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]]> Die Grenzboten
Jahrgang, viertes Vierteljahr
n den Blättern der Parteien, die sich bis zu den letzten Reichstags¬
wahlen stolz die Mehrheitsparteien nannten, dann freilich die
Wandelbarkeit der Volksgunst erkennen nutzten, macht sich seit
langem eine auffallende Feindseligkeit gegen den Geist der
. deutschen Studentenschaft bemerkbar. Die Frankfurter Zeitung,
^e mit aller Unduldsamkeit, wie wir sie bei Sekten gewöhnt sind, die wahre
Demokratie zu verfechten vorgibt, hat sich sogar zu der Behauptung verstiegen,
'-daß die Art und Weise, wie gerade ein großer Teil der akademischen Jugend
Ach in den Rahmen des neuen Deutschlands einordnet, mit zu dem Nieder¬
schmetterndsten und Beschämendsten gehört, was diese Zeit, die auch reich an
Schönem sein könnte, zu bieten hat" (2. Juni 1920, Abendblatt). Wenn schon
Ärgerliche Kreise so urteilen, dann ist es kein Wunder, daß die proletarischen
fassen der Großstädte von blindem Haß gegen die Studenten erfüllt sind,
^ird doch keine Gelegenheit versäumt, im Parteiinteresse diesen Haß immer
Wieder zu schüren. Die Marburger Studenten werden als feige Mörder harm¬
loser Arbeiter verschrien, ohne Rücksicht darauf, daß noch gar kein endgültiges
Urteil vorliegt. Was aber unsere Studenten in den Kämpfen der Märztage
einer versetzten Bevölkerung zu leiden gehabt haben, davon spricht kein
Mensch, erfährt die Öffentlichkeit überhaupt nichts. Auf Dank dafür, daß sie
^it Aufopferung des Lebens — hier in Halle, wo die Unruhen bekanntlich erst
^hrere Tage nach dem Sturz der Kappregierung ausgebrochen sind, haben
^ Studenten das Leben verloren — für Ruhe und Ordnung, für die Regierung
Bauers eingetreten sind, haben sie erst recht nicht zu rechnen.
Selbstverständlich soll hier keineswegs der Versuch gemacht werden, das
putsche Studententum der Gegenwart als Jdealgestalt zu preisen. Es kann
^mein Zweifel unterliegen, daß es die rechte Form gegenüber der neuen Zeit
^es nicht gefunden hat. Daß das Verbindungswesen mit Couleur und Be-
Annwngsmensur wie ein Anachronismus auf uns wirkt, daß der offizielle
^erktagsfrühschoppen einen schreienden Widerspruch gegen die Forderung der
Arbeit angesichts unserer heutigen Not bedeutet, das habe ich schon vor einiger
Zeit in Ur. 21 der Grenzboten hervorgehoben. Gewiß handelt es sich dabei nur
um eine kleine Minderheit der Studierenden. Aber auch gegenüber der fleißig
arbeitenden Mehrheit steigen Bedenken auf, ob sie sich nicht unter dem Druck
der wirtschaftlichen Verhältnisse allzu einseitig auf das Fach- und Brotstudium
verlege und die auf der Universität gebotene Möglichkeit allgemeiner Bildung
und geistiger Stellungnahme zu den Problemen des Lebens darüber vernach-
lässige. Zeigt doch auch die politische Betätigung der Studenten eine gewisse
Unreife, die durch entsprechende Entgleisungen der proletarischen Jugend nicht
genügend entschuldigt wird, weil wir an die gebildeten Schichten eben größere
Anforderungen stellen müssen.
Aber wenn die überwiegende Mehrheit der Studentenschaft dem neuen
Deutschland in seiner bisherigen Erscheinungsform ablehnend gegenübersteht,
so liegt die Schuld nicht an ihr, sondern an der geistigen Armut der Partei, die
im neuen Deutschland den Ton angegeben hat, der Sozialdemokratie. Für
diese Armut Beweise zu erbringen, ist überflüssig angesichts der Tatsache, daß
die Mehrheitssozialdemokratie es in den anderthalb Jahren ihrer Vorherrschaft
nicht vermocht hat, das Kernstück ihres Programms, die Vergesellschaftung der
Produktionsmittel, der Lösung auch nur näher zu bringen. Noch niemals hat
der Kapitalismus so schrankenlos, so brutal, so bar aller Rücksichten auf das
Gesamtinteresse geherrscht wie in dem letzten Jahre der sozialistischen Zwangs-
wirtschaft; man braucht nur die offen in Gestalt von Dividenden und Borns
zutage tretenden Gewinne der großen Kohlenwerke und Papierfabriken sich
anzusehen und sie zu vergleichen mit der Not, unter der alle auf diese Stoffe
angewiesenen Betriebe leiden. Andererseits sind die bereits sozialisierten Be-
triebe wie Post und Eisenbahn bis zum vollständigen Bankrott heruntergewirt¬
schaftet und werden, statt der Allgemeinheit Gewinne abzuwerfen, auf Kosten
der Steuerzahler aufrechterhalten. Selbstverständlich wird man die Schwierig¬
keiten der Übergangsperiode mit zu berücksichtigen haben. Aber nicht daran ist
die sozialdemokratische Partei gescheitert, sondern an ihrem Unvermögen, die
Aufgaben der heutigen Zeit geistig zu bewältigen. Darum hat sie sich auch selbst
das deutlichste Armutszeugnis ausgestellt, indem sie nach den Wahlen auf jede
Mitarbeit an der Negierung verzichtet und sich in den Schmollwinkel zurück¬
gezogen hat, um hier auf das große Wunder zu warten, durch das der Zukunfts¬
staat doch noch gebracht werden soll.
Nicht besser steht es mit den Unabhängigen. Auch sie würden, sobald sie
zur Regierung gelangt wären, erfahren, daß sie nur zerstören, nicht aushaucht
können. Denn der Sozialismus des Klassenkampfs, den sie vertreten, ist etwas
schlechthin Negatives, das auch durch die Umkehrung der Machtverhältnisse
nicht positiv schöpferisch werden kann. Er verneint die wahrhaft soziale Idee
der Gemeinschaft zugunsten der Bereicherung einer einzelnen Klasse. Ustd
gerade diese Negation ist es, die die Studenten, d. h. die geistig entwickeltsten
Kreise der deutschen Jugend, abstößt. Von kapitalistischen Interessen ist bei
der überwiegenden Mehrheit unserer Studenten so wenig die Rede, daß heute
vielmehr häufig bittere Not herrscht. Sie stammen eben in der Regel aus den
wenig begüterten Kreisen des Mittelstandes, die dem Tanz ums goldene Kalb
immer fern geblieben sind, weil sie das Ziel des Lebens nicht im Gelderwerb,
sondern im Dienst für ein Höheres und Allgemeineres, in der Hingabe an eine
Idee gesehen haben. Dieser Idealismus ist auch heute noch lebendig, geprüft
und gestählt in langen, harten Kriegsjahren; und er wehrt sich begreiflich gegen
die Herabziehung der Idee des Vaterlandes, für das unsere Jugend gekämpft
und gelitten hat, sowie gegen die Erdrückung alles geistigen Lebens und Strebens
durch den platten Materialismus unserer Zeit der Schieber und der Streiks.
Daraus erklärt sich der Gegensatz zwischen Studententum auf der einen
Seite, dem sogenannten neuen Deutschland aus der andern Seite. Er ist, wie
gesagt, nicht wirtschaftlicher Natur, denn das heutige Proletariat braucht keinen
Studenten, überhaupt keinen geistigen Arbeiter mehr wegen seines bequemeren
Daseins zu beneiden, sondern er'ist geistlich-sittlicher Natur. Die alten staatlichen
Autoritäten, die es lange Zeit in Furcht und Schranken gehalten haben, hat das
Proletariat zerstört. Nun sollen auch die geistigen Autoritäten an die Reihe
kommen. Und dagegen wehrt sich die akademische Jugend, und mit Recht.
Mit der neuen Staatsform kann sie sich und wird sie sich abfinden. Aber nimmer
kann und darf sie das aufgeben, was nach Goethes tiefem Wort niemand mit
auf die Welt bringt und woraus doch alles ankommt, „damit der Mensch nach
allen Seiten zu ein Mensch sei", die Ehrfurcht, die gleich weit entfernt von
blinder Furcht und Unterwerfung wie von zügelloser Freiheit und Unordnung,
dem einzelnen Ziel, Maß und Würde verleiht.
Das befreit natürlich die Studentenschaft nicht von der Pflicht, sich das
Verständnis für die Aufgaben der neuen Zeit ernsthaft zu erarbeiten. Nicht
alles, woran wir geglaubt haben, hat die Feuerprobe des Krieges bestanden.
Es wäre töricht, die neuen Kräfte zu ignorieren, die heute Berücksichtigung
erheischen und verdienen. Aber gerade von geistig geschulten Leuten sollte man
nicht verlangen, daß sie von heute auf morgen blindlings umlernen. Sie haben
das Recht und die Pflicht, ihr bisheriges Urteil methodisch zu prüfen und das
Neue kritisch zu durchdenken. Wenn die stärksten Parteien des heutigen Deutsch¬
lands, die doch nur einen Teil der Jugend von gestern und vorgestern darstellen,
Mit der geistigen Jugend von heute nichts anzufangen wissen, so ist das ein Vor¬
wurf für sie, nicht für diese. Der Weg für die einzelnen Studenten wie für die
Universitäten im ganzen wäre bequemer, wenn sie sich auf den beliebten Boden
der Tntsachen stellen und der stärksten Macht fügen würden, die ihnen allerhand
Steine in den Weg legen kann und anscheinend auch will. Schon einmal haben
die deutschen Studenten und die deutschen Hochschulen die Ungunst der staat¬
lichen Machthaber, kleinliche Schikane wie gehässige Verfolgung, zu erdulden
gehabt. Aber diese Jahre der Karlsbader Beschlüsse und der Demagogen¬
verfolgungen sind trotz aller Not, die sie für die einzelnen — es sei nur an Fritz
Reuter erinnert — die größte Zeit der deutschen Universitäten gewesen. Sie
haben damals nicht allein in vielen Wissenschaftszweigen Glänzendes geleistet,
sondern sind zugleich auch die geistigen Führer des deutschen Volkes gewesen.
Die politische Befreiung des Jahres 1848, auf die sich unsere Demokratie so gern
beruft, und die politische Einigung des Jahres 1870/71, in der aller heutigen
Kritik ungeachtet die unbefangene Geschichtsforschung stets einen Höhepunkt
der deutschen Geschichte erblicken wird, sind ohne die geistige Arbeit jener Jahre
nicht denkbar. Wer geschichtliche Kräfte zu würdigen weiß, sollte sich darum
hüten, die geistigen Schichten des heutigen Deutschlands zu verketzern und zu
verfolgen, sondern sollte sich bemühen, sie beim Neubau des deutschen Staates
nutzbar zu machen. Denn sie hegen das kostbare Erbe der Vergangenheit, das
eine unentbehrliche Voraussetzung der Gesundung unseres Volkes ist: den
Gedanken der selbstlosen Hingabe an die Gemeinschaft, des Dienstes um der
Sache, nicht um des persönlichen Vorteils willen.
W
WD
AMle Lösungen politischer Probleme sind nie reine Lösungen. Die
Forderungen vorgefaßter Programme scheitern an den Tatsachen.
Keine Partei ist imstande, alle ihre Forderungen rein zu verwirk¬
lichen, und je fanatischer sie vertreten werden, desto mehr ist man zu
dem Schluß genötigt, daß die Führer der Partei nicht zu staats¬
männischer Leistung befähigt sind. Auch die Lösungen des deutschen Problems von
Partikularismus und Gesamtstaat sind von je angefochten worden. Und seitdem es
in diesen Tagen wieder in neuen Formen und mit neuen extremen Forderungen an
das deutsche Volk herantritt, wird wohl aus der Abschätzung der beiderseitigen Kräfte
wieder ein Kompromiß zu erwarten sein, in dessen Schaffung sich die von beiden
Seiten her eingesetzten Kräfte aufbrauchen, das aber den Parteien nicht Genüge tut.
Im Kriege schien der Partikularismus verschwunden zu sein. Es galt die
Rettung des Gemeinsamen, das alles Partikulare umschloß.
Heute steht es anders. Weiten Kreisen scheint heute die Bedrohung nicht nur
von außen, sondern auch von innen zu kommen. Die Vereinheitlichungsbestrebungen
des neuen Regimes bedrohen den Rest des gewohnten Sondertums der Landschaften,
und selbst im Elend des verlorenen Krieges bringt der Deutsche zur Verteidigung
dieser letzten individualistischen Hochburg noch Kräfte auf, die von den neuen
Männern der Regierung nicht geahnt wurden. Wir dürfen also objektiv feststellen,
daß wir es hier mit einer vorläufig unausrottbaren Macht zu tun haben; ein Staats¬
mann würde dem Rechnung tragen. Bismarck hat das getan, entsprechend der zu
seiner Zeit mit noch stärkeren Kräften in die Rechnung einzusetzenden Sonderung.
Er hat das Maß gefunden, das dem damaligen Zustande entsprach. Heute gilt es
«in anderes Maß zu finden. Der Partikularismus ist schwächer geworden, aber er
darf nicht vernachlässigt werden bei der Aufstellung der Formel für die staatliche
Fügung im neuen Deutschland.
Überhaupt sehen wir den Partikularismus heute in anderer Verteidigungs¬
stellung als früher. Der Kampf gegen den Unitarismus in den sechziger Jahren des
vorigen Jahrhunderts war gleichzeitig ein Kampf gegen das Preußentum. AuH
dieser Begriff hatte damals bereits seinen Inhalt gewechselt. Erst seitdem das dem
Süden besonders unsympathische Kalt-Absolutistische aus ihm geschwunden war, seit¬
dem Preußen sich zwar stark und gelegentlich rücksichtslos, aber nicht verschlossen
gegen die liberalen Wünsche der deutschen Gebildeten gezeigt hatte, waren die
moralischen Eroberungen im Süden stark genug, um im Nationalverein eine Grund¬
lage für den Anschluß an den Führerstaat zu schaffen.
Heute sind es zum großen Teile dieselben Schichten, die damals der Einigung
'durch die preußische Führung zujauchzten, die dem Einheitsstaat Widerstand leisten.
Die Krone steht nicht mehr gegen das Preußentum, sondern gegen einen sogar mit
starkem süddeutschen Einschlag versehenen Unitarismus, der nicht mehr von einem
Staat ausgeht, sondern von einer Klasse oder Partei, Der preußische Einzelstaat
hatte Verständnis für die Sonderungen, denn er beruhte selbst auf einer solchen.
Die heutigen Bestrebungen auf Vereinheitlichung des Reiches dagegen sind keine
organischen, sondern mechanische, auf der Gleichsetzung jedes Menschen mit jedem
anderen beruhende Versuche, wie wir sie auch im Gefolge der französischen Re¬
volution finden. Revolutionen haben eben das Bedürfnis, die Erinnerung an
historisch Gewordenes zu verdrängen. Aber wie man in der deutschen Revolution
von 1918 vergebens die dem Deutschen gemäße politische Idee sucht — die Demo¬
kratisierung und Parlamentarisierung des Staatswesens sind keine solchen und gingen
ihr zudem schon voraus —, aber nur teils französische, teils russische Schemata findet,
so ist auch die Ausrottung der gewachsenen Staatsindividualitäten, mit denen sich
tausenderlei Sonderleben verknüpft, oder ihre Verwandlung in bloße Verwaltungs-
einheiten dem deutschen Wesen nicht gemäß.
Doch mit dieser Verschiebung des Problems ist die preußische Frage wohl
zurückgedrängt, aber nicht aufgehoben. Auch bei geschwächten Einzelstaaten stellt
die Zusammenballung des norddeutschen Großstaates noch eine Macht vor, die
durch ihr bloßes Schwergewicht die Staats- und Stammesindividnalitäten vor¬
nehmlich des Südens bedrängt. Preußentum und außerpreußisches Sondertum
werden sich auch im neuen Reich, sofern es nicht ganz zum Einheitsstaat wird, aus¬
einandersetzen müssen. Noch ist Preußen als Staatsnation nicht in Deutschland
aufgegangen, und die Versuche, das Schwergewicht auf autonome Provinzen zu
verteilen, find noch in ihren Anfängen.
Wenn in einer Frage, so ruft in der Schicksalsfrage vom Verhältnis der Teile
Zum Ganzen unsere Zeit nach einem Staatsmann, wie er unserem Volke vor sechzig
Jahren geschenkt war. Zur Klärung der Anschauungen aber kann es nur dienen,
wenn wir unter diesem Gesichtspunkt einen Blick auf die deutsche Krise im Jahrzehnt
i>er Einigungskriege werfen, wo die Frage nach Partikularismus und Preußentum
Zur Entscheidung stand, und wo eine Fehllösung zugunsten des ersteren noch vielfach
mit Leidenschaft erstrebt wurde. Wir sehen den Typus des partikularistischen Staats-
wannes jener Zeit in dem hessischen Minister von Dalwigk.
Ich habe vor fünf Jahren in diesen Blättern schon einmal auf ihn als den
.-letzten Rheinbundminister" hingewiesen (Grenzboten 1915 III Seite 199—208).
Heute ist mein Wunsch, daß die Archive ihre Aufklärungen herausgeben möchten,
-Ma großen Teil erfüllt worden. Es war dein Frankfurter Privatdozenten Wilhelm
Schüßler vergönnt, die Tagebücher Dalwigks und mit ihnen eine große Zahl bisher
rinbekannter Aktenstücke über jene Zeit der Öffentlichkeit zu übergeben*) und dadurch
Persönlichkeiten und Verhältnisse mit Hellem Licht zu übergießen, die bisher nur
unklar und schattenhaft erkannt werden konnten. Aus der neuen Geschichtsquelle
werden die folgenden Ausführungen schöpfen.
In jedem Staatsmann, der einer ist, liegt das konservative und das fortschritt¬
liche Element. Er sieht eine Entwicklung sich vollziehen, die in dem Tempo oder
in der eingeschlagenen Richtung das Wohl oder das Bestehen seines Staates bedroht,
und er wirft sich ihr entgegen oder lenkt sie ab. Oder er sieht eine Möglichkeit, seinen
Staat zu höherer Blüte, größerer Bedeutung zu heben und fördert, stärkt und be¬
schleunigt den Lauf nach diesem Ziel. Er sieht seine höchste Aufgabe in der Er¬
haltung des Staates, aber nicht des so beschaffenen. Darum wird ein Staatsmann
in einem Zeitalter, das mit revolutionärem Stoffe geladen ist, sich nicht im Be¬
dauern über die Gefahr erschöpfen. Er weiß, daß auch die explosiven Stoffe in der
Technik zu aufbauenden Zwecken verwendet werden können.
Ein solcher Staatsmann war Bismarck, und ein solcher Staatsmann war
Dalwigk nicht.
Der staatliche Zustand, den beide bei ihrem Auftreten vorfanden, entsprach in
keiner Weise den Ansprüchen, die ein großes Volk, und sei es auch noch so un¬
politisch, an seine äußere Form stellen mußte, wollte es auch nur seine Existenz be¬
wahren innerhalb der geographisch gegebenen Verhältnisse. Zwei anspruchsvolle
Großstaaten mit außerdeutschen Aspirationen und ein Bündel Mittel- und Klein-
swaten, eifersüchtig auf ihren Rechten bestehend und mit der Fiktion der Gleich¬
berechtigung aller, in eine Art Bund vereint, den nichts band als die Führer-
tcndenzen der Großen. Die kleinen Staaten hatten nichts zu fürchten als die durch
das Gesetz der Massenanziehung und des nationalen Instinktes gegebene notwendige
Weiterentwicklung der Dinge. Darum ist diese Entwicklung ihnen, ist sie Dalwigk
revolutionär. Deshalb schwärmt er für die Heilige Allianz, diese Bremsvorrichtung
für politisches Fortschreiten, und seufzt mit dem Zaren gemeinsam über den Unter¬
gang dieser großen Idee der Erhaltung von Recht und Legitimität, vergessend, daß
diese Legitimität für einen großen Teil von Hessen-Darmstadt auf den höchst
illegitimen Ereignissen der Jahre 1802 bis 1816 beruhte. Darum ist ihm jeder
Versuch, aus der Stickluft der Burcaukmtenherrschaft herauszukommen, eine Auf¬
lehnung gegen die Ordnung, ein Beginn des Kampfes gegen die Grundsätze von
Recht, von Treue und Ehre, eines Zwiespaltes, der ganz Europa beunruhigt, und
dessen Heer in Deutschland der Nationalvercin, dessen Feldherren die „revo¬
lutionären" Fürsten von Preußen, Koburg und Baden sind.
Man mißverstehe mich nicht: Auch ich halte es mit Dalwigk für ein Mi߬
geschick, daß die Einigung Deutschlands in so hohen' Maße sich als eine Aufsaugung
der besten Kräfte durch das große Preußen gestalten mußte. Es war aber ein Un-
glück, dessen Ursprünge schon Jahrhunderte zurücklagen und zum Teil überhaupt
nicht in den Ereignissen, sondern im Charakter der Deutschen zu suchen sind. In
der besprochenen Zeit war es zu spät, zurückzutreten. Wir befinden uns in der
Periode des werdenden Imperialismus. Der erste Anlauf durch Napoleon I. war
mißglückt. Er hatte in Deutschland die Verhältnisse vereinfacht, aber nicht so weit,
daß der deutschen Nation der Panzer, mit dem jedes Volk sich in der Periode des
rücksichtslosen Ausgreifens der Großstaaten umgeben mußte, von selbst gebildet hätte.
Der politische Instinkt war aber in einem Teil des Volkes doch schon so weit er¬
wacht, daß er den staatlichen Zusammenschluß zur Einheit als Lebensfrage empfand
und danach handelte. Dieser Instinkt fand zu seiner Durchsetzung die schwersten
Hindernisse nicht im Ausland — heute würde dies so sein —, sondern in der Rück-
ständigkeit partikularer Staatsauffassungen. Er erwies sich als nicht stark genug,
diese Hindernisse zu überwinden. Das zeigte die Paulskirche. Das Streben des
Nationalvereins, die Kraft des preußischen Partikularismus in den Dienst des Ein¬
heitsstrebens zu stellen, stellt sich unter diesem Gesichtspunkt als Resignation dar.
Das großdeutsche Ziel war unerreichbar geworden. Aber unhaltbar unter allen
Umständen war die Konservierung der kleinstaatlichen Souveränität auf Kosten der
nationalen Selbständigkeit.
Der Staatsmann nimmt das Gegebene, auch wenn es ein Unglück ist, und
sucht das Beste daraus zu machen. Bismarck sah in der Schaffung Kleindcutsch-
lands ein großes Ziel vor sich, und ihm durfte sie sich verschmelzen mit der Schaffung
Großpreußens. Aber für Dalwig! war er darum ein Spieler, der ein anvertrautes
Vermögen auf eine Karte setzt, weil der Bloßkonservative sich nicht vorstellen kann,
daß ein so zustande Gekommenes Bestand habe. Warum? Weil er die lebendigen
Kräfte des Zusammenstrebens nicht begreift, obgleich er sie täglich vor Augen hat
und oft sorgenvolle Stunden durch sie. Gegen solche Kräfte kämpft er mit allen
Mitteln, er verschmäht auch die kleinlichen nicht. Bismarck erkennt er früh als seinen
Gegenpol, er ist ihm der Revolutionäre Oberster, und er braucht sich nicht vor
Attentaten zu fürchten. Die Revolution, die in ihm ihr bestes Werkzeug hat, wird
sich doch hüten, es zu zerstören!
Es ist eine Weltanschauung, ein Glaube, den er mit Inbrunst überall kundtut;
sein Bekenntnis hat er bereits im Januar 18L1 für die Großherzogin Mathilde zu
ihrer politischen Orientierung niedergeschrieben. Preußen ist die Revolution, Kampf
gegen die deutsche Vormacht ist mit allen Mitteln geboten.
Das ist Dalwigks Verhängnis, daß er seine Kast auf das Negative gesetzt
findet, daß ihm keine positiven Ziele sich bieten, oder doch: daß die positiven Ziele,
die er sich setzt, gegenüber denen seines Feindes wie ärmliche Laternchen gegenüber
einem leuchtenden Fanat sich aufnehmen; und was noch schlimmer ist, daß es nicht
autonome Ziele sind, sondern in wachsendem Maße dein Ressentiment entsprungene.
Und dabei ist Dalwigk doch unter den deutschen Staatslenkern seiner Zeit
gewiß einer der ersten, nicht nur an Klugheit und Gewandtheit, sondern auch an
^erbinduugen, die ihm seine persönliche Liebenswürdigkeit bot, wozu dann noch die
verwandtschaftlichen Beziehungen seines Hofes zu Rußland treten und die alte
westlich gerichtete Nheinbundstradition in Hessen, deren Hauptvertreter Prinz Emil
»och lange genug in die Ministerjahre Dalwigks hineinreicht, um jene Erinnerung an
den Korsen auf dessen kleineren Neffen zu übertragen.
Hier liegt die Tragik, die man dem Kampfe Dalwigks gegen Bismarck nicht
absprechen kann: er streitet mit ungemeiner Kraft und mit großem Geschick um eine
Sache, die ein größerer Staatsmann von vornherein als verloren ansehen mußte,
Die strategische Defensive, in die sich Dalwigk bei seinem Kampf gegen die
Bestrebungen des Nationalveretns gedrängt sah — obgleich er taktisch mit Offensiv¬
stößen arbeitet —, gibt der hessischen Politik vor dem Bruderkrieg von 1866 die
Signatur. Es ist auch für heutige Politiker lehrreich, daß er seine bloß konservative
Stellung einer wachsenden Volksbewegung gegenüber als schlecht gewählt empfand.
In dem von Dalwigk redigierten Promemoria über die Beuftschen Bundesreforin-
vorschläge von 1861 wird es offen ausgesprochen, daß man den kleindeutschen Be¬
strebungen kein positives großdeutsches Programm entgegenzusetzen hat. „Man muß
eine bestimmte Lösung der deutschen Frage in Aussicht stellen, wenn man das Volk
nicht glauben machen will, daß es nur eine solche Lösung, und zwar die vom
Nationalverein empfohlene, gebe." Aber die von Dalwigk vorgeschlagene Lösung
durch eine Bundesreform war, abgesehen von der Unmöglichkeit, sämtliche Regie¬
rungen dafür zu gewinnen, eine Künstelei, die niemals auf Popularität rechnen
konnte. Besonders gilt das von dem Schwerpunkt seiner Reformvorschläge, dem
Turnus im Bundespräsidium zwischen Ästerreich, Preußen und einer von den
übrigen Staaten zu bestimmenden Regierung, also der Verewigung der Triaspolitik
in Deutschland. Und seitdem die „revolutionäre Partei" deutsche Fürsten an ihrer
Spitze wußte, war sie mit solchen Mittelchen nicht mehr zu überwinden. Dalwigk
überschätzte die Bedeutung des formalen Rechtes gegenüber dem natürlichen Recht
nationalen Fühlens. Daß er sich von Ministerkonferenzen, von Bundestagsanträgen,
von strafrechtlichen Vorgehen gegen die Umsturzpartei des Nationalvereins, ja von
Einschüchterung der einzelnen Wähler zum Darmstädter Landtag Erfolg versprach
gegen eine immer breiter werdende Volksbewegung, zeigt uns, wie wenig der aus der
vormärzlichen Zeit stammende Minister den Druck ermessen konnte, den eine Über¬
zeugung der breiten Masse auf alle Hindernisse ausübt.
Die Lage rechtfertigt einen Vergleich mit den Zeiten des Sozialtstengesetzes.
Aber während Vismarcks glänzende Außenpolitik die Fehllösungen innerer Probleme
in den Hintergrund treten ließ, hat Dalwigk gerade auf dem auswärtigen Gebiet
dadurch, daß er Frankreich, Rußland, gelegentlich auch England, mit innerdeutschen
Fragen befaßte, der werdenden Autonomie des deutschen Volkes aufs schwerste ge¬
schadet. Dalwigk hat dafür keinen Sinn; für ihn ist, wo es gegen Mächte des Um¬
sturzes einzuschreiten gilt, die Solidarität der deutschen und außerdeutschen gut¬
gesinnten Regierungen das Selbstverständliche.. Duldung der Nationalvereins¬
bestrebungen, ja liberale Negierung, ist für ihn gleichbedeutend mit Unterstützung
des revolutionären Prinzips. Nirgend hat Dalwigk diese Auffassung so energisch
zu vertreten Gelegenheit gehabt als bei dem Besuche, den er dem König Wilhelm
nach dem Beckerschen Mordanschlag im Juli 1861 machte, einem der nierkwürdigsten
Auftritte, von denen das Tagebuch berichtet. . ,
Bei der Schwäche seiner eigenen Verteidigungsstellung richtet Dalwigk seinen
Blick immer häufiger auf Frankreich, dem das Aufsteigen Preußens nicht gleichgültig
sein kann, und dessen Mißtrauen gegen Preußen der hessische Minister jederzeit zu
verstärken sticht. Der Öffentlichkeit blieb dieses Zusammenspiel nicht verborgen;
bald wurde im Rheinland der Gedanke herumgetragen, wer dem Nationalverein fern¬
bleibe, bringe sich in den Verdacht französischer Sympathien.
Das Zusammengehen Österreichs mit Preußen 1864 war eine große Ent¬
täuschung für Dalwigk; längere Zeit betrachtet er die Wiener Politik mit äußerstem
Mißtrauen, sucht Eindruck zu machen mit der Gefahr französischer Kompensations-
sorderungen und besonders mit der Ankündigung, daß die Mittelstaaten, von Oster¬
reich verlassen, in einem Rheinbund ihre Verteidigung gegen Preußens Übergriffe
suchen müßten. So war die Verweisung der Schleswig-holsteinischen Sache an den
Bundestag ganz in Dalwigks Sinne, sie beendete die Sonderpolitik Österreichs und
führte den Entscheidungskrieg herbei, der das revolutionäre Prinzip in Deutschland
endgültig vernichten sollte. , '
Der Krieg von 1866 wurde, wie die Dalwigkschen Aufzeichnungen beweisen,
auf süddeutscher Seite noch planloser und dilettantischer geführt, als man bisher
annahm. Konnte sich ein Dalwigk über die Verteilung der Kräfte so täuschen, daß
er einen Sieg erwartete? Der Glaube an den Sieg der Legitimität ist es, der ihm
die kühle Überlegung raubt. Er will nichts davon hören, als ihm Prinz Ludwig,
der Führer der hessischen Truppen, sagt, daß seine Truppen lieber gegen die
Franzosen fechten würden, als gegen die Preußen; eine solche Ansicht ist ihm eine
schlechte, unpairiotische.
Freilich beruht Dalwigks Siegeszuversicht auch auf dem Vertrauen, daß Frank¬
reichs Interessen nicht zulassen würden, daß es unbeteiligt bleibe. < Mit dem
französischen Gesandten werden die deutschen Angelegenheiten eingehend erörtert,
' und man gewinnt den Eindruck, daß Paris die Darmstädter Gesandtschaft als
Hauptauelle für die Kenntnis der süddeutschen Verhältnisse benutzt. Um so größer
ist die Enttäuschung, als Frankreich auch auf die dringendsten Vorstellungen hin
säe ne p-is i-etuser 1'apvui 6e 1a, 1'rg.rice Q un etat ami est 6es rneitlsurs
Zinis cle ?r-inne et Hui n'a Samens eesKe nie compter sur Protektion)
und auf den Hinweis, welche Gefahr die Besetzung von Mainz durch die Preußen
für Frankreich darstelle, nicht eingriff, und daß man die Rückgabe der Provinz Ober-
Hessen nicht französischen, sondern russischen Bemühungen verdanken mußte.
V ,>:
Den Bedingungen des Siegers mußte sich Hessen fügen. In den Nord¬
deutschen Bund trat es mit dem nördlich des Maines gelegenen Landesteil, und
Nach langem Sträuben auch in das Schutz- und Trutzbündnis. Von dieser Zeit ab
haftet Dalwigks Politik, soweit sie sich gegen Preußen richtete, jene Unaufrichtigkeit
an, aus der wir die Erbitterung verständlich finden, die sich von jetzt ab bei allen
Freunden der preußischen Lösung der Einheitsfrage gegen ihn kundtut. Wenn wir
sein Verhalten überhaupt verstehen wollen, so kann das nur geschehen, indem wir
seinen Anschluß an Preußen als mit einer Rsskrvütio ingritii-IiK vollzogen be¬
trachten. Großherzog Ludwig III. — dessen Bilde die Aufzählungen Dalwigks
eigentlich nur den Zug hochgradiger Indolenz hinzufügen — Pflegte sich über An¬
nahme unliebsamer Verpflichtungen, die sich aus der neuen Lage ergaben, mit der
Phrase hinwegzusetzen: „<Ü«lÄ us Äursra pas!" Das war auch die Denkweise seines
Ministers.
Eine solche Politik kann, wenn überhaupt, nur durch den Erfolg gerechtfertigt
werden. Darum scheint Dalwigk nicht bange gewesen zu sein. Er hofft, ja er
rechnet mit Sicherheit auf einen großen europäischen Krieg, der den süddeutschen
Staaten ihre Selbständigkeit wiedergeben werde. Ein neuer Kaunitz, denkt er zu¬
nächst an einen Bund Frankreichs, Österreichs und Rußlands gegen Preußen. Nur
mit Dänemark dürfe man sich nicht Verbunden, um das deutsche Nationalgefühl nicht
zu verletzen. Dagegen wäre eine starke Schwächung Preußens als Ziel in Aussicht
zu nehmen. Wiederherstellung Hannovers, durch Westfalen verstärkt, Vergrößerung
Sachsens, Rückgabe Schlesiens an Osterreich und nicht zum letzten: Erweiterung
Hessens zu einem ansehnlichen Königreich, dessen Monarch dann, so erwog man
weiter, den preußenfreundlichen Thronfolger, Prinzen Ludwig, durch den politisch
noch unbelasteten Prinzen Wilhelm ersetzen könne. Daß auf Nußland nicht zu
rechnen sei, wurde Dalwigk bald klar, um so sicherer glaubte er Frankreichs zu sein.
Die Jahre 1867 bis 1870 sind voll von öffentlichen und geheimen Begegnungen und
Besprechungen zwischen Dalwigk und französischen Politikern; 1867 war er selbst
in Paris, wo ihm Napoleon die Frage vorlegte: „Lombien cZe temps poupe?-
vous encore resisrer?" — „Oeux 5 trois ans."
Wenn es gelang, Osterreich und Frankreich zum gemeinsamen Einfall in Süd-
deutschland zu bewegen, war für Dalwigk selbst eine Neutralität der Südstaaten, wie
sie für diesen Fall von anderen Ministern erwogen wurde, nicht mehr am Platz-
„Wir würden uns also wohl oder übel Frankreich und Osterreich anschließen müssen,
wenn wir uns auch anfangs die Miene geben müßten,
mit Preußen zu marschieren." „Gebe es Krieg mit Frankreich, und
Osterreich stelle eine Armee von 100 000 Mann an der bayerischen Grerche auf,
während die Franzosen eine Armee bei Mannheim über den Rhein schickten, so
würden die fraglichen Schutz- und Trutzbündnisse illusorisch." Diese Äußerungen
fallen in dieselbe Zeit, da er, wie wir aus französischer Quelle wissen, den: fran¬
zösischen Gesandten mit leidenschaftlichen Worten die Notwendigkeit des baldigen
Krieges gegen Preußen darstellte und sich erbot, wenn es an einem Vorwand zum
Kriege fehle, diesen durch den Antrag um Aufnahme Südhessens in den Nord¬
deutschen Bund zu liefern!
Es muß hervorgehoben werden, daß Dalwigk bei all« Hinneigung zu Frank¬
reich sein deutsches Gesicht zu wahren weiß. Schon bei Eröffnung der Bündnis¬
kampagne, im Sommer 1866, machte er Benedetti darauf aufmerksam, daß Frankreich
vermeiden müsse, „durch vorzeitige (!?) Ansprüche auf deutsches Gebiet die deutsche
Nation in ihren tiefsten Tiefen aufzuregen". Es habe für seine politische Stellung
schon viel erreicht, wenn es ihm gelänge, den alten Zustand wiederherzustellen und
Preußen seine unrechtmäßigen Annexionen wieder zu entreißen. Es wirft ein
eigenes Licht aus Dalwigks Anschauungen von den ihm doch genau bekannten
französischen Zuständen, wenn er glauben kann, daß der rasch sinkenden Popularität
des Kaisertums mit einem anderen Erfolge aufgeholfen werden könne, als mit einem
weithin sichtbaren und greifbaren, nämlich mit Eroberung deutschen Bodens. Zu°
dem mußte er ja in Straßburg hören, welchen Illusionen man sich in Frankreich
übe: die Gesinnung der linksrheinischen Bevölkerung hingab. Der dortige Präfekt
sagte ihm 1868, „er stehe dafür ein, daß bei einem SukkrgAo univOi-Koi 75 Prozent
der Bevölkerung des linken Rheinufers bis Mainz für eine Vereinigung mit Frank¬
reich stimmen würden".
Dalwigk befindet sich also in einer Selbsttäuschung. Auch über die
Stimmung in Süddeutschland, wenn er Napoleon vorstellt, man werde sich dort über
un neues Jena freuen; bald sah er sich nicht nur von der öffentlichen Meinung,
sondern sogar von den „verächtlichen" Souveränen von Bayern, Württembergnnd Baden
widerlegt. Trifft ihn nicht in höherem Maße als den preußischen Staatsmann der
Voiwurf des Spielers, der alles — auch seine und seines Herrn politische Ehre —
auf eine Karte setzt? Und er war gewarnt: Er mußte immer deutlicher erkennen,
daß auf Osterreich nicht mit Sicherheit zu rechnen war, und sowohl der österreichische
Kanzler Beust wie der hessische Gesandte in Wien, Heinrich von Gagern, hatten ihm
vorgestellt, wie bedenklich es für ihn sei, sich mit Frankreich, „dem präsumptiven
Feinde", öffentlich einzulassen. Auch der kluge und weitblickende Bischof von
Mainz, von Ketteler, versuchte ihm klarzumachen, daß Osterreich bei ferneren Kom¬
binationen über Deutschlands Zukunft außer Berechnung bleiben müsse. „Die
Madjaren, die Polen, die Tschechen gäben einen festen Anschluß Österreichs an
Deutschland nie zu." Auch in diesem Punkte glaubte Dalwigk den vagen An¬
deutungen des Erzherzogs Albrecht mehr Wert beilegen zu müssen.
Charakteristisch für die Ausfassung der Stellung Hessens zu Frankreich und
zu dem verbündeten Norddeutschland ist ein Zwischenfall, der sich 1867 mit dem
hessischen Gesandten in Paris, von Enzenberg, zutrug. Dieser hatte, in dem Be¬
wußtsein, die deutschen Interessen seien mit den hessischen identisch, die ihm zu¬
gänglich gewordenen Zeichnungen und Maße zu den neuen französischen
Mitrailleusen nach Berlin gesandt. „Er meinte, da die neuen Geschütze ja doch
gegen Teutschland gebraucht werden sollten, habe er nur seine Pflicht getan." In
höchster Mißbilligung deutete ihm Dalwigk an, „es handle sich nicht von einem
Kriege von Deutschland, sondern von Preußen mit Frankreich, und er Möge den
Preußen es selbst überlassen, sich die französischen Waffengeheimnisse zu verschaffen".
Folgerichtig bleibt Hessens Politik bei der Auffassung, daß es für ihren Staat
aus der nationalen Verknüpfung und Alldeutschland noch ein Zurück gebe, auch
während des entscheidenden Krieges. Als am Morgen des 17. Juli 1870 der
französische Gesandte vor dem hessischen Minister stand, rechtfertigte dieser die
Stellungnahme seines Staates gegen Frankreich mit seiner Zwangslage und fügte
hoffnungsvoll hinzu: „Sollten die Ereignisse im Laufe des Krieges der Groß-
herzoglichen Negierung die Unabhängigkeit der Aktion zurückgeben, so behalte sich
dieselbe für diesen Fall jede ihr gut scheinende Entschließung vor." Und im Herbste,
als gar kein Zweifel mehr über den Ausgang des Krieges möglich war, sah er sich
^v«r genötigt, den Verhältnissen Rechnung zu tragen, aber der notwendig gewordene
Antrag auf Eintritt ganz Hessens in den Norddeutschen Bund wurde von, Groß-
h^rzog mit dem gewohnten Vorbehalt genehmigt: „Lei», us eturvrs, pas."
Ganz im Sinne seines Ministers. Nach dem Fehlschlagen aller Berechnungen,
die den Weg zur Selbständigkeit Hessens bahnen sollten, brach sein Glaube nicht
zusammen, daß es sich hier um ein Vorübergehendes handle, das bald wieder ver¬
schwinden werde, um einer Verwirklichung des großdeutsch-partikularistischen Ge¬
dankens Platz zu machen. Schon wieder war er in neuen Kombinationen befangen.
Am t. Februar 1871 schrieb er an seinen Freund Beust: „Ich hatte bei dein Beginn
des dermaligen Krieges die Hoffnung, daß wechselnde Chancen Preußen nötigen
sollten, österreichischen Beistand zu erbitten, und daß dem alten Kaiserhause und
Deutschland dadurch Gelegenheit gegeben würde, die in den Herzen fortlebende Ver¬
bindung auch äußerlich wiederherzustellen____Inskünftig wird jede Macht, die mit
Preußen Händel bekommt, Frankreich zum Bundesgenossen haben____In Rußland
nimmt der Haß gegen Deutschland, zumal gegen Preußen, zu.... Ich kann also
Osterreich nur raten, sich schlagfertig zu halten. Der Friede, welcher jetzt in
Versailles verhandelt wird, dauert höchstens so lange, als der .Kaiser Alexander lebt
und Frankreich nicht zu Atem gekommen ist."
' Konnte ein Staatsmann, dessen Trachten nur darauf ausging, das soeben
gebaute Haus zu zerstören, im Amte bleiben? Zwei Monate nach diesem Briefe
hatte Vismarck seine Entlassung durchgesetzt.
Man hat in neuerer Zeit oft Gelegenheit, über Minister zu lächeln, die, wenn
ihnen die Lösung einer einzelnen Aufgabe nicht gelungen ist, sofort ihr Amt ver¬
lassen. Es ist eine Schwäche, die sich als Charakterstärke maskiert. Den umgekehrten
Fall haben wir bei Dalwigk. Er behielt sein Amt auch noch, nachdem alle Voraus¬
setzungen für die Erreichung seines Zieles weggefallen und ihr Wegfall von ihm
selbst anerkannt worden war. Sein Kampf endete peinlich, wie der eines Soldaten,
der noch feuert, nachdem er selbst die weiße Flagge aufgezogen hat.
Historische Situationen wiederholen sich nicht. Wenn wir aber erwägen,
welche Kräfte in der geschilderten Zeit am Werke waren, so ergeben sich doch
Parallelerscheinungen, die auch auf unsere Zeit und die in ihr ruhenden Kräfte
und Probleme ein gewisses Licht werfen. Hier wie dort ein in seinen Grundfesten
aufgelockertes Gefüge deutscher Staaten, in dem sich, besonders im Süden, eine starke
Opposition gegen die Kräfte der Vereinheitlichung aufbäumt; ein beutelüsterncs
Frankreich, das aus den Gesinnungen der Bevölkerung des linken Rheinufers Hoff'
nungen nährt, und das aus dem Widerstand der in ihrer Eigenart bedrohten. Süd¬
deutschen zeitweilig gemeint hat, etwas wie einen neuen Rheinbund erwachsen zu
sehen. Aber im Deutschland der Gegenwart kein fester Punkt, an den die neue wie
die andere Entwicklung anknüpfen könnte: kein Bismarck, der durch die Macht seiner
Persönlichkeit dem unitarischen Zuge das Fortreißende eines nationalen Prestiges
geben könnte; kein Dalwigk, der durch geheime Anknüpfungen die Hoffnung Frank¬
reichs wachhält, indem er doch nur die süddeutsche Selbständigkeit zu verteidigen
meint. Und so sind auch die beiden Wagschalen anders belastet als vordem: die
unitarische durch die Selbstverständlichkeit, mit der die deutsche Einheit durch eine
fünfzigjährige Gewöhnung und Fortentwicklung im Bewußtsein jedes Deutschen
wurzelt und sogar einer neuen großdeutschen Lösung durch den Anschluß Deutsch-
österreichs zudrängt; die Partikularistische, durch die auf den nationalen Aufschwung
des Krieges folgende Reaktion der Gemüter, durch die Verärgerung über viele Ma߬
nahmen der Reichsregierung und vor allem durch die Gewaltsamkeit, mit der die
unitarischen Fortschritte den Süddeutschen von Berlin aus aufgedrängt wurden-
Der Gedanke einer Anknüpfung an Frankreich endlich ist drirch die maßlose Un¬
geschicklichkeit der französischen Machthaber, denen es zum Heile unseres Volkes
gelungen ist, trotz ihrer günstigen Stellung im Herzen deutscher Länder, alle Volks¬
schichten auf beiden Seiten des Rheines durch ihre barbarische Politik des Hasses-
in eine einheitliche Abwehrfront zu zwingen, auf absehbare Zeit ausgeschaltet.
Wenn also der heutige Staatsmann mit rheinbündischen Möglichkeiten nicht
Zu rechnen hat — die zeitweilig auftauchenden bayerisch-österreichischen Parti¬
kularismen werden schon durch das Gesetz der politischen Schwerkraft beim Reiche
Schatten —, so erwächst ihm die Aufgabe, die in den beiden Wagschalen liegenden
Gewichte so richtig einzuschätzen, daß der Kraftverlust durch Reibung des unitarischen
und des partikularistischen Prinzips auf ein Minimum herabgesetzt wird; denn alle
Kräfte des politischen Lebens müssen heute einem Ziele zugerichtet werden: dem
Wiederaufbau geordneten Daseins und seiner Verteidigung gegen die Bestrebungen,
die auf eine vollständige politische Zersetzung unseres Volkes hinwirken.
er Streik der Beamtenschaft im Saargebiet, dessen plötzlicher und zu
diesem Zeitpunkt unerwarteter Ausbruch alle Welt überrascht hat,
stellt eine der bisher ernstesten Episoden im Kampf der Saar¬
bevölkerung um die Erhaltung ihres Deutschtums und ihrer Zu¬
gehörigkeit zum deutschen Vaterlande dar. Aus allen Handlungen
der Regierungskonmussion läßt sich mit klar erkemwarer Deutlichkeit das rücksichts¬
lose, durch nichts zu beirrende Streben des Fünferrates verfolgen, das Saarland zu
verwelschen und möglichst schnell Frankreich vollständig in die Hände zu spielen.
Mit den gewiß nicht geringen Machtmitteln, die der Friedensvertrag der Negierungs-
koinmission in die Hände gibt, um eine französisch orientierte Politik zu verfolgen,
läßt diese sich dabei keineswegs genügen, sondern über den klaren Wortlaut des
^ersailler Vertrages hinaus ergreift sie fortgesetzt Maßnahmen, die sie im Geschwind-
>Grill zu ihrem Ziele führen sollen.
Die ersten und am härtesten betroffenen Opfer dieser Französierungspolitik
sind naturgemäß die Beamten. Das Saargebict besaß, solange es unter deutscher
Verwaltung stand, einen Stamm Pflicht- und gesinnungstreuer Beamter in allen
^Mnaltungszweigen, die der Bevölkerung in jeder Beziehung zum Vorbild dienen
konnten. An ihnen besaß diese in den schweren Zeiten französischer Militärdiktatur
vertraute und verschwiegene Ratgeber, die ihr in allen ihren Nöten mit Rat und
Tat zur Seite standen. Neben der Geistlichkeit beider christlicher Konfessionen bildete
die Beamtenschaft das Rückgrat des Deutschtums an der Saar, um die sich die
übrigen Bevölkerungskreise, von verschwindenden Ausnahmen abgesehen, in ebenso
treuer Anhänglichkeit an das deutsche Vaterland wie um ihre gegebenen Führer und
Vermittler scharten. Das war natürlich den Franzosen und ihren Sachverwaltern,
der Regierungskommission, ein Dorn im Auge, und die hauptsächlichste Sorge der
Regierungskommission bildete es nach ihrem Amtsantritt, diesem schönen Zustand
ein Ende zu machen. Die Bildung der Saarregicrung erforderte ein Heer von
neuen Beamten. Die neu geschaffenen Stellen wurden, soweit nur irgendwie möglich,
mit Ausländern, vorzugsweise Franzosen, besetzt, mit denen, nachdem auch bei den
Saargruben alle maßgebenden Stellen mit Franzosen besetzt waren, ein ganz neue»
Element in den Bemntenkörper des Saarlands gebracht wurde. Den deutschen Beamten
war die neue Kollegenschaft nichts weniger als erwünscht, zumal die Fremdlinge
nur in den seltensten Füllen über die nötige Vorbildung, ja nicht einmal über die
Kenntnis der deutschen Sprache verfügten, aber es wurden ihnen andauernd von
der Regierungskommission Versprechungen und Zusagen gemacht, daß sie nicht durch
diese Art der Stellenbesetzung benachteiligt würden, sondern daß alle ihre wohl¬
erworbenen Rechte bewahrt blieben. Aus dem Gang der Ereignisse ist bekannt,
wie wenig die Regierungskommission gewillt war, feierliche Versprechungen einzu¬
lösen, wie sie im Gegenteil den Beamten ein Statut aufzudrängen suchte, das sie
recht- und vaterlandslos machen und zudem in den Dienst der Verwaltungspolitik
einstellen sollte. Diese Zumutung löste die lange genug mühsam zurückgehaltene
Erregung in der Beamtenschaft aus und führte spontan zum Streik der gesamten
Beamtenschaft des Saarreviers. Die Negierungskommission hatte in den dem Streik
unmittelbar vorausgehenden Verhandlungen ihrerseits alles getan, um die Beamten
durch Nichterfüllung ihrer Wünsche zu reizen und zu unbesonnenen Schritten förm¬
lich zu drängen. Man kann nicht anders annehmen, als daß sie bewußt und gewollt
auf einen Generalstreik hindrängte, um auf diese Weise den Belagerungszustand
herbeizuführen und sich von den ihr mißliebigen Elementen im Saargebiet befreien
zu können."
Außerordentlich erwünscht kam ihr zu diesem Zweck das „Dossier Ollmert,
das ihr Gelegenheit gab, die durch das Saargebiet gehenden Zuckungen auf das
Konto des sogenannten „Heimatdienstes", gegen den seit Wochen von der Franzosen-
und Französlingspresse im besetzten Gebiet wie auch in Frankreich ein unausgesetzter
hartnäckiger Kampf geführt wird, zu setzen. Da an den Stellen, für die diese
Zeilen bestimmt sind, genaue Kenntnis über den wirklichen Sachverhalt herrscht,
so ist es überflüssig, näheres darüber zu sagen. Nur diese meine Auffassung möchte
ich festlegen, daß es unbedingt notwendig erscheint, so bald wie nur irgend möglich
eine neue Organisation zur Betreuung des Saargebietes zu schaffen, da mit der bis¬
herigen, soweit sie ihren Sitz im Saargebiet hat, nur mehr schwer zusammenzuarbeiten
sein wird. Die bisherigen Vertrauensleute werden nach dem Terror des Belage¬
rungszustandes mit seinen Ausweisungen und Kriegsgerichtsurteilen auch kaum mehr
den Mut aufbringen, intensive Mitarbeit zu leisten.
Was den Streik und seinen Verlauf anbetrifft, so sind sämtliche Einzelheiten
ja bereits nach Berlin gemeldet worden: Die Beamten entzogen sich zum aller¬
größten Teil dem Requisitionsbefehl der französischen Militärkommandanten durch
Flucht über die Grenzen des Saargebietes. Allenthalben wurden sie gastlich auf¬
genommen und ihnen jede Unterstützung in ihrer schwierigen Lage.zuteil. Wer
von den Beamten gefaßt wurde und die Weigerung aussprach, dem Requifitions-
befehl Folge zu leisten, wurde verhaftet und dem Kriegsgericht zugeführt. Die
Ausweisungen vollzogen sich in der rohesten und brutalsten Form. Ohne Lebens-
Mittel, ohne Kleider, ohne Wäsche, vielfach ohne jegliche Subsistenzmittel, wurden
die Betroffenen auf Lastautomobilen zusammengepfercht, über den Rhein befördert,
unter Aufsicht von farbigen Truppen, die überhaupt die Besatzung des Saargebietes
bildeten, da die Franzosen den eigenen Truppen zur Durchführung von Maßregeln
gegen Streiks anscheinend nicht das nötige Zutrauen schenken. Die Ausweisungen
verfolgten offenbar den Zweck, die markantesten Träger des Deutschtums zu treffen.
Man kann nicht behaupten, daß überall dieser Zweck erreicht worden ist, da die
Franzosen sich in der Hauptsache auf die Gutachten ihrer Vertrauensleute, in der
Regel der übelbcrufensten Elemente, stützen. In Saarlouis z. B. besitzen sie als
solche beispielsweise ihren ehemaligen „Zensor" Karl Bier, ehemals Kriegervereins-
Präsident in Noten> obwohl er beim Militär — was niemand bekannt war — Soldat
zweiter Klasse war; ferner den ehemaligen Schuhmacher und „Redakteur" Lang, den
Drechsler Grandhyll, den ehemaligen Schutzmann Gerlach, der allerdings jetzt, nach¬
dem der franzosenfreundliche Bürgermeister von Saarlouis, Dr. Hector, sich ge¬
zwungen gesehen hatte, ihn aus den städtischen Diensten zu entlassen, in Saar¬
brücken, am Sitze der Regierungskommission sitzt, um seine Gutachten darüber abzu¬
geben, wer von den Ausgewiesenen wieder zurückkehren darf. Der Denunziation
der zweifelhaften Elemente sind angesehene Bürger aus den niedrigsten Beweg¬
gründen zum Opfer gefallen, beispielsweise der Kaufmann Sturm in Saarlouis
und der Kaffeehausbesitzer Schnitzler in Neunkirchen, beide Männer, die niemals
in nationalem Sinne irgendwie herausfordernd hervorgetreten sind. Die Franzosen,
oder im Saargebiet ihre Sachverwalter, die Ncgierungskommission, suchen sich stets
ven Anschein zu geben, als verfolgten sie bei ihren Ausweisungen lediglich den
Zweck, die sogenannten alldeutschen, aus dem Osten stammenden „Hetzer" und
„Agitatoren" zu entfernen. Diesmal können sie sich jedenfalls nicht dieses Vor-
wandes bedienen, da die Ausgewiesenen zumeist alteingesessene Bürger sind, deren
Wiege bereits im Saargebiet stand, sogar an die alten Saarlouiser Familien, die
sich stets bei ihnen einer außergewöhnlichen Schonung erfreuten, obwohl sie trotz
ihrer französischen Namen eine kerndeutsche Gesinnung ausweisen, wagten sie sich
diesmal heran. So wurde der 66 Jahre alte Buchhändler Schreber, der urkund¬
lich nachweisen kann, daß seine Familie seit Gründung der Stadt in dieser ansässig
ist, über den Rhein befördert, nach seinem Sohne, einem Amtsrichter, wie auch nach
dem Kaufmann Levacher-Dsve, einem Sohn des früheren Beigeordneten und
Kreisdeputierten Levacher, wurde gesucht, beide waren aber abwesend. Die
katholische Pfarrgeistlichkeit, die ihnen bisher ebenfalls im allgemeinen als heißes
Eisen galt, stellte diesmal ebenfalls zahlreiche Opfer der Verfolgungspolitik, u. a. den
Pfarrer Dr. Prior-Dillingen, Pfarrer B ohn-Pachter, einen älteren Geist¬
lichen aus Neunkirchen. Religionslehrer Studienrat Hein und Kaplan Braun
'in Saarlouis wurden gesucht, waren aber nicht auffindbar; wie bestimmt verlautet,
fahndeten die Häscher auch nach dein 75 jährigen Dechanten und Ehrendomherrn
Prälat subtil aus Saarlouis, der sich aber auf Reisen befand. Ähnliche Jagden
Aaas Bürgern, die nicht in der entferntesten Beziehung Zum Streik standen, spielten
sich in Saarbrücken, Neunkirchen, Se. Wendet und vielen anderen Orten ab. Wie
groß die Zahl der von der französischen Verfolgungswut betroffenen Opfer in
Wirklichkeit ist, muß sich erst herausstellen, wenn wieder Ruhe im Saarlande ein¬
gekehrt ist.
Durch die Zeitungen ging die Meldung, der Kanadier Waugh habe ebenso
wie Herr v. B o es sein Amt als Mitglied des Fünscrratcs niedergelegt. In der
Tat hat, wie mir aus zuverlässiger Quelle mitgeteilt wird, Herr Waugh die feste
Zlbsicht bekundet gehabt, zurückzutreten, er ist aber leider von deutscher Seite ver¬
hindert worden, sie auszuführen. Man befürchtete nämlich, daß eine Regierungs¬
kommission mit dem bekannten Kleeblatte Raute, Lambert, Moltke unendliches Unheil
stiften könnte, wenn niemand da sei, der eine dampfende Wirkung ausübe. Dabei
übersah man leider die wuchtige, moralische Wirkung, die der Rücktritt eines Entente¬
angehörigen von dem Amt eines Mitglieds der Regicrungskommission auf die
gesamte Welt hätte ausüben müssen. Auch auf den Rumpf der Regierungs¬
konimission wäre ein solcher Schritt gewiß nicht ohne Eindruck geblieben.
Das ist gewiß, die Franzosen beabsichtigen nicht, das Saargebiet jemals
wieder herauszugeben — sie betrachten es nämlich heute schon als ihnen gehörig.
Andererseits bereiten aber ihnen die unablässigen Schwierigkeiten, der sie bei ihrer
Verwelschungsarbeit begegnen, schwere Sorgen. ES gibt unter ihnen zahlreiche
Vertreter einer weniger gewalttätiger und imperialistischen Regierungsmethode, die
sich verschiedentlich den Gedanken durch den Kopf gehen ließen, das Saargebiet mit
seiner so überaus lästigen Bevölkerung ganz fahren zu lassen, aber die Gewalt¬
politiker trugen immer wieder den Sieg über die vernünftigeren Leute davon. Die
Hetzer sind ständig am Werk, um nur ja nicht die Vernunft zum Siege kommen zu
lassen; sogar auf den Kanzeln werden die militaristisch-imperialistischen Ziele Frank¬
reichs in zynischer Weise offen zugegeben: Der Divisionspfarrer B en ar d in Saar¬
louis erklärte in seinen Predigten, daß Frankreich von jetzt an um so eifriger die
Annexion des Saargebietes betreiben werde, je widerstrebender sich die Bevölke¬
rung zeige.
Von der Bevölkerung kann man nach wie vor nur sagen, daß sie sich muster¬
haft verhält — im nationalen Sinne gemeint. Vor dem Streik durste kein Franko¬
phile sich öffentlich bemerkbar machen, sonst konnte er sicher sein, einen derben Denk¬
zettel davonzutragen. Heute erheben die Frcmzöslinge wieder frech ihr Haupt, aber
ihre Zahl ist so klein geworden, daß man ruhig von einer geschlossenen Abwehrfront
der Saarbevölkerung gegen die Übergriffe der Regierungskommission und der
französischen Soldateska sprechen kann. Der Beamtenstreik hat ebenfalls die Bürger¬
und Arbeiterschaft geschlossen hinter den Beamten gesehen. Die Erbitterung über
die maßlosen Ausschreitungen, die sich das französische Militär im Austrag der
Regierungskonimission hat zuschulden kommen lassen, Ausschreitungen gegen die
Sicherheit und das Eigentum der Bevölkerung sowie die Ehre von Frauen und
Mädchen, haben die an und für sich schon bestehende Erbitterung bis zur Siede¬
hitze steigen lassen. Der Haß gegen alles, was französisch oder nur franzosenfreund¬
lich heißt, hat Formen angenommen, die für die, Zukunft gefährlich zu werden
drohen Die Arbeiterschaft hat die Sache der Beamten zu der ihrigen gemacht
und sieht selbst die U. S. P., abgesehen natürlich von den in französischem Solde
stehenden Führern, dabei an ihrer Seite. Die fortwährenden Zwischenfälle stärken
nnr das Zusammengehörigkeits- und deutsche Nationalgefühl und vermehren
die Abneigung gegen die Franzosen. Nur muß für die nächste Zukunft damit ge¬
rechnet werden, daß durch die letzten Vorgänge die offene und freimütige Sprache, die
das Saarvolk seit Übergang der Negierung an den Fünferrat zu führen gewohnt war.
Wieder zum Schweigen gezwungen wird. Das Saarvolk wird nach dieser kurzen, ver¬
hältnismäßig freien Periode die Fesseln, in die es tatsächlich doch geschlagen ist, um
so drückender empfinden. Die Folge wird sein, daß die nationalbolschewistische
Stimmung, die breite Schichten der Bürgerschaft bereits erfaßt hat und die alles
Heil aus dem Osten erwartet, weiter beträchtlich anschwillt.
Um das im Saarvolke in unverminderter Stärke vorhandene Zusammen¬
gehörigkeitsgefühl in ebensolchen Grade weiter zu halten, dürfte es erforderlich sein,
daß im rechtsrheinischen Deutschland Regierung, Volksvertretung und Presse in
gleicher Weise unablässig bemüht sind, das Band, das Mutterland und Saarland
miteinander verknüpft, immer enger zu schlingen. Der Saarbevölkerung muß das
drückende Gefühl der Verlassenheit und vollständigen Isolierung, von dem sie noch
immer beseelt ist, genommen werden. Um das zu erreichen, müssen vor allen
Dingen die wirtschaftlichen Beziehungen zum Saargebiet mit aller Sorgfalt gepflegt
werden. An die Stelle der bureaukratischen Fesseln, die ihnen so sehr häufig angelegt
werden, haben weitherzige Bestimmungen zu treten, die selbstverständlich auch in
diesem Geiste zu handhaben sind. In öffentlichen Kundgebungen der Regierungs¬
vertreter und der Parlamente sollte, was ich schon häufig betont habe, des Saar¬
landes weit mehr als bisher gedacht und dieses ständig der Sympathien der Brüder
rechts des Rheines versichert werden. Wenn eine solche Politik von materiellen
Beihilfen, wie bisher, gestützt wird, so wird ihr Erfolg nur um so größer sein.
le moderne Arbeiterbewegung ist die organisierte Empörung
gegen die Leiden, die die kapitalistische Produktionsweise den
Arbeitern auferlegt. Lange Arbeitszeit, niedrige Löhne, schlechte
Arbeitsbedingungen sind es, die den Arbeitern das Leben schwer
„ machen, und gegen die sich zuerst der Kampf richtet. Daher ist
"er Kampf der Arbeiter ursprünglich ein gewerkschaftlicher Kampf", so charakteri¬
siert nicht mit Unrecht Hermann Liebmann die Beweggründe und das Ziel der
gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung der Gegenwart.
Die moderne Arbeiterbewegung — soweit sie der freigewerkschaftlichen
°der sozialdemokratischen Richtung angehört — hat aber auch einen scharf aus¬
prägten politischen Charakter. Karl Marx hat bereits im Jahre 1866 dieses
^oppelgesicht der Gewerkschaftsbewegung in folgender Weise geschildert: „Das
^
unmittelbare Ziel der Gewerkschaften beschränkt sich auf die notwendigen täg¬
lichen Kämpfe.zwischen Arbeit und Kapital als ein Mittel der Abwehr gegen
die unaufhörlichen übergriffe des Kapitals, mit einem Wort auf die Fragen
des Lohnes und der Arbeitszeit. Diese Tätigkeit der Gewerkschaften ist nicht nur
berechtigt, sie ist nicht nur notwendig. Sie ist unentbehrlich, so lange das heutige
System fortbesteht, im Gegenteil, sie muß verallgemeinert werden durch die
Gründung und die Zusammenfassung von Gewerkschaften in allen Ländern.
Auf der anderen Seite sind die Gewerkschaften, ohne daß sie sich dessen
bewußt werden, zu Brennpunkten der Organisation für die Arbeiterklasse ge¬
worden. Wie die mittelalterlichen Munizipalitäten und Gemeinden es für die
Bourgeoisie waren. Wenn die Gewerkschaften unumgänglich sind für den täg¬
lichen Guerillakrieg zwischen Kapital und Arbeit, so sind sie noch weit wichtiger
als organisierte Förderungsmittel der Aufhebung des Systems der Lohnarbeit
selbst."
Der parteipolitische Charakter der „freien Gewerkschaften" — des heutige«
Allgemeinen deutschen Gewerkschaftsbundes — ist vielfach aus taktischen Gründen
abgeleugnet worden, aber allen Ableugnungsversuchen zum Trotz bleibt das
Wort bestehen: „Partei und Gewerkschaft sind eins" und die Nürnberger Ver¬
einbarung vom Jahre 1906 ist ein vollgültiger Beweis für den parteipolitische«
Charakter der freien Gewerkschaftsrichtung. Es ist deshalb eine Selbstverständlich¬
keit, daß in der politisch und gewerkschaftlich sozialdemokratischen Arbeiter¬
bewegung ein und derselbe Geist kultiviert wurde: die materialistische Welt¬
anschauung, die internationale Gesinnung und die sozialistische Wirtschafts¬
auffassung. Idealistische und materialistische Ideen ringen seit Jahrzehnten
innerhalb der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung miteinander. In der
reinen Glut proletarischer Begeisterung kämpften die sozialistischen Arbeiter
unter dem Sozialistengesetz mit der Dulderkraft religiöser Märtyrer für die Ver¬
wirklichung des Zukunftsstaates. In dem Maße aber, wie die Bewegung in die
Breite ging und in dem Maße, wie politische und wirtschaftliche Vorteile errungen
wurden, verblaßte der Idealismus, der Zukunftsstaatsgedanke verlor seine
Farbenpracht. Die gewerkschaftlich stark fundamentierte sozialdemokratische
Arbeiterbewegung richtete sich auf dem Boden des Gegenwartstaates häuslich
ein. Der Materialismus triumphierte über den Idealismus. Die Revolutions¬
bewegung von 1918 artete zu einer Lohnbewegung größten Stils aus u»d
von den glühendsten chiliastischen Hoffnungen istKautskys resigniertes Bekenntnis
zum Kapitalismus von 1920 übrig geblieben: „Sofortige Wiederherstellung der
Produktion heißt daher zunächst sofortige Wiederherstellung der kapitalistischen
Produktion... Ein Kommunismus des Tellers, der Plünderung der Reichen
vermehrt nur die Produktionsstockung und vermehrt nur den Mangel
Produktion."-
Bedenklicher noch war die Lehre von der Notwendigkeit des Klassen
kampfes und der internationalen Gesinnung. Die Klassenkampfidee schuf die
künstliche Kluft zwischen Bürgertum und Proletariat und die internationale
Gesinnung glich den mageren Kühen im Traume des biblischen Pharao, die die
fetten Kühe verschlangen, ohne selber gemästeter zu werden. Wie in den Jahr^
zehnten der religiösen Kämpfe die verschiedenen konfessionellen Richtungen ihr
Heil in Verbindung mit dem Auslande suchten, wie in den Zeiten von Deutsch¬
lands tiefster Erniedrigung die deutschen Fürsten ihre Hilfe bei auswärtigen
Höfen erblickten; so glaubten die deutschen Arbeiter durch die Internationale
ihre Erlösung erwarten zu dürfen. „Proletarier aller Länder vereinigt euch"
war und ist die Parole, der mit Begeisterung gefolgt wird. Aber die
deutschen Arbeiter glichen doch nur dem törichten Manne in der biblischen
Parabel, der sein Haus auf den Sand baute, denn die Internationale
von 1849 zerbrach, als 1870 der Kriegssturm über Frankreich und Deutsch¬
land brauste. Die 2. Internationale wurde durch das Erwachen des
nationalen Geistes von 1914 beseitigt. Das vaterländische Gefühl loderte
in aller Herzen. „Immer schon haben wir eine Liebe zu dir gekannt,
nur wir haben sie nicht mit Namen genannt, Deutschland!" „Deutsch¬
land muß leben und wenn wir sterben müssen," das war die Grundstimmung,
die aus der deutschen Arbeiterschaft sich emporrang. Aber als die Seele des
deutschen Volkes durch die furchtbaren langen Kriegsnöte zermürbt war, da
schoß die internationale materialistische Gesinnung treibhausartig empor und
wieder besiegte sie den nationalen Idealismus. Der Weltkrieg ging verloren,
die Revolution siegte; der Weltbund kam und mit ihm die furchtbare Ent¬
täuschung. Die Proletarier aller Länder rührten keinen Finger zur Rettung
der deutschen Arbeiterschaft aus dem Sklavenfrieden von Versailles. Ihre matten
Proteste gegen die furchtbaren Bedingungen des Friedensvertrages verhallten
wirkungslos und noch heute — wie es jüngst auf den internationalen Kongressen
M Genua und Genf geschehen ist, flammt sprühender Haß den deutschen Genossen
Entgegen.
Durch die Revolution hat in Deutschland der Sozialismus in marxistischer
und in Rußland in bolschewistischer Form gesiegt. Über die Wirkungen des
Bolschewismus urteilt der U. S. P. Professor Ballod: „Das Ergebnis ist,
daß an Stelle des bestmöglichsten Sozialismus der schlechteste bzw. dümmst-
wöglichste durchgeführt ist. An Stelle der Produktion ist bloß der Raub und
die Vergeudung der von der bürgerlichen Gesellschaft angehäuften Güter organi¬
siert worden. Nicht die Werte schaffende Arbeit, sondern Mord und Totschlag
sind die wichtigsten Hilfsmittel der russisch-bolschewistischen Machthaber." In
^r deutschen Arbeiterschaft aber hat die fast zweijährige Herrschaft der Sozial-
demokratie ein derartiges Maß von Unzufriedenheit ausgelöst, daß die marxisti¬
schen Parteien bei der Reichstagswahl am 6. Juni mehr als 2'/-. Millionen
Stimmen verloren haben. Das ist ein Vorgang von symptomatischer Bedeutung
fiir die innere Entwicklung unseres Vaterlandes, denn wenn nicht alle Zeichen
^Ngen, dann ist der Umschwung in der deutschen Arbeiterwelt da. Der Prozeß
der Abkehr vom Marxismus und von der internationalen Gesinnung ist durch
^n Wahlausfall deutlich in die Erscheinung getreten. Der vaterländische Ge¬
danke ist in der sozialistischen Arbeiterschaft im Wachsen begriffen. Das beweist
°le Haltung der Arbeiterschaft ohne Unterschied der politischen und gewerkschaft-
^chen Richtung im Blick auf die Erhaltung der Reichseinheit. Die Arbeiter-
Massen waren es, die in West- und Süddeutschland, wo sich starke Absplitterungs-
bestrebungen in bürgerlichen Kreisen bemerkbar machten, zugunsten der Reichs-
^üben demonstrierten. Die deutschen Arbeiter waren es, die durch ihre Ber-
treter sich bereit erklärt haben, Überschichten zu leisten und Sonntags zu arbeiten,
um die Bedingungen von Spa erfüllen zu können. Die deutsche Arbeiterschaft
in Oberschlesien ist es,! die in den letztvergangenen stürmischen Tagen eine be¬
wußte nationale Haltung eingenommen hat, und schließlich den breiten Schichten
der Arbeiterbevölkerung ist es zu danken, daß die Abstimmung in Ost- und West-
Preußen sich zu einem Hochsiege des nationalen Gedankens gestaltet hat.
