterung der Regierungsbasis anstrebe. Aber er und seine Gefolgschaft
gehen einen falschen Weg. Sie wollen die Regierung auf parteitaktischem Wege
verbreitern und übersehen vollkommen, daß alle Parteien sich derartig in — für
das Gesamtwohl eine untergeordnete Bedeutung spielende — Grundsätze verrannt
haben, daß auf dem Wege des Kompromisses nur eine Kleisterarbeit entstehen
kann. Eine der Not der Zeit und dem Wohle der Zukunft entsprechende Parole
aber „Nationale Volksgemeinschaft" kann (oder will?) der oberste Beamte des
Reiches nicht ausgeben: einmal aus Angst vor der Entente, der zu Willen zu
sein, er sich entschlossen zu haben scheint, und dann aus Furcht vor den Führern
von Parteien, die die Partei über das Vaterland stellen. Die Arbeiterschaft
Deutschlands würde einer solchen Parole in ihrer großen Mehrzahl Gehör schenken
und sie würde ihre Führer zwingen, dieser Parole zu folgen. Die mannhaften
Aussagen von Arbeitern im Hölz-Prozeß und der mißglückte Generalstreik in
München beweisen, daß dem einzelnen Arbeiter Wohl und Wehe des deutschen
Vaterlandes weit wichtiger sind als internationale Verbrüderungskongresse.
Parteien gibt es eigentlich nur im Reichstage; im Volke gibt es — wenn
man die aus dem Rahmen der deutschen Volksgemeinschaft völlig herausfallenden
Fremdlinge und Betörten außer Betracht läßt — eigentlich nur noch, wie Dr.'
Stadler im „Gewissen" vom 11. Juni sagt, zwei Fronten. „Die zwei Fronten",
sagt er da*), „um die eS sich handelt, lassen sich durch keinerlei Koalition der
Mitte mehr verschleiern. Es ist die Front des deutschen Widerstandes gegenüber
der Entente einerseits, die Front der sklavischen Hingabe an die Entente anderer¬
seits. Hier die Konjunkturfront, die sich der Fallbewegung der deutschen Er¬
schöpfungsrevolution anschließt. Dort die Willensfront, die sich der deutschen
Erneuerungs- und Aufstiegsbewegung langsam entringt."
Das erkennen aber nicht oder wollen nicht erkennen Männer vom Schlage
eines Wirth und eines Rathenau. Es unterliegt keinem Zweifel, daß es erheblich
leichter und bequemer ist, sklavische Erfüllung als Motto eines Regierungs¬
programms zu wählen, als in passiver Resistenz eine deutsche Volksgemeinschaft
zu schaffen. Für die erstere Aufgabe genügen mittelmäßige Naturen mit guter
Handschrift und mathematischen Kenntnissen, für die letztere Aufgabe sind große,
eigene Ideen, staatsmännisches Können und diplomatisches Geschick erforderlich.
Das lernt man nicht im Dienste einer Partei, dazu bedarf es jahrelanger Eigm-
arbeit und Schulung.
Wir Deutschen leben in einer so bitter ernsten Zeit, daß wir uns den
Luxus von Staatsmänner-Stellvertretern nicht leisten können, wir brauchen ent¬
schlossene, willensstarke und mutige Männer, die bereit sind für eine Idee, für
eine deutsche Volksgemeinschaft zu kämpfen.
Wirtschaftliche Fragen allein scheinen unser Dasein auszufüllen, Die
bange Erwartung über Erfolg oder Mißlingen der tatkräftig durch¬
geführten Maßnahmen der Entente an den Grenzen des „alten"
und neubesetzten Gebietes lastet auf dem täglichen Leben des Ein¬
zelnen wie der Gesamtheit. Aus der Zoll Verwaltung, die
Frankreich nach dem Wortlaut der „Sanktionen" dem deutschen Reich aus den
Händen nahm, droht ein Zoll Staat zu erwachsen, seitdem allen Behörden, die
in Polizei- und Finanzfragen bislang Teile des unbesetzten Deutschland mit¬
betrauten, das Verbot zuging, ihre Amtsführung über die Grenzen des von den
neuen Zollstaaten begrenzten Landes auszudehnen; Eingriffe in die innerste Ver¬
waltung und der staatlichen Hoheit des Reiches, die in der Öffentlichkeit kaum
oder gar nicht erwähnt werden.
Um so stärker aber ist, das darf hier vor allem betont werden, heute der
Widerstand gegen die zweite große Bewegung erwacht, die Frankreich vor mehr-
als zwei Jahren gegen das besetzte Gebiet einleitete. So ruhmredig es auch
klingt: hier kann man heute bereits von einem Kampf der Geister, von einem
neuen, ganz eigenartigen „Kulturkampf" reden, in dem die Union des granäes
associations irancaisss den Vorteil der unbeschränkten Mittel, die deutsche Bil¬
dung den Vorteil der wurzelechten Eigenart besitzt. Auf alle Fälle aber darf
man auch hier nicht an ein Zurückweichen der Pariser Machthaber denken.
Der französische Propagandadienst im Auslande, so teilte kürzlich wieder
die amtliche Pariser Presse mit, soll auch während des Friedens beibehalten
werden, sogar demnächst einen allgemeinen Oberkommissar für die französische
Expansion erhalten. Die großartige Buchpropaganda, die bereits während des
Krieges den deutschen Absatz und damit auch die deutsche Kultur überall zurück¬
drängte, macht weitere Fortschritte und wird, wie immer wieder betont werden
muß, durch unseren Auslandszuschlag aufs stärkste gefördert. Kulturelle und
wirtschaftliche Ausbreitung arbeiten hier Hand in Hand, wie sich das ganz
besonders deutlich aus dem kleineren Raume des Saargebiets zeigt. Dr. Pierre
Bücher, im weiland deutschen Kaiserreich der amtlich umschmeichelte Brunnen¬
vergifter der öffentlichen Meinung im Elsaß, verkündete jüngst öffentlich die
ganze Fülle der französischen Pläne, die Schritt für Schritt das Land des Völker¬
bundes zum untrennbaren Bestandteil der französischen Republik zu machen streben.
Das Saargebiet und Lothringen — hieß eS da — bildeten unstreitbar eine
Einheit. Elsaß-Lothringen sei nur lebensfähig, wenn das Saargebiet zu ihm
gehöre. Durch das Mittel der Kohlenverteilung und Festsetzung des Kohlenpreises
sei es Frankreich gelungen, innerhalb eines Jahres den größten Teil der Saar¬
industrie in französische Hände zu bringen. Als Herren der Industrie würden
die Franzosen nach und nach auch in den Handel eindringen. Die Gründung
der französisch-saarländischen Handelskammer sei ein Beweis dafür. Das Zoll¬
system müsse in politischem, nicht nur fiskalischen Interesse ausgebaut werden.
Bucher hofft, daß in etwa vier Jahren die Zollunion mit Frankreich durch die
einheitliche Geldgewährung ergänzt würde. Die Saarregierung habe die Inder-
essen Frankreichs im Saargebiet wohl begriffen, eine französische Grubenkontrolle
geschaffen und der französischen Republik die Vertretung des Saargebiets dem
Ausland gegenüber anvertraut. Die französische Saarpolitik müsse in Einklang
gebracht werden mit der französischen Rheinlandpolitik. Für die Abstimmung in
vierzehn Jahren müsse jetzt schon eine methodische Propaganda einsetzen. Bucher
gibt dabei der französischen Saarpolitik den Vorzug und stellt sie der Rheinland¬
politik als Muster hin. Die französischen Truppen seien zwar keine Besetzungs-
truppen, doch hätte Frankreich unter ihrem Schutz im Saargebiet weit größere
und einträglichere Rechte als zum Beispiel in Mainz oder Speyer. Frankreich
besitze die Saargruben, sei Herrin der Zölle, und französische Industrielle be¬
herrschten die Industrie. Genau so müsse Frankreich im Rheinlande handeln,
wenn Deutschland seine Verpflichtungen nicht erfüllen wollte.
In der Tat streichen immer wieder die Vorhuttruppen dieser französischen
Aufmarscharmee über die Grenzen des Saargebiets weit hinein in das alte und
das neubesetzte Gebiet. Vor drei Monaten schon verfügte der französische Bezirks¬
delegierte der Pfalz, daß die Kinder ehemaliger deutscher Reichsangehöriger, die
nach dem Friedensvertrag die französische Staatsangehörigkeit erworben hätten,
aus den deutschen Volksschulen zu entlassen und den von den französischen Be¬
satzungsbehörden eingerichteten französischen Elementarschulen zuzuweisen seien.
Im französischen Gymnasium zu Mainz konnte wiederum ein höherer Freikursus
der französischen Sprache eröffnet werden, zu dem insbesondere Damen und
Herren der entsprechenden Vorbildung, zum Beispiel Arzte, Juristen, Ingenieure,
Lehrerschaft, Industrielle und so weiter eingeladen wurden. In den gleichen
Rahmen fallen die bekannten Vortragskurse, die bald die französischen Kolonien,
bald allgemeine Kulturfragen behandeln, immer aber durch Vorführung trefflicher
Lichtbilder und gediegener Musik einen weiten Hörerkreis zu fesseln Wissen. Die
Kunstreise des Pariser Historikers Funck-Brentano, dem dann sein Oheim Lujo
Brentano eine wohlverdiente Absage erteilte, ist nur ein einzelnes Beispiel. Zu¬
sammenfassend lockt immer wieder die Ksvue rliinaine in Mainz, das doppel¬
sprachige Organ der französischen Kolonie, unter dem harmlosen Untertitel:
Rheinische Blätter, auch die weltbürgerlichen, kunstbegeisterten Kreise unserer
sogenannten Gebildeten an. In glänzender Aufmachung versteht sie es mit be¬
neidenswert guten Bildern nicht nur bekannte französische Literaten, sondern auch
„deutsche" Künstler und Poeten zur Mitarbeit heranzuziehen. Die Verknüpfung
französischer und deutscher Kultur am Rhein nennt sie ihre vornehmste Aufgabe
und gibt sich damit selbst als Nachfolgerin der Illustrierten Elsässischen Rundschau,
die einst vor einem halben Menschenalter langsam und stetig zur lievue ^Isa-
cierme illustres herabsank und einen großen Kreis unselbständiger, literarischer
und künstlerischer Freunde zum französischen Kulturkreis hinüberzog. Ganz im
Sinne dieser Gedanken setzt denn auch die neue Kevue rliinainö die Auffrischung
längst vergessener französischer Herrschaft im Rheinland an erste Stelle. Ein
ganz vortrefflich gelungenes Maiheft war dem Andenken Napoleons I. ge¬
widmet, dessen hundertjähriger Todestag dann auch die französische Besatzungs.
armee allenthalben an beiden Ufern des deutschen Rheins feierlich mit militärischem
und heimatlichen Gepränge beging, wie überhaupt die „Wiedererweckung der
glorreichen Vergangenheit der Rheinlande" in den Jahren 1792/1814 eine große
Rolle spielt. Unter der besonderen Fürsorge des französischen OberkommissarS haben
zu dem Zweck bereits bedeutende Pariser Historiker in rheinischen Archiven gear¬
beitet und versprechen für die allernächste Zeit schon die Herausgabe von Quellen
zur Geschichte der Rheinlande.
Wie bislang bereits die französische Kunst mit Recht als ein sehr wirkungs¬
volles Werbemittel gerade in unseren „gebildeten" Kreisen gilt, soll diese Propa¬
ganda gefördert und ausgebaut werden. Der Gedanke an eine große französische
Kunstausstellung im Mittelpunkt des französischen Brückenkopfes scheint der Durch¬
führung nahe, wenn auch ihre Eröffnung noch nicht, wie es anfangs hieß, in
den ersten Junitagen erfolgen konnte. Von der Großherzogin von Luxemburg ist
bereitwillig das alte nassauische Schloß zu Biebrich zur Verfügung gestellt worden;
das Protektorat hat der französische Oberkommissar selbst übernommen. Das
große Interesse im Inlands zeigt die Absicht der Stadt Paris, einen eigenen
Pavillon in diesem größeren Rahmen einzurichten. Literarische und wissenschaft¬
liche Vorträge, musikalische Darbietungen sowie Sportveranstaltungen sollen der
Ausstellung einen größeren Reiz auch für fremde Besucher geben. Allein für
Pferderennen hat der Koblenzer Oberkommissar dem Rennausschutz der Rhein¬
armee 25 000 Franken zur Verfügung gestellt. Während der Ausgang der
augenblicklichen Wirtschaftskrisis gerade im Rheinlande noch ganz ungewiß bleibt,
sucht so die französische Kulturpropaganda auch ihrerseits Schritt für Schritt
Boden zu gewinnen. Ob sie Erfolg haben wird und ob die deutsche Bildung in
ihrer Gesamtheit ihrerseits die nötige Widerstandskraft zeigen wird, das dürfen
wir hier nur von ganzen Herzen hoffen und wünschen. In der neuen Kölner
Zeitschrift „Die Westwarte", die seit dem 1. Januar 1921 als ausgesprochene
Verteidigerin der deutschen Vergangenheit, Wirtschaft und Kultur des Rheinlandes
von einer stattlichen Zahl bekannter Düsseldorfer, Kölner und Barmer Persönlich¬
keiten herausgegeben wird, zeigt sich vor allem der ernste Wille zum Leben. Der
programmatische Aufsatz über „die geschichtliche Einheit des Rheintales", den der
Düsseldorfer Historiker Paul Wentzcke im Januarheft voranstellte, beweist das
vielleicht am besten.
Auf alle Fälle wächst das Verständnis für die Wichtigkeit auch dieser Ab¬
wehr eben mit der Durchführung der Zollmatznahmen, die auch dem gleichgültigsten
Rheinländer langsam die Zusammenhänge in diesem großen Kampf der
Wirtschaft und der Geister allzu deutlich vor Augen führen.
WM
MßGjs steht heute nicht zur Wahl, ob die Staatsvernunft eine berufs¬
ständische Vertretung schaffen soll oder nicht und, gegebenenfalls,
nicht, in welcher Form dies am besten geschieht, sondern es handelt
sich einfach darum, festzustellen, in welcher politischen Entwicklung
sich Deutschland zurzeit befindet und wie sie realpolitisch zum
Besten unseres Volkes beeinflußt werden kann.
Die Nachkriegszeit ist ein Ringen um unsere staatliche Form, gekennzeichnet
vor allem dadurch, daß der Stern deS Parlamentarismus bereits wieder im Ver¬
blassen ist. Selbst nach Walter Rathenau haben wir die Parlamentarsche Demo¬
kratie als Staatsform zu einer Zeit erhalten, wo sie innerlich schon überholt
war. Das ist nicht unrichtig. Der Parlamentarismus hat seine Aufgabe im
wesentlichen erfüllt. Sie bestand, ausgehend von den Idealen der französischen
Revolution, in der Hauptsache darin, eine ideelle Gleichberechtigung aller
Staatsbürger herbeizuführen. Nachdem diese Entwicklung erreicht und teilweise
in ihr Gegenteil umgeschlagen ist, nachdem anstatt der Gleichstellung, die Bevor,
zugung. ja die ausgesprochene Herrschaft der Arbeiterklassen als „Diktatur des
Proletariats" gefordert und durchzuführen versucht wird, kann an der Festhaltung
der ideellen Gleichberechtigung kaum noch ein Zweifel bestehen. Nun tritt ein
neuer Faktor auf den Plan: Das Bestreben der Arbeiterschaft nach tätiger An¬
teilnahme an dem Staate in anderer Weise, nachdem sie erkannt hat, daß diese
ideelle Gleichstellung ihr den gewünschten starken, ihre materiellen Interessen
sichernden Einfluß nicht zu geben vermag. Damit geht Hand in Hand die an
Marx anknüpfende strenge Kritik des Parlamentarismus, als einer mittelbaren
Herrschaft des Kapitalismus. Gerade diese Kritik hat ihn vielleicht am stärksten
unterhöhlt. Gleichzeitig aber macht sich gegenüber dem Parlamentarismus das
Bestreben geltend, stärkere Staatsgewalten zu schaffen, als er sie zu bieten vermag.
Die Persönlichkeiten Clsmenceaus, Lloyd Georges und Wilsons im Kriege, die
Millerands, der die Stellung des Präsidenten der Republik verfassungsmäßig
stärken will, und Lenins, so verschieden sie im einzelnen sein mögen, sind überall
ein Beweis dafür, daß wiederum starke Staatsgewalten für nötig gehalten werden,
nicht nur wegen der äußeren Politik in Sturm- und Kriegszeiten, sondern auch
wegen der Komplizierung aller innerstaatlichen Probleme durch den Sozialismus
und die Arbeiterfragen, ja darüber hinaus ganz allgemein durch die Fragen
großer, die Macht des Staates einschränkender Organisationsbildungen, gerade
auch auf kapitalistischen Gebiet. Am einfachsten muß sich dieser Konflikt da
lösen, wo der Parlamentarismus, wie in England, stets selbst eine starke, aber
in sich beschränkte Staatsgewalt zu erzeugen vermochte, am schwierigsten da, wo.
wie in Deutschland, dies nicht der Fall gewesen ist, wo die Staatsgewalt alles,
auch die Wirtschaft durchzog und dadurch immer schwächer wurde.
Man soll dem deutschen Parlamentarismus keinen besonderen Vorwurf
machen. Er konnte nichts anderes werden, als was er nach der Ungeeignetheit
seines Systems für unseren Volkscharakter werden mußte: ein Element, nicht des
nationalen Aufbaues, sondern der nationalen Zersetzung. Die Erbfehler und
Schwächen des deutschen Volkscharakters haben durch den Parlamentarismus bei
uns einen überaus günstigen Nährboden erhalten. Der deutsche Volkscharakter
leidet insoweit vor allem an zwei Übeln: einmal an der aus dem leidigen
Eigensinn, der Schattenseite des Charakters, entspringenden Eigenbrödelei, die
zersplitternd durch die ganze deutsche Geschichte gewirkt hat, und zum andern an
der Kritiklosigkeit, mit der selbst vom Gros der Gebildeten „in deutscher Treue"
einmal erwählten Führern Gefolgschaft geleistet wird, und die die überaus traurige
Kehrseite hat, beim Führer selbst wieder falsche Selbsteinschätzung hervorzurufen.
Beides hat das von Herrfahrdt^) hervorgehobene Ausspielen einer Volksklasse gegen
die andere besonders erleichtert, und hierzu ist noch getreten das unserem
Idealismus entsprechende Arbeiten mit unkontrollierbaren Zukunftsidealm. Der
Parlamentarismus hat die fehlerhaften Anlagen unseres Volkscharakters geradezu
hochgezüchtet. Ein politisches System, das den Fehlern des Volkscharakters ent¬
gegenkommt, kann aber unmöglich auf die Dauer zum Segen eines Volkes aus¬
schlagen. Schließt man daraus auf eine Berechtigung für seine Abwandlung
durch den berufsständischen Gedanken, so muß man aber realpolitisch berück¬
sichtigen, daß sich diese innerhalb des geltenden Systems kaum wird erreichen
lassen. Ein politisches System, das in sich so geschlossen ist, wie der Parla¬
mentarismus, kann sich nicht aus sich selbst heraus umwandeln. Tut es das, so
vernichtet es sich. So wenig staatsmännischen Blick wir stets noch bei allen
Parteien feststellen mußten, wo es sich um die Belange der Allgemeinheit handelt,
soviel instinktives Gefühl für die Behauptung ihrer eigenen Stellung haben sie
immer bewiesen. Und insoweit werden sie auch in dieser Frage unfruchtbar
bleiben. Wie der Reichstag seit 1371 in großen nationalen Fragen nie initiativ,
selten aufbauend, meist aber zersetzend gewirkt hat, wie er insbesondere den
nationalen Wiederaufbau nach dem verlorenen Kriege nie fertig bekommen wird,
weil jede Partei es nach ihrer Fasson machen will, so wird auch der Parla¬
mentarismus bei uns nie imstande sein, die große politische Führung zu über-
nehmen und sich selbst zu überwinden. Er wird immer nur der Parlamentarismus
der unfähigen und tatenlosen Mitte sein, nie aber, wie in England, der Träger
eines starken nationalen Gesamtwillens. Es ist dies ja auch gerade die Absicht
seiner politischen Förderer, nur keine Aktivität im politischen Leben, weder nach
innen noch nach außen, um so auf dem Rücken der mit den Schlagworten des
freiesten und demokratischsten Staatswesens eingeschläferten Masse gehörig Ge¬
schäfte machen zu können. Insbesondere erscheint ausgeschlossen, daß er ernsthaft
daran denkt, dem berufsständischen Gedanken Konzessionen zu machen. Er weiß,
daß, wenn er es tut, seine Macht gebrochen ist. Die Parlamentarier aller
Parteien sind insofern viel zu sehr an der Macht ihres Parlaments, das ihnen
erst die richtige Folie gibt, interessiert, ganz abgesehen von allen den sehr mächtigen
Kreisen im Staate, denen das Parlament nur Dekoration und Mittel zum Zweck
ihrer eigenen eigennützigen Macht und Politik ist. Beide Teile haben für sich
die alte Wahrheit erkannt, die unseren politischen Führern der nachbismarckschen
Zeit versagt blieb, daß es andrängenden feindlichen Strömungen gegenüber nur
zweierlei Möglichkeiten gibt: nicht nachgeben, wenn man die Macht dazu hat,
oder rechtzeitig nachgeben, wenn man zum Nichtnachgeben nicht stark genug ist,
daß aber zu spätes Nachgeben nichts nützt. Und zu spät würde es heute für den
Parlamentarismus sein. Er ist innerlich bereits zu schwach, um nicht bei ernst-
haften Konzessionen an den berufsständischen Gedanken ganz an die Wand ge¬
drückt zu werden. Wir haben es jetzt beim Reichswirtschaftsrat erlebt, daß er
seitens des Parlaments nicht ehrlich und ernsthaft gemeint ist. Durch Über¬
tragung parlamentarischer Formen auf den Reichswirtschaftsrat, die für ihn seiner
ganzen Anlage nach nicht passen, wird teils bewußt, teils unbewußt dahin ge¬
arbeitet, den berufsständischen Gedanken in seiner praktischen Auswirkung zu
kompromittieren, in der Hoffnung, ihn dann ebenso schnell wieder zu den Akten
legen zu können, wie es 1881 mit Bismarcks Volkswirtschaftsrat geschah. Anderer-
seits muß man gerecht sein und anerkennen, daß die parlamentarische Atmosphäre,
selbst für sehr weitblickende und großzügige Männer, eine verstandesgemäße Ab¬
neigung gegen berufsständische Vertretung erregen konnte, die nur durch Tatsachen
belehrbar erscheint. Mag der berufsständische Gedanke, wie es allen Anschein hat,
immer volkstümlicher in Deutschland werden, der Parlamentarismus wird dieser
Volksstimmung immer nur gezwungen Rechnung tragen, sei es. daß er gezwungen
wird im Wege des — noch unerprobten — Volksentscheides, sei es, daß es
geschieht im Wege gewaltsamer Erschütterungen.
Das Wesentliche in dieser Kritik des Parlamentarismus einerseits und des
berufsständischen Gedankens andererseits ist das, daß wir als Nation zu unserem
Aufbau einer innerstaatlichen Neuordnung bedürfen, daß die Kräfte für ihn im
Parlamentarismus nicht zu finden sind und daß große Volksströmungen rechts
wie links vorhanden sind, die danach streben, diese Neuordnung auf beruflicher
Grundlage aufzubauen, mindestens diese stark zu berücksichtigen. Aufgabe des
Staatsmannes muß es sein, diese Strömungen zu fördern, in staatsbildendem
Sinne zu beeinflussen und zusammenzuführen, bis sie zu gegebener Zeit klar und
stark genug sind, um sich in verfassungsrechtliche Formen gießen zu lassen und
behaupten zu können. Es handelt sich um unsere innere Einigung. Mangels
eines starken Idealismus ist sie auf rein parlamentarischem Wege nicht mehr zu
erreichen. Ob sie berufsständisch möglich ist. ist heute nicht mit Bestimmtheit zu
sagen. Außerordentlich naheliegend ist aber immerhin beim Vorhandensein der
geschilderten Strömungen das eine, daß der Versuch gemacht werden muß, die
großen Berufsstände dem Staatsgedanken dienstbar zu machen, daß eine Neu¬
tralisierung des Jnteressenkampfes dazu notwendig ist, und daß diese nur Aus¬
sicht auf Erfolg hat, wenn für seinen Austrag die politische Methode ge¬
ändert wird. Alles, was über Trennung von Politik und Wirtschaft, EntPoliti¬
sierung der letzteren und dergleichen mehr geschrieben und gesprochen wird, ist bei
dieser Gegenüberstellung verfehlt und trifft nicht den Kern der Sache. Auch die
Wirtschaft ist letzten Endes politisch, zumal heutzutage im Stadium der Welt¬
wirtschaft. Nicht die Verbindung von Politik und Wirtschaft ist unser
Unheil, sondern die Benutzung politischer Methoden, die für rein
politische Fragen geschaffen.wurden, für wirtschaftliche Fragen. Wo
es sich um Produktion und Absatz handelt, kann nicht so vorgegangen werden, wie
da, wo kulturelle und Verwaltungsinteressen in Frage stehen. Wie man keinen
Kaufmann als Pfarrer anstellen wird, so kann man auch die Betrachtungsweise
des Pfarrers nicht für kaufmännische Geschäfte zugrunde legen, und wie man in einer
Person nicht Richter und Zeuge sein kann, so kann der Einheitsparlamentarismus
auch nicht gleichzeitig Vertreter der Staatsgewalt und Vertreter mit ihr kolli¬
dierender Interessen sein. Zwei verschiedene Aufgaben erfordern eben auch zwei
besondere Einrichtungen. Der wirtschaftliche Interessenkampf ist deshalb so un¬
erhört scharf geworden, weil die politische Methode des Parlamentarismus auf
ihn übertragen wurde und für ihn nicht paßt. Und heute liegt die Sache so,
daß es nicht unmöglich ist, daß der Parlamentarismus darüber einfach zugrunde
geht. Die großen Berufsverbände könnten sich selbst und dem Parlamentarismus
keinen besseren Dienst leisten, als wenn sie sich wieder voneinander distanzieren
würden. Aber die Entwicklung geht vielleicht gerade in entgegengesetzter Richtung.
Da sie zurzeit nur durch das Parlament ihre Interessen vertreten können, gehen
die Führer der großen Berufsverbände' in die politischen Parteien. Dadurch
werden die Berufsverbände parlamentarisch verstrickt, der berufsständische Gedanke
in seiner Weiterentwicklung gehemmt und gerade das erreicht, was vermieden
werden sollte: die weitere Durchsetzung der politischen Parteien mit wirtschaft¬
lichen Interessen — bis sich schließlich diese unnatürliche Methode überschlagen
und den Parlamentarismus aus sich heraus sprengen mag.
Solche Hemmungen der inneren Einigung müssen überwunden werden.
Als Bismarck das schier unglaubliche Werk der Einigung der deutschen Stämme
gelang, griff er zu einem Mittel, von dem er, wie er selbst zugibt, keine rechte
Vorstellung seiner Wirkung hatte: „Er warf die stärkste aller freiheitlichen Künste,
das allgemeine Wahlrecht, in die Pfanne". Der Erfolg gab ihm recht. Und
wenn dies Mittel später vielleicht hervorragend dazu beigetragen hat, sein Werk
zu zerstören, so hat es zu seiner Zeit doch dazu gedient, es zu schaffen. Auch
wir haben keine rechie Vorstellung von der Wirksamkeit eines berufsständischen
Aufbaues des Staates. Aber große Volksströmungen hängen an dem Gedanken,
auf ihre Berufsverbände den Staat zu stützen, während sie seiner jetzigen rein
theoretisch aufgebauten Verfassungsform kalt und verständnislos gegenüber stehen.
Es ist oft genug ausgesprochen worden: uns bleibt in unserer jetzigen Lage nichts
als der deutsche Geist. Er wird sich in Wissenschaft und Technik, in Handel,
Wandel und Landwirtschaft weiter bewähren, er darf aber auch auf staats¬
politischem Gebiete nicht schlafen. Im berufsständischen Gedanken haben wir ein
solches Gebiet, welches selbst bei einer durch die Feinde kontrollierten Staats¬
verwaltung Freiland bleiben würde, ganz besonders, wenn der Gedanke im Wege
der Selbstverwaltung weiter verfolgt wird. Auf ihm allein können wir heute
unsere politisch nationale Kraft schöpferisch betätigen, getragen von den Kräften,
die nach dem Niederbruch unseres politischen Idealismus bei einem großen Teil
unserer Intelligenz, gerade auch der auf wirtschaftlichem Gebiete führenden, und
gleichzeitig in den Massen lebendig sind.
Das Wichtigste hierbei ist aber der richtige Weg. Er kann nur darin
liegen, daß das Alte absterben und das Neue neu wachsen muß, bis ein neuer
Bismarck die Reife der Lage erkennt und handelt. Vielleicht war es der stärkste
Fehler, den Preußen-Deutschland begangen hat, daß es immer bewußter von der
Stein-Hardenbergschen Weisheit abrückte, so daß sie ihm schließlich in der nach-
bismarckschen Zeit vollkommen verloren ging. Die Theorie und das Schema
siegten, unter eifriger Beihilfe des Sozialismus, über den einfachen und natür¬
lichen Gedanken, daß ein großes Staatswesen den realen Volkskräften nur dienen
kann, wenn es sie sich selbständig entfalten läßt. Daher liegt das Schwergewicht
der ganzen Frage berufsständischer Vertretungen, wie sie sich uns heute darstellt,
zu mindest im Stadium des Aufbaues, nicht in der Spitze, sondern in den
unteren Stufen. Die wiederaufbauende Arbeit des berufsständischen
Gedankens nutz den umgekehrten Weg gehen, wie die zersetzende
des Parlamentarismus. Der Parlamentarismus hat sich von der Spitze
nach unten fortgesetzt, hat alles in Parteien gespalten und in Debattierklubs auf¬
gelöst. Die produktive Arbeit, gerade auch die auf politischem Gebiete in den
unteren Stellen, wie Gemeinde- und Kommunalverbänden, ist darüber zum Teufel
gegangen. Ist der berufsständische Gedanke ein Mittel dafür, daß die dem Staate
entfremdeten produktiven Volkskräfte den Staat wieder als ihren Staat empfinden
lernen, so muß er sich von unten nach oben fortsetzen. Wir haben in der unteren
Stufe genügend berufliche Organe, wir brauchen keine neuen, ganz besonders
nicht, wenn man sich entschließt, die großen Berussverbände, die sich mit monopol¬
artiger Tendenz durchgesetzt haben, zu legalisieren und nur insoweit zu ergänzen,
als auch die in ihnen nicht vertretenen Schichten eine angemessene Vertretung
erhalten müssen. Was aber not tut, ist alle diese Organe, so wie sie natürlich
entstanden sind, nunmehr auch in natürlicher Weise zu verbinden und sie nicht
durch ein neues Schema von oben wieder zu durchkreuzen. Das kann nur dadurch
geschehen, daß zwischen ihnen als Gliedern einer höheren Einheit eine reinliche
Arbeitsteilung stattfindet. Man hat es als Vorzug des Parlamentarismus ge¬
priesen, daß er die früher so strenge Teilung zwischen Gesetzgebung und Ver¬
waltung beseitigt hat; das „Volk" habe dadurch seinen Einfluß bis in die letzten
Ecken staatlichen Wirkens ausgedehnt. Über Berechtigung und Zweckmäßigkeit
dieses Grundsatzes läßt sich streiten. In Deutschland hat man seine Vorzüge
jedenfalls schwächer empfunden als seine Nachteile. Setzt er sich neben dem
berufsständischen Gedanken weiter durch, so kann die durch die berufsständische
Gliederung bedingte Teilung zwischen den Interessensphären des Staates und der
Berufsstände nur dadurch erfolgen, daß dem Gedanken der Selbstverwaltung
wieder weiter Raum gegeben wird, nicht nur auf dem Gebiets der eigent¬
lichen Verwaltung fertiger Gebilde, sondern gerade auch auf dem gesetzgeberischen
der Einrichtung und Ausgestaltung ihrer Gliederung. Das bedeutet eine Ein¬
engung der Staatsgewalt auf organisatorischem Gebiete. Selbst der
Sozialismus wird zugeben müssen, daß die schlechten Erfahrungen,, die der Staat
in den letzten Jahren mit seiner zentralistischen Organisationstätigkeit gemacht hat
einer Abkehr von ihr das Wort reden. Die Selbstverwaltung der großen Berufs-
stände muß aber irgendwie räumlich Wurzel schlagen, sie muß „bodenständig"
ein. Sie hat weiter nur Sinn, wenn die produktive Struktur der Berufe, insbe-
sondere der Industrie so grundlegend berücksichtigt wird, wie sie sich nun einmal
in Kartellen. 'Syndikaten, Interessengemeinschaften, gemeinwirischaftlichen und ge¬
mischtwirtschaftlichen Unternehmen und dergleichen entwickelt hat. Diese produktive
Struktur ist vielfach räumlich über den Bezirk der alten politischen Selbstver¬
waltungskörper hinausgewachsen. Der Begriff „Wirtschaftsprovinzen" wurde ge¬
prägt und beginnt aller Widerstände ungeachtet sich Geltung zu verschaffen; das
Leben zerbricht die alten Formen. Und so gewinnt die Frage der mittleren
Stufe einer berufsständischen Vertretung ganz besondere Bedeutung. Solche sollen
nach der Reichsverfassung die Bezirkswirtschaftsräte sein. Außerordentlich gedanken¬
reiche und inhaltvolle Vorschläge sind hierzu von der rheinisch-westfälischen Industrie
gemacht worden (vergleiche besonders das Sonderheft „Organische Wirtschaft" der
„Wirtschaftlichen Nachrichten aus dem Ruhrbezirk", Essen. Oktober 1920). Sie
heben die Notwendigkeit der Selbstverwaltung gleichfalls hervor und decken sich
mit der vorstehend vertretenen Ansicht insofern, als auch sie betonen, daß sich
von vornherein theoretisch gar nicht entscheiden läßt, wie eine berufsständische
Vertretung, gerade auch in der Spitze, aufgebaut sein soll, sofern nicht schon über
ihren Unterbau Klarheit herrscht. Dies um so mehr, als, wenn man dem Ge¬
danken der Selbstverwaltung gerade auch auf der mittleren Stufe der Bezirks¬
wirtschaftsräte, weitgehend Rechnung trägt, dies ganz unvermeidlich wiederum
eine weitgehende Einwirkung auf die bisherige Gliederung unserer gesamten
staatlich-politischen Gestaltung ausüben muß. Wer sich davor scheut, verkennt
die Wirksamkeit der im staatlichen Leben treibenden Kräfte. Wie nichts künstlich
gemacht werden soll, so darf auch künstlich nichts aufrecht erhalten werden, was
in sich nicht mehr lebensfähig ist. Hierüber gehen naturgemäß die Ansichten
scharf auseinander, aber der Grundsatz dürfte wohl richtig sein.
Wie sich dann später die endgültige Gestaltung des Reichswirtschaftsrates
vollzieht, in welcher Weise die verfassungsrechtliche Auseinandersetzung mit dem
Parlament kommt und zu welchen weiteren Konsequenzen sie vielleicht führt,
alles das geht über den Rahmen dieser Betrachtung hinaus. Insbesondere kann
die Frage des Wirksamwerdens der Spitze (in sich abstimmend? — beratend? —
entscheidend?) zunächst auf sich beruhen. Das Wesentliche am berufsständischen
Gedanken in seiner modernen Form ist, unter Beibehaltung demokratischer Grund¬
sätze zur Auswahl der Berufsvertreter, die Betätigung dieser nach anderen
Methoden als der für seine Zwecke nicht passenden parlamentarischen. Die
unteren Stufen sollen sich selbst organisieren. Wenn sie es wirklich auf der
Grundlage des Berufes tun, so muß dies zur Folge haben, daß die im Berufe
Tüchtigsten und zur Führerschaft Geeignetsten hervortreten und in die obersten
Stufen entsandt werden; dies ganz besonders zu einer Zeit, wo die allgemeine
Notlage eine solche Auswahl auch dem Interesse der einzelnen Berufsgenossen
empfiehlt. Die also Erwählten werden schließlich in den oberen Stufen kraft
ihres höheren Intellekts genügend Gemeinsinn haben, um sich ins Ganze einzu¬
ordnen, jedenfalls sich lieber mit ihresgleichen einigen, als die Entscheidung dem
Zufall einer großenteils unsachverständigen, nach anderen Gesichtspunkten zusammen¬
gesetzten, nach anderer Methode arbeitenden, parlamentarischen Mehrheit zu über¬
lassen. Das bedingt eine Umstellung der Geister in weiten Schichten unseres Volkes.
Wir sehen, daß sie im Fluß ist, wir sehen auch die gewaltigen Widerstände gegen
sie. Aber es ist kein Kampf von Weltanschauungsgegensätzen, wie die
politischen Parteien, die sich so gerne auf sie berufen, uns glauben machen wollen.
Es ist nur ein Kampf um Form und Methode. Wir wären nicht Deutsche,
wären unserem Wesen nicht treu, wenn wir ihn nicht führen und irgendwie
beendigen würden.
meer Sibirien verstand mau in Deutschland bisher, allgemein
gesprochen, den asiatischen Teil Rußlands und pflegte ihn politisch
sowohl wie geschäftlich von russischen Gesichtspunkten aus, also als
den am weitesten von Europa abgekehrten, in asiatische Verhält¬
nisse hineinreichenden Teil des russischen Staats- und Wirtschafts¬
gebiets zu betrachten. Als Oststbirien galt uns alles davon, was östlich des
Baikal-Sees lag bis zum Meere im Osten und bis zur japanischen Grenze, also
auch Gebiete, die russischerseits nicht als Sibirien, sondern mit anderen geo¬
graphischen und Verwaltungsbezeichnungen benannt waren, das Priamur-Gebiet,
das Küstengebiet (Primorskij Kraj), Kamtschatka, Sachalin — meist zusammen¬
gefaßt unter der Bezeichnung „fernöstliche Gebiete". Nur nach Süden, gegen
China, bestand schon vor dem Kriege eine Unklarheit über die Grenzen Ostsibiriens,
namentlich nach der Mandschurei hin, die in eine russische Einflußzone mit der
Hauptstadt Harbin (Nordmandschurei) und eine japanische mit der Hauptstadt
Mukden (Südmandschurei) zerfiel. Die Grundlagen hierfür waren schon Ende
des vorigen Jahrhunderts geschaffen durch die russisch-chinesischen Verträge über
die Fortsetzung der sibirischen Eisenbahn durch chinesisches- Gebiet nach Wladi¬
wostok und nach der Südspitze der Liaotung-Halbinsel (Port Arthur, Dalny), auf
denen die Ostchinesische Eisenbahngesellschaft mit ihrer russischen Verwaltung und
ihren' besonderen Gerechtsamen in den Vahnzonen beruht. Die gleichen Rechte
nahm Japan für die von ihm geschaffene Südmandschmische Eisenbahngesellschaft
in Anspruch, nachdem ihm im Jahre 1905 im Frieden von Portsmouth der süd¬
liche Teil der inzwischen vollendeten mandschurischen Eisenbahn bis zur Station
Changchun abgetreten war. Die nördlich von Chcmgchun gelegene Mandschurei,
namentlich das Gebiet zwischen der ostchinesischen Bahn im Süden und dem
Amur, dein entlang die russische Amurbahn gebaut wurde, stand so sehr unter
russischem Einfluß, daß es vielfach unter „Ostsibirien" mitbegriffen wurde.
Ähnliche Verhältnisse begannen in den letzten Jahren vor dem Kriege
sich auch in den an Russisch-Ostasien grenzenden äußeren Teilen der unter
chinesischer Staatsoberhoheit stehenden Mongolei zu entwickeln, während
andererseits in die innere Mongolei südöstlich der Wüste Gobi immer mehr
die japanische Macht eindrang. Schließlich haben sich seit dem Zusammen¬
bruch des russischen Zarenreichs im alten Ostsibirien neue Staaten und
Herrschaften gebildet, deren Machtbereich recht ungewiß ist und von denen manche
unverkennbar unter japanischem Einfluß stehen. Feste Grenzen zwischen Rußland,
China und Japan gibt es heute dort kaum. Was in diesem „Ostsibirien" jetzt
und in nächster Zukunft für die Weltwirtschaft, insbesondere für die Deutschland
interessierende Weltwirtschaft vom Standpunkt des ostasiatischen Geschäfts aus von
neuer Bedeutung ist. das ist derjenige Teil jenen Gebiets, auf dem sich der
japanische Einfluß erstreckt. Er reichte schon vom Ozean bis zum Baikal-See,
und wenn er auch im Laufe des vorigen Jahres !wieder nach Osten zurück¬
gedrängt wurde, so geht er doch auch heute noch von Wladiwostok und Sachalin,
ja Kamtschatka, den Amur und Sungari hinauf bis weit in die Mongolei, um¬
faßt sowohl die Nordmanschurei mit Harbin, die früher unter russischem Einfluß
stand, als auch die Südmandschurei mit Mulden und dem Liaotung-Gebiet
(Daircn), die heute schon so sehr als japanisches Gebiet gelten, daß sie vom
Handelsamt in Washington vor nicht langer Zeit in einer amtlichen Auskunft als
„Japanisch-China" bezeichnet wurden.
Die erste Wendung in den kriegswirtschaftlichen Beziehungen des Auslandes
zu Rußland über Ostsibirien trat ein mit dem Sturz der Zarenregierung. Für
die amerikanischen Geschäfte war es kein Glück, daß die Kerenski-Regierung, die
offenbar sich lieber mit Amerikanern als mit Japanern in Geschäfte einließ, nur
von kurzer Dauer war. Der Frieden von Brest - Litowsk wurde seitens Japans
als Anlaß benutzt, um, wieder einmal unter Berufung auf seine aus dem Bündnis¬
verträge mit England entspringende Verpflichtung zur Beschützung des Friedens
und der Sicherheit Ostasiens, den Schritt zu tun, auf den die Russen in Wladi¬
wostok und Harbin schon 1917 gefaßt waren, nämlich militärisch in Russisch-Ostasien
einzugreifen. Als sich herausstellte, daß weder Deutschland noch die neue Mos¬
kaner Regierung den Frieden oder die Sicherheit Ostasiens bedrohten, ja Moskau
sogar sich bereit zeigte, frühere Ansprüche des alten russischen Reiches auf nicht¬
russische Teile jenes Gebiets, insbesondere auf die Mongolei und auf die Eisen¬
bahnen der Mandschurei auszugeben, da wurde die Expedition begründet mit der
Verpflichtung, die inzwischen zu Verbündeten gewordenen tschecho-slowakischen
Kriegsgefangenen Rußlands aus Sibirien vom Zwange der bolschewistischen
Herrschaft zu befreien. Seltsamerweise ist der Regierung der Tschecho-Slowakei
niemals eine solche Hilfeleistung seitens der japanischen Regierung angeboten
worden. Die Wahrheit hat wohl der japanische Generalstabschef der sibirischen
Expedition gesagt, als er auf Befragen erklärte, Japan verfolge in Sibirien seine
eigenen Ziele, und das seien weder die Unterstützung Koltschaks noch der Schutz
der Eisenbahnen, noch die Befreiung der Tschscho-Slowaken — das japanische
Volk werde das Ziel sich selbst sagen können. Erleichtert wurde die Erkennung
dieses Zieles durch mehr als eine Bekanntmachung der japanischen Regierung, in
welchen hinsichtlich der durch diese Expedition zu schützenden japanischen Interessen
die Mandschurei wie Korea unterschiedslos nebeneinander genannt sind.
Englands Zustimmung zu dieser Expedition war leicht erreicht, da ihm eine
solche Ablenkung japanischen Ausdehnungsdranges von anderen, der Politik Gro߬
britanniens unwillkommeneren Richtungen erwünscht war. Die Vereinigten Staaten
von Amerika gaben ihre Zustimmung (nach japanischer Darstellung gaben sie sogar
die Anregung) aus Rücksicht auf die ihnen schon von Kerenski 1917 eingeräumten
Interessen an den sibirischen Bahnen, zu deren Verwirklichung und Schutz sie
schon mehrere hundert Bahningenieure dort hatten. China wurde gewonnen
durch das Militärabkommen mit Japan vom Mai 1918 „zur Bekämpfung feind¬
licher Einflüsse in Ostsibirien", das — soweit es bekannt gegeben worden ist —
für die Dauer des dortigen Unternehmens in Form völliger Gegenseitigkeit
militärische und behördliche Unterstützung vereinbart, in Wirklichkeit aber unter
den gegebenen geographischen und Machtverhältnissen den Japanern freien mili-
tärischen Durchzug durch Sibirien, Mandschurei und Mongolei und die militärische
Führung im weitesten Sinne (Heer, Marine, Kriegsmaterial und-Rohstofflieferung,
Nachrichtendienst, Stellung von Sachverständigen, Verkehrsmittel, Verpflegung)
sicherte und das seitdem von weiten Kreisen des chinesischen Volkes wie ein
Landesverrat heftig angefochten wird, so daß, wie es scheint, jetzt auch die
japanische Regierung sich nicht mehr der formellen Aufhebung dieses Abkommens
entziehen konnte.