Aber auch der Klassenkampfgedanke, der in seiner Sünden Maienblüte
seine Spitze gegen die eigenen Volksgenossen richtet, verliert in weiten Arbeiter¬
kreisen viel von seiner suggestiven Kraft. Der Tag wird kommen, an dem die
deutschen Proletarier die Spitze des Klassenkampfschwertes nicht mehr gegen
das eigene Fleisch, gegen die eigenen Klassengenossen, gegen die eigenen Volks¬
genossen richten, sondern den Feind außerhalb der Grenzpfähle unseres Reiches
erblicken werden. Die Zeit wird kommen, in der die Arbeiterschaft im Arbeit-
gebertum nicht mehr den Feind, der um jeden Preis zur Strecke gebracht werden
muß, erblicken wird, sondern einen sozialgesinnten Stand, der im Geiste der
Gleichberechtigung mit den Arbeitnehmern an der Blüte des deutschen Wirt¬
schaftslebens arbeitet. Das wird die Stunde sein, wo die soziale Kluft über¬
brückt wird und der soziale Abgrund sich schließt. Es lebe der soziale Friede.
Die Harmonie von Kapital und Arbeit ist dann hergestellt.
Aber auch die Anzeichen mehren sich, daß in der sozialistischen Arbeiter¬
welt ein neuer religiöser Idealismus zu wachsen beginnt. Die Arbeitermassen,
die durch die Wüste des historischen Materialismus seit 40 Jahren gewandert
sind, sind von einer neuen religiösen Sehnsucht ergriffen. Der Ruf nach Echtste-
rung des Sozialismus wird lauter und lauter erhoben und Paul Göhre hat
in seinem Buche „Der unbekannte Gott" dieser erwachenden Sehnsucht nach
neuen Gemütswerten ergreifenden Ausdruck verliehen. Der Morgen eines
neuen Tages beginnt zu dämmern. Die Nacht ist im Verschwinden begriffen-
¬
Dieser Erkenntnis kommt die christlich-nationale Arbeiterbewegung ent
gegen. Es ist ein hoffnungsvolles Zeichen der Zeit, daß sich in dem weiten
Rahmsn der christlich-nationalen Arbeiterbewegung mehr als vier Millionen
Menschen aus der Arbeiterschaft zu den christlichen und nationalen Idealen
bekennen; und an die Stelle des Klassenkampfes die Solidarität allerschaffenden
Stände, an die Stelle des marxistischen Internationalismus den vaterländischen
Gedanken, an die Stelle des historischen Materialismus die christliche Welt¬
anschauung und schließlich an die Stelle der sozialen Revolution die soziale
Reform zu setzen gewillt sind.¬
Aber noch ein anderes hoffnungsvolles Zeichen flammt in der raben
schwarzen Nacht, die unser Vaterland in der Gegenwart bedeckt, empor. Es ist
die deutschnationale Arbeiterbewegung, die 'mit jedem Tage deutlicher in die
Erscheinung tritt. In der Form des Neichsarbeiterausschusses, der sich auf dern
Böden der Deutschnationalen Volrspartei gebildet hat, ist diese Bewegung
mit Erfolg bemüht, den deutschnationalen Gedanken in der Arbeiterschaft
wecken und zu Pflegen. Ein großer Teil von jenen 2,6 Millionen Stimmen,
die der Marxismus auf das Verlustkonto bei der letzten Neichstagswahl ZU
schreiben hatte, ist der deutschnationalen Volkspartei als politischer Mehrwert
zugewachsen. Diese Bewegung würde heute schon viel kräftiger sich in der
Öffentlichkeit bemerkbar machen, wenn nicht der furchtbare sozialistische Terror
es weiten dentschnational gesinnten Arbeiterkreisen unmöglich machen würde,
sich öffentlich zur nationalen Fahne zu bekennen. Ein großer Teil auch der
sozialistischen Arbeiterschaft hat heute begriffen, daß zum Wiederaufbau unseres
Volkes nicht nur ein starker vaterländischer Machtwille, sondern auch eine kräftige
Zentralgewalt gehört, die in der Wiederherstellung des sozialen Kaisertums
ihren Ausdruck finden muß.
So steht die deutsche Arbeiterbewegung in ihrer gewerkschaftlichen Form
von imponierender Stärke da. Mehr als 8 Millionen Arbeiter und Arbeiterinnen
sind in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung organisiert und mehr als
vier Millionen Mitglieder zählt heute die christlich-nationale Arbeiterbewegung.
Auf gleichem Boden steht der deutsche Gewerkschaftsring (Hirsch-Dunckersche
Arbeiterbewegung) und der Nationalverband deutscher Gewerkschaften.
Die sozialdemokratische Arbeiterbewegung ist aber in der Gegenwart keine
innerlich einheitliche Masse. Der Radikalismus wirkt wie der Spaltpilz zer¬
setzend in ihr. Daneben rankt sich der neue religiöse und nationale Idealismus
an dem gewaltigen Stamme der sozialistischen Arbeiterbewegung empor. Sollte
über unser schwer geprüftes Vaterland eine bolschewistische Welle gehen, dann
wird vermutlich das Schicksal der sozialistischen Arbeiterbewegung entschieden
!ein. Ein großer Teil der politisch und gewerkschaftlichen sozialistisch gesinnten
Arbeitermassen werden fraglos mit dem Bolschewismus gemeinsame Sache
Zacher, aber in einem anderen Teile dieses Flügels der deutschen Arbeiter¬
bewegung wird unter dem furchtbaren Drucke, den das bolschewistische Regiment
ausüben wird, der neue Idealismus um so kräftiger emporflammen. Das Ende
vom Liede dürfte dann der Zerfall der großen sozialistischen Arbeiterbewegung
von heute sein. Aber auch ohne die bolschewistische Radikalkur wird sich die
Notwendigkeit einer Neuorientierung der sozialistischen Arbeiterbewegung nach
der christlichen und nationalen Seite im Laufe der Zeit immer klarer heraus¬
stellen, denn das ist sicher: Wenn der Sozialismus überhaupt eine Zukunft haben
Will, dann muß er sich mit neuen Idealen erfüllen; ohne den christlichen und
nationalen Mutterboden wird der Sozialismus dem Baume gleichen, dem es an
Nahrungszufuhr gebricht, dessen Blätter verwelken und der deshalb zum Ab¬
sterben verurteilt ist. Hier liegt die Bedeutung der bewährten christlich-nationalen
und der werdenden deutschnationalen Arbeiterbewegung. Sie haben beide den
Erneuerungsprozeß innerhalb der sozialistischen Arbeiterwelt zu beschleunigen
Und sie haben andererseits sozusagen eine Ausnahmestellung für die Massen
darzustellen, die innerhalb der sozialistischen Arbeiterbewegung kein Genüge
wehr finden. Von der gesunden Entwicklung des christlich-sozialen und nationalen
Gedankens innerhalb der deutschen Arbeiterwelt wird es abhängen, ob das
deutsche Volk seine weltgeschichtliche Aufgabe in der Gegenwart und der nächsten
Zukunft erfüllen kann: das Mutterland eines christlich und national orientierten
Sozialismus, der zum Heile des deutschen Volkes und zum Segen der Kultur¬
welt ausschlägt, zu werden.
Zweimal in den letzten Jahrhunderten hat das deutsche Volk eine Welt¬
kulturmission zu erfüllen gehabt. Im 16. Jahrhundert war es der Träger des
protestantischen Gedankens, im 19. wurde es der Träger der nationalen Idee
und in der Gegenwart, seit dem Tage der kaiserlichen Botschaft, vom 17. Novem¬
ber 1881 ist es zum Mutterlande der sozialen Idee geworden. Daß der Sozialis¬
mus in marxistischer Form gesiegt hat, ist unser Unglück und daß er auf dein
Wege der Revolution zur Herrschaft gelangt ist, ist unser Verderben, der natür¬
lichste Weg wäre die soziale Reform gewesen. Wie einst das Christentum die
alte Kulturwelt eroberte und wie einst der römische Cäsarismus seinen Frieden
mit der neuen aufsteigenden Weltmacht schloß, so wäre es das natürlich Gegebene
gewesen, daß Kaisertum und Sozialismus in unserer Zeit sich die Hand zum
Frieden gereicht hätten. Das deutsche Volk wäre bei dieser Entwicklung der
Dinge vor namenlosem Unglück bewahrt worden. Aber noch ist die Entwicklung
nicht abgeschlossen. Der Fluß der Geschichte kann in sein natürliches Strombett
wieder geleitet werden. Das wird geschehen, wenn innerhalb der heutige«
sozialistischen Arbeiterbewegung der neue christlich-nationale Idealismus zum
Siege gelangt und wenn außerhalb der sozialdemokratischen Bewegung die
christlich-nationale und die deutschnationale Richtung so stark wird, daß in Ver¬
bindung mit den neu emporwachsenden idealen Kräfteninnerhalb dersozialistischen
Arbeiterwelt der Bann des Marxismus überwunden werden kann. Wenn das
geschieht, dann wird ein neuer Tag im Leben des deutschen Volkes beginnen-
Zach endgültiger Feststellung betrug die Ruhrkohlenförderung'vom Januar bis Juni 1920 41 019 878 Tonnen gegen
31 560 897 Tonnen in der gleichen Vorjahrszeit, ergab also ein
Mehr von rund 9-/2 Millionen Tonnen. Auf die einzelnen
I Monate entfielen:
Wie man sieht, ist die Zunahme der Förderung in den letzten 6 Monaten
keineswegs gleichmäßig, sondern Schwankungen unterworfen. Dies tritt be¬
sonders hervor, wenn man auch die arbeitstägliche Förderung berücksichtigt?
sie betrug im Juni 1920 314 276 Tonnen gegen 305 043 Tonnen im Mai und
gegen 241 203 Tonnen im Juni 1919. Das gesamte erste Halbjahr erbrachte
eine arbeitstägliche Förderung von 277 161 Tonnen gegen 213 972 Tonnen
in der gleichen Vorjahrszeit. Auch in allen anderen Distrikten des Kohlen¬
bergbaues war gegenüber dem Vorjahre eine Produktionssteigerung zu beob¬
achten. Man nehme nur beispielsweise das mitteldeutsche Braunkohlenrevier.
Nach den Veröffentlichungen der Knappschaftsberufsgenossenschaft und dem
Bericht des Reichskohlenamts über die Kohlenwirtschaft im Jahre 1919 sowie
aus den Ermittelungen der Syndikate ergibt sich folgendes Bild für die Er¬
zeugung des mitteldeutschen Braunkohlenbergbaues in Tonnen:
Leider blieb die Kohlenförderung im Juli 1920 in fast allen Kohlen¬
revieren hinter der Juniförderung zurück. An der Ruhr belief sich der arbeits¬
tägliche Durchschnitt, der im Juni etwa 290 000 Tonnen betragen hatte, in der
ersten Julihälfte auf nur 270 000 Tonnen.
Betrachten wir nunmehr die diesbezüglichen Verhältnisse der außer¬
deutschen Länder. Nach Mitteilung von „IZIaolc DiAinonÄ" betrug in den
Vereinigten Staaten von Nordamerika die Förderung an Steinkohlen der
ersten 152 Arbeitstage (1. Januar bis 26. Juni 1920) der letzten 4 Jahre: 1917:
269 229 000 Tonnen netto, 1918: 277 877 000 Tonnen netto, 1919: 210 640 000
Tonnen netto und 1920: 251 953 000 Tonnen netto. Im Jahre 1920 wurden
also in der genannten Zeit 17 >4 Millionen Tonnen weniger als 1917, beinahe
26 Millionen Tonnen weniger als 1918, aber 41 »/z Millionen Tonnen mehr
als im Jahre 1919 gefördert. An Anthrazitkohlen wurden schätzungsweise
gefördert in der Woche:
In der Zeit vom 1. Januar bis 26. Juni 1920 zusammen 41 912 000
Tonnen netto. Beträchtlichen« Schwankungen waren die Förderergebnisse der
englischen Kohlenindustrie unterworfen. Nach „l'b.s Loarä c>k Iraäo
Journal" hat Großbritanien in der Zeit vom 6. Juni 1920 bis einschließlich
3- Juli 1920 folgende Förderungen zu verzeichnen:
Während der ersten drei Monate dieses Jahres wurden in Großbritannien
nach einer Statistik der „l'lass" 62 657 000 Tonnen Kohle gefördert. Über die
Kohlenförderung in Belgien teilt die „Industrie- und Handelszeitung" mit,
daß die monatliche Durchschnittsförderung des Jahres 1913 1 910 710 Tonnen
betrug. Im Jahre 1920 sind die monatlichen Durchschnittsziffern für Januar
1 869 640 Tonnen, das sind 98 °/„ der Förderung des Jahres 1913, für Februar
1 683 750 Tonnen (88 °/„), für März 2 006 160 Tonnen (105°/°), für April
1 900 750 Tonnen (99 für Mai 1 737 080 Tonnen (91 -/„). Die Gesamt¬
ausbeute der durch die Kriegsereignisse nicht in ihrer Förderung gestörten
Kohlenbergwerke Frankreichs betrug: 1914: 21 085 000, 1915: 19 533 000,
1916: 21 310 000, 1917: 28 915 000, 1918: 26 259 000 und 1919: 19 996 000
Tonnen. (Nach Angaben des Ministers der öffentlichen Arbeiten in der franzö¬
sischen Kammer.) Mehr als in anderen Ländern hat die französische Kohlen¬
förderung noch unter den Nachwirkungen des Krieges zu leiden. Nach einem
Bericht des ,,?seit Journal" hofft man in Frankreich aber allgemein, bereits
Ende dieses Jahres aus dem Departement du Nord 300 000 Tonnen monatlich
zu fördern, was etwa der Hälfte der Friedensförderung entspricht. Bei den
Gruben von Courrieres (Pas de Calais) rechnet man Januar/Februar kommen¬
den Jahres, in Lens Ende 1921 mit der Aufnahme der Förderung. Da in Nord¬
frankreich Gruben mit einer Friedensförderung von etwa 9,5 Millionen Tonnen
zerstört waren, kann man also wohl darauf zählen, daß im Laufe des nächsten
Jahres wenigstens die Hälfte wieder im Betrieb ist, so daß die deutsche Ersatz¬
verpflichtung sich entsprechend ermäßigt. Natürlich bleiben hiervon die Liefe¬
rungsverpflichtungen unberührt, die das Äquivalent für die aus Deutschland
schon vor dem Kriege an Frankreich gelieferten Kohlen darstellen. Beträchtlich
ist durch die Kriegsereignisse auch der Kohlenbergbau Jugoslawiens in Mit¬
leidenschaft gezogen worden. Aus der Übersicht der Kohlenlage Jugoslawiens,
welche von dem Direktor des Bergwerkministeriums in Belgrad herausgegeben
wurde, ist zu ersehen, daß das Land eine ganze Reihe Bergwerke aufzuweisen
hat, deren Förderung unter normalen Verhältnissen so sein könnte, daß sich
sogar ein Überschuß zur Ausfuhr an benachbarte Staaten ermöglichen ließe.
(Die Kohle eignet sich jedoch nicht zur Erzeugung von Koth, weshalb das Land
gezwungen ist, Kohle zur Kokserzeugung und Koth einzuführen, um den Bedarf
der Metall- und anderen Industrien zu decken.) Infolge des europäischen Krieges
haben die Bergwerke sehr gelitten und sind zum Teil zerstört worden. Ih^
Wiederaufbau ist mit großem Zeit- und Kostenaufwand verbunden; die Haupt-
schwierigkeit dabei liegt in der Beschaffung neuer Maschinen. Trotz all dieser
Schwierigkeiten hätte die Förderung in der zweiten Hälfte des Jahres 1919
beinahe die Vorkriegsförderungshöhe erreicht, wenn ihr eine entsprechende
Anzahl Wagen zum Abtransport zur Verfügung gestanden hätte. Vier der
wichtigsten Bergwerke, welche täglich 156 Wagenladungen guter Braunkohle
förderten, konnten in Anbetracht des großen Lokomotivmangels nur täglich
30 Wagen abtransportieren. Die Gesamtförderung des Jahres 1919 betrug
2 494 000 Tonnen; im Jahre 1913 wurden 3 587 432 Tonnen gefördert. Die
Förderung in den einzelnen Provinzen stellte sich in den beiden Jahren 1919
und 1913 wie folgt:
Recht ungünstig lauten die Berichte aus der Türkei. Nach „Loarck ok
Irsäs Journal" ist die heutige Kohlenförderung im Verhältnis zu der Förderung
vor und während des Krieges sehr zurückgegangen. In den Kriegsjahren wurde
die Arbeit von angeworbenen Leuten verrichtet, während vor dem Kriege
genügend Arbeiter vorhanden waren, die zu geringen Löhnen arbeiteten.
Heute können die nötigen Arbeiter kaum beschafft werden. Dadurch ist die
verminderte Förderung und der hohe Kostenpreis bedingt.
Etwas günstiger liegt die Kohlenfrage in einigen anderen Ländern. So
ist beispielsweise nach Mitteilungen von „II viario ckella ?isra Lainpionsris
IntsrQÄ^ioiiÄlö Al Nilano" in Italien die Förderung der Braunkohle von
780 000 Tonnen im Jahre 1914 auf 953 000 Tonnen 1915, 1 305 000 Tonnen
1916, 1 772 000 Tonnen 1917 und auf 2 170 000 Tonnen im Jahre 1918 ge¬
stiegen. In Italien hegt man den Gedanken an eine internationale Ausstellung
aller mit der Braunkohle und deren Bewertung zusammenhängenden Dinge
Und Einrichtungen im Hinblick auf die Bewertungsart der Braunkohle in Deutsch¬
land. (Auf dieser Ausstellung sollen Proben aller italienischen Braunkohlenarten
Mit den betreffenden genauen chemischen Analysen gezeigt werden zur Auf¬
klärung und Anleitung der Konstrukteure aller anschlägiger Maschinen und
Apparate.) Jedenfalls dürfte die inländische Braunkohle nach dem Sinken
der phantastischen Kriegspreise für die italienische Industrie, wie beispielsweise
in der Kalk-, Gips- und Ziegelsteingewinnuug sowie in der Glaserzeugung für
die verschiedenartigsten Motoren, sehr wertvoll werden können. Eine Steige¬
rung in der Kohlenerzeugung kann man auch in Japan beobachten. Nach „^apan
^iinss Ana Usil" hat die aufstrebende Entwicklung der japanischen Industrie
während des Weltkrieges im allgemeinen naturgemäß ihre Wirkung auch auf
den japanischen Kohlenbergbau ausgeübt. Folgende Statistik gibt Aufschluß
über die Kohlenförderung sowie deren Wert der letzten Jahre:
Der Bericht betont, daß die gegenüber dem Hochgang des industriellen
Lebens in Japan verhältnismäßig geringe Zunahme der Kohlenförderung auf
die ungenügende Zahl der beschäftigten Bergarbeiter und auf deren verminderte
Leistungsfähigkeit zurückzuführen ist. Im Jahre 1919 wurden 30,3 Millionen
Tonnen Kohlen gefördert; die Einfuhr belief sich auf 1 074 000, die Ausfuhr
auf 1 700 000 Tonnen. Verbrauche wurden u. a. von der Eisenbahn ö,7, von
der Dampfschiffahrt 3,4, von der Industrie 15,5 und von der Salzfabrikation
0,8 Millionen Tonnen. Für 1920 wird eine Vermehrung der Kohlenförderung
um 10 °/„ erwartet, doch dürfte auch dies nicht genügen, um den eintretenden
Mehrbedarf zu decken, so daß ein weiteres Steigen der durch den Krieg schon
außerordentlich erhöhten Kohlenpreise zu erwarten steht.
Naturgemäß spiegelt sich die Schwierigkeit der Kohlenfrage in der Preis¬
gestaltung. „I^Jo^et's I^isb" berichtet am 13. Mai 1920 über die Preise auf dem
englischen Kohlenmarkt, daß für Northumberland Kohlenpreise von 130—140 öl
pro Tonne für beste Dampfkohlen und 120—130 pro Tonne für zweitklassige
Erzeugnisse gefordert werden. Tyne Grus ist mit 110—120 su pro Tonne
notiert. Durham Gaskohle kostet 120—130 su. Bunter sind sehr knapp. Schlacken
sind zu 75—80 su erhältlich. Gießerei-, Hochofen- und Gaswerkkoks kostet bei
sofortiger Abnahme 140 sti. In Südwales beträgt der Preis für gemischte
Kohle 106—108 so pro Tonne, große Kohlen etwa 111—112 su und große
Dampfkohlen 115—120 su. Kohlengrus ist mit 92 su 6 d bis 97 su 6 d notiert.
Auch Belgien hatte einen beträchtlichen Hochgang der Kohlenpreise zu ver¬
zeichnen. Nach Mitteilungen der Industrie- und Handelszeitung" sind die
belgischen Kohlenpreise wiederum ab 1. Juli erhöht worden und betragen jetzt:
Fettkohle, Magerkohle, Würfel und Nußkohle 113—121 Franken pro Tonne,
Feinkohle 72—83 Franken, Feinkohle zur Koksbereitung 83 Franken, gesiebte
Kohle über 25 imm 115,50 Franken, Förderkohle 87—110 Franken, Briketts
Typ I 136 Franken, Briketts Typ II 139 Franken, Briketts Typ Marine
143 Franken, Eierbriketts 126—128 Franken pro Tonne. Stärkerno es als in Belgien
sind die Kohlenpreise in Frankreich angezogen. Nach Mitteilungen des „5ourn»I
Owoiol" gelten ab 1. Mai 1920 in Frankreich beispielsweise folgende Kokspreise:
für Nuhrkoks 245 Franken pro metrische Tonne franko deutsche Grenze, für
Gießerei- und Hüttenkoks anderer Herkunft 275 Franken, für Kokskohle ein¬
schließlich amerikanische Kohle 190 Franken pro metrische Tonne franko Grenze
oder französischen Hafen. Auf.Grund der deutschen Kohlenlieferungen erwartet
man in Frankreich eine Kohlenpreisermäßigung. Die Wirkung des Spaaer
Kohlenabkommens auf dem französischen Kohlenmarkt wird sein, daß die Liefe¬
rung deutscher Steinkohlen an Frankreich baldigst eine Preisherabsetzung der
französischen Steinkohle um 25 °/c> zur Folge haben wird. Stärker noch als in den
westeuropäischen Ländern tritt die Preissteigerung in Mittel- und Osteuropa
zutage. Hier wurden die dörrenden Kohlenpreise in der Hauptsache durch die
enormen Arbeitslöhne bedingt. Man nehme nun beispielsweise die heutigen
Verhältnisse in Deutsch-Österreich. Nach Mitteilungen aus Wien hatten die
Wiener Kohlenarbeiter bisher einen Wochenlohn von 592 Kronen. Bei Ver¬
handlungen zwischen den maßgebenden Verbänden über die Lohnforderungen
der Wiener Kohlenarbeiter wurde den letzteren eine Erhöhung der Löhne be¬
willigt, wonach sie ab 1. August 1920 einen Wochenlohn von 711 Kronen haben
werden. Kein Wunder, wenn sich bei derartiger Lohnpolitik die Kohlenpreise
ins Unendliche steigern. Die Entwicklung der Grubenpreise der wichtigsten
Kohlenmarken zeigt die nachstehende der „Wiener Neuen Freien Presse" ent¬
nommene Übersicht:
Die Preise verstehen sich ab Zeche, zu ihnen kommt also noch die Fracht.
Die Zunahme der Kohlenförderung in der letzten Zeit ist nur zum kleinen
Teile der Steigerung der Arbeitslust der hier in Frage kommenden Arbeiter¬
kategorien zuzuschreiben. In erster Linie wurde die Produktionssteigerung
durch die massenhafte Einstellung von Arbeitskräften bedingt. Man nehme
nur beispielsweise den deutschen Steinkohlenbergbau. Hier sind im 1. Viertel¬
jahr 1920 gegen das 1. Vierteljahr 1919 77 696 Arbeiter mehr beschäftigt worden.
Auf die einzelnen Reviere verteilt sich die Zunahme: Oberbergwerksbezirk-
Dortmund : 52 405, bei Aachen 243, am linken Niederrhein 2243, in Ober¬
schlesien 18 867 und in Niederschlesien 3938 Arbeiter. In allen anderen Berg¬
baugebieten Deutschlands liegt die Sache nicht anders. Nach einem Bericht
des Deutschen Braunkohlen-Jndustrievereins in Halle a. S. stieg im mittel¬
deutschen Brannkohlengebiet die Belegschaft von 98 600 Mann im Jahre 1919
auf 130 000 Mann im Juni 1920. Die Leistung pro Kopf und Schicht betrug:
Nach Mitteilungen von „Le ?seit Journal" betrug die Gesamtförderung
^ Kohlen in Frankreich im Jahre 1915 bei einer Belegschaft von 105 675 Berg¬
arbeitern 19 533 000 Tonnen und 1919 bei 157 374 Arbeitern nur 19 996 000
Tonnen; sie ist also trotz einer Erhöhung der Belegschaft um 50°/° die gleiche
geblieben. Der Grund liegt darin, daß im Jahre 1915 und 1916 8 bis 9 Stunden
und während dieser Monate von 1916 sogar 10 Stunden tatsächlich gearbeitet
^urbe. Heute ist die reine Arbeitszeit nur 6 Stunden 17 Minuten. Bei einer
Mehrarbeit der Bergarbeiter von nur einer Stunde täglich würde die Jahres-
sörderung um 4 Millionen Tonnen steigen. In Belgien stieg die in der Kohlen-
sörderung beschäftigte Arbeiterzahl von 157 635 im Januar auf 154 116 im
Februar, 159 230 im März, 160 126 im April und 160 307 im Mai 1920. Ähn¬
lich liegen die Verhältnisse in allen anderen Ländern.
An Backbord tauchen plötzlich mehrere englische alte Panzerkreuzer auf. Mit
höchster Salvenfolge werden sie unter Feuer genommen. In wenigen Minuten sind
zwei der Gegner vernichtet. Es war kein Untergehen von Schiffen, sondern ein in
Atome Zerreißen gepanzerter Körper. Dicke Rauchwolken sind das einzige Über¬
bleibsel von Menschen und Schiff. Plötzlich, was ist das? Vor uns an: Horizont
taucht ein halbkreisförmiges Feuermeer auf wie ein Gasrohr, an dem der Reihe nach
die kleinen Fliimmchen entlang laufen. Jetzt erst wird uns klar, daß das Gros der
englischen Flotte eingegriffen hat. Um aus dieser taktisch ungünstigen Stellung
herauszukommen, gab es nur ein Mittel: Herumwerfen der Linie. Während
100 000 Kilo Stahl alle 30 Sekunden auf unsere Spitze saust, das Meer wie ein
kochender Kessel brodelt und die Schiffe in der aufgepeitschten See zu rollen beginnen,
wird das unendlich schwierige Manöver wie auf dem Exerzierplatz ausgeführt. Um
es zu decken, weht an allen Masten das Signal: „Torpedoboote ran an den Feind!"
Die Flagge „Schwarz-weiß-rot" um die Brücke gewunden, sechs Meter lange Wimpel
an den Rahm, preschen sie mit äußerster Kraft, 30 Meilen Geschwindigkeit, den Bug
hoch, das Heat tief im Wasser, hervor und verschwinden hinter den Fontänen. Welche
prächtigen Kerle, wir sehen sie nie wieder! Eine der ersten Flottillen war die
berühmte IX. („Steinbrink"-) Flottille, deren Devise es war: „Es gibt nichts, was
unklar geht." Im vollen Anlauf der Flottille an den Feind wird Steindrucks Boot
von einer schweren Granate getroffen. Es verschwindet in den Wellen, und das
Nottenboot, das hinter ihm folgt, nimmt von den Überlebenden auf, was es be¬
kommen kann, darunter den Kommandanten. Zum Zeichen, daß er weiter bei der
Flottille ist, schwingt Steinbrink seine Mütze heraus, auch hier getreu seiner Devise:
„Es gibt nichts, was unklar geht." Die Flottille kommt zum Angriff. Sie feuert,
und da ereilt ihn sein Schicksal. Zwei, drei, vier Granaten schlagen in Steinbrinls
Boot und vernichten alles.
Während des Vorstoßes der Torpedoboote entsteht um uns Grabesstille: der
Feind erkennt die größere Gefahr, zieht seine Batterien von den Schiffen ab und
legt das Feuer seiner Geschütze als Sperrfeuer gegen unsere Torpedoboote. Der
Zweck ihres Einsatzes ist erfüllt, unsere Wendung konnte unbelästigt vom feindlichen
Feuer ausgeführt werden.
Wir drehten also nach Süden in der Erwartung, daß sich der Feind am nächsten
Morgen zum Gefecht stellen würde und daß wir dabei günstigere Bedingungen er¬
ringen könnten, als es an diesem Abend noch möglich war. Aber auch Sir Je^n
Jelllwe zog es vor, den Kcmrpf nicht mehr aufzunehmen, denn er fühlte das englische
Weltreich auf seinen Schultern und wollte es durch keine zweite Begegnung mit
der deutschen Flotte mehr aufs Spiel setzen. Bald nachdem er in den Kampf ein¬
getreten war, hatte sein echt englisches Siegesbewußtsein harte Stöße erlitten durch-
das, was er zu sehen und zu hören bekam. Er selbst erzählt, wie er beim Entwickeln
der Flotte zur Gefechtslinie plötzlich eine Schiffswrack erblickt und natürlicherweise
auf ein zerstörtes deutsches Schiff geraten habe. Erst bei näherer Betrachtung Mit
dem Kieker wurde ihm und seinem Stäbe zur größten Enttäuschung klar, daß dort
alles lag, was von seinem „Jnvincible" übrig geblieben war.
Im Glauben, daß das ganze Deck von Sprengsplittern übersät wäre, schickt
man einen Matrosen heraus auf die Suche nach Sprengstücken, besorgt, daß vielleicht
der schönste Briefbeschwerer verloren gehen könnte. Der Mann kommt zurück, den
Arm mit Blumenkohl beladen und bemerkt: „Sprengsplitter hev i nich suum, i glöv,
de Englcinners hebt mit Blomenkohl Schoten." Man meint, der Mann macht einen
Scherz und geht selbst hinaus: Tatsächlich, das ganze Deck ist überall voll Blumen¬
kohl, Infolge des Luftdrucks der schweren Geschütze war das Gemüsespind geplatzt,
und der ganze Kohl lag über das Deck zerstreut. Aber kein Sprengstück ist zu finden.
Man kann nicht verstehen, daß unser Schiff, das so furchtbar eingedeckt war von
Granaten, keinen einzigen Treffer bekommen hat, während Vorder- und Hinter¬
mann, die das Schiff in seiner Längsrichtung übersehen konnten, überschüttet von
den heransausenden eisernen Koffern, geglaubt hatten: „Der arme .Kronprinz', da
bleibt kein Stück auf dem andern."
Während der Gefechtspause gehen wir in die Messe, um uns durch ein Glas
Portwein zu stärken. Man ist nicht in erhobener Stimmung, da wir nach der Heftig¬
keit des Kampfes unsere eigenen Verluste, die wir noch nicht übersehen konnten,
größer schätzten, als es sich später herausstellte. In der Messe ist ein ziemliches
Durcheinander; Scherben und Gläser liegen herum, alle Bilder sind von den Wänden
gefallen durch den Luftdruck und die Erschütterungen. Doch sonderbar, ein Bild
hängt, das Bild unserer Frau Kronprinzessin, und darauf steht: „Gott schütze
S. M. S. .Kronprinz'." Unser Schutzengel! Jeder empfindet das gleiche; ehr¬
furchtsvoll blicken wir hinauf mit einem stillen Dank.
Die Nacht kommt, man steht auf Kriegswache. Das erste Geschwader ist vor
uns, das zweite in der Mitte, am Schluß das dritte, so daß Spitze und Queue ge¬
schützt waren von den stärksten Schiffen.
Vor uns wird die dunkle Nacht plötzlich grell erleuchtet. Wir sind geblendet,
als wenn der Himmel voller Blitze wäre. Lang anhaltendes gewaltiges Donnern
durchdröhnt die Nacht. Die „Pommern" flog in die Luft. Auffallend weiße Feuer¬
arme stoßen aus ihr hervor. Der Hintermann, der wenige Sekunden später an die
Stelle kam, hat nichts mehr gesehen. Niemand wurde gerettet, nur hier und dort
sieht man Stücke ins Wasser schlagen. Der Rest des schönen deutschen Panzer¬
schiffes! Nichts mehr als Atome von allem, was froh und freudig zurücksteuerte.
Hier begriffen wir den Unterschied zwischen den älteren Schiffskonstruktionen und
den ganz modernen. Die alte „Pommern" war durch einen einzigen Torpedotreffer
erledigt worden, während die kleine aber moderne „Wiesbaden" stilliegend die ganze
englische Flotte an sich vorbeipassieren und von jedem Feind sich befeuern lassen
Mußte und trotz allem noch bis morgens 3 Uhr geschwommen hat. An Bord ist
ernste, auf alles gefaßte Stimmung. Die Wachen stehen hinter geladenen Geschützen,
Offiziere und Ausguckleute halten scharfen Ausguck. Alles lauscht gespannt auf die
einlaufenden Funkentelegramme. Vorn an der Spitze lebt das Gefecht mit äußerster
Heftigkeit wieder auf. Feindliche Zerstörer, die an unserer ganzen Schiffslinie ent¬
langgefahren waren und uns für das englische Gros hielten, werden von „Westfalen"
erkannt und vom 1. Geschwader unter fürchterliches Feuer genommen. Im Nu
gleichen sie brennenden Fackeln, aus den Olbunkern schlagen Flammen heraus, die
Hitze drückt das Ol durch die durchlöcherten Bordwände. Wasser und Boote brennen.
Wirr laufen die Menschen durcheinander, einen Rettungsweg suchend, um den
Flammen zu entkommen. Die schwersten Detonationen hört man in kurzen Inter¬
vallen, hervorgerufen durch die an Deck liegenden Torpedos, die sich entzünden. Das
Ganze gleicht einer brennenden Allee. Ein Anblick wundervoll und schaurig zugleich.
Der Morgen graut, die Spannung wächst, jeden Augenblick muß sich der Feind
stellen. Ein feindlicher Panzerkreuzer wird gemeldet. Alles ist klar zum Kampf. Da
voraus Scheinwerfer-Erkennungssignale. Als Antwort brüllt ihn „Thüringen" mit
einer vollen Breitseite an. Diese Antwort war seine Vernichtung. Es war
„Euryalus", die uns für das englische Gros hielt.
Wir erreichten die deutschen Gewässer, ohne irgend etwas vom Feinde gesehen
zu haben. Zwar stand Jellicoe bei Hellwerden in der Nähe von Helgoland, aber
eine Linienschiffsdivision, seine Schlachtkreuzer, die leichten Kreuzer und Zerstörer
waren ihm abhanden gekommen; die vielgerühmte Seemannschaft der Briten war
der Aufgabe des Nachtmarsches unter ständigen Gefechten nicht Herr geworden. In
diesem reduzierten Zustand seiner Streitkräfte wagte er keinen neuen Angriff.
Welch freudige Überraschung für uns, als die gegenseitigen Verluste bekannt
wurden: auf englischer Seite drei Großkampfschiffe, auf deutscher nur eins; auf
englischer Seite alle Großkampfschiffe im deutschen Feuer gesunken, dagegen „Lützow"
in der Schlacht nur schwer beschädigt, aber noch schwimmend, erst auf der Rückfahrt
mit zwei Torpedos von seiner eigenen Besatzung versenkt und diese gerettet. Auf
englischer Seite außer den Großkampfschifsen drei Panzerkreuzer, zusammen sechs
Schiffe, auf deutscher außer „Lützow" nur das alte Linienschiff „Pommern", durch
einen Torpedotreffer erledigt.
Die Verluste an kleineren Schiffen betrugen auf unserer Seite vier kleine
Kreuzer und fünf Torpedoboote, auf englischer Seite acht Flottillenschiffe bzw. Zer¬
störer. Das einzige Schiff, das in der Schlacht durch Artilleriefeuer des Feindes
verloren ging, ist „Wiesbaden", und nur „Frauenlob" ist neben „Pommern" in der
Nacht durch Torpedotreffer verloren gegangen.
Die Schlacht hat die Überlegenheit der deutschen Schiffe an Material und
Feuerwirkung erwiesen, wie sich bei einem Vergleich der beiderseitigen Personal¬
verluste ergibt: Auf unserer Seite hatten wir 2586 Tote, die Engländer aber 4646.
180 Mann haben wir als Gefangene zurückgebracht, während der Engländer nicht
einen von uns gefangen hat.
Einige Tage später lief der zerschossene „Sehdlitz" durch eigene Kraft in
Wilhelmshaven ein. Ich besuchte den Kommandanten, Kapitän z. S. v. Egidy, auf
seinem Schiff, das tief über lag, aber in wenigen Monaten wieder dienstfähig gemacht
worden ist, und bat ihn, mir den Untergang der „Queen Mary" zu erzählen. Egidy
berichtete:
„Nie werde ich den Augenblick vergessen: wir waren um 6^° nachmittags in
einem Übergang begriffen von der Staffel zur Kiellinie. Meine Augen waren auf
das Schiffsmannöver gerichtet, mein Ohr gehörte dem, was im Artillerieturm, halb
über, halb hinter mir vorging. Das Schiff ist ja, wenn man's recht betrachtet, eine
große Lafette für seine schweren Geschütze, und das Manöver muß sich, wenn man
treffen will, soweit das irgend angeht, dem Schießen anpassen. Also: ,Necht so
Schumann' (so hieß mein Gefechtsniederzwinger), weil eben eine Salve fallen und
dazu die Drehung des Schiffes aufgehalten werden soll. Immer wird mir die
näselnde Hupe der Aufschlag-Melde-Uhr im Ohr klingen, nach dieser Salve.
Ich sehe nach vorn, aufs Flaggschiff und den Vordermann — die Ohren weiter
gespannt nach hinten-oben. Ein Augenblick Stille, als ob alles im Schiff den Atem
anhielte, dann von irgendeinem Artilleriebeobachter, der als erster die Stimme wieder¬
gefunden hatte, im halb singenden, eintönigen Melde-Stakkato: ,Die Nummer
drei fliegt in die Luft' — und als einzige Reaktion auf das Ungeheure,
das diese Meldung in fiel) barg, die ruhige, klare Stimme meines braven Artilleristen,
Kapitän Richard Foerfter: .Ziel Wechsel rechts!' — genau wie bei einer
Schießübung. Wäre der dicke Panzer nicht zwischen uns gewesen, ich hätte den
Mann umarmt fürdieses ,Zielwechsel rechts'. Vielleicht hat's der zweite Artillerist,
der Axel Löwe getan, ich hörte aber ein Zwiegespräch von vier Worten: .Richard —
sauber' und .Was! Axel!' — Dann waren sie beide wieder nur der stumme Geist,
der seine Instrumente meisterte zur Vernichtung des Feindes.
Wie es aussah, als die .Queen Mary' in die Luft flog?
Ja, bester Luckner, ich sagte Ihnen ja schon, ich war beim Manövrieren, sah
also aufs Flaggschiff und auf den Vordermann; jetzt kam es erst einmal darauf an,
sauber ins Kielwasser das Boot einzuscheren.
Als ich dann aber durchs Torpedozielfernrohr, das sie mir solange eingerichtet
hielten, zum Feind hinübersah, da hat mir wohl einen Moment das Herz im Halse
geschlagen!
Da stand auf einer Entfernung von 13 X> Kilometern gegen den mattblauen
Himmel eine riesige, unbewegliche graue Säule. Im unteren Teile wirbelten schwarze
Nassen herum. Am oberen Rande schwelte dicker schwarzer Qualm. Darüber standen
>vie eine Aureole glutrote Strahlenbündel von Stichflammen. Und an der Basis
vorbei schob sich etwas wie ein Torpedoboot. Ein Torpedoboot? Nein, das war
la die Ur. 4 der Schlachtkreuzerlinie, der ,Tiger'. Unverkennbar an seiner Silhouette!
Über 200 Meter lang, und erscheint doch winzig im Verhältnis zu der Riesensäule
dort am Horizont, deren Basis muß danach 600—800 Meter und die Höhe wenigstens
^00 Meter gemessen haben. Fabelhafte Dimensionen! .Tiger' aber fuhr sozusagen
unter seinem unglücklichen Schwesterschiff durch; denn während er die Stelle über-
fuhr, auf der vorher ,Queen Mary' geschwommen hatte, prasselten um ihn aus der
^uft deren Reste nieder. —
Und der zweite Höhepunkt der Schlacht, das war am Abend, nach 9 Uhr, als
Scheer uns zum zweiten Stoß mitten auf die englische Linie ansetzte. Wir waren
Umbraust von einem wahren Feuerorkan. Treffer auf Treffer hagelte ins Schiff.
Meldung auf Meldung kam von schweren Havarien, von Feuer, von Wassereinbrüchen.
Dazwischen immer wieder die gespannte Frage in den Artillerieturm: .Foerfter, hat
die Artillerie kein Ziel?' — .Kein Ziel, Herr Kapitän.' — Vor uns stand von
Nordwesten über Norden bis gegen Osten hin eine ununterbrochene feuernde Linie,
"ber kein Schiff war auszumachen, nur aufblitzende Salven, an denen man die Lage
°°s Horizontes wenigstens erkennen konnte, alles übrige in ein schwefliges, giftiges
^elbgrau getaucht — ein schauerlich gewaltiger Eindruck. Der Feind war in einer
graugelben Himmelswand verschwunden, wir dagegen führen vor dem klaren Ost-
Horizont für ihn Scheibe. Ungleicher konnte das Glück seine Gaben nicht verteilen.
Da, Meldung von der Funkenbude: ,FT vom Flottenchef: Die Panzerkreuzer
ran an den Feind/ Das bedeutet aus der Signalsprache übersetzt: Der Verband ist
selbständig, die Schiffe sind zur Entscheidung voll einzusetzen. ,Donnerwetter, dachte
ich, noch mehr ran an den Feind? — nun geht's nach Walhalla!' Gleich daneben
drängte sich der Gedanke: ,Wie kannst du deinen braven 1300 Leuten unten im Schiff
noch eine letzte Freude machen, ihnen noch eine letzte Begeisterung in die Knochen
gießen — daß sie hochgestimmt, mit innerem Schwung auf die große Reise gehen?'
Mir fiel nichts Besseres ein als: ,Vom Kommandanten an alle im Schiff: Signal vorn
Flottenchef, die Panzerkreuzer ran an den Feind/ — Gleichmütig gaben's die Be¬
fehlsübermittler weiter durch Sprechrohre, Schallrohre, Telephone. Die Wieder¬
holung durch die Empfänger unten im Schiff tönte ebenso seelenruhig zurück. Dann
einige Sekunden Stille, wieder hielt das Schiff den Atem an — und nun kam ein
Echo zurück ans Ohr des Kommandanten, in seiner Allgewalt das gewaltige Tosen
der Schlacht überkommt: ein einziger Freuden- und Jubelschrei: ,Hurra!
drauf Seydlitz' (der Ruf, mit dem die Seydlitz-Kürassiere vor 170 Jahren attackierten
und den auch wir uns als Schlachtruf gewählt) — die Wacht am Rhein'
.Haltet aus° — ein Harmonika setzte ein — mit den Kohlenschaufeln machten die
Heizer einen Höllenlärm gegen die Bunkerwände — das ganze Schiff ein Jubel!
Wahrhaftig, mir würgte es heiß die Gurgel herauf. In einem einzigen beseligenden
Augenblick kam mir so die soldatische Arbeit von Jahren als Dank und Quittung
meiner Besetzung zurück. Ja, dies Schiff, diese Besetzung war in meiner Hand!
— Herrliches Deutschland! Ein einziger Impuls umfing und trug uns alle.
Und kurz darauf ein plötzliches Nachlassen, dann bald Aufhören des englischen
Feuers! Es war der Augenblick, da unter dem Eindruck unseres gesammelten Stoßes
Jellicoes Nerven zusammengebrochen und mit ihnen die englische Linie auseinander¬
gebrochen war, vor dem überlegenen Willen und Können Scheers. Es war der
Moment, wo unsere angreifenden Torpedoboote keinen Gegner mehr fanden!
Luckner, da hab ich's gefühlt — und wir wollen's unseren Kindern und
Kindeskindern llbermachen als stolzes Erbe —: Wir sind den Engländern überlegen
gewesen. Also werden wir's auch wieder sein — wenn die Vorsehung es wieder
drauf ankommen lassen will." —
Das ist der Tag vom Skagerrak, da so herrlicher deutscher Seemannsgeist dem
großen Gegner solche Wunden geschlagen hat. Wie bedauern wir, die wir heute auf
keinen Planken mehr stehen, daß dieser Geist erst nach jahrelanger erzwungener Zu¬
rückhaltung der Schiffe auf der Jade sich betätigen durfte, als es zur Auswirkung
solcher Erfolge in weiteren Kämpfen bereits zu spät geworden war.
An dieser Stelle konnte unlängst auf die Bedeutung der neu herausgegebenen
Jugendgedichte von Rudolf Borchardt hingewiesen werden. Die damals
geäußerte Hoffnung, daß uns bald weitere Werke des Dichters neu erschlossen
werden möchten, ist durch das Erscheinen von drei weiteren Bänden inzwischen
erfüllt worden. Sie bedeuten ebenso wie das Versbuch ein Ereignis in unserem
literarischen Leben, das die aufmerksame Beachtung aller derer in Anspruch nimmt,
denen an einer Festigung und Klärung unserer literarischen Situation gelegen ist.
Dem Verlage Ernst Nowohlt, Berlin, gebührt für die außerordentliche Sorgfalt,
die er auf die Herausgabe des Borchardtschen Werkes verwendet, besonderer Dank.
„Der Durand. Ein Gedicht aus dem männlichen Zeitalter,"
1904 entstanden, erneuert Form und Ethos des großen mittelhochdeutschen Bers-
epos in seiner durch den Persönlichkeitsgehalt der deutschen Meister über die
^fische Konvention zu einem Ewigkeitswert emporgehobenen Gestalt. Es zwingt
die Leidenschaft des eigenen, zwischen Unseligkeit und Seligkeit bewegten Lebens
in die Schlichtheit und gleichmäßig flieszen.de Bewegung der knappen, dreihebigen
Reimpaare, die zu einer Dichtheit und Spannung zwingen, wie kein anderer
Mischer Vers. Eine tiefste Wesensverwandtschaft seiner eigenen geistigen Welt,
vertieft und erfüllt durch streng erarbeitete Einsicht in das Wesen und die
gemäße dichterische Form des „männlichen Zeitalters", ermöglichte ihm diese
Neuschöpfung und Erfüllung einer vorgefundenen Form, — kein Verständnis- und
gegenstandsloserer Vorwurf konnte gegen diese Dichtung erhoben werden, als der-
^nige eines befangenen Beurteilers, der hier lediglich das Zeugnis historischer
^ut philologischer Bemühung sehen wollte. Diese Bemühung ist einmal nicht
Ausdruck eines wissenschaftlichen Spezialistentums, sondern der Einsicht in die
Notwendigkeit, die Gehalte und Ausdrucksmöglichkeiten einer vergessenen hohen
Kultur ins Bewußtsein zu bringen, so daß mit ihrer Hilfe Inhalte unseres eigenen
^rlebnisbereiches faßbar werden, die anders keine Gestalt, also keinen objektiven
Bestand erlangen würden^ sie ist anderseits nirgends ein zutage tretendes gelehrtes
Wissen, vielmehr eine bereits selbst durchgeformte und einheitliche geistige Haltung,
die die Voraussetzung einer ebenso beziehungsvollen wie selbständigen Neuschöpfung
^. Ein besonderes geschichtlich-künstlerisches Bewußtsein äußert sich hier, das
den Historismus überwindet, indem es in der geschichtlichen Anschauung selber
gestalt gewinnt, das die Urformen des landläufigen historischen Romans, der
historischen Ballade endgültig in ihrer Unfruchtbarkeit bloßstellt und ein Neues
und Festes an ihre Stelle setzt.
Der Band „Swinburne" ist, so darf man hoffen, berufen, diesem Dichter,
nach unserer Überzeugung kein Lyriker des neunzehnten Jahrhunderts an die
^eile zu setzen ist, auch in Deutschland die ihm gebührende Stellung zu verschaffen.
Außerdem liegt hier eine Verdeutschungsleistung vor, die an ihrem Teile geeignet
^ der unerhörten Leichtfertigkeit und Gewissenlosigkeit, die die deutsche Mer-
>etzungsarbeit in den letzten Jahrzehnten zumeist kennzeichnet, das verdiente Ende
on Machen. Es werden uns von Borchardt hier außer einem lyrischen Stück aus
der Atalanta in Calydon und dem Misterienspiel von David und Bathseba, in
das der großartige Aufzug der Königinnen eingefügt ist, eine Anzahl von Gedichten
geboten, unter denen vor allem die drei herrlichen Balladen) vom Leben, von
Lasten und vom Traumland hervorragen.
Schließlich finden wir in dem Bande Prosa I eine Reihe von teilweise
früher schon veröffentlichten Aufsätzen, die zumeist dem von Borchhardt geschaffenen
neuen Typus einer literarischen'Kritik angehören, in der über die Beurteilung der
ihrerseits auf das genaueste untersuchten dichterischen Elemente zu einer zentralen
Erfassung des Ethos und der geistesgeschichtlichen Stellung einer Dichtung
fortgeschritten wird. Es kann an dieser Stelle nur auf die Gegenstände hin¬
gewiesen werden. Die Kritik von Stefan Georges großem Werk „Der siebente
Ring" zusammen mit der Analyse der Georgebewegung „Intermezzo" stellt eine
Beurteilung Georges und seines Kreises dar, die unseres Erachtens heute so end¬
gültig und richtig ist, wie sie es bei dem ersten Erscheinen der Aufsätze vor zehn
und elf Jahren war. In „Dante und deutscher Dante" wird, von der Würdigung
von Georges Übertragungen aus der Commedia und der Entlarvung einer Arbeit
von Hauser, die sich als Übertragung der Vita nuova ausgibt,' ausgehend, das
Problem der Danteverdeutschung in all seinen ästhetischen und historischen Vor¬
aussetzungen entwickelt. Ähnlich führt eine Beurteilung von Hoffmcmnsthals
Mestisdichtung zu einer tiefdringenden Erhellung der Gestalt und Auffassung des
griechischen Mythos in seiner Formung durch die Tragödie. Das Meisterst^
des Bandes aber ist der erste Aufsatz, „Villa", der mit divinatorischer scharf
eine landschaftspsychologische Betrachtungsweise verwirklicht, in der, an dem Bei¬
spiel des modernen italienischen Landhauses, die Wechselwirkung von Landsch^
und Seele synthetisch erschaut wird.¬
Möchten diese wenigen und unzulänglichen Bemerkungen genügen, um die
jenigen, die in der Flut literarischen Angebots nach geistig strengen und voll¬
kommenen Leistungen ausschauen, auf das Werk Rudolf Borchardts hinzuweisen-
Bon Aix-les-Baus bis Brüssel. Während des Krieges waren es die Friedens"
Strömungen, die Kriegsmüdigkeit und die Revolutionen in den feindlichen Länder^
dann kamen Wilson und die vierzehn Punkte an die Reihe. Beim Waffenstillstan
hieß es: ja, aber der Friedensvertrag, beim Friedensschluß verwies man auf o,
Revision (oder die Weltrevolution) und auf die „Einsicht", die drüben doch
kommen mußte. Dann wurden wir auf Spa vertröstet und als Spa sich °
Mißerfolg herausstellte, hieß es: aber Genf! Und als Genf auf sich warw
ließ, begnügte man sich mit dem Hinweis auf Luzern, auf Air-les-Bains, » !
Brüssel und zur Abwechslung dazwischen auf den bevorstehenden Fall vo
Warschau. Immer aber auf etwas außer uns Liegendes, unserer Einwirkt»»
Entzogenes. Wie Nora hofft Deutschland immer noch auf „das Wunderbare -
Um nach jeder gescheiterten Hoffnung feststellen zu müssen, daß niemand ,/>
Deutschland eintritt", daß jeder „nur an sich selbst" denkt. si
lwo/
Die Ausländer behaupten bekanntlich, daß der Deutsche nicht eite,
aber empfindlich oder um das hier genauere Fremdwort zu gebrauchen 6
pikieren" ist. Es ist möglich, daß das stimmt, denn wer sich in gesellschaftu»)^
Umgang unsicher fühlt — und das trifft ja für sehr viele Deutsche zu "
sein Selbstbewußtsein, nur um es nicht unter der Einwirkung fremden Einflusses
zu verlieren, jeden Augenblick krampfhaft ausspielen muß, der ist ja wirklich leicht
Pikiert. Vielleicht hängt damit zusammen, daß der Deutsche die Ursache seines
Unglücks nie in sich selbst, sondern immer außer sich und in der abgrundtiefen
Schlechtigkeit der übrigen Menschheit sucht. Das muß er sich abgewöhnen.
Nirgends gilt der Satz „Hilf dir selbst, und Gott wird dir helfen" so wie in der
Weltpolitik, und hier wie im Leben geht es durchaus nach dem Spruch „Wer da
hat, dem wird gegeben, daß er die Fülle habe,- wer aber nicht hat, von dem
wird auch genommen, was er hat." Es ist nicht nötig, dies mit Beispielen zu
belegen.
Hören wir endlich auf, uns auf Dinge zu verlassen, die außer uns liegen.
Machen wir uns klar, wohin wir wollen. Es geht nicht an, daß große Teile des
deutschen Volkes, ohne den Schatten einer realen Macht hinter sich zu haben, die
Revision des Bersailler Vertrages fordern, während andere wimmern: Wir
können ihn zwar nicht erfüllen, wollen es aber trotzdem. Und wenn schon die
Franzosen (aus Profitgier, aber auch — das darf nicht übersehen werden — aus
innerpolitischen Bedenken) es nicht über sich gewinnen können, uns rechtzeitig "die
Gesamtsumme ihrer Forderungen zu nennen und mit uns gemeinsam die Wege
zu beraten, wie diese Forderungen für beide Teile am leichtesten erfüllt werden,
so entschließe man sich endlich bei uns, ohne kleinliche Kuhhandelskünste nach sorg¬
fältigster und ehrlichster Erwägung des wirklich Durchführbaren und politisch
Erreichbaren, und unter Anführung aller Varianten, die sich aus eintretenden
Eventualitäten (Oberschlesien!) ergeben könnten, ein Angebot zu machen und Wege
vorzuschlagen, die so gehalten und motiviert sein müssen, daß Frankreich, wenn es
sie nicht annimmt, vor der übrigen, äußerst ruhebedürftigen Welt moralisch und
-Politisch isoliert dasteht, von denen man sich aber auch durch die Drohung mit
Gewaltanwendung unter keinen Umständen abbringen läßt. Eine andere Rettung
gibt es nicht.
Die Brüsseler Konferenz zeigt die Lage in einem selten klaren Lichte. Die
Vereinigten Staaten verhalten sich den politischen Verwicklungen Europas gegen¬
über politisch indifferent. Mit Partnern, die ihnen vertrauenswürdig erscheinen,
knüpfen sie Geschäfte an, und damit fertig. Englands außenpolitische Kraft
erlahmt infolge der irischen Wirren und der Kämpfe mit den Arbeitern jeden
Monat mehr. Frankreich behauptet einstweilen, bis sich Rußland wieder militärisch
konsolidiert hat, was auf reinen Fall vor dem nächsten Sommer der Fall sein
wird, eine fast unbestrittene Hegemonie in Europa, die es ihm ermöglicht, auf
einer Konferenz, die sich zur' Besprechung der internationalen Wirtschaftslage
Zusammengefunden hat, jede Erwähnung des Versailler Friedensvertrages zu ver¬
bieten. (Etwa als ob ich einem Arzt, der mich heilen soll, die Untersuchung von
Lunge, Leber, Herz untersage.) Gerade dies aber muß den übrigen Staaten deutlich
zum Bewußtsein kommen lassen, wie wenig es in ihrem Interesse liegt, Deutsch¬
land zu helfen. Denn solange Frankreich nicht gezwungen werden kann — und
wer vermöchte es zu zwingen? —, die Höhe seiner Ansprüche zu fixieren, so lange
hat es auch die Möglichkeit, den Raum jeder Deutschland gewährten Hilfeleistung
für sich mit Beschlag zu belegen und eben hierdurch seine Vormachtstellung in
Europa weiter zu befestigen. Jede Hilfeleistung würde einen Tribut an Frank¬
reich darstellen, und schon aus diesem Grunde besteht wenig Hoffnung, daß uns
geholfen wird, wenn auch andererseits nicht geleugnet werden soll, daß durch
gegenseitige Fühlungnahme der Finanzleute aller Länder die schwebenden Probleme
zum allgemeinen Segen geklärt werden können. Die Gerechtigkeitsfanatiker aber,
die bei uns, natürlich ohne gangbare Wege vorzuschlagen, stündig restlose Er¬
füllung des Vertrages verlangen, sollten in keinem Fall vergessen, daß für all
diese Verwicklungen und Verhandlungen, all diese Gereiztheit, die den Kriegs¬
zustand über den Friedensschluß hinaus verlängert, nicht Deutschland, sondern in
erster Linie Frankreich verantwortlich ist. Man beachte nur, was Andre Tardieu
Angst wieder in der „Illustration" über die Vorgeschichte der Wiedergutmachungs-
bestimmungeri berichtet. Danach sind es immer wieder die französischen Staats¬
männer gewesen, die aus Furcht, zu wenig zu bekommen, eine Festsetzung der
deutschen Verpflichtung verhindert haben. Und wer ist es denn letzten Endes
anders gewesen, der die Zulassung deutscher Delegierter auf der Friedenskonferenz
verhindert hat, als die Franzosen? Und nun wundern sie sich, wenn sie für die
Folgen dieses Verfahrens verantwortlich gemacht werden?"
Unter diesen Umständen wird man guttun, auf die Hoffnung nach „Einsicht
auf feiten der Franzosen nicht allzu fest zu vertrauen, sondern sich klarzumachen,
was eintritt, wenn diese Einsicht nicht kommt oder sich nicht durchsetzt. Mit
seltenem Freimut hat kürzlich in einem dem Berichterstatter der Libertö gewährten
und durch Unterlassung jeder überflüssigen Deklamation sich wohltuend aus¬
zeichnenden Interview Walter Rathenau die Lage skizziert. Danach bestehen
sechzig Prozent Wahrscheinlichkeit dafür, daß das Reich in einer vielleicht schon
nahen Zukunft in drei Teile zerfällt: Bayern, dem sich die Trümmer Österreichs
zugesellen werden, die Rheinlande, die jedes Interesse daran haben, die ihnen von
Frankreich gebotenen Vorteile anzunehmen, und den Nest Preußen, Hessen, Sachsen,
Hannover, der, der Grundlagen seiner Existenz beraubt und nicht imstande, sich
selbst zu erhalten, den Sprung in den Bolschewismus zu tun gezwungen sein wird,
unter diesen Umständen die einzig normale und logisch mögliche Lösung. (Vgl.
dazu auch die Ausführungen Needras in Heft 37/38 der „Grenzboten".) Man
kann über die weiteren Äußerungen Rathenaus über die deutsche Form des
Bolschewismus und über dessen Expansionsmöglichkeiten verschiedener Meinung
sein, daß das Reich unmittelbar vor dem Zerfall steht, kann nur dem entgehen,
der nicht sehen will. Den Franzosen kommen allerdings in letzter Stunde
Bedenken, daß der bayerische Partikularismus am Ende nur eine Gesundung des
Reiches auf neuer Grundlage anstrebe, aber die Dinge sind schon zu weit gediehen,
als daß man sie aufhalten könnte, es ist nicht möglich, eine lange Zeit planmäßig
betriebene Politik plötzlich umzusteuern, eine Zeitlang fährt jedes mit Hochdampf
geleitete Schiff noch in der alten Richtung weiter. I)r. Heim spricht in Budapest
schon mit aller Seelenruhe von der bevorstehenden bayerischen Restauration und
zwischen München und Wien wird eifrig verhandelt, daran vermögen alle offiziellen
Beschwichtigungsversuche nichts zu ändern. Diese Bertuschungsversuche können nur
üble Überraschungen zur Folge haben. Man decke endlich die Karten auf und zeige,
was gespielt wird. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder Bayern macht, seinen
Sonderinteressen zuliebe, die Berliner Politik nicht mehr mit undMlägt eine Bahn
ein, die, zufällig oder nicht, auch Frankreichs Regierung einzuschlagen für geboten hält.
Oder Bayern steht unter allen Umständen in erster Linie zum Reich, verlangt aber an
Preußens oder Berlins Stelle die Führung in Deutschland. Dann wird eine offene
Aussprache, die dringend notwendig ist, nur heilsam sein können. Auf jeden Fall aber
mögen sich die bayerischen „Föderalisten" vor der verhängnisvollen Illusion
hüten, daß ihr Weg ihr Land vor den Folgen des Versailler Vertrages retten
könnte. Die bayerische Industrie zum mindesten würde sofort französischen Interessen
dienstbar, aber auch der ersehnte Bauernstaat müßte nur der französischen 'Pollen
in Zentraleuropa als Brücke dienen. Auch glaube man in München nur nicht,
das Mittel zur Angliederung Österreichs an Deutschland gefunden zu haben. Hat^
Frankreich die unumschränkte Macht nicht, die es wirklich besitzt, wäre Englar»
an der Donau noch so mächtig wie es vor einem Jahre war, es möchte gehen-
Jetzt geht es nicht. Im gleichen Augenblick, da der entscheidende Schritt in
Bayern geschieht, sind von Frankreichs Gnaden auch die Habsburger wieder aus
dem Plan und wird es zwischen Habsburg und Wittelsbach die gleichen Reibungen
geben wie zwischen Bayern und Preußen. Bayern gibt sich Frankreich gegenüber
ganz ähnlichen Illusionen hin, wie das Reich England oder Italien gegenüber-
Frankreich wird Bayern nicht „helfen", sondern es lediglich, weil es der Stärkere
ist, zur Verwirklichung seiner eigenen Pläne benutzen. > ^
Diese sind, wie die Entwicklung in Zentraleuropa und auf dem Balkan
beweist, großzügig und weitausgreifend und haben drei Ziele: Die Bildung eines
großen Antibolschewistischen Blocks (zusammen mit Polen), die Abschnürung Deutsch¬
lands nach Südosten, die Konsolidierung eines Balkanblocks (unter Zuhilfenahme
der nationalistischen Türken in Kleinasien) nebst Vorbereitung (Nebenziel der
Wrangel-Politik!) einer neuen, sich auf dem Balkan die Hand reichenden französisch-
russischen Koalition gegen Englands immer schroffer hervortretende Konstantinopel-
Politik. Die einzige Schwäche dieser Pläne ist nur, daß es verschiedene Pläne
sind, deren Verwirklichung im einzelnen die Verwirklichung der andern durch¬
kreuzt. So braucht man zur Abschnürung Deutschlands den Donaubund, den
aber Italien nicht will, dessen Vermittlung man wieder in Kleinasien nicht
entbehren kann. So braucht man zur Bildung des Antibolschewistenblocks ein
kräftiges Ungarn, das gerade die Nachbarstaaten nicht wollen. Tatsächlich ist
denn auch der erste dieser Pläne an dieser Kompliziertheit der Gesamtpolitik
gescheitert. . ^
Die Abmachungen zwischen Ungarn und Frankreich sind öffentlich nicht
bekannt geworden (was auf das parlamentarische Regime in Ungarn ein recht
sonderbares Licht wirft), die Informationen Poincarcks aber (in der „Revas usf
Äoux ilwnäes" vom 15. 9.) werden gegründet sein. Danach sind nicht nur der
französischen Industrie bedeutende Vorteile eingeräumt worden, sondern Frankreich
bekommt auch die Kontrolle der ungarischen Eisenbahnen, Wasserstraßen, sowie
der Kreditbank. Ungarn begibt sich also (und auch dies sollte in Bayern zu
denken geben) ganz in Frankreichs Hand. Sogleich entspringt aber die Frage
nach der Gegengabe. Die kann außer in der Duldung der monarchischen Restau¬
ration nur in der teilweisen Revision des Friedensvertrags von Trianon
bestehen. Da Frankreich Ungarns Heer zur Unterstützung der Polen verwenden
wollte, mußten die Abrüstungsbestimmungen geändert werden, da dabei aber
beide Teile ihre Rechnung fanden, werden die Ungarn auch Abänderung
der Grenzen verlangt haben, und da Frankreich, schon im Hinblick auf
seine Antibolschewistenaktion auf ein enges Einvernehmen zwischen Rumänien
und Ungarn, für das in beiden Ländern starke Tendenzen bestehen, hinarbeitete,
so kamen nur entweder die Grenze gegen die Tschechen oder gegen die Südslawen
oder beide in Betracht (gegen das ohnmächtige Osterreich helfen sich die Ungarn
schon selbst). Unter diesen Umständen war es klar, daß sich die bedrohten
Nachbarstaaten, im russisch-polnischen Konflikt ohnehin zur Festhaltung an
unbedingter Neutralität entschlossen, zu gemeinsamer Abwehr und zur Garantie
des Friedensvertrags von Trianon zusammenfanden, und daß, im Hinblick auf
die im latenten, — wie man behauptet durch Ungarn, in Wirklichkeit aber in
gleichem Maße auch durch die tschechische Gewaltpolitik — ständig genährten
Aufruhrzustand befindliche Slowakei, der tschechische Außenminister es war, der
die Initiative ergriff und mit Südslawien die sog. Kleine Entente schloß. Dieser
Schritt hat durch seine Eigenmächtigkeit in Frankreich stark verstimmt/ man
erblickte in ihm (mit Recht) das erste Anzeichen dafür, daß sich die Sukzesstons-
staaten von der Führung durch die Westmächte emanzipieren, ja, man sah in der
Kleinen Entente bereits Naumanns Mittel-Europa heraufdämmern (diese An¬
deutung mag den Kundigen genügen!), und auch die Bedenken Rumäniens, dem
neuen Bunde beizutreten, waren nur ein geringer Trost, da die begeisterten
Beteuerungen des Frankreichenthusiasten Tale Jonescu, Rumänien werde me einer
Zegcn Frankreich gerichteten Kombination beitreten und alles tun, Österreich vom
Anschluß an Deutschland abzuhalten, gerade in ihren gegen die Bolschewisten
gerichteten Formulierungen von den Politikern in Bukarest mit Rücksicht auf die
Sonderfriedensunterhandlungen mit den Sowjets und auf die Regelung der
beßarabischen Frage, die in jedem Falle vorsichtiges Abwarten erheischt, dementiert
wurden.
Immerhin aber sprang aus der Bildung der Kleinen Entente für Frankreichder Vorteil heraus, daß Italien es im Hinblick auf seinen Konflikt mit den Süd-
slawen (und auf seine Interessen im Orient) für geraten hielt, sich Frankreich zu
nähern. Italien wird, es bleibt ihm gar nichts anderes übrig, die alte Schaukel-
Politik, die es vor dem Kriege zwischen Dreibund und Entente betrieb, jetzt
Zwischen Frankreich und England fortsetzen müssen. Es wird in der Türkei aus
der Gegnerschaft Frankreichs und Englands Vorteile ziehen. Es erreichte in
Air les Bains gegen Anerkennung des Versailler Vertrages als unerschütterlicher
Grundlage der neuen europäischen Verhältnisse (Millerand nennt ihn jetzt mit
Vorliebe die „Charte des neuen Europa") Neutralität Frankreichs im Ädria-
konflikt, eine Zusicherung, die wegen der Gerüchte von einem französisch-südslawischen
Militärbündnis sehr nötig war, ließ sich aber bezeichnenderweise den Versailler
Vertrag betreffend eine Hintertür offen, indem es hinsichtlich der Genfer Konferenz
auf die notwendige Zustimmung Englands verwies. Das war gute italienische
Politik und wer etwa in Deutschland anderes erwartet hatte, bewies nur, daß er
Giolittis Ziel, eben italienische Politik zu machen, nie begriffen hat, genau so-
wenig, wie die Industriellen Italiens, die das neutrale Verhalten ihrer
Regierung in ihrem Konflikt mit den Arbeitern verbrecherisch nannten, begriffen
haben, daß diese anscheinende Passivität in Wirklichkeit den ersten Schritt zur
inneren Gesundung, sofern sie überhaupt schon möglich ist, darstellt.
Im Osten hat sich, wider allgemeines Erwarten, die militärische Lage auch
weiterhin zuungunsten der Bolschewisten entwickelt, die jetzt in Riga klein beigeben.
Charakteristisch ist dabei der allgemeine Wettlauf um die Gunst der Ukraine, deren
Selbständigkeit jetzt von allen Seiten, selbst von Wrangel anerkannt ist, und die
Versuche des jetzt in den Besitz eines großen Teils der polnisch-galizischen Erdöl¬
produktion gelangten Frankreich, die Nigaer Verhandlungen durch weitgehende,
durch Geschehenes freilich gerechtfertigte Diskreditierung der bolschewistischen
Unterhandlungsmethoden zu sabotieren. In erster Linie geschieht das natürlich
Wrangel und der Möglichkeit der oben erwähnten späteren russisch-französischen
Entente gegen Englands Konstantinopelstellung zuliebe, dann aber auch un¬
zweifelhaft mit der Berechnung, daß die Bolschewisten, im Westen in die Enge
getrieben, ihren Druck nach Asien, wo sie neuerdings in Chiwa und Buchara besonders
tätig sind, verlegen, und auf diese Weise England von den europäischen Angelegen¬
heiten ablenken werden. Und selbst wenn die türkischen Nationalisten dadurch ver¬
stärkt würden, wäre dies Frankreich trotz der in Cilicien noch immer bedrohlichen
Lage recht, da man durch Vermittlung Italiens die Anatolier gegen Englands
Konstantinopelstellung zu verwenden hofft. So wird die Lage beherrscht durch
den auch aus dem englisch-französischen Botschafterwechsel erhellten Gegensatz
zwischen England und Frankreich, bei dem Italien der Gewinner Deutschland —
Menenius.
. Die russische „Organisation", die Dr. Simons etwas zu diplomatisch im
Augenblick bolschewistischer Erfolge gerühmt hat, besteht aus vollkommen sumpf¬
artiger Desorganisation der Wirtschaft, der Verwaltung, der Moral. Aber eines
steht fest und groß da: die Macht des Staates, die Autorität der Regierung,
jreilich mit Mitteln des Terrors, auf die altgewohnte russische Weise blutiger
Despotie. Kulturwerke hat der Bolschewismus trotz Dr. Simons-nicht geschaffen,
aber er hat ein Heer aufgestellt, und stellt immer neue Heere auf, wie der Zar.
Wir wissen von den scharenweis nach Ostpreußen übergetretenen russischen
Kämpfern, daß nur eiserner Zwang, nicht irgendwelche Überzeugung oder
Begeisterung die russischen Armeen beisammenhielt. Aber die Menschenmassen
Mlands sind einfach zu schwach, um sich gegen eine Handvoll energischer
Menschen aufzulehnen, die zwar nicht verwalten, aber mit erbarmungsloser Hand
Agieren. Daß ihr Herrscher meist ein Fremdherrscher ist, scheint nun einmal
°as Los des weichen Russen. Später wird er an seinen augenblicklichen judisch-
wtarischen Zwingherren einen schauderhaften Pogrom vollziehen, wie er den
Atzten Zaren aus deutschem Herrscherhaus ermordet hat. Aber erst muß sich
°erer Autorität und Macht durch die Erschöpfung des industriearmen Reichs selbst
aufgezehrt haben, bevor das Volk die Hand zu erheben wagt gegen die Gesalbten
°er Sowjets. Was lernen wir aus dieser „russischen" Organisation? Daß
Me eine schlechte Regierung eine Macht sein kann, wenn sie nur regiert. Wir
Um zuviel Organisation in Deutschland und zu wenig Regierung. Die Menschen
würden aufatmen, wenn sie eine Autorität fühlten. Das mangelnde Talent zu
Agieren eignet bei uns allen Parteien gleichmäßig. Besäßen es die extremen
^'nten, so würde uns nichts vor dem Bolschewismus retten können, und trotz
allen trostlosen Berichten aus Nußland geht etwas wie Sehnen nach einem
Stator, hieße er gleich Lenin, durch unser verwaistes Land.