Im August 1918 landeten Japaner gleichzeitig mit britischen Matrosen in
Wladiwostok, gefolgt von Italienern, Amerikanern und Kanadiern, denen sich
allmählich die tschecho - slowakischen Kriegsgefangenen und die sich gegen den
Bolschewismus zusammenschließenden Russen anschlössen. Bis über den Baikal-
see drangen damals die japanischen Truppen, vielleicht auch die politischen Pläne
japanischer Staatsmänner vor, indem sie sich dort durch militärische Unterstützung
der Omsker Regierung Koltschaks gegen den Bolschewismus einen Halt zu sichern
suchten. Sie haben kein Geheimnis daraus gemacht, daß die auf Schaffung eines
neuen ostasiatischen Staates zwischen Rußland und den von Japan beherrschten
Gebieten des Ostens gerichteten Bestrebungen die Unterstützung der japanischen
Regierung fänden. Im Sommer 1919 zog England, im Herbst desselben Jahres
Italien, im Frühjahr 1920 nach Koltschaks Sturz die Vereinigten Staaten ihre
Truppen und auch die amerikanischen Bahningenieure zurück. Die Japaner
suchten noch in der Person des Kosakenhetmans Semenow einen Ersatzmann für
Koltschak in Tschita zu halten; als aber auch dieser von den Bolschewisten von
Werchne-Udinsk vertrieben wurde und als ihnen die Ermordung der japanischen
Besatzung und Kolonie in Nikolajewsk zeigte, welche Gefahren ihnen in Ostsibirien
in ihrem Rücken drohten, da entschloß sich auch Japan im Juni 1920 zum
Rückzug seiner Truppen, der freilich amtlich damit begründet wurde, daß sie ihre
Aufgabe, die dortigen Tschecho-Slowaken zu befreien, erfüllt hätten — obwohl
fast gleichzeitig der japanische Außenminister im Parlament erklärte, daß noch
20000 tschecho-slowakische Kriegsgefangene in Sibirien seien. Aber der Plan
des „Pufferstaates" wurde damals nicht aufgegeben und er hat kürzlich wieder
neue Gestalt gewonnen in der „Fernöstlichen Republik", deren Negierungshaupt
in seinem Huldigungstelegramm an die Moskaner Regierung den neuen Staat
nach seinem Programm als „Pufferstaat zwischen Rußland und seinen Feinden"
bezeichnete. Die Hauptstadt der Fernöstlichen Republik, die ursprünglich Werchne-
Udinsk war, ist seit Semenows Vertreibung Tschita, aber es ist kein Einheits¬
staat, sondern ein Bund von Einzelstaaten, die sich nach der Auflösung
des alten russischen Reiches um einzelne bedeutendere Städte Russisch-Ost¬
sibiriens mit nicht immer ganz klaren Grenzen gebildet haben: Außer dem
Gebiet von Tschita, das westlich davon zunächst dem Baikal-See gelegene Werchne-
Udinsk (beide zusammen etwa das alte Tmnsbaikalien und das Nertschinsk-Gebiet
umfassend) und östlich anschließend Blagowestschensk am mittleren Amur (etwa
das alte Amur-Gebiet) und Nikolajewsk an der Amur-Mündung. Die Staats¬
und Gesellschaftsverfassung ist in diesen einzelnen Teilen noch nicht einheitlich.
Werchne-Udinsk hatte von jeher besonders enge Fühlung und wohl auch grund¬
sätzliche Übereinstimmung mit dem bolschewistischen Moskau, in den östlicheren
Gebieten hatten nicht die Bolschewismen, sondern die Sozialrevolutionäre die Ober¬
hand, und sie haben als daraus sich ergebenden Unterschied öfter betont, daß bei
ihnen der Handel dem einzelnen freigegeben und das Privateigentum nicht
schlechthin der Enteignung unterliege. Daß diese politischen Neubildungen sich
nicht zu sehr in eine für Japans innere wie äußere Politik nachteilige Richtung
entwickelte, war Japans wichtigste Sorge dort. In der Erkenntnis dieser Auf¬
gabe hatte Japan Koltschak unterstützt und zu demselben Zwecke unterstützte es
nach seinem Sturze den Kosakenhetmcm Semenow, der von Tschita aus den
Kampf gegen den Bolschewismus fortsetzte. Aber auch dabei nutz man sich
wieder gegenwärtig halten, daß in diesem russisch.japanischen Zusammenwirken
die Grenzen des alten russischen Reiches schwinden mußten, und es war Wohl
nicht nur leeres Gerede, wenn von Semenow — der ganz oder teilweise mongo¬
lischer Herkunft ist — gesagt wurde, er plane mit japanischer Hilfe sich zum
Herrscher der äußeren Mongolei zu machen. Jetzt, nachdem auch Semenow von
den Bolschewisten geschlagen und vertrieben ist, haben sich die russischen Überreste
seines Heeres unter Baron von Ungern-Sternberg an die für die Unabhängigkeit
der Mongolei von China wirkenden Mongolenfürsten angeschlossen und bedrohen
die chinesische Herrschaft in der Mongolei. Daß sie das nur mit eigener Kraft
vermögen, ist ebenso unwahrscheinlich, wie daß sie aus eigenem Antrieb zu
Feindseligkeiten gegen China geschritten sind.
Wie weit heute noch die japanische Macht nach Ostsibirien hineinreicht, ist
schwer festzustellen. Sicher ist, daß sie vor dem bolschewistischen Rußland be¬
trächtlich zurückweichen, insbesondere Tschita räumen mußte. Sicher ist aber auch,
daß sie in Wladiwostok und längs der ganzen Küste, insbesondere in der Poßjet-
Bucht südlich von Wladiwostok und in der De Castries-Bucht gegenüber von
Nord-Sachalin festsitzt, daß sie auch den Ussuri und die, an ihm entlang, Wladi¬
wostok mit Chabbarowsk am, Amur verbindende Bahn sowie die Ostchinesische
Bahn in der Hand hat und daß sie auch die Mündung des Amur beherrscht,
wenn sie auch während des Winters ihre Besatzung aus Nikolajewsk vorüber¬
gehend zurückzog. An den wichtigsten von ihr geräumten und von russischen
Roten Truppen besetzten Plätzen, jedenfalls in Tschita, Blagoweschtschensk,
Mandschuria, Habarowsk, sind auch heute noch japanische militärische Nachrichten¬
stellen tätig. Auch Sachalin ist vollständig von Japan besetzt, obwohl Sachalin
von der Moskaner Regierung als zur Fernöstlichen Republik gehörig gerechnet
wird. Am festesten scheint die japanische Macht in Wladiwostok zu sitzen, doch
hat sich die Regierung von Wladiwostok (das ehemalige russische Küstengebiet), eine
Koalitionsregierung von Sozialrevolutionären, Menschewiki und — von Japan
geschützten — Vertretern des Besitzes, trotz aller japanischen Gegenbemühungen,
Ende vorigen Jahres der Fernöstlichen Republik angeschlossen, was zur Folge
hatte, daß die japanischen Behörden, die einer solchen Regierung ebensowenig
wie der Moskaner Näteregierung die Anerkennung gewähren, nicht mit den Be¬
hörden dieses Staates, sondern nur mit den Ortsbehörden amtlich verkehren
und deutlich auf einen ihren politischen Zielen entsprechenden Regierungswechsel
hinarbeiten.
Gleichzeitig mit der militärischen Machtausdehnung Japans nach Ostsibirien
hinein, und durch sie gefördert, ging die wirtschaftliche. Ihr Ausgangspunkt war
Mukden. die Hauptstadt der schon seit dem russisch-japanischen Kriege Wirt-
schaftlich von Japan beherrschten Südmandschurei, seit einiger Zeit auch, wie es
scheint, der Mittelpunkt der von Japanern geführten altasiatischen Bewegung.
Der Weltkrieg hat dort schon von vornherein eine gesteigerte geschäftliche
Tätigkeit der. Japaner hervorgerufen. Im Jahre 1916 hat Japan seiner Aus¬
dehnung in der Mandschurei eine neue und weitere Grundlage gegeben durch die
der chinesischen Regierung auferlegten „21 (in Wirklichkeit schließlich 24) Forde¬
rungen", von denen die Erneuerung der japanischen Eisenbahnpachtrechte in der
Südmandschurei, unter Hinzuziehung der Kirin-Changchun-Bahn, auf 99 Jahre,
die Einräumung des Grundstückerwerbes zu landwirtschaftlicher Tätigkeit sowie
zum Handel- und Gewerbebetriebe und die Bewilligung besonderer, über die
sonstige Konsulargerichtsbarkeit in China hinausgehender Privilegien in Grund¬
stücksprozessen gegen Chinesen hierher gehören. Die Wirkung dieses Abkommens
ist schon heute an den geschäftlichen Erfolgen der Japaner auf dem mandschurischen
Markte zu erkennen. Nach einem amerikanischen amtlichen Berichte vom Mai
vorigen Jahres hatten sich im Laufe eines Jahres annähernd 250 neue japanische
Gesellschaften mit einem Gesamtkapital von 150 Millionen Jen in der Süd¬
mandschurei aufgetan, wobei allgemeine Handelsgesellschaften, Banken, Auto-
garagen, Warenhäuser, Papiermühlen, Zementfabriken, Farbenfabriken, Glas¬
fabriken besonders erwähnt werden. Vom dortigen Textilmarkt meldet ein vor¬
jähriger amerikanischer Bericht, daß starke Nachfrage nach Shirting herrsche, und
daß die im Handel befindlichen Waren, mit wenigen englischen Ausnahmen,
japanische seien, die billiger geliefert würden als die von den chinesischen Webereien
an Ort und Stelle hergestellten, weil diese das Rohmaterial von Japan kaufen
müßton. Demgegenüber ist bemerkenswert, daß nach neueren Nachrichten eine
amerikanische Chinafirma eine Baumwollspinnerei und -Weberei in Mukden er¬
richtet. Eine ähnliche Beherrschung des Mukdener Marktes wie in Baumwoll¬
stoffen übt Japan heute in Emaillewaren aus, die früher mindestens zur Hälfte
von Deutschland und Österreich-Ungarn geliefert wurden; der englische und
amerikanische Wettbewerb darin scheint noch unbedeutend, auch nicht dem
chinesischen und japanischen Geschmack und Bedürfnis angepaßt zu sein, und die
japanische Ware gilt als mangelhaft.
Besonderes Augenmerk hat die japanische Verwaltung dem Zuckerrübenbau
in der Südmandschurei gewidmet und durch Prämien, die sie den chinesischen
Nübenbauern aussetzt, die Erträge des Jahres 1919 gegenüber dem Vorjahre
verdoppelt. Auch die Südmandschurische Eisenbahngesellschaft hat ihre schon früher
auffallend erfolgreiche Tätigkeit bei der wirtschaftlichen Erschließung der Mandschurei,
insbesondere im Verkehrswesen, in der Landbesiedelung, in industriellen Unter¬
nehmungen, im Bergbau mit sichtbarem Erfolge fortgeführt.
Von der Südmandschurei aus strahlt Japan seine erobernden Kräfte nach
allen Richtungen hin aus.
Westlich nach der Mongolei. Im Mai 1907 erklärte der damalige
japanische Münster des Äußern dem russischen Botschafter in Tokio mit Bezug
auf die Mongolei, dieses Gebiet befinde sich außer der Sphäre japanischer Be-
tätigung. und Japan denke nicht daran, irgendwie dort die Entwicklung der
durchaus natürlichen Interessen Rußlands zu hindern. Aber schon 1911/1912
benutzte Rußland die während der chinesischen Revolution erfolgte Unabhängigkeit^ -
crklärung der Äußeren Mongolei, um durch einen unmittelbaren Vertrag mit ihr,
ohne chinesische Mitwirkung, ihre Beziehungen zu China zu lösen, bis diese 191K
durch einen Vertrag zwischen China, Nußland und der Mongolei in einer die
Souveränitätsansprüche Chinas anerkennenden, aber doch verschiedene Wünsche
Rußlands, besonders auf handelspolitischem Gebiet, erfüllenden Weise wieder her¬
gestellt und neu geregelt wurden. Ungefähr gleichzeitig ging Japan in der
Inneren Mongolei vor, verständigte sich mit Rußland, das ihm dort freie Hand
ließ, und da es mit China zu einer unanfechtbaren friedlichen Einigung nicht ge¬
langen konnte, so erzwang es 1913 mit militärischem Druck die Unterschrift
Chinas unter jene 21 Forderungen, zu denen auch gewisse Vorrechte in der
inneren östlichen Mongolei gehörten, nämlich: Zulassung von japanisch-chinesischen
Unternehmungen für Landwirtschaft und dazu gehörige Industriegebiete, Bevor¬
rechtigung Japans bei Bahnbauten, Bahnanleihen und damit zusammenhängenden
Sieuerverpfändungen, sowie Öffnung von Handelsplätzen für den ausländischen
Handel — wozu dann noch die damals für ganz China erworbene, aber
gerade für die Mongolei als besonders zweckdienlich erkannte Berechtigung zum
Erwerb von Grundstücken für japanische Schul- und Hospitalbauten und zur An¬
stellung japanischer Ratgeber kommt. Zwar erkennt China jenen mit dem ehemaligen
russischen Zarenreiche geschlossenen Vertrag heute nicht mehr an und fordert auch
Aufhebung jener 21 Forderungen, aber die von Japan gewünschte Öffnung mon¬
golischer Handelsplätze ist inzwischen geschehen, zahlreiche Anleihen gegen Ver¬
pfändung mongolischer Naturschätze sind an Japaner begeben, die japanische
Handels- und Unternehmertätigkeit ist weit in das Land eingedrungen, japanische
Schulen sind entstanden, und — was besonders charakteristisch für die Ver¬
änderung der Verhältnisse ist -- auch die Vereinigten Staaten von Amerika
haben, zunächst im Jshii-Lansing-Abkommen 1917 und später bei den Verhand¬
lungen des amerikanischen Finanzmannes Lamont über eine China zu gewährende
internationale Finanzunterstützung die besonderen Interessen Japans in den ihm
angrenzenden Teilen Chinas, also auch in der Mongolei, anerkannt. So wird
die Mongolei gleichzeitig von der Mandschurei her und durch das oben be¬
sprochene russische Zusammengehen mit mongolischen Fürsten von zwei Seilei'
in Angriff genommen, und auf beiden Seiten ist der japanische Einfluß deutlich
erkennbar.
Demgegenüber ist aber in diesen Jahren auch 'ein stärkeres Auftreten
Chinas wahrnehmbar, das im Jahre 1919 zu dem Versuche der Pekinger Re¬
gierung führte, unter Berufung auf einen von mongolischen Fürsten geäußerten
Wunsch, die Mongolei völlig China einzuverleiben. Damals erklärte ein Erlas?
des Präsidenten der chinesischen Republik, unter Protest des russischen Gesandten
in Peking, die Verträge zwischen Rußland und der Mongolei für aufgehoben,
und wenn heute berichtet wird, daß. die von Japan unterstützten russischen
Gewalthaber Ostsibiriens im Einverständnis mit dem Hutuktu gegen die chinesische
Herrschaft vorgegangen sind und die Chinesen aus Urga vertrieben haben, so
erklärt sich das aus jenen Angriffen Chinas gegen die Selbständigkeit des mon¬
golischen Staats- und Kirchenhauptes, dessen politisch richtige Behandlung die
Japaner anscheinend bisher besser verstanden haben. Von Urga aus droht diese
antichinesische Bewegung weiter nach Westen (Uliassutai) und nach Südosten
(Kalgan) um sich zu greifen, und es scheint, als ob, dank der zusammenfassenden
japanischen Leitung, die Äußere und Innere Mongolei, deren politische und wirt¬
schaftliche Lage und deren Geschichte bis in die neueste Zeit oft auseinandergingen,
jetzt sich zu gemeinsamem Widerstande gegen Peking zusammenfinden.
Wie diese japanischen Einflüsse in der Mongolei geschäftlich und politisch
verwertet worden sind, darüber haben wir naturgemäß nur spärliche Nachrichten.
Wir wissen nur, daß der militärische Vertreter der chinesischen Regierung in Urga,
als er sich im vorigen Jahre mit seinen Truppen gegen die Pekinger Regierung
empörte, bei seinen eigenen Landsleuten im Verdacht stand, japanischen Interessen
zu dienen, und daß heute der chinesische Generalgouvemeur der Mandschurei in
Mukden in ähnlichem Verdacht steht. Daß dieser einer der größten Landbesitzer
in der Mongolei ist und unter bedeutender Kapitalbeteiligung eines der größten
japanischen Unternehmer diesen Landbesitz zu erschließen gedenkt, wird nicht nur
ein Gerücht sein. Wir wissen, daß auf Grund des japanisch-chinesischen Militär¬
abkommens von 1918 japanische Offiziere in der Mongolei Dienst tun, und wir
haben auch mehrfach von japanischen Anleihen gehört, die von japanischen Banken
gegen Verpfändung mongolischer Vvdenwerte gegeben wurden. So bestehen Be¬
ziehungen zu Japan, die dessen Macht, zunächst in wirtschaftlichen Unternehmungen,
über die Grenzen der Südmandschurei hinaus in die Mongolei tragen, so daß die
Grenzen dieses wirtschaftlichen Machtbereichs heute ganz bedeutend verschoben
sind. Anderer ausländischer Wettbewerb ist sehr erschwert dadurch, daß kein
anderes Volk in so günstiger geographischer Lage zu jenem Teil Chinas sich
befindet wie das japanische, mit Ausnahme des russischen Volkes. Aber das heute
von Moskau regierte Nußland hat sich amtlich bereit erklärt, wie in China
so auch in der Mongolei auf alle in früheren Stnatsru'rträgen begründeten
russischen Vorrechte zu verzichten, und die Regierung von Tschita folgt Moskau
auch auf diesem Wege. Dazu haben die in den heutigen russischen Staats¬
finanzen wurzelnden Schwierigkeiten das übrige getan, um das Auslands¬
geschäft der Mongolei, soweit es früher über Russisch-Sibirien ging, zum
Stillstand zu, bringen. Es soll heute in der Mongolei größter Überfluß sein
an allen Landcserzeugmssen — Vieh, Häuten, Pelzen, Wolle, Kamelhaar —
aus Mangel an Ausführungsmöglichkeit, während andererseits die Bevölkerung
ihren dringenden Bedarf an Kleidung (bunte Baumwollstoffe, Kaliko für Unter¬
zeug, Hemdenstoff, Stiefel), an Jagdgerät, an Eß- und Kochgeschirr nicht gedeckt
bekommen kann. Was heute an Waren ein- und ausgeht, geht nicht wie früher
über Sibirien und durch russische Vermittlung, sondern ostwärts durch chinesische
und japanische Vermittlung. Dennoch empfängt die äußere Mongolei gegenwärtig
eine starke russische Kolonisation: durch die zahlreichen russischen Flüchtlinge, durch
die mongolischen Nomaden, die sich mit ihren Herden aus dem russischen Gebiet
über die mongolische Grenze flüchten, um ihr wertvolles Vieh nicht den russischen
Requisitionen gegen bolschewistisches Papiergeld auszusetzen, und durch die Sol¬
daten, die unter Semenow und Ungern-Sternberg sich vor der Roten Armee
über die Grenze zurückzogen. In Europa ist noch wenig bekannt, welcher natür¬
liche Reichtum und welche Geschäftsmöglichkeiten in diesem Lande liegen.
vier verdankt seine heutige Ausdehnung und Machtstellung der Entente.
Auf den Trümmern Deutschlands und Rußlands zwischen diesen
beiden Mächten entstanden, soll es einen Zusammenschluß dieser
beiden Länder verhindern und damit Ententeinteressen dienen. So
geriet Polen von dem Augenblick seiner Wiederherstellung an in
die vollständige Abhängigkeit der Entente und heute ist es der Vasall Frank¬
reichs. In allen Zweigen seines Staatswesens, in der Politik und in seiner
Wirtschaft gebietet Frankreich. In diesem Zeichen steht die gesamte militär¬
politische Lage in Polen, seine Außen- und Innenpolitik, seine äußere
Ausdehnung und sein Imperialismus, seine Landesverteidigung und der Ausbau
seines Heeres, die Stimmung in der polnischen Presse, in der Regierung und im
Parlament; darunter leidet die wirtschaftliche und soziale Lage Polens, leidet die
innere Festigkeit und Geschlossenheit des Staates.
Die französische Politik erstrebt in Europa im wesentlichen drei Hauptziele,
auf die letzten Endes alle ihre Handlungen zurückzuführen sind und von denen
sich das eine immer folgerichtig aus dem andern ergibt. Es sind:
Diesen drei Zielen muß Polen dienen und aus ihnen heraus ergibt sich am
klarsten das Verhältnis Polens zu seinen Nachbarländern.
Das Verhältnis Polens zu Deutschland war, wie dies im Hinblick auf die
Entstehung des polnischen Staates und die ihm von Frankreich gestellten Auf¬
gaben nicht anders sein konnte, von Anfang an ein gespanntes. Trotz unzweifel¬
haft vorhandener wichtiger gegenseitiger wirtschaftlicher Interessen und trotz des
besten Willens von deutscher Seite, ist es bis heute noch nicht gelungen, einen,
Ausgleich in den zwischen beiden Ländern bestehenden Gegensätzen herbeizuführen,
im Gegenteil die zwischen ihnen bestehende Spannung hat sich immer mehr ver¬
schärft und in den letzten Monaten zu einer Art politischer Hochspannung entwickelt.
Zwischen beiden Ländern steht Frankreich. Es hat in Versailles in meisterhafter
Weise vorgesorgt, daß der Neibungspllnkte zwischen Polen und Deutschland immer
genug sind, um eine Verständigung unmöglich zu machen. Der Korridor und im
Zusammenhang damit die Frage des Durchgangsverkehrs nach Ostpreußen, und
die Tatsache, daß nach dem Versailler Friedensvertrag Millionen Deutscher unter
polnische Herrschaft kamen, vor allen Dingen aber die verschiedenen Abstimmungen,
besonders die in Oberschlesien, waren und sind Gründe genug, die Volksleiden¬
schaften immer von neuem zu entfachen. Augenblicklich ist es die obcrschlesische
Frage, die die beiderseitigen Gemüter in Atem hält. Das Ergebnis der Ab¬
stimmung ist bekannt. Dem deutschen Festhalten an der Unteilbarkeit Ober¬
schlesiens tritt polnischerseits einmütiges Verlangen nach einer Teilung entgegen.