Der künftige Geschichtsschreiber wird als mildernden Umstand für vieles,was seit 1917 in Deutschland geschah und geschieht, Physische Erschöpfung und
leelische Störung, die Nahrungsentziehung mit sich bringt, in Rechnung stellen.
Em beispielloses Geschehen: daß eine ganze Nation verhungert und herunter¬
gekommen aussieht und auch entsprechend handelt. Wir fühlen es unter uns
gar nicht mehr so. Schicken wir aber einmal Landsleute sür ein paar Monate
nach der Schweiz oder nach Holland, so sehen wir erstaunt sie mit frischeren
Farben, glänzenderen Haar, breiterer Gestalt, ausgeglicheneren Nerven, festerer
Entschlußfähigkeit zurückkehren. Zieht aber eine deutsche Abordnung über die
Grenze, um mit Fremden zu verhandeln, so fällt sie (außer wenn sich fette
Schieber in den Vordergrund drängen wie seinerzeit Erzberger) unter den
Fremden auf wie eine mattere, ausgehöhlte Rasse, wie Hindus neben Engländern.
Denn auch Indien ist ein übervölkertes Land.
Das Ausland kann uns jetzt den Brotkorb hängen, wie es will und gegen
Brot alles von uns verlangen. Nie war eine bis vor kurzem als Weltmacht auf¬
Amerikaner und Engländer wissen in jedem Augenblick, was sie sind. Die
Vergangenheit ist ihnen unbekannt, fremd und gleichgültig und die Zukunft stört sie
me im klaren Erfassen des Gegenwärtigen. Wir dagegen sind das Volk, das
einmal etwas war und das die Zukunft mit der Gegenwart allzusehr ver¬
wechselt. Nur wenige wissen heute, woran wir sind, die meisten rechnen noch mit
dem mächtigen Deutschen Reich von einst oder von übermorgen. Wenn wir etwas
haben, so sorgen wir nicht dafür, es uns zu erhalten, und 'wenn wir nichts mehr
haben, so trösten wir uns zu leicht mit dem, was wir hatten oder in der Ein¬
bildung leicht und schnell wieder haben werden. Angst und bange wird eineM/
wenn ein Deutscher, sei er Staats- oder Privatmann oder gar Parlamentarier,
mit einem Ausländer verhandelt. Denn immer steckt dabei der Mann der
praktischen Gegenwart den unpraktischen Träumer in die Tasche.
Friedrich Theodor Bischer hat gesagt: „die Deutschen können das Glück
und die Größe nicht recht vertragen. Ihre Idealität ruht auf Sehnsucht. Wenn
sie es einmal haben und nichts mehr zu sehnen ist, so werden sie frivol werden,
die Hände reiben und sagen: unsere Heere Habens ja besorgt, seien wir jetzt recht
gemeine Genuß- und Geldhunde mit ausgestreckter Zunge.„l
Das war 1870. Heute leben wir noch zum Teil in dem Traumgefüh
eines mächtigen Staates, während wir doch in Wirklichkeit die armseligsten Heloten
geworden sind. Deshalb haben wir auch noch nicht einmal die rechte Sehnsucht
wieder und wissen auch noch nicht aus der Vergangenheit das herauszuziehen,
was uns heute hülfe. Wir sprechen nicht von der Größe unserer Leistungen und
unseres Heldentums im Kriege — wie vergessen ist im Gegenteil schon dieses
wunderbarste Heldenlied aller Zeiten, das noch vor zwei Jahren Wirklichkeit
war! — wir sprechen von unseren Brutalitäten bei der Verwüstung Frankreichs/
Serbiens usw., als ob wir es uns leisten könnten, den Feinden noch weitere
Unterlagen für ihre Ansprüche zu geben. Wir wirtschaften noch immer aus dem
vollen, geistig und materiell und tun so, als ob eine gute Zukunft nahe und
bequem vor uns läge, als wenn die französische und polnische Herrschaft nur ein
unnatürliches, rasch vorübergehendes Schauspiel wäre. Vergangenheit und Zukunft
umgaukeln uns. Wir leben in dem, was wir waren oder sein werden, aber nicht
in dem, was wir sind.
Die Entente überschreitet fortwährend den Vertrag von Versailles, während
wir geglaubt hatten, unsere Waffen wegwerfen zu dürfen, da wir ja einen inter¬
national verbürgten Vertrag dafür erhielten, Recht für Macht. Bei diesen Ver¬
letzungen des Friedensvertrages aber, z. B. bei den Drohungen mit der Besetzung
des Nuhrgebiets, hören wir niemals aus einem feindlichen Mund das verächtliche
Wort: „Der Friedensvertrag ist nur ein Stück Papier." Er wird so behandelt,
aber gerade deshalb wird das nie ausgesprochen. Man redet stattdesien in den
betreffenden Fällen zum hunderteinstenmal von der deutschen Schuld am Krieg,
den deutschen Verwüstungen in Frankreich usw.
Als wir im August 1914 in Belgien einmarschierten, besaßen wir ein altes
Preußisches Durchzugsrecht. Darüber hatte sich Bethmann-Hollweg nie unterrichtet.
Wäre er aber ein Politiker, wäre er Engländer oder Franzose gewesen, so hätte
er dennoch niemals verächtlich die belgische Neutralität ein „Stück Papier" genannt,
sondern ein Durchzugsrecht improvisiert, wenn keines bestanden hätte. Und auf Grund
der Ententeschuld am Krieg hätte er jedes deutsche Unrecht an Belgien abgeleugnet.
Es schien den meisten Deutschen so unendlich weise, an Stelle der Macht das
Recht zu setzen, und nichts hat Bethmann bei Freund wie bei Feind mehr Dank
eingetragen, als das Wort von dem Unrecht, das wir an Belgien begehen. Das
war überhaupt das Merkwürdige an Bethmann und seiner Erzbergerschule, daß
'hre Leistungen den Feinden ebensogut wie den Deutschen gefielen. Damals
schöpften wir aus dem Vollen. Heute, wo wir im Leeren liegen, ist uns eines
geblieben: wir beziehen immer noch Lob und Tadel für unsere Politiker gern ab¬
gestempelt aus dem Ausland. Bismarck und Tirpitz hatten dagegen es sich zum
Lob angerechnet, daß das Ausland sie nicht leiden mochte.
Professor Hoetzsch wirft Bethmann außer Schwäche und Entschlußlosigkeit
auch einen gewissen'Machiavellismus vor, mit dem er spielte, indem er seine
diplomatischen Fähigkeiten überschätzte. Hoetzsch denkt hierbei an das unselige
Doppelspiel um die Jahreswende 1916/17. Er hätte auch den „Scrap of Paper"
vom 4. August Z914 anführen können. Denn Bethmann glaubte sich damals in
echtdeutscher Sentimentalität das Air eines rücksichtslosen Machtpolitikers geben
zu müssen. Gerade da er es nicht war, gab er sich einen Ruck, um zu sagen, daß
er es wäre, was ein echter Machtpolitiker kaum jemals sagt. Gewissenhaft glaubte
er, zum Politiker gehöre Gewissenlosigkeit, und heuchelte, obwohl es ihm schwer
stet, Frivolität. Und weil er so sentimental war, ließ er sich in eine seiner Kriegs¬
reden von Riezler den Satz hineinschreiben: „Wir haben die Sentimentalität
verlernt."
^ Jüngst war ich in Kiel an einem Tag, da man flaggte. Da sah ich
ichwarzweißrote, rote, schwarzrotgoldene, schwarzweiße und blauweißrote (schleswig-
holsteinische) Farben. Ach ja., und draußen der Hafen, der vor kurzem noch zu
eng war für des Reiches Kriegsmarine, lag öde und leer, kein Schiff und keine
Mgge mehr. Da mußre ich an den einen Union-Jack, an die eine Trikolore
denken, die ohne Konkurrenz in jedem Weltwinkel flattern, wo Briten oder
Franzosen leben. Was hat uns unsere bunte Vielfältigkeit genützt? Daß wir
ondes mehr schwimmen haben zur See, und kaum mehr das Fahnentuch für
unsere vielen eigensinnigen Flaggen bezahlen können. Wir sind das Volk der
zweierlei Konfession, der zweierlei Schrift, der zweierlei Reichsfarben, das Volk
der Mainlinie, der Elblinie, das Volk Weimar kontra Potsdam (und beide
^löschen), München kontra Berlin, und wo sonst eigentlich ein Volk, ohne
Kontras? Deutsche Mannigfaltigkeit, bis 1914 ein kostspieliger, aber anregender
^
liebes Zeichen, das im Gegensatz zu dem
Gründungsfieber, daß wir im Osten unmittelbar
nach den Tagen des Zusammenbruchs er-
lebten, jetzt ein Bestreben folgt, das parallel-
laufende Organisationen zum Zusammenschluß
und damit zur Verstärkung der in ihnen
Unter diesen, Namen
Kude am 26. September d. I. im Reichstage
W Berlin die Fusion des Reichsverbandes
Dstschutz w Berlin mit dem Deutschen
Heimatsbund Posener Flüchtlinge in Frank-
furt «. O. eingegangen. Es ist ein erfreu-
tätigen Energien treibt. Der Reichsverband
Ostschutz war zunächst eine Vereinigung von
verschiedenen Verbänden, die erst später durch
Ortsgruppen im Reich einen weiteren Hinter¬
grund und Aufnahmeboden fand. Dem¬
gegenüber wurde der Heimatbund Posener
Flüchtlinge, wie schon sein Name sagt, von
ostmärkischen Flüchtlingen gegründet, die vor
dem Frieden von Versailles noch an die
Wiedererlangung ihrer Heimat glaubten,
später aber zur Vertretung ihrer gemeinsamen
Interessen zusammenstanden. Der Deutsche
Ostbund führt beide Gruppen in eine ge¬
meinsame Front. Zunächst hat er die
Forderungen der Flüchtlinge gegenüber dem
Staat zu vertreten, die rechtliche Lage ihrer
Verhältnisse und Ansprüche klarzustellen, neue
Wege zu finden für eine Betätigung in der
alten Heimat, und endlich soll der Deutsche
Ostbund durch seine auf das ganze Reichs¬
gebiet verstreuten Mitglieder der stille Mahner
sein, durch den die Heimatlosen dem deutschen
Volk die Probleme der Heimat überhaupt und
auch die Verpflichtung gegenüber der ver¬
lorenen Heimat jenseit? der Grenzen
nahelegen.
Die im Reichstag vollzogene Fusion be¬
deutet noch nicht die Sammlung aller Ost-
märker im Reiche. Es handelt sich in der
Hauptsache um die Flüchtlinge aus dem ehe¬
mals Preußischen Teilgebiet des Freistaates
Posen. Die übrigen Teile der von Grenzen
durchzogenen und auch volklich zerrissenen Ost¬
mark haben besondere Organisationen geschaffen,
die erfreulicherweise auch immermehr zu
gemeinsamer Arbeit geneigt sind. Als Kern¬
truppen sind zu bezeichnen: der neugegründete
Ncichsverband heimattreuer Ost- und West¬
preußen, die Vereinigten Verbände heimat¬
treuer Oberschlesier und die im Deutschen
Schutzbund vereinigten Heimatorganisationen
an der Grenze selbst. Alle diese Gruppen
sind bestrebt, gemeinsam mit dem Deutschen
Ostbunde auf neutralem Boden gleichlaufende
Richtlinien für ihre Organisation und den
Inhalt ihrer Arbeit aufzustellen. Die Leiter
dieser Gruppen vertreten das Ostkartell im
Deutschen Schutzbund und geben durch diese
Persönliche Fühlungnahme Zeugnis sür die
Geschlossenheit der Ostmarkenfront im Reich.
Die Bedeutung dieser Front kann nicht hoch
genug eingeschätzt werden. Sie will in allen
Parteien und über allen Parteien wirksam
sein. Sie will zusammenschließen, weil hinter
ihr das Erlebnis der Zerrissenheit liegt. Sie
fordert, daß die Zwietracht im eigenen Hause
sich legt, solange vor den Toren das Wort
Friede noch Phrase bleibt.
Die Aufgaben des so gesehenen erweiterten
Deutschen Ostbundes gehen also weit über
seinen Satzungszwcck hinaus. Wenn es in
Deutschland nicht gelingt, eine öffentliche
Meinung zu schaffen, die sich für Flüchtlings¬
elend einsetzt und den Niederschlag eines echten
Mitgefühls für die unerhörte Bedrängnis
unserer deutschen Landesgenossen polnischer
Staatsangehörigkeit darstellt, dann sind alle
Proteste vergeblich, dann bleibt es bei den
Klagen, die bei der letzten großen Flüchtlings¬
tagung im Reichstag am 27. vorigen Monats
der Regierung entgegengehalten wurde. Das
Deutschtum in Polen, das systematisch aus¬
gerottet wird, dessen Glieder als Flüchtlinge
den Deutschen Ostbund mehr und mehr ver¬
stärken werden, soll durch diese Mobilisierung
der öffentlichen Meinung eine nachhaltige
Stütze in seinem schweren Kampf erfahren.
Selbstverständlich genügen zum Aufbau weder
Organisationen noch Massen. Sie sind nur
die Faktoren, mit denen der Politische Führer
sein Werk gestaltet. Der Deutsche Bund hatte
keinen Mangel an Köpfen, aber der große
Mann, der ihn auflöste, um seine Ziele zu
erfüllen, fehlte ihm ebenso, wie dem Deutschen
Ostbunde, von dem wir wünschen möchten, daß
diese eigenartige Flttchtlingsorganisatio», die
unter dem Ehrenvorsitz des größten Ostmärkers
Hindenburg steht, das Instrument eines großen
Ostpolitikers wird, der den hemmenden
Polnischen Korridor freimacht für deutsches
Heimatrecht und deutschen Lebenswillen.
Die Deutschen in fernem Außenkante, in fremden,
oft feindlich gesinnten Staaten, kämpfen zähe
um ihr Deutschtum. Besonders die neu¬
gebildeten Staaten konnten sich in der
Verfolgung und^in dem Hasse gegenüber den
Deutschen nicht genug tun. Sie wurden
französischer als die Franzosen und
deutschfeindlicher als Clemencea«.
Es wäre wirklich der Mühe wert, die Leiden
^eher Deutschen näher kennen zu lernen, denn
"icht nur in Deutschland, sondern auch außer¬
halb der Grenzen seines Stammlandcs besteht
letzt der Deutsche eine große und schwere
Prüfung.
Die Lage der Deutschen in der tschecho¬
slowakischen Republik ist nicht beneidens¬
wert. Ihr nationaler Kampf teilt sie in
drei Gruppen. Die Deutschböhmen, die
Deutschmähren und die Deutschen der Slowakei
impfen in drei getrennten Gruppen für ihre
Sprache und für ihr deutsches Nationalgefühl.
Die schwächste dieser Gruppen bilden die
Rutschen in Oberungarn, weil sie in zer¬
streuten und kleinen Sprachinseln, isoliert und
^"i auf sich' und ihre Ausdauer gestellt, um
^r Dasein arbeiten und kämpfen.
In der Geschichte des „gewesenen" Ungarn
haben die Deutschen Nordungarns eine
bedeutende und wichtige Rolle gespielt,
^e waren Lehrer und Erzieher aller Nationen
Ungarns. In dieser schweren Arbeit wurden
^ durch das immer zunehmende Slowaken-
^>n bedrängt und ihre Zahl verminderte sich
ieils durch die Expansion der Slowaken, teils
dadurch, daß die Auswanderung der Deutschen
'^es den ungarischen Gebieten eine sehr rege
wurde. Besonders die Zips überflutete mit
^ren hochbegabten und intelligenten Söhnen
le ungarischen' Städte. Die Folgen davon
waren jedoch, daß der Kraft-zustand ihrer
Heimatsstätte und -dörfcr geschwächt und sie
durch den lebhaften Verkehr mit den ungarischen
'-'andteilen der ungarischen Sprache zugänglicher
wurden. Sie behielten trotzdem ihre Sprache
und die traditionelle Anhänglichkeit an ihre
Gebräuche, aber sie waren gleichzeitig immer
le stärksten Anhänger deS ungarischen Staates.
In den ersten Zeiten des Umsturzes haben
Deutschen den größten Widerstand
Kegen die Tschechen in Oberungarn geleistet
Und noch jetzt sind sie die härteste Nutz für die
schlesischen Bestrebungen. Die tschechischen
^a'ne wollen die deutsche Sprachinsel, welche
^ Slowakei in zwei Teile teilt, gänzlich
^rationalisieren. In den Schulen
^ tschechisch und slowakisch unterrichtet,
'e deutsche Sprache ist verboten und
^ ihrem evangelischen Bischof wurde ein
erüchtigter tschechophiler Slowake er-
"""t. Diese deutsche Kirche wurde seitdie
Jahrhunderten auch von Deutschland aus
unterstützt, teils durch Legate, teils durch
Stipendien; in den Kirchen wird deutsch
gepredigt und deutsch gebetet, und jetzt wird
sogar das Gotteshaus tschechisiert.
Und noch eine offene Wunde der ober¬
ungarischen Deutschen, die ihnen großen
Schmerz verursacht — dieTatrafrage. Das
wunderbare Gebirge der „Hohen Tatra" wurde
durch den emsigen Fleiß der dortigen Deutschen
der Menschheit erst wirklich zugänglich gemacht,
bekannt und berühmt. Der Karpathen¬
verein wurde immer von Deutschen
geleitet; sie waren die Seele des Vereins,
sie arbeiteten, propagierten unermüdlich für
diesen schönen, herrlichen Fleck Erde, sie
bauten dort Wege und Touristenheime, und
nur ihrer Arbeit war es zu verdanken, daß
sich damals der ungarische Staat der Tatra
annahm. Und jetzt soll alles nicht nur
slowakisch, sondern sogar tschechisch werden.
Die ITatra wurd<"von Tschechen überflutet
und die deutsche Arbeit wurde auch hier von
Tschechen enteignet.
Der ganze Administrationsapparat ist
darauf eingerichtet, denTschechen oder Slowaken
überall Vorteile und Vorrechte zu geben.
Eine große Anzahl tschechischer Handwerker
undAandelsleute wurden angesiedelt. Slowa¬
kische Zeitungen wurden herausgegeben und
in jeder Beziehung werden die Deutschen
drangsaliert. Aber sie halten fest und
unerschütterlich aus. Ihr deutsches
Nationalgefühl wuchs zu neuem Leben und
sie halten eng zusammen. Der tschechischen
Politik gelang es, sich in den ersten Zeiten
einige Verräter zu kaufen, diese werden jedoch
von jedermann verachtet und gemieden.
Auch die Polen haben auf das Zipser
deutsche Gebiet Anspruch erhoben, weil an¬
geblich Maria Theresia für die verpfändeten
deutschcnWpser Städte bei deren Zurücknahme
die Pfandsumme nicht zurückzahlte. Drei¬
hundert Jahre ^waren diese Städte unter
polnischer Herrschaft und jeder zitterte dort
nur bei der Erwähnung der Möglichkeit, daß
sie^wieder unter das polnische Joch kommen
könnten. ES ist nicht dazu gekommen, sie
gehören der tschechischen Republik an, und jetzt
haben sie wenigstens die Hoffnung, bei der
Zersetzung des heutigen Staats ihre Freiheit
und ihre Tatra zurückzubekommen. Denn daß
es zur Zersetzung kommt, davon ist jeder
Zipscr überzeugt, und auch, das; ihre
Prüfungszeit durch die tschechische Beamten¬
schaft und Regierung, nicht mehr sehr lange
dauern kann, da das ganze Land von
inneren Gegensätzen aufgewühlt ist.
Ein Lehrer in Amerika schreibt uns:
Mit vielem Interesse las ich Großadmiral
v. Tirpitz' Aussatz über die außenpolitische
Neuorientierung Deutschlands in Ur. 31/32
des Grenzboten. Bis auf seine Bemerkungen
über Amerika kann man ihm nur voll und
ganz beistimmen. Besonders klar scheint der
Grundsatz der unüberbrückbaren Gegensätze
Deutschlands und Englands, und daß ein
Wicderhochkommen Deutschlands nur mit dem
Programm der Solidarität der Interessen der
Völker des europäischen Kontinents erreicht
werden kann. Weiter schreibt er wörtlich:
„Zu den transatlantischen Völkern werden
wir dabei nicht in einen Gegensatz treten,
selbst nicht zu Amerika, trotz dessen Kriegs¬
beteiligung gegen uns. Wesen und Auffassung
des amerikanischen Volkes darf nicht gleich¬
gestellt werden mit der verflossenen Politik
des Präsidenten Wilson".
Ich möchte demgegenüber auf Beobachtungen
hinweisen, die deu engen Zusammenhang
Englands und Amerikas bezeugen.
Der Schwerpunkt aller amerikanischen
Kultur liegt in den Staaten Neu-Englands.
Die tonangebende Gesellschaft dort kultiviert
nicht nur den englischen Akzent und englische
Sitten, sondern auch englische Gesinnung-
Wer da nicht mitmacht, dem bleiben Tür und
Tor verschlossen. Der Mann aus dem Volte,
reich geworden, welcher sich noch erlauben
sollte, alten amerikanischen Traditionen treu
zu bleiben, findet für Frau und Tochter keinen
Willkomm in sogenannten besseren Kreisen-
Somit erliegt er früher oder später der Ge¬
sellschaftslüsternheit seiner Damen. Die hohe»
Schulen, ganz und gar abhängig von den
Gaben der Begüterten, sind gezwungen, oft¬
mals gegen ihren Willen, im englischen Inter¬
esse auf den Geist ihrer Schüler zu wirke".
Ein Übriges vermittelt der Neuigkeitsdienst
der Associated Preß, wie Upton Sinclair
kürzlich in seinem Buche „IKs Li-ass LKeclc"
so deutlich klargelegt hat.
Nicht ganz so schlimm stehen die Sache"
im Westen. Hier gelingt es noch hin und
wieder, einen wirklichen Patrioten in Amt
und Würden zu setzen. Solche Leute könne»
aber uuter den obwaltenden Umständen nie¬
mals in die Stellen gelangen, von wo «»^
die Richtung der Bundespolitik angegebe»
wird. Darum konnten Johnson und La Follette
nicht die Nomination zur Präsidentschafts'
Kandidatur erlangen, darum bekämpft man
unsern braven Bürgermeister Thompson. In
leitende Stellungen kommen eben nur solche
Männer, die sich als willige Räder in der
politischen Maschine so drehen, wie die leitenden
Kreise der Oststaaten angeben.
Das sogenannte Volk hat nicht ein Spiirchen
Liebe zu England, doch da Gesinnung des
Volkes nach Wunsch durch offizielle Berichte
Sedrechselt wird, ist es ratsam, den Wünschen
«er anglophilen Gesellschaft des Ostens bei
weitem die meiste Beachtung zu schenken.
Im allgemeinen gutmütig und ehrlich, fehlt
dem gewöhnlichen Mann doch der Mut zur
überzeugungstreuen Handlung, wenn dieselbe
von der Regierung nicht gebilligt wird. »Oui-
^ountr^! In Ker intsi-coursewitn koreiAn
Uations ins)? ste hö floh^s in ins rignt;
^>ut oui- countrz?, riZnt c>r wi-onZ," ist
der herrschende Grundsatz. Furcht vor Spott
und Strafe bedingt, das; man die elementarsten
besetze der Gerechtigkeit und Ehre mißachtet,
sobald von oben ein Wink gegeben wird.
Vor wenig Tagen ließ sich Sir Jame«
Aelius, Präsident der Genossenschaft kanadischer
Rechtsanwälte, vernehmen. Er sagte: „Sollten
uns die reuelosen Mächte Mitteleuropas be¬
drohen, Schulter an Schulter würden wir
nach Osten Front machen; kommen die Asiaten,
so drehen wir gemeinschaftlich gen Westen"
usw. Die Chicago Tribune unterstützte ihn
in einem Leitartikel, welchem sie jedoch in
einem längeren Aufsatz am folgenden Tage
einigen Vorbehalt zufügte, — ohne mehr oder
weniger Vorbereitung darf man nämlich dem
gemeinen Mann doch nicht zu dick auftragen.
Vor mir liegt Stedmans ,,^n ^insrican
^.ntnoloM". Bei einem nur flüchtigen Durch-
sehen des Buches finde ich acht Lobhhmnen
auf Mutter-England. Wie viel Wert man
dem Dichterwort beilegen kann, sei dahingestellt.
Die meisten Namen haben hier einen guten
Klang. Da ist Washington Allsten. Er singt
„Our Kätners nAtivs soll" und schließt
seine Dichtung mit den Worten „^V« ars
One". Ein anderer, Maurice Thompson, drückt
in acht Versen unter dem Titel „l'us I^lors
Lud" seine Liebe zum Mutterlande aus, wie
auch Charles Leonard Moore. Edles Matilda
Thomas endet ihren Sang mit den Worten
,,^n6 if lor klee snouI6 ctswn Sonis
ctsrlcest cZg^ — erz? ok lume, Köw
proncZIz? we>uI6 tre^ clare!" Dann sind
da noch George Edward Woodberry „^asi-ich
ro TnZIsnä"; Helen Gras Cone „k'Sir TnZ-
Isnct" und Grace Ellen Channing-Stetson
„England". Besonders passend für unsre
Tage ist George Henry Bokers „1o UriZIcuiä"
^Vtieu tilli ruds Los»»et^ ^itlr an outstretelivcl ki-mal
"We-ne> n-lploss, ma6^ » d^v?c>r6 in et« taret^ —
t!o6 xrant tkx 6->Ul?^t>:r s Lor6ella Ke!
Das gewöhnliche Volk Amerikas stimmt
begeistert zu, wenn auf England geschimpft
wird, aber ich halte diese Abneigung der zwei
blutsverwandten Volker für die Weltpolitik
nicht für einschneidend. Jedenfalls wird
Amerika meiner Ansicht nach immer eine
ernstliche Bedrohung der englischen Welt¬
herrschaft auch mit seinen Mitteln abzuwehren
suchen.
^Vorbereitung auf «lie Klassen aer versenieclsnen Leunis^Steine
(llmsLNulunZ). Insbesonäers Vorbereitung auk ale LinjänriZen-,
prima- unä KsikeprükunA.Dr. Kicdselzs.
Demnächst erscheint:
Graf von der Goltz:
TNeine Sendung in Finnland
und im Baltikum
Mit zahlreichen Bildern und Karten, preis gebb. so Mark
nein Sorttmontszuschlag
. Aus jeder Zeile dieses ungemein fesselnden Buches spricht die kraftvolle Persönlichkeit
mes Mannes, der als selbständiger Feldherr den deutschen Namen und Waffenruhm im
Ausland trotz der Widerstände von allen Seiten noch ein Jahr lang nach der Revolution hochhielt.
>>. Seine Erfolge als Bekämpfer des Bolschewismus, als Befreier und Organisator
Inlands trugen diesem „politischen General" Anfang 1919 auch das Kommando im Baltikum
.'U, wo Graf Goltz weniger mit den Bolschewisten als mit der Vielheit der Entente, Letten,
eigenen Soldatenräte, der deutschen Regierung und Presse dauernd Kämpfe und Schwierig-
un!.°" bestehen hatte. Dennoch vermochte er sich lange Monate erfolgreich zu behaupten
"o damals Deutschland vor dem Bolschewismus zu bewahren.
Das Buch eines Tat- und Willensmenschen, eines ausgeprägten deutschen Mannes, der
> "s das der Sachlage entsprechende rechte Wort zum Handeln fand.
Kein Kriegsbuch üblicher Fassung, sondern eine packende Schilderung
eigenartiger Verhältnisse und Entschlüsse, deren Tragik und Trag-
:: weite in Deutschland noch viel zu wenig erkannt wurden.
F. Möchte^, VerlnS) 5eTpz5<A
Soeben erschien: Ein packender blutiger
Bericht über französische Brutalität, Nieder¬
tracht und Gemeinheit, über deutschen Helden¬
mut und Ausdauer, schneidige Fluchtversuche usw-
von Hellmuth Korks, Wir weißen
Sklav en, Erlebnisse in französischer Gefangen¬
schaft. VerlagMühlmann (Grosse) Hallea./ S.
Näheres Anzeige in dieser Nummer.
Rücksendung von Manuskripte» erfolgt nur gegen beigefügtes Rückporto.
Nachdruck sämtlicher Aufsätze ist nur mit ausdrücklicher Erlaubnis de» Verlages gestattet
Diesem Heft liegt ein Prospekt des Verlages Dr. W. Rothschild-Berlin bei, der auf
den soeben erschienenen wichtigen S. Band des „Handbuchs für Politik" hinweist.
A GTn H?V«skLTfetzKS ^Z-»Mbh»»Ä? dsV H>KH»t?etz»ir P>»l5zei
GroHftctdtVolizei
Etwa qso Seiten mit sso Abbildungen von
Dr. sur. Gustav Röscher, Polizeipräsident von Hamburg 1,900—l.pi.5
Preis broschiert M. 1,9.20, in Leinen gebunden M. 22.so in tadelloser Friedensausstattung
Zu beziehen durch jede Buchhandlung
Otto Meitzners Verlag Hamburg, Hernrannstr. 44
?^»>, »,5«, Novelle, Bon Klara Gräfin Proy-
V0N MMSM0. fing.. Geb. 8.40 M,
Über dem Roman liegen die leuchtenden Farben der
dalmatinischen Inselwelt, in jeder Persönlichkeit pulsiert
Warmes Leben, wir werden mitten in den Mikrokosmos
eines Hafenstädtchens hineingestellt, wir leben die wirt¬
schaftliche Not und die politischen kroato-italienischen Kämpfe
mit: am tiefsten aber packt uns der Kampf in Don Antonios
großer Seele — erschüttert und doch gehoben legen wir
daS Buch aus der Hand,_
fins Das deutsche Sprichwort. Bon
et°f«in Brunnen. K, Faustmann. Geb, 12 M,
Dieses Buch will Volkshochschule sein, in welcher Volk
zum Volke spricht, schuld u. Schule macht, Das Volkes
Stimme dringt jetzt machtvoller durch wie je, DaS Sprich¬
wort wird sie klar und rein und stark machen._
«»f.- t Ausgewählte deutsche ChristuS-
venr ^LM na<y! ^dichte aus allen Jahrh. Mit
einer literaturhistorischen Einleitung herausgegeben von
K. Jalubczyk. Geb. SS.lo M,
Das Buch hat die herrlichsten Blüten der JesuS-
lyrik aus acht Jahrhunderten, vom 12, bis zum Beginn
des 20,, gesammelt und damit eine Fülle verborgener
Schätze gehoben, aus denen Katholiken wie Protestanten,
Gelehrte und Ungelehrte, Freude, Belehrung und, was
zumal zumal in unsern Tagen so nottut, reichen religiösen
Trost schöpfen werden.Jahrbuch ^".55 NawrwMnschaftA
Unter Mitwirkung von Fachmännern heransg°it°°" M
or, I. P laß manu, »0, Jahrg, ist^^^^i,
Lb» Bildern auf SS Tafeln u, im Text. Geb, so »
„ . . , Man muß gestehen, daß es dem HeranA^,»
voll gelungen ist, ein Buch zustande zu bringen, ''^jiB
die verschiedenen Mitarbeiter mit einheitlichen
vertreten sind, die durchweg nicht allein das Jude^^. ,^r»
Verständnis jedes Gebildeten in Anspruch nehmen, I"> „x>>-
vielfach auch direkte Ratschläge für die Prai>»
mitteln . . . (Kölnische VolkSztg, 1SLV, Ur. S!i)^^^
t?in
in°. Sutziwacke!, ^ N^M^
Nach L. Bertclli deutsch bearbeitet vou Luise
Mit Buchschmuck von K. Ellcdcr. Geb, Is M- . ^
Eine entzückende Wanderung durch einen K.r°N.,^1
des Ä-nnderreichcS der Insetteiuvelt, In dem B»a, ^,
viel Moral, aber kein Moralisieren, viel seiner «
de^ auch dem Erwachsenen die Lektüre wurzr. ^j»,
finden darin Unterhaltung und Belehrung »'^„B
Erwachsene werden es mit Freude eve^
zur Hand nehmen. Der Bildschmuck rst dem Ins-»»
bürti'g.
Die Preise erhöhen sich um die im Buchhandel üblichen Zuschlage.
Herder L Lo. G. in. b. h. verlagsbuchhanSlung, Zretburg i. Sr. ^ Vurch alle SuchhonSI. zubezieh
SW
erteilen und oäer Snell, un6 wer
on 6en Vorgängen in 6er VolKsnirt-
»erste, nsmentllct» im Aktien-, Dank-
unä Körsenwesen interessiert ist.
virä grunälick informiert 6urcK 6en
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rvrltiscke ^eitsckritt tur Vollcsvirtscnsrt
uncl tur kinsnsvesen / riersus^egeben
von Qeorg Dernnsr^ / Der I>ioms
6es rierousgeders Kürgt für Unsb-
KSngigKeit von kinsnscliquen / k'reif
viertelMrlicti 20 >1srK. Verlongen
5le sotort l?rodenummer vom
STModerne
StaatsmMllMl
ihr Wortlaut und ihr Mesen
gemeinverständlich dargestellt von
Dr. Karl Zuchardt
Preis 4,25 geh^ K,50 gbd. !
sse. F. Koester, Derlag, !
Leipzig
harry Vosberg:
MEulechlegel
Komödie in vier Auszügen.
M. 5.— geheftet.
Diese prächtige Schöpfung
Vosbcrgs wurde seinerzeit von
hervorragenden deutschen Bühnen
mit großem Erfolg aufgeführt.
Fricdensherstellung:
gutes Papier, guter Druck!
K. F. Koester, Abteilung
Grenzboten, Leipzig u. Berlin.
MttKlll" Z
beginnt seinen 4. Jahrgang,
sür den dies Programm gilt:
wir wollen Sammlung der
geistig gerichteten Kräfte zum
Ziel der Durchsetzung ihres
Anspruches auf Anteil in den
Dingen der Öffentlichkeit,
durch Durchdringung der
machtpolitischen Kämpfe mit
geistiger Gesinnung. Von der
literarischen Produktion wird
das mit Sorgfalt ausgewählt
werden, was natürlich ge¬
wachsen und aus künstlerischer
Notwendigkeit geschaffen ist.
Einzelheft M. 4.50, viertel¬
jährlich (3 Hefte) M. Is.—
durch alle Buchhandlungen
zu beziehen und vomin
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Z Uttlslg „Der Nelke Merkur" Z
N München, Theresienstr. 12
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ÄDer Kronzeuge der Marne¬
schlacht 1914
AmeNloöerflIrAv.v.KWsm
Zrimerungm
an den MMstlW
Mit dem Bildnis des Verfassers, der.
schiedenen Karten und Gefechtsskizzen und
einer einleitenden historischen Studie von
ppiednck M. UrctMen
Preis M. 15. — Gebunden M. SV. —
Generaloberst von Hausen war zu
Beginn des Krieges Führer der
3. Armee, die dem Gegner an der
Marne solche kraftvolle Schläge ver>
setzte, daß Joffre und Fons jeden
Augenblick glaubten, das französische
Zentrum würde durchbrochen werden.
K. F. Koester, Verlag,
Leipzig
W ^ > VVPUP-Pi?»^,^im^,^^,^^,^,^,^^,^,^,^,^^^,^^^
Is
^ Deutsches fluslands-Inltitut Stuttgart
bezweckt: Erforschung des AuSlanddeutschtums, Aufrechterhaltung und
Vertiefung der Beziehungen zwischen den im Auslande lebenden
Deutschen und dem Heimatland, Förderung von Auslandkenntnissen.
Die Jnstitutszeitschrift
uslsn
»MM»«»SVWM<H»V>»?VVV>»^>IIM>M»^^
Halbmonatsschrift für Auslanddeutschtum und Auslandkunde mit eigenen Ausland¬
berichten, monatlich 64 Seiten, ist das bedeutendste Blatt für das Auslanddcutschtum
und für Export- undJm Portfirmen in allen Ländern z urAn¬
knüpfung vonIGeschäftsverbindungen vorzüglich geeignet.
Zeit Schriftenreihen kulturhistorischer und Staats- oder rcchtswissen-
schaftlicher Abhandlungen dienen der Förderung des AuSlanddeutschtums.
Die Auskunft- «ud Vermittlungsstelle unterstützt mit Rat und Tat alle Auslanddeutschen.
Die Ausmuudererverutungs stelle hilft mit Beratung,
Literaturnachweisen und Empfehlungen Auswanderungslustigen.
Die Stellenvermittlung schafft Auslanddeutschcn im
Inlands und Auslande Unterkommen und Beschäftigung.
ViblisthsZ. Sön««rgL- »»«d VsvsittLirvehive. Vild-, zti«blond« »»««d
Vsss««deo» Gsts->««?op«»« «,rd Gft«fie««»Hteil»»«g»«
Wem Deutschlands Weltgeltung am Herzen liegt, der erwerbe die Mitgliedschaft.
Geschäftsstelle: Stuttgart, Neues Schloß.
s^d^d»^ ^ 4 ? ^ ^ ^!^ü^ ^^»^>^»Kelu!t^K^ ^,^Mu<!l»se>M^»^w»l»^>
Einzelnummer SO Pf., vierteljährl. (b. b. Post) M. 6.—, Jahresbezug (b. Verlag) M. 80.—
Verlag: Berlin V 9, Schellingstraße 13, Fernspr.: Lützow 6196.
Das „Gewissen", dessen Leserkreis im „Ring" zusammengeschlossen ist, erscheint
wöchentlich und gibt dem politischen Einheitswillen der Jungen entschiedenen Aus¬
druck. Es wendet sich gegen Korruption, Parteihader und Klassenkampf und versieht
eine aktivistische Politik des nationalen Aufbaus auf korporativer Grundlage.
Aus dem Inhalt der Ur. 39:
Eupen-Malmedy. Von Werner Wirths. — Deutsch-Sttdtirol. Von Gilbert In der Maur.
Was ändert Brüssel? Von Dr. Eduard Stabeler. — DaS Ziel der englische» Arbeiter. Von
Dr. W. E. Peters. — Mauserung der Demokratie? Von Max Hildebert Bochen. — D-r
Bourgeois. Bon öl-. Paul Ernst.
sie deutsche Negierung hat sich der Tagespresse zufolge in Verband-
1 lungen mit der französischen hinsichtlich der finanziellen Bedingungen
des Friedensvertrages begeben. Sie hofft außerdem auf das
Zustandekommen der in Spa in Aussicht gestellten Konferenz
I über dieselbe Frage mit den Vertretern aller feindlichen Re¬
gierungen. In diesem Zusammenhang ist in der deutschen Presse eine Fülle von
Auslassungen erschienen, um der Welt und besonders unseren Feinden den Nachweis
zu bringen, daß der Versa'iter Frieden unausführbar sei, und Deutschlands
Wirtschaft durch ihn zum Stillstand käme. Nach ähnlicher Methode versuchten
wir auch während des Kneges den Nachweis zu erbringen, daß wir den Ausbruch
desselben weder erstrebt noch veranlaßt hätten, daß wir uns nur verteidigen
wollten und daher keine Verbrecher wären. Wir übersahen, daß die Leitung unserer
Feinde das alles auch ebemo, wenn nicht noch besser wußte als wir selbst, und
sie uns nur deshalb nicht glauben wollten, weil das ihren eigenen Absichten nicht
günstig schien. Ebensowenig werden uns jetzt irgendwelche Appelle an höhere
Überlegung oder an die Großmut unserer Feinde E> leichterung der Fronbedingungen
bringen, welche die derzeitigen MachthaberDeutschlands grundsätzlich anerkannt haben.
Die Entscheidung der kommenden Monate ist vielmehr lediglich darauf ein¬
gestellt, ob unsere Feinde, deren Wesen in dem Dioskurenpaar Clemenceau und
Lloyd George personifiziert ist, den größeren Vorteil in der völligen Vernichtung
Deutschlands und des Deutschtums sehen, oder ob sie ein etwas gemäßigteres
Sklaventum des deutschen Volkes für angenehmer und materiell lohnender halten.
Bloße Deklamationen werden uns sicher nicht helfen, sie schaden vielmehr. Tat¬
sächlich ist die Methode, die mit der Erklärung unseres Unrechts an Belgien
begann, in der Juli-Resolution 1917 den Verlust des Krieges nach sich zog und
im Herbst 1918 ins Groteske gesteigert wurde, die Hauptursache der verzweifelten
Lage, in der wir uns heute befinden. Diese Geistesrichtung, welcher leider auch
ein erheblicher Teil unserer Intelligenz folgt, hat den Sieg der Revolution erst
ermöglicht und als Folge dieses Verbrechens an unserem Volk die Notwendigkeit
geschaffen, daß wir jetzt alle beliebigen, auch noch so schweren Bedingungen der
Feinde hinnehmen müssen. Vermeidbar dagegen ist auch heute noch, daß wir die
Zerstückelung Deutschlands gewissermaßen als ein Recht unserer Feinde anerkennen/
vermeidbar ist vor allem die Würdelosigkeit, mit der unsere Machthaber in den
ersten anderthalb Jahren ihrer Herrschaft verfahren haben, eine Art des
Benehmens und Auftretens, welche sich auch aus einen erheblichen Teil unserer
Presse übertragen hat. Man lese die Berichte deutscher Reporter aus London
und Paris, man schaue, mit welcher Beflissenheit, ja fast Behagen, ein Zusammen¬
treffen Llohd Georges mit Millerand oder eine Parlamentseröffnung des
sogenannten Freistaates Danzig in deutschen illustrierten Zeitungen dargestellt
wird, ohne daß ein größeres Publikum sich dagegen auflehnt. Man beobachte,
wie auf der Frankfurter Messe die Flaggen unserer Feinde, selbst solcher, mit
denen wir heute noch formell im Kriegszustand leben, von den Veranstaltern
dieser Messe reihenweise aufgepflanzt werden. Nicht nur nationales Anstands-
gefühl, sondern auch der Verstand müßte solchen Lakaienseelen sagen, daß Schweif¬
wedeln nicht nur keinen ausländischen Geschäftsmann nach Frankfurt herbeilockt,
sondern daß die, welche ohnehin kommen, mit ihrem stärkeren nationalenTaktgefühl. sich
durch einen derartigen Übereifer eher abgestoßen fühlen müssen, wie das in der aus¬
ländischen Presse fast täglich zu lesen ist. Es sollte doch auch von Menschen, die
rein materialistisch denken, eingesehen werden, daß Würde und Haltung zu den
Wenigen Mitteln gehören, die wir noch haben, um unsere Lebensmöglichkeiten
vielleicht etwas zu erleichtern. Ist es wirklich so schwer zu begreifen, daß die
Verachtung, welche das Benehmen unserer „Demokratie" in der ganzen Welt er¬
zeugt hat, unseren Feinden erst die zynische Grausamkeit ermöglicht hat,
mit der sie uns behandeln? Nie hätte Wilson an der Auferlegung
solcher Waffenstillstandsbedingungen sich beteiligen können, nie wäre ein so wahn¬
sinniges Friedenstraktat wie das von Versailles zustandegekommen, wenn wir
uns national zusammengefaßt und den Gegnern zu fühlen gegeben hätten, daß es
auch bei unserem besiegten Volke Grenzen der Demütigung gäbe. Erst weil sie
das Gegenteil wahrnahmen, ist es ihnen möglich geworden, auch die edleren
Schichten der feindlichen Völker zu überzeugen, daß uns gegenüber Schonung oder
gar Milde unangebracht oder gar unnötig sei. Nur aus diesem Grunde konnte
Lloyd George den deutschen Reichskanzler in Spa wie einen Schuhputzer
anschnauzen. Um recht zu fühlen, was das heißt, rufe man sich in Erinnerung die
ritterlicheArt,mitwelcher 1870 unser alterKaiser dem gefangenen Empereurgegenüber-
trat und wie damals auf Kosten der Belagerungsarbeiten, also unter erheblicher Be¬
nachteiligung unserer Kriegführung viele Tausende Güterwagen mit Lebensmitteln
bereitgestellt wurden, um das hungernde Paris sofort nach Eintreten der Kapi¬
tulation zu versorgen. 1918 aber wurde die Hungerblockade von England auch
nach erfolgter völliger Wehrlosmachung Deutschlands fortgesetzt, ein Akt barbarischer
Grausamkeit, der Hundertausende deutsche Kinder und Schwache hinwegraffte und
in seiner Ungeheuerlichkeit seinesgleichen in der Weltgeschichte nicht ausweist. Der
Henker und Mörder konnte auf diese Weise viele Monate lang sich an dem Hin¬
sterben seiner Opfer delektieren.
Glaubt man, daß es bei Hannibal Achtung und Schonung erzeugt haben
wiirde, wenn sich seinerzeit die römische Demokratie im Gegensatz zum Senat an
ihn herangeworfen hätte? Einem solchen Volk gegenüber braucht das Wort
nicht gehalten zu werden. Das Versprechen der 14 Punkte Wilsons hatte im
November 1918 vielmehr seine Schuldigkeit getan.
Wie kann aber nach so furchtbaren Erfahrungen ein Deutscher glauben,
daß die Denkweise unserer Feinde sich seitdem geändert hätte? England und
Frankreich haben seit 1904 auf den Krieg ja gerade deshalb hingearbeitet, um
die wirtschaftliche Blüte und die politische Kraft unseres Volkes zu vernichten.
Weshalb sollten sie jetzt, um im Laufe langer Jahre Milliarden von uns zu
bekommen, eifrig dabei sein, uns wieder emporzuhelfen? Das Emporsteigen
des deutschen Volkes kann nur aus seiner eigenen Willenskraft heraus erfolgen,
seien die augenblicklichen Verhältnisse auch noch so furchtbar und schwer. Wenn
bei den Feinden der Wille besteht, die Vernichtung unseres Volkes fortzusetzen,
so werden wir weder mit Selbftbezichtigung noch mit Darlegungen, noch mit
Liebedienerei daran etwas ändern. Sollten die wahnwitzigen Friedensbedingungen
bestehen bleiben und wegen ihrer Unerfüllbarkeit auch noch weitere Teile Deutsch¬
lands besetzt werden, so wird trotz alledem für die Zukunft sichtbar die Frage
offenbleiben, ob 80 Millionen Deutsche an Rhein und Weichsel, Nordsee und
Donau wirklich auf die Dauer in Sklavenketten gehalten werden können. Ich
Persönlich will an der Hoffnung festhalten, daß unserem Volk einmal die Binde
von den Augen fallen und sowohl der utopische Wahnsinn als die Partei-egoistische
Niedertracht, welche uns zum Abgrund führten, einst von allen Deutschen abgelehnt
werden. Von diesem Augenblick an wird aufhören die unnatürliche Zerrissenheit
unseres Volkes in Teile, die sich nicht mehr verstehen, von denen jeder eine andere
Sprache spricht. Ist dann die nationale Einheitsfront und die deutsche Arbeits¬
gemeinschaft wiederhergestellt, so werden die Sklavenketten, mit denen das
deutsche Volk vom internationalen Kapitalismus und von Räubern jetzt gefesselt
wird, zerbrechen wie Glas, und eine spätere Generation wird die Mission Deutsch¬
lands erfüllen, deren die jetzige nicht würdig war. Ich selbst rechne nicht darauf,
den Aufgang der Sonne am deutschen Horizont noch zu erleben, vielleicht wird
die ganze jetzige Generation ihn nicht mehr sehen. Was wir aber jetzt leisten
können und müssen, auch bei dem Schlimmsten, das wir von unseren Feinden noch
zu erwarten haben, und was, weil unvergänglich, höher zu bewerten ist als aller
Materieller Schaden, der uns treffen kann, das ist das Wiederfinden unserer
Würde in äußerster Not. Daran allein werden kommende Geschlechter sich auf¬
richten und den Fluch lösen können, den unsere heutige Generation sich zugezogen
hat. Dann wird das ewig wahre, heute nicht mehr verstandene Wort unseres
großen volkstümlichen Dichters wieder Geltung finden:
„nichtswürdig ist die Nation, die nicht ihr Alles setzt an ihre Ehre."
HLtin führender Finanzmann schreibt uns: Die Engländer beginnen
zu bemerken, daß die deutsche Geschäftswelt keine sonderliche Eile
verspürt, wieder Guthaben in England anzulegen, und deshalb
hat der englische Botschafter in Berlin es für nötig befunden,
uns amtlich zu versichern, daß die Guthaben und Forderungen,
die wir nach Friedensschluß in England bilden, der Zurückbehaltung oder
Liquidation nach Artikel 297 des Versailler Friedens nicht ausgesetzt seien. Wir
verstehen, daß den Engländern einigermaßen daran liegt, ihre Stellung als
Bankier der Welt wiederzugewinnen. Ihr früher bester Kunde, Deutschland, ist
zwar durch sie selbst halb tot geschlagen, aber da bei der mühsamen Vernichtung
Deutschlands der lachende Dritte, Amerika, einen guten Teil der früheren eng¬
lischen Kraft an sich gezogen hat, so wäre es der City doch recht erwünscht, wenn
die Reste des deutschen Auslandsgeschäfts sich wie früher ihren Umschlagsplatz in
London wählten.
Ich glaube aber nicht, daß diesen Lockungen irgendein deutscher Geschäfts¬
mann folgen wird, denn diese Äußerung der englischen Botschaft ist nichts als
eine Pfiffige Falle! Besteht doch nach Z 18 der Anlage II hinter Artikel 24S
des Friedensvertrags, einer sogenannten Repressalienklausel, kein Zweifel darüber,
daß auch die nach dem Friedensvertrag in England erwachsenden deutschen Gut¬
haben vollständig vogelfrei sind. Da man an der deutschen Zahlungsfähigkeit
zweifelt, so sollen eben auch die neu entstehenden Guthaben als Sicherheit für
die englischen Forderungen dienen. So entstand der in der Geschichte aller
Friedensschlüsse beispiellose Kautschukparagraph, der über allen deutschen Ver¬
mögen bis auf weiteres in den Ländern der Sieger das Damoklesschwert aushängt.
Jedoch nicht aller Sieger! Die Amerikaner denken gar nicht daran, die
kleinliche und rohe Verfolgungsmethode der Engländer nachzuahmen. Amerika ist
aus diesem Grund wie aus verschiedenen anderen das Land, in dem der deutsche
Kaufmann gegenwärtig und vielleicht noch auf lange Zeit hinaus den ausländischen
Fußpunkt findet, den er früher in London zu suchen gewöhnt war. Der
geistige Zustand, welcher hier zwischen den -englischen und amerikanischen Methoden
klafft, möge hier an dem Beispiel des sogenannten „kleinen Eigentums" ver¬
deutlicht werden.'
Die Note Clemenceaus vom 22. August 1919 über das sogenannte „kleine
Eigentum" und die späteren Beschlüsse des Botschafterrates geben die Besitztümer
der Deutschen in den feindlichen Ländern frei, soweit sie wirtschaftlich unter den
Gesichtspunkt „Minima non curat pi-actor" fallen. Insbesondere die Engländer
haben immer aufs neue versichert, sie würden sich großzügig verhalten, das
Privateigentum wäre ihnen vor wie während des Krieges heilig gewesen, und sie
dächten nicht daran, die kleinen Leute, um deren Besitz es sich hierbei handelte, zu
berauben. Als gute Deutsche haben wir das den biederen Engländern um so
lieber geglaubt, als dieses reiche und stolze Volk ja Wohl einigen Anlaß hatte,
dem verhungerten deutschen Vetter gegenüber das Wort „Noblesse obliZe" nicht
ganz zu vergessen. Indes, wie steht es in Wirklichkeit? Kleinlicher konnte sich
auch Montenegro oder Uruguay kaum gegenüber dem gestürzten Deutschland
verhalten. Ja noch mehr, gerade die armen Tschecho-Slowaken beschämen das
große England, indem sie freiwillig auf die sich aus dem Z 297b des Friedens¬
vertrages erfließenden Liquidationsrechte verzichten. Was nun das „kleine Eigen¬
tum" betrifft, so wollen die Engländer nach den neuesten Mitteilungen das deutsche
Privateigentum nur bis zum Höchstbetrag von 500 Pfund Sterling freigeben,
und sie belasten es mit Hunderten von Pfund für Verwaltung, Fracht usw. Ein
armer Deutscher, der vor dem Krieg in England sein Dasein (doch wesentlich
auch zum Nutzen Englands selbst) gefristet und heute alles verloren hat, darf sich
seine Möbel bis zu 600 Pfund herüberkommen lassen, wenn er — etwa 300 Pfund
für Lasten bezahlt! Das nennt man Großmut des Siegers! Die Engländer
wissen ganz gut, daß die „kleinen Leute", um die es sich hierbei handelt, diese
300 Pfund gar nicht aufbringen können. Wir sind ja bettelarm! Aber auch die
Engländer scheinen doch nicht mehr so wohlhabend zu sein, wie man nach ihren
sonstigen Reden annehmen sollte. Sonst wäre es doch kaum denkbar, daß sie
sich dermaßen schofel verhielten und den Hausrat der kleinen Leute im Sinn eines
galizischen Krämers aus Whitechapel nur mit Feilschen und Wuchern heraus¬
geben wollen.
Diese „Arme-Leute-Poesie" der englischen Negierung, deren sich wohl mancher
englische Liberale selber schämen dürfte, ist aber nur ein malerischer Nebenpunkt
im Vergleich zu der Frage: Wird England den deutschen Wertpapierbesitz, der
in England ruht, freigeben?
Daß die Amerikaner ihn freigeben, ist heute so gut wie sicher. Die Demokraten
haben in dieser Hinsicht mancherlei bedenkliche Mißgriffe ihrerBeamten in Vergessenheit
zu bringen. Die Republikaner sind aus einer großzügigen Auffassung der amerikani¬
schen Weltmission heraus selbstverständlich dafür, das deutsche Eigentum nicht ein¬
zubehalten. In Amerika wird der deutsche Besitz also nicht liquidiert. Infolge¬
dessen gewinnt die Welt, natürlich nicht nur Deutschland allein, zu Amerika das
Zutrauen, daß es auch in künftigen Weltkrisen ein zuverlässiger Treuhänder für
Privateigentum sein wird. Amerika ist der künftige Bankier der Welt. Es ist
schon heute ohne allen Vergleich das reichste Land der Erde. Daß der Dollar
besser ist als das Pfund Sterling, diese Kenntnis hat sich in einem Zeitalter,
wo die Börsengeschäfte zum allgemeinen Gesellschaftsspiel geworden sind, aus den
Kreisen der Devisenhändler heraus verbreitet und im Gehirn so ziemlich jedes
Zeitmigslesers festgesetzt. Die Engländer müßten eigentlich alles tun, um die
erschütterten Aussichten Londons auf dem Weltfinanzmarkt durch erhöhte Zuver¬
lässigkeit wiederherzustellen. Jetzt rufen die englischen Banken nach Deutschland
hinüber: Weshalb schicken Sie uns keine Depots? Darauf antworten wir: Weil
uns die Bank von England nicht mehr sicher ist. Der Zentralverband des deut¬
schen Bankgewerbes hat schon eine entsprechende Warnung ergehen lassen. Bevor
England nicht auf H 18 der Anlage II hinter Artikel 245 verzichtet hat, wird
überhaupt kein deutsches Geld sich mehr dem englischen Nachen anvertrauen.
Aber auch ganz abgesehen hiervon: Falls die Engländer das ihnen vor
dem Krieg in Verwahrung gegebene deutsche Privateigentum jetzt wirklich liqui¬
dieren, wozu sie formal zweifellos im Recht sind, wird sich auch außerhalb
Deutschlands der Ausländer zweimal überlegen, ob er nach den Erfahrungen,
welche in diesem Kriege die Gegner Englands gemacht haben, sein Privateigentum
nach England legen will statt nach Amerika, wo die finanziellen Aussichten ohnehin
bessere sind. England kann einen geschlagenen Gegner weiter mit Zwangsgewalt
drangsalieren, das steht ihm völlig frei. Aber was es nicht vermag, ist, die Reste
freier Willensbestimmung, die in Deutschland heute noch bei den Privatleuten
vorhanden sind, und die künftige Willensfreiheit sämtlicher privater Eigentümer
des nicht englischen Erdballs zu verleiten, sich in der Höhle des Löwen schlafen
zu legen. Wird der deutsche Wertpapierbesitz nach Artikel 297 b des Friedens¬
vertrags von den Engländern liquidiert, so können wir dagegen nichts machen.
Aber auch der Engländer kann nichts dagegen machen, daß er zu gleicher Zeit
einen großen Teil seines Weltkredits liquidiert.
Die These der Engländer lautet: Uns ist das Privateigentum heilig, außer
wo nationale Notwendigkeiten die Nationalisierung des Privateigentms fordern.
Es muß sich in den nächsten Monaten zeigen, in welchem Umfang die
nationalen Notwendigkeiten Englands dazu führen, den Wiederaufbau der
europäischen Solidarität gegenüber Amerika durch die Zerstörung seines eigenen
Bankierkredits zu verhindern. Ist es mit England schon so weit gekommen, daß
es entgegen dem kaufmännischen Gewissen seiner Bürger die alten Depots seiner
deutschen Kunden raubt u^d die Petroleumlampen der ehemaligen deutschen Kellner in
London nur mit ungeheuerlichen Spesen belastet herausgeben kann, dann wird
eben das Übergewicht Amerikas sich um so rascher vollziehen, und kein Mensch
kann heute sagen, ob das zum Nutzen oder zum Schaden der nicht englischen
Völker Europas ist. Daß es nicht zum Nutzen Englands ist, kann man wohl mit
Bestimmtheit behaupten.
Die oben ausgesprochene Vermutung, daß sich in England selbst mancher
der Schäbigkeit seiner Regierung schämen dürfte, hat sich rasch erfüllt. Die
„Westminster Gazette" vom 1. Oktober bringt einen offenen Brief an den Heraus¬
geber, überschrieben „Ein Schrei nach Gerechtigkeit". Der Versasser führt aus,
daß es im höchsten Grade „unfair" sein würde, die kleinen Leute, die ihr Leben
in England zugebracht hätten, im Vertrauen darauf, in einem anständigen und
gerechten, Land zu leben, zu plündern. Diese Leute wären schon durch die
Internierung und die sonstigen Nachteile, als Feinde behandelt zu werden, aufs
äußerste drangsaliert. Die moralische Einbuße, die sich England durch eine
weitere Verfolgung zuzöge, stände in keinem Verhältnis zu dem etwaigen
materiellen Borten. Man solle aber nicht sagen, diese Leute würden durch die
deutsche Regierung entschädigt werden, denn eine wirkliche Entschädigung wäre bei
der Entwertung der deutschen Mark ja gar nicht denkbar. Bezeichnend für den
Terror eines engherzigen Chauvinistentums in England ist es, daß der Einsender
dieses offenen Briefes nicht wagt, mit vollem Namen zu unterzeichnen. Am Ende
ist es Mr. Asquith selbst, dem als Vertreter der altliberalen englischen Welt¬
anschauung ja schon manches auf die Nerven gefallen ist, was die Knockoutmänner
zur Erschütterung deS kaufmännischen Ansehens Englands geleistet haben.
innen kurzem jährt sich zum zweitenmal der Tag, an dem die
deutsche Reichsleitung sich bereit erklärte, auf Wilsons Friedens-
grundlagen, wie sie am 8. Januar 1918 in den 14 Punkten kund¬
gegeben waren, einzugehen. Seit mehr als Jahresfrist sind wir
im Friedensstand mit der ganzen Welt, nur nicht mit den Ver¬
einigten Staaten. Der Friedensbringer sein wollte und bei Freund und Feind
als solcher angesehen wurde, hat ihn dem eigenen Volke noch nicht zu geben
vermocht. Das berechtigt, das verpflichtet, noch einmal zu prüfen, wie dieser
Mann überhaupt zur Friedensfrage stand.
Der durch seine Stellung zum Urteil Nächstberufene, Deutschlands Bevoll¬
mächtigter in den Vereinigten Staaten, hat bis heute die Ansicht vertreten,
daß Wilson ehrlich, als Unparteiischer, habe vermitteln wollen und erst durch
den Übergang zum rücksichtslosen D-Bootkrieg bewogen worden sei, in den
Krieg einzutreten. In Amerika war das die allein herrschende Auffassung
während des Krieges; sie ist es heute nicht mehr. Allzu deutlich redet das Ge¬
ständnis, zu dem der Präsident sich auf die Anfrage des Senators McCumber
vor versammeltem Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten gedrängt fühlte,
daß Amerika am Kriege teilgenommen haben würde, auch wenn Deutschland
keinerlei Feindseligkeit oder Unrecht gegen amerikanische Bürger begangen haben
würde (xvs woulä tiav«z czutersci elle war över it (-erman^ daä eoiumittoci ne>
avr ot' var c>r no act ot injustice aZawst citiWus).
In den Verhandlungen unseres parlamentarischen Untersuchungsaus¬
schusses hat der damalige Reichsminister Dr. David.sich bemüßigt gesehen, mit
großem Aufgebot von Beredsamkeit und Entrüstung darzulegen, daß unsere
Regierung soundso oft gehandelt habe, ohne daß „das deutsche Volk irgend etwas
darum wußte". Es gehört eine politische Beschränktheit dazu, wie sie ein Ka¬
binettsmitglied, ohne sich unsterblich lächerlich zu machen, doch wohl nur im
deutschen Volke aufbringen kann, zu glauben, daß auswärtige Angelegenheiten
ohne eine weitgehende Geheimhaltung mit Erfolg geleitet werden können,
zumal in kritischen Zeiten. Selbst in Sowjetrußland verkündet man wohl solche
Grundsätze, hütet sich aber sehr, sie anzuwenden. In Amerika denkt man nicht
daran. Insbesondere hat Wilson seine entscheidenden politischen Schritte mit
einem schier undurchdringlichen Schleier zu umgeben verstanden, den er nur
für nächste Vertraute gelegentlich lüftete. In der Veröffentlichung des vs-
psrtmsM ok State kurz vor Amerikas Eintritt in den Krieg waren mit Billigung
oder wenigstens' Zuladung Wilsons wichtige Aktenstücke weggelassen worden.
Im Senat darüber zur Rede gestellt, entgegnete Lansing: „Wir können es uns
am Vorabend unseres Eintritts in diesen schrecklichen Krieg nicht leisten, alle
Welt wissen zu lassen, daß wir von einer Blase von Lügnern regiert werden:
^6 esnnot attorcl on tue co«z ol' sMerinZ tuis terrikie v/ar, to let aU ttiiz vvorlä
Kuoxv, trat of srs rulecl dz? a durou ot liars. Der onairimm teilte nicht Herrn
Davids Meinung. Er erklärte, es handle sich um die einfache Frage, ob Krieg
oder nicht, und da könne man al stimmen witnoM nsvinZ eng laves or vallinA
lor tus laces.
Nach und nach erfahren Einzelheiten eine grelle Beleuchtung. Noch im
Jahre 1914 haben der von Roosevelt, der von Taft, der von Wilson in Paris
bestellte Vertreter — Bacon, Myron Herrick, Sharp — die französische Regie¬
rung, die sich mitFriedensgedanken trug, ermahnt, auszuharren; Amerika werde
helfen, sobald nur die Stimmung genügend voibereitet sei; jetzt seien wohl nur
50 000 Amerikaner für den Krieg; es werden aber bald 100 Millionen sein.
Eine mächtige Agitation hatte eingesetzt; „Gold floß wie Wasser." Zu Anfang
des nächsten Jahres erklärte Lberst House, der politische Vertraute Wilsons
während des ganzen Kriegs, der sich auch um seine Präsidentschaft die größten
Verdienste erworben hatte, dem bekannten französischen Publizisten Josef
Reinach, Wilson sei durchaus überzeugt von dem Recht der Entente, und es sei
sein Grundsatz, nach feinen Überzeugungen zu handeln; er habe aber auch den
Ehrgeiz, nur in Übereinstimmung mit der Mehrheit seiner Mitbürger zu handeln;
daher werde er erst später eingreifen. Es ist oft darauf hingewiesen worden,
daß Wilson schon seiner Abkunft nach eine andere Stellung kaum habe ein¬
nehmen können. Seine Mutter war eine Engländerin (ihr Familienname
Woodrow gilt bei uns allgemein als Wilsons Vorname), er selbst durchaus eng¬
lischer Abstammung. Von Europa kannte er nur England; dorthin unterhielt er
lebhafte Verbindungen, brachte dort seine Erholungszeiten zu. Man hat von
ihm gesagt: „Er arbeitete in Amerika und lebte in England"; eine englische
Zeitung hat ihn den „besten lebenden Engländer" genannt und ihm mit diesem
Lobe kein Unrecht getan.
Es bedarf aber dieser Zeugnisse nicht einmal, um zu belegen, daß Wilson
entschlossen war, einen deutschen Sieg nicht zu dulden, nötigenfalls einen Frieden,
wie erihm paßte, zu erzwingen. Es ergibt sich das mit unverkennbarer Deutlich¬
keit aus seinen amtlichen Äußerungen, wie sie in öffentlichen Erklärungen und
Ansprachen vorliegen.
Schon in der Botschaft an die beiden Häuser des Kongresses vom 8. De¬
zember 1914, also aus derselben Zeit, in der Amerikas Vertreter in Paris die
Hilfe der Union in Aussicht stellten, tritt klar zutage, daß Wilson an Mitwirkung
bei den Friedensverhandlungen dachte: „Wir sind die Vorkämpfer des Friedens
und der Einigkeit unter den Völkern, und auf diese Auszeichnung, die wir zu
verdienen getrachtet haben, sollten wir sehr eifersüchtig sein. Gerade jetzt sollten
wir besonders eifersüchtig auf sie acht geben, weil es unsere liebste
Hoffnung ist, daß uns dieser Charakter und Ruf, so
Gott will, bald eine Gelegenheit geben wird, wie sie
selten einem Volke zuteil wurde, denFrieden in der
Welt und eine Versöhnung und Gesundung vieler
Elemente zu beraten und zu bewerkstelligen, die die
Freundschaft unter den Nationen abgekühl.t und
unterbrochen haben."
Kann der Wunsch, sich einzumischen, von einem Staatsmann deutlicher
ausgesprochen werden, ohne eine Dummheit zu begehen? Allerdings Wilson
verschanzt ihn hinter Amerikas „Charakter und Ruf". Er weiß beide bei dieser
Gelegenheit und bei hundert anderen seinen Landsleuten in einschmeichelndster,
wirkungsvollster, ihrer Denkweise durchaus angepaßter Form zum Bewußtsein
zu bringen: „Wir sind auf keinen Wettbewerb im Handel und ebensowenig auf
irgend eine andere friedliche Errungenschaft eifersüchtig. Wir wollen unser
eigenes Leben nach unserem Willen leben; wir wollen, aber auch andere leben
lassen. Wir sind die aufrichtigen Freunde aller Völker der Welt, weil wir nie¬
manden bedrohen, niemandes Besitz begehren und niemanden vernichten wollen.
Unsere Freundschaft kann ohne Vorbehalt angenommen werden und wird es
auch, weil sie in einem Geist und zu einem Zweck angeboten wird, die niemand
anzuzweifeln oder zu verdächtigen braucht. Darin liegt unsere Größe." Man
könnte jeden dieser Sätze durch sein genaues Gegenteil ersetzen und würde so
ziemlich das Richtige treffen. In Wahrheit hat es kaum einen großen Staat
gegeben, der rücksichtsloser und nachdrücklicher den eigenen Nutzen zur Richt¬
schnur seines Handelns nahm und der rascher und erfolgreicher seine Macht
mehrte als die Vereinigten Staaten. In diesem Urteil liegt entfernt kein Tadel;
es handelt sich um die Natur der Staaten, der sie folgen müssen. Wer aber
solche und ähnliche Auseinandersetzungen, wie sie Wilson immer und immer
wieder in schier unerschöpflicher Wandlung zur Hand hat, irgendwie als Leit¬
sätze des Handelns gelten läßt, der verfügt über die völlige Bewußtlosigkeit
politischen Denkens, wie sie einem großen, ja weit überwiegenden Teile unseres
Volkes aus allen Lebensstellungen leider eigen ist. Wilson wußte, wie es allein
möglich war, sein Volk in die Bahn zu lenken, die er einzuschlagen wünschte, und
handelte nach dieser Erkenntnis. Verstand er doch das Instrument der öffent¬
lichen Meinung seines Landes meisterhaft zu spielen. Damit soll natürlich in
keiner Weise bestritten werden, daß das amerikanische Volk ehrlich der Meinung
war, von solchen Gesinnungen erfüllt zu sein und ihnen entsprechend zu handeln.
War doch sicher auch die Mehrzahl der Engländer und Franzosen überzeugt, für
Freiheit und Wohlfahrt der Menschheit zu kämpfen. Der Fehler steckt nur in
der Vorstellung, daß diese Völker in ihrer erdrückenden Mehrzahl in politischen
Fragen anders als streng national überhaupt denken können.
Vier Monate nach dieser Botschaft, am 20. April 1915, hat Wilson in
Neuyork zur Jahresversammlung der ^.ssoeiateck ?r«zss, der größten Nach¬
richtenagentur der Vereinigten Staaten und der Welt, geredet. Er spricht wieder
von seinem Volke als der einzigen großen Nation, die am Kriege noch nicht
beteiligt sei: „Unsere Atmosphäre ist noch nicht mit jenen störenden Elementen
geladen, die jede Nation Europas durchdringen müssen. Ist es deshalb
nicht wahrscheinlich, daß sich die Völker der Welt eines
Tages an uns um eine kühlere Einschätzung der be¬
teiligten Elemente wenden werden? Ich habe dabei nicht
etwa den unmöglichen Gedanken, daß wir über sie zu Gericht sitzen sollten —
keine Nation ist geschaff n, über eine andere zu Gericht zu sitzen —, i es denke
daran, daß wir eines Tages berufen sein werden,
beim Wiederaufbau des Friedens mitzuhelfen. Unsere
Hilfsquellen sind unangetastet; wir werden durch
die Gewalt der Verhältnisse mehr und mehr zum
Mittler der Weltfinanzen. Wir müssen zu einem Ent-
Schluß darüber kommen, was wir zu tun haben, und
wie wir es tun müssen. Und dann müssen wir unser
Geld und unsere Energie, unsere Begeisterung und
unser ganzes Fühlen daran wenden und Herz und
Sinn für jenen Tag läutern und bereiten."
Man sieht, wie der Mann auf der betretenen Bahn schon eine Strecke
weit gekommen ist. Er mahnt schon, der Mittel eingedenk zu sein, die erforderlich
sein werden, der Teilnahme an Friedensverhandlungen das rechte Gewicht zu
geben. Er weiß die Pille auch so zu verzuckern, daß sie genommen wird. Handelt
es sich doch um Menschenpflicht,, beileibe nicht um irgendwelchen Vorteil:
„Lassen Sie uns an Amerika denken, bevor wir an Europa denken, damit Amerika
dazu taugt, Europas Freund zu sein, wenn der Tag der Probe auf die Freund¬
schaft kommt. Die Probe für die Freundschaft wird jetzt nicht durch Vorliebe
für die eine oder die andere Seite erbracht, sondern dadurch, daß wir uns bereit
halten, beiden Seiten zu helfen, wenn der Kampf vorbei ist. Das Wesen der
Neutralität ist nicht Gleichgültigkeit und auch nicht Eigennutz. Das Wesen
der Neutralität ist Liebe zur Menschheit. Es ist im Grunde
Aufrichtigkeit und Wohlwollen, Unpartsilichkeit des Geistes und des Urteils.
Ich wünschte, alle unsere Mitbürger wären sich dessen bewußt." Kann man ein¬
schmeichelnder darlegen, daß es eine sittliche Pflicht ist, die Opfer zu bringen,
die zur Sicherung einer erfolgreichen Friedensvermittlung nötig sein werden?