Nicht Stimmenmehrheit, sondern Gemeindemehrheit betrachtet Polen als aus-
schlaggebend und es wird in diesem Standpunkt unterstützt durch Frankreich, das
naturgemäß das größte Interesse an einer Zuteilung des oberschlesischen Industrie-
gebiets an Polen hat.
Polen hat sich darauf bereits seit Monaten militärisch wie politisch vorbe¬
reitet. Während sich polnische Truppen an der deutschen Grenze sammelten und
zum Einfall in Deutschland bereitstellten, während man die Entwaffnung unserer
Ostfestungen forderte, während Frankreich eben in Paris die famosen Pariser
Beschlüsse durchgesetzt hatte und sich auf ihre gewaltsame Durchführung vorbereitete,
reichte man sich in Paris offiziell die Hand zum Bunde gegen das Germanentum,
schloß man die französisch-polnische, Entente.
Das Verhältnis Polens zu Rußland ergibt sich klar aus seiner Haltung
gegenüber Deutschland. Es kann deshalb ganz kurz zusammengefaßt werden in
den einen Satz: „Polen will sich im Osten den Rücken freimachen für den
Wassergang mit Deutschland." Dies ist ihm scheinbar gelungen. Am 18. März
ist in Riga nach monatelangem Hin- und Herverhandeln der endgültige Friede
unterzeichnet worden.
Was uns an den einzelnen Bedingungen am meisten interessiert, ist, daß
nunmehr Rußland nicht nur von Deutschland, sondern auch von Litauen und
damit nach dem Westen hin vollständig abgesperrt ist, baß nunmehr jeder Verkehr
dorthin polnischer Kontrolle unterliegt.
Für Polen bedeutete die Unterzeichnung des Friedens ausgerechnet am Vor¬
abend der oberschlesischen Abstimmung zweifellos einen in seinen Rückwirkungen
nicht zu unterschätzenden Erfolg. Die Russen haben den Polen eine Grenze zu¬
gestanden, wie sie sich diese sowohl vom militärischen wie vom politischen Stand¬
punkt nicht besser wünschen konnten. Sie beläßt endgültig die strategisch-wichtige
Bahn Rowno—Wilna in polnischer Hand und entreißt den Russen die sür die
Landesverteidigung so wichtigen Rokitnosümpfe. Vor allen Dingen macht der
Friede den Polen jedoch den Rücken im Osten frei. Und doch wird Polen an
diesem Frieden auf die Dauer wenig Freude haben. Irgend welche Erleichterung
in seiner schwierigen wirtschaftlichen Lage bringt er ihm nicht, Ruhe und Frieden
wird es in ihm nicht finden. Rußland hat sich, das zeigen der Verlauf der Ver¬
handlungen in Riga und die einzelnen Friedensbedingungen auf den ersten Blick,
nur unter dem Zwang der schwierigen inneren Verhältnisse, dem polnischen Im¬
perialismus gefügt. Ein auf solcher Grundlage aufgebauter Friede kann nicht
von langer Dauer sein. Er hat Verhältnisse geschaffen, die für Osteuropa und
darüber hinaus für ganz Europa unerträglich sind. Deutschland und Ru߬
land sollen für immer von einander getrennt werden. Franzosen und Polen
irren sich. Sie schauen nicht in die Zukunft. Wenn etwas Rußland und
Deutschland einmal mit unzweifelhafter Naturnotwendigkeit zusammenführen muß,
dann ist es dieser Friede. Mag die Entwicklung im Innern in Rußland Bahnen
gehen, wie sie wolle. Kein Rußland wird sich auf die Dauer mit diesem Frieden
abfinden können und es ist bezeichnend, daß der Führer der von Frankreich so
begünstigten Sozialrevolutionäre, Kerenski, in der Wolja Rossji über diesen
Frieden sagt:
„Ich glaube, es muß jetzt jedem klar sein, daß kein Russe, der sein Land
kennt und liebt, die Möglichkeit und das Recht besitzt, dem Rigaer Frieden seine
Zustimmung zu geben. Er bedeutet Vergewaltigung und nationale Unterdrückung,
er kann nie als Grundlage guter Beziehungen zwischen Polen und Rußland
dienen, bedeutet vielmehr eine ernste Bedrohung des Friedens von ganz Europa."
Das Verhältnis Polens zu seinen übrigen Nachbarn, zu den Raubstaaten,
zur Tschecho-Slowakei und zu Rumänien ergibt sich am klarsten aus dem fran¬
zösischen Bestreben, durch den Zusammenschluß der kleineren Mittel- und ost¬
europäischen Länder, einhebt. der Ballen- und Balkanstaaten unter Führung Polens
zu einem antideutschen und antibolschewistischen Block, zur gänzlichen Macht¬
losigkeit Deutschlands und damit zur Festlegung der französischen Hegemonie über
Europa zu kommen.
Im Baltikum steht die noch ungelöste Wilna-Frage einer Konvention zwischen
Polen und dem baltischen Staatenbund entgegen. Auf der Ende Februar in
Neval veranstalteten Randstaatenkonferenz, an der Vertreter Polens, Finnlands,
Estlands, Lettlands und Litauens teilgenommen haben, wurde zwar die Schaffung
eines Randstaatenbundes mit Einschluß von Polen einstimmig gutgeheißen, als
seine erste Voraussetzung jedoch eine Einigung zwischen Polen und Litauen be¬
zeichnet. Sie in polnischem Sinne zustandezubringen und gleichzeitig damit den
Polen im Fall eines Zusammenstoßes mit Deutschland gegen Litauen die Flanke
freizumachen, war das Bestreben Frankreichs. Mit einer auffallenden Geschäftig¬
keit drang Frankreich plötzlich in der Wilna-Frage auf die Durchführung der
Volksabstimmung in dem strittigen Gebiet und dessen Besetzung durch Völkerbunds¬
truppen. Als die Russen dies als Grund zur Verschleppung der Friedensver¬
handlungen in Riga auszunutzen versuchten, regte Frankreich nochmalige unmittel¬
bare polnisch-litauische Verhandlungen unter dem Vorsitz von Huymanns in
Brüssel an — ein Vorschlag, der von beiden beieiligien Regierungen angenommen
worden ist. Damit ist zunächst Litauen als Gegner Polens in einem polnisch,
deutschen Konflikt ausgeschaltet, dann aber auch eine Lösung der Wilna-Frage im
polnischen Sinne für die Zukunft insofern vorbereitet, als Litauens Stärke Polen
gegenüber bisher ja gerade in der geschickten Ausnutzung der deutsch-polnischen
und der russisch-polnischen Spannung lag. Sind diese erst beseitigt, dann wird
sich auch in der litauisch-polnischen Frage eine Lösung finden, die Litauen um den
Preis Wilnas und vielleicht auch Memels, das, dieser Idee zu opfern, Frankreich
seit langer Zeit bereit ist, in ein enges Föderativverhältnis, ^so wie es Polen
wünscht, zu diesem bringt.
In dem Verhältnis Polens zur Tschecho-Slowakei ist seit Abschluß der
französisch-polnischen Entente das Bestreben bemerkbar, in den zwischen ihnen
liegenden tiefen Gegensätzen zu einem Ausgleich zu kommen, zu einem Ausgleich,
wie das nicht anders sein kann, auf Kosten Deutschlands. Frankreich, das von
jeher ein möglichst starkes Polen und eine enge Verbindung Polens mit der
Tschecho-Slowakei als den beiden Hauptstützpunktm seiner Ostpolitik erstrebt, will
die französisch-polnische Entente durch den Beitritt der Tschecho-Slowakei ergänzt
sehen, da nur so der Ring um Deutschland tatsächlich geschlossen, die Sperre
zwischen Deutschland und Nußland wirksam ist. Der Umschwung in dem Ver¬
hältnis Polens zur Tschecho-Slowakei offenbarte sich besonders deutlich in der
Haltung der tschechischen Regierung zur oberschlesischen Abstimmungsfrage, in den
verschiedenen Äußerungen des tschechischen Außenministers und im Zusammenhang
damit in der Haltung der tschechischen Presse, die bisher fast ohne Ausnahme
polenfeindlich, nun auf einmal in das Gegenteil umgefallen ist.
Die Gründe für den Umschwung in der tschechischen Polen- und Ober-
schlesien-Politik sind klar. Einmal würde die Tschecho-Slowakei im Falle einer
für Polen günstigen Abstimmung nach dem Friedensvertrag außer dem Hultschiner-
Ländchen, auch noch den südlichen Teil des Kreises Leobschütz erhalten — man
steht, wie glänzend die französische Politik im Frühjahr 1919 vorgearbeitet hat —
dann aber fürchtete Herr Benesch anscheinend im Falle einer für Polen ungünstigen
Abstimmung ein Wiederaufleben des polnischen Appetites auf die seinerzeit durch
Entente-Schiedsspruch der Tschecho-Slowakei zugesprochenen Kohlengebiete von
Mührisch-Ostrau. Schließlich soll Warschau den Tschechen für den Fall einer
Besitzergreifung Oberschlesiens die Grafschaft Glatz, ja sogar das linke Oder-Ufer
mit den Städten Kösel, Leobschütz und Rcitibor unter der Bedingung versprochen
haben, daß die Tschecho-Slowatei dafür die südliche Ecke Karpatho-Nuthemens an
Ungarn abtritt und Polen damit zu einer gemeinsamen Grenze mit Ungarn ver¬
hilft, wofür dieses endgültig auf die Slowakei verzichtet. Diese Nachricht klingt
nicht unwahrscheinlich angesichts der Rede des tschechischen Außenministers im
Parlament: „Mit Rücksicht auf die Aussichten im Osten und in Deutschland
müssen wir im Süden Ruhe und Frieden haben. Das bedeutet definitive Ver¬
einbarungen zwischen uns und den anderen Nachfolgestaaten. Wir werden in
dieser oder jener Hinsicht gewisse Opfer bringen müssen, die aber bestimmt sind,
mit anderen kompensiert zu werden." —
Das polnische Verhältnis zu Rumänien lag bereits seit dem vorigen Sommer
klar. Die gemeinsame Bolschewistengefahr hatte beide Länder zusammengebracht
und die ihnen gemeinsame Freundschaft Frankreichs das übrige getan. Zwischen
Polen und Rumänien sehen wir nunmehr als unmittelbare Folge der französisch-
polnischen Verhandlungen im Verfolg der bisherigen Beziehungen den Abschluß
eines regelrechten Bündnisses, das in eine Militärkonvention und ein Handels¬
abkommen zerfällt. Es soll sich angeblich nur gegen den Bolschewismus richten.
In dem Gesamtbild der polnisch-französischen Außen- bzw. Deutschland-
Rußland-Politik fehlen noch Ungarn und Bulgarien. Was dem Anschluß dieser
beiden Staaten an das große, unter polnischer Führung stehende Bündnis ent¬
gegensteht, das sind ihre Gegensätze zu Rumänien und Südslawien. In dieser
dürfte aber ein Ausgleich Nur noch eine Frage der Zeit sein.
So sehen wir Polen auf der ganzen Linie feiner Außenpolitik als den ge¬
schäftigen Vasallen Frankreichs. Die gesamte polnische Außenpolitik steht im
Zeichen der französisch-polnischen Entente.
Voraussetzung für eine in dieser Linie sich bewegende polnische Außenpolitik
war und ist eine starke polnische Armee, und so waren Frankreich und Polen
sofort nach dem Zusammenbruch Deutschlands bemüht, eine solche für Polen zu
schaffen.
'
Heute hat das kaum 25 Millionen Menschen zählende Polenreich eine
Armee von über 600 000 Mann. Sie besteht aus etwa 25 Jnfanteridivisionen
und 9 Kavalleriebrigaden und ist hervorgegangen aus den kongreßpolnischen, den
ehemaligen Haller- und den Posener Truppen, drei völlig voneinander ver¬
schiedenen Gruppen, die im Herbst 1919 miteinander verschmolzen wurden. An
der Spitze der Armee steht der Staatsches. Marschall Pilsudski, dem als Chef des
Generalstabes General Rozwadowski und als Kriegsminister General Sosukowski
zur Seite stehen.
Der Wert der kongreßpolnischen Truppen ist nur gering. Die Haller¬
truppen, früher gut, haben durch die Verschmelzung mit den kongreßpolnischen
Truppen an Wert erheblich verloren. Die Posener Truppen sind in jeder Be¬
ziehung die besten. Sie haben sich an der Ostfront gegen die Bolschewiften gut
geschlagen und standen immer an den entscheidenden Stellen. Die gute Haltung
ist auf die gründliche Ausbildung und Erziehung zurückzuführen, die sie im
deutschen Heere genossen haben. Sie sind die eigentlichen Hauptträger des gro߬
polnischen Gedankens und werden sich auch — das soll ausdrücklich betont
werden — gegen Deutschland gut schlagen.
Der Wert des polnischen Führermaterials ist nicht sehr hoch. Ausrüstung
und Bewaffnung sind ausreichend und neuzeitlich, aber noch nicht einheitlich.
Die Verteilung der polnischen Armee ist entsprechend der außenpolitischen
Lage heute so, daß schwächere Kräfte an der litauischen und russischen Front, die
Masse aber mit etwa 300 000 Mann so an den deutschen Grenzen steht, daß Ope¬
rationen gegen Ostpreußen, Brandenburg und Oberschlesien zu gleicher Zeit möglich
sind. Außer den regulären Divisionen stehen sowohl in Westpreußen, Posen als
auch gegen Oberschlesien irreguläre Formationen verwendungsbereit. Sie bestehen
größtenteils aus Verbänden der „?vista Orssnisaejg, V/ojiKöra" genannten
Kampforganisation, aus den seinerzeit in Posen und Westpreußen unter Bezeich¬
nung „Reservearmee" gebildeten Vürgerwehren, aus Soloth und Schützenvereinen.
Das polnische Eisenbahnnetz entspricht in keiner Weise den Anforderungen,
weder militärisch und politisch noch wirtschaftlich. Polen verfügt im ganzen
augenblicklich nur über vier durchgehende Linien von Ostpolen bzw. Warschau
nach Ostpreußen, Westpreußen, Posen und Schlesien. Es ist aber dabei, sein
Eisenbahnnetz den durch die Vereinigung der drei Teilgebiete geschaffenen Ver¬
hältnissen entsprechend so zu vervollständigen, daß es nach Durchführung seines
Bauprogramms über je drei durchgehende Verbindungen von Kongreßpolen nach
Westpreußen, Posen und Schlesien, über vier Bahnen längs der deutschen Grenze —
davon drei im Korridor —, über fünf Bahnen nach der tschechoslowakischen Grenze
und schließlich über eine Bahn nach Rumänien verfügt').
Für den Nachschub von Kriegsmaterial ist Polen zurzeit auf das Ausland
angewiesen. Das Kriegsmaterial wird hauptsächlich über Danzig eingeführt.
Munitionsfabriken und Waffenreparaturwerkstätten bestehen, sind aber nur wenig
leistungsfähig. ,
An Rohstoffen besitzt Polen Kohle und Eisen, jedoch in für den Bedarf des
Landes nicht ausreichenden Mengen im Raume Czenstochau—Teschen—Krakau—
Kleine.
Die Folgen des grenzenlosen polnischen Imperialismus, des langen Krieges
mit Rußland und der im Verhältnis zu Polens Vcvölkerungszahl viel zu starken
Armee sind Daniederliegen der Industrie, Verpflegungsmangel und Zerrüttung
der Finanzen. Die polnische Valuta ist von 60 vH. der deutschen Mark inner-
halb eines Jahres trotz des Rigaer Friedens auf fast 11 vH. der deutschen Mark
gesunken. Die Folge dieser Geldentwertung ist eine Teuerung, die von russischen
Verhältnissen kaum noch sehr weit entfernt ist. An eine Verbesserung der Valuta
und einen Abbau der Preise kann vorerst nicht gedacht werden. Die polnische
Ausfuhr beträgt kaum 5 VH. der Einfuhr. Polen ist in erster Linie Agrarland,
aber auch in dieser Beziehung sind Möglichkeiten für eine Besserung der wirt¬
schaftlichen und finanziellen Lage nicht gegeben. Die Ernte war schlecht. Aus
den ehemals preußischen Provinzen ist dank der polnischen Mißwirtschaft nichts
mehr herauszuholen. Die Regierung ist zum Ankauf von Lebensmitteln im Aus¬
lande gezwungen. Das kostet viel Geld, drückt die Valuta und steigert die
Teuerung.
Die Schuldenlast des polnischen Staates ist allmählich auf 226.5 Milliarden
Mark gestiegen. Dazu kommen noch die Ausgaben für das Jahr 1921, die auf
80 Milliarden Mark geschätzt sind. Ihnen stehen im Höchstfall 10 Milliarden
Mark Einnahmen gegenüber, also nicht einmal so viel als die auf 12 Milliarden
Mark berechneten Zinsen der augenblicklichen Schuld betragen. Polen ist also
nicht einmal mehr in der Lage, die Zinsen seiner Verpflichtungen zu zahlen.
Das polnische Eisenbahnwesen und die Zustände auf den Eisenbahnen sind
ein Kapitel für sich. Das rollende Material befindet'sich in einer traurigen Ver¬
fassung. Es ist neben großem Mangel abgewirtschaftet und zu etwa 50 vH.
reparaturbedürftig. Die Leistungsfähigkeit der Bahnen ist dementsprechend nur
gering. Unfähigkeit und mangelndes Organisationstalent der Eisenbahnbehörden
tun das übrige dazu.
Als natürliche Folgeerscheinung der geradezu trostlosen wirtschaftlichen und
finanziellen Lage Polens, der außerordentlichen Geldentwertung und der ständig
wachsenden Teuerung, greift ruckweise eine Arbeiterbewegung im Lande um sich,
deren Charakter durch einen unverkennbaren kommunistischen Einschlag gekenn¬
zeichnet ist. Die Lohnforderungen der Arbeiter, denen sich auch große Teile der
Beamtenschaft angeschlossen haben, haben Löhne erreicht, die sich kaum noch von
denen in Sowjetrußland unterscheiden. Die Regierung bewilligt sie, um nur die
Ruhe aufrecht zu erhalten, aber sie gräbt damit dem Grundbesitz, der Industrie
und schließlich sich selbst das Grab.
Nicht weniger verworren wie die wirtschaftliche und finanzielle Lage sind die
parlamentarischen Verhältnisse. Der polnische Landtag besteht eigentlich nur aus
zwei wirklichen Parteien, die organisiert sind und durch den Besitz eines poli¬
tischen, wirtschaftlichen und sozialen Programms als Partei gekennzeichnet sind-
die Nationaldemokratie und die Polnische Sozialistische Partei. Die übrigen
sogenannten Parteien verdienen diesen Namen nicht. Es find Gruppen, und
innerhalb dieser wieder sogar einzelne Blocks, die sich auf Grund augenblicklich
zweckmäßiger Kompromisse zusammenschließen. Die Folge dieser für das ganze
polnische Staatsleben und die politische Unreife des polnischen Volkes geradezu
typische Zerrissenheit sind, Fehler einer tragfähigen Regierungsmehrheit, Unsicherheit
des Parlaments, Kompromißpolitik in allen großen Fragen und damit unfrucht¬
bare Arbeit. Jedes Kabinett, das bisher in Polen regierte, fiel und stand mit
kaum einen: Dutzend Stimmen. Ministerwechsel und Regierungskrisen sind in
Polen deshalb ein Dauerzustand.
Zwischen den Rechts- und Linksparteier. klafft eine breite, tiefe Kluft. Die
Rechtsparteien sind die Hauptvertreter des polnischen Imperialismus und erfreuen
sich dementsprechend der besonderen Gunst Frankreichs. Sie sind etwa gleich stark
wie die Mittel' und Linksparteien zusammen und suchen dem polnischen Staats¬
leben einen rechtsgerichteten.Kurs für die Zukunft zu geben. Ihre Haltung
stützt sich vor allen Dingen auf die ehemals preußischen Teilgebiete, in denen die
Autonomiebewegung in der letzten Zeit wieder bedenklich ausgelebt ist. Diese
erstrebt nicht etwa aber die Rückkehr der Provinzen zu Deutschland, im Gegenteil
die Nationaldemokraten sind die größten Deutschenfeinde, sondern die Verlegung
des Schwergewichts des polnischen Staatslebens von Warschau nach Posen unter
Anschluß Oberschlesiens an die früheren preußischen Teilgebiete. Man sieht in
diesen den Stammsitz des großpolnischeu Gedankens, die Hauptstütze des polnischen
Staates und erblickt daher nur in einer solchen Losung eine Gefahr für dessen
Bestand. Für uns sind diese Bestrebungen von allergrößten Interesse angesichts
der Schlußfolgerungen, die sich daraus für Oberschlesien ergeben. Einst waren
Posen und Westpreußen die Quellen, an denen das gänzlich heruntergekommene
Polen gesunden sollte, heute ist es Oberschlesien in verstärktem Maße.
Durch die Ausdehnung nach Westen und Osten hat sich die 17—18 Millionen
zählende Bevölkerung des -polnischen Kerngebiets auf 24—25 Millionen ver¬
größert. Von diesen sind jedoch nur etwa 13 Millionen Polen. Zwei Millionen
sind Deutsche, 2-3 Millionen Juden. 4,2 Millionen Ukrainer, 2 Millionen
Weißrussen und V» Million Litauer. Polen hat demnach in der Zusammensetzung
der Bevölkerung eine große Ähnlichkeit mit dem österreichisch-ungarischen Staat
angenommen. Darin liegt für das heutige Polen eine außerordentliche Gefahr.
Zusammenfassend läßt sich über die militärisch-politische Lage in Polen
sagen: In seinem Innern durch Partei- und völkische Gegensätze zerrissen, wirt¬
schaftlich und finanziell heruntergekommen, dabei dank französischem Einfluß von
einem grenzenlosen Militarismus und Imperialismus liegt das heutige Polen
eingeengt zwischen zwei augenblicklich zwar dank Revolution und Umsturz wehr¬
lose, aber der Zahl nach doch große Völker, mit denen es dank polnischer Hab¬
gier trotz aller gegenseitigen wirtschaftlichen Interessen durch territoriale und
völkische Gegensätze — und sie sind die entscheidenden im Völkerleben — auf
Leben und Tod verfeindet ist. Das kann — ohne prophezeien zu wollen — auf
die Dauer nicht zum Guten führen.