Die Worte sind aber nur eine Einleitung zu Darlegungen über die Zu¬
sammensetzung des amerikanischen Volkes, die für seine Stoßkraft nach außen
in Frage kommt: „Wir sind die Mittlernation der Welt. Ich meine damit nicht
etwa, daß wir uns in Dinge mischen wollen, die uns nichts angehen, und ver¬
mitteln wollen, wo andere Völker miteinander streiten. Ich nehme das Wort
in einem weiteren Sinne. Wir sind aus den Völkern der Welt zusammengesetzt."
Er eröffnet damit den Feldzug gegen die I^plisiiÄtsä ^merieans, die „Bindestrich-
Amerikaner", die Amerikaner deutscher und irischer Abkunft, den er dann mit
steigender Leidenschaftlichkeit geführt hat, und der zu so ruchlosen Gewalttätig¬
keiten gegen wirkliche oder angebliche Prodeutsche Anlaß gab. An der Spitze
der Nation, die ihre Politik seit ihrem Entstehen ausschließlich und allein durch
den eigenen Vorteil hat bestimmen lassen, wagt er es, „Liebe zur Menschheit"
als Beweggrund ihres Handelns zu verkünden. Als Leiter eines Staates, der
auf Grund der willkürlich erweiterten Monroedoktrin die Vormundschaft über
ganz Amerika beansprucht, wagt er zu erklären, daß keine Nation geschaffen sei,
über die andere Gericht zu sitzen. Er hat die Dreistigkeit, zu behaupten, daß
Amerika „keinen störenden Ehrgeiz als Weltmacht besitzt". Es habe zwar Land
in Besitz genommen, aber es stets „für Pflicht gehalten, das betreffende Gebiet
nicht für fich, sondern für das in ihm lebende Volk zu verwalten, habe stets sein
Gewissen mit der Bürde belastet, nicht zu glauben, daß die Sache seinem Gebrauch
gehöre, sondern sich als Treuhänder derjenigen zu betrachten, denen sie wirklich
gehört, mit der Absicht, es jederzeit, wenn das Geschäft das e r¬
laubt, dem Eigentümer zu übergeben!" Wilson wußte genau, was er seinen
Hörern bieten konnte, wie er sie zu nehmen hatte. Es ist aber kein Wunder, daß
jetzt, nun seine Rolle ausgespielt ist, „Wilsonisln", bei seinen Landsleuten gleich-
bedeutend ist mit Irreführung, Verstellung, Heuchelei, überhaupt mit jedem
Gebrauch der Sprache, der betrügerischer Täuschung dient.
Am 11. Oktober 1915 sprach Wilson in Washington zu den „Töchtern der
amerikanischen Revolution". Das war ein besonderer Anlaß, noch einmal die
Reinheit seines Wollens in eindrucks- und schwungvollen Worten zu betonen:
„Wir streben nicht bloß danach, Schwierigkeiten fernzubleiben; wir sind vielmehr
bestrebt, die Grundmauern zu erhalten, auf denen der Friede wieder aufgebaut
werden kann. Der Friede kann nur auf den alten anerkannten Grundlagen des
Völkerrechts wieder aufgebaut werden, nur auf den Dingen, die die Staaten
wieder an ihre gegenseitigen Pflichten und—was tiefer geht— an ihre Pflichten
gegen die Menschheit erinnern. Amerika vertritt eine große Sache, die sich nicht
auf den amerikanischen Erdteil beschränkt; es ist die Sache der Menschheit selbst.
Das einzige, dem die Welt auf die Dauer nicht widerstehen kann, ist die sittliche
Kraft großer, siegreicher Überzeugungen." Wie hätten die „Töchter der amerika¬
nischen Revolution" nach solchen Worten nicht freudig bereit sein sollen, die
„Schwierigkeiten" auf sich zu nehmen, die das Eintreten für einen Menschheits¬
frieden mit sich bringen konnte. Soweit sie nicht völlig in Gefühlen aufgingen,
waren sie auch deutlich gewarnt, daß es ohne solche Schwierigkeiten kaum ab¬
gehen werde.
Der Präsident ließ sie deutlicher in die Erscheinung treten, als er am
4. November vor dem Manhattan-Klub in Neuyork eine Vorlage zur Ver¬
stärkung von Heer und Flotte in einem für die Vereinigten Staaten in Friedens¬
zeiten ganz ungewöhnlichen Umfange ankündigte. Sie war, wie er am 7. De¬
zember den beiden Häusern des Kongresses vortrug, bestimmt, Amerika „die
volle Freiheit zu sichern, die unparteiische Rolle in diesem Erdteil und in der
Welt zu spielen, die ihm nach unser aller Glauben von der Vorsehung bestimmt
ist". Es schloß sich ihr die Sendung des Obersten House an, die bezweckte, Deutsch¬
land zum Aufgeben des I1-Bootkrieges zu bewegen. Deutschland sollte die
Waffe aus der Hand genommen werden, die allein geeignet war, vor der Aus¬
hungerung durch Englands völkerrechtswidrige Sperre zu retten, die ihm den
Sieg verschaffen konnte. Als am 8. Februar 1916 deutscherseits trotzdem der
verschärfte II-Bootkrieg erklärt wurde, ist es Wilson gewesen, der durch seine
Note vom 20. April den berechtigten und damals noch aussichtsvollen Entschluß
durchkreuzt hat.
In unmittelbarem Anschluß an den folgenden Notenaustausch setzten,
von Washington her angeregt, die deutsch-amerikanischen Ver¬
handlungen über eine Vermittlung ein. Vor dem Handelskongreß in Detroit
setzte Wilson am 10. Juli 1916 auseinander, wie er sich ihr Ergebnis dachte:
„Eines ist völlig klar, nämlich daß die Vereinigten Staaten eine neue Rolle
spielen werden, und daß es eine Rolle beispielloser Gelegenheiten und unendlich
gesteigerter Verantwortung sein wird. Die Zeit der provinziellen
Denker ist vorüber. Ob wir wollen oder nicht, wir
Müssen eine große Rolle in der Welt spielen. In Zukunft
Wird der Handel in Ausblick und Ziel mit Staatskunst, internationaler Staats¬
kunst verwandt sein. Sie wird gründliches Verständnis für die Handels- und
Unternehmungsbedingungen auf dem ganzen Erdball haben müssen, weil
Amerika seinen Geist seinen Waren vorausschicken muß, wenn es sie absetzen
will." Ob irgendeiner der Hörer dem Redner geglaubt hat, daß Amerikas
Staatskunst sich bis dahin noch nicht um den Außenhandel bekümmert habe?
Es war auch nicht einmal etwas Neues, daß es sich jetzt um den ganzen Erdball
handelte. Wer hat denn z. B. seinerzeit in denkbar brüskester Weise den Anstoß
zur Aufhebung des Sundzolles gegeben? Amerika, das „auf keinen Wett¬
bewerb im Handel eifersüchtig ist", bereitete sich vor, in der Vertretung seiner
Interessen planmäßig in der ganzen Welt einzugreifen, wie es das auf dem
eigenen Kontinente seit langem getan und auch in Ostasien begonnen hatte.
Die Annahme der zweiten Präsidentschaftskandidatur am 2. Sep¬
tember 1916 hat Wilson neuen Anlaß gegeben, sich über den Frieden auszu¬
sprechen: „S o w o h l unsere Hilfsquellen wie unsere Poli¬
tik müssen wir in Bereitschaft setzen. Es muß ein gerechter
und ausgeglichener Friede werden, und wir in Amerika müssen die volle Kraft
unserer Begeisterung und unseres Ansehens als Nation dazu beitragen, um
diesen Frieden auf weltweiten Grundlagen zu errichten, die nicht so leicht zu er¬
schüttern sind. Kein Staat kann gegenüber mutwilligen Störungen des Welt¬
friedens neutral bleiben. Kein Staat stehe völlig beiseite, wenn Leben und
Interessen aller in Verwirrung und Gefahr geraten." Kann irgend jemand
glauben, daß der Redner bei den mutwilligen Störungen des Weltfriedens,
bei der Verwirrung und Gefahr, in die Leben und Interessen aller geraten, an
Handlungen von Engländern und Franzosen gedacht hat, daß gegen sie Amerikas
Hilfsquellen und Politik in Bereitschaft gesetzt werden müßten? Die Flut der
schweren Beschuldigungen, die Wilson unter Hintansetzung jeglichen Wahrheits-
sinnes gelegentlich der Kriegserklärung am 2. April 1917 über Deutschlands
Regierung ergoß, sind ein genügender Beleg, daß davon nicht die Rede seist
kann. Wenn er gleichzeitig zwischen dem deutschen Volk und seiner Regierung
unterschied und Osterreich-Ungrcrn gegenüber den Friedensstand beibehielt,
so war das nichts als wohlberechnete Kriegslist. Der Erfolg ist ihr leider nicht
versagt geblieben; sie ist zugleich ein Beweis dafür, daß die amerikanische Politik
über die Lage in Mitteleuropa besser unterrichtet war, als ihre wohlwollenden
deutschen Interpreten auch heute noch wahr haben wollen.
Es ist weiter kein Wort darüber zu verlieren, in wie schamloser Weise
Wilson die Grundsätze preisgegeben hat, die nach unermüdlich und in den ver¬
schiedensten Formen wiederholten Versicherungen seine Friedensarbeit leiten
sollten. Seine feierlichen Erklärungen, daß er nicht das deutsche Volk, forderst
nur dessen angeblich autokratische Regierung bekämpfe, haben sich als eitel Lug
und Trug, als echter Bauernfang erwiesen. Nicht eine der gegebenen Ver¬
sprechungen ist gehalten worden. Wilson hat sich vollständig unfähig gezeigt,
seine schiedsrichterliche Stellung gegenüber Clemenceau und Lloyd George
zur Geltung zu bringen; er hat das, soweit bis jetzt unsere Kenntnis reicht, gar
nicht einmal ernstlich versucht. An Stelle des Weltfriedens, den er als Losung
ausgab für den Eintritt seines Landes in den Krieg, ist ein Zustand verwirrender
Feindseligkeiten getreten, wie ihn die Weltgeschichte noch nicht sah. Sein Ein¬
greifen hat unendlich viel mehr zerstört als aufgebaut. Ob Amerika die Früchte
ernten wird, die sein Präsident erwartete, steht dahin. Jedenfalls hat gerade
er es dahin gebracht, daß das deutsche Volk, das der Entwicklung der Union seit
ihrer Begründung so teilnehmend und hilfsbereit gegenüberstand wie kein
anderes, dessen Angehörige stets mit an vorderster Stelle genannt werden
müssen, wenn es gilt, Amerikas Entwicklung zu erklären, zum Paria der Nationen
geworden ist und in drohender Gefahr schwebt, dauernd zum Sklavenvolk herab¬
zusinken. Dafür kann es sich in erster Linie bei Herrn Wilson bedanken.
In zweiter Linie allerdings bei sich selbst. In der Mitteilung an die provi¬
sorische Regierung von Rußland vom 9. Juni 1917 hat der Präsident feierlich
Einspruch erhoben, daß der Krieg enden dürfe „mit der Wiederherstellung des
Status quo aMs". Das sei das Streben der „kaiserlich deutschen Negierung und
derer, die sich von ihr gebrauchen lassen". Aber „die Macht, die die kaiserlich
deutsche Regierung im Reich, und die weitreichende Herrschaft, die sie außerhalb
des Reiches ausübte, sind es gewesen, die diesen grausigen Krieg herbeigeführt
haben!" Das geschah zu der Zeit, als Erzberger, der Vertrauensmann der Habs¬
burger, die Reichstagserklärung über einen Verständigungsfrieden vorbereitete!
Der Präsident der Vereinigten Staaten hatte amtlich verkündet, daß er das
Deutsche Reich nicht erhalten, sondern schwächen wollte! Die schönen Rede¬
wendungen über Gerechtigkeit und Selbstregierung im Völkerleben, mit denen
die Erklärung verbrämt war, konnten an ihrem Inhalt nichts ändern. Die
Agitation, die längst eingesetzt hatte, Stimmung und Gesinnung des deutschen
Volkes zu zermürben, hatte durch den Einsatz amerikanischer Mittel einen riesen¬
haften Aufschwung genommen. Unser Volk ist ihr in seiner schier unbegreifbaren
Politischen Urteilslosigkeit erlegen. Den Deutschen, der heute noch glaubt, daß
Wilson es je ehrlich mit Deutschland meinte, stellte vor kurzem nicht ohne guten
Grund ein amerikanischer Freund vor die Wahl, sich entweder als Schurke oder
als Tropf zu fühlen. Unter allen, die am Grabe unseres Volkes geschaufelt
haben, hat keiner fleißiger, geschickter und erfolgreicher gearbeitet als Thomas
Woodrow Wilson. Das ist das Urteil, das man jetzt fällen muH, und es wird das
der Geschichte bleiben.
it der in Deutschland, wie in Italien sympathisch beurteilten Be¬
glaubigung des Herrn von Verenberg-Goßler als Botschafter des
Deutschen Reichs in Rom sind die völkerrechtlichen Beziehungen
Deutschlands zu Italien in vollem Umfang wieder aufgenommen.
Hamburg, die Stadt weltumfassender Interessen und großer volks¬
wirtschaftlicher Traditionen hat in Herrn von Goßler dem Deutschen Reich den
»weiten Vertreter auf wichtigem Posten im Ausland gegeben. Das Freisein von
^der geistigen Beengtheit wirtschaftlicher oder politischer Natur, das den führenden
Männern unserer alten Hansastädte eigen ist, dürfte dem neuen Botschafter in
Italien zur Empfehlung gereichen.
Nachdem wir nunmehr mit Italien in das Verhältnis korrekter amtlicher Be¬
ziehungen getreten sind, obliegt der öffentlichen Meinung Deutschlands die nicht
leichte Ausgabe, die Pflege dieser Beziehungen mit Takt und Sorgfalt zu unter¬
stützen. Sie wird hierbei sowohl den zum Teil irrtümlichen Vorstellungen Rechnung
zu tragen haben, die in Deutschland über die Kriegspolitik Italiens bestehen, als
auch den nicht geringen Schwierigkeiten, mit denen die italienische Außenpolitik
für die nächste Zukunft belastet ist. Man wird sich in Deutschland davor hüten
müssen, gegen Italien in unverständigen Groll wegen der Intervention im Jahre
1915 zu beharren, „of tvutss leg politicMss" schreibt in den 8orr Jahren des
vorigen Jahrhunderts ein französischer Geschichtsforscher, und zwar mit Bezug auf
das damalige Verhältnis zwischen Italien und Frankreich, „la plus döeöVÄirtv ost
la politlMs as 1», ranouns". Man wird aber auch über der zweifellos freund¬
licheren Stimmung, die sich für Deutschland selbst in geistig und politisch führenden
Schichten des italienischen Volkes zu regen beginnt, nicht vergessen dürfen, daß
die maßgebenden Kreise Italiens einschließlich der Negierung ihre außenpolitische
Haltung nur nach bestimmten Gesichtspunkten kluger Zurückhaltung und vorsichtiger
Rücksichtnahme auf die Verbündeten bemessen können. Die italienische Mentalität
ist, des leidenschaftlichen Pathos ungeachtet, dessen sie im Affekt fähig ist, kühl,
nüchtern, skeptisch. Überschwang von deutscher Seite, Betonung von Gefühlen,
Erwartungen und Hoffnungen unsererseits sind daher verfehlt. Verfehlt sind auch
Anknüpfungen an gewisse historische Begriffe und Vorstellungen, die Italien dem
deutschen Geist und dem deutschen Gemüt nahegebracht haben. Italien will nicht
mehr das Land der Museen, nicht mehr das Land von Romeo und Julia, nicht mehr
das Land der Fremden sein. Italien hat im Weltkrieg unzweifelhafte Proben eines
durch Mißerfolge nicht zu beugenden und mit den Schwierigkeiten der Lage nur
erstarkenden bewundernswerter Patriotismus gegeben. Italien, dessen Armee sich
in den Angriffsschlachten am Jsonzo wie im Hochgebirgskampfe bewährte, Italien,
das seine zu Kriegsbeginn nicht sehr große Industrie auf neue Grundlagen gestellt
hat, ist ein modernes Land geworden und wünscht als modernes Land beurteilt
und behandelt zu werden. Die historischen Reminiszenzen aller Art, auf die matt
sich in Italien lange Jahrzehnte zugute tat, der Stolz auf die klassischen Traditionen,
auf die Kunst des Mittelalters und der Renaissance, all dies tritt heute zurück
hinter den realen politischen Ausgaben und Forderungen der Gegenwart.
Bedauerlicherweise ist die öffentliche Meinung Italiens über die Entwicklung,
die im Juli 1914 zur Katastrophe führte, fast noch weniger unterrichtet, wie jene
Deutschlands. Man weiß in Italien nicht, daß das deutsche Volk auf Grund der
Darstellung, die ihm die damals allein maßgebenden amtlichen publizistischen Quellen
gaben, sich 1,914/15 von Italien vertragswidrig verlassen glaubte, und daß es aus dem
bitteren Empfinden heraus, das diese Darstellung in ihm erregen mußte, die Teil¬
nahme deutscher Armeen an den österreichischen Operationen des Herbstes 191?
mit Sympathie begrüßte. Umgekehrt ist man sich in Deutschland nicht darüber klar,
daß die brüske Art, mit der man von Berlin aus in den unheilvollen Juliwochen
1914 Italien bewußt und absichtlich von den mit Wien über die Belgrader Demarche
geführten Verhandlungen ausschloß, die italienische Regierung nicht nur auf das
tiefste verstimmen mußte, sondern ihr auch im Hinblick auf die klaren Bestimmungen
des Dreibundvertrages die Handhabe bot, den Fall der Bündnispflicht nicht an-
zuerkennen. Die heute, vom Standpunkt ruhiger, geschichtlicher Rückschau aus
unverzeihliche und unbegreifliche Heimlichtuerei, in der man sich in Wien und in
Berlin in jenen Tagen gegenüber Rom gefiel, machte es der Consulta wirklich sehr
schwer, sich ein auch nur einigermaßen klares Bild von den Absichten der damaligen
deutschen und österreichischen „Staatsmänner" zu machen. Nicht einmal einem so
erprobten Freunde Deutschlands und so bewährten Anhänger des Bündnisses, wie
dem Botschafter Bollati, gelang es, den Schleier zu lüften, der über die gegen Serbien
anzusetzende Aktion von Wien und Berlin ausgebreitet worden war. Die Ver¬
stimmung Roms gegen ein Vorgehen, das Italien als yuantitö a.d»oIuliwQt
nsFliAsadlö erscheinen lassen mußte, war umso begreiflicher, als die Stellung, die
die italienische Regierung ein Jahr vorher anläßlich des Wiener Projektes einer
Aktion gegen das ihm unbequeme Serbien eingenommen hatte, keinem Zweifel Raum
hatte lassen können, daß Italien in diesem Punkt besonders empfindlich sti und im
Hinblick auf lebenswichtige eigene Interessen eine besondere Rücksichtnahme er¬
warten würde.
Bekanntlich haben sich die Kabinette von Wien und Berlin nicht damit begnügt,
den italienischen Verbündeten über die schicksalsschweren Verhandlungen, die im
Juli 1914 zu dem unseligen Ultimatum an Serbien führten, völlig im Dunkeln zu
lassen, sondern die damalige deutsche Neichsleitung hielt es darüberhin offenbar
für eine besondere Stärkung des Bündnisgedankens, an Rußland und Frankreich
von deutscher Seite aus den Krieg zu erklären. Italien sah sich hierdurch vor eine
Zwangslage gestellt, für die es jede Verantwortung ablehnen konnte. Die italienische
Regierung, die sich über die Antezedenzien des Ultimatums nur auf Umwegen unter¬
richten konnte, hatte sich gegen diese verhängnisvolle Aktion, die sie natürlich mit
äußerster Energie bekämpft hätte, überhaupt nicht aussprechen können. Man hat
die Italien gegenüber beobachtete Zurückhaltung mit dem Hinweis auf die damalige
Intimität zwischen Se. Petersburg und Rom entschuldigt, die ein vorzeitiges Be¬
kanntwerden der Aktion an der Newa habe befürchten lassen. Die italienische Ne¬
uerung hätte dem Weltfrieden, und sie hätte insbesondere auch Deutschland, keinen
Mößeren Dienst erweisen können, als wenn sie das Ultimatum an Serbien recht-
öeitig zu Fall gebracht hätte. Sie ist jedoch nicht in der Lage gewesen, das Ulti-
watum zu verhüten, und sie hat auch keinen irgendwie gearteten Einfluß auf die
Beurteilung gehabt, die in Wien die zu 90 Prozent, wie gar nicht bestritten werden
^um, entgegenkommende Antwort der serbischen Negierung gefunden hatte. Italien
wachte in dieser für eine Verbündete Großmacht peinlichen Lage von seinem formellen
Recht Gebrauch, als es angesichts der doppelten Kriegserklärung Deutschlands an
Rußland und Frankreich das Vorhandensein des Bündnisfalles bestritt und seine
Neutralität erklärte.
Die Unkenntnis dieser Vorgänge hatte, als die NeutmlitätserKärung Roms
^ den ersten Augusttagen 1914 bekannt wurde, zur naturgemäßen Folge, daß in
Deutschland eine gereizte Stimmung gegen Italien einsetzte, die durch die Inter¬
vention Italiens 191S erheblich verschärft wurde und ihren Höhepunkt erreichte, als
Italien Ende August 1916 an Deutschland den Krieg erklärte. Diese Stimmung
deutschen Volkes war umso begreiflicher, als man in Deutschland wie über die
Urgeschichte des Ultimatums an Serbien, so auch über die langwierigen Verhand¬
lung^ die während der sogenannten Neutralitätsperiode (August 1914 bis
Mai 1915) zwischen Italien, Qsterreich-Ungarn und Deutschland wegen des
Trentino geführt wurden, völlig im unklaren gelassen worden war.
Es wird einer späteren Zeit vorbehalten bleiben, Licht in diese dunklen Seiten
der deutschen Politik des Winters 1914/15 zu bringen. Sie wird aktenmäßig fest¬
zustellen haben, welche Schwierigkeiten man der römischen Mission des Fürsten
Bülow gemacht hat, nicht um der Sache, sondern um kleinlicher persönlicher Motive
willen. Die künftige Geschichtsschreibung wird die schwächliche Politik aufdecken, die
zwar dem Fürsten Bülow Entgegenkommen gegenüber den italienischen Wünschen
endlich freigab, Osterreich gegenüber aber diese allein richtige Haltung so wenig
nachdrücklich vertrat, daß in Wien die Meinung entstehen konnte, man wäre in
Berlin mit dem Fürsten innerlich doch nicht recht einverstanden und finde den öster¬
reichischen Standpunkt mindestens begreiflich, vielleicht sogar richtig. Sie wird auch
zu untersuchen haben, wie es kam, daß der österreichisch-ungarische Botschafter, Baron
Macchio, wiederholt bei Sonnino das Gegenteil von dem zu erklären hatte, was
der deutschen Botschaft von Berlin aus als der entschiedene Wille des Ballplatzes
bezeichnet worden war. Sie wird zu ermitteln haben, warum die dringenden Vor¬
stellungen des Fürsten Bülow, der im Hinblick auf den Ernst der Situation einem
loyalen und möglichst baldigen Entgegenkommen gegenüber dem im Dreibunds¬
vertrag begründeten territorialen Forderungen Italiens das Wort redete, unbeachtet
geblieben sind. Sie wird auch die Frage zu beantworten haben, warum wir Öster¬
reich-Ungarn, durch das wir uns in den Krieg hatten treiben lassen, und um derent¬
willen wir mit Italien, von dem keine irgendwie gearteten Interessen uns trennten,
in den Kriegszustand geraten sollten, in seiner Halsstarrigkeit freie Hand gelassen,
und warum wir dem Baron Burian ermöglicht haben, Italien bis Anfang Mai 1916/
also bis zum Vorabend der Entscheidung, in vollkommener Unklarheit über die Auf¬
richtigkeit und Grenzen der Wiener Absichten bezüglich des Trentino zu lassen.
Und warum wurde Fürst Bülow, der vor seiner Abreise nach Rom von Kaiser
Wilhelm II. mit einer langen gnädigen Aussprache beehrt worden war, und der
während seiner Anwesenheit in Rom wiederholt freundliche Telegramme des Kaisers
erhalten hatte, nach seiner Rückkehr von Rom, wo er seine beste Kraft für die Sache
des Friedens eingesetzt hatte, vom Kaiser überhaupt nicht empfangen? Soviel
Fragen, soviel Rätsel.
Es ist begreiflich, daß die öffentliche Meinung Deutschlands wie Italiens sich
nur langsam und schwierig durch die trüben Dünste von Mißverständnissen und
Zweifeln hindurch, die über den Jahren 1914/15 liegen, zu der reineren Atmosphäre
objektiver Beurteilung werden durcharbeiten können, in der die nüchterne Politik
allein gedeihen kann. Und dennoch ist eine derartige gegenseitige Aufklärung der
Vergangenheit die unerläßliche Voraussetzung für die Wiederanknüpfung jener wirt¬
schaftlichen Beziehungen, deren beide Länder unter korrekter Wahrung ihrer vollen
gegenseitigen politischen Unabhängigkeit im gemeinsamen Interesse bedürfen. Den
Zwecken dieser Aufklärung sollen sowohl die Veröffentlichung einer Auswahl meiner
Berichte an den Grafen Hertling, wie diese Ausführungen dienen. Der frühere Bot¬
schafter in Wien, Graf Wedel, hat sich zu den erwähnten Berichten, wie auch zu einem
Artikel der „Hamburger Nachrichten", in dem Dr. Spickernagel das Thema Deutsch¬
land und Italien behandelt, geäußert. Soweit hierbei, von mir nicht veranlaßt, per¬
sönliche Rancune speziell gegen meine Person zutage tritt, lasse ich sie unbeachtet, da
es bei der von mir aufgenommenen Diskussion nach meiner Ansicht lediglich auf die
Sache ankommt, die vom Grafen Wedel vertreten wird. Um die steht es aber nicht
gerade glänzend. Dr. Spickernagel war in seinem Artikel auf die von Giolitti im
Herbst 1914 in der italienischen Kammer abgegebene Erklärung zurückgekommen,
daß Österreich schon 1913 sich mit Angriffsplänen gegen Serbien getragen habe,
welche Absichten damals durch den italienischen Einspruch im Keime erstickt worden
wären. Graf Wedel bestreitet, daß eine solche Bedrohung Serbiens bestanden habe.
Das Vorhandensein solcher Velleitäten in Wien schon vor dem Unglücksjahr 1914
ist aber doch schwer in Abrede zu stellen. Der Wiener Publizist Nowak hat in seinem
bekannten Buch, das im Auftrage des Feldmarschalls Konrad von Hoetzendorff ge¬
schrieben und von diesem ausdrücklich approbiert wurde, keinen Zweifel darüber ge¬
lassen, daß der genannte ausgezeichnete österreichische Heerführer während des
Ersten Jahrzehntes dieses Jahrhunderts keinen brennenderen Wunsch hatte, als
lowohl gegen Serbien wie gegen Italien einen frischen, fröhlichen prophylaktischen
Krieg zu führen, an dieser Absicht aber durch die vom Fürsten Bülow geleitete
deutsche Politik verhindert worden wäre. Der damalige k. k. Minister des Äußern,
Graf Ahrenthal habe sich übrigens dem Standpunkt des Fürsten Bülow angeschlossen.
Das wird Wohl richtig sein. Fürst Bülow hat es bei allen Zwischenfällen, wie sie
die Politik nun einmal mit sich bringt, und insbesondere während der böhmischen
Krisis von 1908/1909 immer vermieden, jene Grenze zu überschreiten, wo kein anderer
Ausweg als der Krieg bleibt. 1914 dagegen „schlitterten" wir, um einen Ausdruck
des Großadmirals von Tirpitz zu gebrauchen, in den fürchterlichsten aller Kriege
hinein.
Wenn der' österreichische Botschaftsrat in Berlin im Sommer 1914 dem Grafen
Wedel sagte, die Zentralmächte könnten sich den ganzen Krieg ersparen, wenn Deutsch¬
land Elsaß-Lothringen an Frankreich abträte, so wird dieser ihm gewiß geantwortet
haben, daß der Krieg ja gar nicht wegen Elsaß-Lothringen ausgebrochen, sondern
durch do.Z österreichische Vorgehen gegen Serbien hervorgerufen worden sei. Daß
ein derartiges schroffes Ultimatum wie das von Osterreich an Serbien gerichtete
Schriftstück — Sir Edward Grey bezeichnete bekanntlich in einer Unterredung mit
°°M deutschen Botschafter in London das Ultimatum unmittelbar nach dessen Über¬
gabe in Belgrad als das schroffste Dokument, das ihm je vorgekommen wäre — den
Weltfrieden in ernsteste Gefahr bringen würde, war für ein Kind mit Händen zu
Reifen. Wie war es möglich, diese rein sachliche, von persönlichen Stimmungs-
wornenten unabhängige, und daher wohl in Ruhe beantwortbare Frage möchte ich an
den Grafen Wedel richten, daß gegenüber der ungeheuren Gefahr, die dieses Ultimatum
^ sich barg, wir unsere Zustimmung zu dessen Absendung nicht von bestimmten Be¬
dingungen und Voraussetzungen abhängig machten? In erster Linie mußten wir
fordern, daß das Wiener Kabinett sich vor Übergabe des Ultimatums und jedenfalls
einem militärischen Vorgehen gegen Serbien die Kooperation Italiens durch
°le Abtretung des Trentino sicherte. Graf Wedel schreibt, Herr von Bethmann
^d Herr von Jagow hätten, als der Ausbruch des Krieges unvermeidlich schien,
Wien zu bewegen gesucht, das Trentino ein Italien abzutreten, Wien habe aber schroff
Abgekehrt. Die völlige Abhängigkeit, in die unsere Politik Wien gegenüber geraten
"r, tritt aus diesen Worten in wahrhaft betrübender Weise hervor. Wir „suchen
bewegen", Wien „lehnt schroff ab"! Dies ist das Leitmotiv, mit dem die Welt-
tragödie einsetzt, und das unser Verhältnis zur Donaumonarchie bis zu den Tagen
des elenden Verrath durch Kaiser Karl beherrschte. Wien durfte unser Plazet zu seinem
Vorgehen nicht erhalten, bevor es sich nicht die Kooperation von Italien gesichert
hatte. Wenn Kaiser Franz Joseph, als die Verhandlungen über das Trentino
scheiterten, und damit der Krieg zwischen Osterreich und Italien unvermeidlich wurde,
ausgerufen haben soll, dies sei der erste gute Tag seit langer Zeit, so ist diese Aus¬
lassung ein tragischer Beweis dafür, daß der ehrwürdige Monarch über die Situation
seines Landes und die Weltlage von seinen Ratgebern mehr als mangelhaft infor¬
miert worden war. Der Zauber, den das Land Tirol auf jeden Deutsch-Österreicher
und, wir können ruhig hinzufügen, auf jeden Deutschen ausübt, ist ein Erbteil
unserer Geschichte, berechtigt und sympathisch. Es handelte sich damals aber nicht um
ganz Tirol, sondern um dessen italienischen Teil, der übrigens erst seit 100 Jahren
ein integrierender Bestandteil der Habsburgischen Monarchie war. War der Besitz
des Trentino für Osterreich wirklich wichtiger als der Fortbestand der Doppcl¬
monarchie? Und war insbesondere für uns die Zugehörigkeit des Trentino zu
Osterreich von größerer Bedeutung als die Frage, ob wir in dem fürchterlichsten
aller Kriege uns außer so vielen anderen Feinden noch eine Großmacht auf den
Hals ziehen wollten? Wer sich diese Frage ruhig überlegt, wird wohl zu der Ansicht
gelangen, daß wir vor Klärung der österreichisch-italienischen Beziehungen, d. d-
oor der Regelung der Trentinofrage, Osterreich an der Leine behalten, und statt dem
Grafen Hoyvs co-rec- dlanebs mitzugeben, alles tun mußten, was geeignet schien, den
Leichtsinn des Grafen Verchthold zu zügeln.
Diese wenigen Bemerkungen zu den Wedelschen Ausführungen zeigen, welche
Wolken von Mißverständnissen über den Ereignissen des Jahres 1914 liegen, und
wie wichtig es ist, die öffentliche Meinung Italiens über diese Dinge aufzuklären,
die ihren Stachel dort bis auf heute zurückgelassen haben.
Wie bereits einleitend bemerkt, erfordert die Wiederanbahnung von Be¬
ziehungen zu Italien große Behutsamkeit. Es ist gewiß, daß Deutschland seit
den Tagen des Waffenstillstandes manch Gutes aus Italien gehört hat. Für den
öden Haß und den brutalen Vernichtungswillen, der in Frankreich und, wenn
auch vielleicht besser versteckt, in England Deutschland gegenüber lebt, ist in
Italien kein Raum. Zwischen Deutschland und Italien haben nie Gegensätze
bestanden, die ein Lebensinteresse der einen oder anderen Nation berührt hätten.
Der militärische Wassergang, in den Deutschland, nachdem man sich ein Jah^
lang mit dem Beharrungszustand einer platonischen Kriegserklärung begnügt hatte,
im Jahre 1917 mit Italien eintrat, hat zwar Wunden und Narben hinterlassen.
Doch ist die Mehrheit des italienischen Volkes zu einsichtig, als daß sie des ehrlich
geführten Kampfes nicht vergessen könnte. Die zweifellos gute Stimmung, die
in weiten Kreisen Italiens für Deutschland festzustellen ist, wurzelt nicht zuletzt
in der Erkenntnis, daß das Deutsche Reich nie Italiens Feind gewesen ist und
daß es nur durch die selbstverschuldete Tragik seiner schwächlichen Unterordnung
unter die Desperadopolitik Österreich-Ungarns Italien als militärischer Gegner
gegenübergetreten ist. Manche Aktionen der italienischen Regierung in jüngstes
Zeit haben sich in der Richtung dieses Volksempfindens bewegt. Rom hat wieder¬
holt — es sei an die Frage der Auslieferung Kaiser Wilhelms II. und unserer
ruhmreichen Heerführer, es sei an die Herbeiführung der Konferenz von Sy«
erinnert — bekundet, daß Italien entschlossen ist, sich in seiner Stellung gegenüber
Deutschland ausschließlich von politischen Gesichtspunkten leiten zu lassen. Dies
ist neuestens auch in jenen unglücklichen Abstimmungsgebieten Schlesiens zutage
getreten, in denen in Entscheidungen italienischer Kommissare und Militärs sich
wiederholt die Stimme ausgleichender Gerechtigkeit und ehrlicher Neutralität
zur Geltung gebracht hat. Das deutsche Volk hat diese Stimmungsmomente
mit Dank verzeichnet. Die öffentliche Meinung Deutschlands würde aber irre¬
gehen, wenn sie aus diesen Einzelakten ein neues Gebäude von Illusionen
konstruieren wollte. Daraus, daß die italienischen Staatsmänner nicht jeden
verbrecherischen Wahnsinn mitmachen, den man in Paris ausheckt, schließen zu
wollen, Italien sei für Deutschland, oder werde sich in absehbarer Zeit Deutsch¬
land nähern, wäre eine gefährliche Selbsttäuschung. Italien hat mit großen
inneren Schwierigkeiten zu kämpfen. So verfehlt es wäre, zu glauben, Italien
stehe am Vorabend einer Revolution, eine Annahme, die nur in Kreisen bestehen
kann, wo man Italien und die Triebkräfte seines öffentlichen Lebens nicht kennt,
so bedenklich wäre es, die Bedeutung der innerpolitischen Probleme zu verkennen,
vor die das Kabinett Giolotti sich gestellt sieht. Die beiden großen Parteien,
Sozialisten und Popolari, die derzeit die parlamentarische Lage beherrschen, und
die ihre augenblickliche Stärke nicht einer naturgemäßen inneren Entwicklung,
sondern dem Umstand verdanken, daß sie von Anfang an allein gegen den Krieg
waren, haben sich auf dem Boden neuer, gemeinschaftlicher, zum Teil von Moskau
aus suggerierter Ideen gefunden. Sie haben sich so sehr gefunden, daß die
Intimität ihres Verhältnisses den Heiligen Stuhl, zu dessen näherem Interessen-
kreis die Popolari vorerst noch gehören, in ernste Sorge versetzt. Das ziel¬
bewußte Eingreifen Giolittis hat den im Lande gärenden und treibenden Kräften
vorerst den Weg eines gewissen Ausgleichs zu weisen gewußt. Zu den Schwierig¬
keiten im Innern kommen die engen Schranken, die der Außenpolitik jedes Mit¬
gliedes der Entente gezogen sind und gezogen sein werden, solange Frankreich,
dank der außenkontinentalen Schwierigkeiten Englands in Europa diktiert.
Endlich ist zu beachten, daß die derzeitigen Verhältnisse in Deutschland nicht
dazu angetan sind, auf eine fremde Macht anziehend zu wirken. Man macht sich
in Deutschland vielfach keinen richtigen Begriff von dem geringen Maß
von Achtung und Vertrauen, das leider das Ausland dem „neuen" Deutschland
entgegenbringt. Ideen, wie Patriotismus und stolzes Nationalgefühl, allen anderen
großen und auch kleinen Völkern Ausgangspunkt und Endziel ihres Denkens,
Empfindens und Handelns werden in Deutschland verpönt und herabgewürdigt.
Die eigenen Volksgenossen verraten die letzten armseligen Reste einer großen
militärischen Vergangenheit an den Feind. spärlich nur und widerwillig geduldet
lebt im Land ein Gefühl stolzer Trauer im Gedenken an die Ruhmestaten unserer
Armee und ihrer Führer, die 6 Jahre lang an 5 Fronten sich einer Welt gegen¬
über behauptet haben. Die Feinde Deutschlands, speziell Frankreich, mögen dies
sast völlige Ausscheiden nationalen Empfindens, das bei uns so vielfach wahr¬
zunehmen ist, mit Genugtuung verzeichnen, ebenso sicher aber ist, daß sie uns
deswegen verachten. Der Tiefstand nationalen Ehrgefühls, an dem das öffentliche
Leben Deutschlands angelangt erscheint, untergräbt das Vertrauen, das ein etwa
"us günstig gesinntes Land auf unser wirtschaftliches Wiedererstarken zu setzen
Wünscht. Wenn wir lernen wollen, wie ein großes Volk sich auch aus schwerem
Unglück wieder erhebt, so brauchen wir uns nur die Geschichte Frankreichs nach
seiner Niederlage von 1870 ins Gedächtnis zu rufen. Man lese die Reden von
Victor Hugo und Thiers in der Nationalversammlung von Bordeaux vor der
Annahme des Friedensvertrages mit Deutschland, die Reden von Gambetta während
der 70 er Jahre. Erinnern wir uns, wie der französische Geist, ungebrochen in
seiner Spannkraft und in seinem Stolz, von dem,„Augenblick an, wo Thiers mit
Hilfe der Frankreich verbliebenen Armee den Kommuneaufstand niedergeworfen
und damit Ordnung und nationale Einheit gerettet hatte, trotz aller inneren
Parteikämpfe das Wohl, die Sicherheit und die Größe Frankreichs über jede
andere Erwägung stellte. Solange der Geist der Arbeitsfreudi,Me und des zähen
Fleißes, der Deutschlands wirtschaftlichen Aufstieg bedingte, im deutschen Volk nicht
wieder lebendig wird, solange unser öffentliches Leben sich nicht zu Würde und
berechtigtem nationalen Empfinden zurückfindet, wäre es ein verhängnisvoller
Optimismus, zu glauben, Deutschland werde von irgendeinem Lande der Welt als
beachtenswerter Faktor in die politische Rechnung eingestellt.
Beurteile die öffentliche Meinung Deutschlands das Problem der künftigen
Beziehungen zwischen Deutschland und Italien im Geist nüchterner Selbsterkenntnis
und in verständnisvoller Würdigung der innen- und außenpolitischen Schwierig¬
keiten, mit denen Italien zu kämpfen hat, dann wird sie das Ihre dazu beitragen
können, das Heranreifen eines auf gewissen gemeinsamen Interessen ausgebauten
wirtschaftlichen Verhältnisses zu fördern. Jedes Mehr an Wünschen und Be¬
mühungen wäre vom Übel- „Surtout pas trox as Dieses klassische Wort,
das einer der Meister diplomatischer Staatskunst, Talleyrand, seinen Mitarbeitern
als politische Richtschnur empfahl, muß Italien gegenüber, sowohl für die Politik
wie für die öffentliche Meinung Deutschlands, als Losungswort gelten.
gegenwärtig weilen die Vertreter der Freien Stadt Danzig und der
Republik Polen in Paris, um vor dem Obersten Rat der Entente
über das im Art. 104 des Versailler Friedensvertrages (V. F. V.)
vorgesehene Abkommen zu verhandeln. Beide Teile haben Entwürfe
für dieses Abkommen aufgestellt, die als Unterlage ihrer Verhand¬
lungen dienen sollen. Wenn der polnische Entwurf in der deutschen Presse nicht
die ihm bei seiner Gefährlichkeit gebührende Beachtung gefunden hat, so liegt dies
daran, daß die Polen — ein Zeichen ebenso ihrer politischen Klugheit wie ihres
schlechten Gewissens — ihren Entwurf für geheim erklärt haben, und die Danziger
dieses Geheimhaltungsverlangen respektiert haben. So habe ich weder durch das
preußische Justizministerium, noch durch die Danziger juristischen Behörden, noch
durch Abgeordnete Danzigs ein Exemplar dieses polnischen Entwurfs erhaltenW
können. Dabei hätten die Danziger alle Veranlassung gehabt, diesem Entwurf zur
weitesten Verbreitung zu verhelfen, um moralische Unterstützung gegen Polens
Ländergier in Deutschland und bei den Neutralen zu finden.
Die Danziger Zeitung hat sich das Verdienst erworben, in Ur. 295 vom
26. Juni 1920 die wichtigsten Bestimmungen des polnischen Entwurfes zu ver¬
öffentlichen. Diese seien im nachstehenden kritisch erörtert, um zu zeigen, wieweit sie
mit Art. 104 V. F. V. unvereinbar sind. Vergleichsweise sei hierbei der Entwurf
,der Stadt Danzig angezogen, den ebenfalls die Danziger Zeitung in Ur. 395 vom
24. August 1920 veröffentlicht hat.
I. Das in Art. 104 V. F. V. vorgesehene Abkommen soll Danzig in die Zoll¬
grenzen Polens einfügen, eine Freizone im Hafen schaffen und alle Hafeneinrich¬
tungen sowie die zum Hafen führenden Verkehrsmittel Polen zugänglich machen.
Aus dem Nahmen dieser Aufgaben fallen heraus Ur. 5 und 6 des Art. 104,
erstere mit der Aufgabe, benachteiligende Unterschiede der polnischen Staats¬
angehörigen in Danzig zu verhüten, letztere mit der Bestimmung: „die Führung
der auswärtigen Geschäfte der Freien Stadt Danzig durch die polnische Regierung
Zu sichern, ebenso wie den Schutz ihrer Staatsangehörigen im Auslande." Es wäre
Perplex, einerseits Danzig zu einer freien Stadt zu machen und andererseits die
Führung der auswärtigen Geschäfte einem fremden Staate zu überlassen. Der In¬
begriff der Souveränität eines Staates besteht gerade darin, daß er seine Be¬
ziehungen zu allen anderen Staaten allein und selbständig regeln darf.
Aber wie anderwärts *) zutreffend ausgeführt, ist das „sichern" nicht in dem
Sinne zu verstehen, daß der Republik Polen ein Anspruch auf die Leitung der aus¬
wärtigen Geschäfte Danzigs gesichert werden soll, sondern dahin, daß der Freistaat,
der bei seiner Kleinheit sich den Luxus von Gesandten und Konsulen nicht überall
wird leisten können, das Recht haben soll, die Organe des polnischen Außendienstes
für sich in Anspruch zu nehmen.
Polen aber hat in seinem Vertragsentwurf diese Bestimmung natürlich dahin
verstanden (Art. 1): „Die Führung der auswärtigen Angelegenheiten der Freien
Stadt Danzig, die diplomatische und konsularische Vertretung sowie der Schutz
ihrer Staatsangehörigen in den fremden Ländern liegen der polnischen Regelung ob."
^ Damit würde die polnische Souveränität glatt beseitigt. Überdies, wenn hier
nicht ein Druckfehler vorliegt, und es statt „Regelung" „Regierung" heißen soll, so
haben die Polen hier von ihren Meistern in der Entente auch auf dem Gebiete der
Verschleierung von Vertragsbedingungen gelernt; denn das ist einer der Kunstgriffe
des V. F. V., die für den Gegner besonders unbequemen Forderungen womöglich
noch nicht zu regeln, sondern nur auf eine künftige, anderweite Regelung zu ver¬
weisen. Nach Art. 104 Ur. 6 V. F. V. sollen natürlich in dem dort vorgesehenen
Abkommen die Voraussetzungen, unter welchen die Führung der auswärtigen Ge¬
schäfte Danzigs aus Polen übergehen kann, in dem Abkommen selbst festgelegt
werden, statt dessen verweist Art. 1 poln. E. auf eine (anderweite) polnische Regelung.
Entschieden überschritten werden die von Art. 104 Ur. 6 V. F. V. gedachten
Sicherungen auch durch Art. 2, 3 und 6 poln. E. Danach soll ein Resident der
polnischen Republik in Danzig seinen Wohnsitz nehmen, das ist nichts anderes als
ein Statthalter in einem unterworfenen Lande; die Handelsschiffe Danzigs sollen die
Flagge der polnischen Handelsmarine führen, eine dreiste Forderung, die mit dem
Begriffe der Freiheit Danzigs völlig unvereinbar ist; und das Exequatur für alle
konsularischen Agenten in Danzig soll von der polnischen Negierung verliehen werden,
auch dies ist unvereinbar mit der Souveränität Danzigs.
Reichen die vorstehenden Bestimmungen aber immerhin noch in das Gebiet
der auswärtigen Angelegenheiten hinein, so ist es vollkommener Mißbrauch des
Art. 104 Ur. 5 und 6 V. F. V., wenn der polnische Entwurf in Kapitel IV die
Gesetzgebung und das Gerichtsverfahren Danzigs an sich zu reißen versucht. In
einer harmlos erscheinenden Begründung wird dies in Art. 24 so eingekleidet, daß
eine einheitliche Regelung des bürgerlichen Handels- und Strafrechts für Polen und
Danzig seine Vorteile biete. Daß bei dieser einheitlichen Regelung natürlich nicht
das deutsche Recht Danzigs von den Polen rezipiert, sondern daß die Einheitlichkeit
nur auf der Basis des polnischen Rechts gewonnen werden soll, wird wohlweislich
verschwiegen. Bis aber diese einheitliche Regelung getroffen ist, sollen Delikte gegen
die Sicherheit des polnischen Staates, die auf Danziger Gebiet begangen sind, be¬
züglich ihrer Verfolgung und Aburteilung den Verbrechen gegen die Sicherheit der
Stadt Danzig gleichgestellt werden. Das heißt auf deutsch: Hoch- und Landes¬
verrat könnte man in Danzig nicht nur gegen die Freistadt, sondern auch gegen
Polen begehen. Damit wird Danzig wieder auf einem Gebiete zu einem Teile von
Polen gemacht, und damit können vor allen Dingen alle Maßnahmen, die zur Ver¬
teidigung der Freiheit Danzigs gegen polnische Übergriffe gefordert oder durchgeführt
werden, als Hochverrat gegen Polen gebrandmarkt und verfolgt werden. Und da
man wohl polnischerseits den Danziger Richtern so vaterlandslose Gesinnung nicht
zutraut, so sichert sich Polen das Recht, durch seinen Bevollmächtigten in die Unter¬
suchung solcher Angelegenheiten bei den Gerichten eingreifen zu dürfen. Auch hier
folgt man nur französischem Vorbilde. So wie die französische Kommission in Ober-
schlesien die Unabhängigkeit der dortigen Richter mißachtet hat,*) so verlangt Polen
auch hier, daß der Freistaat Danzig seine Einwilligung zu einer Durchbrechung des
Grundsatzes der Unabhängigkeit der Gerichte gebe.
Daß das Reichsgericht in Leipzig als letzte Instanz für Danziger Sachen aus¬
scheidet, ist an sich eine billige Forderung. Aber unbillig ist es wieder, wenn Art. 29
poln. E. seine Ersetzung durch den obersten Gerichtshof der polnischen Republik ver¬
langt. Ist Danzig ein Freistaat, so muß es auch sein eigenes oberstes Gericht haben.
Das sicherste Mittel, um einem Staate' seine Selbständigkeit zu rauben, ist
die militärische Besetzung. Auch diese versucht Polen im Wege des Abkommens
zu erreichen, obwohl der V. F. V. nichts von einem derartigen Rechte enthält.
Natürlich wird auch dieser Versuch möglichst harmlos eingekleidet. Art. 30 poln. E.
bestimmt: „Polen hat das Recht, auf dem Gebiete der Freien Stadt Danzig alle not¬
wendigen Maßnahmen in bezug auf Militär- und Marinewesen zu treffen, um sein
Landgebiet und seinen Zugang zum Meere, wie auch das Gebiet der Freien Stadt
zu verteidigen. Zu diesem Zweck hat Polen das Recht, auf besagtem Gebiete
Militär- und Seestreitkräfte zu unterhalten, Vefestigungswerke zu beschlagnahmen
und die militärische Aufsicht auszuüben/' Was würde Wohl von der Freiheit
Danzigs übrig bleiben, wenn die Entente diese unerhörte Forderung billigen sollte?
In Art. 104 Ur. 3 V. F. V. ist Polen nur die Kontrolle und Verwaltung der
Weichsel übertragen. Art. 34 poln. E. macht daraus ein Aufsichts- und Polizeirecht
in den Küstengewässern Danzigs. Es benutzt dieses Aufsichtsrecht auch gleichzeitig
zu einer neuen Durchbrechung der Danziger Justizhoheit, indem es im Art. 35 einen
Polnischen Gerichtshof in Danzig fordert, der die Übertretung der Gesetze und Ver¬
ordnungen verfolgen soll, die von den polnischen Behörden in Ausübung des
Polnischen Aufsichts- und Polizeirechts erlassen worden sind. Hat man je gehört,
daß ein souveräner Staat sich in seinem Gebiete eine fremde Gesetzgebung und einen
fremden Gerichtshof gefallen lassen muß, und daß seine Bürger vor diesem Gerichts¬
hofe Recht nehmen müssen! Wie diese Rechtsprechung gegen deutsch gesinnte Bürger
ausfallen würde, kann man sich bei der bekannten polnischen Objektivität wohl denken.
Weitere Mergriffe, die keinerlei Stütze im V. F. V. finden, sind die Forde¬
rungen, daß die polnische Negierung den Lotsendienst im Hafen von Danzig und in
den Küstengewässern der Ostsee und die radiotelegraphischen Stationen im ganzen
Gebiete der Freien Stadt Danzig übernimmt. Dabei gibt Art. 104 Ur. 3 V. F. V.
den Polen nur ein Recht der Kontrolle und Verwaltung, des Post-, Telegraphen-
und Telephon Verkehrs zwischen Polen und dem Hafen von Danzig.
Aus diesem Kontrollrecht wird auch der Versuch gemacht, einen Anspruch der
Polnischen Behörden auf Verwaltung und Aufsicht des Danziger Hasens mit allen
Zugangswegen und Anlagen abzuleiten und weiter das Recht, das öffentliche See¬
recht sowie die polizeilichen Bestimmungen über den Hafenverkehr polnischerseits zu
regeln. Nicht minder verlangt der polnische Entwurf Anschluß des Post-, Draht-
und Fernsprechverkehrsnetzes der Freien Stadt Danzig an das polnische Netz in
Ansehung der Verwaltung, Beaufsichtigung und Gesetzgebung. Dabei sieht Art. 104
Ur. 3, wie schon betont, nur eine Kontrolle und Verwaltung dieses Verkehrs zwischen
Polen und dem Hafen von Danzig vor, nicht aber, soweit Danzig nach anderen
Richtungen hin verkehrt.
Als Briefmarken soll Danzig ebenfalls die polnischen Briefmarken benutzen,
womit es wiederum aus ein eigenes Hoheitszeichen verzichten würde.
Wer das Zollwesen bestimmt Art. 104 Ur. 1 des V. F. V., daß die Freie
Stadt Danzig innerhalb der Zollgrenzen Polens eingefügt, und daß eine Freizone
'M Hafen eingerichtet werden soll. Insoweit ist also gegen Kap. 7 des poln. E. nichts
einzuwenden. Daß aber hierzu alle Zollgebühren auf Danziger Gebiet von polnischen
Behörden erhoben werden sollen, ist wiederum eine polnische Forderung, welche mit
der Souveränität Danzigs unvereinbar ist. Ebenso unvereinbar ist die Forderung
des Art. 53, daß das Geld der Stadt Danzig das polnische Geld sei. Welche schwere
wirtschaftliche Schädigung damit Danzig bei der Zerrüttung der polnischen Finanzen
erführe, darüber braucht wohl kein weiteres Wort verloren zu werden. Endlich ist als
ein dreister Eingriff in die Danziger Selbständigkeit die Forderung zu bezeichnen, daß
Danzig Anleihen nur mit Zustimmung und sogar nur durch Vermittlung der
polnischen Negierung soll ausnehmen dürfen.
II. Der Danziger Gegenentwurf hat auf alle diese Überschreitungen des
F. V. vor allem mit Art. I geantwortet: „Danzig ist ein souveräner Staat, der
unter dem Schutze des Völkerbundes steht." Ferner hat er sich in Art. IX aus-
drücklich das Recht der auswärtigen Vertretung und des Schutzes seiner Staats¬
angehörigen im Auslande gewahrt. Weiter verlangt er für Maßnahmen in An¬
sehung des gemeinsamen Zollgebietes Gleichberechtigung, so daß bindende Be¬
stimmungen nur im gegenseitigen Einverständnis getroffen werden können. Ebenso
verlangt er eigene Behörden für die Ausübung der Zollgewalt. Die militärische
Besetzung wird mit der Bestimmung abgelehnt, daß bewaffnete und militärische
Personen in Uniform das Gebiet Danzigs nur mit besonderer Erlaubnis betreten
dürfen.
III. Polen hat in seinen Entwurf auch eine Reihe von Maßnahmen hinein¬
genommen, die sich, als dem Zweck langsamer Polonisierung Danzigs dienend, kenn¬
zeichnen lassen. Nach Art. 11 sollen die polnischen Staatsangehörigen, die seit
sechs Monaten in einer politischen Gemeinde Danzigs wohnen, dortselbst politische
Rechte genießen. In diesem kleinen Staatswesen von rund 329 000 Einwohnern,
von denen bisher 14 000 Polen sind, bedeutet natürlich der Zuzug jedes Tausend
Polen eine Verstärkung ihres politischen Einflusses. Die zugesicherte Gleichheit, daß
auch die Danziger nach sechs Monaten in Polen politische Rechte genießen sollen,
ist für den Einfluß des Deutschtums in Polen dagegen belanglos.
Bei dem oben angegebenen Verhältnis zwischen Deutschen und Polen im
Freistaate ist es wohl für jeden objektiv Denkenden selbstverständlich, daß die
Sprache der Behörden die deutsche ist. Der polnische Entwurf aber unternimmt es,
eine ganz unberechtigte Gleichstellung der polnischen Sprache einzuschmuggeln, in¬
dem er in Art. 13 vorschlägt: „Jedenfalls sind bei den Verhandlungen der gesetz¬
gebenden Körperschaften und derjenigen ihrer Parteien und Gemeinden sowie im
allgemeinen aller bestehenden Körperschaften beide Sprachen, deutsch und polnisch,
gleicherweise zuzulassen." Man beachte hier insbesondere die vage Wendung „sowie
im allgemeinen aller bestehenden Körperschaften". Daraus würde natürlich in der
Praxis der Anspruch abgeleitet werden, schließlich auch in der Generalversammlung
jeder Aktiengesellschaft polnisch reden zu dürfen. Für den inneren Dienst der Be¬
hörden und insbesondere der Gerichte der Stadt Danzig wird versucht, die polnische
Sprache in der vorsichtigen und verklausulierten Weise einzuführen, daß es heißt,
die Sprache sei zu bestimmen von den bisherigen zuständigen Behörden des Frei¬
staates und ihrer politischen Gemeinden. Danach kann also irgendein an der Grenze
des Freistaates Danzig gelegenes Dorf, welches eine polnische Mehrheit in der Ge¬
meindevertretung besitzt oder durch Zuzug erhält, nicht nur bei den Gemeinde¬
behörden, sondern auch bei den Gerichten Anwendung der polnischen Sprache
verlangen.
Für die schulpflichtigen Kinder der bisher in Danzig wohnenden 14 000 Polen
hätte eine Forderung im Entwurf genügt, daß die Stadt Danzig dafür zu sorgen
habe, daß diesen Kindern der Religionsunterricht in ihrer Muttersprache erteilt werde
und im übrigen dieDanziger Polen das Recht haben, auf ihre Kosten Privat-
schulen zu errichten. Statt dessen beansprucht die Republik Polen in Art. 13 das
Recht, ihrerseits Anstalten auf dein Danziger Gebiet zu errichten, womit es natürlich
polnische Lehrer, die sich gleichzeitig trefflich als Agitatoren eignen, in die
Danziger Bürgerschaft einschieben würde. Wo aber die Gründung von Schulen den
Polen zu teuer käme, weil sie zu unlohnend wäre, da bürdet sie diese Pflicht der
Freistadt auf, indem diese gehalten sein soll, überall da eine polnische Volksschule
zu gründen, wo die Eltern von mindestens 40 Kindern dies verlangen. Und da
man wahrscheinlich weiß, daß auch diese 40 Kinder in den Gmieindeschulbezirken
noch nicht existieren, so können die verschiedenen Schulbezirke zur Errichtung dieser
Schule zusammengelegt werden, wenn die örtlichen Bedingungen den Kindern er¬
lauben, die Kurse regelmäßig zu besuchen. Den Begriff der örtlichen Bedingungen
kann man ja recht weit ziehen, und so würde Danzig mit einem Haufen polnischer
Schulen durchsetzt werden. Man vergleiche damit, welche Schwierigkeiten die Polen
der Gründung deutscher Schulen in Westpreußen und Posen entgegenstellen! Aber
nicht genug damit. Ganz unabhängig von der Zahl der für den Schulbesuch in
Betracht kommenden Kinder, verlangt Polen die Errichtung von mindestens zwei
Polnischen Mittelschulen durch die Stadt Danzig. In der Technischen und der
Hochschule müssen Kurse in polnischer Sprache eingerichtet werden, sobald genügend
Polnische Schüler für eine Parallelklasse vorhanden sind. Auch diese Bestimmung
muß entschieden zurückgewiesen werden. Danzig ist nach der Zusammensetzung seiner
Bevölkerung eine Stadt deutschen Stammes. Wenn die Polen das Bedürfnis haben,
dort die Hochschulen zu besuchen, so mögen sie die deutschen Vorlesungen hören, wie
sie sie bisher in Danzig auch gehört haben. Die Einrichtung der Parallelkurse würde
nichts weiter bedeuten, als die Schaffung polnischer Professuren an der deutschen
Hochschule in Danzig, und damit Reibungen zwischen den beiden Professoren¬
kategorien, Eingriffe des Residenten und langsame aber sichere Polonisierung der
Hochschule.
IV. Aber nicht genug, daß Polen den Freistaat allmählich polonisieren will,
hat es auch Bestimmungen in den Entwurf eingefügt, welche einer Stärkung des
Deutschtums in Danzig entgegenwirken sollen. Anders ist es wenigstens nicht zu
verstehen, wenn Art. 16 verlangt, es dürfe kein Ausländer in Danzig naturalisiert
werden, ohne vorherige Einwilligung der polnischen Negierung bzw. des polnischen
Residenten. Daß neben den Ausländern auch die Polen in dieser Bestimmung er¬
wähnt sind, ist eine zu durchsichtige Verschleierung, als daß sie jemanden täuschen
könnte. Gegen die Naturalisierung der Polen in Danzig wird der Herr Resident
Wohl nie Einspruch zu erheben haben.
Die gleiche Tendenz verfolgt Art. 56 mit der Bestimmung, daß die Er¬
mächtigung für ausländische Gesellschaften, im Freistaate Geschäfte zu treiben, der
Zustimmung des polnischen Residenten bedürfe, mit anderen Worten: Die deutschen
Handelsgesellschaften sollen von Danzig ferngehalten werden. Auch dies ist wieder
ein unerhörter Versuch, Danzigs Rechte selbst auf wirtschaftlichem Gebiete ein¬
zuengen.
V. Demgegenüber sei aus den Abwehrmaßnahmen des Danziger Entwurfs
was hervorgehoben, daß er sich mit Rücksicht auf seine eingeschnürte Lage ein weit¬
gehendes Recht des Verkehrs und des Handeltreibens seiner Angehörigen in Polen
sowie die Zufuhr von Lebensmitteln und Kohlen polnischerseits sichert.
, Den Ansprüchen der Polen auf eigene Schulen begegnet er geschickt mit dem
kurzen Hinweise darauf, daß die Minoritätsrechte der Staatsangehörigen polnischer
Abstammung oder Sprache durch die Verfassung Danzigs gewährleistet werden.
Die Verwaltung des Post-, Telegraphen- und Fernsprechwesens erklärt er
grundsätzlich als eine Angelegenheit Danzigs. Polen darf eine eigene Postanstalt
°w Hafen errichten.
Das Eigentum an allen Anlagen des Hafens, der Danziger Eisenbahn, der
Danziger Weichselstrecke behält er Danzig vor, ebenso wie es die Kosten für diese
Anlagen trägt.
VI. Es mag an diesem Auszuge aus den beiderseitigen Entwürfen sein Be¬
wenden haben. Er zeigt jedenfalls, wie die Polen in ebenso anmaßender wie durch
keine Rechtsbestimmung gedeckter Weise versuchen, die ihnen im V. F. V. gewährten
Verwaltungsrechte im Freistaate so weit auszudehnen, daß, wenn sie damit durch¬
drängen, nur noch der Schatten eines Freistaates übrig bliebe. . Nunmehr ist es
Sache des Obersten Rates in Paris, dem beide Entwürfe vorliegen, zu entscheiden,
ob er gewillt ist, sich ernstlich an die Bestimmungen des V. F. V. zu halten — so, wie
dessen gewissenhafte Erfüllung ja immer von Deutschland verlangt wird —, oder ob
er sich dazu hergibt, das von ihm selbst gesetzte Recht zu beseitigen, nur um der
polnischen Begehrlichkeit eine weitere Erfüllung zu gewähren. Zunächst kann er
freilich machen, was er will, Danzig ist wehrlos, Deutschland ist wehrlos, aber auf
die Dauer ist noch kein an Völkern begangenes Unrecht ungesühnt begangen worden:
Oisans sustitiam, moriiti et non temnere ciivos!
MW
.C^Miurch einen soeben veröffentlichten Erlaß vom 9. September 1920 hat
der preußische Kultusminister im Einvernehmen mit dem Finanz¬
minister das Schulgeld mit Wirkung vom 1. Oktober 1920 an den
staatlichen und den in der Verfügungsgewalt des Staates stehenden
höheren Lehranstalten für sämtliche Schüler und Schülerinnen all¬
gemein auf jährlich 500 ^ festgesetzt. Das Schulgeld, welches vor dem Kriege
120 -Ki betrug, und inzwischen auf 240 °A erhöht worden ist, ist damit auf mehr als
das Vierfache seines ursprünglichen Betrages gebracht worden, um 313 ?s erhöht.
Den Patronen der nichtstaatlichen höheren Lehranstalten ist aufgegeben, dieselben
Schulgcldsätze am 1. Oktober 1920 einzuführen, widrigenfalls die Entziehung des
Staatszuschusses und insbesondere die Nichtbewilligung der Zuschüsse zur Be¬
soldungsreform in Aussicht gestellt wird. Die sonstigen höheren Lehranstalten
müssen, durch die Schwere der Tatsachen gedrängt, folgen.
1. Diese Schulgelderhöhung, nach außen sehr plötzlich gekommen, wenn auch
schon seit einiger Zeit vorbereitet, wird in viele Haushaltungen erschreckend ein-
schneiden. Man steht vor der Frage, ob sie sich nicht in dieser Schärfe vermeiden
ließ, vor allem, ob sich nicht noch Modifikationen einführen lasten, die wenigstens
einigen Schutz gewähren. Geht man der Frage nach, so sieht man sich vor einem
der schwierigsten Probleme des Gebührenwesens, da sich hier ideelle und finanzielle
Momente in komplizierter Weise kreuzen, doppelt schwierig in unserer verworrenen
Zeit, in der die Parteien auch noch politische Momente reichlich in die Sache
hineintragen.
Die Verordnung ist offensichtlich nicht aus solchen parteipolitischer Er¬
wägungen, sondern aus rein finanziellen Motiven hervorgegangen. Sie sagt es
im Eingange ausdrücklich, und ein Blick auf die finanzielle Lage des geistigen
Lebens in Deutschland rechtfertigt das ohne weiteres. Die wissenschaftliche
Forschung ist heute im höchsten Maße gefährdet, die Bibliotheken verfallen infolge
der hohen inländischen Bücherpreise (ein Band Reichsgerichtsentscheidungen ist von
4,50 auf 33 gestiegen!) und infolge der Unmöglichkeit, Bücher aus dem Aus¬
lande, namentlich aus England, überhaupt zu erwerben.
Mit diesen Fragen hängt im Grunde aufs innigste die Notlage unserer Lehr¬
institute der verschiedensten Art zusammen. Hier interessieren nur die höheren
Schulen. Die Kosten für diese sind außerordentlich gestiegen. Die Lehrergehälter
sind im Rahmen der allgemeinen Beamtengehaltserhöhung erhöht worden, noch nicht
ganz auf das Dreifache und sicherlich noch sehr unzureichend. Die sachlichen Aus¬
gaben, wie die Bücheranschaffungen, Lehrmittel usw., ganz besonders die Kohlen,
steigen unsinnig; Neubauten, die natürlich in vielen Fällen nötig sind, sind un¬
erschwinglich, schon die Mittel für Reparaturen sind enorm. Wenn man das Schul¬
geld daher erhöht, so ist das an sich verständlich. Verständlich ist auch bei dieser
Sachlage die Erhöhung auf das Vierfache. Man wird annehmen können, daß damit
der bisherige Zustand aufrechterhalten werden soll, wonach in Preußen die Schul¬
gelder etwa ein Drittel des Bedürfnisses der höheren Schulen deckten. Ist dieses
Vorgehen berechtigt, und kann es ohne Schaden von dem einzelnen und der All¬
gemeinheit getragen werden?
2. Zunächst ist bei der Beantwortung der Frage die Idee der vollen Schul¬
geldfreiheit auszuscheiden. Sie spielt in den Theorien einer Gruppe der neueren
Schulreformer eine große Rolle, und sie gehört überhaupt zum eisemen Inventar
der Erziehungsreformerörterungen aller Zeiten. Als Ideal ist sie natürlich zu
unterschreiben. Neu ist sie nicht. Sie entspricht schon den Erziehungssystemen der
antiken Philosophen. Sie schwebte auch Fichte vor. Aber in seinen berühmten
Reden an die deutsche Nation wird ihm in der damaligen Notlage des Staates
doch sichtlich bange vor der Frage der Erhaltung seiner Erziehungsanstalten; er
fürchtet, daß sich die Begüterten zurückziehen werden, und er wünscht, daß sich die
Anstalten durch landwirtschaftliche Arbeit allmählich selbst ernähren. Heute ist ja
das Problem eng verquickt mit dem der Einheitsschule und anderen Fragen; die
restlose Eröffnung der höheren Schulen muß natürlich die Frühreifen vor allem
begünstigen und man wird diesen und anderen Gefahren doch irgendwie vorbeugen
Müssen. Aber man braucht der Sache hier nicht nachzugehen. Die Einführung der
vollen Schulgelderfreiheit ist aus finanziellen Gründen jetzt offenbar ausgeschlossen
und bedarf noch großer Vorbereitungen. Man muß mit dem Fortbestande der
Schulgelder vorläufig rechnen.
3. Wenn man beim Schulgeld also zunächst verbleiben muß, ganz gleichgültig,
Nie man schulpolitisch und parteipolitisch über die künftige Einführung der Schul¬
geldfreiheit denkt, so ist darum doch nicht die Erhöhung im gleichen Maße wie bet
Kder anderen Gebühr geboten. Die Eisenbahnpreise sind auf das Vier- und Fünf¬
fache gestiegen, die Post ist beim einfachen Brief auf das Vierfache, bei anderen
Leistungen noch höher gegangen, die Anwaltsgebühren dagegen haben sich — ent-
sprechend der Beamtenverbesserung — nur auf das Dreifache erhöht, haben aber
durch die automatische Erhöhung der Objekte noch eine indirekte Erhöhung erfahren.
Wenn man nun das Vierfache für die Schulgelder fordert, so ist zunächst zu beachten,
daß diese Gebühren zwar gewiß nach den Kosten der Einrichtung für den Staat
(bzw. die Gemeinde) zu bemessen sind, nicht nach dem (unschätzbaren) Wert der
Leistung für den Empfänger. Dabei muß die Bemessung bekanntlich eine objektive
bleiben, kann nicht subjektiv nach der Leistungsfähigkeit erfolgen, sonst schlägt die
Gebühr in eine Steuer um, worauf noch zurückzukommen ist. Wohl aber kann man
vom Kostenprinzip aus die Gebühren objektiv über die konkreten Kosten (oder, wie
hie?, über das übliche Drittel der Kosten) steigern oder senken. Wenn man sie
steigert, so bedeutet das eine Art Sperre, und wenn auch die jetzige Erhöhung nicht
so gemeint ist/ so könnte sie doch in solchem Falle als Sperre der höheren Schulen
für weite Kreise wirken. Dagegen wird man die Gebühr senken, wenn man die
Bedeutung der zu entgeltenden Leistung für die Allgemeinheit anerkennt; das liegt
bei den Schulgeldern schon in der Drittelung: es läßt sich aber noch verstärken,
wenn die Last für die einzelnen so unerträglich wird, daß tatsächlich auch bei Ein¬
haltung des Drittelbetrages eine Sperre entsteht.
Will man sich ein Bild machen, ob dies der Fall ist, so muß man beachten,
daß die höheren Schulen keineswegs nur von „Reichen" benutzt werden, wie in
der Agitation oft ganz unberechtigtermaßen behauptet wird. Die Arbeitsgemein¬
schaft der Charlottenburger Elternbeiräte der höheren Schulen hat,in diesen Tagen
in Anlehnung an ein schon früher benutztes Schema des Charlottenburger Magistrats
Erhebungen angestellt, die von den Direktoren zum Teil unterstützt worden sind-
Dabei zeigt sich wieder, daß der Prozentsatz der reichen Eltern verhältnismäßig
klein ist. Bei einem in wohlhabender Gegend liegenden Lhzeum und einer mehr
im Verkehrsmittelpunkt liegenden Oberrealschule ergaben sich folgende Ziffern, denen
die Ergebnisse einer früheren Erhebung des Charlottenburger Magistrats über die
Vermögensverhältnisse der die Vorschulen beschickenden Eltern aus der Friedenszeit
beigefügt seien:
Hiernach beträgt in dem reichen Lyzeum die 1. Kategorie zirka V°, in der
Oberrealschule nur V--°, in den Vorschulen sogar nur V-» (— 3,5 ?Z) der Schüler.