UMjod bedingt Leben. Auf den Trümmern des Alten muß Neues
erstehen. Vor mehr als siebenhundert Jahren haben deutsche Ordens¬
ritter das Baltenland erobert, haben ihm neben dem Christentum
auch die Kultur gebracht, deutsche Kultur. Kaufleute, Handwerker,
Gelehrte sind gefolgt und haben das Land bewohnbar gemach?..
Im steten Wechsel der Zeiten haben ihre Enkel und Großenkel es verstanden, dem
Lande jenes deutsche Gepräge zu geben, welches es noch heute hat. Wer daS
Stadtbild von Riga oder das von Reval mit dem von Lübeck oder Danzig ver¬
gleicht, der wird in beiden dieselbe alt-deutsche Bauart erkennen. Denselben
Eindruck gewinnt man auch, wenn man Landstädte, Gutshöfe und Dörfer ver¬
gleicht. Deutsche Bauart, deutsche Kunst, deutsches Leben I Vielleicht kein anderes
Land hat eine so wechselvolle Geschichte gehabt, wie das Baltenland. Stürme sind
drüber hinwcggebraust, vieles haben sie zerstört, sie haben aber nicht vermocht
den deutschen Geist, die deutsche Arbeitskraft wegzufegen, zu vernichten. Viel¬
mals ist im Laufe der Jahrhunderte immer neues Leben ans den Trümmern des
alten entstanden. Im schweren, wenn auch unblutigen Kampf gegen den russischen
Bedrücker einerseits und gegen den eingeborenen Letten und Ehlen andererseits,
hat sich das baltische Deutschtum gestärkt und gefestigt. Es stand alles auf dem
Spiele. Siebenhundert Jahre alte deutsche Kultur war bedroht. Der Weltkrieg
hatte das Baltentum von jeglicher Verbindung mit dem deutschen Reiche abge¬
schnitten, aus dem es doch seine geistige Nahrung schöpfte. Das russische Zaren¬
reich brach zusammen, der Bolschewismus, der nach einem kurzen Interregnum der.
Regierung Kerenski anbrach, drohte das Baltentum zu vernichten. Die deutsche
Okkupation brachte die Rettung. Der langersehnte Traum schien Wirklichkeit zu
werden. Der 9. November hat auch das zerstört. In den letzten Jahren hat das
Land nun alle Schrecken der Zerstörung durchgemacht. Unersetzliche Kulturwerte
sind vernichtet worden und werden, obgleich die rote russische Welle zurückgebannt
ist. noch täglich von den sreiheitstrunkenen Letten und Ehlen zerstört. Deutscher
Fleiß und deutsche Schaffensfreude werden dort zu Grabe getragen.
Hat nun — so fragt man sich naturgemäß — das baltische Deutschtum
seine ihm von der Geschichte zugewiesene Rolle ausgespielt, oder steht noch eine
Aufgabe bevor?
Ohne Zweifel läßt sich diese Frage dahin beantworten, daß das Baltentum
nicht als eine vorübergehende Erscheinung zu betrachten ist. Die früheren Lebens¬
bedingungen sind nicht vernichtet, der baltische Gedanke lebt und muß in die Tat
umgesetzt werden, sobald die Zeit da ist.
Der Bolschewismus geht seinem Ende entgegen; von welcher Seite es ihm
bereitet wird, läßt sich noch nicht übersehen; er krankt tötlich an seinen eigenen
Prinzipien, oder richtiger an seiner Prinzipienlosigkeit. Mit seinem Sturze öffnen
sich uns die Tore zum russischen Riesenreiche. Wenngleich der Bolschewismus
viel zerstört hat, so bietet das Land dem Deutschen doch noch unendlich
viele Möglichkeiten. Und eben in diesem Augenblicke brauchen wir Leute, welche
die russischen Verhältnisse, Land und Leute genau kennen. Solche Leute finden
wir unter den Ballen. Wenn auch daS Baltentum sich gegen alle ehemaligen
Angriffe und Russistkationsversuche zu schützen gewußt hat, so hat man doch auch
in Beziehungen zu Rußland gestanden, weniger auf geistigem als auf praktischem
Gebiete. Neben der allgemeinen Wehrpflicht, welche meistenteils in Petersburg
abgedient wurde, hat der Balle auch in kaufmännischen Beziehungen zu Nußland
gestanden, ja dazwischen auch an leitender Stelle in der Reichshauptstadt gewirkt.
Wir werden in Zukunft den Ballen als den Vermittler zwischen Ost und West
brauchen, das Baltikum wird wieder seine Rolle als Vorposten des deutschen
Gedankens aufnehmen müssen, ein Land mit alt-deutscher Kultur, nicht als deutsche
Kolonie, im eigentlichen Sinne des Wortes, sondern als Brücke, auf der auch in
Zukunft die Annäherung mit unserem östlichen Nachbar erfolgen wird.
Damals vor siebenhundert Jahren waren es religiöse Beweggründe, die die
deutschen Ordensritter hinaustrieben, und den Grund legten zu blühendem,
deutschem Leben, jetzt werden es friedlichere Leute sein, die die Ufer des Baltischen
Meeres aufsuchen müssen. Jedes neue Unternehmen braucht sachkundige Männer,
um sicheren Erfolg zu versprechen. In der Ostenbewegung wird diese Rolle dem
Ballen überlassen sein. Es wird das Auslanddeutschtum seine Pionierarbeit
aufs neue aufnehmen. Unsere Rettung wird Rußland sein. Nicht das bolsche¬
wistische Rußland von heute, sondern das zukünftige. Unsere Zukunft wird mit
ihm eng verbunden sein. Dann wird auch für den Deutschen aus dem Baltikum
die Zeit kommen, da er seine historische Mission wird durchführen können.
Das baltische Deutschtum ist eine Bewegung — die Bewegung des
Deutschtums nach Osten. Der Feldzug und die schweren Jahre der Revolution
haben den Deutschen im Reiche daran erinnert, daß auch außerhalb der
Reichsgrenzen Deutsche wohnen, welche zur Erhaltung und Verbreitung des
deutschen Gedankens beigetragen haben und noch beitragen.
rofessor Adolf Bartels gibt hier eine neueingeleitete, gewissen-
haft durchgesehene und bis auf den Tag umsichtig ergänzte neue
Auflage der letzten fünf Kapitel seines Werkes „Deutsche Dichtung
der Gegenwart", die sich mit den „Jüngsten" des deutschen
Schrifttums — worunter er die Schöngeister und Denker seit dein
Anfang der achtziger Jahre des verflossenen Jahrhunderts bis
heute versteht — beschäftigen. Ein knappes Vorwort belehrt uns, daß diese
Teilausgabe statt einer Neuauflage des ganzen Werkes nur einen Notausweg
für den Verfasser und Verleger bedeutete. Von Rechts wegen hätte das Gesamt¬
wert, dessen letzte (neunte) Auflage bereits binnen Jahresfrist (Ende 1920) wieder
vergriffen war. zum zehnten Male ausgegeben werden müssen. Die fortgesetzt
steigenden Herstellungskosten hätten jedoch nötig gemacht, den nahezu 800 Text-
seiten starken Ganzband zu einem Ladenpreis von mindestens 30 Mark zu ver¬
kaufen, das heißt ihn für die wenig begüterten Kreise, die in erster Linie danach
verlangen: Schriftsteller, Lehrer und Studenten, unerschwinglich zu machen!
Diesen berufsmäßigen Befahrern des Malstroms deutschen Schrifttums ist nun
mit der billigen Neuausgabe des immer wieder ergänznngsbedürftigen Schlu߬
teiles des Gesamtwertes sehr geholfen, nämlich die Beschaffung des erfahrenen
und unentbehrlichen Loifen durch die klippenreichste literarische Strömung der
neuen Zeiten auf olle Fälle ermöglicht. Und fast möchte man den leidigen wirt¬
schaftlichen Schwierigkeiten des Tages danken, daß sie dazu nötigten, die völ¬
kische Geschichte des deutschen Schrifttums der letzten
vierzig Jahre in der vollen übersichtlichen Rundheit einer s e l b se an d i g e n
Erscheinung auf den Plan zu bringen! Denn so bekommt die Literatur-
geschichte des letzten Menschenalters in Deutschland erst die ganze Wucht er-
kenntnistreibendcr Aufklärung! es ist die Geschichte der unaufhaltsamen Ver-
materialisierung und Erotisierung, kurz gesagt: der Verjudung des deutschen
Geistes, die Geschichte seines Verfalls und Z u s a in in e n b r u es s,
die beide ja gar kein schärferes Abbild haben können als im gleichzeitigen Schrift¬
tum. Bu so gedrängter Vorführung aller schöngeistigen und denkerischen Zeit¬
geistspiegelungen empfinden wir, wie kaum bei irgend einer anderen Betrach-
ttmgsart, überwältigend die Unvermeidlichkeit des tragischen deutschen Geschicks;
ersehen aber auch zugleich mit aller Klarheit den rettenden Ausweg: völlige
Loslösung des aufstrebenden deutschen Geistes von seinem
lähmenden Widerspruch, der seimtischen Händler- und Hehler-Sinnlichkeit,
mit der uns vor hundert Jahren der unverzeihliche Leichtsinn deutscher Fürsten
und der Siumpfblick ihrer geldbedürftigen Regierungen zusammengekoppelt hat,
und die uns Schritt vor Schritt, von Heine und Vorne bis zu Schnitzler und
Wedekind, herabzog aus „den Gefilden hoher Ahnen", aus den Höhen des
klassischen Geistes von Weimar, zu Sumpf und Grauen, in die rein geschlechtlichen
Niederungen des „Reigens" und des hirnzerletzenden Blödsinns des Dadaismus.
Vor der rund-reinlichen Abspiegelung solches jahrzehntelangen unaufhalt¬
samen geistigen Niedergangs wird auch das geschichtliche Verdienst
Adolf Bartels erst so recht ersichtlich. spiegelt der Verfasser damit doch
die Jahrzehnte seiner Vereinsamung, seiner grimmigen Anfechtungen, seiner un¬
beugsamen, immerwachen Standhaftigkeit zur völkischen Sache. Große Spannkraft
und persönliche Tapferkeit waren da für ihn nötig, noch mehr ästhetischer Instinkt
für Echt und Unecht von ungewöhnlicher Stärke, mit dem allein Bartels — ohne
Vorarbeiter auf diesem GebietI — sich zuerst selber zurechtfinden konnte, in dem
Chaos von Gegensätzlichkeiten, wie es das „deutsche" Schrifttum dieser Zeitspanne
immer toller und rätselvoller vor dem unberatenen Zeitgenossen aufquirlte —,
man denke nur so gegenfüßlerischer Gleichzeitigkeiten wie Wildenbruch-Schnitzler, j
ChamberleimFritz Mauthner oder Rudolf Steiner, Lienhard-Sternheim, Marie
v. Ebner-Eschenbach und die Laster-Schüler und u. s, f. ... Man wird der un¬
unsäglichen Wohltat der Aufklärung dieser Widersprüche durch den rassischen
Unterscheiderinstinkt bei Bartels erst ganz inne, wenn man die heillose Ver¬
wirrung, ja Verblödung des öffentlichen Urteils ins Auge faßt, die immer weitere
Kreise ergriff unter der stumpfgesichtigen Neunmalklugheit, mit der andererseits
die von der Weltjournaille emporgelobtesten „liberalen" Auchkünstler in ihren
Literaturgeschichten alle diese unvereinbarer Gegensätze als Auswirkungen ein und
desselben „deutschen Geistes" immer wieder uns mundgerecht zu macheu suchten (!)
Wie lange klang da Bartels Stimme gar nicht durch oder höchstens als die des
Predigers in der Wüste! Erst nach und nach fanden sich Mitstrebende, z. B,
Verfasser und Verleger des „Seni-Gotha", und zu dessen nützlichem Gegenstück,
dem „Seni-Kürschner", gaben Wohl erst recht Bartels bahnbrechende Unter¬
scheidungsbefunde zwischen dem Wirken jüdischer und deutscher Geistigkeit in seiner
„D.D. der Gegmw." — sie erschien 1897! — den gewichtigen Anstoß. Indem seine
Entlarvungen der Träger oft scheinbar harmlosester urdeutscher Namen als volks¬
fremde r Geister im Zusammenhalt mit ihren bedenklichen Hervorbringungen
die furchtbaren G efahren d er Sntartung aus einer gedankenlosen Ver¬
mischung absolut gegensätzlicher Menschenarten zeigte, erweckte er zum ersten Male
wieder genealogisches Interesse selbst in b ü r g e r l ich e n Kreisen, da Gencal-
Logik ja sogar in den hierzu wesentlich verpflichteten adeligen Kreisen
unter der Herrschaft der gleichmacherischen, internationalistischen Judenbotschaft
vom allein seligmachenden Geldsack bereits einzuschlummern begann, so daß man
sich schon bei der Tatsache des Gctauflseins (I) beider Eltern, oft sogar des
nomengebenden Vaters allein, über das „reinblutigo Deutschtum" eines Mannes
beruhigte . . . .; die häufig viel wichtigeren Einflüsse der Großeltern übersieht
man noch heute, selbst in Kreisen, die sich völkischer Gesinnung rühmen; nud gar
ein Grundgesetz der Vererbung kennt man kaum erst, wonach nämlich die mütter¬
liche Herkunft für die Beschaffenheit nationaler Gesinnung des Sprößlings
weitaus entscheidender ist als die väterliche. Aus Bartels „Jüngsten" kann das
jeder aufmerksame Leser lernen. Ich erwähne da nur die zwei Falle Frank
Wedekind und Alfred H e n s es k e - K l a b u n d . zu deren Vereinigung ich
selbst erst im verflossenen Jahre beitragen durste und deren noch frische Ergebnisse
-Lartels bereits in seinem neuen Bande ducht. Nebenbei gesagt, eine Stichprobe
ans die nimmermüde Umsichtigkeit dieses Partisans rassischer Geistigkeit. Sie
besteht aber nicht nur diese Stichprobe. Auch im aufbauenden bejahenden Sinne
waltet solche Umsicht bei Bartels. So entging ihm kaum ein bedeutendes Buch
der letzten Jahre, im Geiste von Deutschlands Erneuerung und mit wirtlich künst¬
lerischer Begabung geschrieben; Namen wie Otto Martin Johannes,
Kurt Gerlach, Friedr. Jos. Perkonig, G r e t e Ur b an i dz k y, die
erst im letzten Jahre Proben bedeutenden Talents vor die Öffentlichkeit brachten
und zweifellos starke Hoffnungen der deutschen Literatur genannt werden müssen,
— Bartels zeigt sie unter seinen „Jüngsten" mit nachdrücklichen Hinweisen
bereits auf! Einzig H a n s S es l i ep in a n n vermisse ich in diesen Reihen, zwar
nicht an Jahren, aber an Zioilkurage und innerer Spannkraft ein „jüngster"
Deutscher, und den Bartels in den Heften seines „deutschen Schrifttums" mit
sicherem Instinkt auch als eine für unsere völkische Kunst sehr wichtige Begabung
bereits wärmstens willkommen geheißen hat, namentlich seinem geiht- und gehalt¬
vollen Roman „Was das Leben erfüllt" (Matsch, Hartenstein im Erzgeb.)
verdiente Achtung zollend.
Gegenüber der Legende der Verkleinerer Vartels, als sei er in einseitigsten
Vorurteilen befangen und habe für jeden, den er auch nur für einen Juden
„halte", sofort die „schlechte Note" bereit, braucht man wieder nur auf den Fall
Jacob Wassermann verweisen. Ich denke, Wassermann wird sich über die
natürlich bedingte aber respektvolle Einschätzung, die ihm ein offener Geistgegner
wie Bartels zollt, mehr freuen als über alle Lobhudeleien der ihm stamm¬
verwandten Journaille. Ja, in Füllen wie denen Franz Werfels und
Klabunds, dieses Duodez-Wedekinds, hätte ich in diesem Pfadweiser durch
die Literatur des Tages eine weit nachdrücklichere, eingehendere Ablehnung für
richtiger gehalten, eine gewisse antisemitische Grimmigkeit, die man Bartels gerne
und zu unrecht nachsagt, wäre da einmal am Platze gewesen. Allein für die
epische Meintat seines sogenannten Eulenspiegel-Romans „Bakre", eine der wider-
lichsten Besudelungen alles deutschvölkischen und deutschchristlichen Vorstellungsguts
in deutscher Sprache, hätte Herr Klabund, dieser, wie er sich selbst einmal gekenn¬
zeichnet hat, „von einem Gott ausgekotzte Haufen Dreck", einen ragenden Pranger
im „Jüngsten"-Buche verdient, zumal im „Brake"-Buch die hochverräterischen
Machenschaften dieser Art von wurzellosen Jünglingen während des Krieges mit
eineni Zynismus ohnegleichen angedeutet werden----
Und weil ich nun schon daran bin, die vielen Vorzüge des Bartels-Buches
— ihr erquickendster ist wie in allen Büchern und Schriften dieses Verfassers ihre
frei von der Leber weg, wie in einem Gespräch mit vertrauten Freunden hin¬
fließende orstio cüwLta — durch einige kleine Schatteustriche zu verstärken, nenne
ich gleich drei Dinge, deren Änderung oder Milderung einer nächsten Auflage
dieser „Jüngsten" aufrichtig zu wünschen wäre! Zuerst die Sache, die am leich¬
testen wiegt: Auf Seite 80 schreibt Vartels von der rechtsstehenden nichtjüdischer
Presse das in dieser Verallgemeinerung unhaltbare Wort: „Auch nicht ein
deutsches Blatt hat daher bis jetzt den Mut gefunden, beispielsweise der jüdischen
Theaterwirtschaft so entgegenzutreten, wie sie es verdiente". Gewiß sind bei
vielen deutschnationalgesinnten Blättern unverzeihliche Nachlässigkeiten in dieser
Hinsicht zu beklagen. Hat aber Professor Bartels seit zwei Jahren wirklich die
„Deutsche Zeitung" und die „Tägliche Rundschau" nie gelesen, für die beide er
doch nicht selten wertvolle Beitrüge schreibt? Bei der „Täglichen Rundschau"
kann man vielleicht noch sagen, daß sie nicht immer folgerichtig sei. Neben den
ausgezeichneten Kampfartikeln Erich Schlaikjers gegen die jüdische Theater¬
wirtschaft, nmestens sogar in eineni sehr lesenswerten Bande unter dem Titel
„Der K ampf mit der Schande" im Verlage der „Täglichen Rundschau"
gesammelt herausgekommen, finden sich im selben Blatte gelegentlich un¬
begreifliche Duldungen, ja Förderungen jüdischer Kitschtheaterei, Nichtsdestoweniger.
Schlaikjers offene Kampfartikel sind da und können doch unmöglich verleugnet
werden I Die „Deutsche Zeitung" aber treibt, mindestens seit Herbst 1919 bis
auf diesen Tag, eine geschlossene und entschlossene Abwehr der jüdischen Theater¬
wirtschaft ohne Verblümung und ohne Nachsicht. Professor Bartels wird also
gut tun, den oben angeführten Satz zu berichtigen!
Nun der wesentlichere Fall: In der neugearbeiteten Einleitung des
„Jüngsten"-Bandes steht ein wichtiges, in seiner lückenlosen Aufzählung aller
hergehörigen Literatur auch hochbeachtliches Kapitel „Die Geschichtsschreiber der
deutschen Literatur des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts". Darin verwirft
Bartels nun seine zeitgenössischen Fachkollegen samt und sonders mit der flüch¬
tigsten Aburteilung auf genau sieben Druckzeilen! Das scheint mir unbedingt
anstößig. Hier ist er nun einmal — rein objektiv genommen — „Partei" und
müßte schon deshalb sich die Mühe nehmen, seine absprechender Beurteilungen
mit gewissenhaftester Sachlichkeit zu begründen. Man darf doch wirklich nicht
einen Fachkollegen wie Geheimrat Max Koch in Breslau, den nicht wenige
Kenner ob seiner prachtvollen deutschnationalen Gesinnung am liebsten unter allen
deutschen Literaturgeschichtslehrern neben Adolf Bartels stellen möchten (wofern
er nur etwas mehr Klarheit in seiner Haltung gegen das Judentum hätte), —
mit genau drei Worten als „im Urteil ungleich" zu einem Alfred Biese in den
Wursttopf werfen I Mag immerhin im einzelnen zu einer solchen Ausstellung
Anlaß da sein, z. B. im Hinblick auf Kochs anfängliche und unhaltbare Über¬
schätzung Sudermanns —, Koch hat doch auch, wie Bartels das seine, ein ganz
besonderes Verdienst, das ihm ein für allemal einen vordersten Platz unter den
Liieraturgeschichtslehrern des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts einräumt,
und das ist seine vorbildliche Einstellung Richard. Wagners und des Bay-
reuther Kunstwerks in die Entwickelung der deutschen Literatur, worin er Pro¬
fessor Bartels zweifellos — leider — hoch überragt. Koch ist nämlich heute
noch der einzige seines Faches, der vor der machtvollen Persönlichkeit des
Bayreuthers, weil sie aus dem engen Nahmen der rein literarischen, das heißt
papiernen, druckerschwärzlichen Sphäre hinauswächst, nicht verlegen den Kopf
versteckt, sondern im Gegenteil sie als die machtvolle Synthese, als Kulminations-
ereignis des gesamten germanischen Kunststrebvns von Jahrhunderten begreift und
überzeugend dartut, wie die Entwicklung der Literatur bis Goethe, Schiller, Herder,
Jean Paul, Kleist, Grillparzer. E. T. A. Hoffmann das Bayreuther Kunstwerk
— unbewußt! — nicht nur nicht ablehnt, sondern ersehnt, vorbereitet
und, als Erfüllung kühnster, künstlerischer Hoffnungsträmne langer Geschlechter¬
reihen, „her aufführen" haist Nur dadurch empfängt z. B.'die ganz merk¬
würdige vorwagnersche Epoche der literarischen „Romantik", die sicher nicht zu¬
fällig zeitlich mit der vollsten Entfaltung auch der Tonkunst als Sonderkunst
zusammenfällt, einen tiefen Sinn, den ihr die nicht musikalischen Verfasser unserer
übrigen Literaturgeschichten — auch Bartels — nicht zu geben wissen. Aber
auch den nationalen Aufschwung der Literatur zwischen 1850—1880 wird man
nie ganz ohne die mächtige Anziehungskraft des „Tannhäuser"-, „Lohengrin"-,
„Nibelungen"-, „Tristan"- und „Meistersinger"-Schöpfers für jene Zeit erklären
können, d.^h. jenes Mannes, der in Wort, Werk und Tat seit 1842 ununter¬
brochen die tiefsten Tiefen deutschen Wesens mit der vereinigten Eindruckswucht
aller lebendigen Sonderkünste in seine Zeit hincmsspicgelte und tönte. Ebenso
begreift sich die ganze Entwicklung des modernen Theaters nur von Wagners'
dämonischer Belebung des Bühnenzaubers in Wien und München (1861—1868)
und von den Anregungen seiner Bayreuther Festkunstveranstaltungen (1876 und
1882, im besonderen her. Eridlich weiß über den (notwendigen) Verfall aller
Sonderkünste seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts — nicht nur
der Dichtkunst als solcher allein — keiner eine zureichende Erklärung, der nicht
die von genialen Erhellungen überquillenden Schriften Richard Wagners,
vor allem sein Buch „Oper und Drama" kennt, und weiß, daß hier, anregend,
wie mahnend und warnend, der G r u n d l a g en b a u er einer vollblütig
germanischen Ästhetik allerKüuste. der „neue Lessing", den Professor
Bartels heute noch für Deutschland erwartet, bereits aus dem Vollen heraus sich
geoffenbart hat, leider ohne gehört zu werden; so daß der Verfall unserer
Künste, der ja nur aus der Unklarheit jeder Kunst über ihre Kräfte und Kraft-
gränzen erflvß, nur durch die Nichtachtung dieses Klärers und Offenbarers
als ganz unabwendbare Folge sich ergeben mußte, wie meinetwegen Troja verfiel
an der Nichtachtung, ja Verhöhnung der Stimme, der Warnungen und Antriebe
einer Kasscmdm...