Selbst wenn man aber die beiden ersten Kategorien zusammenrechnet (was voll¬
kommen unberechtigt ist, wie ein einfacher Blick in das Beamtenbesoldungsgesetz
lehrt, nicht zu reden von der Notlage vieler Anwälte und Ärzte usw.), so ergibt sich
bei dem Lyzeum zirka bei den Realschülern '/-, bei den Vorschulen etwas mehr
als (— 28,3 A). Wenn man also vorsichtig schätzt, so sind durchgängig aller¬
mindestens 75 ?S der Schüler und Schülerinnen aus recht wenig bemittelten Kreisen-
In Wahrheit kann man heute nur noch einen ganz kleinen Bruchteil der Kategorien
der höheren Beamten usw. als reich betrachten, nämlich soweit sie erhebliches Privat¬
vermögen haben, so daß man schon nach diesen wenigen statistischen Anhaltspunkten
— wenn man beachtet, daß die „reichen" Schüler sehr selten sind und daß im ganzen
Nur in den teueren Stadtteilen die höheren Beamten erhebliches Privatvermögen
besitzen werden — die Zahl der reichen Kinder auf durchgängig höchstens 6 A in
den Charlottenburger Schulen schätzen kann. Ein weiterer Ausbau der Statistik
wird voraussichtlich erfolgen.
Was können nun die hiernach weniger bemittelten Eltern leisten? Man gewinnt
ein Bild, wenn man den Ernährungsetat der Familien betrachtet. Bei den heutigen
Preisen ist eine noch einigermaßen erträgliche Ernährung, die nicht schon die Ge¬
sundheit gefährdet, unter 10 pro Person in Berlin nicht mehr herzustellen. Diese
Ziffer beruht auf Nachfrage in den verschiedenen Kreisen. Man mag annehmen, daß
bei steigender Zahl der Familienangehörigen die Gesamtkosten der Ernährung etwas
sinken, beträchtlich ist das nicht. In einer Versammlung von 5000 bis 6000 Personen
hat dieser Berechnung niemand widersprochen. Geht man davon aus, so stellt sich für
den höheren Beamten in der (nur ein winziger Prozensatz) Besoldungsklasse des
^inisterialrats, wenn er vier heranwachsende Kinder hat, der Etat etwa folgender¬
maßen: 40 000 Maximaleinkommen (es ist etwas weniger, es sollen aber einige
Uebereinkünfte veranschlagt werden), davon zirka 10 000 Steuern. Von den
verbliebenen 30 000. ^ entfallen auf Ernährungsetat zirka 21000 ^, von den
Übrigen 9000 sollen Wohnung, Heizung (I), Beleuchtung, Kleidung für sechs
Personen, Fahrten, Arzt, Zahnarzt, einige Bücher und die Zeitungen usw. bestritten
werden. Zur Bedienung bleibt nichts übrig, die Frau muß alles selbst leisten,
^enso kann an Musikstunden und ähnliches nicht mehr gedacht werden. Von diesem
betrage aber werden nun noch 2000 ^ für Schulgeld abgezogen. Die Folge ist
Natürlich Unterernährung! Bei den vielen höheren Beamten mit etwa 25 000 bis
^000 ^ und weniger Einnahme und bei den mittleren mit 20 000 und erheb¬
lich weniger sowie bei den ähnlich gestellten Gewerbetreibenden ergibt sich hiernach
^n geradezu erschütterndes Bild! Und doch wird man annehmen können, daß
sicher 75 wahrscheinlich 94 ?S, der Eltern über solche Einnahmen nicht hinaus-
kommen. Vielleicht verschiebt sich das Verhältnis etwas durch die Gewerbetreibenden
"ut kleinen Kaufleute, deren Einkommen schwer abzuschätzen ist. Aber im ganzen
^um man sagen, daß eine Familie mit vier Kindem in allen diesen Fällen eine
^elastung mit 2000 ^5 Schulgeld nicht verträgt. Natürlich liegt die Sache sofort
°ick besser, wenn nur zwei Kinder vorhanden sind. Dann wird sofort der Verhängnis¬
se Ernährungsetat geringer.
4. Bevölkerungspolitisch ergibt sich aus alledem, daß durch die Verordnung
6ero.de die kinderreichen Familien verderblich getroffen werden. Die Folge muß ein
^°eh stärkeres Zurückgehen des Ernährungszustandes der Kinder sein. Es hat sich
el der Untersuchung zur Quäkerspeisung ohnehin einwandfrei herausgestellt, daß die
Unterernährung bei den Kindern der höheren Schulen vielfach erheblich größer ist, als
" denen der Volksschulen. Insbesondere haben das die ärztlichen Feststellungen
°r Arbeiterstadt Spandau ergeben (vgl. Neue Zeit vom 25. Mai 1920: „Wessen
Binder hungern am meisten?"). Jedenfalls haben die Kinder der Volksschule nicht
mehr gelitten als die der höheren Schulen. Jetzt wird den kinderreichen Familien
der höheren Schulen der Brotkorb noch höher gehängt!
5. Man hat sich nach Mitteln umgesehen, um alle diese Folgen zu vermeiden
und das Schulgeld zu erhalten. Dabei ist man auf den Gedanken der Staffelung
des Schulgeldes nach der Einkommensteuer verfallen. Der Gedanke ist ebenfalls
nicht ganz neu, er ist insbesondere schon einmal für Groß-Berlin erwogen worden-
Er ist tatsächlich undurchführbar. Wollte man die Schulgelder auf diesem Wege
etwa auf das erste Fünftel der Eltern im wesentlichen abwälzen, so kommt man
pro Kind auf das Fünffache von 500 also auf 2500 -F; will man es auf das
erste Zwanzigstel, das wirklich tragfähig ist, abwälzen, so kommt man pro Kind auf
10 000 Aber auch wenn man die geringeren Einkommen etwas heranzieht, werden
bei fortgesetzter Steigerung die Ziffern für die höheren Einkommen enorm. Be¬
schränkt man dabei die Berechnung auf die einzelnen Schulen, so muß man damit
rechnen, daß die reichen Zensiten sich der Leistung leicht entziehen; einmal wohnen
diese in der Regel in der Großstadt in bestimmten Stadtvierteln zusammen und
werden ihre Kinder immer mehr konzentrieren, andererseits werden isolierte reiche
Zensiten zum Privatunterricht übergehen. Man muß daher auf alle Fälle durch
ganz Preußen durchstaffeln, allenfalls müßte man für Groß-Berlin durchstaffeln-
Dann kommt man wieder zu sinnlos und dabei zugleich finanziell zwecklos hohen
Beträgen für die reichen Zensiten. Denn vor dem Kriege betrugen in ganz Preußen
die Zensiten mit Einkommen über 6500 bekanntlich nur etwa 354 A (1911-
3,256). Diesem Einkommen kann man heute etwa ein Einkommen von 25000°^
durchschnittlich gleichstellen (bei Beamten ist es erheblich weniger). Man muß also.
auel> die mittleren Einkommen stark heranziehen. Die Folge ist eine Belastung schou
dieser mittleren Einkommen in abnormer Höhe. Die Sache ist nun in einigen
Fällen praktisch durchgeführt oder wenigstens beschlossen worden, insbesondere liegt
mir das Material der rheinischen Stadt Velbert vor; dort hat man für das Real¬
gymnasium durch Beschulß vom 16. April 1920 gestaffelt, und zwar bis 4000
Einkommen frei, bis 5000: 50 -F, bis 7000: 100 -F, bis 10 000: 200 bis
13 000: 300 bis 16 000: 400 bis 18 000: 500 -///, bis 20 000: 600
bis 25 000: 800 -F, darüber: 1000 -F. Über diese Summe hat man begreiflicher¬
weise überhaupt nicht weiter gestaffelt. Es wird also hiernach die Summe von
500 bereits in einer Einkoinmenshöhe überschritten, welche noch durchaus ZU
den mittleren, ja zu den kleineren Einkommen Zu rechnen ist, so daß gerade diese
durch das System noch schwerer getroffen werden! Allerdings hat man in Velbert
bei einer Mehrzahl von Kindern das Schulgeld abgestafselt, und zwar bei dem zweiten
Kinde eine Stufe, beim dritten zwei Stufen, beim vierten und jedem weiteren drei
Stufen. Aber auch unter Berücksichtigung dieser Staffelung stellt sich das Schulgeld
bei 25 000 Einkommen für vier Kinder dann immer noch auf 3000 -/^ bei
20 000 bis 25 000 Einkommen auf 2300 ^, so daß für diese mittleren Ein¬
kommen die Sachlage sich noch ungünstiger stellt, als bei 500 Fixum. Selbst in
Velbert hat man über 1000 in der Staffelung hinauszugehen sich nicht ent¬
schließen können. Man hätte auch damit nichts finanziell Nennenswertes erreiche"
können.
Es ist daher auch durchaus erklärlich, daß der für grundsätzliche Schulgeld¬
freiheit eintretende Deutsche Lehrervcrein in Halle am 13. und 14. Mai 1920 Be-
Schlüsse gefaßt hat, welche sowohl die außerordentlich beträchtliche Schulgelderhöhung
der Staatsschulverwaltungen und vieler Gemeinden bekämpfen (unter Betonung
Bayerns als Vorbild für mäßige Schulgelder), wie auch gegen die Staffelung nach
Einkommensteuer und Schulgeldbefreiungen einzelner sich erklären: solche Ma߬
nahmen „tragen die Ungleichheiten des Lebens in die Schulen und zerstören damit
die Gleichheit an den Stätten der öffentlichen Erziehung".
6. Erwägt man das alles, so wird man zu der Überzeugung kommen, daß eine
Schulgelderhöhung heute nicht zu vermeiden ist, daß aber der gewählte Weg als
zu drückend bezeichnet werden muß. Über die absolute Höhe des jedenfalls erheblich
herabzusetzenden Fixums ist in unserer heutigen Zeit des Hinaufgleitens der Preise
in ineinander greifender Kette schwer zu streiten. Aber unbedingt nötig ist die
Prinzipielle Erkenntnis, daß das Schulgeld als Gebühr im öffentlichen Interesse
erheblich, und zwar erheblicher als bisher, unter dem Niveau des Kostenprinzips
gehalten werden muß. Unbedingt nötig ist insbesondere schon jetzt eine starke.-Ab-
staffclung bei einer größeren Kinderzahl.
Die Hinausdrängung der jetzt als mittlere Einkommengruppen zu betrachtenden
Vevölkerungsteile aus der höheren Schule muß verhängnisvoll wirken. Nur die
Hoffnung auf das Glück ihrer Kinder hält die meisten Eltern dieser Kreise im
harten Lebenskampf noch aufrecht; die Frauen insbesondere opfern im stillen Helden¬
tum vielfach ihr letztes Stück Glück und Gesundheit diesem Ziel. Sollen sie noch
schwerere Opfer bringen, um den Söhnen eine bessere Zukunft zu retten und die
Töchter — die das erste Opfer der Verdrängung werden würden — als den
künftigen Müttern die geistige Ausbildung zu sichern? Aber man kann von dieser
persönlichen Seite ganz absehen. Es handelt sich um das Bildungsniveau des
ganzen Volkes. Die mitgeteilten Zahlen beweisen, daß große Kreise des mittleren
Einkommens aus der höheren Bildung herausgedrängt werden oder sie mit steigender
Unterernährung bezahlen müssen. Der höhere, mittlere und Unterbeamte, der kleine
Kaufmann und Gewerbetreibende, der kaufmännische Angestellte und nicht zum
wenigsten auch der gehobene Arbeiter wird von der höheren Bildung für seine Kinder
immer mehr abgeschnitten. Diese aufstrebenden Gruppen haben aber von jeher
besonders wertvolles Material für die Ausbildung gestellt, nur der Böswillige oder
ganz Unwissende kann leugnen, daß die häusliche Umwelt für die Erziehung eine
große Bedeutung hat. Man wird den starken Intelligenzen aus den heute am
höheren Schulwesen weniger beteiligten weiten Kreisen durch Freischule, Dar¬
reichung von Ernährung usw. den Weg zur höheren Bildung in weitesten Maße
offnen müssen, und man tut es auch schon. Aber aus der gleichen Erwägung
heraus muß man vor allem die mittleren Einkommenschichten schonen. Wir können
^ uns heute nicht gestatten, dieses Kapital an kulturellen Gütern zu zertrümmern.
Es ist in einer Generation vernichtet! Im Geistesleben liegt unsere ganze
Zukunft.
le Entwicklung jeder Kunst wechselt zwischen Windstille und
Sturm, jahrhundertelanges ruhiges Wachstum wird von Zeit
zu Zeit durch Naturkatastrophen abgelöst, die alles umzustürzen
und zu zermalmen drohen. Hat aber der Wettergott den Himmel
rein gefegt^ so strahlt aus dem alten Blau wieder die alte Sonne
herab und das frischgewaschene Erdreich leuchtet verjüngt auf. Haben auch
hier und da die entfesselten Gewalten dem Wasser einen neuen Weg gebahnt
und einen morschen Baum gestürzt, so meint der Zuschauer doch, es hätte so
großen Aufwandes an Dramatik gar nicht bedurft, um zu dem schließlichen
Ergebnis zu gelangen. Die Geschichte der deutschen Musik hat mehrmals der¬
artige Wirbelwinde erlebt, wo ein furioses Prestissimo plötzlich in das freundliche
Andante des historischen Werdens mit wilden Dissonanzen hineingebrochen ist.
Wenn da zwei Chronisten des 14. Jahrhunderts unabhängig voneinander be¬
richten: „Die Musik hat sich sprungartig bereichert und verändert, und wer noch
kürzlich der beste Pfeifer war im Land, der dünkt den Leuten jetzt vor lauter
neuen Liedern keine Fliege mehr wert zu sein -—", dann grollt aus so großer
zeitlicher Entfernung nur noch ein schwacher Widerhall schwerer Gewitter nach.
Schon wesentlich stürmischer erscheint uus Heutigen das Echo, das die von Italien
her ums Jahr 1610 nach Deutschland hereindringende Kunst des Generalbasses
bei einem Schütz, Schein, Michel Praetorius geweckt hat, und noch ein Menschen-
alter später hat der so heraufgeschworene Konflikt zwischen den Organisten als
den Aposteln der neumodischen Harmonik und den Kantoren als den Anhängern
der alten, kontrapunktlichen Chorkunst bis zu handgreiflichen Auseinander¬
setzungen Anlaß gegeben. Wieder solch eine schrille Perpetie bedeutete der
scharfe Schnitt um 1750 zwischen dem Stil des abklingenden Bachzeitalters und
dem von Wien und Mannheim her heraufgeführten Stil der Empfindsamkeit,
der letzten Endes als Auftakt zur Beethovenschen Romantik angesprochen werden
muß. Und heute erleben wir von neuem einen stürmischen Szenenwechsel.
Die Epoche Wagner-Brahms-Bruckner liegt zweifellos in den letzten
Zügen. Denn wenn die erste diesen Meistern nachgefolgte Generation der
Pfitzner, Reger, R. Strauß, Mahler, Humperdinck, Woyrsch usw. auch mehr
und besseres gewesen ist denn bloßes Epigonentum, ja Kühnes und Neues ge¬
wollt hat oder noch will, so ist es doch immerhin ein heute durchschnittlich fast
sechzig Jahre alt ge wordner Jahrgang abgeklärten Weines, der auch schon wieder
von einer jüngeren Partei als der Kreis der „gemäßigt Konservativen" be-.
trachtet wird.
Es fragt sich nun, was dieses Geschlecht der jetzt Dreißig- bis Vierzig¬
jährigen wert ist und wohin es zu rechnen sei —noch diesseits oder schon jenseits
der Paßhöhe, in deren Nähe wir uns allen Anzeichen nach befinden? Die Haupt¬
raum, um die sich das Interesse der Gegenwart und nächsten Zukunft dreht,
sind die Österreicher Arnold Schönberg und Franz Schreker, denen sich als
ckü winorum Zerlinen der Ungar BÄa Bartok und der Wiener Egon Wellesz
anreihen, dann der Berliner, um die neue Zeitschrift „Melos" gruppierte Kreis
der Hermann Scherchen, Eduard Erdmann und Genossen, schließlich als Haupt¬
theoretiker des Neutönertums der berühmte Klavierspieler Ferruccio Busoni,
der neuestens neben seinem temperamentvollen Antagonisten Pfitzner als
Kompositionsmeister an die Berliner Akademie der Künste berufen worden ist,
während gleichzeitig Schreker an der ihr unterstellten staatlichen Musikhochschule
als Direktor, Scherchen als Lektor für „moderne" Musik angestellt wurden.
In der deutschen Schweiz und am Niederrhein, in Leipzig wie in München
finden sich noch kleinere Filialen, im übrigen ist die Erscheinung international
verbreitet. Das gemeinsame Kennwort dieser ungefähr gleichgerichteten Be¬
strebungen lautet: Musikalischer Expressionismus.
Was bedeutet das Wort? Offensichtlich ist es den neuesten malerischen
und bildhauerischen Tendenzen nachgebildet, die aber diesen ihren letzten „-ismus"
bemerkenswerterweise ihrerseits wieder von den Verhältnissen innerhalb der
Tonkunst abgeleitet haben. Denn wie man hier seit langem „Programm-
Musik" und „absolute Musik" unterscheidet, je nachdem ob Außermusikalisches
tönend nachgebildet wurde oder das klingende Kunstwerk allein unter dem
Eigengesetz tonkünstlerischer Ideen zustande gekommen ist, so sollte nun auch
in der bildenden Kunst der bisherigen, zuletzt im „Impressionismus" bekundeten
Naturabbildung eine reine Ausdruckssprache entgegengesetzt werden, die rein
seelische, gewissermaßen musikalische Wirkungen mit optischen Mitteln zu ver¬
sinnlichen unternahm. Wollte eine solche sich nicht auf bloße Arabesken und
Stilisierungen von reichlich mathematischer Gestalt beschränken, sondern auch
°lie aus der sichtbaren Natur ihr geläufigen Begriffe ins Subjektive um-
schmelzen, ohne ins bisherige Abkonterfeien der Natur zurückzufallen, so mußte
einer burlesken, die Realität möglichst verneinenden, wenn auch immer noch
durchscheinen lassenden Darstellungsweise geschritten werden — das absonder¬
liche Ergebnis in Gestalt des Kubismus und (in der Lyrik) des Dadaismus ist
iedermann geläufig. Ich möchte über diese Versuche nicht schlechthin grund¬
sätzlich absprechen, denn ganz gewiß ist das heiße Suchen und Ringen nach neuen
Ausdrucksmöglichkeiten, selbst wenn es bis auf die Primitivitäten der Neger
und steinzeitlicher Höhlenbewohner zurückgreift, lobenswürdiger als gedanken¬
träges Verharren in der Schablone und im bequemen Kitsch. Freilich soll damit
^n häßlichen Begleiterscheinungen der Bewegung, wie dem frechen Verhöhnen
tetes nationalen, rafsebewußten Instinkts zugunsten allgemeiner orient-
entstammter Ostlichkeit und einer kindischen Reklamesucht keineswegs das Wort
geredet werden! . ^. , ..
^^
Wie ließ sich nun ein musikalisches Gegenstück zu diesem bildnerischen
Expressionismus gewinnen? Nach dem Gesagten mußte man versuchen, den
von den Malern zwischen Impressionismus und Expressionismus als Abbildungs-
und Seelenkunst konstruierten Widerstreit auch als Gegensatz zwischen der bis¬
herigen, gegenüber der Programmusik in erdrückenden Übergewicht befindlichen
..absoluten" Tonkunst und einer neuen, noch unbekannten Klangwelt herzu¬
stellen, also eine Musik von derartiger Musikalität zu schassen, daß an ihr ge¬
messen die alte „absolute" Tonkunst nur noch als bloße Programmusik gelten
konnte. Man sieht, wohin dieses „musikalischer als die Musik" letzten Endes
führt. Und da der Gedanke, falls er sich nicht mit einer bloß stufenweisen Steige¬
rung des rein seelischen, bisher schon in der Musik überwiegend richtunggebenden
Elements begnügen will, in sich widersinnig wird, so blieb nichts übrig als die
expressionistischen Äußerlichkeiten der Schwesterkünste nachzuahmen — so die
möglichste Negation des bisherigen Schönheitsideals, die Bevorzugung des
Krankhaften, Exaltierten, Explosiven, Unnatürlichen, die Anleihen bei der Kunst
außereuropäischer Kulturen und dergleichen.
Es ist kennzeichnend für die geistige Einstellung unserer musikalischen
Expressionisten, daß sie nie oder nur in Ausnahmefällen auf dem Wege der
musikalischen Praxis zu ihren Neuerungen, Gesetzesaufhebungen, Revolutionen
gelangen, vielmehr in erstaunlichem Maße das verstandesmäßige, theoretische
Raisonnement vorausschicken, bei der Musikwissenschaft in ihrer historischen wie
akustischen wie ethnologischen Richtung Anleihen zu machen, Stützen zu ge¬
winnen suchen, ohne daß hier doch meist ein offenbares Dilettieren, halbes oder
ganzes Mißverstehen vermieden worden wäre. Vorläufig ist in den einschlägigen
Tonwerken denn auch weit mehr Abbruch denn positiv neu Aufbauendes zu
beobachten. Das Bedürfnis, immer schärfere Reizmittel zu erfinden, hat-' die
Dissonanz, die bisher immer als eine der Lösung bedürfende Spannung be¬
trachtet wurde, dieses Zusammenhanges mit der Konsonanz beraubt, sie zu einer
in sich selbst beruhenden Farbe umgewertet, damit aber natürlich auch die Kon¬
sonanz von ihrer auf solchem Gegensatz beruhenden Ehrenstellung verdrängt
und den fundamentalen Unterschied beider Begriffe als „Sein" und „Werden"
aufgelöst. Syntax und Logik der Musiksprache sind entthront, und auch in ton¬
künstlerischen Bezirken kündigt sich damit der Dadaismns, die Freude am elemen¬
taren Süuglingslallen, an.
Nun brauchte man an sich ja nicht zu erschrecken, denn keine neuen Tafeln
werden geschrieben, ohne daß alte dafür in Scherben gehen. Nur erscheinen die
praktischen Denkmäler dieses Kunststrebens, wenn ihnen auch z. B. in Erdmann
ein persönlich stürmisch-jugendliches Temperament sich zugesellt hat, nicht als
wildes Kreißen einer neuen, kindlichen Welt, sondern vielfach als ein greisenhaft¬
raffiniertes, geschmäcklerisch überreiztes Probieren letzter müderEnk el einer ab¬
klingenden, vereisenden Epoche. Es sind nicht die Odoaker, Chlodwig und Dietrich
in barbarisch ungeschlachter Kraft am Werke, sondern — soweit ich sehen
kann — viel eher noch die Romuli ^ugustuli, die sich mehr um Roms, den
Hahn als um Roms, das Weltreich erregen. Mag auch hie und da ein über¬
zeugter Narr, ein ehrlich begeisterter Sonderling unter ihnen sich um sein ver¬
meintliches Ideal stigmatisieren lassen,^ so fehlt es auch hier zweifellos nicht an
dem unerfreulichen Typus derer, die den Deutschen alles, was ihre großen
Meister an Echten und Wahren erkämpft haben, als wertlos hinstellen möchten,
ihnen jeden eingeborenen Instinkt auszutreiben suchen, um ein neues Ideal der
Negerkunst in ihre doch ganz anders gearteten Seelen zu gießen. Man wird es
national und völkisch gesonnener Künstlern und Kunstfreunden nicht übelnehmen
dürfen, wenn sie sich solchen Bestrebungen gegenüber, die die äußerste Konse¬
quenz des üblen Schlagworts ,,1'art pour l'art" predigen und doch außerkünstle-
rische Begriffe wie Internationalismus, Kommunismus, Pazifismus gern ein¬
mischen, zu mindest abwartend verhalten.
Einstweilen hat der Brahms-Wagner-Brucknersche Nachwuchs noch recht
Erhebliches zu sagen, denn Pfitzners „Palestrina", Straußens „Frau ohne
Schatten", Woyrschs Oratorium „Da Jesus auf Erden ging" sind schließlich
kein Pappenstiel. Sehr bemerkenswerte Kleinmeister wie der Würzburger
H. Zilcher, der Erfurter R. Wetz, der Darmstüdter A. Mendelssohn, der Berliner
P. Grüner, der Schwabe A. Halm und viele andere beweisen täglich durch ihr
Schaffen, daß das alte Tonsystem noch längst nicht so überständig ist wie die
Sechsteltonleute um Busoni herum behaupten, weil ihnen innerhalb der wahr¬
haftig nicht willkürlichen, sondern aus Naturnotwendigkeit erwachsenen Dur¬
mollwelt nichts Wesentliches zu sagen mehr einfällt.
Daß etwas Neues kommen wird und kommen muß, erscheint von der
Warte des Musikhistorikers aus als selbstverständlich, und Oswald Spenglers
Pessimismus dürfte übertrieben oder doch wesentlich verfrüht sein. Daß aber
das Neue erfreulicher, gesünder, deutscher ausschauen möge als die bisherigen
Klavierstücke eines Schönberg und Wellesz, steht innig zu hoffen. Eines sollte
freilich der Zukunftsmusiker von dem heutigen bildenden Künstler lernen: daß
es keine Schande ist, höchstes Kunstwollen auch auf die Anfertigung eines Ton¬
kruges, eines Schrankes, eines Kerzenhalters zu verwenden. Bekamen wir
wieder ein musikalisches Kunstgewerbe, wie es die alte Zeit als tausenderlei Ge¬
brauchsmusik von Rathaustürmen und Glockenstuben herab, bei Taufe, Hoch¬
zeit, Festmahl und Begräbnis, durch Stadtpfeifer, Militärtrompeter, Kurrende,
kirchliche Abendmusik und Gassenständchen hat ertönen lassen, wo wäre es besser
um unsere Gesamtkultur bestellt, und der schrecklich klaffende Spalt zwischen
Operettenschlager als „Volkskunst" und Snobexpressionismus als „Gebildeten-
kunst" würde sich allmählich wieder schließen. Ohne ein allgemeines, kraftvolles
Wollen in dieser Richtung wird der deutschen Tonkunst keine große Zukunft
Mehr blühen.
, Die Zersetzung der Sozialdemokratie. Weitblickende Führer der Sozial-
oemokratie wie Paul Lensch erkannten schon während des Krieges, daß der macht¬
politische Sieg der sozialistischen Gedankenwelt mit einer Krisis der organisatorischen
Formen verknüpft sein müßte, in denen sich der Sozialismus parteipolitisch aus¬
prägte. Wir erlebten es, daß die sozialdemokratische Partei geschlossen in den
Krieg marschierte, daß sie sich auf der Höhe der militärischen Entscheidungen zum
ersten Male spaltete und daß sich seither immer neue parteipolitische Absplitterungen
vollziehen. Aus der Spartakusgruppe der Unabhängigen Sozialdemokratie wurde
vie Kommunistische Partei Deutschlands, daneben trat die Kommunistische Arbeiter¬
partei Deutschlands, der Syndikalismus trat ebenfalls als selbständige Form
'
hervor und soeben konnte Crispien den Hamburger Kommunisten nachsagen, daß
dort bereits fünf kommunistische Richtungen sich deutlich voneinander schieden.
Während es sich bisher zumeist um einen Exodus nach weiter links handelte, erleben
wir nunmehr in der Unabhängigen Sozialvemokratie die Zersetzung des sozialistischen
Zentrums in sich. So sehr auch die Mehrheitssozialisten in Kassel über diese
Entwicklung triumphieren, so große Hoffnungen sie für kommende Neuwahlen
darauf setzen, der scharfe Trennungsstrich, den Crisvien auch nach rechts zog, zeigt,
daß es sich einstweilen jedenfalls noch kaum um neue Konzentration, sondern um
eine fortschreitende innere Zersetzung der geschlossenen Front des Parteisozialismus
handelt.
Die allgemeinste Ursache dieser Entwicklung wurde bereits angedeutet. Die
Differenzierung der sozialistischen Richtungen rührt letzten Endes daher, daß die
Sozialdemokratie aus dem Stadium der Opposition in das der positiven Ver¬
antwortung hinüber steigt. Im billigen Negativismus der Opposition liegt eine
starke einigende Kraft, während die Nötigung zu verantwortlichen Aufbau die
Geister scheidet. Die Gesundung wird bei diesen Berufsrevolutionären von der
Linken durch einen Faktor unterbunden, den man — freilich im unfruchtbaren
Sinne — als konservativ bezeichnen muß. Es handelt sich hier nicht allein um
den Konservativismus, der jeder Partei als einer schwerfälligen Massenbewegung
innewohnt. Wenn die „Revolutionierung der Revolutionäre" am ungebrochenen
orthodoxen Glauben an das marxistische Dogma scheitert, dann lauert dahinter
die Angst, daß in diesem täglich hohler werdenden Dogmatismus die einzig zu¬
verlässige Bindung der Arbeiterklasse als politischen Machtfaktors beruht. Die
Unzulänglichkeit der Marxschen Lehren für die brennenden Lebensfragen des
zusammenbrechenden Kontinents wird instinktiv natürlich halb gespürt. Es rächt
sich jedoch an dieser Stelle das unfruchtbare Epigonentum der letzten marxistischen
Generation. Bis in die taktischen Einzelheiten hinein band sich die Sozialdemokratte
bis zum Kriegsbeginn an dies überständige Dogma. Selbst so überwundene
Ideen wie der Mehrwertgedanke traten lediglich in den Hintergrund, entschlossen
aufgegeben wurden sie nicht. Mit einem ungeheuren Ballast an theoretischem
Erbgut steht die Sozialdemokratie auch heute noch den praktischen Aufgaben einer
Stunde gegenüber, von deren wirklichem Gesichte auch der geniale Marx nur wenig
gewußt hat und wenig wissen konnte. Relative Unterscheidungen, wie die zwischen
Reformismus und Revolution, zwischen Nationalismus und Internationalismus,
ja selbst zwischen Militarismus und Pazifismus werden von den unfähigen
Epigonen, die heute den deutschen Sozialismus führen, noch immer als absolut
genommen oder doch als absolut hingestellt. selbständigen Köpfen, zu denen
Männer wie August Müller, August Wirrig, Paul Lensch, Erwin Barth,
Cohen-Reuß und andere mehr zu rechnen sind, gelingt es nicht, sich innerhalb
der sozialistischen Parteien eine wirkliche Machtstellung zu erringen. Sie werden
als Außenseiter beiseite geschoben und müssen Demagogen Platz machen, die den
Fragen positiven Aufbaus und verantwortlicher Führung völlig hilflos gegenüber¬
stehen. Die Massen der Arbeiterschaft spüren das auch sehr wohl, aber das
Versagen der berufenen Führer verhindert eine positive Auswirkung der sozialistischen
Führerkrise, so ist das sichtbare Ergebnis lediglich eine Steigerung des anarchischen
Schwundes jeder Autorität, ein hilflos verzweifeltes, hier apathisches, dort
hysterisches Hintaumeln ins politische Chaos. Das ist das Bild, das die Ent¬
wicklung der Linken heute einem jeden klar zeigt, der mit den Massen der
Arbeiterschaft in politische Berührung kommt. «
Auch in der Arbeiterschaft wiederholte sich, was für einen großen Teu des
deutschen Volkes während des Krieges und insbesondere nach dem Kriege bezeig
rend war. Aus der eigenen Ratlosigkeit erwuchs der illusionäre Glaube an das
Wunder, das von außen kommen sollte. Auch die Mehrheitssozialisten hatten an
der Wilson - Illusion zusammen mit der demokratischen Linken lebhaften Arten
genommen. Den farbenreich schillernden Patrioten Scheidemann trifft eine Haupr-
Verantwortung an der unverantwortlichen Weise, in der die Politik der 14 Punne
von uns aufgenommen und dann auf halbem Wege liegen gelassen worden ist.
Selbst aus diesem kümmerlichen Bestandstück unserer Friedenspolitik ist von deren
Verantwortlicher Trägern nicht entfernt das gemacht worden, was sich daraus
von minder dürren Händen hätte machen lassen. Es war ein gesunder Instinkt
in den linksradikalen Massen, wenn sie die Hoffnung auf den liberalen Westen
früher und entschiedener fallen ließen als die formal demokratische Julimehrheit
unter der Führung von Erzberger und Scheidemann. Es ist aber nicht zu ver¬
kennen, daß die Linksradikalen alsbald demselben impotenten Wunderglauben ver¬
fielen. Ihre Ostorientierung krankte an derselben pazifistischen Unentschlossenheit
wie die Westorientierung der faulen Mitte. Der Götze Wilson ist durch den
Götzen Lenin abgelöst. Daß eine deutsche Politik jedoch um Lenin ebenso ringen
müsse wie um Wilson, wenn für unsere Politik ein ersprießlicher Gewinnst erzielt
werden soll, das ist der Linken genau so wenig klar geworden, wie der westlerischen
Mitte. Daß Anschluß an Moskau ein leeres Wort sei, wenn es nicht als eine
primär deutsche Aufgabe begriffen würde, bleibt unseren Lenin-Trabanten völlig
verborgen. Am ehesten ist noch der K.. A. P. D. um Lauffenberg und Wolfheim
die militaristische Konsequenz dieses Schrittes klar geworden. In diesen Kreisen
scheint auch die Ahnung aufgedämmert zu sein, welch ungeheure Aufgaben sich für
den deutschen Kommunismus innerpolitisch wie auch außenpolitisch aus dem
völligen Versagen der bolschewistischen Wirtschaftsexperimente ergeben müßten.
Die K. P. D. benutzte zwar den AntiPazifismus als innerpolitische Kampsparole
gegen die Unabhängigen, ganz ebenso wie die Unabhängigen dieselbe Waffe gegen
die Mehrheitssozialisten richteten. In beiden Fällen wurde jedoch dieser Militaris¬
mus lediglich als Problem des inneren KvoeK-out für Fragen des entschlossenen
Bürgerkrieges aufgefaßt. Daß entschlossene Ostorientierung den Verzweiflungs¬
kampf zweier verelendeten und besiegten Völker am Rhein gegen die ungebrochene,
technisch gewaltig überlegene Armee der Entente bedeute, daß eine Aufrichtung
der neuen Westfront mit dem gleichzeitigen Bürgerkrieg im Innern unvereinbar
sei, wurde bis ganz weit nach links von den revolutionären Demagogen den
Massen gegenüber hinter der Illusion einer Weltrevolution verschleiert, die an
den inneren Zuständen Frankreichs und Englands völlig vorbeisah.
Die kümmerlichste Rolle spielte dabei die Unabhängige Sozialdemokratie.
Das demagogische Spiel nahm hier seine frivolste Form an, die Entschlußlosigkeit
und moralische Feigheit trieb hier ihre widerlichsten Blüten. Den Masseninstinkten
nuche nährte die unabhängige Presse die handgreiflichsten Illusionen über den tat-
ächlichen inneren Zustand Rußlands. Massen von deutschen Arbeitern, die gut¬
gläubig nach Rußland auswanderten, haben diesen unerhörten Volksbetrug am
eignen Leibe büßen müssen. Aus rein parteipolitischer Rücksichten, wenn nicht gar
aus noch korrupteren Motiven, betrieb jedoch dieselbe Presse gleichzeitig eine
hündische Unterwerfungspolitik gegenüber der Entente und fiel der Regierung
jedesmal in den Rücken, wenn sie sich je einmal zu mannhafterem Auftreten
gegenüber den Brutalitäten namentlich des französischen Imperialismus entschloß.
Die Unabhängigen, diese faule Mitte der sozialistischen Linken, führten einen
skrupelloser wahltaktisch eingestellten Machtkampf gegen ihre nächsten Nachbarn
nach rechts und nach links und verrieten dabei abwechselnd den Osten an den
Westen, den Westen an den Osten und allemal das deutsche Volk und das deutsche
Proletariat zugleich. Der Judaslohn wurde der U. S. P. D. in ihrem Augenblicks¬
erfolg bei den Neichstagswahlen zuteil, freilich nicht in dem Maße, wie es von
mancher Seite erwartet worden war. Die nächste Folge war ein Verrat am
Sozialismus insofern, als die Unabhängigen die Rückkehr der Mehrheitssozialisten
in die Regierung verhinderten. Die Rache kam im Zusammenhang mit den außen¬
politischen Ereignissen. Der Bolschewismus nützte die militärischen Erfolge gegen
Polen taktisch zu einem weit ausholenden Wurfe in seiner Politik der Dritten
Internationale aus. Er versuchte es, seine Weltherrschaft auf den rocker 6e
bronxe einer schrankenlosen zentralistischen Diktatur zu stabilieren. Die U. S. P. D.,
diese Partei der verantwortungslosen Lauheit in Reinkultur, merkte, daß hier
Maulspitzen nicht mehr helfe, daß gepfiffen werden müsse. Es reiste im Juli die
bekannte Abordnung nach Moskau, um wegen Aufnahme der Partei in die Dritte
Internationale zu verhandeln.
Nunmehr kam die Sache zum Klappen. Lenin konnte es wagen, die Form
der Aufnahme in die Dritte Internationale unter den Augen der anwesenden
deutschen Delegierten sogar noch zu verschärfen. Die wirtschaftliche Zerrüttung
Rußlands infolge der bolschewistischen Experimente war offenkundig. Selbst das
wissenschaftlich ausgemachte Werk, das Alfons Goldschmidt seinem sensationellen
Feuilleton („Moskau 1920") folgen ließ, kann die Tatsache nicht verschleiern, daß
der Bolschewismus auf wirtschaftlichem Gebiete über hoffnungslose Anfänge Nicht
hinausgekommen ist. Die Reiseberichte, die Wilhelm Dittmann in der „Freiheit"
veröffentlichte, bestätigen — im rein Tatsächlichen auch von seinen Gegnern
unwidersprochen — was unvoreingenommene Kenner des neuen Rußland monate¬
lang tauben Ohren im deutschen Proletariat gepredigt hatten. Die Delegation
spaltete sich. Wenn sich Däumig und Stöcker gegen Dittmann und Crispien für
den Anschluß an Moskau erklärten, so ließen auch sie sich dabei nicht durch den
empirischen Befund, sondern durch den taktischen Gedanken der Proletarischen
Weltrevolution leiten. Sie fanden aber nicht den Mut, gegen den tatarischen
Despotismus der Leninschen Parteiverfassung, der die Autonomie der Landes-
arteien und vor allen Dingen das Recht selbständiger Führerwahl nahezu aufhob,
en deutschen Gedanken eines organischen Föderalismus zu setzen. Sie verschlossen
sich der Tatsache, daß in dieser Dritten Internationale der Zarismus eine Auf¬
erstehung von ungeheurer Spannweite erlebte. Aber auch die Gegner des An¬
schlusses setzten dagegen nicht etwa eine bodenständige sozialistische Idee, sondern
lediglich die leere Skepsis und den unschövserischen Nihilismus, aus denen die
Politik der Unabhängigen von je kam.
Die Delegation kam zurück. Der Kampf um den Anschluß entbrannte in
der Presse, und das Zentralorgan der Unabhängigen Partei, die „Freiheit", machte
sich zur Wortführerin der Änschlußgegner. An den literarischen Feldzug schloß
sich eine umfassende Agitation als Vorbereitung für den entscheidenden Parteitag
in Halle. Der Kampf drang in die breitesten Massen, da dem Parteitag Urwähler
vorangingen, in denen die Entscheidung bereits vorweggenommen werden sollte."
Nun ist in Halle die Entscheidung gefallen. Unter ven töricht schadenfrohen
Grinsen von Kassel her hat sich die Unabhängige Sozialdemokratie gespalten,
beide Numpfparteien führen in vollendeter Don-Quichoterie die scharfe Abgrenzung
sowohl nach links wie nach rechts weiter. Wir haben glücklich zwei USPD., von
denen jede die allein seligmachende und vor allem auch — ein sehr wesentlicher
Punkt! — die allein erbberechtigte gegenüber Parteikassen und Parteiblättern sein
will. Das große Wort auf diesem „deutschen" Parteitag führten Ausländer,
im übrigen überlassen wir es der Parteichronik des Sozialismus, das Maß an
geifernden Haß und schmutzigster Verleumdung wiederzugeben, das die feindlichen
Brüder in lieblichem Wettbewerb übereinander ergossen.
Wir verzeichnen nüchtern die Machteinbuße, die das klassenkämpferisch ver¬
rannte Proletariat durch die Zersetzung des sozialistischen Parteishstems erleidet.
Es ist jedoch keine reine Freude, die uns dabei erfüllt. Aufbauende Kraft kann
der soziale Gedanke nur entfalten, wenn er jenseits von parteimäßiger Verein¬
seitigung sich unmittelbar den Lebensfragen der Nation zuwendet. Eine Gesundung
der Nation ist aber ausgeschlossen, so lange sich die breiten Massen des arbeitenden
Volkes im aufpeitschenden Kampfe der Parteileidenschaften selbstmörderisch ver¬
zehren. Hinter dem Gerede von Kassel, dem Gezänk von Halle und selbst der
zaristischen Gebärde von Moskau lauert dieselbe intellektuelle Feigheit. Der
Götzendienst des marxistischen Dogmas bringt den sozialen Gedanken, der ein
Gedanke der Zeit ist, um feine besten Früchte. Der „Vorwärts" hat wieder
einmal etwas ausgeplaudert. Vielleicht kommt bald die Stunde, wo er auch
dies Wort so gern im Busen bewahren möchte, wie die Anerkennung der
monarchischen Grundgesinnung des größten Teils des deutschen Volkes, die ihm
Vor 2 >/, Jahren entschlüpfte. Der „Vorwärts" zitierte vor wenigen Tagen Aus¬
führungen des Wiener Genossen Max Adler über die ,/Tro.git" des Sozialismus.
Er brachte im Sperrdruck die Feststellung, daß der Sozialisnivs von Karl Marx
ein Verteilungsprinzip sei und daß tragische, weise im Augenblick seines Sieges
dieser Sozialismus die Scheuern leer finde, die ihm die produktiven Kräfte des
Kapitalismus programmäßig wohlgefüllt hätten vererben sollen.
Wir sehen hier keine Tragik, sondern die furchtbare Gerechtigkeit der
Geschichte. Wie sich an den nachrevolutionären Machthabern ihre jahrzehntelange
Verhetzungsarbeit, ihre Untergrabung der Staatsautorität und ihre Echlaraffen-
ideale leerer Arbeitseinschränkung gerächt haben, so hat sich am ganzen Proletariat
gerächt, daß sein Sozialismus sich mit der negativen Lehre von Karl Marx be¬
gnüg, e. Wir geben dem Sozialisuius gern zu, daß es keine günstigen Bedin¬
gungen sind, unter denen er heute jahrzehntelange Versäumnisse nachzuholen sucht.
Ohne Schadenfreude, aber auch ohne rührseliges Mitleid verzeichnen wir im
deutschen wie im russischen Sozialismus den Rückgriff auf die früher so ver¬
ketzerten kapitalistischen Produktionsmethoden. Die Krisis der sozialistischen
Parteien kommt aus dem Bankerott des Marxismus. In der Abkehr von Marx,
in der Hinwendung von der Klasse zum Volk, von Verteilungsgier zu Produktions¬
verantwortung liegen die einzigen Möglichkeiten einer Gesundung des deutschen
Sozialismus. Diese Gesundung aber kann nie und nimmer „beschlossen" oder
von außen übernommen werden, sie ist eine persönliche Angelegenheit jedes einzelnen
deutschen Sozialisten, sie ist durch und durch eine Frage des deutschen Volkes
Am 7. Oktober veröffentlichte „Homme libre" folgenden Artikel, der für die
französische Politik Deutschland gegenüber in mehrfacher Hinsicht kennzeichnend ist:
Homme libre 7.1(1. Die Stunde der Wiedergutmachungen. „Deutschland
verschleiert einen offensichtlichen Wohlstand": Ist das Deutschland der Sach-
ve> ständigen und der Diplomaten das arme Deutschland, das durch den Krieg ruinierte,
wirklich dem Bankrott so nahe? Nach dem Gutachten der Deutschen zu urteilen, gewiß, aber
^as sind nur für das Bedürfnis der Zwecke aufgestellte Rechnungen. In Wirklichkeit ist die
Wirtschaftslage Deutschlands besser: Beispielsweise erfahren wir durch eine gestrige Depesche,
°afj die Kohlenförderung bedeutend zunimmt. Während des ersten Halbjahres 1920 war
«er Ertrag der deutsch gebliebenen Bergwerke 200 500 000 t gegen 172 30» 000 t im ersten
Halbjahr 1919, d. h. ungefähr 28 Millionen mehr. Einer der berufensten Sachverständigen,
°er Ingenieur Denis, welcher Frankreich bei der Kvhlenvcrteilungskommission in Berlin
vertritt, sagt darüber: Die Kohlenförderung Schlesiens beläuft sich dieses Jahr auf
°« Millionen Tonnen, Deutschland hat sich das Recht vorbehalten, den Kohlenbedarf seiner
^senbahnen, Elektrizitätswerke, Gasanstalten und Kunstdüngerfabrikcn vollständig zu decken.
Alle diese industriellen Unternehmungen erhalten soviel Kohle, wie sie anfordern, volle 100
j^e übrige Industrie erhält 65 °/> und darüber. Gegenwärtig könnte Deutschland leicht Frankreich
°le von der Wiedergutmachungbkommission vorgesehene Tonnenmcnge und selbst die im Friedens¬
vertrag festgesetzte Menge leisten. Ihre Herabsetzung in SPa war meiner Ansicht nach ein
Micr und eine Ungerechtigkeit gegenüber den französischen Interessen. Mit Hilfe dieser
^?hlenversorgung hat die deutsche Industrie begonnen, in größtem Umfange ihre Tätigkeit
w'rder aufzunehmen. Man könnte an einen Rohstoffmangel glauben, aber die deutsche Regierung
v«t während dieses Jahres 60 — 70 Milliarden Papiergeld ausgegeben, und damit hat sich
Deutschland für 15 Milliarden Rohstoffe und Waren verschafft. Es hat gleichzeitig soviel
'"vustriclle Werte geschaffen, daß seine Wirtschaftsbilanz aus einer negativen eine positive
geworden ist, und sein Export im Mai seinen Import um 1 Milliarde überstiegen hat. Obwohl
M seine Lage günstiger ist als die Frankreichs, dessen Handelsbilanz passiv blieb, fährt das
putsche Volk fort, ein falsches Elend zu heucheln, wodurch sich niemand rühren lassen sollte,
can wird vielleicht sagen, daß die deutsche Großindustrie darauf gefaßt sein muß, an Steuern
80 U ihr« Vercinnahmungen zu bezahlen. Aber einstweilen verlangt niemand von ihnen die
im Budget verzeichneten Steuern, und alle großen Gesellschaften haben die Dividenden ver¬
doppelt und phantastische Bonuszahlungen verteilt. Dieses Wiederaufblühen Deutschlands ist
so deutlich, daß es den französischen Reisenden, die den traurigen Vergleich mit ihrem Lande
anstellen, nicht zu verheimlichen ist. Übrigens gibt es keinen deutschen Journalisten, der nicht
kürzlich von dem Unterschied zwischen dem brillanten Leben in Berlin und der Not in Paris
frappiert war. In den Städten Schlesiens und Westfalens ist ein Riesenüberfluß an
Kohlen, die Bahnhöfe sind verstopft, die Beleuchtung erreicht die Vorkriegsverhältnisse. Es
gibt keine Nacht mehr. Das blühende Aussehen der Frauen, Kinder und Arbeiter,
die wie Bürgersleute gekleidet sind, die Bahnbeamten in ihren glänzenden Uniformen,
die mit allem wohlversehenen Kaufläden, die sehr viel niedrigeren Preise als in Paris, sind
das Anzeichen dafür, daß dieses Volk, das sich wieder an die Arbeit begeben hat, sich wieder
emporrichtet und das Leben in vollen Zügen genießt. Leider wächst sein Haß gegen Frank¬
reich in dem Maße, wie seine Kräfte sich mehren. Was ist aus allem zu schließen? Die
deutsche Regierung fälscht durch die Vorlegung seiner Finanzberichte die Wahrheit, um ihre
Schuld nicht zu bezahlen. Sie geht vielleicht in ihren Ränken bis zum äußersten und steuert
wirklich auf einen Bankrott zu, um ihren Gläubigern nichts zu lassen und ihren Staats¬
angehörigen den ungestörten Fortbesitz ihres Reichtums zu verschaffen. An uns ist eS, der¬
artige Taschenspielereien zu hintertreiben.
Monsieur Denis nimmt unter den zahllosen Statthaltern, die zur Zeit auf
deutsche Kosten Deutschland in Grund und Boden verwalten sollen, eine hervor¬
ragende Stellung ein. Von der deutschen Armut und Not hat er anscheinend
nichts bemerkt, da ihm das fürstliche Gehalt, mit dem wir ihn und seinesgleichen
füttern, offenbar durchaus erlaubt, nur in den besten Berliner Schiebervierteln zu
verkehren. Die volkswirtschaftlichen Weisheiten des Monsieur Denis sind so, daß
man sich wundern müßte, einem solchen Herrn als Sachverständigen zu begegnen.
Indes ist seine Aufgabe ja auch nicht, Sachverständiger zu sein, sondern seiner
Regierung wirkliches oder gefälschtes Material als Unterlage für den beabsichtigten
Einmarsch in das Ruhrgebiet zu liefern. Sollte er mit seiner Feststellung, daß
der Haß gegen Frankreich täglich anwächst, recht haben, so dürfte er sich doch in
dem Grund dazu irren. Der Grund liegt nicht darin, daß sich die deutschen
wirtschaftlichen Kräfte mehren, worüber eine ernsthafte Diskusston zur Zeit über¬
flüssig ist, sondern der Franzosenhaß würde naturnotwendig in demselben Ma߬
stabe wachsen müssen, in welchem Leute von den Kenntnissen und dem Geist eines
Denis sich belangen dürfen. Im übrigen kann unser Volk aus solchen Äußerungen
sehr viel lernen, unter anderem auch, wie sehr ihm der Schieberluxus, der sich an
seiner Oberfläche breit macht, schadet. Es ist wirklich nicht nötig, daß in Berlin
brillanter gelebt wird als in Paris, und lange wird das ja auch nicht mehr dauern-
Ende September sind die Einkommensteuer-Veranlagungen für das laufende
Rechnungsjahr versandt worden. Sie waren mindestens ein halbes Jahr früher fällig.
Dabei hat die Behörde infolge überwältigender Arbeitslast bekanntlich von
einer Neueinschätzung für 1920/21 Abstand genommen und schlechtweg die Ergeb¬
nisse des Vorjahres zugrunde gelegt. Die Tätigkeit der Beamten bestand also
nur darin, daß sie von der neuen Einkommensteuertabelle abzulesen hatten, welche
erhöhte Summe der Steuerzahler entrichten mußte. Zieht man die durch
Politische, durch Gemüts- und Ernährungsschwierigkeiten herabgesetzte Arbeitskraft
der Finanzangestellten gehörig in Betracht, so sind für die Ausfüllung usw. eines
Formulars etwa 4 bis 5 Minuten Zeitverbrauch zu veranschlagen. Innerhalb
einer Stunde konnten also etwa 12 bis 15 Veranlagungen vorgenommen werden,
was beim achtstündigen Arbeitstage rund 100 ergibt. Demnach war ein Beamter
nnstande, binnen Monatsfrist 2500 solcher Dokumente herzustellen. Über
25y() Zxnsiten, die 1919 mit mehr als 3000 ^5 Einkommen veranlagt worden
sind, zählt aber beispielsweise selbst der begüterte Groß-Berliner Vorort, in dem
ich wohne, nicht.
Durch die um ein volles halbes Jahr verspätete Einschätzung haben die
Reichs-, Staats- und Gemeindekassen nicht nur beträchtliche Zinsverluste erlitten,
sondern sind auch sicherlich an direkter Steuersubstanz geschädigt worden. Denn
Mancher, der vor sechs Monaten noch hätte zahlen können, war am Michaelis¬
termin nicht mehr in der Lage dazu. Es ist zweifellos, daß die Finanzämter
sofort klar erkannt und mit Hochdruck geschanzt haben, schon um beizeiten
^>eit in die Kassen zu bringen und die große amtliche Falschmünzerwerkstatt in
°er Oranienstraße zu entlasten. Trotzdem die oben dargelegte, niederschmetternde
Minderleistung! Meine Einschätzung der behördlichen Einschätzungsarbeitskraft
kann also nicht stimmen. E« ist in den Bureaus weit, weit weniger geschafft
worden, als einfacher Verstand anzunehmen sich für berechtigt halten durfte.
Diese Tatsache eröffnet erschütternde Zukunftsausstchten.
Soeben haben ungefähr dieselben Bürger, die mühsam zur Einkommensteuer
höheren Grades veranlagt worden sind, sich für das Reichsnotopfer und die
-oesitzsteuer eingeschätzt. ES war eine schwierige, langwierige Arbeit, drei oder
Aer Tage wird jeder dazu gebraucht haben. Soll eine wirkliche, gewissenhafte
Nachprüfung auf den Ämtern erfolgen, so muß für jede Steuererklärung mindesten»
das doppelte an Zeit geopfert werden. Die Gründe liegen auf der Hand.
Während also, an bürgerlichen Maßstäben gemessen, die einfache Einkommen¬
steuer-Veranlagung 5 Minuten beanspruchte, verlangt jede Reichsnotopfer - Veran¬
lagung volle 6 Arbeitstage, will sagen, einen 600 mal so großen Arbeitsaufwand.
Mit der Einkommensteuer sind die Unter glücklich in einem halben Jahre fertig
geworden) zur Feststellung der Höhe des Reichsnotopfers usw. werden sie nach
Adam Riese demnach 300 Jahre nötig haben.
Ich veröffentliche diese Berechw.eng absichtlich erst jetzt, wo alle Reichsnot-
opferpflichtigen ihre Erklärungen bereits abgegeben haben. Denn wenn sie gewußt
hätten, wie es bei dem augenblicklichen Geschäftsgang in den Andern um die
Nachprüfung ihrer Einschätzungen bestellt ist, wie viele wären dann nicht der
allerschlimmsten Versuchung erlegen!
Das Branntweinmonopol hat dem Reiche statt der erwarteten Milliarden¬
einnahme Unkosten in Höhe von einer halben Milliarde gebracht. Schuld daran
trägt in erster Linie die landesübliche Umorgcmisation, die hauptsächlich darauf
hinaus lief, den zur Entlassung kommenden Bureauangestellten goliathische Ent¬
schädigungssummen auszuzahlen, schlichte Stenotypistinnen und ähnliche Hilfs¬
kräfte, die sich im Handumdrehen bessere Posten verschafften, erhielten Abfindungen
von 60 000 Mark, 70 000 Mark und mehr.
Angesichts dieser Üppigkeit ist es nicht verwunderlich, daß der einfache
französische Bürger unentwegt an den quellenden Reichtum Deutschlands glaubt,
das alles zahlen kann, und nur aus Bosheit dem Erbfeinde gegenüber knickert.
Auch der Wunsch der „Financial News", die verschwenderische Bocherie einer
internationalen Finanzkontrolle zu unterstellen, findet so seine Erklärung.
Dr. Wirths strahlendste Reformprogramme müssen wesenlos zerschellen an der
Stärke des bureaukratischen Unterbewußtseins, daß wir, die wöchentlich eine
Milliarde Falschpapiergeld drucken, Geld wie Heu und Zellstoff haben. Wenn
überhaupt etwas, dann kann hier nur der Krückstock jenes fluchbeladenen und
verrotteten Systems helfen, den Friedrich Wilhelm I. schlagkräftig anzuwenden
wußte. Persönliche Verantwortlichkeit jedes Beamten, der Staatsgelder mit
anderen Augen ansieht wie Privatgelder und den eingeborenen guten Hausvater
vergißt, sobald auf Regimentsunkosten gewirtschaftet werden kann!
Preußen und das Reich sind nur dann imstande, sich wieder groß zu hungern,
wenn sie nicht davor zurückschrecken, alle Schmarotzer verhungern zu lassen.
Rundnote des Auswärtigen Amtes vom 17. September 1920, Geschäfts¬
nummer I. G. 3259: „Der Herr Reichsminister hat bei Vorlage von Unter¬
schriften wiederholt darauf hingewiesen, daß in einem Satz, wie: ,Euer P. P-
beehre ich mich, anbei einen Brief zu überreichen^, das Komma hinter mich unrichtig
ist. Es wird gebeten, schon bei Anfertigung der Konzepte hierauf achten zu
wollen." Unrichtig ist nicht das Komma hinter mich, sondern die reichsministerielle
Behauptung, daß es unrichtig sei. Cäsar stand nicht über der Grammatik, aber
die Cäsaren sind abgesetzt, und ihre republikanischen Amtsnachfolger haben höhere
Machtbefugnisse. Es zeugt für die Einheitlichkeit und Geschlossenheit der Regierung,
daß Dr. Simons die Sparsamkeitsverordnungen Dr. Wirths schon befolgt hat,
ehe sie ihm noch bekannt sein konnten. Sparsamkeit muß im kleinen beginnen)
bei der heutigen herabgesetzten Arbeitsfähigkeit und Arbeitsleistung der Beamten
machen schon ersparte Bleistriche etwas aus. Die Verwirrung, die durch solche
Ersparnisse an falscher Stelle in die Gemüter der Schuljugend getragen werden
könnte, bedeutet wenig, wenn man damit die moralischen und politischen
Wirkungen der Rundnote des Auswärtigen Amtes vom 17. September 1920,
Geschäftsnummer I. G. 3259 vergleicht.
Jeder vierte Bewohner Österreichs wird aus den Kassen des Staates, der
Länder und der Gemeinden versorgt. Nach dem Zusammenbruch der Habsburgischen
Monarchie muß nämlich das jetzige kleine Osterreich die gesamte Beamtenschaft
des früheren Großstaates besolden.
Da das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Festangestellten und Steuer¬
zahlern bei uns noch nicht ganz so glänzend ist, läßt sich die gerade in Deutsch¬
land zutage tretende Energie der Anschlußbewegung verstehen.
Der Palast des Auswärtigen Amtes in der Wilhelmsstraße ist das schönste
Haus Berlins. Es stammt noch aus der Zeit Friedrich Wilhelms I. Weil es so
schön ist und weil es einen Geist verkörpert, der seit Bismarcks Entlassung in
der Wilhelmstraße nicht mehr zu finden war, sollte es abgerissen und ein moderner
Protzenprunk an die Stelle gesetzt werden. Unsere Verarmung hat das alte Haus
letzt vorläufig vor dem Untergang gerettet. Aber der neue Geist unserer herr¬
lichen Gegenwart hat sich doch mit elementarer Gewalt an dem vornehmen alten
Bau Bahn zu brechen gewußt. Seit einigen Tagen prangt auf dem blauen
Reichspostbriefkasten, in den die Attaches und Geheimräte ihre Briefe, soweit sie
nicht durch Kurier befördert werden, zu werfen Pflegen, ein sonderbarer, leuchtend
gelber Ausdruck: Schabbes-Automobile! , , ^
Die Reklame ist so eindringlich, daß wir es für unsere publizistische Pflicht
hielten, uns sofort Persönlich beim Reichspostminister über den Zusammenhang
aufklären zu lassen. Seine Exzellenz empfing uns huldvoll und teilte mit, daß
Seine Exzellenz, der Herr Minister Hermes, im Begriff, sich ein drittes Dienst-
automobil zuzulegen, von der Schabbes-Compagnie ein vorteilhaftes Anerbieten
Ehalten hätte unter der Bedingung, daß die Reichspostverwaltung mit dem vor-
nedinen zurückhaltender Charakter der Briefkasten endgültig breche und die Reklame-
Me, die sich seitwärts von dem übertünchten Emblem des fluchbeladenen alten
Regiments an den beiden Seitenwänden der Postkasten darbietet, zu einer Reklame
^erblich ausnütze. Die in dem Auswärtigen Amt verkehrenden auswärtigen
Botschafter würden diese Demokratisierung zweifellos mit Befriedigung wahr¬
nehmen und man hofft, nachdem durch die Entlassung von soundso vielen Post-
Mffnern das Gleichgewicht in den PostHaushalt gebracht wäre, alt dem Über¬
schuß der Schabbesreklame die nötigen Mittel zu gewinnen, um die Direktoren
und Schreibdamen von etwa 230 Reichswirtschaftsstellen und Abwicklungsstellen
Noch einige Jahre weiter an, Leben zu erhalten. ^ -7 r >.
2. Ergriffen von der Größe dieser finanzpolitischen Maßnahme der neuen
Aelt erkundigten wir uns noch bei dem Pförtner der englischen Botschaft nach
den außenpolitischen Wirkungen des neuen Aushängeschildes unserer Wilhelmstraße.
Zu unserem Bedauern erfuhren wir dort, daß Monsieur Dems soeben einen ver¬
traulichen Bericht an Millerand abgesandt habe, in welchem er unter Hinweis
M die großen Einnahmen der Reichskasse aus der Schabbesreklame das ganze
Geschrei über Milliardendefizite für erlogen und den Zustand Deutschlands als
Durchaus zahlungsfähig bezeichnet habe. Wir glauben uns verpflichtet, dies mit¬
teilen, damit sich Reichspostverwaltung und Auswärtiges Amt die Wirkung
Mer so vornehmen und sorgfältig überlegten Modernisierung des Gebäudes nochemnial überlegen. Schließlich haben wir uns auch bei der Schabbes-Gesellschaft
?°rgestellt und für den Abdruck vorstehender Zeilen infolge ihrer Reklamewlrkungzur die Schabbes-Automobile sofort den Betrag von 80,50 ausbezahlt bekommen,
Die auf Grund von anscheinend sehr sorg¬
fältigen Tagebuchaufzeichnungen bald nach
Bismarcks Tod niedergesehriebenen Erinne¬
rungen deS freikonservativen Abgeordneten
und späteren Lnndwirtschaftsministers Lucius
aus den Jahren 137S bis 1890 bilden
zweifellos eine wertvolle Geschichtsquelle.
Sie stürzen zwar unsere bisherige Auffassung
von den Dingen nirgends um, bestätigen sie
vielmehr in allem Wesentlichen, aber sie fügen
doch manchen neuen und bezeichnenden Zug
hinzu, vor allem zum Charakterbilde Bismarcks,
dessen gewaltige Erscheinung diese Erinnerungen
beherrscht. Auch auf die andern handelnden
Personen dieser Periode fallen interessante
Streiflichter; um so stärker fällt ins Gewicht,
daß ein Register, das diese Schätze erst hätte
recht zugänglich machen können, fehlt.
Auf Einzelheiten kann hier natürlich nicht
eingegangen werden. Ich mochte nur die
Gelegenheit benutzen, einen kurzen Nachtrag
zu meinem in Ur. 14 dieses Jahrgangs ver¬
öffentlichten Aufsatz über Bismarcks Entlassung
zu geben. Die von mir dort nur gestreifte
Frage, warum Bismarck im Januar 1890
nichts getan habe, um das Sozialistengesetz
im Reichstag durchzubringen, kann jetzt auf
breiterer Grundlage beantwortet werden.
H. Delbrück hatte gemeint, aus Bismarcks
Verhalten auf Konfliktsabsichten schlichen zu
dürfen. Aus den Erinnerungen von Lucius
sehen wir, daß Bismarck häufig unmutige
Äußerungen getan, mit Reichstagsauflösungen
gedroht und von der Notwendigkeit einer
Wahlrechtsänderung gesprochen hat. Wäre
der Thronwechsel ein Paar Jahre früher
erfolgt und wär« Bismarck etwa 1834 ent¬
lasten worden, so könnte auf Grund der von
Lucius S. 280 und 307 berichteten Äußerungen
»iSmarcks auch für 1334 ein Staatsstreich-
Plan konstruiert werden. So falsch e» wäre,
Bismarck allzu harmlos auf,ufassen und da»
Unruhige, Gewalttätige, Dämonische seines
Wesens zu vertuschen, ebenso falsch ist es,
ihn auf einzelne Worte festzulegen.
Der zur Besprechung vorliegende große
Kommentar stellt den ersten Band des im
rühmlich bekannten Otto Liebmann schen Ver¬
lage erscheinenden umfangreichen Sammel¬
werkes „Die deutschen Finanz- und Steuer¬
gesetze in Einzelkommentaren" dar, das unter
Leitung des Reichsministers a. D. Schiffer
herausgegeben wird. Strutz, dessen ausg?
zeichnete frühere Kommentierungsarbeiten
allgemein bekannt und geschätzt sind, hat mit
diesem neuen Werke allen Behörden und
Steuerinteressenten ein wertvolles Geschenk
gemacht, die Wissenschaft bereichert und seinen
hohen Ruf als hervorragender Sachkenner
und als Kommentator von seltenem systematischen
Geschick und erschöpfender Gründlichkeit bestens
bewährt. Ein Führer und Berater durch die
infolge der überhasteten Steuergesetzgebung des
republikanischen Deutschland mit zahllosen
Fehlern und Unklarheiten und Widersprüchen
geborenen Finanzgesetze tut bitter not. Die
amtliche Begründung der Gesetzentwürfe bietet
wenig Unterlagen für die Erkenntnis des
vielfach zweideutigen, mitunter völlig ^
dunkeln gelassenen Gesetzgcberwillens, sehnst'
liebe Berichte über die Ausschußberatung dieser
Gesetze fehlen gänzlich, die Besprechungen in
der Nationalversammlung blieben durchaus an
der Oberfläche und die Ausführungsbestimnmn-
gen und Vollzugsanweisungen haben für die
Auslegung eines Gesetzes immer nur be¬
schränkte Bedeutung. So war die Ausgab«
des Kommentators hier eine besonder-
schwierige. Strutz hat sie glänzend gelöst,
aus seinem eigenen reichen Wissen schöpfend,
ergänzend, vergleichend, System und Klarheit
hineinbringend.
als mustergültig die Ausführungen zum Z 2
über die Voraussetzungen der subjektiven Ab-
gabepflicht (reichsangehörige und reichsfremde
natürliche Personen, Wohnsitzbegriff, Betriebs¬
vermögen), die Erläuterungen der Vorschrift
des Z 4 über die Feststellung des „Anfangs¬
vermögens", und die zum Z 3 (Hinzu¬
rechnungen): sie sind schlechthin erschöpfend,
zeichnen sich durch wissenschaftliche Vertiefung
und systematische Durcharbeitung des Stoffes
aus und sind in klarer gemeinverständlicher
Sprache geschrieben.
Das Wer! erfüllt zugleich bis zu einem
gewissen Grade die Aufgaben einer neuen
Auflage des Strutzschcn Kommentars zum
Kricgssteuergcsetze vom 21. Juni bzw. 17. De¬
zember 1916, dessen zweite Auflage 1918 er¬
schienen war, indem es eine Fülle von die
neueste Rechtsprechung berücksichtigenden und
weiter ausgebauten Erläuterungen bringt,
welche die früheren Ausführungen fortbilden
und klären; und die tief eindringenden um¬
fassenden Erläuterungen zu dem neuen Kriegs¬
abgabegesetz von 1919 enthalten mittelbar gleich¬
zeitig solche zu dem von 1918, da sie die zu diesem
Gesetze erfolgte Rechtsprechung bis in den
März 1920 hinein verwerten. Die Veran¬
lagung zur Vermögenszuwachs- und zur
Kriegsabgabe 1919 ist noch nicht durchgeführt
und die Einlegung von Rechtsmitteln gegen
die Veranlagung sowie die Entscheidung über
diese Rechtsmittel wird erst in kommenden
Tagen praktisch werden. Deshalb kommt der
Kommentar noch durchaus zu rechter Zeit.
Der Strutzsche Kommentar wird das
führende Werk auf diesem Gebiete sein und
bleiben, er wird den behördlichen Stellen, der
Industrie, dem Handel, der Landwirtschaft und
jedem sonstigen Steuerzahler als zuverlässiger.
Ratgeber ausgezeichnete Dienste leisten.
Möchten die folgenden Bände des Schifferschen
Sammelwerkes ihm ebenbürtig sein!
Die Texte der beiden Gesetze sind voran¬
gestellt, was die Übersichtlichkeit und das rasche
Auffinden der einzelnen Vorschrift erleichtert.
Dann folgt eine klare knappe Einleitung, in
welcher die Entstehung der beiden Gesetze und
das Wesen der Vermögenszuwachsabgabe und
der Kriegsabgabe 1919 besprochen wird. Es
schließen sich an der Kommentar zum Ver-
wögenszuwachsabgabegesetz (Seiten 49 bis 305)
und der zum Kriegsabgabegesetz (Seiten 307
bis 442). In einem Anhange sind dankens¬
werterweise die Ausführungsbcstimmungen
und Vollzugsanweisungen für beide Gesetze
nebst Mustern wiedergegeben. Das ganze
Material ist also beisammen, was für den
Benutzer d"es Buches eine große Erleichterung
ist und Zeitersparnis bedeutet.
Der soeben erschienene 1. Band deS
Admiralstabswerkes über den großen Krieg
ist nicht nur für einen engen Kreis von
Fachleuten bestimmt. Die Darstellung ist mit
Erfolg bemüht, volkstümlich im guten Sinne
zu sein. Zugleich aber enthält sie eine
Fülle von Stoff, der für die geschichts¬
wissenschaftliche Forschung überhaupt von
hohem Werte ist. Von jeher läßt sich der
Seekrieg nur im weiten Nahmen der großen
Geschichte verstehen; weit nichr als der Land¬
krieg ist er mit den allgemeinen politischen
Vorgängen verkettet. — Der vorliegende Band
schildert die Ereignisse vor und bei Kriegs¬
ausbruch und die militärische Tätigkeit in der
Nordsee während des August 1914. Diesen
Zeitraum so eingehend zu behandeln, war
nötig, denn er enthält den Keim zu dem ge¬
samten späteren Verlauf des Seekrieges. Das
ruhmlose Ende der deutschen Flotte findet
seine eigentliche Erklärung in jenen Tagen.
Der unselige Wunsch der Reichsleitung, trotz
allem Geschehenen mit England zu einer Ver¬
ständigung zu gelangen, der ungesunde Ge¬
danke, die Flotte als Politischen Machtfaktor
Von einem Eingehen auf Einzelheiten muh
hier abgesehen werden. Die oft sehr aus¬
führlichen und stets erschöpfenden Erläuterungen
offenbaren die volle Beherrschung und die
wissenschaftliche Durchdringung des schwierigen
Stoffes, die weiten und sicheren Rechtskennt-
uisse und die erstaunliche Belesenheit des Ver¬
fassers; der Kommentar wird den Benutzer
"le im Stiche lassen. Hervorgehoben seien
aufzusparen, haben unserer Marine das Grab
gegraben. Dazu kam ein wenig glücklicher
Operationsplan und des Fehlen eines über¬
ragenden Führergenies an den entscheidenden
Stellen, Admiralstab und Flotte. Um so
Heller leuchten die Einzeltaten der Schiffe
und Menschen. — Sachlich,' dabei frisch und
mit Wärme geschrieben, freimütig in der
Kritik, doch ohne jede persönliche Schärfen,
erweist das Buch sich würdig des großen und
schwierigen Gegenstandes, den es behandelt.
Bearbeitet ist es von Korvettenkapitän Groos
unter verantwortlicher Leitung des Konter¬
admirals a. D. E. v. Mantey.
Im Schatten Kleists wandert Georg
Leisegang. Er ist im Besitz großer Gaben,
und er legt sie dem Schatten Kleists zu
Füßen. Lebt doch in ihm die Ahnung, daß
er berufen ist, die Arbeit Heinrichs von Kleist
weiterzuführen, daß der große Tote ihm
seine Seele übertragen hat, die ihn beeinflußt
und leitet. Georg Leisegang ist der Typus
«mes modernen Menschen. Er will vieles,
und immer das Gute, aber er bleibt meistens
auf halbem Wege stehen, weil ihn andre
Probleme reizen. Zuerst wollte er nur der
Freundschaft leben, dann sehnt er sich nach
Frauenliebe und zweifelt doch, ob er sich
ihrer erfreuen darf. Die Frauen sind ihm
sehr gewogen, ein wenig zu sehr, aber wo
eine zarte Liebe ihm entgegengebracht Wird
da vergrübelt er die beste Gelegenheit und
muß erleben, daß die einst Begehrenden sich
ebenso von ihm wenden, wie der Freund, der
ihm den Abschied gibt. Immer ist es der
Schatten Kleists, der ihn hindert, das erlösende
Wort zu finden, immer spricht die mystische
Stimme in seinem Innern, daß er Kleist
gleich sein müßte, wie er ihm auch in seinem
Äußern gleicht. Die Welt bietet ihm Arbeit,
damit er genese, er wirft sich sogar der
Christlichen Wissenschaft in die Arme und
findet in ihr einige Zeit Ruhe der Seele.
Bis auch sie versagt und sogar der Krieg mit
seinem großen Erleben ihn durch sein unseliges
Ende so verbittert, daß er beschließt, es seinem
großen Schatten gleich zu tun und die Welt
zu verlassen. Er findet sogar eine zweite
Henriette Vogel, die bereit ist mit ihm Z»
sterben. Hier aber setzt die Erlösung ein.
Ein treuer Bursche verhindert seinen Selbst¬
mord, und von da an fallen die Schleier, die
Georgs Seele einhüllten. Zu dem weichlichen
Grübler kommt die Tatkraft und der helle
Tag der Gegenwart. Langsam versinkt
Kleists Schatten, und vor ihm ersteht eine
liebende Frau, die bereit ist, Georg dorthin
zu geleiten, wohin ein Teil seiner Seele schon
lange Verlangen trug — nämlich aufs Land
und in die nutzbringende Arbeit. Nun kann
er sprechen: Es fiel ein Schatten über mein
Leben hin. Er bannte mir völlig Auge und
klaren Sinn. Ein Hattler ward ich. Du
bliebest ohnegleichen den Heiszbeflissenen
niemals zu erreichen. Es schwand der
Schatten, als ich mich selber fand.
Es find ernsthafte und tiefe Gedanken in
dem Buch, das kein Roman im gewöhnlichen
Sinne ist. Nachdenksame Menschen werden
Rücksendung von Manuskripten erfolgt nur gegen beigefügtes Rückporto.
Nachdruck sämtlicher Aufsätze ist nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlages gestattet
--—---->
WMilllll wllllll
til lMIMiirz W in,»M-
Vorbereitung auk alle Klagen 6er ver8Lnisäenen 8nun!8^8tsrne
^M8cbulung). In8be8one1er8 Vorbereitung auk ale LinMrigen-,
prima- uncl Keikevrükung.Dr. Mcdaelis.
__^
Soeben erschien:
verk '?^°hö^' dessen Name auch in Deutschland bekannt ist, schildert mit großer Anschaulichkeit die
nvickelten Verhältnisse Österreich-Ungarns. Der Habsburgische Hausmachtgedanke, die Stellung der
^>er zum Staatsgedanken, die Persönlichkeit Franz Josephs, die Bedeutung des Adels, vor allem
^ die Entwicklung des Deutschen Reiches zur Donaumonarchie werden von neuen wichtigen
Gesichtspunkten aus beleuchtet.
^- L. Roehler, Verlag, Leipzig»Der Untergang der österreichisch
ungarischen Monarchie
von Friedrich F. G. Kleinwaechter
Preis geheftet Mk. 24,—, gebunden Mk. 33.—.
Ans diese Preise darf kein Sortimentsansschlag erhoben werden.
s 8 s s 8—s o o v 8 8 v it v-
Der Deutsche Ostmarken-Verein
ist °in 8. November 1894 auf Veranlassung des Fürsten Bismarck zur Kräftigung und Sammlung
d°S Deutschtums in der mit polnischer Bevölkerung durchsetzten Ostmark gegründet worden Er ,se em
»roher nationaler Volke-verein, der keiner Partei, ke»ner einzelnen Bevolkcrungs-
klassc. keiner bestimmten Glaubensqemeinschaft dienstbar sondern euz,g und
allein die Gefahr des polnischen Ansturms von unserem Volrstum abwenden
bill. Ihn bei der Errichtung dieser Ziele ,u unterstützen, ist Pflicht jede» Deutschen.
Mindestjahr-Sbeitrag betragt <! ^1 bei kostenlosem Bezug der Ver-insschrift „Die Ostmark". Anmeldungen zum
„ B c > t r i t t sind zu richte» an die
Hauptgeschäftsstelle, Berlin w 62, Vayreuther Straße 13
o v ü it v-n o o v--o it it S -S—« ..A.
Soeben erschienen:
Graf von der Goltz:
Meine Sendung in Finnland
und im Bctltiknm
Mit zahlreichen Bildern und Karten. Preis geht. 50 Mark
Aus jeder Zeile dieses ungemein fesselnden Buches spricht die kraftvolle Persönlichkeit
eines Mannes, der als selbständiger Feldherr den deutschen Namen und Waffenruhm im
Ausland trotz der Widerstände von allen Seiten noch ein Jahr lang nach der Revolution hochhielt.
Seine Erwlge als Bekämpfer des Bolschewismus, als Befreier und Organisator
Finnlands trugen diesem „politischen General" Anfang 1919 auch das Kommando im Baltikum
ein, wo Graf Goltz weniger mit den Volschewisten als mit der Vielheit der Entente, Letten,
der eigenen Soldatenräte, der deutschen Regierung und Presse dauernd Kämpfe und Schwierig¬
keiten zu bestehen hatte. Dennoch vermochte er sich lange Monate erfolgreich zu behaupten
und damals Deutschland vor dem Bolschewismus zu bewahren.
Das Buch eines Tat- und Willensmenschen, eines ausgeprägten deutschen Mannes, der
stets das der Sachlage entsprechende rechte Wort zum Handeln fand.
Kein Kriegöbuch üblicher Fassung, sondern eine packende Schilderung
eigenartiger Verhältnisse und Entschlüsse, deren Tragik und Trag-
:: weite in Deutschland noch viel zu wenig erkannt wurden. ::
U. F. Usehler, Verlag, LeipzigAM
A^^>^^^^v>>^
Eine willkommene rechte Weihnachtsgabe!
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Tägliche Rundschau:i
„Man muß sich darüber freuen, daß sein
Briefwechsel mit seiner Braut jetzt in einer
schönen Ausgabe erschienen ist. Schleier¬
macher ist wegen seiner entwickelten
Menschlichkeit unter den führenden Geistern
des Goethescher Zeitalters derjenige,dessen Briefe nächst denen Wilhelm
von Humboldts das stärkste all¬
gemeinmenschliche Interesse er¬
regen. Man kann diese Blätter im . '
besten Sinne als Briefe der Liebe
charakterisieren."
Verlag Frieör. Andreas Perthes A.--G., Gotha
ZWWWMW2WZ^?ZL^Wi
it dem Bekenntnis tunlichster Vertragstreue ist es nicht mehr getan.
Wir fordern die Revision des Vertrags, der am schwersten gerade
auf der Arbeiterklasse lastet. Er hat mit dem Selbstbestimmungs-
recht der Völker nichts gemein, er hat auch den Schiedsgedankcn
sabotiert und er ist kein Instrument des Friedens, wohl aber der
Gewalt."
Mit diesen Worten hat der Abgeordnete Wels auf dem Casseler Parteitag die
Stellung der S. P. D. zum Versailler Vertrag gezeichnet. Zur Unterstützung seines
Urteils gibt er nur vereinzelte Beispiele aus der endlosen Kette der Unterdrückungen,
denen unser Volk seit dem Abschlüsse des Waffenstillstandes und des Gewaltfricdens
"'Egesetzt ist. In einer kleinen Schrift aus dem Vorwärts-Verlage, „?roiri
Versailles to pizaes" von Friedrich Stampfer, deren Ausführungen das Werk von
Versailles dem Verständnis des amerikanischen Arbeiters näherbringen wollen, sind
6uf Seite 107 bis 109 klar die Forderungen umschrieben, über welche es bei der
Überholung des Vertrags zu einem Einverständnis kommen muß, wenn Deutschland
weiterleben und dem Anspruch auf eine Wiedergutmachung Genüge leisten soll. In
Ziffer 11 dieser Aufzählung wird die erneute Besprechung der kolonialen Frage
Erlangt und gefordert, daß bis zu einer billigen internationalen Regelung der
Verwaltung unentwickelter Gebiete Deutschland seine Kolonien zurückgegeben werden
als notwendige Voraussetzung seines Daseins. Diese Äußerungen auf sozialdemo-
rratischer Seite stehen nicht vereinzelt. Es sei auf die Schrift verwiesen „Sozial-
vemokratie und Kolonien", Berlin 1919, Verlag der sozialistischen Monatshefte
^- in. b. H. Die Beispiele aus der neuesten Zeit sind nur herausgegriffen, um fest¬
zustellen, daß die überwältigende Mehrheit unseres Volkes einig geht in der Forde¬
rung der Überholung des Versailler Vertrags und der Rückgabe unseres kolonialen
Besitzes. Das mit notwendiger Folge aus den uns aufgezwungenen Daseins-
^dingungen herauswachsende und unabwendbar sich mehrende Elend wird binnen'urzeni auch denjenigen noch die Augen öffnen über den Sitz des Übels, welche bisher
«on der Anwendung Moskaner Verordnungen eine Heilung erwarten. In Spa
mußten wir uns erneut dem Gewaltwillen beugen. Frankreich stapelt zwar Kohlen¬
vorräte auf, aber die weitere Verelendung Deutschlands ist die Folge, und die Ge¬
sundung der kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Daseinsbedingungen der
europäischen Völker erscheint damit ausgeschlossen. Diesem Ergebnis gegenüber
hat auch Frankreich sich gebeugt, und nach den jüngsten Zeitungsmeldungen ist der
Widerstand gegen die Zusammenkunft in Genf fallen gelassen worden. Einmal
müssen die Machthaber in Europa in offener Sprache sich sagen, was aller Welt
bereits zur Gewißheit geworden ist, daß die Wunden, die der Krieg geschlagen hat,
nicht heilen können, weil der Friedensvertrag sie offenhält. Seine Überholung
wird zur Tat werden. Von unseren Forderungen für diese soll die koloniale Frage
erneut einer Beleuchtung unterzogen werden.
Die Antwort der alliierten und assoziierten Mächte auf die Bemerkungen der
deutschen Delegation zu den Friedensbedingungen nebst Mantelnote bringt in,
Teil IV die Begründung für die Wegnahme unseres Kolonialbesitzes. Wir sollen
auf dem Gebiete der kolonialen Zivilisation versagt haben, und es wird die Auf¬
fassung vertreten, daß der Verlust seiner Kolonien Deutschlands normale wirtschaft¬
liche Entwicklung nicht behindern werde. Es war von England unvorsichtig, im
Bewußtsein seiner eigenen kolonialen Sünden im August 1918 durch ein Blaubuch
auf unsere. Eingeborenenpolitik in Südwestafrika anklagend hinzuweisen. Den
gleichen Fehler hat man auch in Frankreich begangen mit den Veröffentlichungen im
Journal officiel vom 8. November 1918 und 5. Januar 1919. Wir haben nicht
gezögert zu antworten, und unsere Entgegnungen begnügten sich nicht damit, Frank¬
reich und England die eigenen Verfehlungen in kräftigen Worten vorzuhalten. Wir
legten vor der Welt Rechenschaft ab über unsere Leistungen, auf die wir mit Stolz
zurückblicken dürfen. Es würde zu weit führen, die einschlägigen Veröffentlichungen
der verflossenen beiden Jahre aufzuzählen. Es soll nur kurz auf die vom Reichs¬
kolonialministerium herausgegebenen Entgegnungen hingewiesen werden: Die Be¬
handlung der einheimischen Bevölkerung in den kolonialen Besitzungen Deutsch¬
lands und Englands, eine Erwiderung auf das englische Blaubuch vom August 1913,
und deutsche und französische Eingeborenenbehandlung, beide 1919 erschienen. Der
Streit ist auch im Auslande aufgenommen worden in Presse und Buchschrift und'
heute zu unseren Gunsten entschieden. Die Eingeborenenbehandlung bildet aber
nur einen Teil unserer kolonialen Verwaltung. Wir müssen tiefer gehen und uns
Aufschluß verschaffen über unsere gesamten Leistungen auf kolonialen Boden. Hier
steht uns ein ausgezeichnetes Material zu Gebote, wertvoll deshalb, weil es zu¬
sammengetragen und abgeschlossen wurde, ehe der Weltkrieg entbrannte. Das ist
das Deutsche Kolonial-Lexikon von Gouverneur Dr. Heinrich Schnee, Verlag von
Quelle und Meder in Leipzig, 1920. Inhaltlich sind die Darbietungen erschöpfend.
Die einzelnen Abhandlungen sind von Männern der Erfahrung und der Wissenschaft
zusammengetragen, die über den Verdacht erhaben sind, dem deutschen Volke in
gefärbter Aufmachung falsche Bilder vortäuschen zu wollen. Hier finden wir nicht
nur die Widerlegung der falschen Ausstreuungen über unsere Eingeborenenpolitik
durch die Darbietung unserer Leistungen in Erziehung, Schulung und Pflege der
Gesundheit, sondern wir sehen auch den Stand der Wirtschaft übersichtlich für jedeS-
Schutzgebiet erläutert und vermögen damit die Behauptung zu entkräften, daß der
Verlust der Kolonien für uns nicht in das Gewicht falle.
Die in Händen von Europäern befindlichen Pflanzungen verzeichneten vor
Kriegsausbruch, um nur die wichtigsten Kulturen herauszugreifen, an bebauten
Flächen in Hektaren:
Auch die Eingeborenen sind in der Anpflanzung wichtiger märktfähiger Er¬
zeugnisse dauernd vorangegangen. Zahlen über deren Anbaufläche können natürlich
nicht beigebracht werden. Das Ergebnis tritt einzig in den steigenden Ausfuhr¬
werten mit in die Erscheinung, Heute würden wir aus unseren Kolonien, gerechnet
nach dem Stande des Anbaues und des Handels vor Kriegsausbruch, zur Ver¬
fügung haben:
Welcher Reichtum für Deutschland unter den heutigen Verhältnissen! Ge¬
messen an den Ziffern der Einfuhr des Jahres 1913 wären wir imstande, unseren
Bedarf an Speisefett aus Pflanzenölen zur Hälfte zu decken, an Kautschuk zu
drei Vierteln, an Kakao zu einem Fünftel, an Faserstoffen für Flechtwerk vollständig.
Und wenn wir unsere heutige verarmte Wirtschaft zugrunde legen, so werden wir
nicht weit fehlgehen in der Behauptung, daß unser Jahresbedarf für den Inland-
Verbrauch mit den aufgezählten Mengen gesichert erscheint. Die Tonne Kopra kostet
heute auf dem Londoner Markt etwa 55 Pfd. Sterl., das sind nach einem Kurs¬
stände von 250 für 1 Pfd. Sterl. 13 750
Diese wirtschaftliche Übersicht ist aber nicht etwa erschöpfend. Die An¬
pflanzungen mit geringerer Fläche, wie Baumwolle (12 941 K»), Kaffee (4919 K»)
und andere, sind ebensowenig berücksichtigt wie die Viehwirtschaft und der Berg¬
bau. Der Reichtum Ostafrikas allein an Vieh würde unserer Fleischnot abhelfen, und
die Phosphatausbeute der Südsee (500 000 Jahrestonnen) unter reichlicher Be¬
teiligung des Auslandes an der Förderung würde genügen, unsere Fluren durch
die Zufuhr des wertvollen Düngemittels wieder zum Vollertrage zu bringen. Für
die oben angeführte Unterstellung der feindlichen Mächte von dem wirtschaftlichen
Unwert, unseres kolonialen Besitzes ist aber der Gegenbeweis schon mit diesen kurzen
Aufzählungen erbracht.
Die koloniale Frage birgt aber in ihren Falten noch eine Seite, die heute von
unmeßbaren Werte für uns erscheint, das ist ihre Besiedlung. Wir brauchen kein
Wort darüber zu verlieren, daß tropisches Tiefland sich zur Aufnahme von Europäern
nicht eignet, aber abgesehen von Südwestafrika hatten wir in den Hochländern
Kameruns und Ostafrikas Gebiete gefunden, welche für eine Europäersiedlung in
Betracht kamen. Wir waren langsam und zögernd an das Werk gegangen, Europäer
dort festzusetzen. Wie auf jedem Neuland mußten auch hier erst Erfahrungen
gesammelt werden. Aber vor Kriegsausbruch schon hatten wir solche gewonnen,
zwar noch nicht abgeschlossen, aber soweit greifbar, daß weite Hochtäler, Berges¬
hänge und Hochebenen einer Europäeransiedlung offenstanden. Heute könnte die
überschüssige Volkszahl dorthin gelenkt werden, ausgehend von kleinen Wurzeln und
anwachsend zum lebensvollen Gebilde, statt langsam in Deutschland dahinzusiechen
und am Stamme des Volkes zu verdorren. Die alte Forderung unseres Volkes
könnte Befriedigung finden, ihm Raum auf der Erde zu verstatten, aus seiner Zu¬
sammenpressung im Herzen Europas ihm einen Ausweg zu gönnen. In der Er¬
füllung würde eine stärkere Bürgschaft für die Erhaltung des Friedens ruhen, als
in der Besetzung des Rheinlandes und in der Losreißung und Abschnürung unserer
Brüder an den Grenzen des Reiches. Nicht die Verelendung als Folge des
Versailler Vertrags kann uns und der Welt helfen, nur die Hoffnung auf Raum
und Arbeit, auf eine Zukunft wird unser Volk zur inneren Gesundung und zur
Ruhe bringen. Die Aufrollung und Lösung des kolonialen Problems in Genf ver¬
mag diese Voraussetzungen zu schaffen.
M^AW-». 1>nur man die Marine und im besonderen die deutsche Marine in
ö^Ä^x^A ihrem ganzen Wesen verstehen will, so muß man sich über die Kräfte
Mi klar werden, aus denen sie aufwuchs, und die in ihr zur Auswirkung
kamen; sie kann nur richtig erfaßt werden, wenn man sie als das
>Ä^^M^I Besondere ansieht, was sie war, wenn man sie nicht hinein¬
zwängen will in Vergleiche mit anderen Gruppen der Volkskraft, die nicht passen
können, selbst nicht ohne weiteres in solche mit der Armee. Ich spreche hier gerade
auch von der dents es e n Marine, denn sie war in ihrem inneren Gefüge etwas
ausgesprochen Deutsches, mit den Vorzügen und Schwächen deutschen Wesens. Sie
War: „der reinste Ausdruck der nationalen Empfindungen des deutschen Volkes"
und wird hierdurch in ihrer Art und Entwicklung auch immer wieder bestimmt
werden; sie ist damit auch der Gradmesser für die Kraft rein deutschen Volkstums
und selbständiger, staatlicher, deutscher Macht, das Wetterglas für die Schwankungen
dieser Faktoren.
Wenn man die Wurzeln erkennen will, aus denen die deutsch: Marine ihre
Kraft zog, aus denen ihr Können herauswuchs, so muß man in unserer stolzesten
Zeit die verschiedenen Einheiten in ihren Höchstleistungen gesehen haben, das
Linienschiff im Gefechtszustand, das Torpedoboot im Nachtkampf, das U-Boot im
Angriff.
Hier trat einem eine vollendete Arbeit entgegen, die in ihrer gründlichen
Schulung, ihrer Durcharbeitung bis auf das Kleinste, in ihrer durchdachten Organi¬
sation nur eine deutsche sein konnte, die aber auch den hohen allgemeinen Vildungs-
zustand unseres Volkes, seine persönliche Tüchtigkeit, seine Pflichttreue und sein
ideales Streben verlangte, um zum vollen Erfolge zu führen.
Keine andere Nation hat unsere Art des Gefechtsdienstes früher gekannt,
keine hat ihn uns wirklich nachmachen können. Seine Durcharbeitung, die immer
die Wirklichkeit zur Unterlage nahm und die im weitesten Maße dieser angepaßte
Gefcchtsstörungen mit ihren Einwirkungen auf all die vielen seemännischen und
technischen Lebensadern des Schiffes zur Darstellung brachte, barg wohl die Gefahr
überwuchernder Theorie in sich, aber sie erhielt Leben, Geist und Trieb durch die
Erziehung auch des einfachsten Mannes zur freien Selbständigkeit im Handeln.
Der vorausgegangene Ausbildungsdienst führte den Mann zur höchsten
Wasfendisziplin und vollendeten körperlichen und geistigen Leistung auf seinem
besonderen Posten im Schiff. Der Gefechtsdienst paßte ihn dem Ganzen ein und
verlangte, gestützt auf die Einzelschulung, weitestgehendes Verantwortlichkeitsgefühl
und selbständiges Handeln.
In der Enge des Schiffes, in dem der Mann vom eigentlichen Kampf Nichts
sah, in dem er nur mit größter Anspannung auf seinem Posten arbeitete, wurde
der einzelne Raum durch einen Geschoßtrümmer, der die Schottwand zerschmetterte,
der giftige Gase, Wasser oder Flammen mit sich zog, plötzlich zum Mittelpunkt un
Kampf um die Lebensnerven des Schiffes. Ein durchschlagender Granatsplitter
gefährdete durch Eingriff in eine dort verborgen arbeitende Hilfsmaschine die wich¬
tigsten Gefechtswerte. Da lag plötzlich das Schicksal des ganzen Schiffes in der
Hand der Entschlußkraft und dem Selbständigkeitsgefühl von ein paar Mann, die
sonst vielleicht nur keuchend Geschosse nannten. — Jetzt hieß es: Sehen, Überlegen,
Zugreifen und Handeln in einem Augenblick ohne Befehl, ohne Kommando, ohne
das Auge des Vorgesetzten. Während der Kommandant oben im Gefechtszustand
seine ganzen Nerven auf die Schiffsführung und die allgemeine Leitung der Waffen
gegen den Feind gerichtet hielt, um sich herum nur wenige Hilfskräfte, spannten
unten weit über 1000 Mann Nerven, Kräfte, Können und Wollen aufs höchste an,
W allem nur auf den einen Willen des Führers gerichtet, der in den Hunderten von
Abteilungen nichts von ihnen sah, niemand persönlich beeinflussen konnte. Und
um für diese Entscheidungsstunde des Kampfes aus dem technischen Meisterwerk,
das dos moderne Schiff darstellte, auch alles herauszuholen, in allen Gefechtsübungen
nur immer der Trieb und die Mahnung: Da wo Gefahr einsetzt, entschlossene.
überlegte Selbständigkeit gerade im tiefsten Winkel des Schiffes. Der sich seines
Könnens bewußte Mann soll mit seinen Kräften zum freien Einsatz kommen, —
Sticht Abzeichen und Dienstgrad geben hier den Ausschlag, sondern der Wert der
mannhaften Persönlichkeit. ,
Und wie auf dem Kreuzer und Linienschiff, so auf dem in die dunkle Nacht
gegen Scbeinwerferlicht und Granattreffer anlaufenden Torpedoboot, auf dem durch
tausend Gefahren angreifenden II-Voot. Das alles war herangereift als die Frucht
täglichen rastlosen Arbeitens an sich selbst und an dem Zusammenschweißen aller
männlichen Kräfte und Sinne an Bord zu einer einzigen, sich ergänzenden und
gegenseitig sich hebenden Arbeit auf einen Führerwillen hin. Die möglichst frei
beweglichen persönlichen Kräfte, zusammengehalten nur durch das Erkennen und
Anerkennen des einheitlichen Siegeswillens und der auf praktischer Tüchtigkeit
gegründeten Autorität.
Das waren die Gedanken, unter denen wir in der Zeit des Ausbaues der
Marine gearbeitet haben, die in dem ungeheuer anstrengenden Dienst des sich immer
erneuernden Ausbildungsjahres uns frisch erhalten und die unsere Besatzungen zu
persönlichen Leistungen gebracht haben, die der auf alter Tradition stehenden
britischen Flotte überlegen waren. Es blieben bei diesem System Fehler nicht aus,
das ist selbstverständlich, aber im ganzen war es etwas Besonderes, was da geschaffen
war, was in dieser Art keine andere Marine der Welt uns nachmachen konnte, es
war eine deutsche Arbeit, getragen von den Idealen der deutschen Nation, geboren
aus der großen Zeit des nationalen Aufschwunges und der Erstarkung unseres, aus
Tüchtigkeit gewachsenen, wirtschaftlichen Aufstieges unter dem Einfluß der alten
stolzen Kaiserzeit.
Ein Schiff, im rechten Sinn geführt, war die stärkste und schönste Form der
einheitlich gerichteten militärischen Kraft. Und so trug sich unser Mann im blauen
Hemd auch stolz und frei, nicht nur im Bewußtsein der Träger deutschen Ansehens ?
vor der großen Welt zu sein, sondern auch in dem befreienden Gefühl, gelernt zu
haben Verantwortung tragen im Kampf mit den Gefahren der See und im Meistern
der hoheitsvollsten Kriegswaffe, die technisches Können und konstruktives Schaffen
aufzubauen verstand.
Wie das Schiff die stärkste Konzentration technischen Könnens ist, die man
sich denken kann, die sinnreichste Vereinigung von Schutz- und Trutzwaffen in gegen¬
seitiger Abwägung ihrer Werte und Verwendungsmöglichkeiten, und zugleich be¬
stimmt, einer dichtgedrängten Besatzung für Jahre die Lebensbedingungen zu ermög¬
lichen in hartem Winter und heißen Tropen, in Sturm und jedem Wetter, so bildet
die Besatzung die stärkste Konzentration menschlicher Wesenskraft mit all ihren
Schwankungen. Hier kann nur verständnisvolle Führung und sittliche Stärke
die Geschlossenheit herstellen. Dem Schiff als Ganzem muß ein von solchen
Empfindungen getragener einheitlicher Leitgedanke aufgeprägt sein, es muß eine
Seele eingehaucht bekommen, um all die Reibungen und Schwächen überwinden
zu können, die zwischen einem Haufen Menschen, die sich nicht aus dem Wege gehen
können, unausbleiblich sind. '
Je kleiner der Kreis, je kleiner also das Fahrzeug, desto persönlicher wird die
führende Einwirkung sein, desto enger schließen auch die gemeinsam durchlebten Ge¬
fahren des Seemannsberufes aneinander. Mit der wachsenden Zahl der Mann-
schaften wird es schwerer, die Besatzung bis in alle Winkel, persönlich und räumlich
gemeint, zu beherrschen. Stimmungen und Launen, wie sie auch bei kleinen An¬
lässen durch das ganze Schiff ziehen, sind schwerer zu fassen und zu bannen, je
größer der Kreis, je unübersichtlicher der Schiffskörper ist.
So wird ein Schiff mit seiner dicht gedrängten Menschenfülle nicht nur den
inneren Tageseinflüssen unterworfen sein, sondem in ihm muß in bewegten Zeiten
auch die Stimmung des Volkes, der Pulsschlag der Nation, stets besonders leicht
zur Auswirkung kommen.
Jede Neuigkeit wird schneller an Bord aufgegriffen als anderswo und wandert
in Eilschritten durch das Schiff, es ist der beste Boden für Gerüchte und Stimmungs¬
mache, damit aber auch das dankbarste Feld für Dunkelmänner, wenn der allgemeine
Boden schlecht geworden ist, und Sinn und Gemüt nicht mehr in sich selbst unab¬
hängig ist für freies Denken, sondern Sorgen daheim oder schlechte Stimmung des
Volkes einwirken, wenn eine Krankheit durch den Volkskörper zieht.
Das alles steigert sich noch, wenn der lebendige Körper, den das Schiff und
die ganze Flotte darstellt, und der auf der Höchstleistung jedes einzelnen im Gefecht
abgestimmt ist, keine lebendige Arbeit findet, wenn — wie es uns ging — die Flotte
gegen ihr inneres Drängen zurückgehalten ist und sich dann auch für sie ein Stellungs¬
krieg entwickelt mit seiner gleichmäßigen, eintönigen und angreifenden, im steigenden
Maße anstrengenden Dienst, bei dem — im Gegensatz zu den Verhältnissen bei der
Entente — der frische Einstrom aus der ganzen Welt fehlte, wo vielmehr die zer¬
störenden Kräfte, die überall auf ihre Zeit weiter zersetzenden und nagenden Ein¬
fluß gewannen.
Wenn so aber Krankheit das Schiff beschleicht, wenn die Auffassung der Be¬
satzung sogar irre wird an den gewohnten Begriffen von Autorität im Staat und
Leben> von Einordnung in das Ganze, dann kommt das ganze Gebäude hoch¬
gespannter Leistung, wie wir es entwickelt hatten, in die Gefahr des Zusammen¬
bruches. Da wo früher der Mann sich seiner Verantwortung gegen das Ganze
bewußt war, wo das Pflichtgefühl seine Selbständigkeit in Schranken gehalten hatte,
da tritt nun dafür das Bewußtsein der in seiner Hand liegenden Macht, die er,
dem jetzt das Verantwortlichkeitsgefühl genommen ist, nun schrankenlos zur Geltung
bringt. Die Seele, die dem Schiffe innewohnte, ist vergiftet. Es geht aus dem
Gefüge, was früher durch die Autorität freien Willens zusammengehalten wurde;
und wohl nirgends hat der versteckte Hetzer,.der aufgereizte Mann, so leicht Ge¬
legenheit, sich dem Auge, dem Zugriffe des Vorgesetzten zu entziehen, als in dem
Gewirr von Räumen und Schotten eines großen Schiffes, in die meist kein Tages¬
licht eindringt.
Die Wege aber, auf denen solche Krankheit an Bord schleichen kann, sind nur
zu offen. Wenn im Kriege für die Armee Fabrikstadt, Etappe und kämpfende
Front weit getrennt, gegenseitig oft unerreichbar fern zueinander lagen, so standen für
uns alle drei an demselben Ort, mit dem Einlaufen des Schiffes in den Hafen
vermischte sich der militärische mit dem fabrikmäßigen Werftbetrieb vielfach zu
gemeinsamem Schaffen.
Wir waren schon im Friedensdienst sehr weit damit gegangen, alles im Dienst
Mrückzustellen, was unsere Gefechtsausbildung irgend stören, was ihr irgendwie
Zeit kosten konnte. Die Kraftanspannung, jedesmal im Herbst die Flotte wieder
schnellstens voll gefechtsmäßig durchzubilden, war aber auch eine ungeheure, und wir
standen ja auf so festem Grund und Boden, daß wir uns solches Zurückstellen
anderer Dienstzweige wohl leisten konnten.
Es hat nicht an warnenden Stimmen gefehlt, daß wir nur zu sehr nach diesem
einen Ziel — dem Gefechtsdienst — starrten, daß, im Streben hier das Höchste zu
erreichen, keine Stunde zu verlieren, wir uns selbst in einen Schematismus ein¬
spannten, der uns für das ganze Jahr festlegte, der es unmöglich machte, den Schiffen
der Hochseeflotte Aufgaben zu stellen, die sie aus dem Exerzierdienst heraus in
die ungebundene Seemannschaft des freien Ozeans führte.
Der Auslandsdienst konnte nur die allernotwendigsten Kräfte zugeführt er¬
halten; wer da einmal hinauskam an Mannschaften und Offizieren, der hatte ein
seltenes Glück, dessen großen Wert er oft erst hinterher erkannte, nachdem er sich
hatte freimachen können von dem einseitig hochgetriebener Dienst in der alles andere
überstrahlenden Flotte. Man arbeitete dort ja atemlos von Schießübung zu Schie߬
übung, von Besichtigung zu Besichtigung, und wenn die höchste Stufe erreicht war,
dann rückte schon wieder das neue Ausbildungsjahr mit seinen Vorbereitungen heran.
In der Hast der Gefechtsbilder blieb für anderes kaum hinreichende Zeit.
Die deutschen Buchten von Kiel und um Helgoland herum waren zum
Exerzierplatz geworden. Auf ihnen ist der Ruhm all unserer Kämpfe gegründet
worden, wir haben dort auch ein einheitliches Zusammenarbeiten zwischen Mann¬
schaften und Offizieren, einen Kampfgeist schaffen können, der beim Eintritt in
den Krieg über jedes Lob erhaben war und bis zuletzt vorm Feinde nie versagte.
Aber doch fehlte auf das ganze die Einwirkung der freien weiten See, die An¬
häufung der Tagesfragen in den beiden Marinegarnisonen wirkte erstickend. Die
belebende Auslondsluft blieb den Schiffen fern, sie hätte in manches mehr innere
Frische hineingebracht, den Menschen durch unmittelbare Berührung mit den Welt¬
fragen größer gemacht.
Vielleicht hätten wir, wenn es anders gewesen wäre, den zehrenden Ein¬
wirkungen des Blockadekrieges, der Hungerstimmung aus der Heimat kräftiger
widerstanden.
Der Auslandsdienst ist nun einmal das „hohe Lied" der Marine. Er bildet
den Mann, macht den Geist frei von der Engigkeit der Heimat, von den Tagesfragen
aller Art, die man daheim wie einen schweren Rucksack mitschleppen muß. Bon
draußen gesehen, kommen diese einem so klein, so verächtlich vor, während das Vater¬
land als Ganzes wächst und als das Ziel alles Denkens und Handelns, einheitlicher
und reiner vor einem steht.
Im unmittelbaren Verkehr mit den Lebensfragen der großen Welt, in der
Berührung mit dem Wirken und Wachsen fremder Völker rückt das Vaterland mit
seinem Können, Streben und Arbeiten an andere Stelle. Man sieht, wie nur vater¬
ländische Einheitlichkeit uns vorwärtsbringen kann, auch in unseren eigenen Fragen,
wie jede innere Zersplitterung im Volkskörper uns in der Welt Schaden und offen¬
sichtlichen Nachteil schafft.
Das alles läßt uns die Aufgabe jedes Deutschen größer erscheinen, und daS
wirkt auf jeden Menschen an Bord um so stärker ein, als er weiß, daß die Flagge,
die über seinem Schiffe weht, die Staatshoheit seines Heimatlandes bedeutet, daß
er mit dem Aussehen von Schiff und Besatzung, mit jedem Auftreten an Land sein
Vaterland zur Geltung bringt, seinem Deutschland Ansehen zu verschaffen
schuldig ist.
Der Gefechtsdienst wird gegenüber den Auslandspflichten zwar etwas zurück¬
treten müssen, ohne daß er in Nachteil zu geraten braucht, aber die geistlichen und
sittlichen Güter, die jeder an Bord heimbringt, sie wiegen bei weitem auf, was an
täglichem Exerzierdienst verloren geht, sie durchdringen Schiff und Besatzung mit
ihrem belebenden Geist und tragen den Seewind aus der großen Welt auch in den
Heimatsdienst hinein.
Eine Marine, die dieser Befruchtung entbehrt, wird zur Küstenmarine, und
eine Küstenmarine verdient die Bezeichnung Marine überhaupt nicht. Der Ruhm
unseres Kreuzergeschwaders von „Goeben" und „Breslau", die Taten unserer Aus¬
landskreuzer wie „Emden" und „Karlsruhe", die Heldenfahrten von „Möwe",
„Wolf" und „Seeadler", sie zeugen, Gott sei Dank, davon, daß wir mit unserer
Marine in der weiten Welt wohl zu Hause waren, aber die Hochseeflotte in ihrem
gepreßten Dienst hätte mehr davon zu sehen verdient, ohne weniger leisten zu
brauchen.
Je freier eine Marine sich von der Kaserne, von den Heimathäfen hält, desto
gesunderen Blutumlauf wird sie haben. Wir haben das in seinen Nachwirkungen
jetzt besonders empfunden.
Das sind die Gedanken, die die Erinnerung an eine große Vergangenheit in
mir als Marineoffizier weckt, an einem zerbrochenen Bau, wie ihn Deutschland
stolzer noch kaum aufgebaut hat und dessen Trümmer uns jetzt das Herz brechen
wollen. Diese Gedanken sollen aber auch die Kräfte erkennen helfen, die einen
solchen Bau in so erstaunlich kurzer Zeit aufrichten ließen und für die Zukunft auf
das hinweisen, was wir vielleicht versäumten. Einzelheiten, die durch die auszehrende
Wirkung des Hungerkrieges aus allen Gebieten, auch des inneren Schiffs- und
Flottenbetriebes zur Wirkung kamen, sind hier beiseite gelassen.
Diese Zeilen sind aber vor allem auch in Gedanken an die Zukunft unseres
Volkes geschrieben, an die ich den festen Glauben nie verlieren werde, eine Zukunft,
die unter der Not unseres Vaterlandes uns den einheitliche», ncmonalen Zu¬
sammenschluß zur höchsten Pflicht macht. Aus ihm wird uns die Kraft zu neuem
Aufstieg erwachsen und wie in allem unseren Tun der nationale Gedanke allem
anderen vorangehen muß, so muß auch jede deutsche Arbeit, die wir aufs neue
hinaustragen, offen den deutschen Stempel auf der Stirn tragen. Unser Volk hat
Segen eine Welt von Feinden so- Gewaltiges geleistet, daß wir, trotz allem, was
nachkam, das Haupt hoch tragen können und sollen. Wir werden so geachtet werden,
wie wir uns selbst achten!
Ein neuer Aufstieg deutscher Tüchtigkeit verlangt aber auch eine freie deutsch-
Nationale Seefahrt, ohne die es keine Erlösung aus dem heutigen Zwange gibt, und
Hr zur Seite wird und muß auch die deutsche Marine wieder erwachsen, nicht
aufgebaut in machtvoll aufgetürmten Gesetzen, sondern neu geboren aus dem natio¬
nalen Sinn vorwärtsstrebender einheitlicher Volkskraft.
In dem Maße, wie dem deutschen Volk die alte schaffende Kraft sich wieder
erneuert, in demselben Maße muß aus dem Volk heraus auch die Marine wieder
"en entstehen als das, was sie immer bleiben wird: Der reinste Ausdruck der natio¬
nalen Empfindungen des deutschen Volkes.
ASI^^^SIie wundern sich, verehrter alter Freund und sind betrübt, daß wir,
W«?V^^!die wir uns in allen Weltanschauungsfragen immer so gut verstanden
Ws^M^^haben, auf politischem Gebiete so schwer zusammenkommen können.
hat seinen guten Grund: Sie sind ein Dichter und ich bin eben
me Bureaukratenseele. Widersprechen Sie nicht! Sie dürfen diese
meine Selbsteinschätzung beileibe nicht als Bescheidenheit ansprechen. Vielleicht
ärgert Sie schon bald die Anmaßung, die sich dahinter verbirgt. In allem Ernst:
auf dem Gebiete der praktischen Politik fühle ich Mich Ihnen gegenüber dank meiner
bureaukratischen Trockenheit im Vorteil. Die Politik ist nun einmal eine ungemein
banale Sache. Wenn man das vergißt, wenn man sie bewußt, unmittelbar und
gewaltsam mit „Kultur" durchtränken, nach philosophischen Ideen ausrichten und
in Weltanschauungen verankern will, gibt es jedesmal ein Unglück.
In einem kürzlich von der Kreuzzeitung veröffentlichten Briefe an Gottfried
Kinkel sagt Bismcirck, daß für den praktischen Politiker die Weitsichtigkeit des Auges
ein gefährlicherer Fehler sei als die Kurzsichtigkeit, „weil er die unmittelbar vor¬
liegenden Dinge übersehen läßt". Wohlgemerkt: es ist Bismarck, der so spricht!
Er ist sicher vor dem Verdacht, als wolle er der politischen Ideenlosigkeit da?
Wort reden, die, von der Hand in den Mund lebend und, den Knäuel der ungelösten
Fragen immer von einem Tage zum andern vor sich her schiebend mühsam fort¬
wurstelt, wie wir's seit seinem Abgange zur Genüge erlebt haben. Er wußte und
hat es gezeigt, daß ein Staatsmann sich nicht in der Bewältigung der „unmittelbar
vorliegenden Dinge" erschöpfen darf, daß er sein Ziel nicht hoch genug stecken, daß
er ohne Ideen aus einer Welt, die über der banalen des Alltags steht, nicht leben
kann. Er, für seine Person (Sie kennen seine Briefe) war sogar Philosoph, denn
das entscheidende Kennzeichen des Philosophen kann ich nicht darin sehen, daß ihw
wie Hamlet die angeborne Farbe der Entschließung von des Gedankens Blässe
angekränkelt wird. Bismarck war gerade darin Philosoph, daß er reine und praktische
Vernunft — Vater Kant möge mir den Mißbrauch seiner delphischen Worte in
Gnaden verzeihen — kritisch auseinander zu halten wußte, daß seine Ideen von
starkem Wirklichkeitssinn bewacht wurden, der ihm verbot, sie unmittelbar in die
Tat umsetzen M wollen. Mit einem Worte gesagt, das er selber nicht müde wird zu
wiederholen und dem Politiker ans Herz zu legen: er besaß das Augenmaß, das ihn
den Abstand zwischen Ziel und Standpunkt nie übersehen ließ. Mit dem Fernrohr
läßt sich nicht mikroskopieren. Der Schiffer muß es benutzen, um den Horizont
abzusuchen; aber er darf nicht die Karte damit lesen wollen.
Hier liegt vielleicht der Grund, weshalb große Staatsmänner noch seltener
.wachsen als Genies überhaupt. Sie müssen in ihrer Seele vereinigen, was selbst
die aller Nationalität spottende Natur anscheinend nur mit Mühe zusammenbringt:
Hoel einander im Grunde ausschließende Eigenschaften. Sie brauchen die „geniale
Nüchternheit", die Mommsen an Julius Cäsar rühmt, die wir an Vismarck staunend
selbst bewundern durften — und die sich seit seinem Abscheiden bis heute noch nicht
wieder hat aufspüren lassen.
Ich komme auf Abwege! Sie haben mit so liebevoller Besorgtheit um meine
Seele geworben, daß ich Ihnen Rechenschaft schuldig bin. Ich will in mich gehen,
will die Paradoxe abschwören, mit denen ich Sie nach meiner leidigen Gewohnheit
eben wohl schon wieder geängstigt habe, und will versuchen, Ihnen ganz schlicht und
ernsthaft meinen Standpunkt zu den politischen Fragen zu erklären.
Ich sage nicht: meinen Parteistandpunkt; denn im Grunde habe ich keinen.
Zwar stand ich immer der konservativen Partei nahe und gehöre jetzt der
deutsch-nationalen an. Aber Sie wissen, wie unbestimmte Umrisse die Partei-
Programme für persönliche Überzeugungen sind. Meiner eigentlichen politischen
Richtung nach war ich von je her überhaupt nicht Parteimensch, sondern einfach
Regierungsmann. Nicht in dem Sinne natürlich, in dem man von Regierungs¬
parteien spricht, die mit den Machthabern durch dick und dünn gehen. Sie konnten
oft genug das Kopfschütteln beobachten, mit dem ich wieder und wieder, meist ohne
die Möglichkeit der Einflußnahme, der Handhabung unseres Staatsruders zugesehen
habe, und das sich während des Krieges und vollends nach der Revolution zur
Verzweiflung gesteigert hat. Was ich meine, ist dies: ich bin überzeugter Anhänger
der Staatsform oder, richtiger gesagt, der Art zu regieren, die man jetzt als „Obrig¬
keitsstaat" zu verdammen pflegt. Ich kann nicht nach der herrschenden Lehre der
Demokratie das Heil darin sehen, daß unter gewaltsamer Hereinziehung aller
Schichten und Gruppen der Bevölkerung in den politischen Kampf, aus dem so
«rregten Widerstreit der Parteimeinungen nach der Regel vom Parallelogramm der
Kräfte das Ergebnis gezogen und danach mechanisch die Fahrtrichtung des Staats¬
schiffs bestimmt wird. Mir scheint das Gemeinwohl immer noch verhältnismäßig
am besten gesichert, wenn die Staatsgewalt durch eine machtvolle, von den Parteien
Unabhängige Tradition beherrscht wird, an der sie den festen Rückhalt findet, der
«me sachliche Erfüllung der Staatsausgaben, unter überwachender Mitwirkung der
Volksvertretung, nicht unter Führung ihrer Mehrheit, durch die Regierung von
Männern gestattet, die dazu berufen sind: berufen durch Anlage, Vorbildung und
Erziehung, nicht durch Übung in parlamentarischer Taktik, die eine recht mäßige oder
Mr in parteipolitischer Agitation, welche die denkbar schlechteste Vorbereitung auf
im Beruf des Regierens ist.
„Das alte Verlegenheitskompromiß der konstitutionellen Monarchie", höre ich
Sie seufzen, „das zwei einander widersprechende Prinzipien zusammenschweißen will
und an deren unvereinbarem Gegensatze, der sie schon so oft hat scheitern lassen, mit
Notwendigkeit immer wieder festfahren muß!" — Ich könnte Sie an die Zeit von
^662 bis 1888 erinnern, in der sie unter einem fähigen Lenker immerhin güte Fahrt
gemacht hat. Auch nachher ist sie, trotz — weniger fähiger Führung, noch eine ganze
Zeit lang flott geblieben und sogar immer von neuem wieder flott geworden. Aber
'ich gebe den inneren Widerspruch zu, der in dem Kompromiß zwischen Autokratie
Und Parlamentarismus liegt Die Lahmlegung des Staatslebens durch den Konflikt
Mischen Regierung und Volksvertretung, für den der Konstitutionalismus keine
Lösung weiß, habe ich zu oft mit schwerer Sorge selber miterlebt, um in dieser
Staatsform etwas anderes zu sehen, als die leidlichste der gebotenen Unzulänglich¬
keiten, mit der es eben in der praktischen Politik, wie in dieser Welt der Relativität
überhaupt, vorlieb nehmen heißt.
Es lag mir auch ganz fern, mit der Formel, auf die ich das Prinzig des idealen
Obrigkeitsstaats im Gegensatz zur Demokratie zu bringen versuchte, gerade auf die
konstitutionelle Monarchie hinzudeuten Worauf es mir ankommt, ist der Rückhalt
an einer festen Tradition als Gegengewicht gegen den ziellosen, unberechen¬
baren Mehrheitswillen. Wer der Träger dieser Tradition sei, ist eine Frage zweiter
Ordnung. Es gibt Völker, die andere, vielleicht sogar eine stärkere finden als die
Königsmacht. Man braucht nur an England zu denken. In Deutschland gestehe
ich mir eine andere Verkörperung als in der Monarchie nicht wohl denken zu können.
Nicht nur deshalb, weil unser einem der Monarchismus nun einmal in den
Knochen steckt. Bei nüchternster Betrachtung scheint mir noch heute die Monarchie
unter einem guten Monarchen die schlechthin bestmögliche Staatsform zu sein;
unter einem schlechten, einem unfähigen, trägen, schlaffen, eitlen — das sind, zumal
bei einiger Begabung, die gefährlichsten — halte ich sie immer noch für besser als die
Herrschaft politischer Mehrheiten und ihrer willfährigen Geschöpfe. Eben deshalb,
weil sie unter allen Umständen, gleichviel was der Träger der Krone als Persönlichkeit
gilt und leistet, nach ihrer Natur und ihren Lebensbedingungen nichts anderes sein
kann als ein Hort der Tradition. Denn in der Tradition verehre ich den Inbegriff
alles dessen, was uns zu Menschen gemacht hat, was aus der Menschheit, fortbildend
und fortgebildet, noch eitwas zu machen imstande ist, und was allein sie abhalten kann,
auf die Stufe der Tierheit herabzusinken.
Um nur eines herauszugreifen: die Monarchie scheint die einzige Gewähr
für eine gewisse Reinlichkeit des Staatslebens zu bieten, für die öffentliche An¬
ständigkeit, die gerade uns plumpen Deutschen, denen jede Anlage zum genialen
Verbrecher oder liebenswürdigen Hochstapler fehlt, so unentbehrlich ist wie die Luft
zum Atmen. Demokratie und Parlamentarismus haben sich ziemlich in der ganzen
Welt als unzertrennlich von Korruption erwiesen. In kleinen Verhältnissen, wo der
Mensch dem Menschen auch in der Politik noch einigermaßen menschlich nahe steht,
mag persönliche Unantastbarkeit noch Vorbedingung für eine politische Rolle und die
Sauberkeit des politischen Lebens durch die scharfblickende nachbarliche Wachsamkeit
gesichert sein; über die Gebiete von Kantonen und Stadtstaaten hinaus lassen sich
diese Fäden persönlicher Beziehung nicht mehr ziehen. Sobald aber durch Ent¬
fernung und Größenverhältnisse jene Überwachungsmöglichkeit aufhört, der Einfluß
der Persönlichkeit im öffentlichen Leben unwirksam und durch das Schlagwort,
durch die Parteimaschine abgelöst wird, ist mit der Demokratie auch die Korruption
auf dem Plane. Freunde, wir Haben's erlebt! Wir brauchen Korruptionsprozesse
und Panamaskandale nicht mehr an der Seine und jenseits des großen Wassers zu
suchen.
Sie wollen mir England entgegenhalten, dessen Politik sich von unsauberen
Einflüssen im allgemeinen reingehalten hat. Ist das Land der vereinigten König-
reiche in Ihren Augen eine Demokratie? Wozu es sich im Weltkriege entwickelt hat,
muß sich noch zeigen. Bis jetzt ist es mir immer als die ausgebildetste Oligarchie er¬
schienen, die es je gegeben hat. Ich führte es eben als Schulbeispiel dafür an, wie ne
einem Volke die Tradition auch ohne Verkörperung in einer starken Monarchie zu einer
Macht werden kann, die der Staatsgewalt die Richtung weist und den Mehrheits¬
willen ihrerseits beherrscht, statt, was das Wesen der Demokratie ausmacht, von ihm
beherrscht zu werden. Freilich gehört dazu, daß Staat und Gesellschaft, daß alle
öffentlichen und privaten Verhältnisse so ganz auf Tradition gestellt und von
Tradition durchdrungen sind wie in England, daß sich ihr das ganze Volk so wider¬
standslos, mit so selbstverständlicher Ehrfurcht und Ergebenheit unterwirft, wie das
englische, das eben deshalb einer Demokratie in unserem Sinne — freilich, da es
ebenso blind wie der heiligen Tradition dem Götzen der Konvenienz huldigt, auch
zur Mitarbeit an den höchsten Aufgaben der Menschheit — gar nicht fähig ist.
Wo in aller Welt, fragen Sie, gibt es denn aber wahre Demokratie, wenn n'ehe
in England? Das habe ich mich selbst schon oft gefragt. Es will mir manchmal
vorkommen, als sei in Wahrheit niemals und nirgends ein Volk anders als obrig¬
keitlich regiert worden. Eine Regierung, die sich in voller Aufrichtigkeit nur als
Vollstreckerin des Mehrheitswillens fühlt, kann ich mir schwer vorstellen. Immer
habe i es die Beobachtung bestätigt gefunden, daß jeder, der zur Wacht kommt,
seine konservativen Instinkte entdeckt: aus dem einfachen Grunde, weil sich praktische
Staatskunst nun einmal nicht mit wahrer Demokratie verträgt. Die großen Aus¬
stattungsstücke, die unter diesem Titel in Athen, in Paris, in Amerika aufgeführt
worden sind, waren und sind sie mehr als Theater, als ein Maskenspiel, in dem der
bewegliche Geist jener Völker seine Unterhaltung findet und seiner Erregung Luft
wacht, während die Heldenspieler nur auf die Bühne treten, um sich Beifall klatschen
ZU lassen, die eigentlichen Entscheidungen aber hinter den Kulissen ausgetragen
werden? Sollte es vielleicht deutscher Ehrlichkeit und deutscher Gründlichkeit vor¬
behalten sein, das demokratische Ideal in allem Ernst in die Wirklichkeit zu über¬
tragen — und act ^dsuräuin zu führen?
Ich sehe Sie den Kopf schütteln über meine Rabulistik, die den Begriff der
Volksherrschaft so wörtlich nimmt. Demokratie bedeutet doch nichts weiter uls eine
Stalltsvcrfassung, die der Mehrheit des Volkes das Recht und die Macht verleiht zu
bestimmen, wie und von wem regiert werden soll; und kein Mensch kann leugnen,
daß solche Verfassungen seit dem Altertum bis auf unsere Tage in vielen Ländern
bestanden haben und noch bestehen. Ja, gerade in neuester Zeit führt sie ein Staat
Nach dem anderen bei sich ein, und eben jetzt ist sie auf einem Siegeszuge begriffen,
der ihr die Welt zu erobern verspricht! Mag sein. Aber so müßig es angesichts
dieser Weltlage scheinen mag, mir kommt es darauf an, ob diese Erscheinungsformen
der Demokratie tatsächlich ihrer Idee entsprechen, ob sie wirklich halten, was ihre
Theorie verheißt; und ob andererseits eine ihrem Wesen na^.) wirklich demokratische
Staatsform mit der Idee des Staates vereinbar ist, ob sie der Erfüllung seiner Auf¬
gaben, der Erhaltung seines Daseins dienen kann.
Die Demokratie leitet ihr Recht, ja ihre Alleinberechtigung, von der Souve¬
ränität des Volkswillens ab. Sie begeht aber von vornherein eine Fälschung, indem
sie den Volkswillen mit dem jeweiligen Ergebnis von Wahlen und Abstimmungen
Sleichtsctzt. Haben Sie einmal ein medizinisches Werk über Massensuggestion — z. B.
Dedo Stolz: „Suggestion und Hypnotismus in der Völkerpsychologie" — in der
Hand gehabt? Es wirkt wie ein grotesk-schauerliches Märchen, wie Szenen aus
dem Tollhause, was da auf Grund streng wissenschaftlicher Beobachtung über die
Einflüsse berichtet wird, denen, namentlich in Zeiten politischer Hochspannung,
große Volksmassen unterworfen sind, und über die Art, wie sie darauf reagieren.
Wer im öffentlichen Leben steht, erfährt damit nichts Neues. Er erhält nur die
Erklärung für die dutzendfach, zu immer neuer Verblüffung, vielleicht sogar an sich
selbst gemachte Beobachtung, daß sich des Menschen, wenn er in Massen auftritt,
plötzlich ganz unerklärliche, schlechthin verrückte Regungen bemächtigen. Die zu¬
fälligen von heut auf morgen umschlagenden, unberechenbaren Ergebnisse solcher
Massensuggestion in Volksversammlungen, Volksabstimmungen, Straßendemon¬
strationen u. tgi. sollen den Volkswillen darstellen? Der Volkswille ist etwas ganz,
anderes als der Wille von Tagesmehrheiten. Er ist etwas zwar höchst Reales, aber
durchaus Irrationales, etwas, was auf exakte Weise schlechterdings nicht fest- und
darzustellen ist, was sich nur dem Seherblick des geborenen Staatsmannes und dem
rückschauenden Auge der Nachwelt offenbart. „Das Volk spricht gar nicht, wenn die
einzelnen Individuen sprechen." Dies treffende Wort Paul de Lagardes finde ich
eben nebst manchen überraschenden Anregungen in Thomas Manns „Betrachtungen
eines Unpolitischen", einem Buche, das ich Ihrer Würdigung, wennn Sie es noch
nicht kennen sollten, empfehlen möchte.
„Die Individuen", sagt Lagarde weiter, „stehen als solche, d. h. als Egoismen,
sogar im Gegensatz zum Volke." Kein Zweifel: die Begehrlichkeit der Massen wie
die Unersättlichkeit der Plutokratie, die Sonderinteressen der verschiedenen Erwerbs¬
stände, wie der Machthunger der Parteien, so widerstreitend unter sich, sind den
Staatsnotwendigkeiten alle gleichermaßen feindlich und entgegengesetzt. Es ist ein
Trugschluß, wenn die Demokratie in leichtsinnigem, um nicht zu sagen frivolem
Optimismus darauf rechnet, daß aus dem Widerstreit dieser Kräfte sich eine gerades¬
wegs auf das Beste der Gesamtheit hinzielende Resultante ergebe. Diese Wider¬
stände heben einander nicht auf; sie summieren sich. Sie finden sich, bei aller gegen¬
seitigen Bekämpfung in Einzelfragen, da, wo es gegen den Staatszweck als solchen
geht, zu einem unbewußten Bündnis zusammen, gegen dessen auflösende Macht das
Staatsganze nur durch den bewußten Gemeinsinn verteidigt wird. Der Gemeinsinn
aber läuft gerade im demokratischen Parteigetriebe stets Gefahr, von jenen Egois¬
men überwuchert zu werden. Jene Begehrlichkeiten und Einzelwünsche machen sich
da um so ungehemmter geltend, als das Scham- und Ehrgefühl, das dem einzelnen
Zurückhaltung auferlegt, sich erfahrungsmäßig alsbald verflüchtigt, wenn er, in Reih
und Glied mit einer Schar Gleichgesinnter, seine Persönlichkeit in der Masse auf¬
gehen, seinen Willen nur noch als Teil des Gesamtwillens, sich selbst durch den Rück¬
halt an Tausenden von Mitschuldigen geborgen und seine Verantwortung in der
allgemeinen Verantwortungslosigkeit untergehen fühlt. Dieser Untergang des Ver¬
antwortlichkeitsbewußtseins im selonc der Gesamtmeinung, mit dem sein Träger
schwimmt, ist kennzeichnend und maßgebend für Wert und Bedeutung aller Massen¬
entscheidungen und damit für die Demokratie. Der Ausfall der wichtigsten moralische»
Hemmung muß mit Notwendigkeit dazu führen, daß die eigennützigen, mißgünstigen,
schwächlichen, feigen, kurz die der Gesamtheit feindlichen und verderblichen Triebe die
Oberhand gewinnen. Tatsächlich sind diese antisozialen Instinkte und die von ihnen
beherrschten minderwertigen Elemente, wie sich leicht beobachten läßt, überall da,
wo eine Menge von Einzelwillen sich zu einem Gesamtwillen summiert, gegen den Ge-
Meinsinn von vornherein im Vorteil und geben, wenn diesem nicht ganz undemo¬
kratische Kräfte — von denen noch zu reden sein wird — zu Hilfe kommen, für Ma߬
regeln und Persönlichkeiten den Ausschlag, die ihrer eigenen Art entsprechen, mithin
dem Interesse des Staates und dem Wohle des Ganzen widerstreiten. Das Er¬
gebnis zeigt jedes Blatt der Geschichte und heute — leider! — jede Nummer einer
Tageszeitung. Der Dichter der „Räuber" — dem wir ja auch das Wort von den
leidlich verständigen Einzelnen verdanken, aus denen in der Vereinigung ein Dumm¬
kopf wird — führt es in seinem zweiten, seinem „republikanischen" Jugenddrama, in
der Fabel von der Abstimmung der Tiere über Krieg oder Frieden mit den Menschen
und von ihrer Ausschußwahl mit grimmigem Humor vor Augen. Vielleicht haben
Sie von dem Beifallssturm gehört, den diese Stelle neulich bei einer Fiescoaufführung
in Berlin erregte. Sie wirkt heute in der Tat fast unheimlich, als eine mit grau¬
samer Genauigkeit eingetroffene Prophezeiung. Ein Beweis, wie scharf das Wesen
der Demokratie hier getroffen ist.
Kann ein politisches System, auf so schwankendem und brüchigem Boden auf¬
gebaut, dem Staatszweck Genüge leisten? Bietet es überhaupt Raum für sachliche
Arbeit an den Aufgaben des Staates? Der Angelpunkt der demokratischen Staats¬
kunst ist Popularität. Popularitätsbedürfnis aber ist Todfeind und Mörder jeder
Sachlichkeit. Wer Popularität nötig hat, kann nicht an das Gemeinwohl, geschweige
an weitgesteckte Staatsziele denken; er muß die Gunst der Menge durch Willfährigkeit
gegen ihre Augenblickswünsche erkaufen. ?aueiu et eiresuseg verlangt sie noch heute,
«der ganz modern ausgedrückt: laxe Kinozensur und ruinöse Staatszuschüsse zur Ver-
billigung der Lebensmittel. Wo es um Popularität geht, darf der Staatsbürger
nicht an seine Pflichten erinnert werden; sie geraten über seinen Rechten in Ver¬
gessenheit. Maßregeln, deren Notwendigkeit jedermann erkennt, werden unmöglich,
Wenn sie Opfer kosten; denn Opfer sind unpopulär. Populär wird man nicht — oder
doch nur ausnahmsweise und auf weiten Umwegen — durch Leistungen für die Ge¬
samtheit, sondern durch Umschmeichlung der Massen, nicht durch Fähigkeit und Cha¬
rakter, sondern durch hemmungslose Zungenfertigkeit, nicht durch nutzbringende Ent¬
würfe, sondern durch Versprechungen, und zwar, da die Parteien sich in Ver¬
sprechungen überbieten, durch übertriebene Versprechungen, die entweder, gänzlich
unerfüllbar, nur die Unzufriedenheit vermehren, oder nur auf Kosten des Staats¬
wohles eingelöst werden können. Nehmen Sie die ungeheuerliche Kraftverschwendung/
hinzu, die Lähmung des Staatswillens, die im Widerstreit der Parteien daraus ent¬
steht, daß die Einzelwillen sich im ständigen Kampfe um die Macht gegenseitig auf¬
reiben; nehmen Sie die Unbeständigkeit und das Schwanken, in das die Staats¬
leitung durch die Unberechenbarkeit des „Volkswillens" geraten muß; nehmen Sie die
Korruption, von deren Unvermeidlichkeit schon die Rede war, und Sie haben das
Bild der Demokratie, wie es die Geschichte demokratisch regierter Länder bietet.
Ich weiß, Sie werden mir Gegenbilder vor Augen halten. Sie werden mich
«n das Athen des Perikles, vielleicht auch an Mirabeau und Lincoln erinnern,
werden mich fragen, ob nicht Cavour mit seiner parlamentarisch-demokratischen
Staatskunst die Einigung Italiens zustande gebracht hat, ob nicht selbst Clemenc-an
demokratisch-republikanische Frankreich aus tiefer Verzweiflung zum Ausharren
w: Widerstande aufraffen konnte, während das kaiserliche Deutschland zusammenbrach.
Urlauben Sie mir die Gegenfrage: war nicht Deutschland dem Wesen nach schon-
mindestens seit anderthalb Jahren eine Demokratie, als es in den Abgrund stürzte?
War nicht jeder Schritt, den es der Demokratie entgegen tat, ein Schritt auf diesen Ab¬
grund zu? Hat nicht Clemenceau Frankreich gerade dadurch gerettet, daß er die Demo¬
kratie lahmlegte und sich zum Diktator aufwarf? Und jene Großen, die Sie nennen,
haben sie das, was sie erreichten, vermöge der Demokratie erreicht, oder nicht vielmehr
im Kampfe mit ihr, die sie ständig gehemmt, ihren Erfolg erschwert und gefährdet
hat? Daß ein bedeutender, vollends ein genialer Staatsmann zur Not auch auf
diesem Instrumente spielen kann, ist kein Beweis für seine Brauchbarkeit unter
gewöhnlichen Verhältnissen. Ein politisches Genie, das, mit weitem Blick und
starkem Willen begabt, mit feinem Ohr den geheimnisvollen wahren Volkswillen zu
erlauschen weiß und nicht allein seiner Nation das Ziel weist und den Weg dahin
findet, sondern auch die öffentliche Meinung zu überzeugen versteht, daß es ihr Ziel
und ihre Richtung sei, ein solcher Mann wird auch mit einer demokratischen Ver¬
fassung fertig, indem er den Parteien seinen Willen aufzwingt. Aber ist das noch
Demokratie? Ist das nicht unter demokratischer Verkleidung der verworfene Obrig¬
keitsstaat? Ist hier die demokratische Verfassungsform nicht wirklich nur Drapierung,
nur eine Maskenkomödie, zur Erheiterung und Erhebung des souveränen Demos
aufgeführt? Tut man da nicht besser, der Wahrheit die Ehre zu geben, das Kind
beim Namen zu nennen und auch auf den Schein und das Beiwerk der Demokratie
zu verzichten? Die Genugtuung, die dieser Mummenschanz gläubigen Zuschauern
bereitet, scheint mir die Fülle von Reibungen und Hemmungen nicht wert, die dem
Staatswesen und seinem Leiter, Beweglichkeit und Kraftentfaltung hindernd, durch
die Wahrung der demokratischen Form entstehen. Selbst das Genie meistert diese
Schwierigkeiten, die einen unverhältnismäßigen Teil seiner Nerven-, Willens- und
Arbeitskraft nutzlos binden, nicht ohne Einbuße am Erfolg. Genies aber, oder auch
nur wirkliche Staatsmänner werden, wie bekannt, nicht alle Tage, kaum in jedem
Jahrhundert einmal geboren. In der Zwischenzeit, in den Jahrzehnten, in denen
das Volk vergebens auf den berufenen Führer wartet, für die lange Dauer solcher
Fehljahre, die in Monarchien, wenn auch unfruchtbar an sichtbaren Erfolgen,
wenigstens ruhiger und gesunder Entwicklung dienen können, verfällt die Demokratie
rettungslos der zersetzenden Popularitätswirtschaft, deren Wesen ich soeben zu kenn¬
zeichnen versuchte — überflüssigerweise, denn seit Kleon von Athen bis auf Matthias
Erzberger ist die Geschichte der Demokratien eine einzige, selten unterbrochene Kette
abschreckender Beispiele dafür. In diesen Fällen haben wir dann freilich ein Regi¬
ment, das, wie ich zugeben muß, nicht nur der Form nach, sondern, indem es tat¬
sächlich und ausschließlich auf dem unbeeinflußten Mehrheitswillen beruht, in feinem
innersten Wesen wirklich demokratisch ist. Ob es der Idee der Demokratie entspricht,
das zu entscheiden, muß ich ihren Anhängern überlassen. Auch sie werden nicht zu
behaupten wagen, daß es dem Staatszweck und dem Wohle der Gesamtheit dient.
n die Volksabstimmungei, in Nordschleswig, West- und Ostpreußen
schließt sich nunmehr dis des 10. Oktober in der Kärntner Ab¬
stimmungszone ^ würdig an, durch deren günstiges Ergebnis die
innere Zone L gleichfalls, und zwar ohne Abstimmung an Österreich
fällt. Soweit es sich dabei um Deutsche handelt, bekundet ihre Ent¬
scheidung vor allem den Willen, in einem deutschen Staat zu bleiben, und die Hoff¬
nung und Absicht, mit diesem ins großdeutsche Reich einzugehen. Aber ein erheb¬
licher Teil der Abstimmungsmehrheit besteht aus Stow en e n, nicht etwa germani¬
sierten, oder stark gemischten Abkömmlingen slawischer Vorfahren, sondern echten,
zumeist geschlossen wohnenden Slowenen, die sich ihres Volkstums bewußt und ihrer
Muttersprache treu sind. Nach der Volkszählung von 1910 ergeben sich für die
Zone nur 31,5 v. H. Deutsche unter der stnatsangehörigen Bevölkerung. Die
Führer der slowenischen Parteien haben ihre Richtigkeit bestritten und die Zahl der
Teutschen für viel geringer erklärt. -Mit Unrecht. 1920 aber blieb sie aus anderen
Gründen wahrscheinlich hinter der angegebenen Ziffer zurück. In der Zeit der
südslawischen Besetzung sind so gut wie alle dort ansässigen, aber nicht zuständigen
Deutschen abgewandert oder vertrieben worden und mit ihnen auch nicht wenige
in dem Gebiete heimatberechtigte. Zur Abstimmung kehrte nur ein Teil von diesen
letzteren zurück; allerdings kamen dafür auch viele in der Zone Heimatberechtigte, die
dort nicht wohnen, aber das geschah auch auf slowenischer Seite. Und wenn auch
die deutschen Abstimmungsgäste zahlreicher gewesen sein mögen, so war andererseits
die Zahl der Deutschen, die erst nach 1911 Wohnsitz oder Zuständigkeit erworben
und daher nicht stimmberechtigt waren, bei der größeren Beweglichkeit unseres
Volkes recht erheblich. So hat man die Zahl der deutschen Stimmberechtigten meist
auf 30 v. H. veranschlagt. Aber nehmen wir auch 31,5 v. H. an, so stehen dem
^9,1 v. H. an Stimmen gegenüber, die für Osterreich abgegeben wurden. Die Zahl
der Stimmenthaltungen war sehr gering. Mit anderen Worten: fast die Hälfte
der Mehrhcitsstimmen sind slowenisch; mindestens 42,9 v. H. der slowenischen Be¬
völkerung haben im deutschen Sinne gestimmt. Und dieses Ergebnis wurde erzielt
trotz der fast anderthalbjährigen Besetzung durch die Südslawen, deren „Prügel-
gnrden" selbst in der Abstimmungszeit nicht untätig waren, trotz einer ungehemmten,
Zügellosen, von den Priestern auf jede Art unterstützten Agitation, trotz der Unter¬
drückung aller deutschen Aufklärungs- und Werbetätigkeit, trotz Drohungen, Gewalt¬
taten, Versprechungen und Bestechungen, trotz der im letzten Augenblick noch ver¬
breiteten falschen Nachrichten, die viele irreführten und entmutigten. Eine wirklich
freie Abstimmung nach einer Zeit unparteiischer Verwaltung, bei freiem Verkehr mit
dem übrigen Körnten, wäre viel günstiger ausgefallen. Das beweist nicht nur das
Ergebnis der Probcabstimmungen vor der Besetzung, sondern auch die starke Be¬
teiligung slowenischer Landeskinder an den Kämpfen gegen die Jugoslawen im
Jahre 1919.
Aber nicht die Ergebnisse der Abstimmung an sich wollen wir hier betrachten,
sondern die allgemeine Bedeutung, die ihr zukommt, auch wenn die
Zone H., wie es fast scheint, von den Südslawen vertragswidrig wieder besetzt
werden sollte.
Die Abstimmung erscheint zunächst als eine Tat der Selbstb esti in mung
in Widerspruch mit dem sogenannten Nationalitätenprinzip. Man hatte zu wählen
zwischen dem Anschluß an den slowenischen Nationalstaat und der Erhaltung
der geschichtlichen, in Bodengestalt, Verkehr und Wirtschaftsleben verankerten
Laudeseinheit. Manche meinen, es habe sich vor allem um den Gegensatz
der jugoslawischen militaristischen Monarchie und der freien Republik ge¬
handelt. Sicher hat dieser mitgewirkt, aber bei den bäuerlichen Massen tritt er
um so mehr in den Hintergrund, als die Unzulänglichkeit der wirtschaftlichen und
politischen Verhältnisse Österreichs für sie nichts Anziehendes besitzen kann. Durch
den österreichischen Wahlkampf haben diese Verhältnisse eine grelle Beleuchtung er¬
fahren und die Jugoslaven haben dafür gesorgt, daß diese den Bewohnern des Ab¬
stimmungsgebiets nicht verborgen blieb. Für die Slowenen handelte es sich in der
Hauptsache nicht um eine Stimmenabgabe für oder gegen Österreich, sondern für
Kärnten auf der einen, für die Herrschaft der Krämer und der Serben auf der anderen
Seite. Mit Recht spricht man von den „landestreuen" Kärrnern. Wie wenige Teile
der Alpen ist Kärnten nördlich der Gebirgsmauer der Karnischen Alpen und der
Karawcmken und des Hochgebirgsstockes der Steiner Alpen eine natürliche
geographische Einheit^) und innerhalb Kärntens das Klagenfurter Becken
eine ausgesprochene natürliche Provinz. Die Südslawen haben das anerkannt durch
ihr ursprüngliches Verlangen nach dem ganzen Lande, dann durch das nach nahezu
dem ganzen Klagenfurter Becken. Im Friedensverträge rissen sie allerdings den Süd¬
winkel des Landes bedingungslos an sich, der durch seinen Bleibergbau wertvoll ist.