Das alles vermittelt Max Kochs Betrachtung der Literatur seit den Klassiker¬
jagen bis heute, wie gesagt, ganz einzigartig und, ob für oder wider, bei einer
Abschätzung durch den Fnchkollegen darf diese besondere Eigenart seiner Litemtur-
und Kunstschau doch nicht geflissentlich übersehen werden I Aber leider — und
jetzt komme ich zu dem wichtigsten meiner Anliegen an Adolf Bartels — gerade
Kochs Stellung zu Wagner scheint ihn für Bartels reif zu geringschätziger Be¬
handlung zu machen I Denn in der Verkennung Wagners übertrifft auch
der judenUberalfle Söldner der „Frankfurter Zeitung" — Gott sei's geklagt! —
nicht unseren prächtigen Adolf Bartels I Hierin geht Bartels bis zur Unsichtig¬
keit und Ungerechtigkeit; und in seinen „Jüngsten" schreibt er (S. 12) sogar diese
peinlichen Sätze: „daß die gewaltigste Erscheinung, die aus der Verfallzeit der
siebziger Jahre zu uns herüberleuchtet, Richard Wagner, der Dichter-Musiker, ist,
kann niemand bestreiten und es wäre vermessen, einen Niedergang Wagners
voraussagen zu wollen (I)..." (Ja. warum denn auch? Wer, außer
den Internationalisten der „Frankfurter Zeitung", könnte das „wollen"? —) „die
deutsche Opernbühne gehört ihm auch heute noch (I) Aber dem Dramatiker
Wagner gegenüber müssenwirdochnachuudnachetwas skeptisch
werden und vielleicht auch der Persönlichkeit gegenüber: beide
haben uns kaum so viel gegeben als wir, „fasziniert", wie wir waren, ange¬
nommen haben" (!!) Mit solchen Worten stellt sich der völkische Pfadfinder
Adolf Bartels Schulter an Schulter neben den bereits schwer geisteskranken Pamph-
letisten Nietzsche (von 1886 etwa) und schmiegt sich dicht an den rassisch-berufs-
mäßigen Verkleinerer des größten deutschen Kunstgenius, an den Verfasser der
„Entzauberten" (19l3), an Herrn Emil Cohn-Ludwig aus Breslaul Und
zwar ohne den leisesten Versuch einer Begründung solcher Äußerungen, Warum
müssen wir denn vor Wagners Dramatik „skeptisch" werden? Weil ihr heute,
im achten Jahrzehnt ihres Daseins, die deutsche Opernbühne „noch" gehört?
Es gehört ihr aber nicht nur die deutsche, sondern die Opernbühne der g c-
hanter zivilisierten, auch derdeutschfeindlichenWeltl Trotz
aller Machenschaften des Naubverbands gegen den deutschen Geist und deutsche
Geltung ist Wagners Werk das einzige „Boche"-Kunstwerk des neunzehnten Jahr-
Hunderts, das heute noch unwiderstehlicher Magnet ist für Madrid wie für Stock-
Holm, für Rom wie für London, für New Aork wie für Paris, trotzdem Wagner
sein altdeutsches Herz wahrlich nie verleugnet hat — namentlich vor Frankreich
nicht — und ihm bittere Wahrheiten zu hören gegeben halt (Aus welchem Grunde
Wagners Werk auch während des Krieges in allen Raubverbandsstaaten ge¬
flissentlich unterdrückt worden ist.) Die stolzesten Beweise unerschütterter Über¬
legenheit deutscheu Kunstgeistes über das Ausland knüpfen sich seit
dem unseligen Ausgang des Krieges, der uns Deutschen sonst nur ein Meer von
Erniedrigung und Leiden erleben ließ, einzig und allein bis jetzt an die un ge¬
schwächte „Faszi Nation" aller Welt durch Wagners orphische
Darstellungen deutschen, nämlich: rein menschlichen, Wesens in
Wort, Ton und (Szenen) Bild. W er wird also „nach und nach etwas
skeptisch" gegen Wagners Dramatik? Außer den Leuten der XlImnLe israelite
und ihrem literarischen Agenten Cohn-Ludwig — Professor Bartels, der Dith-
marsensproß I Und es soll uns nicht wehe tun, ihn in solcher Gesellschaft
zu sehen?
Und warum gar müssen wir „vielleicht auch" (I) vor Wagners Persön¬
lichkeit skeptisch werden? So lange wir aus das Gr ann deutschen Wesens,
wie wir es außer im Charakter unserer allergrößten Deutschen, eines Luther,
Beethoven, Bismarck, kaum je so körnig und festgefügt verkörpert hatten als in
Richard Wagners Persönlichkeit —, so lange wir darauf die ganze Hoffnung unserer
Erneuerung als Volk setzen, kann uns im Gegenteil aus der Persönlichkeit des
Bayreuthers doch nur der allergewaltigste Kraftzuwachs guillen! Ein Mann,
der, wie er, vierzig Jahre lang, unbeugsam nach oben und unten, einer Welt von
Feinden, von Halbschlächtigen und Entartenden die Stirn geboten und ihr nicht
ein Titelchen seiner künstlerischen Überzeugung preisgegeben hat, ja. aller Wider¬
sacher im stolzesten Sinn Herr geworden ist, wie Richard Wagner; eine
Persönlichkeit, die ihre Geltung so ganz nur im Unpersönlichen, nämlich, im
Völkischen, und zwar in der lautersten, geläutertsten Form völkischen Wesens
suchte, wie er, sollte dem heutigen deutschen Not- und Elendgeschlecht nichts mehr
zu geben vermögen? Ein Mann, der die Losung „deutsch sein heißt, eine Sache
nicht um des Ruhmes oder eines Vorteils willen, sondern ganz um ihrerselbst
willen tun", — Bartels zitiert das Wort ohne seinen Urheber auf S. 174! —
recht eigentlich wie ein Menetekel für das Deutschland des zwanzigsten Jahrhunderts
hinschrieb, aber ihm auch vorlebte; ein Mann, dessen letztes Vermächtnis an
die deutschen GeschlechSer hinter ihm die Aufforderung zu dem Schwur war:
„Wir erkennen den Grund des Verfalls der historischen Menschheit, sowie die
Notwendigkeit einer Wiedergeburt derselben, wir glauben an dieMöglich-
keit dieser Wiedergeburt und widmen uns ihrer Durch¬
führung in jedem Sinne" —, der hätte als Denker und Persönlichkeit
keine Bedeutung für das Deutschland von heute mehr, das doch jetzt erst
weiß, wie viele geniale tragische Voraussicht in diesem Worte Wagners aus dem
Jahre 1881 (I) steckt, und jetzt erst zu erkennen anfängt, daß sein eigenes
Sein und Nichtsein einzig davon abhängt, ob es den Glauben an die „Möglich¬
keit seiner Wiedergeburt" und den Willen, sich „ihrer Durchführung in jedem
Sinne zu widmen", bejaht oder verneint?
Genug —, so viel ist ersichtlich, daß Adolf Bartels — vielleicht halb unbe¬
wußt — dem letzten großen Auftriebsgenius Deutschlands — auf dem jetzt
wichtigsten Gebiete rassischer Bekenntnis sogar sein tätigster Vorarbeiter und Weg¬
bahner —, daß. sage ich, Bartels dein Bayreuther Meister, statt sich ihn als
glorreichen Bundesgenossen im Kampf um die Reinerhaltung deutschen Geistes zu
erlesen, offensichtliche Antipathie entgegenbringt! Die alte ewige deutsche
Tragikomödie, wonach die besten Geister Deutschlands, anstatt sich die Hand zu
reichen, am liebsten aufeinander losschlagen, ist da wieder um einen peinlichen
Fall vermehrt. Heißt das —: Richard Wagner, wenn er noch lebte, hätte seiner¬
seits sicher nicht das Geringste gegen Adolf Bartels einzuwenden, es sei denn,
daß er (Wagner) dann heute, wahrscheinlich immer noch seine eigenen Nibelungen-
Dramen (zum Unterschied von Bartels) für besser hielte als die von Bartels'
engerem Landsmann Friedrich Hebbel. .. Das wäre aber sein gutes Recht,
und die ganze Welt, auch die deutschfeindliche, bekräftigte es ihm; sie, die von
Wagners Nibelungendramen nun einmal unleugbar seit K0 Jahren „fasziniert"
ist und von denen Hebbels seit 70 Jahren und darüber nichts weiter wissen will
als daß sie höflich den Hut lüftet, wenn davon die Rede ist. Damit soll nun
beileibe nicht in den Fehler Professor Bartels' verfallen und etwa der Versuch
gemacht werden, Hebbels dichterisches Höhenmaß, das sich ja hinlänglich in anderen
Werken offenbart, herabzudrücken. Es ist auch noch keine Schande, für einen
hochgewachsenen Mann, wenn er einem Riesen, wie er nur vielleicht e i n mal alle
Halbjahrtausend unter uns sich aufreckt, nicht über die Achseln reicht I Jede ver¬
gleichende Werteinschätzung der beiden Dichtungen unterbleibe hier also und nur
— umgekehrt — werde Einspruch erhoben, daß der Halbjahrtausend-Riese ge¬
flissentlich um anderthalb Kopf kleiner gemacht werden soll, damit der achselhöhe
Mann nun als der „Riese" dastehe! Mit anderen Worten, es geht nicht länger,
an, daß Professor Bartels einen „Fall Wagner" aus dem landsmannschaftlichen
Froschgesichtswinkel sich zurecht macht, wo nur die völkische Adler schau,
die ja sonst durchaus Bartels' edle eigenste Sache ist, zu entscheiden hat.
Das mußte einmal gesagt werden und ist hier in aller geziemender Wert¬
schätzung und Ehrerbietung des hochverdienten völkischen Treuwardeins Bartels
gesagt. Und ich hoffe zuversichtlich, Professor Bartels werde sich der Erkenntnis
nicht länger verschließen, daß man den Künstler, der seinem Volk das „Ehrt
eure deutschen Meister, dann bannt ihr g nee G el se er " als heiliges
Wissensgut ins Herz pflanzte, nicht Herabdrücken darf zu einer „nach und nach
etwas skeptisch" zu behandelnden Persönlichkeit, ohne sich gegen den besten Geist
deutscher Kultur zu versündigen! Und in dieser Erkenntnis wird Bartels doch
wohl gerne in künftigen Auflagen seiner „Jüngsten" und auch anderwärts seine
offenen und versteckten Angriffe auf Richard Wagner tilgen und durch Sätze ver¬
dienter Achtung, ja vielleicht der Liebe ersetzen, die selbst geringere Mitkämpfer
um das gleiche Ziel völkischer Läuterung verdienen. Adolf Bartels würde durch
eine solche Tat der Besiegung persönlicher Gebundenheit nur im Sinne jener
Tapferkeit handeln, die er selbst so schön anruft, wenn er in unserem Buche
(Seite 190) sagt: „Unsere Zukunft hängt überhaupt davon ab, ob wir uns wieder
voll auf unsere Pflichten, unsere Volkstumspflichten besinnen und den
Mut aufbringen können, sie rücksichtslos zu vertreten. Werden wir nicht
tapfer, gehen wir zugrund e."
Es gibt nun auch eine T ap f er k e i t g e g e n si es s e l b se, die getrost
den Besen an die Gespinste deS eigenen Hirnes legt, wenn VolkstumSpflicht es
nötig macht. Denn daß wir Deutsche heute anderes zu tun haben, als noch
immer im Verein mit der ^Iliancs israelite die Sendung des Meistersinger-
Schöpfers anzuzweifeln, den zu verkleinern, der uns eine solche Fülle erhabenster
And lieblichster Jnbilder germanischen Wesens von Wotan und Parsifal bis zu
Evchen Pogner und Freia vor die Seele gestellt hat; daß wir jetzt Besseres zu
tun haben als die Bundesgenossenschaft dessen abzulehnen, der die Epoche pazi¬
fistischer Schmusereien durch den Mund seines König Heinrich, des Finklers,
über das Jahrhundert hinweg bedeutsam bescheidet: „Für deutsches Land
das deutsche Schwert, so sei des Reiches Kraft bewährt...",
wird Adolf Bartels bei einiger Besinnung sicher nicht bestreikn!
er Kunst im allgemeinen, der bildenden Kunst insbesondere, wird
das nahe Ende von manchem Propheten geweissagt, den nament¬
lich die Kapriolen der jüngsten Malerei wie Todeszuckungen an¬
muten. Daß vieles in diesen jüngsten Zeiten nach Fäulnis riecht,
läßt sich ja nicht abstreiten. Trotzdem sollte man Bedenken tragen,
das Schreckbild des jüngsten Tages an die Wand zu malen. Wie oft ist die
große Schlußkatastrophe schon angekündigt worden — und die Welt lebt und
schafft noch und trotz alledem mit erneuten Natur- und Geisteslenzen ruhig weiter.
Wir stehen den erschütternden und umwälzenden Ereignissen der jüngsten
Vergangenheit noch zu nahe, ja eigentlich stehen wir ja noch mitten in ihnen.
Ein schlüssiges und maßgebliches Urteil ist aber stets nur im Abstand zu ge¬
winnen. Ich habe oft, gerade in den Augen der Besten, ein Entsetzen starren
sehen über den Zusammenbruch ihrer freilich allzu ideologischen Friedens- und
Kulturillusionen, über die Heraufkunft des neuen Antichrists in Gestalt einer wo¬
möglich noch ins Zehnfach-Mörderische gesteigerten Technik. Man kann dies bis ins
Innerste nachfühlen — und braucht doch nicht die gleichen verzweifelten Schlüsse
zu ziehen. Der alte Tragiker hat recht: nichts ist furchtbar-gewaltiger
l>v6-r°x>°v) als der Mensch. Auf beidem, dem „furchtbar" wie dem „gewaltig",
liegt der Ton. Die Menschheit hat in Jahrtausenden Furchtbares gelitten, Furcht¬
bares verübt — dennoch ist sie mit dem göttlichen Leichtsinn, mit der unschuldigen
Brutalität der Natur immer wieder neu, frisch und zeugungsfähig gewesen. „Die
Geschichte macht es nicht anders als die Natur", sagt Jacob Burckhardt. Läßt sie
hier den Faden fallen, so knüpft sie ihn dort wieder an. Vielleicht ist es doch
nicht ganz töricht und sinnlos, heut den Blick nach Osten zu wenden; vielleicht
sind besonders Russen, Inder und Ostasiaten in der Tat noch ein Reservoir un¬
verbrauchter Kräfte. Und daß der Mensch schon heut, in einer vielleicht noch
frühen Epoche seiner Gesamtgeschichte, am Ende sei, fällt schwer zu glauben. Gewisse
Grenzen mögen ihm — schon in der anatomischen Struktur seines Hirns —
gesteckt sein, — aber in diesen seinen Hirnwänden hat er bisher doch immer noch
produktive Überraschungen hervorgezaubert.
So ist wohl auch für Kunst und Literatur noch nicht aller Tage Abend.
Aber die Situation ist unzweifelhaft kritisch — und insofern rechtfertigt sie das
Weissagungsbedürfnis. Vor längerer Zeit — wenn ich nicht irre, vor dem
Kriege — wurde schon einmal bei Tagesberühmtheiten über die Zukunft der
Literatur „ungefragt". Schon damals lauteten manche Antworten pessimistisch.
Aber schließlich ist die Literatur noch nicht am Ende, wenn die Weisheit der
Literaten und das Angebot der großstädtischen Kunstmärkte am Ende ist. Das
Wunderlichste ist eigentlich, daß die letzte, schon längst für sterbereif erklärte Mode
des Expressionimus noch immer andauert. Aber es ist nichts Anderes, Besseres
da! — Wenn es übrigens nur echter Expresstonisinus wärel Im Expressionismus
steckt abgesehen von seinem ^s-nov VM°?, dem überspringen der sinnlichen Er»
scheinung, unzweifelhaft ein guter Kern; aber in praxi kreuzt sich sein Wille zur
metaphysischen Innerlichkeit leider mit dem zur knalligsten, plakathaft grellen
Äußerlichkeit. Auch mit seiner billigen, ins Leere verpuffenden Dauerekstase ist es
nicht getan. Das Ganze läuft auf eine bloß witzige Paradoxie hinaus: Die
angeblich „revolutionärste" Literatur ist in Wahrheit menschlich und künstlerisch
reaktionär. Denn der wahre „Fortschritt" in den Künsten liegt in der Richtung
des Seelischen, Persönlichen, der Intimität und der Nuance. (Womit nicht über¬
schätztes Asthetentum gefordert und nicht die Pflege großer nationaler oder
sozialer Allgemeingefühle verschlossen wird.) Vor allem geht eine vorwärts und
aufwärts weisende Entwicklung vom Snobismus jeder Art weg zum Echten,
Tiefmenschlichen. Rückläufige Teilbewegungen können sich mit jeder wahren Fort¬
schrittskurve vertragen: Kompliziertheit löst und erlöst sich oft in Naivetät, und
Überspannung und Verwilderung des Barock mündet zumeist in einen neuen
Klassizismus, wie man zum Beispiel in Frankreich die Wendung von Picaggo
zu Ingres bereits vollzogen hat. Aber letzten Endes entscheidet eben überhaupt
kein — „ismus", sondern Persönlichkeit, Genie und Tat.
Indien gibt den deutschen Gebildeten gegenwärtig eine
Reihe von Problemen auf. Das Interesse an der indischen Kultur ist seit den
Tagen Goethes und der Romantiker, mehr noch seit Schopenhauer in Deutsch¬
land ein entschiedenes gewesen, ohne daß es bis in die letzte Zeit hinreichende
Nahrung aus zuverlässigen Darstellungen gesunden hätte. Das Aufkommen der
neubuddhistischen und theosophischen Bewegung ist auch in Deutschland mit der
Propaganda für ganz obskure und verzerrte „indische Weisheit" verbunden ge-
Wesen. Um so mehr müssen wir es begrüßen, wenn uns. neuerdings einzelne
Arbeiten geschenkt werden, aus denen W.ir gründliche, sachliche und dabei leicht
zugängliche Belehrung schöpfen können. Dabei ist zu bemerken, daß dem Deut¬
schen die gegenwärtige politische und kulturelle Lage Indiens nicht weniger
wichtig sein muß, als" der Rückblick auf die großen vergangenen Kulturleistungen
des indischen Geistes.
Mit der ersteren beschäftigen sich zwei Bücher, die der Verlag K. F. Koester
zugänglich gemacht hat. In' einer trefflichen Übersetzung von Legationsrat
Dr. W. O. von Heutig ist das Werk des englischen Sozialisten H. M. Hynd-
en a n, „Der Aufstieg des Morgenlandes" sNie /vveKeninZ ok ^sia) in diesem
Jahre erschienen. Allerdings greift die Darstellung weit über die indischen Ver¬
hältnisse hinaus und beleuchtet das asiatische Problem im allgemeinen. Sie ist
das Zeugnis jenes historisch geschulten und dabei auf gegenwärtige politische Not¬
wendigkeiten scharf eingestellten nationalen Selbstbewußtseins, um das wir die
Engländer beneiden können. Der 'Verfasser ist überzeugter Sozialist, seine Aus¬
führungen werden also auch von Anhängern des demokratischen Gedankens in
Deutschland vertrauensvoll gehört werden. Andererseits aber steht ihm die Gro߬
macht Englands über alle innerpolitischen Wünsche hinaus als unverrückbares
Ziel vor Angen. Das hindert ihn nicht an einer sachlichen, ungemein scharfen
Kritik der europäischen Politik und Kulturpropaganda in Indien und Ostasien.
Insbesondere wird die englische Kolonialpolitik in Indien' seit ihren Anfängen
bis auf die Gegenwart eingehend und ohne Beschönigungen beurteilt. Zu Eingang
seines Buches faßt der Verfasser die Geschichte der älteren Beziehungen zwischen
Asien und Europa kurz zusammen, von Interesse sind hier die Darstellungen
des Eindringens der.Portugiesen in Indien und der älteren christlichen Mission
in China und Japan', in deren Verfehlungen mit Recht einer der Hauptgründe
für die Entfremdung zwischen Ostasien und Europa aufgezeigt wird. Daran
schließen sich in mehreren Kapiteln eindringende Analysen der modernen chine¬
sischen und japanischen Entwicklung. Es gibt Wohl kaum ein deutsches Buch, das
diese Fragen so sachlich und gedrängt bis in die neueste Zeit hinein behandelte.