Er stellt zwar im großen ganzen ein besonderes hydrographisches Gebiet niederer
Ordnung, das des Miesflüßchens, dar; sein Zusammenhang mit dem Klagenfurter
Becken erhellt aber daraus, daß ihn dessen Bahnverbindung mit der Untersteiermark
durchschneidet. Im Klagenfurter Becken wurde das beanspruchte Gebiet so begrenzt,
daß es nach Norden bis an die äußerste Grenze slowenischen Volksbodens und darüber
nicht unerheblich hinausgeht.^) Als man es für Abstimmungszwecke in zwei Teile
zerlegen mußte, geschah dies derart, daß die Zone ^ überwiegend slowenisch ist, die
kleinere nordwestliche Zone L aber fast rein deutsch (nur 4500 Slowenen). Die
Grenze zwischen beiden Zonen ist zumeist an naturentlehnte Linien, Gewässer,
verlegt worden, aber so wenig naturgemäß, daß sie mehrfach Gemeinden zerschneidet
und z. B. die Landeshauptstadt Klagenfurt von ihrer Wasserleitung absperrt. Man
rechnete darauf, daß durch Ausschaltung der deutschen Gebiete aus der ersten Zone die
slowenische Stimmenmehrheit in dieser gesichert werden, dann aber durch die engen
wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Zonen und durch die Unmöglichkeit
einer so offenen Staats- und Zollgrenze die Bewohner der zweiten Zone bewogen
werden sollten, sich gleichfalls dem Südslawenstaat anzuschließen. Man rechnete mit
der untrennbaren Verknüpfung der Stadt und ihres südlichen Absatz- und Ver¬
pflegungsgebiets. Diese ist aber in entgegengesetztem Sinne zur Geltung gekommen;
die Mehrheit der Bevölkerung wollte bei Klagenfurt und Körnten und mit diesen
bei Osterreich bleiben.
Dieser Sieg der geographischen unh der auf ihnen beruhenden wirtschaftlichen
Tatsachen über die sprachliche Zusammengehörigkeit wurde dadurch erleichtert, daß
die Zone ^ volkreiche und wichtige deutsche Sprachinseln umfaßt, welche
die Zentren für Industrie, Verkehr und Handel sind, aber auch dadurch, daß die
Volkssprache von jener der Krämer Slowenen und von der jungen neusloweni-
schen Schriftsprache recht verschieden ist und das Schriftflowenisch nur schwer und spät
Boden gewann. Auch das beruht aber auf den Wirkungen der G eb i r g s g r e n z e,
die bei einem anderen Ausgang der Abstimmung mit einer offenen Flach- und
Hügellcmdsgrcnze vertauscht worden wäre. Auch zum Nachteil des Slowenen¬
staats; denn er hätte eine Provinz bekommen, die von seinem Kerngebiet aus nur über
Pässe und durch Tunnels erreicht werden könnte. Sonderbestrebungen wären in
diesem Gebiete naturgemäß lebendig geblieben und hätten immer wieder in die
Richtung nach Deutschkärnten gewiesen, mit dem den wenig fanatischen und
kaum zeitweise versetzten Slowenen des Landes eine stellenweise bis zur Sprach¬
mischung gehende herzliche Landsmannschaft verband, während er für seinen Kramer
Volksgenossen wenig Zuneigung hat.
Kann der Sieg der Naturgrenze über die Sprachgrenze, der Landeseinheit
über das slawische Gemeingefühl, des wirtschaftlichen Bandes über den National¬
staatsgedanken vielleicht als ein Anzeichen gelten, daß die in Südosteuropa undurch¬
führbare nationale Abgrenzung der Staaten nicht so selbstverständlich ist, wie man
heute zumeist meint, so hat die Kärntner Abstimmung noch in einer anderen Hinsicht
besondere Bedeutung. Unter den Umständen, die ihr Ergebnis bestimmt haben, sind
auch kulturelle Beziehungen von Belang, die sich aus den geographischen er¬
geben. Der slawische Kärntner schätzt die deutsche Kultur und die Kenntnis der
Zutschen Sprache. Er sieht auf den Krämer um so mehr herab, je stärker die
slowenische Herrschaft in Kram, die seit einem Menschenalter immer unumschränkter
^urbe, in den Bann orientalischer Kultur geriet. Die orthodoxen Serben und
Mazedonier vollends, die er als Besatzungstruppe» kennen lernte, sind ihm noch
fremdartiger und er sieht auf sie noch geringschätziger, als auf die „Tschuschen",
Kie er die Krainer spöttisch nennt. Er will Europäer bleiben, wenn er es auch nicht
immer bewußt empfindet und sagt.
Diese Kulturgemeinschaft hätte sich nicht erhalten können, wenn das deutsch
verwaltete Körnten wirklich das „Puschalik" gewesen wäre, als welches es die
Krainer Abgeordneten und ihre geringe (wie alle Wahlen erwiesen, geringe) An¬
hängerschaft im Lande darzustellen pflegten. Wären die Kärntner Slowenen im
"leer Österreich unterdrückt gewesen, so trüge niemand von ihnen Verlangen,
bei Körnten zu bleiben. Diese Abstimmung ist also auch eine Widerlegung der
Behauptung, die sich selbst Renner in Se. Germain zu eigen machte, Österreich sei
„Gefängnis für seine Völker" gewesen; sie ist eine nachträgliche Recht¬
fertigung der deutschen Führung in diesem Staat, die nicht eine Herr-
lchoft war, ja eine solche nicht einmal anstrebte. Wer die slawische Volksseele richtig
beurteilt, wer die heutigen Zustünde in den Nachfolgestaaten und die gegenseitigen
Reibungen in, der südslawischen „dreiteiliger Nation" im Auge hat, wird der
deutschen Führung im alten Österreich eher Schwäche, als Gewaltsamkeit vorwerfen,
Das wird dadurch bestätigt, daß sich so viele Slowenen nunmehr willig unter diese
Führung stellen.
Die Abstimmung der „deutschfreundlichen" Slowenen richtet sich aber zum
Teil auch gegen die serbische Vorherrschaft — genauer gesagt, die der
Serben und ihrer Parteigänger — in dem neuen „Nationalstaat". Die Massen des
slowenischen und kroatischen Volks leiden zunehmend unter diesem Druck, und ihre
Unzufriedenheit, deren politische Wirkungen man zunächst freilich nicht überschätzen
darf, kann sich nunmehr auf das Zeugnis der Kärntner Slowenen berufen, von denen
ein Teil sogar den „deutschen Druck" dem serbischen vorgezogen habe. Andererseits
scheint man in Laibacher Regierungskreisen zu empfinden, daß die Niederlage das
Gewicht der Slowenen im Südslawen se aat nicht gestärkt hat. Die
Sicherheit, mit der man den Serben einen glänzenden Sieg in Aussicht gestellt hatte,
muß diesen ja nun als Flunkerei erscheinen und kann die Belgrader Realpolitik nur
in ihrem Urteil über die Laibacher Gefühlspolitiker, die ihrer Außenpolitik schon
manche Unbequemlichkeit bereitet haben, bestärken. So begreift man die Wut der
herrschenden Kreise im Slowenenlande, die sich in den Gewalttätigkeiten gegen die
Marburger Deutschen in brutaler Weise äußerte.
Wichtiger aber ist der E i n d r u et n ach a u ß e n. Man begann ohnehin schon
in den Ententeländern zu erkennen, mit was für Karten die Slowenen gespielt haben.
Nun erweisen sich ihre Behauptungen über Kärnten als falsch und man wird die
österreichischen Gegengründe vielleicht besser würdigen, wenn sie mit Nachdruck
neuerlich vorgebracht und wenn ihre wissenschaftliche Begründung nunmehr dem
Verlangen nach „Revision des Friedensvertrags" dienstbar gemacht
wird. Die Österreicher haben in Se. Germain immer wieder V o l k s ab se i in in u n -
gen in allen strittigen Gebieten verlangt. Wenn sie dieses Verlangen nunwehr
dem Völkerbund und der Öffentlichkeit der westlichen Länder wieder vorlegen, kann
man es kaum ungeprüft lassen. Die Abstimmung in der Zone ^ lenkt die Aufmerk¬
samkeit wieder auf das Miestal und auf Untersteiermark. Faßt man die Ver¬
hältnisse dieser Gebiete unbefangen ins Auge, so kann man nicht leugnen, daß die
nunmehr gewonnene Karawcmkengrenze ihre Fortsetzung in den Steierer Alpen und
im Vachergebirge findet, daß das Drautal nicht zwischen verschiedenen Staaten zerteilt
werden kann, wenn Ruhe und gute Nachbarschaft herrschen soll, und vor allem, daß
die nationalen Verhältnisse an der Drau unterhalb der Lavantmündung nicht wesent¬
lich verschieden sind von denen oberhalb dieser Stelle. Hier wie dort große deutsche
Sprachinseln — hier vor allem Marburg und Umgebung — hier wie dort enge Be¬
ziehungen zwischen den neben und durcheinander wohnenden beiden Völkern, hier
wie dort keine Feindschaft der slowenischen Landbevölkerung gegen die Deutschen,
hier wie dort wachsende Unzufriedenheit mit Laibach und Belgrad! Ja, dieje
beginnt darüber hinaus immer weitere Teile der Untersteiermark zu ergreifen.
Deutsche, die kürzlich diese ihre Heimat besuchten, versichern, daß sie sich seit Jahren
dort nicht so heiniisch gefühlt haben, wie jetzt. Der Bauer komme den Deutschen
mit Teilnahme und Achtung entgegen, erweise sich friedfertig und gefällig, sei aber
empört über die herrschende Schicht seiner Volksgenossen und bei aller Strenggläubig¬
keit namentlich erbittert gegen die Priester, die man höhnend „Popen" nenne. Man
sucht von Laibach aus diese wachsende Opposition zu erdrücken, indem matt sie des
Kommunismus verdächtigt. Aber das verspricht wenig Erfolg. Dauern diese Zu¬
stände noch länger an, so könnte eine freie Volksabstimmung in der nördlichen Unter¬
sleiermark Überraschungen bringen, um so mehr als auch bei den steirischen Slowenen
der Landespatriotismus und die unfreundliche Stimmung gegen die Krainer noch
keineswegs erstorben sind. Jedenfalls gibt die .Kärntner Entscheidung der deutschen
Forderung nach Selbstbestimmungsrecht auch für die einzelnen steirischen Gaue
einen neuen Rückhalt.
Daß Italien das Ergebnis der Abstimmung nur begrüßen kann, liegt aus
der Hand. Die Zone ^ hätte den Südslawen einen guten Aufmarschraum gegen
Italien geboten. Italienische Vertreter haben aber früher oft erklärt, daß für ihr
Land auch die Zugehörigkeit Marburgs und seines Drautals zum Südslawenstaat
bedenklich sei. Italien hat sich in Paris den Widerstand dagegen abkaufen lassen.
Seine Politik kann aber um so eher in das alte Gleise zurückkehren, je mehr sich
seine Ansprüche an der Adria mit jenen der Südslawen kreuzen. Und so dürfte das
Verlangen Österreichs nach „Revision" und „Selbstbestimmungsrecht" für Unter¬
steier, wenn es nach der Veränderung der Lage in Kärnten erhoben wird, kaum ohne
Unterstützung im Kreise der fünf Hauptmächte bleiben. In jedem Fall ist die Ab¬
stimmung in Kärnten seit langem das erste Ereignis, das den Mut und die
Hoffnung der österreichischen Deutschen stärken kann, der erste Erfolg ihrer nationalen
Arbeit, die erste nachträgliche Rechtfertigung des Standpunktes, den sie vertreten
haben, durch unverkennbare Tatsachen, der erste Ansporn zum Hoffen und Handeln
in diesem verzagten Staat. Deshalb, ist ihr Ergebnis überall in Österreich mit so
großem Jubel aufgenommen worden.
eichen bedeutenden Aufschwung die deutschen Bibliotheken seit
Beginn dieses Jahrhunderts bis zum Kriege genommen hatten,
^ AV^H wie wichtig allmählich ihre Tätigkeit und wie einschneidend ihre
^A/Mhl gedeihliche Entwicklung für die Fortschritte der Wissenschaft
^LM^SW geworden waren, das hat R i es art Fick bereits an dieser
Stelle (1918, Ur. 48) in einer Betrachtung über „Deutsches Bibliothekswesen
im Weltkrieg" darzustellen versucht. Der Krieg drohte diese verheißungsvolle
Entwicklung zunächst jäh zu unterbrechen. Aber je länger er dauerte, je mehr
alles Tun und Denken durch ihn beeinflußt wurde, desto sicherer stellte sich auch
das gesamte Bibliothekswesen auf „Kriegsbetrieb" ein. Zu den friedensmäßigen
Aufgaben der Bereitstellung und Darreichung jeder Art von Literatur kamen
neue kriegsmäßige hinzu, von denen nur die Anlage von Kriegssammlungen in
größexen Bibliotheken und die Versorgung der Truppen im Felde und in
den Lazaretten mit gutem Lesestoff durch Einrichtung von Frontbüchereien
genannt seien. Erst das traurige Ende des Krieges und die Revolution brachten,
wie allen deutschen Kultureinrichtungen, auch den Bibliotheken schwere Schädi¬
gungen und eine mehr oder weniger große Krisis, in der sie augenblicklich stehen,
und von der eingeweihte Kreise selbst noch nicht wissen, wie und wann sie zu lösen
sein wird. Dje Hauptursache dieser Krisis liegt auf finanziellem Gebiet, an dem
rapid gesunkenen Wert der deutschen Währung. Reich und Bundesstaaten sind
nicht in der Lage, die Etats der wissenschaftlichen Bibliotheken, von denen hier
im besonderen die Rede sein soll, genau entsprechend dem gesunkenen Geldwerte
zu erhöhen. Fanden hier und da auch kleine Erhöhungen des Etats statt, so ist
das doch in Wirklichkeit längst nicht ausreichend, um z. B. die vor dem Kriege
gewohnten Bücheranschaffungen durchführen zu können.
So leiden unsere wissenschaftlichen Bibliotheken, deren geringe eigene
Einnahmequellen (Gebühren für Benutzung) sich nicht den Anforderungen der
Ausgabeposten anpassen können, wie es bei einem gesunden kaufmännischen
Unternehmen a priori Voraussetzung ist, zur Zeit unter der maßlosen Teuerung.
Die Preise der deutschen Bücher sind auf das Fünf-bis Sechsfache gegenüber 1914
gestiegen, die ausländische Literatur erfordert den acht- bis zwölffachen Betrag
je nach dem Valutastande des betreffenden Landes. Die Kosten für die un¬
umgänglich notwendigen soliden Bibliothekseinbände sind um das Zehnfache
und mehr erhöht worden. Die Gehälter für die Bibliotheksbeamten und An¬
gestellten sind infolge der Besoldungsreform mit vollem Recht drei- bis viermal
höher als vor dem Kriege, Kohlen und Licht verschlingen unheimlich viel Geld,
alle Materialien, wie Katalogkarten, Formulare und unzählige andere Dinge,
die zu einem geordneten Bibliotheksbetriebe gehören, sind maßlos verteuert.
Da infolge der Finanznot des Reiches und der Bundesstaaten die Etats, wie
gesagt, nicht entsprechend erhöht werden konnten, so bleibt nur übrig: Sparen
und sich einschränken, so gut es geht. Die Universitätsbibliotheken können nur
noch die wichtigsten Lehr- und Handbücher anschaffen und nur die wesentlichsten
deutschen Zeitschriften halten. Die Anschaffung der ausländischen Literatur ist
ein besonders wunder Punkt, an den die Direktoren nur mit Schaudern denken
können. Um nur ein Beispiel zu nennen, so kann die größte deutsche Bibliothek,
die Preußische Staatsbibliothek in Berlin, statt früher 2300 ausländische Zeit¬
schriften heute nur noch etwa 160 laufend abonnieren. Kleinere Bibliotheken
werden fast ganz auf ausländisches Schrifttum verzichten müssen. Was das für
Folgen für die Fortschritte der deutschen Wissenschaft hat, brauche ich in diesen
Blättern nicht auseinanderzusetzen. Jeder Gelehrte kennt den Schaden, wenn
es unmöglich ist, die ausländischen Bibliographien, Zeitschriften und die Fach"
literatur zu verfolgen, um daraus Nutzen und Anregung für die eigene Forschung
zu ziehen. Der Krieg hat uns ohnehin lange genug von der ausländischen Literatur
abgeschnitten. Notgedrungen hat man ferner von den handfesten Bibliotheks--
einbauten oft abgehen müssen und verwendet jetzt, wenn es irgend angängig
ist, einen billigeren Pappband oder gar eine provisorische Broschierung. Welche
Nachteile das für vielgebrauchte Objekte haben muß, wird jedem mit der
Bibliothekstechnik einigermaßen Vertrauten einleuchten.
Sparsamkeit und Einschränkung auf allen Gebieten sind also das oberste
Gebot für jede Bibliothek geworden. Aber diese Sparsamkeit hat ihre Grenzen,
und diese sind meines Erachtens bereits überschritten worden. Schon beginnen
die Nachteile sich allzu wirksam zu zeigen, und den Regierungen muß klar gemacht
werden, daß weitere Einschränkungen zu den schwersten Schädigungen der
deutschen Wissenschaft sühren werden, zu Schäden, die — das ist besonders
wichtig und liegt in der Natur der Sache — auch in späteren besseren Zeiten
nicht wieder gutgemacht werden können. Das Reich und die Länder müssen
also die Mittel irgendwie ausbringen und den Bibliotheken gewähren, um sie
wenigstens über die Zeit der Not, von der man doch hofft, daß sie nur vorüber¬
gehend sein wird, hinwegzuhelfen. Stillstand der deutschen Geistesarbeit, die
allein imstande ist, unser Volk wieder auszurichten und zur alten wirtschaftlichen
Kraft emporzuheben, würde Deutschland völlig in den Abgrund stoßen, und
nichts würden unsere Feinde lieber sehen als den Rückgang der deutschen Wissen¬
schaft und Forschung, deren Führerschaft sie uns trotz aller Demütigungen bisher
nicht entreißen konnten.
Not sinnt auf Abwehr. Die Not, die nicht nur die Bibliotheken trifft,
sondern auch unsere wissenschaftlichen Akademien, Forschungsinstitute, die aus
gleichen Gründen auch das wissenschaftliche Druckschriftentum erschwert und
unmöglich macht, die das Erscheinen von periodischen Fachorganen bereits
wesentlich eingeschränkt hat und bald vielleicht zu gänzlichem Einstellen zwingen
wird, — zur Abwehr aller dieser Notstände haben berufene Gelehrte vor einiger
Zeit eine „Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft" gegründet, die unter
dem Vorsitz des früheren preußischen Kultusministers Dr. Friedrich
Schmidt eine allgemeine Hilfsaktion einleiten, geeignete Maßnahmen zur
Milderung der Not erwägen und die Aufmerksamkeit der zustündigen Behörden
immer wieder auf die bedrohlichen Folgen lenken soll, die eine völlig unzu¬
reichende Ausstattung der einzelnen wissenschaftlichen Anstalten mit Geld-
Mitteln mit sich bringen muß. Das Interesse des Reiches soll an dem Bestand
und der gedeihlichen Entwicklung aller deutschen Forschungsstätten stets wach¬
gehalten werden, und es ist notwendig, daß den Bibliotheken ein wesentlicher
Anteil an der Reichshilse zugesprochen wird. Und noch eine weitere Ausgabe
Muß die „Notgemeinschast" zu erfüllen suchen. Die wissenschaftliche Arbeit
Muß sozusagen rationell verteilt werden, und eine tiefgreifende Organisation
Muß dafür Sorge tragen, daß nicht an zwei Stellen dieselbe Arbeit geleistet
wird, und daß sie andererseits dort getan wird, wo sie am zweckmäßigsten und
billigsten zu leisten ist, wo die besten Vorbedingungen gegeben sind usw. So
sollten also, um nur irgendein Beispiel zu nennen, gewisse Bibliographien nur
von den Bibliotheken sür die Allgemeinheit angefertigt werden, die dazu durch
ihr Material von vornherein die geeignetsten sind und dazu von Reichs wegen
beauftragt und finanziell unterstützt werden. Es müßte also eine strenge Organi¬
sation der großen wissenschaftlichen Unternehmungen stattfinden, die auch die
Verteilung des vom Reich zu diesen Zwecken zur Verfügung zu stellenden Geldes
"ach einem genauen Plan zu übernehmen hätte. Eine derartige Organisation
ber geistigen Arbeit, der das Reich die nötigen Mittel anvertrauen muß, scheint
wir viel leichter und dringlicher zu sein als die schon oft vergeblich erstrebte
Organisation der geistigen Arbeiter.
Auch auf dem Gebiete des deutschen wissenschaftlichen Bibliothekswesens
ist eine straffere Organisation in vielen Dingen zweifellos Vonnöten und würde
gemeinsam mit der schon besprochenen Sparsamkeit die Bibliotheken als „die
wichtigsten und unentbehrlichsten Hilfsmittel zur Sicherung, Verbreitung und
Fortpflanzung der Gelehrsamkeit" über die Zeit der Not besser hinwegbringen.
In der Tat haben die anerkannten Führer unserer Bibliotheken bereits mannig¬
fache Vorschläge besprochen, die im wesentlichen auf gemeinsame Verständigung
in bezug auf Arbeitsteilung und Dezentralisation wichtiger Aufgaben hinaus¬
laufen. Bemerkenswert war in dieser Beziehung besonders der letzte deutsche
Bibliothekarstag in Weimar (Pfingsten 1920), in dessen Mittelpunkt ein Vortrag
von Professor or. M inde - Ponce, dem Direktor der Deutschen Bücherei
in Leipzig, über „gemeinsame Aufgaben der deutschen Bibliotheken" stand, und
der die wichtigen Probleme behandelte, über deren Durchführung zuvor die
Deutsche Bücherei mit den beiden größten deutschen Bibliotheken, der Preußischen
Staatsbibliothek in Berlin und der Bayerischen Staatsbibliothek in München,
sich im wesentlichen geeinigt hatte. Es soll im folgenden nicht die Aufgabe sein,
alle die Maßnahmen zweckmäßiger Organisation zu besprechen, die in dem
Vortrage zur Sprache kamen, und die nach ihrer restlosen Durchführung zweifel¬
los wiederum ein glänzendes Beispiel deutscher Organisationsfähigkeit dar¬
stellen würden, sondern es soll an dieser Stelle lediglich betrachtet werden,
inwieweit die Deutsche Bücherei sich an den gemeinsamen Aufgaben beteiligen
kann, und wie sie sich dnrch Übernahme bestimmter Aufgabengebiete infolge
ihrer eigenartigen Struktur mit möglichstem Nutzen für die Gesamtheit in den
Rahmen des deutschen Bibliothekswesens einfügen läßt. Die Darstellung beruht
auf persönlichem Miterleben und Mitdurchdenken der Fragen, die in den letzten
Monaten die Beteiligten beschäftigt haben.
Die Deutsche Bücherei, deren Gründungsgeschichte und bisherige satzungs-
mäßiger Aufgaben und Ziele hier wohl als bekannt vorausgesetzt werden dürfen,
hat in den fast acht Jahren ihres Bestehens eine eigenartige Stellung innerhalb
des alten festgefügten deutschen Bibliothekswesens eingenommen. Entstanden
war sie aus der Jmtiative einzelner ideal und großzügig denkender Männer, als
das Deutsche Reich auf der Höhe seiner Macht stand. Sie konnte am
1. Januar 1913 beginnen, das gesamte deutsche Schrifttum des In- und Aus¬
landes zu sammeln, indem der opferwillige deutsche Verlagsbuchhandel und
die Mehrzahl der Behörden sich verpflichteten, ein Exemplar kostenlos der neuen
Bibliothek zu liefern. Der sächsische Staat und die Stadt Leipzig schufen noch
rechtzeitig in den ersten Kriegsjahren (1914—16) das prächtige Gebäude an der
südöstlichen Peripherie Leipzigs, das ohne Zweifel als der modernste und zweck¬
mäßigste Bibliotheksbau Deutschlands gelten darf, und das wiederum der Buch"
Handel in vornehmer Weise ausschmücken half. Man darf jedoch nicht verkennen,
daß die Gründung der Deutschen Bücherei in Leipzig nicht ohne Gegnerschaft
geschah, die besonders von den älteren Bibliotheken ausging, die sachlich erwogen,
daß es vielleicht besser gewesen wäre, die Deutsche Bücherei auf die Bestände
der Königlichen Bibliothek in Berlin auszubauen, um dadurch eine Art Reichs¬
bibliothek zu schaffen, deren sich Frankreich in der Lidliotneque nationale und
England im Britischen Museum schon lange zu erfreuen haben. Das scheiterte
zum Teil an der zentralen Bedeutung Leipzigs als Buchhändlerstadt und ganz
allgemein an dem Partikularismus, der nun einmal im Deutschen Reiche vor¬
handen ist, und mit dem man stets trotz aller Einigkeit rechnen muß. Als die
Deutsche Bücherei ihre Sammeltätigkeit begonnen hatte, hörte zwar im wesent¬
lichen die offene Gegnerschaft auf, aber die älteren Bibliotheken begingen den
Fehler, daß sie sich wenig oder gar nicht um das Gedeihen der jüngsten Schwester
kümmerten, ihre Vorteile nicht sahen, ihre Schütze nicht ausnützten, kurzum, ihrer
Entwicklung zu gleichgültig gegenüberstanden.
Die Deutsche Bücherei hat ihrerseits, abgesehen von den Kinderkrankheiten,
die jede junge Anstalt durchzumachen hat, sich unter tatkräftiger Fachleitung und
mit Hilfe einer von Anfang an großzügig angelegten Organisation stetig ent¬
wickelt. Was in und an ihr gearbeitet worden ist, davon legen die bisher er¬
schienenen sieben Verwaltungsberichte beredtes Zeugnis ab. Sie hat ihre Auf¬
gaben im stillen erfüllen müssen, denn es war ihr leider bis jetzt nicht vergönnt,
in vol.em Umfange an die Öffentlichkeit zu treten und sich aller Welt nutzbar zu
erweisen. Wäre die Not des Krieges nicht in ihre Entwicklungsjahre gekommen,
so hätte sie auch nach außen hin eine viel bedeutendere Wirksamkeit entfalten
können. So aber hat fie der verlorene Krieg ganz besonders hart treffen müssen,
da sie ja nicht eine^ finanziell fest fundierte Staatsanstalt ist, deren Bestehen ge¬
sichert erscheinen muß, sondern in ihrem Unterhalt von der jährlichen Neu¬
bewilligung seitens des sächsischen Staates, der Stadt Leipzig und des Börsen¬
vereins Deutscher Buchhändler abhängig ist. Es ergab sich der merkwürdige
Zustand, daß die Arbeitskraft des wissenschaftlichen Direktors, wenigstens in
den letzten Jahren, im wesentlichen auf die Frage boxv w rrnckv rrwn6? für
die nächsten Monate gerichtet sein mußte.
Während so die Deutsche Bücherei in der letzten Zeit besonders durch die
hohen Anforderungen der Besoldungsreform in die ernsteste Finanzkrisis seit
ihrem Bestehen geraten ist und augenblicklich erwogen werden muß, den Betrieb
Überhaupt einzustellen, was gleichbedeutend wäre mit einem Aufgeben des
Gedankens der Deutschen Bücherei für alle Zukunft, da sich ein Stillstand des
Betriebes selbst weniger Wochen kaum je wieder gutmachen ließe, während die
Schließung der Deutschen Bücherei also nur durch ein schnelles Eingreifen des
Reiches mit der Bereitstellung eines Etats, dessen jährliche Höhe im Gesamt¬
haushalt geradezu lächerlich gering ist, verhindert werden könnte, hat sich anderer¬
seits die Stellung der alten Bibliotheken zur Deutschen Bücherei in den letzten
Monaten völlig geändert, und es hat die Anschauung Platz gegriffen, daß das
Weiterbestehen der Deutschen Bücherei für die Zukunft des deutschen Bibliotheks¬
wesens unumgänglich notwendig ist, ja das Aufhören ihrer Sammeltätigkeit
den schwersten Schaden für die deutsche Wissenschaft bedeuten würde. Diese
Gedankengänge kommen in einer Erklärung und einer Denkschrift zum Ausdruck,
die am 24. August dieses Jahres eine Reihe der bedeutendsten deutschen Biblio¬
theksdirektoren in einer nach Leipzig zusammengerufenen Konferenz gefaßt und
aufgestellt haben. Die Erklärung lautet:
„Die Deutsche Bücherei ist wie alle wissenschaftlichen Anstalten Deutsch¬
lands in so schwere Bedrängnis geraten, daß ihr Weiterbestehen gefährdet ist.
Als Abhilfe ist ihre Verschmelzung mit der Leipziger Universitätsbibliothek
vorgeschlagen worden. Dem gegenüber müssen die am 24. August 1920 in
Leipzig versammelten Vertreter des wissenschaftlichen Bibliothekswesens,
insbesondere des Vereins Deutscher Bibliothekare und des Beirath sür Biblio¬
theksangelegenheiten in Preußen nach eingehender Prüfung der allgemeinen
wie der örtlichen Verhältnisse den Gedanken einer solchen Verschmelzung
im Interesse beider Anstalten entschieden ablehnen. Vielmehr sprechen sie
in voller Würdigung der bisherigen Leistungen der Deutschen Bücherei wie
der ihr künftig zur Förderung des ganzen deutschen Bibliothekswesens zuzu¬
wendenden Ausgaben einmütig die Überzeugung aus, daß die Deutsche
Bücherei als selbständige Anstalt unbedingt erhalten werden muß.
Geheimer Hofrat Dr. Bopser, Direktor der Universitätsbibliothek
Leipzig; Dr. Fick, Abteilungsdirektor der Preußischen Staatsbibliothek
Berlin; Hofrat Dr. Frankfurter, Direktor der Universitätsbibliothek
Wien; Professor Dr. Längin, Direktor der Landesbibliothek Karlsruhe 5
Geheimer Regierungsrat Dr. Milkau , Direktor der Universitätsbibliothek
Breslau; Professor ol-. M i n d e - P o u e t, Direktor der Deut chen
Bücherei Leipzig; Dr. Naetebus, Direktor der Universitätsbibliothek
Berlin; Geheimer Regierungsrat Dr. Paalzow, Abteilungsdirektor
der Preußischen Staatsbibliothek Berlin; Dr. von Rath, Direktorder
Bibliothek des Reichsgerichts Leipzig; l)r. Schmidt, Direktor der
Landesbibliothek Darmstadt; Geheimer Rat Dr. Schmorr vonCarols-
feld, Generaldirektor der Bayerischen Staatsbibliothek München;
Geheimer Regierungsrat Dr. S es w e n k e, Erster Direktor der Preußischen
Staatsbibliothek Berlin."
An' dieser Erklärung und den sich daran anschließenden längeren
Ausführungen*) dürfen, so sollte man meinen und hoffen, die zu¬
ständigen Finanzbehörden nicht ohne weiteres vorübergehen. Es wäre ja
auch eine Torheit, wollte man gerade diejenige Bibliothek eingehen lassen, die
als einzige in Deutschland alle Bücher geschenkt bekommt, teils von den
Produzenten direkt, teils verpflichtungsgemäß vom Börsenverein, der alle d i e
Druckschriften kaufen und der Deutschen Bücherei zur Verwahrung übergeben
muß, die ihr aus irgendeinem Grunde nicht geschenkweise zugehen. Die Deutsche
Bücherei hat also nur die Kosten für die katalogmäßige Bearbeitung, Aufbewah¬
rung, Bereitstellung an das Publikum und Nutzbarmachung ihrer Schätze für
das Bibliothekswesen und die Bibliographie zu tragen.
Welcher Art sind nun die Vorteile, die die deutschen Bibliotheken und die
Wissenschaft aus dem Bestehen der Deutschen Bücherei ziehen können, d. h.
welche besondere Bedeutung fällt der Deutschen Bücherei im Rahmen der
übrigen Bibliotheken zu? Es soll dabei weniger auf Vollständigkeit als auf
Hervorhebung einiger großer Gesichtspunkte im folgenden ankommen.
Die Deutsche Bücherei ist zur Zeit die Zentralsammelstelle
des gesamten deutschen Verlagsbuchhandels, samt"
l ieber deutschen Zeitschriften, aller ihr irgendwie
bekannt werdenden Privatdrucke und sämtlicher
deutschen amtlichen Drucksachen. Auch alle karto¬
graphischen Erzeugnisse gehören dazu. Sie hat die Aufgabe,
dieses deutsche Schrifttum auch tatsächlich vollständig zu ermitteln und sich einzu¬
verleiben, was sie durch ausgedehnte Werbetätigkeit und sonstige Maßnahmen
Zu erreichen suchen mich. Die großen Landes- und Universitätsbibliotheken
können sich also in der Beschaffung der deutschen Literatur auf die notwendigsten
Werke beschränken und in Zweifelsfällen auf die Anschaffung eines Buches ver¬
zichten, indem sie sich sagen: von der Deutschen Bücherei ist es nötigenfalls
zu haben, geht also der Wissenschaft nicht verloren. Dafür können sie ihre Mittel
mehr auf die Anschaffung ausländischer Bücher verwenden, nicht wahllos,
sondern auch nach einem bestimmten Plan, indem die großen Bibliotheken die
einzelnen fremden Länder untereinander verteilen, die sie in ihren Anschaffungen
bevorzugen wollen. Ein Gelehrter soll sich also später mit einiger Gewißheit
sagen können: Jedes deutsche Buch ab 1913 finde ich bestimmt in der Deutschen
Bücherei, die polnische und russische Literatur am ehesten z. B. in Königsberg
oder Breslau, die italienische in München, die englische in Göttingen usw.
Während also Aufgabe der Deutschen Bücherei nach wie vor das Sammeln aller
im deutsche» Verlagsbuchhandel neu erscheinenden Schriften bleiben soll, und
bei den übrigen großen Bibliotheken möglichste Arbeitsteilung in bezug
auf die zur Zeit teuere ausländische Literatur verabredet werden muß, werden
dadurch erhebliche Kosten bei allen Beteiligten gespart werden können. Eine
ähnliche Dezentralisation ist auch auf dein Gebiete der amtlichen Druck¬
sachen nötig, die ja satzungsgemäß auch sämtlich von der Deutschen Bücherei
erfaßt werden sollen. Daß es jedoch unmöglich ist, die ungeheure Menge der
amtlichen Drucksachen, die allein etwa K0 °/° des gesamten Druckschriftentums
ausmachen, an einer einzigen Stelle zu sammeln, ist eine der wichtigen Er¬
fahrungen, die die Deutsche Bücherei bereits machen konnte; die amtlichen
Drucksachen jedes einzelnen Gebietes müssen von der nächstgelegenen Bibliothek
gesammelt werden, wobei auch kleinere Landes- und Stadtbiblioiheken zur Mit¬
arbeit herangezogen werden können. Ebenso erscheint eine Arbeitsteilung gegen¬
über der ungeheuren Literatur des A u s l an d s d e u t s es t u in s durchaus
- geboten. Der Deutschen Bücherei siel ebenfalls bisher die Sammlung dieser
schwer zu erfassender Literatur zu, die sie allerdings wegen des Krieges kaum in
Angriff nehmen konnte. Auch da müßten die großen Bibliotheken, woran sich
ebenfalls die Deutsche Bücherei als ein Glied beteiligen könnte, eine Verein¬
barung treffen, auf Grund deren jede ihr Sondergebiet zugewiesen erhielte;
eine so weit gehende Teilung wie bei den amtlichen Drucksachen wäre natürlich
überflüssig; die Arbeit könnte von wenigen großen Bibliotheken geleistet werden,
Vraktischerweise von denselben, die die Bevorzugung bestimmter Auslands-
^iteratur überhaupt übernommen haben.
Die Hauptaufgabe, die der Deutschen Bücherei zufallen sollte, erblicke ich
^ der Übernahme der Katalogisierung der gesamten deutschen Litera¬
tur für alle anderen Bibliotheken und die Herstellung und Herausgabe von
Titel, und Zetteldrucken für alle Kataloge. Was also jetzt von der Preußischen
Staatsbibliothek für sich und die zehn preußischen Universitätsbibliotheken in den
„Berliner Titeldrucken" geschieht, muß von der Deutschen Bücherei auf das
ganze Reichsgebiet ausgedehnt werden, da ihr allein die neueste deutsche Literatur
vollständig und schnellstens zugeht. Voraussetzung wäre dabei selbstredend eine
Einigung der deutschen Bibliotheken über die Hauptgrundsätze der Katalogi¬
sierung, damit die Zettel für alle Bibliotheken gleich brauchbar wären. Welche
Ersparnisse dabei von den einzelnen Bibliotheken gemacht werden könnten, ist
noch gar nicht abzusehen. Eine derartige große Organisation wird natürlich nicht
von heute auf morgen geschehen können, sondern vielleicht ein paar Jahre
brauchen, bis alle Beteiligten den vollen Nutzen der an einer Stelle für sie voll¬
brachten Arbeitsleistung verspüren.
Eine Aufgabe, die aus der ebeu genannten herauswächst und gleichzeitig
geschehen kann, wäre die Neugestaltung des bekannten Deutschen
Bücherverzeichnisses seitens der Deutschen Bücherei, das weit voll¬
ständiger sein müßte als heute, um den Bedürfnissen des Bibliothekars ebenso
wie denen des Buchhändlers zu genügen. Es müßte z. B. auch sämtliche zi>
erfassender Privatdrucke enthalten, am besten in einem Ergänzungsbande, der
gesondert von dem für die Buchhändler berechneten Hauptteil bezogen werden
könnte.
Als die Krone bibliothekarischer Arbeit wäre schließlich noch die Organisation
und Herausgabe von systematischen Bibliographien zu be¬
zeichnen, die der Deutschen Bücherei gemeinsam mit den größten übrigen Biblio¬
theken als eine Zukunftsaufgabe zufallen müßte, da sie über das gesamte deutsche
Material verfügt. Fachbibliographien der einzelnen Wissenschaften könnten je
nach Bedarf von der Deutschen Bücherei unter Mitarbeit dazu geeigneter Kräfte
und anderer Bibliotheken herausgegeben werden. Das ist wiederum eine Arbeit,
die für die Allgemeinheit zu geschehen hat, und an der daher das Reich stark
interessiert sein muß. Es wäre eine reizvolle Aufgabe, hier einzelne Vorschläge
zu derartigen bibliographischen Arbeiten zu besprechen, doch sind sie ja zunächst
nicht so dringend und müssen besseren Zeiten überlassen bleiben. Nur sei z. B.
an die Neuherausgabe des „Gesamtzeitschriften-Verzeichnisses" erinnert, für das
die Mitarbeit der Deutschen Bücherei infolge ihres Besitzes von etwa 20 000 Pe-
riodica unentbehrlich ist.
Die Hilfe, die die Deutsche Bücherei den übrigen Bibliotheken und allen.
Gelehrten als Auskunftsbureau für alle Fragen, die die deutsche
Literatur ab 1913 betreffen, ferner als Ergänzung des Preußischen Ge¬
samtkatalogs in Berlin oder in Verbindung mit dem Summe
tatalog der Rothschilds chen Bibliothek in Frankfurt a. M-
und nicht zuletzt durch den Anschluß an den allgemeinen Leihverkehr M
leisten imstande sein wird, kann noch gar nicht abgeschätzt und sollte hier nur
angedeutet werden, ohne daß auf Einzelheiten eingegangen wird.
Aus alledem läßt sich wohl erkennen, daß die Aufgaben der Deutschen
Bücherei und ihre innere Struktur ganz eigenartiger Natur sind und ihr Charakter
von dem der übrigen Bibliotheken wesentlich abweicht. I h r B e t ri e b i se
völligvon der deutschen D rü S s es ri f t e n p ro d u k ti o n ab - ^
hängig und steigt und fällt mit dieser. Während andere Bibliotheken
Z. B. in schlechten Zeiten ihre Arbeit einschränken und sogar beschließen
können, keine oder nur wenige Bücher anzuschaffen, ist der Deutschen
Bücherei eine solche Einschränkung überhaupt unmöglich, da der Gedanke der
Deutschen Bücherei eben auf dem Prinzip der absoluten Voll¬
ständigkeit des deutschen Schrifttums beruht. Würde dieses auf¬
gegeben werden/ so wäre die Idee der Deutschen Bücherei hinfällig und ihr
Weiterbestehen nicht mehr zu rechtfertigen. Je mehr die Deutsche Bücherei von
den skizzierten Aufgaben übernehmen wird, desto mehr wird sie sich in ihrem
Charakter von den anderen Bibliotheken unterscheiden müssen. Sie ist weit
davon entfernt, etwa eine Reichs-, National- oder Zentralbibliothek für Deutsch¬
land sein zu können und zu wollen, sondern sie wird eine Art Hilssanstalt für alle
anderen werden, aber doch ein Mittelpunkt für bibliothekswissenschaftliche Ar¬
beiten, die nur von ihr unternommen werden können, und sie wird weniger für
sich als für andere und die Gesamtheit Arbeit leisten. Daher wird sie nie den
Ehrgeiz fühlen dürfen, selbst die meisten Benutzer im eigenen Lesesaal bedienen
oder den größten Bücherumsatz als das Erstrebenswerteste ansehen zu wollen,
sondern ihre Hauptarbeit wird sich mehr innerhalb eines wohlgeschulten Beamten¬
körpers an den Katalogen, am Redaktionstisch oder von Bibliothek zu Bibliothek,
nicht aber im direkten Verkehr mit dem Publikum abspielen.
Die Deutsche Bücherei wird im Kreise der deutschen Bibliotheken eine
bedeutende Rolle spielen und hervorragende Leistungen bieten, wenn sie sich
erst einmal frei von allen Finanzsorgen ganz der bibliothekswissenschaftlichen
Arbeit zu widmen vermag, und eine Entlastung für alle anderen Bibliotheken
bedeuten, wenn sie erst dem allgemeinen Leihverkehr ihre Schätze wird zur Ver¬
fügung stellen können. Jeder, der in den letzten Jahren den stolzen Bau an der
Straße des 18. Oktober betreten und einen Blick in den Organismus der Bücherei
geworfen hat, ist erstaunt gewesen über dieses deutsche Kulturwerk, das dort
Mitten in schwerster Kriegszeit emporgewachsen ist. Möge die Hilfe, die der
Deutschen Bücherei immer wieder von den maßgebenden Vertretern des Reiches
und der Einzelstaaten zugesichert worden ist, bald und ausreichend eintreffen
Sum Ruhme der deutschen Wissenschaft und zur Hebung des Ansehens unseres
Vaterlandes; denn nach dem unglücklich verlaufenen Kriege brauchen wir mehr
denn je ein verstärktes Eintreten für deutsche Kulturförderung, eine erhöhte
Anstrengung, unser Geistesleben zu pflegen, unsere ideellen Güter zu wahren
und unsern geistigen Ruf in der Welt zu erhalten und zu vermehren!
er Deutsche, der nach sechs Jahren zum ersten Male wieder Paris
betritt, die Stadt, die er vielleicht einst glücklich bewohnt hat, tut
es mit tiefem Bangen vor den Eindrücken, die ihn dort erwarten
sollen. Die Traurigkeit dieser Erwartung wird teils übertroffen,
teils gehoben. Tiefer noch als gefürchtet drückt der Unterschied
zwischen dem besiegten und dem (wenn auch nur scheinbar) siegenden Lande.
Man empfindet auf Schritt und Tritt schmerzlich, wieviel Selbstverständlichkeiten
nicht nur in bezug auf die Ernährung, die kulinarischen Genüsse uns fremd ge¬
worden sind.
In den Auslagen der Schaufenster sieht man alles — zum 2'/» bis
3 fachen Friedenspreise—, was für französische Börsen erschwinglich aussieht. Papicr-
not scheint nicht zu herrschen. Die Verleger bringen ein Buch nach dem anderen
auf den Markt. Die Zentralstelle des französischen Buchhandels erleichtert — im
Gegensatz zu Deutschland — den Absatz in das Ausland. Als junger, sehr
rühriger Verlag ist die „Sirene" zu nennen, deren lyrische und epische Publikationen
oft mit Holzschnitten von Dufry, Masereel, Shote, Andre, Marc und anderen
geschmückt sind. An Büchern urkd Zeitschriften wird der Aufschwung, den die
Schwarzweißkunst genommen hat, ersichtlich. Fast alle bedeutenden jungen Künstler
haben sich auch diesem Betätigungsfeld zugewandt und leisten darin zum Teil
Außerordentliches.
Der Charakter der Zeitschriften hat sich im allgemeinen nicht verändert.
„La nouvelle revue francaise" hat an Ansehen und Bedeutung noch gewonnen.
Als Chronik ist ihr auch heute noch der „Mercure de France" überlegen. In¬
dessen ist er in seinen Tendenzen derartig rationalistisch geworden, daß er sich prinzipiell
weigert, literarische oder verlegerische Beziehungen zu Deutschland wieder anzu¬
knüpfen. Er verneint jede weltbürgerliche Gesinnung, die bei Andr6 Gide und
seinem Kreis uns so wohltuend berührt. Vorläufig steht die angelsächische Welt
im Vordergrund des Interesses. Man veröffentlicht Werke von Herbert Browning,
Samuel Butler, I. M. Keynes. Paul Galland, Valery Larband, Albert Thibaudet
haben sich während des letzten halben Jahres mit englischen Problemen beschäftigt.
Die Betrachtung deutscher Geistesarbeit steht vorläufig noch im Hintergrund.
Indessen weiß ich, daß Felix Bertaux, ein verständnisvoller Kenner Deutschlands,
sich mit ihr beschäftigt und Studien über Gundolf, Spengler, Bertram vorbereitet,
die gewiß von dem gleichem loyalen Empfinden getragen sein werden wie seine^Arbeiten
über Walter Rathenau und Dehmels Kriegstagebuch, die bereits erschienen sind.
Ihm zur Seite wird demnächst der Berliner Privatdozent Groothuscn treten, der
als Mitarbeiter der Nouvelle revue francaise gewonnen ist. Neben Gide macht
sich Gaston Gallunard, der Sohn des bekannten Sammlers, um den Verlag ver-
dient. Alles, was diese beiden Männer unternehmen, steht auf einem hohen Niveau
und ist von heiterer Lebensbejahung durchstrahlt.
Aus der jüngsten Literatur ist co sichtlich, daß sich die Gedanken, die schon
vor 1914 in der Jugend Frankreichs lebendig waren, sich organisch fortentwickelten.
Bergson war es, der damals die Studentenschaft für sich gewann. Sie entnahm
aus seinen Worten Forderungen zur Befreiung von der Alleinherrschaft des
naturwissenschaftlichen Denkens. Die Fesseln aller abstrakten Postulate, die das
Bildungsideal des Positivismus und des Kritizismus im neunzehnten Jahrhundert
aufgestellt hatten, sollten gesprengt werden. Ebenso wie diese Zertrümmerung
der materialistischen Weltanschauung fanatisierte die Jugend Bergsons Erkenntnis
des 6lan vital und der Evolution er6atrice. Die Abkehr vom rein inrellektuellistischen
Denken und der Struktur einer volunteristischen Philosophie hatte zündende Kraft.
Vergsons Satz: „Der Körper ist ein Werkzeug des Handelns" wurde das Leit¬
motiv des neuen Geschlechts.
Man sprach von 1913 ganz allgemein vom „r6veil" vom „renouvellemcnt"
des französischen Geistes. Der „r>6ocatkol6cisme" gewann täglich an Terrain
und Ausdehnung. Damals haben die Deutschen Paul Claudel die ersten Ruhmes¬
kränze gewoben. Er nahm die Huldigungen dankbar hin und ließ sich als neuen
katholischen Mystiker feiern, wußte aber schon damals, daß auch sein Katholizismus
nur eine Teilcrscheinung seines sprungbereiten Nationalismus sein würde.
1914 erschien der letzte Band von Romain Rollands „Johann Christas", in dem
w epischer Form alles das, was ich hier andeute, breiter und wirksamer vor¬
gestellt worden ist, als ich es vermag.
Der damals gesponnene Zusammenhang zwischen den geistigen Führern
Frankreichs hat sich im Kriege gestärkt und bewährt und sich für die Nation als
heilsam erweisen. Sehr deutlich tritt aber zutage, daß alle Strömungen, die
damals die Gemüter bewegten, Teilerscheinungen des Nationalismus waren und
sind,, in dem sich heute fast alle Kreise Frankreichs einig fühlen. Auch der Neu-
katholizismus, der vor 1914 eine bedeutende Rolle im Geistesleben zu spielen
schien, ist ganz in den Hauptstrom eingemündet. Die Gotteshäuser sind nicht
stärker besucht als früher, die Frömmigkeit erweist sich nirgends als überzeugte/
dennoch liegt ein tiefer Sinn in der neukatholischen Bewegung: sie bedeutet die
Achtung vor der Tradition, das Opfer, daS auch skeptische Kreise den rein
französischen Überlieferungen bringen und so ist auch der Neukatholizismus eine
Tcilerscheinung der nationalen Erhebung. Die ethischen oder mystischen Züge
treten daher auch hinter den politischen zurück,- so ist die Forderung nach der
Wiederaufnahme der Beziehungen Frankreichs mit dem Vatikan weniger eine
Angelegenheit der französischen Gläubigen als eine Forderung nationaler Würde.
Die angeblich neutrale oder deutschfreundliche Haltung des Papstes, die auch
heute noch beständig verurteilt wird, wird nicht als eine Beleidigung der
französischen Katholiken, sondern des französischen Nationalgefühls angesehen.
Daß national und katholisch in Frankreich synonyme Begriffe sind, erkennt man,
K>cum man die „Action francaise", den „Gaulois", das „Echo de Paris" oder
Zeitschriften: „L'ideal, „La revue universelle", „La revue critique" usw.
Durchblättert. Infolgedessen ist eine Merbrückung der deutsch-französischen Gegen¬
satze durch die Vermittlung des Katholizismus vorläufig ziemlich aussichtslos.
Paul Claudel, der durch seine Kenntnis Deutschlands und durch seine Erfolge in
Deutschland der berufendste Vermittler dieser Kreise wäre, hat sich auf den Gipfel
des Nationalismus geschwungen, in dem er seine Übersetzer und die Theater¬
leiter, die seine Stücke aufführen, im Kriege als Diebe bezeichnete. Seine
Haltung ist symptomatisch.
Auch die Erneuerung des jüdischen Glaubens, die durch das Abkommen von
San Nemo eine neue Basis erhalten hat, ist weniger ethisch als national orientiert.
Die Errichtung des jüdischen Nationalstaates ist nunmehr das Hauptziel der Zionisten.
Es ist bezeichnend, daß das „peuxle Mi" sich nicht über Mangel an Ethos in
den jüdischen Kreisen Frankreichs beklagt, sondern über Mangel an jüdischem
Nationalbewußtsein. Diese Klage ist gleichzeitig ein Gradmesser für die straff
gespannte Organisation im geistigen Frankreich. Die Franzosen dulden nicht, daß
Bürger ihres Staates ein anderes Nationalbewußtsein pflegen als das französische.
Und der französische Jude, dem schon Mangel an Bekennermut zu seiner Rasse
vorgeworfen wird, wird sich nicht noch weiteren Vorwürfen aussetzen, indem er
Neigungen zu den feindlichen Nachbarn erkennen läßt. Nur wenige Ausnahmen
vertreten den Standpunkt der europäischen Kulturgemeinschaft. Mit ihnen ist ein
Verkehr in verbindlichen und menschlichen Formen denkbar.
Der französische Protestantismus ist auch nicht deutschfreundlich. — Man
sollte überhaupt dieses törichte Wort aus dem Sprachgebrauch wieder ausschalten?
denn diese Bezeichnung der Fragestellung ist völlig irreführend und zeigt die
europäischen Probleme in falscher Beleuchtung — Aber Protestanten haben sich
während des Krieges in Frankreich als freie, weite und ruhig wägende Ethiker
erwiesen. Während die katholisch-nationalistische Presse die Deutschenhetze betrieb,
haben der protestantische Theologe Doumergue und der protestantische Dichter
Andrö Gide ihre Menschlichkeit dem Feinde gegenüber nicht Vorloren. Gide Hai
kein hartes Wort im Kriege geschrieben. Er ging ganz auf in der sozialen Fürsorge-
In diesen freilich engen Kreisen werden die ehemaligen Feinde Frankreichs mit
einem Takt empfangen, den sie sich wünschen.
Es gibt zwei Kreise von Franzosen, die dem Umgang mit Deutschen völlig
ausweichen: erstens die chauvinistisch gesinnten Franzosen, deren Wortführer L^on
Daudet und Jacues Dämonie sind, und die die Vernichtung des Deutschtums als
ihre Lebensaufgabe ansehen, zweitens diejenigen Franzosen, die mit dem internationalen
Bolschewismus sympathisieren. Sie verlangen ein siebenfach abgestempeltes Attest, daß
der Deutsche, der empfangen werden.will, nicht irgendwelcher nationaler Empfindungen
verdächtig ist. Darin sind sie den nationalistischen Elementen verwandt.
Die Reihen der Künstler und geistigen Arbeiter, die nicht nur als Franzosen,
sondern auch als Europäer empfinden, sind durch den Krieg " glücklicherweise nur
wenig gelichtet. Man findet die Führer der einzelnen Gruppen: Matisse, DccaM,
Fobecn auf der einen Seite, Picasso, Braque, Leger auf der andern wieder, uno
man verfolgt den Weg, den sie seit sechs Jahren zurückgelegt haben. Das Erstaunlichste
ist die Wendung, die Picassos Stil genommen hat. Er hat seine kulistischen Versuch«
fast ganz beiseite gelassen und ist zu den Klassizisten, zur Jugend zurückgekehrt^
Mochten auch für den aufmerksamen Beobachter schon in den Jahren 1»12^
die doktrinären Theorien der Kulisten und ihre völlig einseitige Betonung des
Kulischen und Linearen mit Notwendigkeit auf eine neue Klassik hinweisen, so war
doch zu erhoffen — insofern man an den Ernst eines Picasso glaubte —, daß dieser
Führer der kulistischen Bewegung das Errungene in eine neue Stilwandlung
hinübernehmen und verarbeiten würde. Decain, Fobeen, Vlannik, Frieß haben
sich so entwickelt und sind zu einer reifen Synthese gekommen, die ihnen die größten
«Erfolge gebracht hat.
Bei Picasso dagegen: eine vollständige Schwenkung. Er geht ganz und
>gar von der Linie aus? das Kulische scheint ihn in der einen Serie seiner Bilder
überhaupt nicht zu interessieren. Sie wirken wie leidliche Nachschöpfungen
Raffael scher und Jugre scher Zeichnungen. Wohlgemerkt, aber nur in der einen
Reihe. Daneben malt er für seinen früheren Berehrerkreis noch kulistische Bilder,
die von dem Kunsthändler Leone Rosenberg propagiert werden. Den Jugristen
lanziert Paul Rosenberg.
Sie machen, wie es scheint, beide gute Geschäfte, und auch die übrigen
Kunsthändler beklagen sich nicht. Die kleinen Galerien und Salons sind gar
nicht mehr zu zählen. Neben ihnen hat das Kunstgewerbe imponierende Aus¬
dehnung gewonnen. In ihm macht sich in Wandbespannungen, Teppichen, Stoffen
^in angewandter Kulismus geltend.'
Seitdem 1910 durch die Ausstellung desMünchener Kunstgewerbes in Paris
-das französische Kunstgewerbe einen aufpeitschenden Antrieb bekommen hatte,
wandten sich eine ganze Reihe moderner junger Künstler der Innendekoration zu.
Sie übersprangen gewissermaßen die Kinderkrankheiten, die unser Kunstgewerbe
im Jugendstil durchzumachen hatte, arbeiteten von vornherein nach den Grundsätzen
der Zweckdienlichkeit und Sachlichkeit, die für das praktische amerikanisierte Europa
bezeichnend sind, verklärten aber jede Form mit der köstlichen Heiterkeit ihres
Farbenempfindens und mit einem maßvoll verwandten aber anmutigen und
^ebenschwellenden Ornamentenschmuck.
Heute bestehen mehrere vereinigte Werkstätten in Paris, denen weder Roh¬
stoffe noch Aufträge mangeln und die auf dem besten Wege sind, sich Weltgeltung
SU verschaffen. Ändrö Marc, der vor zehn Jahren mit Bucheinbänden seine
ersten kunstgewerblichen Erfolge hatte, leitet jetzt zusammen mit Eugene Sue eine
eigene Werkstatt mit zahlreichen Zeichnern und Facharbeitern. Francis Jourdain
hat am LouIevÄrcl nich capucines ein Haus ins Leben gerufen, in dem Gebrauchs¬
gegenstände, Koffer, Hausrat für Landhäuser in künstlerischem Geschmack hergestellt
werden. Andr6 Groult vereint Inneneinrichtung und künstlerische Kleidung, und
arbeitet dabei mit seiner Frau zusammen.
Einen neuen Eindruck von Paris bedeuten auch seine Museen. Sie sind
alle wieder geöffnet. Das Klus6e 6e I^uxembours ist geblieben, wie es war.
Der I^uvre hat eine ganz neue Gestalt bekommen. Die (^rannte Qallerie ist
durch Säulen rhythmisch gegliedert, und ihr ist dadurch etwas von ihrer Endlosigkeit
genommen. Alle Bilder sind neu geordnet.
Eine neue Schönheit hat Paris durch das Aus6e I^ociin gewonnen, zu dem
'das wundervolle Calais Liron ausgestaltet wurde. Park und Innenräume sind
durch Werke von Rodins Hand, und aus seinen Sammlungen belebt und ergeben ein
zauberhaftes Ganzes, in dem der Geist des großen Meisters zu Hause ist. So
s'ehe man auf allen Gebieten in Frankreich im Kreise von Führenden und geistig
schaffenden, einen drängenden Arbeitswillen, einen ruhigen Optimismus, der die
unterirdischen Krisen der Arbeiterbewegung, des Mangels mancher Rohstoffe und
der Folgen von Zerstörungen klar ins Auge faßt und sie zu überwinden trachtet.
Wenn auch hier und dort eine scharfe Kritik des Versailler Friedensvertrages und
der Politik Clemenceaus zutage tritt, so wird sie doch dem Fremden gegenüber
möglichst verborgen. Aufgeklärtheit, Weltbürgertum, europäische Gesinnung sind
in Frankreich nämlich nicht gleichbedeutend mit Gerechtigkeit gegen Deutschland -—
so gern gewisse ideologische Zirkel bei uns das auch annehmen möchten.
Die Heerschau der Deutschnationalen Volkspartei. Die Böswilligkeit der
gegnerischen, die unzureichende Berichterstattung der eigenen Presse gibt von dem
zweiten deutschnationalen Parteitage in Hannover ein ganz schiefes Bild. Das
Wesentliche tritt nicht hervor, Einzelzüge werden unzulässig v rallgemeinert.
Dichtet man ihm eine Pogromstimmung an, faselt man von Revanchephrasen, die
ihn beherrscht hätten, so beugt man die Wahrheit in einer Weise, die denn doch
über das zulässige Maß des selbst im inneren Parteikampf Deutschlands üblichen
weit hinausgeht. Nicht die Negation, so berechtigt sie dem Zustand von seine
gegenüber sein mag —, das Positive, das Neue, das Zukunftsträchtige überwog
auf ihm und gab dieser Massenversammlung wie der voraufgegangenen Sitzung
des Hauptvorstandes eine weit über den Tag hinausgehende Bedeutung. Diesen
Erfolg der „Jungen" aber, der zukunstsfroh trotz alledem Vorwärtsdrängenden,
der jungdeutsch und sozial Gerichteten in der Partei, den spürt man in den
Spalten der Tagespresse so wenig heraus wie die Bedeutung der programmatischen
Rede und die unvergleichlich feste Position ihres Führers Hergt, der es verstanden
hat, die Partei zur völligen Einheit zusammenwachsen zu lassen, und die angesichts
der nicht mehr zu verlierenden Rettungszeit verantwortungsbewußte Ent¬
schlossenheit, aus der Opposition heraus und in die in Bayern schon erreichte
Mitverantwortung hinein zu kommen, den Mut, gegenüber der Selbstzerfetzung
der sozialistischen Parteien und dem sterbenden Marxismus den Kampf auf¬
zunehmen um die Seele der deutschen Arbeiterschaft. . . . „Das Land, das die
Arbeiterfrage zuerst gelöst hat, wird den Krieg endgültig gewinnen." Wollet»
die Gegner ihren gläubigen Lesern die Deutschnationalen weiterhin als Schreies
als Hetzer, als Leute der Negation sans pill-ase, als Revanchepolitiker und nicht
ernst zu nehmende politische Kinder darstellen — Kadeanr sihr! Um sA
unangenehmer für sie dereinst das Erwachen. Die gegnerisch n Führer aber sind'
wohl schon jetzt betroffen von dem Geist der Stärke, Entschlossenheit, Kamvses-
freude und Zielsicheryeit, der ihnen aus Hannover trotz aller unzulänglichen
Berichterstattung entgegenwehte.
Nicht als ob alles schön und gut gewesen wäre, als ob besonders «M
ersten Tage die Referate und die Erörterung nicht manches zu wünschen übrM
gelassen hätten, was die Partei selbst noch zu beschäftigen haben wird,' charakteristlM
bleibt der Eindruck der Stärke. Sie zeigte sich in der Teilnehmerzahl, in den-
trockenen Ziffern des Geschäftsberichts, in den in den Parteitag eingeschobenen
Versammlungen der Sonderausschüsse und Bünde, die zur Partei gehören -
schwellendes Leben, das, in den engen Rahmen dreier Tage gefaßt, ihn fast.A
sprengen drohte. Die Stärke zeigte sich in der wundervollen Geschlossenheit ve
Stimmung und der überwältigenden Bertrauenskundgebung für den Parteisuhre -
Gerade dort, wo ihr in der Ausnahme neuer Gedanken am meisten zugernure
Wurde, wo alte Urteile und Vorurteile am stärksten zu überwinden waren, ging
diese Versammlung von Vertretern der Partei aus dem ganzen Reiche am
Willigsien mit. Das war nicht Stagnation, das war flutende Bewegung. Die
Stärke zeigte sich in dem zrrnilellosen Willen, es sich nicht aus dem Polster de
Opposition bequem zu machen, sondern angesichis der furchtbaren Lage des
Staates die Verantwortung auf sich zu nehmen um des Vaterlandes willen, so
schwer die Erbschaft drücken möchte Ich greife einzelne Punkte heraus, die meines
Erachtens in der Berichterstattung unscharf herausgekommen sind, um sie ganz
klar zu beleuchten.
Die Auseinandersetzung mit bei» Deutschen V^'lkspartei lag in der Luft,
zumal in Hannover, auf dem altererbter Boden d.s Bennigsenschen National¬
liberalismus. Sie ist besonders von Hergt selbst und von Helfferich in seiner
großen Rede in der Stadthalle ruhig, ohne jede persönliche -chürfe gegenüber
den Fuh>ern der anderen Partei und — das muß stark betont weiden — mit
der zweifellosen Grundrichtung durchgeführt worden, dasz ein Weg zur Gesundung
Deutschlands nur dann sich öffne, wenn beide Parteien s.l Ueßlich loyal und
verständig zusammengehen. Es war nicht Parreigezänk, sondern die notwendige
Klärung vor der Preußenwahl, gerade auch den Anhängern der BoUsvartei
gegenüber durchaus notwendig, weil diese selbst wird endgültig Stellung nehmen
wüsse^, und man mit einer Halbheit der Deutichen Volkspaitei nicht in den
Wahlkampf gehen kann. Daher die Kritik an deren Verhalten in den Junttagen
der Kabinettsbildung, an ihrer Schwäche in der Koalition, an ihrem Naclilaufen
gegenüber der Sozialdemokraiie. Duser Siandpunkr an praktischen Beispielen
vargetan: Die Partei verleugnet nicht nimm Augenblick oppoilunistisch die Mon¬
archie, die ihr als die der Wesensart unseres Vilk^s entsprechende Regierungs-
form erscheint, so sehr sie sich dessen bewußt ist, tun ihre Zeit noch nicht
a/>omnem sei. Sie kämpft mit Entschiedenheit wie überhaupt für den preußischen
Staatsgedanken so auch gegen die Möglichkeit einer Abnennung Oberschlesiens
von Pieußen, weil sie i. E. dessen Lo lösung auch vom Reiche bedeuten würde.
Sie leugnet die Möglichkeit der Sozialisierung, der sie eigene positive Vorschläge
entgegenstellt, und ringt bewußt Mit der „überflüssigsten Partei," der Sozial¬
demokratie, mit der in ihrem heutigen Habitus Müller-Scheidemann zusammen¬
zugehen i r glatt unmöglich ist, um die deuische Arbeiterschaft.
El» zweiter Punkt. Hört man das Ecko der deniokiatischen Presse, so
Wöchte es scheimn, als habe Hannover widergehallt von Schlachirunn eines
jüuellosen Antisemitismus. ^ ir kennen die Wahrh-nslübe der Zeitungen vom
Schlage des „Berliner Tageb alls",' gerade in diesen Tagen deckte Diernch
Schüser die dort betriebene planmäßige Vrunnenvergifrung an der Lchandjchrifl
A>n „Ludendorffs Scheu vor der Wahrheit" einmal wie, er gründlich auf In
-Wirkiichk.it bedeutet Hannover alles andere eher als einen Si g der „Deutlch-
völkischen" im Sinne eines negativen Antisemitismus, hoffentlich vielmehr die
endgültige Verständigung über diese Frage im Sinne des gemcmmmen voniiven
völkischen Gedankens, wie er hell und rein im Vortr^e Ritters erklang.
Gerade hiern ist tue Deuischnationale Volkspanei zu etwas viel Höherem ge¬
worden, als einer noch so großen Partei allen Stils, gerade hierin ist sie in der
^at „gewaltige, hinreißende, zukunstS- und siege»sicheie Volksbewegung". Gerade
oas Gefühl hiervon erregte wirklich die Gemüter zu heiliger Begeisterung, ,p>arg
wie der göttliche Funke vom Redner auf die Hönr über, die ihm hingerissen
huschten. Die Gegner mögen dessen sich bewußt sein, day es sich im „D.uneben
Aolkstum" Wilhelm Stapels und in all den Bewegungen, die rin diesem Kenn¬
wort bezeichnet sind, um etwas Positives, Arterhaltendec, in den Tiefen deutscher
^?cele Wurzelndes handelt, wahrlich nicht um jenen Antisenntismus, den man
"le „Sozialdemokratie der Dummen" nannte.
Das fühlt die Jugend) sie würde sich nie einer Partei zuwenden,°'e bloß negieren oder Altes konsermcren wollte. Sie ist aus ihrer Natur
^raus der Halbheit Feind, sie hat aus ihrem Erlebnis des Schützengrabens
den radikalen Willen zur Volksgemeinschaft. Wehe aber der Partei, die
sie nur benutzen, die sie „erfassen" und „organisieren", die sie als
Stimmvieh einfangen wollie. Sie kann richiungspolitisch, sie darf nicht
parteipolitisch erlogen werden. Das glänzende Referat über die Jugend¬
frage auf der Tagung des Hauptvorstandes zeigte das aufrichtige Verständnis
gerade der führenden Grellen der Partei für diese zart und Pfleglich zu
behandelnden Din e, und die weise Zurückhaltung hierin, die Anerkennung der
aus eigener Kraft emporwachsenden un> nicht am Gängelbande der Alten zu
leitenden jungoeutschen Bewegung wird der Partei bessere F richte tragen als
der Ave>eifer aller anderen Parteien, die Ju end für sich einzuheimsen.
Viel wesentlicher, dasz sie sich selbst immer wieder verjüngt durch diesen
Geist hoffender und strebender Jugend. Und sie tat es, indem sie von den vier
Hauptreferaten zweie ausgesprochenen Führern der Jugend übertrug und deren
Lensätze einstimmig gutgeheißen wurden. Die starke, ja leidenschaftliche Betonung
des sozialen Gedanken?, wie sie schon die Haupivo>standssitzung gerade auch aus
dem Munde des Parteiführers Hergt selbst brachte, wie er auf dem Reichs-
arbeiierausschuß klare Gestalt gewann, fand ihre Krönung in der großen Rede
Walther Lambachs über den Weg zur deutschen Volksgemeinschaft, deren Schluß
ich nächstes ab im Wortlaut gebe, weil in diesen Leitsätzen ein Glied ins andere
greift und damit der allgemeine Plan deutschncitianaler Sozialpolitik festliegt:
„Der Friede von Versailles und das Abkommen von Spa haben Deutschland der
Produktionsmittel beraubt, deren es zur Bctäbgung einer selbständigen und von fremden
Völkern unabhängigen W res.. äst bedarf. Das deutsche Volk ist zum Arbcitnehmervvlk unter
den Weltvölkern geworden.
Wir Deutschnat oralen sehen dieser Tatsache nüchtern und klar ins Auge. Die Not
aber soll uns zum Lehrmeister werden, der den Weg nach oben zeigt.
Sie lehrt uns vor allem, mit den Rohstoffen, den Schätzen deutschen Bodens, die uns
verblieben sind, bauslialten als mit einem heiligen, vom Schicksal anvertraute > Pfunde. Indem
wir höchstes Arbeitskönnen an ihnen betätigen, wollen wir Verschwendung auf allen Gebieten
unterhandelt und durch höchste Mehrleistung dafür sorgen, daß sie sich von neuem mehren,
statt dahinzuschwinden, wie es zur Zeit in der deutschen Nevolutionswirischaft geschieht.
Die Not lehrt uns auch, an tue Produkte, die wir einzuführen gezwungen sind, höchste
Arbeitsleistung binden und sie durch Einsetzung all des Wissens und Könnens, dessen nur der
deuische Kopf- und Hauda beiter fähig ist, zu Ausfuhrgütern umgestalten, die höchsten Wert
Verkörpern und uns daher für die hineingesteckte Arbeit höchsten Lohn hereinbringen.
Diesen Weg lehrt »us die Not und verweist uns damit zugleich auf die Menschen, die
solcher »ufgabe auf allen Wirischaftsgebieten gerecht werden sollen.
Fast scheint es, als seien die Deutschen unserer Tage der Aufgabe nicht gewachsen.
Die Volkssolidarität, die Voraussetzung ihrer Erfüllung ist, scheint restlos zerstört. Klassen¬
kampf und Lvhnstreit zerreißen, was schicksalsvcrbunden zusammengehört.
Wir aber wissen, daß Kapitalisten, Unternehmer, Arbeitgeber, Angestellte und Arbeiter
gleich notwendige Glieder der deutschen Wirtschaft sind, die nach dem Frieden von Versailles
den Arbeitgebervölkern der Entente als einheitliches geschlossenes Aebeitnehmervolk solidarisch
gegenüberzuireten haben, wenn sie nicht allesamt in Sklaverei versinken wollen.
Darum wollen wir dem deutschen Arbeitnehmer, der im modernen Großbetriebe vielfach
den lebendigen Zusammenbang mit dem Sinn und Ergebnis seiner Arbeit und damit
das Gefühl des eigenen Mitinteresses und der Mitverantwortlichkeit verlor und sich als aus¬
gebeutetes und unterdrücktes Werkzeug des Kapitalismus vorkam, das Bewußtsein gleich¬
berechtigter Mitarbeit schaffen und damit Arbeitsfreude und Mitverantwortlichkeitsgesühl
wiedergeben. Seine volle Gleichberechtigung als Mensch wie als wirtschaftliche Vertragspartei
ist zu unumwundener praktischer Anerkennung zu bringen. Der Dienstvertrag soll sich zuo
Gesellschaftsvertrag emporentwickeln. Unser Ziel ist: Nicht Herrschaft des Kapitals, sondern
gleichberechtigte Gesellschaftsaibtit, Die Sozialdemokratie will die Herrschaft des Kapitalismus
durch sogenannte Sozialisi, rung beseitigen. In Wirklichkeit wird dabei nur eine büreaukratische
Fiskalisierung der Wirtscha't erreicht, die keineswegs den seelischen Zusammenhang zwischen
dem Arbeiter und dem Unternehmen herstellt, sondern den einzelnen nur noch weiter vom
Sinne seiner Arbeit abrückt, zugleich aber die Produktii nskraft der Wirtschaft vermindert und
damit auch die Existenzgrundlage des Arbeiters untergräbt. Dieser bureaukratischen fiskalischen
Sozialisierung stellen wir den Gedanken der sozialen Werkgemeinschaft gegenüber.