Die rückhaltlose Offenheit, mit der der Verfasser über die englische Opiumpolitik
in China und über die Misere der britisch-indischen Finanzen berichtet, gibt
seinen Darstellungen einen besonderen Wert. Auch in ihnen tritt die große Be¬
gabung des Engländers.zutage, scharfe Kritik an seiner ReZierung mit unbedingter
Loyalität zu verbinden. Die Schlüsse, die der Verfasser zieht, sind die folgenden:
die moderne Entwicklung in Asien wird dazu führen — und die europäischen
Mächte, in erster Linie England, werden sich darauf einzustellen haben —, daß
die Doktrin „Asien den Asiaten" in den drei großen Reichen mehr und mehr an¬
erkannt wird. Die Zeiten der Dominionpolitik, der gewaltsamen Aufdrängung
europäischer Wirtschaft, der Entrechtung der Asiaten in den von Europäern be¬
herrschten Gebieten gehen zu Ende. Im übrigen hütet sich der Verfasser, die weitere
Entwicklung vorauszusagen. Auch wir Deutschen haben alle Veranlassung, nicht
zu früh ans unbestimmten Anzeichen auf den beginnenden Zerfall des britischen
Kolonialreiches zu schließen. Die'Solidität dieses Reiches wird im Gegenteil neu
gesichert sein, wenn eine Verständigung zwischen England und den Verewigten
Staaten in wirtschaftlichen und militärtechiüschen Fragen durchgeführt sein wird.
Daß der Vvlkerbundgedanke, falls überhaupt noch jemand an ihn glaubt, für
Asien keinen Belang hat, steht außer Frage. In Anbetracht dessen, daß diese
Fragen gegenwärtig unter den weltpolitischen Problemen an erster Stelle stehen,
kann die eingehende Beschäftigung mit Hyndmans nüchternen und soliden Aus¬
führungen jedem deutschen Leser warm empfohlen werden.
Es ist interessant, das Buch des Engländers mit dem des Deutschen I. A.
Samier „Mein Indien. Erinnerungen aus 15 glücklichen Jahren" (im gleichen
Verlag) zu vergleichen. Sander zeigt in einer Reihe von reizvollen Einzelschilde¬
rungen Indien von innen her, er ist rein menschlich von der Einfachheit und
Farbigkeit des modernen indischen Lebens erfüllt, ohne politische Einstellung und
ohne Bestreben, das große Problem Europa-Asien ins Auge zu fassen. Er ist
vielmehr ganz und gar, mit der eigentümlichen Fähigkeit des Deutschen, in Indien
aufgeganZen. Diese seine Versenkung aber verschafft uns Einblicke in indische
Verhältnisse von einem intimen Reiz, wie sie kaum ein anderer Besucher
Indiens uns vermittelt hat. Wir haben hier ein wertvolles Gegenstück zu
Kipling, dessen Britentum charakteristisch von der Innerlichkeit unseres schwäbi¬
schen Landsmannes verschieden ist. In einer Reihe von schlicht erzählten Er¬
lebnissen sehen wir indische Landschaften und Menschen, unter denen sich der
Verfasser als einer der ihren bewegte, indische Fürstenhäuser und Einsiedeleien,
Freudenfeste und Totenfeste an uus vorüberziehen- Die Trennung von feiner
zweiten Heimat, zu der der Verfasser durch den Krieg gezwungen wurde, bedeutet
ihm einen schmerzlichen Wendepunkt seines Lebens.
Wer vom modernen Indien zu der großen kulturellen Vergangenheit des
Landes zurückblickt, dem bietet sich neuerdings eine vortreffliche Darstellung des
indischen Geistes an einem seiner Höhepunkte. Der Breslauer Jndologe A. H i l l e-
brandt hat soeben eine Arbeit über Kalidasa, den größten indischen Dichter,
der sich nicht nur an den Forscher, sondern an alle Gebildeten wendet, veröffent»
licht (Verlag von M. H. Marcus, Breslau 192t). Seit der erste» Begeisterung,
mit der Kalidasas Drama Sakuntala und sein Wolkenbote in Europa begrüßt
wurden — man denke an Herders und Goethes Äußerungen — war es bisher
zu einer zusammenfassenden Würdigung des Dichters nicht gekommen. Der
Verfasser zieht nun die Summe aus der umfassenden literarwissenschaftlichcu
Arbeit, die seither dem Leben des Dichters und seineu auf uns gelangten Werken
gewidmet worden ist. Er stellt zusammen, was wir über das Leben des Dichters
ermitteln können und reiht diesen dann in den geschichtlichen Zusammenhang
seiner Zeit ein. Dann folgt eine eingehende Charakteristik der einzelnen Werke.
An erster Stelle stehen die vier Versepen, der Wolkenbote, in dem ein Verdammtes
der Wolke Grüße an feine zurückgebliebene Gattin aufträgt und ihr nun in
wundervoll zarter und reicher Schilderung ihren Weg durch die indischen Land¬
schaften vorzeichnet, — die Geburt des Kriegsgottes, dann das große Epos vom
Stamm der Raghus, endlich das Gedicht vom Kreis der Jahreszeiten, das un¬
längst in einer guten deutscheu Ausgabe in der Jnselbücherei erschienen und so¬
mit jeden: Leser unvergängliches ist, der für die unvergleichliche Kunst der indischen
Dichtung, den Gang des Jahres mit dem menschlichen Leben in Beziehung Zu
scheu, Juteresse hat. Von den Epen wendet sich der Verfasser zu den Werken,
die Kalidasas Ruhm eigentlich begründet haben, den Dramen, insbesondere der
Sakuntala und der Urvasi. An die Darstellung der Werke schließen sich eine
Reihe von Etnzelabhaudluugeu,über Kalidasas Quellen, über feine Stellung in
der Kunstdichtung, dann über einzelne literarische Motive (z.'B. humoristische
Einschläge, Naturempfindung), endlich über Kalidasas religiöse Stellung, soweit
sie sich aus seinen Werken ermitteln läßt. Als Beleg für die letztere dienen Zwei
Gebete, die aus deu Versepen entnommen sind, und die einen wertvollen Beitrag
zu den Zusammenstellungen neuerer Forscher über das Gebet in der allgemeinen
Religionsgeschichte geben. Das Buch ist in allen Einzelheiten aus .gelehrter
Forschung hervorgegangen und führt drehe weiter, dennoch hat der Verfasser es
verstanden, alle wissenschaftlichen Bemerkungen in einem Anhang zusammen¬
zufassen und dadurch die Darstellung selber so flüssig und lebendig zu gestalten,
daß sie auch solchen Lesern, die den indischen Dingen ferner stehen, leicht ein¬
gängig ist. Da alles, was der Verfasser bringt, aus der Überschau über die
gesamten Tatsachen hervorgegangen ist, so ist der Leser nicht, wie bei vielen
Büchern über den Orient, der Bßeiuflussung durch einseitige Meinungen oder
falsche Modernität ausgesetzt. Die zeitlich gebundenen und überzeitlich wertvollen
Elemente in Kalidasas Dichtung treten dafür um so schärfer auseinander.
Dasselbe allgemeine Urteil gilt von einer neuen Übersetzungsarbeit des¬
selben Verfassers: Brahmcmas und Upanisaden, Gedanken altindischer Philosophen.
(Die Religion des alten Indien, Bd. I, Eugen Diederichs Verlag, Jena 1!)2l.)
Hier werden wir von der Blüte und der reichen Entfaltung des indischen Geistes,
wie sie in Kalidasas Genius hervortritt, in die Anfange des indischen Denkens
zurückgeführt, wie es sich langsam aus priesterlicher Spekulation über das Opfer
und den Sinn der heiligen Handlungen, in der Beschäftigung mit den Fragen
nach dem Wesen der Welt und des Menschen, zur Selbständigkeit durchringt.
Die indische Literatur hat deswegen eine unvergleichliche Bedeutung, weil sie die
Entwicklung des menschlichen Geistes von den Anfängen, in denen er.ganz natur¬
gebunden ist, bis zu den Höhen freier philosophischer und poetischer Gestaltung in
einer nahezu lückenlosen Folge von Dokumenten darstellt, wahrend bei allen an¬
deren Kulturvölkern die Überlieferung einseitig, verstümmelt und lückenhaft ist.
In der vorliegenden Sammlung von Übersetzungen aus deu mit dem Veda ver¬
bundenen ritualistischeu und philosophischen Erörterungen tritt die allmähliche
Absonderung und Klärung der letzteren auch aufs deutlichste hervor. Dadurch, daß
man die Gedanken dieser frühen Philosophen in allzu große Nähe zur abend¬
ländischen Philosophie gerückt hat, ist ihre Eigenart vielfach verdunkelt worden.
Erst durch neuere Abhandlungen ist die wirkliche geschichtliche Stellung derselben
klargestellt worden. Als selbständige und außerordentlich aufschlußreiche Ergänzung
zu diesen seien die Übersetzungen einem jeden, der über die Anfänge Philosophi¬
schen Denkens Aufschluß sucht, angelegentlichst empfohlen. Die Hauptprobleme,
an deren Hand eine Orientierung in den zunächst fremdartigen Texten möglich
ist, sind in der Einleitung, zusammen in'it einer kurzen Beschreibung des
kulturellen Hintergrundes, zusammengefaßt. Über einige weitere Neuerscheinungen,
die dem Eindringen in die indische Kultur dienen können wird demnächst an
Hans Heiinnch Schaeder
„Nehmt alles nur in allem. Wir sind letzten Endes nur der Willensschwäche
erlegen", der Willensschwäche in der Politik vor und während des Krieges, der
Willensschwäche, die „nach Kriegsbeginn bei der Kriegsleitung zu 'Lande wie
zur See zum Versagen" führte. So lautet das Schlußurteil des Verfassers über
die Schuld an deu: für uns so unglücklichen Auswirken unseres Rückzuges aus
der Marneschlacht,
Dieser Schluß mutet fast versöhnlich an, nachdem man beim Durchlesen des
Buches immerfort von Schuld, vou Versagen, von Fehlern und Unterlassungen
der Obersten Heeresleitung, mancher Armee'führer und kommandierender Generale
gelesen hat,
Verfasser gibt zunächst einen kurzeu Überblick über Kriegsplan und Kriegs¬
vorbereitung, Er erwähnt die bekannte Ablehnung der Forderungen des General¬
stabes durch Kriegsministerium und Reichstag und die mangelhafte wirtschaftliche
Kriegsvorbereitung, Um für manchen ist wohl die Erwähnung des zweiten
Schlieffenschen Feldzugsentwurfes, falls Frankreich sich zunächst zurückhielte,
Verfasser glaubt, seine Befolgung hätte uns vor dem Odium der Kriegserklärung
an Frankreich bewahrt. Ob wir dann aber nicht die besten Trümpfe aus der
Hand gegeben hätten? Über das „stark befestigte rechte Obcrrheinufcr" kann man
verschiedener Ansicht sein. Es Hütte die Grundvorbedingung für den zweiten Ent¬
wurf gebildet, war aber ans fiskalischen Gründen ein Torso geblieben mit allen
Fehlern eines solchen. Die Stärkeangaben der beiderseitigen Heere bei Kriegs¬
ausbruch sind sehr dankenswert, doch sind die Angaben über die deutsche schwere
Artillerie ungenau. Es folgt die Schilderung der kriegerischen Vorgänge beim
Westheere im August, die im'allgemeine» bekannt sein dürften. Von Interesse sind
die daran angeknüpften kritischen Bemerkungen, ans die hier nur verwiesen werden
soll. Sie bestätigen das, was ich in HM 37/Ü8 t/ieser Zeitschrift bereits aus¬
führte: Verlassen des Schlieffenschen Grundgedankens, mit möglichst starkem rechten
Flügel das französische Nordheer'zu umfassen, den linken nur so stark zu halten,
daß er starke feindliche Kräfte festhalten kann. Statt dessen Festrennen des Lu
starken und daher zu angriffsfreudigen linken Flügels (6. und 7. Armee) vor dem
feindlichen Festungsgürtel, Schwächung des schon zu schwachen rechten Flügels
durch vorzeitiges Entsenden zweier Armeekorps nach dem Osten, zu später Ent¬
schluß, Reserven hinter den rechten Flügel zu entsenden. Dazu kommt zu weites
Abbleiben des Gr. H, Qn., verbunden mit der unseligen Politik der halben Ma߬
regeln, d, h, statt 1. bis 3. Armee zum einheitlichen Handeln in eine Heeresgruppe
zusammenzufassen, wiederholtes Unterstellen der 1. unter die 2. Armee und Ver¬
weisen der A. O. K> 2 und 3 auf gegenseitige Vereinbarungen, die bei den schlech¬
ten Verbinduugsmöglichkeiten und dem geringen gegenseitigen Einvernehmen der
beiden Armeeführer nur selten und dann noch unvollkommen zustande kamen.
Jedenfalls konnte der Führer der 2. Armee sich nicht von dem immerhin be¬
schränkten Gesichtskreise seines Armcebereiches und der Aufgabe seiner Armee
loslösen. Er war daher stets bestrebt, die beiden Nachbararmeen seinem Interesse
dienstbar zu machen, wobei er das Interesse des Gesamtheercs, das er allerdings
nicht übersehen konnte, nicht genügend wahrte. Ähnlich lagen die Verhältnisse
bei der 4, und 5, und bei der 6. und 7. Armee, Die O. H. L, ließ die Zügel
am Boden schleifen und fand mich während der ganzen Marneschlacht und wäh¬
rend des Rückzuges nicht die Kraft, sie zur rechten Zeit aufzunehmen und an¬
zuziehen. Dies ist ihre große tragische Schuld, die nur durch den Charakter der
damals in ihr führenden Männer erklärt werden kann. Dazu kam, daß Moltke,
dem energisches Zugreifen an sich schon fern lag, damals schon ein todkranker
Mann war, der Einwirkungen von außen leichter zugänglich war, als sich dies
für den obersten Lenker der Heeresgeschicke paßt. Der Verfasser schreibt dein
Führer der 2, Armee, v. Bülow, überragenden Einfluß auf Moltke zu und hält
diesen Einfluß für unheilvoll. Durch seine überschwenglichen Meldungen von
„entscheidenden" Siegen und von dem „flnchtähnlichcn Rückzüge" der Franzosen
habe er beim Vormärsche im Gr. H. Qu. die Ansicht erweckt, als ser die Entschei¬
dung im Westen schon gefallen, und als könnten unbedenklich 2 Armeekorps vom
rechten Flügel weggenommen und nach dem Osten geschickt werden. Umgekehrt,
habe Bülow während der eigentlichen Marneschlacht und während des Rückzuges
die Lage dauernd zu schwarz angesehen: Seine Armee wäre „zur Schlacke aus¬
gebrannt", die 1. Armee in größter Gefahr, abgedrängt und vernichtet zu werden.
Jedenfalls hat der Abgesandte der O. H. L., Oberstleutnant'Kertsch, diese Ansicht
im Hauptquartier der 2. Armee gewonnen und durch sie, die 'verstärkt wurde durch
Eindrücke, die er hinter dem linken Flügel der 1. Armee, der sich gerade in einer
Krisis befand, empfing, kam dann der Rückzugsbefehl zustande, dem die 1. Armee,
wenn auch heftig widerstrebend, nachkam. Es ist nicht möglich, im Rahmen dieser
kurzen Besprechung auf diese Vorkommnisse näher einzugehen. Ein unleugbares
Verdienst des Verfassers liegt zweifellos in der aktenmüßigen Darstellung der
vielnmstrittencn Tätigkeit des Oberstleutnants Hentsch. Da dieser leider nicht
mehr unter uns weilt, kann er zur Aufklärung nicht mehr beitragen. Der von ihm
1917 erstattete Bericht an die O. H. L., der hier im Wortlaut mitgeteilt wird, er¬
gibt aber zweifellos, daß er jedenfalls nicht bewußt seine Befugnisse überschritten
hat, daß aber diese Befugnisse, wie manche damaligen Anordnungen der O. H. L.,
nur ungenau umgrenzt waren. Nur kurze, allgemeine, mündliche, keine schriftliche
Anweisung, wie weit er in seinen Befugnissen gehen dürfe. Dabei handelte es sich
um das Schicksal des ganzen Feldzuges, das doch mir der oberste Feldherr, nicht
ein jüngerer Abgesandter beeinflussen durfte! Doch wurde diese Bedeutung der
Marneschlacht damals im Gr. H. Q ^. wohl noch> nicht voll erkannt.
die Linie, in der sie Mitte September 1914 im Stellungskrieg erstarrte. Wenn
schon bisher an dem Verhalten des Führers der 2. Armee schonungslose Kritik
geübt wurde, so wird dieses in gleicher Weise bei der Schilderung des Rückzuges
fortgesetzt. Ich bin der Ansicht, daß der Verfasser in der Kritik des verdienstvollen
Armeeführers zu weit geht, daß er insbesondere da, wo die 3. Armee von den
Unordnungen des Führers der 2, Armee betroffen wird, nicht mehr die Objektivität
zeigt, die der Geschichtsforscher haben muß. Das Verhalten der 3. Armee, der
er in. W. damals angehörte, und ihres Führers erscheint ihm tadelfrei, während
er an dem der beiden Nachbararmeen zum Teil vernichtende Kritik übt. Ich kann
ihm darin nicht völlig beistimmen. Wenn er der 2. und 3. Armee zu geringes Ent¬
gegenkommen, geradezu unkameradschaftliches Verhalten vorwirft, so kann man
vom A. O, K, 3 sagen, daß es den Hilferufen der beiden Nachbararmccn zu bereit--
willig nachkam, in einem Maße, das für den Verlauf der Gesamtvperatiouen nicht
immer vorteilhaft war. Zweimal, bei den Kämpfen um den Maasübergang und
während der Marneschlacht zerfiel die 3. Armee in zwei nicht mehr zusammen¬
hängende Teile. Das A. O. K. 3 schaltete sich in der Marncschlacht hierdurch selbst
vollständig aus. Der mehrfach dem Führer der 2. Armee gemachte Vorwurf, daß
er bei Erteilung des Rückzugsbefehles an die rechte Hälfte der 3. Armee in die
Befehlsbefugnisse des A. O. K. 3 eingegriffen habe, ist daher nicht ganz berechtigt.
Die rechte Hälfte der 3. Armee focht eben tatsächlich im Verbände der 2., wie die
linke Hälfte in dem der 4. Armee focht. Eigene Schlachtenziele hatte die 3. Armee
als solche nicht. Ihr damals schwer kranker Führer hatte sich der einheitlichen Füh¬
rung seiner Armee selbst begeben. Ich. bin der Ansicht, daß Vorwürfe, wie sie auf
S. 111 und in noch höherem Maße auf S. 181 gegen die 4. Armee und deren
tapferen Führer, wie insbesondere auch gegen das wackere VIII. A. K. erhoben
werden, die Grenzen einer objektiven Kritik überschreiten. Es mag dies ja die
subjektive Ansicht des Verfassers sein; daß er sie in dieser Weise vor aller
Öffentlichkeit ausspricht, halte ich für bedauerlich. Leider fehlt immer noch eine
Darstellung der Operationen von dem Gesichtswinkel des A. O. K. 4 aus, die erst
eine begründete sachliche Kritik seines Verhaltens ermöglichen würde.
Im übrigen handelt es sich bei diesem Buche um eine sehr verdienstvolle
Arbeit, die zwar nicht selbst Geschichtsschreibung ist — dafür ist ja auch der Ab-
stand von den Geschehnissen zu gering —, die aber dem künftigen Geschichts¬
schreiber wichtiges Quellenmaterial an die Hand gibt.
Die im Buche enthaltenen sehr deutlichen Textskizzeu wären wohl besser
durch eine besondere Karte ersetzt worden, die man beim Lesen neben sich aus¬
breiten kann.
Bündnisse und Kombinationen. Während die am Ende des Krieges in
ungeahnter Selbständigkeit dastehenden Kleinstaaten Südost. und Osteuropas nichts
Eiligeres zu tun gehabt haben, als ihr etwas fadenscheiniges Dasein in Bünd¬
nissen zu verankern, stehen die Großmächte noch immer wie verlegen und zögernd
da. Der große Verband aller gegen die Mittelmächte ist durch den Sieg gegen-
standslos geworden; unter allen Siegern hat es heftige Auseinandersetzungen ge-
geben, die nur darum nicht zu Konflikten geführt haben, weil jeder hinreichend
mit sich selbst beschäftigt war und genug zu tun hatte, die durch den Raub-
bau der Kriegführung entstandene Erschütterung wieder auszugleichen. Nun
aber, da die innere Lage abgesehen von England, wo aber innere Konflikte
nie zu außenpolitischen Katastrophen führen werden, überall mehr oder minder
notdürftig konsolidiert ist (am besten wohl in den Vereinigten Staaten), sieht
man sich allerseits vor der Alternative, entweder isoliert die ganze Welt gegen
sich zu haben (wie zuletzt Deutschland die ganze Welt gegen sich hatte) oder Kom-
binationen einzugehen. Da kein Staat (auch Amerika nicht) augenblicklich stark
genug ist, der ganzen Welt Widerstand zu leisten, so sind Kombinationen unver¬
meidlich. Die Wahl dieser Kombinationen aber ist dadurch erschwert, daß einst¬
weilen Rnszland noch ein unberechenbarer Faktor ist.
Bei Bündnissen ist immer wichtig, daß sich nicht ein schwächerer an einen
Stärkeren bindet, da das zur Absorbierung des Schwächeren in den MachtkreiS
des Stärkeren führt. Dabei ist nicht sowohl die absolute Gesamtstärke und
-schwache der einzelnen Staaten maßgebend, als vielmehr das Verhältnis der
Kräfte an dem Punkte, mit Rücksicht auf den vornehmlich das Bündnis geschlossen
wird. Ehe sich ein schwächerer mit einem Stärkeren in ein Bündnis einlassen
wird, wird er daher lieber mit einem oder mehreren anderen Schwächeren ein
Bündnis gegen den Stärkeren eingehen. Der Wechsel dieser Kombinationen aber
ergibt sich daraus, daß eben die erwähnten Blickpunkte an Wichtigkeit ab- und
zunehmen. Die Schwierigkeit ist nun augenblicklich die, daß zwar das außen¬
politisch ohnmächtige, bisher im wesentlichen passive und wirtschaftlich absolut
abhängige Deutschland sich in jede beliebige Kombination wird pressen lassen, daß
aber zurzeit niemand weiß, wie stark oder schwach Nußland ist und wo es am
stärksten oder schwächsten sein wird. Man hat mit Schrecken die Wahrnehmung
gemacht, daß dies mit riesiger Anstrengung in Osteuropa einstweilen allerdings
niedergeworfene Reich nicht nur Japan und China gegenüber recht kräftig auf¬
tritt, sondern daß es in Mittelasien direkt gesäyrlich wird und daß es gar, mit
den Türken verbündet, als gefährlicher Wettbewerber um Konstantinopel erscheint.
Da gerade an dem Gefahrpunkte Mittelasien zurzeit jedenfalls Nußland ent¬
schieden der Stärkere ist, kann England mit Rußland nicht zusammengehen und
muß sich nach Verbündeten umsehen, um den künftigen Gegner von dem Gefahr¬
punkte wieder abzuwenden. Japan ist hierfür nur in geringem Maße zu ge¬
brauchen, denn einmal sehen weder Australien und Neuseeland noch Indien einen
erneuten Machtzuwachs Japans gern, und zweitens würde eine zu starke japanische
Expansion in Sibirien über kurz oder lang wahrscheinlich zu einem Konflikt mit
Amerika führen, in den sich England nur ungern würde hineinziehen lassen.
Bleibt nur Polen oder, wie in Lloyd Georges Oberschlesienrede angedeutet,
Deutschland. Aber Polen will England nicht unterstützen, einmal weil es sich
schon jetzt mit sämtlichen Nachbarn verfeindet hat. sodann weil England sich in
der Ostsee keinen neuen Konkurrenten schaffen will, drittens weil englische Hilfe
für Polen Frankreich mehr nützen würde als England selbst und viertens weil,
offen gestanden, bis jetzt kein Staatsmann Europas, mit Ausnahme vielleicht
einiger Franzosen, an die Lebensfähigkeit des polnischen Staates glaubt. Bleibt
nur Deutschland. Aber eine Festigung Deutschlands gegen den Willen Frank¬
reichs ist nicht möglich. Daher muß man mit Frankreich beginnen.
Das Bündnis mit Frankreich, das besonders energisch in den letzten Wochen
wieder von Northcliffe und Lord Derby vertreten worden ist, würde allerdings
England die größten Vorteile bringen. Es würde zunächst verhindern, daß
Frankreich, wozu es mehrmals hat Lust blicken lassen, eine antienglische .Kombi¬
nation mit Amerika einginge. Es würde auch, womit man in Frankreich, den
Schatten Caillaux' beschwörend, gleichfalls schon gedroht hat, eine antienglische
Kontinentalpolitik unmöglich machen. Es würde endlich Frankreich das moralische
Recht und den Vorwand entziehen, sich um der eigenen Sicherheit willen eigen¬
mächtig in den Besitz des Ruhrgebietes zu setzen. Man hat von einem Alls¬
tausch: freie Hand für Frankreich am Rhein, freie Hand für England und fran¬
zösische Unterstützung im Orient gesprochen. Aber in dieser Form ist die Kom¬
bination unrichtig. Die letzten Monate haben ganz klar bewiesen, daß England
das Ruhrgebiet unter keinen Umständen besetzen lassen will, und wer die Ge-
schichte der Friedensverhandlungen kennt, weiß, daß das Bündnis mit England
gerade einen Ersatz für die Festsetzung Frankreichs am Rhein bilden soll. Was
aber die französische Hilfe im Orient betrifft, so weiß man in England ohne
Zweifel recht gut, daß Frankreich, nachdem es den Kemalisten gegenüber seine
militärische Ohnmacht in Cilicien hinlänglich bewiesen hat, den Krieg im Orient
mehr als satt und keineswegs Lust hat, sich für England noch einmal in kost-
spielige und blutige Abenteuer zu stürzen. Es ist jedoch die Frage, ob die Eng¬
länder nicht vielmehr an den Balkan denken, wo die Franzosen alles tun. um
die Bulgaren mit sich und den Serben zu versöhnen und den allmählich immer
mehr zu englischen Vasallen herabsinkenden Griechen in Thrazien sowohl wie in
Epirus Unannehmlichkeiten zu bereiten. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß
Frankreich unter dem Deckmantel anschluß- und ungarnfeindlicher Kombinationen,
die erst kürzlich zu einer rumänisch-südslawischen Vereinbarung geführt haben,
eine Trutzburg gegen das englisch gewordene Konstantinopel baut, das es wohl
den Türken und eventuell sogar den Nüssen, auf keinen Fall aber Griechen oder
Engländern, was vorderhand so ziemlich dasselbe ist, gönnen möchte. Auch die
über den General Wrangel, der, obwohl Frankreich ihm offiziell weitere finanzielle
Unterstützung schon im Frühjahr verweigert hat, einen großen Teil seines Heeres
noch unaufgelöst in der Nähe von Konstantinopel stehen hat, umlaufenden Gerüchte
sind in dieser Beziehung beachtenswert. Die weitere Festigung dieser Kombination
aber zu hemmen, könnte in der Tat eines der Ziele sein, die England mit seinem
Vnndniswink (von einem offiziellen Angebot zu sprechen ist verfrüht) verfolgt.
Die Franzosen haben denn auch — und das ist sehr bedeutungsvoll — sehr
wohl begriffen, daß sie bei diesem Bündnis nur geringe Vorteile finden würden, und
sich bei allem freudigen und selbstverständlichen Bekenntnis zur Aufrechterhaltung der
Entente gegen den Bündnisplan äußerst spröde verhalten. „Temps" und „Matin"
wiesen darauf hin, daß auch Amerika noch da sei. Nationalisten wie Bainville
lehnten eine französische militärische Mitwirkung in Kleinasien äußerst bestimmt ab,
und der Leitartikler des „Journal des Debcrts" gab sogar rund heraus und
gegen alle sonstigen französischen Gewohnheiten zu, daß die Gefahr eines deutschen
Angriffs vorläufig nicht bestehe, das Bündnis also eigentlich gegenstandslos sei.
Daraus erkannte man in England, daß man den Rahmen weiter spannen
müsse. Es folgte die Rede Churchills, die ein vertrauensvolles Zusammenarbeiten
zwischen Deutschland, Frankreich und England forderte. Gleichzeitig tauchten
Nachrichten auf, daß England und Italien, aber auch der Vertreter der franzö¬
sischen Völkerbundliga die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund gefordert
hätten. Ebenso bedeutungsvoll ist die Nachricht, daß sich der in letzter Zeit un¬
heimlich viel herumreisende tschechische Außenminister bemüht hat, Völkerbund und
Monroedoktrin durch sinnreiche neue Formulierungen mit einander in Einklang
zu bringen. Das würde also darauf hindeuten, daß England jetzt energische Schritte
unternimmt, seinen Kontinentalbund, der ihm das durch die Selbständigkeitsregungen
seiner Dominions und den japanisch-amerikanischen Krieg- und Handelsflotten¬
wettbewerb erschütterte Fundament weltpolitischen Ausgreifens wieder festigen
könnte, zustande zu bringen und sich bemüht, eine Zersplitterung durch amerikanischen
Eingriff oder auch nur lebhaft geäußerten und von Frankreich sofort diplomatisch
ausgenutzten Widerwillen zu verhindern. Die Vorteile, die aus einer solchen
Kombination bei geschicktem Benehmen Deutschland ziehen könnte, liegen auf der
Hand, wobei wohl zu beachten bleibt, daß es sich nicht um einen erträumten
idealen Völkerbund, wohl aber um eine sehr reale Vündniskombination handelt,
innerhalb derer Deutschland keineswegs das fünfte Rad am Wagen zu sein
„France militaire" hatte anläßlich der Napoleonfeiern im besetzten Gebiet
die Mitteilung gebracht, die dankbare rheinische Bevölkerung habe dem
großen Kaiser Denkmäler errichtet. Da uns diese unerhörte Nachricht bei dem
nicht immer zuverlässigen Charakter des Blattes verdächtig erschien, und eine dies¬
bezügliche Anfrage bei der „Vossischen Zeitung" unbeantwortet blieb, wandten wir
uns an den deutschen Vertreter bei der Interalliierten Rheinlandkommission.
Darauf erhielten wir dieser Tage folgendes Antwortschreiben aus Kreisen, welche
dem Magistrat der Stadt Coblenz nahe stehen.
„Die betreffende Mitteilung ist richtig, wenn auch bisher nur
in einem einzigen Fall! Das Napoleondenkmal steht in unserer Stadt bei
der Castorkirche und außerdem im Baedeker. Jeder Einheimische kennt und
schätzt es. Seine Inschrift lautet, natürlich in französischer Sprache:
1812
memorable par la campgMe contre les Kusses. Lous le prökeeturat cle
.kutes vollen.
Darunter steht:
Vu et approuve par nous LomnmnZant russs ac
la vitis cle Loblents, I^s 1er ^anvier 1814.
In deutscher Übersetzung:
Jahr 1812
denkwürdig durch den Feldzug gegen die Russen. Unter der (französischen) Prä-
fektur Jules Douzan.
Gelesen und gutgeheißen durch uns. den russischen
Kommandanten der Stadt Coblenz. 1. Januar 1814.
In der dankbaren rheinischen Bevölkerung besteht die Absicht, bei
künftigen Napoleonstagen der Franzosen an diesem Gedenkstein der Befreiung
vom Franzosenjoch Feiern abzuhalten."
Soweit das Schreiben. Wir fügen ihm nur die Hoffnung bei, daß die
rheinische Bevölkerung zukünftig noch viele solcher Erinnerungssteine wird errichten
können; ob als Motiv dafür „Napoleon- oder „Tarwrin vers I» Kulir« gewählt
Im Mai haben die ersten Wahlen zum irischen Parlament gemäß dem neuen
Homerule-Gesetz stattgefunden. Von 123 Parlamentfitzen sind 124 ein und der¬
selben Partei, der Irisch-Republikanischen Unabhängigkeitspartei Sinnfein, zuge-
fallen. Die übrigen vier Sitze entfallen auf die Universität Dublin. Trotz dieser
in der Geschichte der Parlamente beispiellosen Einigkeit der Wähler denken die
gewählten Volksvertreter nicht daran, sich auch nur zu einer einzigen Sitzung
oder Rede zu vereinigen. Fünfundvierzig von ihnen würden auch dazu gar nicht
imstande sein, da sie in englischen Gefängnissen oder Jnternierungslagern einge¬
sperrt sind. Eine Reihe anderer der gewählten Volksvertreter ist vogelfrei und
liegt mit England in dem Guerillakrieg, der täglich blutige Opfer fordert. Das
irische Parlament wird nach dem Beschluß der Sinnfeiner erst dann zusammen¬
treten, wenn sämtliche zweiunddreißig Grafschaften Irlands vereinigt sind und
nicht nur sechsundzwanzig, wie das Homerule-Gesetz der Engländer ihnen zubilligt.
Die Jrländer wollen trotz der unbeschreiblichen Verwüstung, welche die englische
Soldateska in ihrem Lande anrichtet, noch fünfzig Jahre und länger kämpfen,
d. h. so lange, bis ihr Ziel, ein einiges und unabhängiges Irland, erreicht ist.
Denn Sinnfein heißt „wir selbst". Allerdings läßt sich das Irische nur schwer
in die Sp
Daß es zu den Pflichten des Staatsbürgers gehört, die Verfassung zu
kennen, die sich die deutsche Republik durch die Nationalversammlung in Weimar
gegeben hat. ist auch dadurch anerkannt worden, daß man beschlossen hat, jedem
Schulkinde bei seiner Entlassung ein Exemplar davon mitzugeben, wobei man
dann allerdings über diesen Beschluß ein wenig hinausgegangen ist, indem
man diesem Exemplar eine einseitig und parteipolitisch gefärbte Einleitung beige-,
geben hat.
„DaS deutsche Volk, einig in seinen Stämmen und von dem Willen beseelt,
sein Reich in Freiheit und Gerechtigkeit zu erneuern und zu festigen, dem inneren
und dem äußeren Frieden zu dienen und den gesellschaftlichen Fortschritt zu
fördern, hat sich diese Verfassung gegeben," so lauten die pompösen Einleitungs-
Worte zu der Verfassung vom 11. August 1919. Sodann folgen die Einzel¬
bestimmungen, die durchsetzt sind mit Grundsätzen und Aussprüchen, die herrlich
klingen wie Lehren der Weisheit und Tugend trotz einem Larochefoucauld und
seinen Maximen und deren Verwirklichung uns ein wahrhaft goldenes Zeitalter
bringen müßte.
Der junge schulentlassene Deutsche, der sich wirklich einmal entschließt, die
ihm auf seinen Lebensweg mitgegebene Verfassung zu studieren, soll uns einmal
sagen, jedoch aus Grund eigener Erfahrungen und Wahrnehmungen, nicht an
Hand der besonders eingefürbten Einleitung, wieweit es nach seiner Ansicht der
Republik bisher gelungen zu sein scheint, ihren Grundsätzen in der Wirklichkeit
unseres staatlichen Lebens zur Auswirkung zu verhelfen. Dabei machen wir es
ihm zur selbstverständlichen Pflicht, mit gebührender Nachsicht zu bedenken, daß
leicht beieinander wohnen die Gedanken,
doch hart im Raume stoßen sich die Sachen,
und nicht allzu strenge zu sein, wofern nur der gute Wille ersichtlich ist und der
Widerstreit zwischen Theorie und Wirklichkeit nicht allzu schmerzhaft die Sinne
verletzt.
Hier folgen einige seiner Bemerkungen und Beobachtungen mit seinen
eigenen Worten:
Artikel 1. „Die Staatsgewalt geht vom Volke aus."
Schon hier stutze ich. Ich denke mir darunter den direkten Einfluß des
Volkes oder doch seiner überwiegenden Mehrheit auf die Staatsgeschäfte. Wie
verwirklicht sich dieser schöne Gedanke? Man hat hierzu ein sogenanntes demo.
kratisches Regiment durch die Parlamente eingeführt, zu denen ohne Unterschied
Männer und Frauen vom vollendeten 20. Lebensjahre an wählen. Offenbar
glaubt man, hierdurch den die Staatsgewalt bestimmenden Willen des Volkes er¬
mitteln zu können, indem man davon ausgeht, daß alle diese Wähler einschließlich
der politischen HemdenmäKe die Einsicht haben, diesen Volkswillen zu kennen,
und die Absicht, ihn zur Geltung zu bringen. Doch nicht dies allein, sondern
vor allem auch, daß die Erwählten dieses „Volkes", die es in seinem Willen
vertreten sollen, von der gleichen Einsicht und Absicht beseelt seien. Wirklich?
Lreclat Fucweug ^pella! Mir kommt das, höflich gesagt, eher wie ein schwerer
Denkfehler vor, denn als eine so oft schon vergeblich versuchte Lösung des Pro-
blems, ein Volk so zu regieren, wie es seinem Willen entspricht, und noch weniger
so, daß die hohen Ziele der oben angeführten Einleitung: Freiheit, Gerechtigkeit,
Einigkeit. Friede, Fortschritt damit erreicht werden könnten. Dabei will ich noch
ganz außer acht lassen, ob der richtig ermittelte Wille des Volkes auch immer
darauf gerichtet sein kann, das Glück und die Wohlfahrt des Volkes zu fördern.
Doch ich will nicht jeden Artikel prüfen, sondern nur einige besonders mar¬
kante Beispiele herausgreifen."
Artikel 9 spricht vom „Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit:
Artikel 153 sagt: „Das Eigentum wird von der Verfassung gewährleistet". Welch
schöne Gelegenheit hätten zum Beispiel die kommunistischen Plünderungen und
Mordtaten der Osterzeit 1921 gegeben, diese guten Vorsätze wahr zu machen!
Statt dessen erfüllt der Staat trotz aller Steuern nicht mehr seine primitivste
Aufgabe, Leben und Eigentum seiner Bürger zu schützen, die vielmehr diese Auf¬
gabe in den Einwohnerwehren selbst übernehmen mußten und nun darüber nach¬
denken, welche Existenzberechtigung dieser Staat denn eigentlich noch hat.
Artikel 109 Absatz 1 spricht es aus, daß „alle Deutschen vor dem Gesetze
gleich sind". Hierbei kommt mir das Gesetz über die durch innere Unruhen ver¬
ursachten Schäden vom 12. Mai 1920 in den Sinn. Dieses gewährt in Z 1
Ersatzansprüche gegen das Reich wegen der durch Tumulte an Eigentum sowie
an Leib und Leben angerichteten Schäden. Wer nun meint, daß vor diesem
Gesetze alle gleich sind, der irrt sich. Denn Z 2 gibt Schadenersatzansprüche
nur, wenn und soweit ohne solche nach den Umständen das Fortkommen des
Betroffenen unbillig erschwert sein würde, wobei seine gesamten Vermögens- und
Erwerbsverhältnisse zu berücksichtigen sind. Also gerade diejenigen Teile der Be¬
völkerung, die niemals Subjekt, desto regelmäßiger aber Objekt des in Plünde¬
rungen und Gewalttätigkeiten sich bewährenden praktischen Kommunismus sind,
bleiben ohne jeden Schutz gegen die ihnen zugefügten Schäden, während die
anderen entschädigt werden sollen.
Artikel 109 Absatz 4 bestimmt, daß Titel nur verliehen werden sollen, wenn
sie ein Amt oder einen Beruf bezeichnen. Das Hamburgische Beamtenbesoldungs¬
gesetz vom 24. Juni 1920 hat die Bezeichnungen der Beamten neu geordnet; bei¬
spielsweise: was früher Gerichtsschreiber hieß, heißt jetzt „Justizobersekretär":
aus dem alten ehrlichen Gerichtsdiener ist ein (arg militaristischer) „Justizober¬
wachtmeister" geworden. Nun entscheide man, wer das Ziel der Verfassung, die
Beseitigung des Titelunwesens, besser erreicht hat: das fluchbeladene alte Regime
oder das republikanische neue Deutschland mit seinem gewaltigen Männerstolz vor
Königsthronen? Aber vielleicht wollte man durch diese Verleugnung der heiligsten
republikanischen Grundsätze die Segnungen der neuen Ära einleuchtender machen,
als es durch sonstige Leistungen möglich ist, die man kennt.
Artikel 116 proklamiert den hehren Grundsatz: „Die Wohnung jedes
Deutschen ist für ihn eine Freistätte und unverletzlich." Der deutsche Mann sagt
also stolz: „Mein Haus ist meine Burg", und schon kommt die Beschlagnahme
und Zwangseinquartierung etwa in Gestalt eines Bolschewismen mit sieben Kin¬
dern und der Schwiegermutter und gemeinsamer Küche. (Vgl. Hamb. Verord¬
nung vom 22. September 1920.)
Artikel 124: „Alle Deutschen haben das Recht, zu Zwecken, die den Straf¬
gesetzen nicht zuwiderlaufen, Vereine und Gesellschaften zu bilden." Ob das
Verbat der Organisation Escherich auf diesen Artikel gestützt werden soll? Darüber
wissen wohl Herr Koch und Herr Hörsing die beste Auskunft zu geben."
Artikel 129: „Die wohlerworbenen Rechte der Beamten sind unverletzlich.
Wie verträgt sich damit die Zwangspensionierung mit dem 65. Lebensjahre von
solchen Beamten, die unter den früheren Pensivnsgesetzcn angestellt worden sind?
"
Artikel 130: „Die Beamten sind Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei.
Wie konnte es da kommen, daß der Vorsitzende der Hamburgischen Oberschul¬
behörde, der doch zu den Beamten gehört, den Eltern im Interesse seiner Partei¬
ziele eine viel zu kurze Frist für die Erklärung setzte, ob sie ihre Kinder am
Religionsunterricht teilnehmen lassen wollten, und gleichzeitig durch seine Partei
ein Flugblatt gegen die Teilnahme an diesem Unterrichte verteilen ließ, ohne den
anderen Parteien Gelegenheit zu einer Gegenwirkung zu geben? Daß die Matz¬
nahme der Oberschulbeyörde außerdem noch gegen Artikel 149 der Verfassung
verstieß, hat ihr kürzlich das Reichsgericht bescheinigen müssen.
Und wie vertragen sich die bekannten Agitationsreisen und -reden der Mi¬
nister mit dieser Vorschrift?
Auch sehr schön sagt Artikel 21: „Die Abgeordneten sind Vertreter des
ganzen Volkes, nur ihrem Gewissen unterworfen und an Aufträge nicht gebunden".
Ob dieser Artikel irgend welche Aussicht hin, jemals Wirklichkeit zu werden, ist
angesichts des elenden Parteiwesens und des Parteizwanges („wer nicht Order
Pariert, der fliegt") einigermaßen zweifelhaft.
Artikel 158: „Die geistige Arbeit genießt den Schutz und die Fürsorge des
Reichs". Wiederum sehr schön; nur schade, daß heute von allen Arbeiten die
geistige am niedrigsten gelohnt wird.
Artikel 164: „Der selbständige Mittelstand in Landwirtschaft. Gewerbe und
Handel ist in Gesetzgebung und Verwaltung zu fördern und gegen Überlastung und
Aussaugung zu schützen." Bravo! Dann aber sollte man nicht in Hamburg ein
Gewerbesteuergesetz ersinnen, das den gewerblichen Mittelstand schwer belastet, die
gemeindlichen (sozialisierten) Gewerbebetriebe aber ganz frei läßt, damit sie den
Mittelstand desto bequemer „aussaugen" können.
Zwischendurch eine sprachliche Bemerkung: Artikel 111 gibt jedem das Recht,
„jeden Nahrungszweig zu betreiben." Wie betreibt man einen Zweig? Die
Vermengung mehrerer einander ganz fremder Bilder ist besonders typisch für den
Mangel an deutschem Sprachgefühl und erinnert an den „Zahn der Zeit, der
schon so manche Träne getrocknet hat und auch über diese Wunde Gras wachsen
lassen wird". Das schlechte Deutsch wird vielleicht durch die Herkunft der Per¬
sönlichkeit des Verfassers der deutschen Verfassung hinreichend zu erklären sein.
Zum Schluß noch der vielumstrittene Artikel 3: „Die Neichsfarben sind
schwarz-rot-gold". Nein, das sind sie nicht, und wenn es zehnmal in der Ver¬
fassung stünde. Auch hier wieder, wie in so vielen Fällen der klaffende Riß
Dr. Wolf Mannhardt
Rücksendung von Manuskripten erfolgt nur gegen beigefügtes Rückporto.
Nachdruck sämtlicher Aufsähe ist nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlages gestattet.
Dem heutigen Heft .liegt ein Prospekt der Firma H. Haesscl, Verlag, Leipzig,
betreffend Adolf Barrels, „Die Jüngsten" bei.
„Kürschners Literatur-Kalender. Wie uns die Redaktion des Literatur-Kalenders
mitteilt, ist die seit langem sehnlichst erwartete neue Auflage im Druck. Es ist erwünscht,
daß alle diejenigen Schriftsteller, die in den Literatur-Kalender aufgenommen zu werden
wünschen und die noch keinen Fragebogen erhalten haben, möglichst umgehend an die
Redaktion des Literatur-Kalenders (Verlag Vereinigung wissenschaftlicher Verleger, Walter
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