Einen grundlegenden Schritt auf dem Wege in diesem Ziele bedeutet die Kapital¬
beteiligung der Arbeitnehmer, die unser Parteiprogramm mit dem Satze fordert: „Die
Kapitalbeteiligung der Angestellten und Arbeiter an gesellschaftlich betriebenen Unternehmungen
ist gesetzlich zu erleichtern." Wir verlangen deshalb alsbaldige gesetzliche Maßnahmen, durch
die den dazu reifen Betriebsformen die Verpflichtung auferlegt wird, bei Neugründungen und
Kapitalerhöhungen einen bestimmten Prozentsatz der Geiellschaktsante^le den Angestellten und
Arbeitern am Erwerbe zur Verfügung zu stellen. Als hierzu reife Betriebe sehen wir die
in der Form von Aktiengesellschaften, Kommanditgesellschaften a. A. und Wirtschaftsgenossen-
schaften betriebenen Unternehmungen an. Ferner fordern wir die Einsetzung eines parlamen¬
tarischen Ausschusses zur Untersuchung der Frage, ob und inwieweit auch anderen Unter¬
nehmungen ähnliche Verpflichtungen auferleg» werden können. Die von Angestellten und
Arbeitern aus ihren Ersparnissen erworbenen Gesellschaftsanteile sollen mit Vorzugsrechten
ausgestattet werden.
Im Bemühen um das gleiche Ziel heißt es des weiteren in unserem Programm:
„Wir erstreberr, daß den Angestellten und Arbeitern eine Teilnahme am Gewinn des Unter¬
nehmens gewtthrt wird, wo es dessen Eigenart zuläßt." Demgemäß fordert der Parteitag
die auf nationalem Boden stehenden Unternehmer aus, durch freiwilliges Übereinkommen die
Angestellten und Arbeiter nach Maßgabe der Ertragsfähigkeit des Unternehmens und auf der
Grundlage ihrer Leistungen am Gewinn z > beteiligen.
Als weiteres bedeutsames Mittel zur Erreichung der sozialen Werkgemeinschaft betrachten
wir einen geeigneten Ausbau des Heimstätten- und Pensionswesens der Arbeiter und
Angestellten, zu dessen tatkräftiger Förderung die Deutschnationale Volkspartei alle zweck¬
dienlich«" Schritte unternehmen wird.
Landwirtschaft und Handwerk nehmen insofern eine besondere Stellung ein, als in
ihnen der lebendige Zusammenhang der arbeitenden Menschen mit dem Betriebe wesentlich
erhalten geblieben ist. In der Landwirtschaft herrscht zugleich in Gestalt der Naturallöhnung
ein LohnshsteMj das in seinen Wirkungen der Gewinnbeteiligung nahekommt. Versuche,
dieses Lohnsystem zu einer wirklichen Gewinnbeteiligung auszugestalten, sind schon vielfach
gemacht worden; ihre Weiterverwlgung ist dringend zu empfehlen. Die der Kapitalbeteiligung
entsprechende Wirtschastslörderung ist für den ländlichen Arbeiter in Erleichterungen der
Selbständigmachung durch Landerwerb zu suchen.
Diesen Anforderungen an die Unternehmer stellen wir die Forderung an die Arbeit¬
nehmer zur S^ne, durch S eigerung ihrer Arbeitsleistung und bereitwillige Mitarbeit an der
Ausbildung verfeinerter und veredelter Arbeits- und L^hnsvsteme die Produktionskraft der
deutschen Wirtschaft wieder auf die notwendige Höhe zu bringen. Arbeit ist heute in Deutsch¬
land höchste Pflicht jedes einzelnen.
Im marxistischen Sozialismus liegt die Gescchr der Verelendung der Massen. Unser
Weg öffnet ihnen praktische Möglichkeiten zu wirtschaftlicher Fortentwicklung und seelischer
Veiriedigurig. Auf ihm wollen wir zur Überwindung des Klassenkampf s. zur Versöhnung
zwischen Kapital und Arbeit, körperlicher wie geistiger, kommen. Unser Ziel ist: Nicht
Mechanischer Z vzicilismuS, sondern organische Produktionsgemeinschaft, Sie wird uns die
Arbeitssoli arität und die Sammlung unserer ganzen Volkskraft bringen, die allein die
Sklavenketten von Versailles zu sprengen vermag."
Qber „Volkstum und deutsche Zukunft" endlich sprach der Landtagsabgeordnete
Karl Bernhard Ritter: Die letzte Ursache unserer Niederlage ist der Abfall von
uns selbst,- auch unserem nationalen Gedanken fehlte und fehlt zum Teil noch die
Seele. Die Götzendämmerung bricht über die alten Parteien herein, soweit sie
nicht mit der Jugend aus dem Kriegserlcvnis heraus die Idee der Volksgemein¬
schaft begriffen haben. Die Mechanisierung des Staates und der Individualismus
sind im Kriege zusammengebrochen, die Gärung unseres Volkes ist Reaktion
gegen die Zusammenballung atomisierter Eirnelexistenzen zur Masse, ist Sehnsucht
nach lebendiger Gemeinschaft, das Mißtrauen der Jugend gegenüber den
Parteien hält so lange an, so lange man nicht mit einem lebendigen und ent¬
schlossenen Gestaltungswillen gegenüber Staat und Wirtschaft aus dem Gedanken
der Volksgemeinschaft heraus unbidingt Ernst macht. Alle Bildungsfrage
heißt über alle Auszeilichieiten der Organisation, wie Einheitsschule usw , hinaus:
Wie bilde ich den 'eines VolK-tuas bewußten charaktervoller deutschen Menschen?
Hierin liegt die positive Möglichkeit zur Überwindung der Gefahr des jüdischen
Geistes, hierin die Möglichkeit, den unheilvollen Riß zwischen Gebildeten und
Ungebildeten zu schließen, hierin die Anbahnung des rechten Verhältnisses des
einzelnen zu den Wirklichkeiten von Staat und Religion. Ist unter Ziel die
Volksgemeinschaft, lo muß die Erziehung sein eine religiöse Erziehung. Denn
soziale Gesinnung ist das Produkt sittlicher Erziehung, einer Sittlichkeit) die sich
gründet in der 'Gewissensbindung an me absolute Wahrheit göttlichen Lebens.
In der bewußten Rückkehr zum Volkstum liegt die deutsche Zukunft.---
Der Mehrheitssozialdemokratie attestiert eine aus ihrem Schoß heraus
geborene neue „Partei für R.sormsozialismus" (wieviel soualistische Parieien
hoben wir zur Zeit?), sie sei „verknöchert, verkalkt, ohne Entschlußkraft und
schöpferische vorwärtsweiiende Ideen". . . Und das nach Cass l, diesem „Partei¬
tage der K>äst"! — Gilt das auch von der D^eutschnationalen Volkspartei?
Unterliegen auch die Deutschnationalcn der an der Sozialdemokratie gerügten
Gefahr „el-ter Selbstgefälligkeit und Selbstzufriedenheit?" Ich hoffe, nein, ich
hoffe, daß die neulich im „Tag" ausgesprochene Zielsetzung Ottos von Gierke
doch noch zur Wahrheit wi>d: „Diese"Gemeinschaft konnte sich als Hüterin der
in innerster Seele aller Volksgenossen gemeinsamen Überzeugungen und als Vor¬
kämpferin der wahrhaft wesentlichen Ziele unseres nationalen Lebens mehr und
mehr zum Werk enge zentraler Beteiligung der Volksseele ausgestalten."
Die beglückende Gabe der Tage von Hannover birgt in sich die Aufgabe,
die großen Anliängerscharen der Partei mit dem Sauerteige dieser neuen Ideen
zu durchdri^gen und zum zweiten, jetzt, und geiade jetzt die in Bewegung
geratenen Mass n dem nationalen, christlichen und sozialen Gedanken zuzuführen,
dessen Wesenha lig'eit niemand vest'eilen kann. Gewiß ist es wahr: „Im billigen
Negativismus der Opposition liegt eine starke einig nde Kraft, während die
Nötigung zu veramwortlichem Aufbau die Geister scheidet." Ich denke, die
Deutschrwtionale Volkcpartei ist sich dessen bewußt. Die Probe auf den inneren
Gehalt ihrer Arbeit und ihrer Ziele wird erst der Tag bringen, der sie aus der
Opposition zur Verantwortung ruft. Er soll sie bereit finden. —
Daß die Zeitungsreklame immer mehr darauf ausgeht, redaktionelle Formen
zu borgen, wird ihr höchstens der Redakteur nicht verzeihen, dem Standesehre
mehr als em juristischer Begriff ist. Wir sind dickfellig und weitherzig geworden.
In früheren Zeiten gab es auch in den übelsten deutschen Annoncenfaktoreien eine
scharfe Scheidelinie zwischen jener öffentlichen Meinung, die die bezahlten Mit¬
arbeiter des Verlages zu machen versuchten, und j«ner, die seine bezahlenden Mit¬
arbeiter erzeugten. Heute stößt sich, wie gesagt, kein Fortgeschrittener an der
üblich gewordenen Begriffsverwirrung, und niemals streift eine Mimst ererzellenz,
die den hohen sittlichen Beruf der Presse altestiert, das dunkele Gebiet der
feuilletomstisch verschleierten Anzeige. Es ist nichts mehr dagegen zu wollen.
Der geschäftsbedürftige Kapitalismus wünscht und bevorzugt diese Art der An¬
kündigung, und wozu leben wir seit dem 9. November in einer monarchistisch¬
sozialistischen Republik, wenn ihm nicht in allen Dingen gehorsame werden soll?
Was sich die Berliner Theaterkritiker knirschend gefallen lassen müssen, die vom
Verleger übertarifmäßig hoch zu honorierenden illustrierten Rezensionen der Brüder
Roiter-Schaje, das ist ihren Kollegen recht und billig. Und so wimmelt es
unterm Strich an geistreichen Skizzen, die bald über neue Pelzmodelle, bald über
Frontkorsetts und die jüngste Luxusdiele hinreißend plaudern. Wie lange noch,
und nach Pariser Muster wird auch der Leitartikel zu haben sein, Preise nach
besonderer ^ Vereinbarung. Soweit alles gut. Nur eins brandmarkt die ge¬
fälligen Be träge der Außenseiter noch: sie meinen es nie unterlassen zu dürfen,
sich dem Leser wiederholt als „Schriftsteller" zu präsentieren. Mindestens drei-
bis viermal in jedem Aussatze ist der — bei den hohen Zeilenpreisen doch sehr
kostspielige — Hinweis darauf zu finden, daß der Herr oder das Fräulein Autor
wirklich und tatiächlich ;ur richtigen Schriftstellergiloe gehört. „Denn inzwischen
waed mein Beruf die Schriftstellerin," schreibt Irmgard von Pein, deren neckisch-
Hraziöse Feder sür elektrisch-keramische (!) Schauerbrandöfen erglüht, während
Wilhelm Kirchner begeistert ausruft: „Wenn ich nicht Schriftsteller wäre, würde
ich auf der Stelle eines von diesen wunderbaren 50pferoiaen Hastenichgesehen-
Autos kaufen." Schnftstelleroalles hindert ihn daran. Später erwähnt er noch
einmal seine betrübsame Geldklemme und nennt sich „einen Schriftsteller von
Mangelhafter Portemonnaieregelung". Das Ansehen des Standes wird durch
solche halb schnorrerhaften, halb bettelmönchischen Wendungen ungemein gehoben.
Ich denke aber, in dieser Beziehung haben bereits Corra Christ und Georg
Kaiser dem verehrungswürdigen deutschen Publikum alles Erforderliche gesagt.
Irmgard von Pein und Wilhelm Kirchner brauchen sich nicht ernst zu bemühen.
Zumal sie psychologisch falsch arbeiten. Durch die überdeutliche Betonung ihrer
sehr>ftstellereigenschaft und nun gar erst ihrer Kreditunwürdigkeit, machen sie den-
zahlungsfähigen Käufer stutzig und schrecken ihn von keramisch-elektrischen Schauer¬
brandöfen und 50pferdigen Hastenichgesehen-Autos ab. Dem Sachverständigen
dieses Kalibers traut kein vernünftiger Mensch ein beachtenswertes Urteil zu.
Ihr Auftraggeber könnte also — es sei wied-rholt, denn für solche Winke wird er
zu haben sein — erklecklich Jnseratengeld oder das Geld besser waren, wenn
die beschämende Schriststellerentwürdigung aus den keramisch - elektrischen und
LOPferdigcn Feuilletons fortbliebe. Er lege den dadurch erübrigten Mammon
zu dem anderen und erhöhe, sich einmal als echter Mäcen fühlend, Jrmgards und
Wilhelms mühseliges Honorar.
schrieb 1913, anläßlich des Kampfes um die Wehrvorlage, ein Besorgter.
Der Wehrbeitrag belief sich auf insgesamt eine Milliarde.
Schon damals, und gerade damals, wiesen Einsichtige darauf hin, das; eS
deutsche Pflicht wäre, den Scharnhorstschen Wehrgedanken durchzuführen und die
Friedensstärke des Heeres auf 1 v. H. zu bringen, mindestens aber alle brauch¬
bar en Militärpflichtiger einzustellen. Statt drei Armeekorps hätten wir dann
clam Zuwachs von neun bis 10 erhalten, statt einer Milliarde also drei bis
dreieinhalb zahlen müssen.
Diese aus „Sparsamkeitsgründen" und aus Furcht vor der Demokratie
oder vielmehr vor der demokratischen Presse nicht geforderten sechs Armeekorps
hätten die Ausführung der Schlieffenschen Pläne ermöglicht, Klucks rechten Flügel
so stark gemacht, wie der Graf es verlangt hatte, die Aufstellung eines starren
Reserveheeres gestattet und den Ausgang der Marneschlacht von vornherein.ent¬
schieden. Kein Moltke und kein Hauptquartier in Luxemburg wären dann imstande
gewesen, den Kopf zu verlieren und siegreichen Truppen den Rückzug anzubefehlen.
Die 1913 ersparten zwei Milliarden kosten uns, von allem Hunger und
Jammer, aller Verwüstung und allem Verbrechen abgesehen, jetzt laut Herrn
Dr. Wirth bereits 288 Milliarden.
Selbst wenn man die seither eingetretene Entwertung des Geldes in Rech¬
nung zieht — die Sparsamkeit hat sich nicht gelohnt.
Nach aber hundert Jahren wird sich Michel indessen von den Sparsamkeits¬
aposteln wiederum belügen und Gist streuen lassen, ohne rechtzeitig zum Rechen¬
stift zu greifen. Er ist unrettbar erblich belastet.
Es wird mit Bayern tatsächlich nicht mehr lange so weiter gehen. „Die
beglückende Morgensonne der neuen Freiheit", deren Strahlen der Erfinder dieses
Wortes, Herr Philipp Scheidemann, inmitten seiner billigen Kasseler Schloßmöbel
allerdings sehr kräftig verspürt hat, diese Morgensonne ist in Bayern kurzerhand
von der Tagesordnung abgesetzt worden. Man hat dort nicht nur dem Clemenceau-
Bolschewismus des Propheten Elsner den Hals umgedreht und unserem schlotternden
Bürgertum gezeigt, wie rasch und wenig kostspielig dieser Spuk gebannt werden
kann/ man regiert dort nicht nur ganz ohne roten Einschlag oder unter roter
Neutralitätsfuchtel und kommt dabei gut zurecht, sondern wagt neuerdings sogar
dem Allermächtigsten im Reiche, dem obrigkeitlich privilegierten Schiebertum, auf
den verfetteten Leib zu rücken.
Wobei selbst vor groben Verfassungsbrüchen — Brüche der Weimarer Ver¬
fassung, die Erzberger gesegnet hat! — nicht zurückgescheut wird.
Bayern bat das Postgeheimnis für Schieber, Schleichhändler und Wucherer
einfach aufgehoben. «Verstoß gegen Art. 117 RV., der Ausnahmen von der
Unverletzlichkeit besagten Geheimnisses einem feierlichen Reichsgesetze vorbehält.)
Die verbrecherischen Kräfte, die das Volk vollends aussaugen, sollen sich nach
Auffassung der bayerischen Regierung nicht der öffentlichen Telegraphen- und
Fernsprecheinrichtungen bedienen dürfen,' für Schädlinge und Schufte seien diese
Einrichtungen nicht da, ebensowenig das sonst so ängstlich gedul'te Geheimnis.
Jesuitisch-reaktionär, wie sie einmal ist, beruft sich die Kasr-Cbque dabei auf
Art. 48, 4 N.-V., wobei bei Gefahr um Verzüge die Landesregierung für ihr
Gebiet einstweilige Maßnahmen, also auch Aushebung des Art. 117, treffen kann.
Als ob beim Schieber- und Wuchertum, das seil sechs bis sieben Jahren
ungehemmt arbeitet, von einer Gefahr im Verzüge die Rede fein könnte!
Alle Reichsministerien seit 1915 bekämpfen die Wucherbanden mit äußerster
und unerbittlicher Entschlossenheit. Kein neuer Mann hat es an den allerschärssten,
rücksichtslosesten Worten fehlen lassen. Und da erdreistet sich die Münchener
Regierung zu Taten!
Ihr Maß ist voll, was man im Dunst der Münchener Bierkeller ja aller¬
dings zu den Annehmlichkeiten des Daseins rechnet.
Die großen deutschen Dynamitwerke, die infolge des Friedensvertrages ihre
Erzeugung von Kriegsmaterial aufgeben mußten, haben sich auf die Erzeugung
von künstlichen Diamanten geworfen. Die Versuche sind so weit vorgeschritten, daß
man erwarten darf, in absehbarer Zeit aus Deutschland schönere und billigere
Diamanten zu erhalten als aus Südafrika. Das ist der deutsche Revanchekrieg.
Man hat uns die Welt genommen, und wir sollen auf unserem mageren kleinen
Stück Deutschland verkümmern und verhungern, aber die deutschen Laboratorien
erobern sich neue Provinzen. Hat man uns Südwest-Afrika mit den schönsten
Diamanten der Erde geraubt, so machen wir jetzt eben dem südafrikanischen
Diamantenmarkt mit unseren Fabriken Konkurenz, wie einst die Anilinfarben aus
Lugwigshaken den indischen Indigo aus dem Feld schlugen.
Es ist den Engländern und Franzosen sehr peinlich, auf ihren wissenschaftlichen
Vorträgen immer auf die wissenschaftlich-technischen Fortschritte des geschlagenen
Deutschlands hinweisen zu müssen. Jeder Redner, der dies tut, entschuldigt sich
damit. Natürlich entsteht bei den Feinden dann sofort der praktische Wunsch, dem
geschlagenen, ohnmächtigen Gegner die Früchte seiner Erfindungsgabe soso>t auch
wieder zu rauben. Machen wir uns deshalb keine allzu großen Hoffnungen, daß
unsere Laboratorien allein die an uns verüble Plünderung wieder gutmachen können!
Künstliche Diamanten sind gut, o^er sie können uns nicht retten, solange zu den
künstlichen Produkten nicht eine natürliche Wiedergeburt des deutschen Naiional-
geistes hinzugetreten ist. Alles, was wir materiell erzeugen, ist vogelfrei. Kurz¬
sich ig wäre, wer darauf unsere Zukunft gründen wollte. Aber derselbe Geist, der
auf dem materiellen Gebiet Diamanten hervorbringt, kann unsere Zukunft begründen,
Helgoland Grenz¬
land. Als der Krieg kam, fegte er mit einem
Federstrich die dritthalb Tausend schweigenden
Menschen von ihrer zauberhaften kleinen
Sandsteinfelsenheimat hinweg, spülte sie als
ungern aufgenommene stumme anspruchslose
Gäste den Elbgemeinden in die Arme
Flüchtlingslos. Sie trugen eS wortlos,
standhaft, als Friesen, als Deutsche. Sie
hatten 24 Jahre damit gerechnet, sie waren
vorbereitet. Ihre Feier in der kleinen
Ottenser Kirche am 10. August 1916, als sie
As Jahre zu Deutschland gehörten, bewies es.
Sie waren treu befunden worden, aber
niemand verstand diese Treue zu würdigen.
Man hatte nicht einmal die Absicht, ihnen
diese Treue zu lohnen. Wäre der Krieg
-anders ausgefallen, dann wäre Helgoland
stillschweigend geblieben, was es über vier
„Kriegsjahre gewesen, eine ausschließliche
Domäne der Marine ohne ein ziviles
Anhängsel. Es kam jedoch nicht da u, die
schweren Tritte der helgolander Friesen
stampften in dem bösen Winter 19!3 wieder
über die Straßen ihrer ach so veränderten
Insel, die ihnen ungastlich entgegenstarrte.
Unbeholfen, eigensinnig, unpraktisch, verarmt,
aber voll zähen Eifers, wieder Lebens¬
bedingungen zu finden und zu schaffen, gingen
die Hclgolander daran, Helgoland wieder
aufzubauen, allen voran die Frauen, die
immer die treibende Kraft, die größere
Intelligenz der Jnselbevölkerung gewesen
waren. Zu den wirtschaftlichen kamen
politische Nöte. Helgoland hatte eine kleine
Sonderstellung in seiner Selbstverwaltung
genossen, die den Bestand des großen deutschen
Staates noch nie gefährdet hatte. Land¬
fremdes Volk wurde vorübergehend seßhaft
auf dem Fels, der Friedensvertrag nährte
Festlandsarbeiter, die sich bald als Herren zu
fühlen begannen. Sie begehrten nach be¬
währten Muster Rechte, Helgoland schien
ihnen als der Ort, ihre Machtgclüste zu
Schulen. DaS wäre der Todesstoß für
Helgoland gewesen. Endlich rührte sich die
Negierung. Das Unglück wurde, zwar
mangelhaft, so doch in seiner gröbsten Gefahr
.vermieden. Nun steht Helgoland nach
zwei Friedensjahren am Beginn des vierten
Dezeniums Dcutschseins im wahrsten Sinne
des Wortes vor einem Trümmerhaufen. Die
Festung und der Hafen fallen unter den
langsamen Händen der Arbeiter in Schutt,
die Insel zittert täglich unter den Spreng
Schüssen wie ein Schiff im Orkan. Die
Schäden des Krieges sind noch nicht zum
zehnten Teil geheilt und schon gesellen sich
neue Schäden dazu. Helgoland ist Grenzland,
zäh und wortlos sind die Helgolander
Deutsche, die in der Nordsee uns Hunderte
von Jahren gezeigt haben, wie man sein
Deutschtum bewahren kann, seine alten Sitten,
Sprache und nationale Würde. Es stünde
der Regierung gut an, mit einem großzügigen
Dank hier Wunden zu heilen, die mit einer
wahren Lammsgeduld nun schon ins siebente
Jahr hinein ertragen werden. Helgoland
harrt und hofft, es wird weiter hoffen und
harren, aber ob ihm der Dank für seine Ent¬
sagungen, für sein Ausharren werden wird,
ist fraglich, es ist Niemand da, der es kennt
und liebt und weiß, was es erduldet hat und
noch erduldet. Helgoland ist auch als ent¬
waffnete und hafenlose Insel etwas für daS
Reich wert, aber ganz abgesehen davon
handelt es sich hier um eine Dankesschuld
und Pflicht, und die sollte eine gute Regierung
nicht verabsäumen, einzulösen.
Eine völker¬
psychologisch-politische Skizze von or. R. F-
Kaindl. In meinen Ausführungen in diesen
Blättern Ur. 14 habe ich nach meiner volks¬
kundlichen Erfahrung und geschichtlichen Er¬
kenntnis eine kurze Charakteristik der Serben
geboten, ihre Leidenschaftlichkeit, ihre Neigung
zum Umsturz und zu Gewalttaten, das starke
Hervortreten kirchlicher Einflüsse und ihre Zu-
gänglichkeit für maßlose Agitation geschildert.
Dabei wurde das neue Werk über die „Süd¬
slawische Frage" von „Südland" (einem Süd¬
slawen) gebührend berücksichtigt. Auch die
Bedeutung der deutschen Ansiedlung und
deutscher Einflüsse für die südöstlichen Gebiete
wurde betont. Trotz der ruhigen Sachlichkeit
dieser Ausführungen erhielt ich eine anonyme
Zurechtweisung, die nicht gerade in gewählten
Worten gehalten war.
Als Schiedsrichter wollen wir nun Serben
selbst aufrufen, und zwar den serbischen Ge¬
lehrten I. Zwijitsch und den bekannten Leibarzt
und Minister König Milans W. G e o r g e w i t s es.
Ersterer — er ist ordentliches Mitglied der
Akademie in Belgrad — sagt in seiner
Schrift „Die Annexion Bosniens und der
Herzegowina" «Belgrad 1903» über seine Lands¬
leute: „Der Unabhängigkeilsinstinkt ist so
stark, daß er bei einzelnen Personen manchmal
antisozial erscheint" „Wenn diesem Volke
nationales Unrecht geschieht, dann fühlt es
etwas in sich, was stärker ist als seine
Kraft, und alle die Gründe, welche ihm
Enthaltsamkeit empfehlen." Dann an anderer
Stelle: „Die orthodoxen Serben sind also
störrische unversöhnliche Vertreter einer
nationalen unabhängigen Kultur." DaS
Mund vollständig mit der obigen Schilderung.
Dazu vergleiche man einzelne geschichtliche
Episoden, die Georgewitsch in seiner Schrift
„Die serbische Frage" (Stuttgart 1909) er¬
zählt. Die folgenden Zitate sind wörtlich
seiner Darstellung entnommen.
Im Jahre 1737 forderte Osterreich die
Serben unter günstigen Bedingungen zum
Kampf gegen die Türken auf: „Ja, aber die
Serben Montenegros wollen nicht den Katholiken
bei!en, Bischof Peter I., derselbe, der aus
Petersburg vertrieben worden ist, will jetzt
nicht einmal die Knochen eines Montenegriners
wagen, solange ihm der orthodoxe Kaiser nicht
sagt, daß er in den Kampf ziehen soll. Und
«rst, als der russische Oberst Tutolmin mit
einem Heiligenbildchen, das man an der Brust
trägt, und mit einem Mainfest des russischen
Kaisers, in welchem die Montenegriner an s-
gefordert wurden, in den heiligen Krieg zu
ziehen, nach Montenegro gekommen war, erst
i>ann stürzten sich die Montenegriner auch in
diesen Krieg."
Oder man vergleiche die Art und Weise,
wie der russische Konsul das sei bische Volk
gegen seinen König Milan mit allerlei
Plumpen Lügen aufsetzte und Glauben fand:
„Rußland möchte Serbien eine Verfassung
geben, damit das Volk es leichter und besser
habe, aber der Fürst will diese Verfassung
nicht, er will auch weiter, anstatt nach dem
Gesetze, nach seiner Willkür herrschen, und
sann er dem Drängen Rußlands widerstehen
kann, ist er mit England für eine gewisse
Summe einig geworden, damit England den
Fürsten gegen das Volk halten soll, und so
werden die Serben ihr Vieh den Engländern
um einen Spottpreis verkaufen müssen, und
selbst diesen Preis wird England nicht in
barem Gelde, sondern mit seinen Waren be¬
zahlen Der Fürst hat alle serbischen Wälder
den Engländern verkauft, damit sie mit
serbischen Holz ihre Schiffe bauen sollen, er
hat ihnen sogar alle Bergwerke des Landes
ausgeliefert, und das Volk wird gezwungen
werden, seine eignen Waldungen zu fällen
und das Bauholz den Engländern hinunter¬
zutragen. Wer weiß, vielleicht wird es nicht
lange dauern, und Serbien wird von
lutherischen Geistlichen überschwemmt werden,
die gegen unsern heiligen orthodoxen Glauben
kämpfen werden. Nachdem das serbische Volk
auch ohnedem schon in seinem Glaubenseifer
ziemlich stark nachgelassen hat und die Kirchen
beinahe leer sind, so wird es dem Fürsten
nicht schwerfallen, ganz Serbien dem katholischen
und lutherischen Glauben zuzuführen .. ."
Wenn Waschtschenko (der russische Konsul)
bei Gelegenheit dieser Agitationsreisen gegen
den Fürsten gar solche Bauern traf, welche
einen persönlichen Grund hatten, mit dem
Fürsten Milosch unzufrieden zu sein, dann
flüsterte er ihnen ins Ohr: „Es ist aus, der
Fürst Milosch hat Serbien an England ver¬
kauft." Georgewitsch fügt hinzu: „Es i
leicht zu denken, wie solche Worte des amt¬
lichen Vertreters des großen Bruderreiches,
das für alle Serben heiligen Rußlands, auf
die Masse des Volkes wirken mußten."
Wie die Russen, so machten sich
diese Gcsinnungsart der Serbien auch die
Parteien im Innern selbst zunutze.
Georgewisch schildert den Aufruhr der
Radikalen gegen Milan: „Aber wie war es
ihnen gelungen, 15 000 Serben dazu za be¬
wegen, ihre Gewehre gegen denjenigen zu
richten, der ihnen noch gestellt die Unabhängig¬
keit und Vergrößerung Serbiens gebracht, und der
nach so vielen Jahrhunderten die serbische
Königskrone aufstehen ließ? Sehr einfach
Außer dem Handelsverträge war mit Oster
reich-Ungarn auch eine Veterinmkonvention
abgeschlossen, welche die serbischen Radikalen
heute für ein großes Glück für Serbien an-
sehen würden. Damals aber sagten sie dem
Volke, daß diese Konvention nur den Zweck
habe, das Vieh in Serbien per Stück zu be¬
steuern. In einem Lande, wo es wegen eines
Piasters Stcuerzuschlag möglich war, einen
Aufstand zu organisieren (184S), war es nicht
schwer, mit dieser Lüge Is 000 Menschen in
Aufruhr zu versetzen." Milan mag, als er
einmal in einem Gespräch mit Gevrgewitsch
die Serben als „zuviel Westler, zuviel Re¬
volutionäre", die Rußland daher nicht leiden
könne, bezeichnete, ähnliche Gedanken gehabt
haben.
Schließen will ich mit einer Anführung
aus meinem 190S erschienenen Handbuch der
„Volkskunde", wo ich die Wichtigkeit der
volksku blieben Feststellung des Volkscharakters
für den Historiker behandelte: „Wenn nun
schon der Boden mit Recht stets vor jeder
zusammenhängenden geschichtlichen Erzählung
betrachtet werden soll, weil der auf ihm
lebende Mensch seinen Einflüssen sich nicht
entziehen kann, soll es da dem Historiker
gleichgültig sein, tiefere Blicke in die Seele
des Volks zu werfen, mit dessen Geschichte er
sich beschäftigt? Sollten dessen Lebensgewohn¬
heiten, Anschauungen und dergleichen nich
von Einfluß auf sein Auftreten in der Ge¬
schichte und seine historische Entwicklung sein?
Wenn der Charakter des Einzelwesens für
dessen Tun und Lassen zum großen Teile be¬
stimmend ist, so muß dies im gewissen Sinne
doch auch von der Summe der Einzelwesen,
dem Volke gelten. Sehr treffend bemerkt
Krauß in der Einleitung zum serbischen
Guslarcnlied „Von Vitem, die em Helden¬
gemetzel ansagen" (Am Urquell, I, S. 3)
folgendes: „Die Fabel behandelt einen Kampf
um nichts, ein furchtbares Gemetzel um einige
Tropfen vergossenen Weines. So ist der
Südslawe seit jeher gewesen und so zeigen sich
auch die slawischen Balkanstaaten in der
Gegenwart. Die Politiker nennen den Balkan
den Wetterwinkel Europas. Man hat von
dort manche politische Überraschung erlebt, für
die man keine Erklärung sich zu geben weiß.
Man höre den Guslaren und seine Lieder
dann wird man auch d-n Südslawen ver.
stehen."
geschrieben worden. Für diese Auffassung
waren also nicht erst etwa die Vorgänge seir
1914 maßgebend. Man ersieht daraus wie
interessant volkskundliche und völkerpsycholvgi-
sche Studien für die Geschichtsforscher und
Politiker sein können.*)
Am 30. Sep¬
tember 1920 war ein Jahr verflossen, seit¬
dem in Deutschland die Technische Nothilfe
ins Leben gerufen wurde. Zweck und Ziele
der Technischen Nothilfe dürften heute, nach
einem Jahr segensreichem Wirken, der großen
Öffentlichkeit in Deutschland genügend be¬
kannt sein.
Bei der Gründung der Technischen Not¬
hilfe müssen wir zwei große Bewegungen
unterscheiden. Einmal strebten die Arbeit¬
nehmer danach, mit allen Mitteln die Gewalt
in ihre Hände zu bekommen, um den Unter¬
nehmergewinn auszuschalten, zum andern
war die Allgemeinheit bestrebt, ihrerseits die
Auswirkungen von Arbeitseinstellungen auf
die Volkswirtschaft zu neutralisieren, da sie
nicht unter den wirtschaftlichen oder politischen
Kämpfen anderer leiden wollte.
Der Kampf der Arbeitnehmer um die Ver¬
besserung ihres Loses beginnt im 14. Jahr¬
hundert. Damals bestanden in Deutschland
die Zünfte, die sowohl Arbeitgeber wie
Arbeitnehmer (Meister und Gesellen) um¬
schlossen. Im Laufe der Zeit machte sich'
seitens der Gesellen der Wunsch bemerkbar,
aus der Zunftgerichtsbarkeit der Meister aus¬
zuscheiden und sich selbst Gesetze geben zu
dürfen. Hier haben wir die ersten Bestrebungen
der Arbeitnehmer, nach eigener Koalition zu
suchen.
Diese Bestrebungen führten zu größeren
Arbeitseinstellungen, die nicht wie heute sich
innerhalb kurzer Frist erledigten, sondern
zum Teil Jahre anhielten. Ich erinnere nur
an den Streik der Konstanzer Schneider¬
gesellen (1339 und 1410) und an den
Streik der Kolmarer Bäckergesellen, der
1495 begann und 10 Jahre dauerte.
Neichserlasse und Reichsgesetze suchten die
Streiks zu unterbinden, jedoch haben die
Arbeitnehmer immer wieder die Gelegenheit
Diese Bemerkungen über die Psyche der
Serben sind schon vor zwanzig Jahren nieder¬
wahrgenommen, um ihrerseits auf Durch¬
führung der unbedingten Koalitionsfreiheit
W dringen. Die erste preußische Gewerbe¬
ordnung vom Jahre 18 »S brachte dann auch
den Arbeitern eine beschränkte Koalitions¬
freiheit, die durch die M 162, 1K3 der neuen
Preußischen Gewerbeordnung von 1869 er¬
weitert w»rde. Die Gewerbeordnung wurde
nach Gründung des Deutschen Reiches auch
auf die übrigen Bundesstaaten ausgedehnt.
Erst die neue deutsche Reichsverfassung vom
11. August 1919 gab mit dem Ariikel 139
allen Arbeitnehmern und Arbeitgebern völlige
Koalitionsfreiheit.
In welcher Weise die Koalitionsfreiheit
von einem großen Teil der nicht in gewerb¬
lichen Betrieben beschäftigten Arbeitnehmer
ausgenutzt wurde, hat das deutsche Volk seit
der Revolution zur Genüge am eigenen Leibe
verspürt. Aus diesem Grunde ergab sich in
Deutschland die volkswirtschaftliche Not¬
wendigkeit einer eingeschränkten Streikfreiheit.
Andere Länder waren in dieser Beredung
Deutschland schon vorangegangen. So hatte das
Wirtschaftsleben Australiens 1913 durch einen
großen Streik der Hafenarbeiter zu leiden,
da die Fleischausfuhr stockte, das in den
Lagerhäusern aufgestapelte Fleisch zu ver¬
derben drohte und die Konsumenten (England)
ohne Zufuhr waren. Da wurde von einigen
Landwirten eine Organisation ins Leben ge¬
rufen, die sich aus Freiwilligen zusammensetzte
und die die unbedingt notwendigen Arbeiten,
das Löschen der Dampfer, vornahm. Ähnliche
Bewegungen sind 1909 in Schweden zu ver¬
zeichnen, 1911 in Spanien und 19l8 in
England. Das Parallele Entstehen dieser
Organisationen in allen Industriestaaten
(Anurika 1919, Frankreich 1920, Oster¬
reich 1920, Dänemark 1920, Italien 1920)
überzeugt den Volkswirtschaftler von der wirt¬
schaftlichen Notwendigkeit der Organisationen.
Als Grund ist die von Marx schon prophezeite
Verschärfung des Klassenkampfes anzusehen.
Als volkswirtschaftlicher Beurteiler müssen
wir sagen, daß in keinem Lande die Organisation
so objektiv arbeiten kann wie in Deutschland,
da es sich hier um rein staatliche Organisationen
ohne Unterstützung von privaten Mitteln
handelt, indessen in allen anderen Ländern
die Organisationen aus Privatmitteln unter¬
stützt werden. Für die deutschen Organisationen
ist infolge ihres staatlichen Charakters allein
das Interesse der Allgemeinheit maßgebend.
Man kann nur wünschen, daß die deutsche
Technische Nothilfe in ebenso sachlicher Weise
wie bisher, unbeeinflußt durch politische und
wirtschaftliche Interessen kleiner Gruppen zum
Wohle der Allgemeinheit weiter arbeiten-
möge; ihre Aufgabe sei einzig und allein
die Aufgabe des „Roten Kreuzes im Wirt-
Rücksendung »o» Manuskripten erfolgt nur gegen beigefügtes Rückporto.
Nachdruck sämtlicher Aufsätze ist nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlages gestattet
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er Krieg hat uns in bezug auf viele Dinge den Sinn für das
normale Maß geraubt. Wir gewöhnten uns, im Kolossalen zu
schwelgen. Unter Tausenden von Geschützen, Hunderttausenden
von Gefangenen, Milliarden in Staatsschulden tat man es nicht.
Gleichzeitig hat uns der Krieg an eine falsche Großzügigkeit
gewöhnt. Dem Frontsoldaten sah man's nach. Wer Hütte ihn richten wollen!
Schlimmer war, daß Etappe und Heimat sich bemüßigt fühlten, diese forsche
Großzügigkeit (in der echtes frisches Draufgängertum sich mit müder Schlamperei
mischte) auch da nachzuahmen, wo solide Arbeit mehr und Dauerhaftes geleistet
hätte. Allüberall tauchte so ein Poseur der Großzügigkeit auf, erfand eine
Sache, übergaukelte alle Bedenken mit begeisterten Druckpapierphrasen, „schuf"
eine „Organisation", breitete sich und seinen Dienst-„betrieb" aus, setzte un¬
geheure Mengen von Verfügungen, Formularen, Aktenstößen in die Welt,
und „bewies", wenn einmal nüchtern Gebliebenen Bedenken über die Zweck¬
mäßigkeit dieser Betriebsamkeit kamen, seine absolute Notwendigkeit (und
Unabkömmlichkeit) und das köstlich segensreiche seiner Tätigkeit mit riesigen
Zahlen. soundsoviel Akteneingänge und -ausgänge, soundsoviel Schreib¬
maschinen, Bureaus, Angestellte, Telephone, Zweigstellen, und in Halb- oder
Vierteljahresabständen gab es statistische Tabellen, die, sauber aquarelliert, das
Anwachsen des Betriebes und die Menge der bewältigten „Arbeit" graphisch
darstellten. Mit Riesenzahlen wurde jedes Bedenken totgeschlagen. Auf die
Zahl kam es an, nach der positiv geleisteten Arbeit fragte kein Mensch.
Der Krieg ist vorüber. Der „Betrieb" aber ist geblieben. Nur hat er zum
Teil das Objekt gewechselt. Es gilt nicht mehr durchhalten, sondern „aushalten".
All die Leute, die sich früher harmlos in Zeitschriftenaufsätzen, ungedruckter
Lyrik und Epigonendramen austobten, haben jetzt, da die Papierteuerung ihnen
derlei Betätigung erschwert, ein neues Betätigungsfeld gefunden: Massenbildung.
Man hat entdeckt, daß die Volksmassen zwar nicht satt zu essen, aber ein „kolossa¬
les" Bildungsbedürfnis haben. Wo Feuer ist, da muß Rauch gemacht werden.
Hier ist für die Großzügigen eine neue Betätigungsmvglichkeit. Die Massen müssen
gebildet werden. Und also gibt es Massenveranstaltungen, Volksvorträge,
Volksbühnen, Volkshochschulen. Und dann wird es auch wieder, graphisch und
sauber aquarelliert, Tabellen geben, die das Anschwellen der in großzügiger
Arbeit gebildeten Massen veranschaulichen. soundsoviel Vortrüge mit soviel
tausend Zuhörern, Zuschauern, ausgeliehenen Büchern usw. usw. Und dann
werden die „Jahrbücher für Massenbildung" herauskommen, und Kurse für
Massenbildner werden „organisiert" werden, bis der letzte Kuhjunge im letzten
Dorfe seinen Goethe, seinen Kant, seinen Marx und ich weiß nicht was noch für
Klassiker intus hat. Was die dann überflüssig gewordenen Organisatoren danach
entdecken werden, weiß ich nicht. Aber sie werden sich schon was ausdenken! —
Wir Kurzatmigen aber bleiben stehen und nehmen uns die Freiheit, zu
überlegen. Massenbildung? Hin! Ist nicht Massenbildung vielleicht eine
eontraäietio in aäjooto? Bildung heißt Form. Geformt ist ein Individuum,
ein Kreis, eine Gesellschaft. Masse ist etwas Anonymes, Ungestaltiges, Form¬
loses. Steckt hinter der Zusammensetzung Massenbildung nicht vielleicht irgend¬
ein marktschreierischer Schwindel? Aber nein, sagen die Organisatoren, wir
wollen ja gerade die Masse formen, bilden. Daher das Wort.
Und wie wollt ihr das machen? Oh, sehr einfach, sagen die Großzügigen,
für die alles einfach ist. Wir haben jeder was gelernt, nicht wahr? Davon geben
wir jetzt ab, teilen mit an die, die nichts haben. Kann es etwas Edleres geben?
Etwas sozial.mehr Ausgleichendes? Und das machen wir so: Wir sperren viele
Leute, je mehr desto besser, in einen Saal und dann halten wir Vorträge, Kurse.
Möglichst mit Lichtbildern, weil das „anschaulicher" ist. Und außerdem unter¬
haltlicher. Und die Leute, all die vielen Leute hören zu. Und behalten es. Und
dann sind sie gebildet.
Kann es etwas Einfacheres geben? Es ist wie eine riesige Fabrik. Vorn
läßt man die Ungebildeten hineingehen und hinten kommen sie als Gebildete
heraus. Oh, wir machen das aber auch listig. Wir halten den Veredelungs¬
prozeß nicht unnütz auf. Wir popularisieren die Bildung. Werfen alles Un¬
nötige über Bord. Geben Extrakt. Nur „was der Gebildete wissen muß". In
einfachen Ausdrücken. Treuherzig. Zu Gemüt gehend. U ir halten keinen
unnütz hin. Tausende und aber Tausende ---
Nun ist es mit der Bildung aber leider eine verflucht komplizierte Sache.
Ein indischer Straßentöpfer macht mit den primitivsten Mitteln einen Topf
und das Ding hat Form und Stil, ohne daß der Töpfer sagen könnte, wo er's
her hat. Und so der russische Bauer mit seinen Holzschnitzereien und der ana-
tolische mit seinen Teppichen. Der europäische ist dank der Bildungsfabrik
bald so weit, daß es keinen Museumstopf mehr gibt, dessen Alter und Herkunft
und kunsthistorische Bedeutung er nicht bestimmen könnte. Und mit Töpfen
gibt er sich nicht zufrieden. Er ist gebildet! Er weiß, wann Dürer gelebt hat
und hat im letzten Vortragszyklus sogar gelernt, wer Giotto ist! Aber selber
einen bescheidenen Topf mit Form und Stil machen, ja, das kann er freilich nicht.
Die „Götterdämmerung" hat man ihm analysiert, aber Volkslieder weiß er
höchstens zwei und auch von denen nur die ersten beiden Strophen. Er hat
natürlich den „Faust" gelesen, das „Meisterwerk" Goethes, und ist voll von seineu
Schönheiten, aber einen Brief richtig, kurz und bündig schreiben, das kann er
nicht. Er hört populäre Vorträge über Giordano Bruno, aber läßt sich von
seinen Zeitungen täglich den sinnlosesten Blödsinn vorschwatzen.
Male ich zu schwarz? Vielleicht. Wer geht uicht der ganze Betrieb der
Massenbildung deutlich in diese Richtung? Man gibt theoretisch durchaus zu,
daH dem Volk das Volkstümliche geboten werden müsse. Aber abgesehen davon,
daß jeder Kinofabrikant meist besser weih, was volkstümlich ist, treibt eine Art
schlechten Gewissens immer wieder an, mitzuteilen, zu beglücken, abzugeben,
ganz einerlei, ob der also Beglückte etwas mit den Gaben anfangen kann oder
nicht. Alles, was man nicht bei sich behalten kann, ist Bildungsstoff, folglich —
friß Vogel oder stirb.
Der Irrtum, der diesem ganzen Betrieb zugrunde liegt, beruht im wesent¬
lichen auf eiuer Verkennung des Bildungsprozesses. Bildung — man muß es
immer wieder sagen — ist nicht eine Summe von Kenntnissen. Bildung ist
Form. Eine Form, die dem zu formenden Objekt nicht adäquat ist, wirkt manie¬
riert, stillos, klassizistisch. Die Bildnngsfabrik bleibt in Äußerlichkeiten stecken,
sie arbeitet nicht materialgerecht. Bildungsdrang ist ein Sauerteig, der die
ganze Masse durchdringen muh. Einem Menschen, der mir und mich verwechselt,
kann man nicht die stilistischen Schönheiten von Goethes Iphigenie begreiflich
machen. Einem Menschen, der in verbauten Mietskasernen Hausen muß, nutzt
es nichts, wenn man ihm in Lichtbildern die Schönheit griechischer Tempel vor
Augen führt. Bildung muß von innen heraus kommen. Man kann das Erdreich
lockern, man kann das Saatkorn auswählen, aber nicht jede Art gedeiht in jeder
Krume und die Wachs- und Keimkraft muß von innen kommen, wenn nicht eine
rasch welkende, unnatürliche Treibhauspflanze entstehen soll. Bildung ist Arbeit,
eigene Arbeit, nicht rezeptive, sondern produktive, nicht einfaches Beerben,
sondern Erwerbung, um es zu besitzen. Wer den Anschein erweckt, als ob Bildung
etwas Leichtes, mühelos zu Erwerbendes sei, der schwindelt.
Und dann : man kann .Kant nicht „popularisieren". Kant ist nichts Vor-
aussetzungsloses, er verarbeitet die Denkarbeit von Generntionen. Irgendwie,
wenn auch in verkürzter Form, muß jeder diese Arbeit noch einmal leisten, so
wie der menschliche Embryo vor seinem Reifen noch einmal alle Stadien der
genealogischen Entwicklung durchmacht. Bildung ist Arbeit. Goethe hat die
Wahlverwandtschaften nicht für das Volk geschrieben, sondern für die Gesellschaft
seiner Zeit. Gesellschaft beruht auf Tradition. Wer keine Tradition hat, bringt
für solche Werke falsche Voraussetzungen mit. Tradition aber, wenn sie echt ist,
ist ein Entwicklungsprozeß, kein Lehrgegenstand.
Und darum ist Massenbildung ein Schwindel. Massen lassen sich nicht
bilden.
Aber der „gewaltige Bildungshunger" der Massen? Nun, die ersten Er¬
gebnisse liegen ja vor. Trotz des Reizes, den alles neuartige ausübt, trotz ver¬
kürzter Arbeitszeit, trotz materieller Besserstellung kann, wie die Besucherzahl
der ersten Volkshochschulen, namentlich in der Provinz, aufweist, von einem
..gewaltigen" Umfang des sogenannten Bildungshungers uicht gesprochen
werden.. Trotzdem wäre es natürlich ganz verkehrt, das wirklich ernste Bildungs¬
streben vieler, sehr vieler einzelner Volksgenossen wegzuleugnen und uicht
alles nur irgendwie in den Grenzen des Möglichen Liegende zu tun, dies Be¬
streben in ersprießliche Bahnen zu lenken, mit allen zur Verfügung stehenden
Kräften wachzuhalten, zu Pflegen und fruchtbar zu gestalten. Nur mache man sich
von der Illusion los, daß es mit ein paar Vorträgen getan sei, nur hüte man sich,
beim Volke der unheilvollen Verwechslung von Wissen und Bildung Vorschub
zu leisten.
Das Ideal der Volksbildungsarbeit kann nicht in einem schematischen
Massenbetrieb, sondern muß in einer sorgfältig dezentralisierten, den Ver¬
schiedenheiten einzelner Berufs- und Altersklassen, der sozialen Schichtung und
ethnographischen Differenzierung Rechnung tragenden organischen Ausbildung
von Gruppen liegen. Soll Bildungsarbeit nicht nur „aufklärend", sondern
wirklich kulturbildend wirken, so hat sie an die kulturellen Grundlagen wie jede
deutsche Landschaft, jeder Volksstamm, jede Berufs- und Altersschicht sie in
ganz verschiedener Weise bieten, sorgfältig anzuknüpfen. Kultur ist kein Massen¬
produkt, sondern bodenständig in bestimmten Schranken organisch erwachsene
Form. Wer diese Schranken niederreißt oder durch ein Zuviel an Bildungsstoff
verwischt oder verkleidet, wirkt nicht kulturbildend. Kulturentwicklung ist keine
Fabrik-, sondern im höchsten Grade Qualitätsarbeit. Es kann nicht darauf an¬
kommen, daß der Einzelne in den Stand gesetzt wird, eine Masse Kenntnisse mit
sich herumzuschleppen, mit denen er im Grunde nicht das mindeste anfangen
kann, sondern daß alle diese Dinge oder auch nur ganz wenige zu seinem eigent¬
lichen Lebenszentrum in lebendige Beziehung gesetzt werden, daß sich der Um¬
kreis seines Lebens und Sehensgefühls wohl erweitere, vor allem aber erhelle
und klare und daß die Erweiterung nie in einem Maße ausgedehnt wird, daß
die Peripherie den organischen, vom inneren Kern aus erleuchteten und durch¬
wärmten Zusammenhang mit dem Zentrum verliert.
In diesem Sinne wird es die Volksbildungsarbeit peinlich vermeiden
müssen, dem Ideal einer sogenannten „allgemeinen" Bildung nachzujagen,
sondern von dem Grundsatz auszugehen haben, daß, eines gründlich erfaßt zu
haben, das Fundament aller Bildung sein und daß dies eine dann möglichst zM
Universalität ausgeweidet werden'muß, daß mit andern Worten das Allgemeine
seinen Nährboden im Einzelnen haben muß, nicht aber das Allgemeine eine
formale Decke über ein in sich mangelhaft beherrschtes Einzelne sein darf. Die
Universalität des Individuums, bekanntlich auch eine ideale Forderung Lenins,
und wahrscheinlich bestimmt, das mechanische Ideal der arbeitsteilenden Speziali¬
sierung abzulösen, muß wachsen wie die Laubkrone aus dem festen Stamm-
Gleich mit der Laubkrone anfangen, das ergibt nur unfruchtbares Gestrüpp
und Unterholz.
is ich im Frühjahr 1918 vorübergehend im Westen an der Front
war, hat es mir einen besonders tiefen Eindruck gemacht, wie ich
in einem französischen Dorfe, das in wenigen Tagen beim Rückzug
auf die Siegfriedstellung zerstört werden sollte, einen alten Mann
eifrig in seinem Obstgarten arbeiten sah, als ob tiefster Frieden
sei, und er im Herbste die Früchte seines Fleißes ernten könnte.
Diesem ahnungslosen Greise gleicht das deutsche Volk in seiner gegen¬
wärtigen Verfassung. In stumpfer Ergebenheit geht es seinen täglichen Geschäften
nach, freilich nicht mit der Arbeitsfreude und dem Pflichtbewußtsein wie vor dem
Kriege, und scheint gar nicht zu fühlen, daß das nur eine zwecklose Zeitausfüllung bis
zum Hereinbrechen des Verhängnisses ist, das uns droht. Und nicht nur das
Volk handelt so, sondern auch seine Vertreter im Reichstag und in der Negierung,
die sich doch über die Lage im klaren sein müßten.
Wollen wir aber wieder aufbauen, was ein neidisches Geschick uns zer¬
störte und aus den harten Schlägen des Unglückes die Wurzeln unserer Kraft
zu neuer Blüte stärken, so müssen alle Kreise des Volkes aus dieser bleiernen
Stumpfheit aufgerüttelt werden. Erst wenn man sich die Lage mit unerbittlicher
Offenheit klarzumachen sucht und den drohenden Gefahren mutig ins Auge
blickt, ist die erste Voraussetzung zur Stählung von Willen und Kraft, zur Be¬
wältigung aller Widerstände und Schwierigkeiten gegeben.
Nicht um zu entmutigen also, sondern um aufzurichten in dem trotzigen
Mut, auch das Schwerste zu überwinden, will ich ein Bild unserer wirtschaft¬
lichen Lage entrollen, das fast nur aus tiefen Schlagschatten besteht, will ich
alles zusammentragen, was der verlorene Krieg, die Revolution und der Friede
bon Versailles über das deutsche Volk gebracht haben.
Der Reichsfinanzminister Wirth hat vor einigen Wochen wieder einmal eine
Darstellung der finanziellen Lage des Reiches gegeben.
Die Zahlen, die er bringt, sind so erschütternd, daß fast jede Hoffnung
schwindet, noch einen Ausweg aus diesem Zusammenbruch zu finden. Sie sind
aber, was noch schlimmer ist, immer noch unklar und unverständlich, so daß man
sich kein sicheres Bild über den Schuldenstand Deutschlands machen kann.
In der für die Verhandlungen von Spa ausgearbeiteten Denkschrift über
„Deutschlands wirtschaftliche Leistungsfähigkeit" wird der Schuldenstand des
Reiches für den Stichtag 31. März 1920 mit 92 Milliarden fundierter und
1V5 Milliarden schwebender Schulden, darunter 13,5 Milliarden Verpflichtungen
und Zahlungsversprechen, zusammen also mit 197 Milliarden angegeben. In
einer etwa vor drei Monaten vom Reichsfinanzminister gegebenen Darstellung wurde
die Höhe der schwebenden Schulden auf 124 Milliarden beziffert und am 27. Oktober
^fahren wir, daß die schwebende Schuld 171,8 Milliarden beträgt, daß dazu
aber noch die Eisenbahnschuld in der Höhe von 25 Milliarden tritt, und daß bis
ö^in Jahresende mit einer weiteren Zunahme der Schuld um 40 Milliarden zu
Nehmen ist, so daß die schwebende Schuld am Ende des Jahres ca. 240 Milliarden
betragen wird, also um 116 Milliarden mehr, als vor 3 Monaten angegeben
wurde, und um 133 Milliarden mehr, als am 31. März 1920, wo man doch
annehmen konnte, daß eine genaue Inventarisierung vorgenommen worden ist.
Dabei sind noch nicht berücksichtigt die Entschädigungen an Reichsangehörige
aus Anlaß des Friedensvertrages (Handelsflotte, Entschädigungen, Kriegsgerät
und Kriegsschäden), die, mit 131 Milliarden veranschlagt, gleichfalls Ah schwebende
Schuld in Betracht kommen, so daß die Gesamtschulden des Reiches nach den
jetzigen Mitteilungen um die Jahreswende die Summe von über 460 Milliarden
ausmachen werden.
Aber man muß sich nach den wechselnden Angaben des Finanzministers
besorgt fragen, ist das nun auch wirklich alles, oder werden wir nach 2 Monaten
wieder andere um viele Milliarden gesteigerte Summen erfahren? Beruht das
ganze Verfahren auf Mangel an Übersicht oder auf der Neigung, dem Hund den
Schwanz stückweise abzuhauen?
Die Mehrzahl unserer Mitbürger ist allerdings für solche Zahlen voll¬
kommen abgestumpft. Man schüttelt wohl den Kopf, aber eine rechte Vorstellung
davon, was die Zahlen bedeuten, machen sich die wenigsten. Einen Begriff
bekommt man, wenn man aufrechnet, daß zur Tilgung dieser Schulden jeder
Deutsche bis zum Säugling herunter rund 7700 zahlen müßte und daß unser
ganzes Volksvermögen vor dem Krieg auf 220 Milliarden Mark — allerdings
Goldwert — geschätzt worden ist.
Dazu kommen die Zahlen des Haushaltsplanes für das laufende Jahr, die
den Beweis erbringen, daß gar keine Möglichkeit besteht, der rapid fortschreitenden
Merschuldung Einhalt zu tun. Vor 3 Monate hatte der Finanzminister erklärt,
daß der Bedarf des ordentlichen Etats 28 Milliarden Mark betrage und durch
die Einnahmen Deckung finde, während für den Bedarf des außerordentlichen
Etats von 25 bis 28 Milliarden Mark keine Deckung vorhanden sei. Nach den
Erklärungen des Finanzministers vom 27. Oktober berechnet sich der Bedarf des
ordentlichen Etats aber auf 39,9 Milliarden, der des außerordentlichen auf 11/9/
dazu kommen der Fehlbetrag des Berkehrsetats von 18 Milliarden und die aus
der Okkupation und sonstigen Bestimmungen des Friedensvertrages herrührenden
Auslagen von 41 Milliarden, so daß sich ein Gesamtbedarf von 110 Milliarden
ergibt, von dem — auf dem Papier — nur etwa 40 Milliarden gedeckt sind-
Man muß also, wie der Reichsfinanzminister ja selbst erwähnte, bis zum Schluß
des Rechnungsjahres mit einem erheblichen weiteren Anwachsen der ungedeckten
Schulden rechnen.
Ein bezeichnendes Schlaglicht auf die sich entwickelnden Zustände gibt der
Ausweis der Reichsbank über die letzte Septemberwoche. Danach mußten w
dieser einen Woche 2,735 Milliarden Mark neuer Zahlungsmittel ausgegeben
und 8 Milliarden Mark Schatzanweisungen als Deckung angenommen werden-
Noch niemals ist der Papiergeldumlauf in einer Woche so erhöht worden, und
wenn sich auch die Ansprüche in dieser Woche wegen des Mtimotermins besonders
zu steigern Pflegen, ist die Tatsache doch ein Beweis, daß die Papiergeldwirtschast
zur Katastrophe treibt.
Ich habe schon bei anderer Gelegenheit (Deutschlands wirtschaftliche Zukunft/
Grenzboten 79. Jahrgang Ur. 36 S. 263) darauf hingewiesen, daß noch schlimmer
als diese Geldnot des Reiches die Lage der deutschen Volkswirtschaft in ihren
Beziehungen zum Ausland ist.
Neuerdings geben Zusammenstellungen, die für die Finanzkonferenz in
Brüssel gemacht worden sind, ein erschreckendes Bild über die ständige Abnahme
unseres Volksvermögens gegenüber dem Ausland.
Danach betrug die Warenausfuhr aus Deutschland von Anfang Jauar 1919
bis Ende April 1920 27,1 Milliarden Mark, die Einfuhr dagegen 55,3 Milliarden
Mark. Dabei sind die Einfuhrwerte des Jahres 1920 im wesentlichen nur zu
den Werten des Jahres 1919, also viel zu niedrig berechnet, und! in den Ausfuhr¬
ziffern sind Werte enthalten für Lieferungen auf Grund des Friedensvertrages,
die der Zahlungsbilanz nicht zugute kommen. Die Denkschrift schätzt hiernach
den Überschuß der Einfuhr über die Ausfuhr seit Ausbruch des Krieges bis Ende
August 1920 auf etwa 70 Milliarden Mark.
Es bestehen aber erhebliche Zweifel, ob diese Zahlen richtig sind, da die in
der amtlichen Statistik angegebenen und auch die der Schätzung zugrunde gelegten
Einfuhrwerte offenbar viel zu niedrig angenommen sind.
Eine Untersuchung, die von ol-. Henry Behnsen und Dr-. Werner
Genzmer vorgenommen worden ist, kommt zu dem Ergebnis, daß der Passiv¬
saldo der deutschen Handelsbilanz 1919 37,5 Milliarden Mark und der Passiv¬
saldo der Handelsbilanz vom Januar bis März 1920 25,5 Milliarden beträgt,
daß also allein in den 15 Monaten vom Januar 1919 bis März 1920 für rund
V3 Milliarden mehr eingeführt als ausgeführt worden ist.
Aber selbst wenn sich in den letzten Monaten die Einfuhrzahlen wesentlich
gemindert haben, ist das kein Beweis für die Besserung der Lage. Denn da die Ein¬
fuhr von Lebensmitteln nicht eingeschränkt werden konnte, zeigt das nur, daß die
Einfuhr von Rohstoffen fiir die Industrie zurückgegangen ist, daß also die Roh¬
stoffnot weiter steigen und zu einer schärferen Einschränkung der industriellen Er¬
zeugung und damit der Ausfuhr führen muß. Es kommt aber weiter hinzu, daß
eine Einschränkung der Lebensmitteleinfuhr auch im laufenden Erntejahr nicht
eintreten kann, daß sie im Gegenteil sich erhöhen wird. Die Ernte in Brod¬
getreide ist ungünstig ausgefallen, und die Erfassung gelingt immer weniger.
Die Reichsgetreidestelle rechnet nach den bisherigen Ergebnissen damit, daß sie
aus der inländischen Erzeugung nicht viel mehr als 1 Milliarde Tonnen erfassen
wird, während der Bedarf nahe an 4 Milliarden Tonnen ist. Wir müßten
also rund 3 Milliarden Tonnen einführen, was nach den jetzigen Weltmarkt-
Preisen allein für Brodgetreide gegen 24 Milliarden Mark ausmacht.
Aber damit sind die Bedürfnisse der Lebensmitteleinfuhr noch lange nicht
gedeckt. Wir werden auch in diesem Erntejahr Fett, Fleisch, Fische, besonders
Heringe, kondensierte Milch und Futtermittel einführen müssen, um die Er-
nührungswirtschaft aufrechterhalten zu können, und der Ernährungsminister be¬
rechnet seinen Bedarf an Zahlungsmitteln für die Einfuhr, wie ich höre, auf
monatlich 4 Milliarden, also rund 50 Milliarden für das Jahr.
Berücksichtigt man weiter, daß wir im großen Umfang Rohstoffe einführen
müssen, um unsere Industrie nicht zum Erliegen zu bringen, vor allem Baum¬
wolle, Wolle, Erze u. a., und daß der Wert der Rvhstoffeinfuhr im Jahre 1913
über 5 Milliarden Goldmark ausmachte, heute also selbst ohne Berücksichtigung
der gestiegenen Weltmarktpreise rund 50 Milliarden betragen würde, so kommt
man auf einen Gesamteinfuhrbedarf von mindestens 100 Milliarden, dem nach
den bisherigen Ergebnissen nur eine Ausfuhr von 20 Milliarden im Jahr gegen¬
überstehen würde. Das bedeutet eine Zunahme unserer Verschuldung gegenüber
dem Ausland um 80 Milliarden in einem Jahr.
In dieser trostlosen wirtschaftlichen Lage tritt die Arbeiterschaft mit dem
Verlangen nach Sozialisierung auf den Plan und die Regierung scheint nach dem
kürzlichen Kabinettsbeschluß, durch den der Wirtschaftsminister beauftragt wurde,
sofort einen Gesetzentwurf über die Sozialisierung des Kohlenbergbaues vorzulegen,
bereit, der Forderung wenigstens auf diesem Gebiet zu entsprechen.
Man muß zu -diesen Gründen Stellung nehmen. Die behauptete Macht¬
verschiebung ist tatsächlich eingetreten und die Lage gebietet, sich danach einzu¬
richten. Denn es hat keinen Sinn, sich gegen unabänderliche Tatsachen zu
stemmen. Es ist auch durchaus falsch, anzunehmen, daß die konservative Welt¬
auffassung verlange, sich solchen Notwendigkeiten zu verschließen. Konservative
Gesinnung besteht nicht darin, eigensinnig an Überlebtem festzuhalten, sondern den
engen Zusammenhang neuer Wirtschafts- und Gesellschaftsformen mit der Ver¬
gangenheit aufrechtzuerhalten und sie organisch daraus zu entwickeln, statt in
kindischer Neuerungssucht alles historisch Gewachsene kleinschlagen und etwas
völlig Neues, aus abstrakten Theorien Konstruiertes an seine Stelle setzen zu
wollen.
Daß die Machtverschiebung eingetreten ist, ist letzten Endes eine Folge¬
erscheinung des Krieges und der Revolution. Aber wer die soziale Entwicklung
unseres Volkes vor dem Kriege nicht in starrem Doktrinarismus oder mit blinden
Vorurteilen verfolgte, sondern offenen Auges als Teil der Entwicklungsgeschichte
der letzten Jahrhunderte, der mußte sich darüber klar sein, daß die Zeit der
Emanzipation des vierten Standes nicht mehr fern sei und sich ebensowenig werde
aufhalten lassen, als jene des Bauernstandes vor 100 Jahren.
Wenn wir unser Volk wieder zu einem geschlossenen Körper verschmelzen
und so wieder zu Ansehen und Blüte bringen wollen, heißt es also die Kon¬
sequenzen aus dieser geschichtlichen Entwicklung zu ziehen und dem Arbeiterstand
eine Stellung einzuräumen, in der er sich im Rahmen des eigenen Volkes wieder
wohl fühlt und von dem Wahngebilde der roten Internationale loskommt.
Geschieht das, erkennt die Arbeiterschaft, daß Staat und Gesellschaft ehrlich
entschlossen sind, ihren berechtigten Ansprüchen Geltung zu verschaffen, dann wird
sich auch die Enttäuschung der Arbeiterschaft über das Ergebnis der Revolution
zum Teil legen. Ein Rest von Enttäuschung wird freilich immer bleiben, denn
die Träume, mit denen die Führer in Sturm und Drang einer Revolution die
Massen begeistern, sind nie zu verwirklichen, sondern verblassen immer im harten
Licht der Tatsachen. Aber es wäre ein furchtbares Geschick für unser ganzes
Volk, wenn die entsetzlichen Opfer, die uns die Revolution gekostet hat, nicht die
Geburtswehen des Aufstiegs zu einer höheren Gesellschaftsform, sondern nur
häßliche Begleiterscheinungen eines Lohn- und Klassenkampfes bleiben würden.
Es liegt also nicht nur im Interesse der Arbeiterschaft, sondern es ist
eine Lebensnotwendigkeit für unser ganzes Volk, daß ein der vollzogenen Ent¬
wicklung entsprechendes Gleichgewicht der Berufsstände hergestellt und die Arbeits¬
freudigkeit des vierten Standes und der Wille zur Erfüllung seiner vater¬
ländischen und wirtschaftlichen Pflichten wachgerufen werden.
Das scheint mir die einzige Betrachtungsweise zu sein, die vom Standpunkt
Praktischer Politik berechtigt, vom Standpunkt der Lebensbejahung zulässig ist.
Man mag die Entwicklung bedauern und vergangenen Zeiten nachtrauern, die
unserer Auffassung nach bessere und aussichtsvollere gewesen sind. Aber damit
dreht man das Rad der Geschichte nicht zurück.
Was verlangt nun die neue Lage von uns? Die Sozialdemokratie sagt:
Sozialisierung. Das ist menschlich begreiflich, weil das das Zeichen ist, unter
dem sie gesiegt hat, die Lehre, die sie seit 50 Jahren mit bewundernswerter
Zähigkeit vertreten und womit sie ihre stets wachsende Anhängerschar begeistert hat.
Diese Entwicklung hat jedenfalls bewiesen, daß die Forderung ein aus¬
gezeichnetes Agitationsmittel gewesen ist. Es muß aber erst untersucht werden,
«b diese rein auf theoretischen Spekulationen aufgebaute Lehre sich überhaupt
verwirklichen läßt, und wenn, ob sie sich gegenwärtig verwirklichen läßt. Wenn
ich sage, die Lehre sei rein auf theoretischen Spekulationen aufgebaut, so fälle ich
damit kein leichtfertiges Urteil. Denn es wird niemand leugnen können, daß
alle Versuche, die Marxistische Lehre in die Wirklichkeit umzusetzen, bisher fehl¬
geschlagen sind. Und die Zahl solcher Versuche ist groß, ich will den letzten
Versuch, der in Rußland jetzt in einem entsetzlichen Zusammenbruch zu enden
scheint, gar nicht mit heranziehen, weil er noch nicht abgeschlossen ist und uns
Fittich zu nahe steht, als daß man abschließend darüber urteilen könnte.
Aber auch wenn man einwenden wollte, daß alle früheren Versuche mit
unzureichenden Mitteln und auf zu engen Gebieten unternommen worden seien,
und deshalb als Beweis für die Undurchführbarst der Lehre nicht dienen
könnten, wird das Urteil nicht anders ausfallen können für den, der nicht vor¬
eingenommen die Frage prüft. Denn die ganze Lehre geht in ihrer Konstruktion
von Menschen aus, die es nicht gibt, von Wesen, die ohne Zwang und ohne
Lockmittel ihre Pflichten erfüllen, die frei von Eigennutz und frei von Hunger
uach Macht und Reichtum das Höchstmaß von geistiger und körperlicher Arbeits¬
leistung in den Dienst der Allgemeinheit stellen.
Wieweit wir von diesem Zustand der Vollkommenheit entfernt sind, zeigt
Uns mit furchtbarer Deutlichkeit die gegenwärtige Zeit, und wenn wir auch hoffen
dürfen, daß nach Verebben der Sturmwellen von Krieg und Revolution unser
Volk wieder zu der Ordnung und Arbeitsamkeit zurückfindet, die in den letzten
Jahrzehnten die Wurzeln unserer wirtschaftlichen Blüte waren, — ohne Zucker
und Peitsche wird es auch dann nicht leben können.
New, wer sich ehrlich in diese Lehre vertieft und in ihre Konstruktion nicht
Jdealwesen, sondern Menschen von Fleisch und Blut hineinzuversetzen versucht,
muß sich von ihrer praktischen Undurchführbarkeit überzeugen. Das ist auch der
Grund, warum man in Deutschland nicht den wahnsinnigen Versuch gemacht hat,
sie im November 1918 durchzuführen, wo doch die Sozialdemokratie alle Macht
in Händen hatte.
Die geistigen Führer der Partei fühlten eben, daß das Experiment zu
einem furchtbaren Zusammenbruch führen würde, der sie selbst unter den
Trümmern begraben hätte. Deshalb hören wir auch aus dem Munde Kautskys
und anderer Intellektuellen die besorgten Mahnungen, man könne die Sozialisierung
nicht in einer zusammengebrochenen, sondern nur in einer blühenden Volks¬
wirtschaft durchführen. Wer spitzfindig sein wollte, könnte daraus schon das
Eingeständnis der praktischen Undurchführbarkeit folgern. Denn wenn uns die
Jndividualwirtschaft erst wieder zur Blüte bringen muß, wer wollte dann
wünschen, diese erfolgreiche Wirtschaftsform mit einer anderen zu vertauschen?
Aber ich will mich dieser Spitzfindigkeit nicht schuldig machen, sondern
anerkennen, daß es neben den wirtschaftlichen auch ethische Forderungen gibt, die
ebenso Berücksichtigung verdienen, ja, selbst unter wirtschaftlichen Opfern durch¬
gesetzt werden müssen. Und trotzdem habe ich die feste Überzeugung, daß die
sozialistische Lehre undurchführbar ist, daß sie, selbst wenn von den übrigen
Ständen alle Opfer gebracht würden, nicht zur Befriedigung des Arbeiterstandes,
viel weniger noch zum Segen des Volksganzen führen würde.
Und ich halte es für eine ernste Pflicht, das offen und rückhaltlos aus¬
zusprechen, gerade wenn man an führender Stelle steht, auch auf die Gefahr hin,
sich damit politisch unmöglich zu machen.
Wir müssen aus der Atmosphäre des Schlagwortes, in der wir leben/
wieder zurück zur klaren Vernunft, aus dem Nebel der Phrase zur nüchternen
Wirklichkeit.
Das einzige, was uns retten kann, ist rückhaltlose Ehrlichkeit ohne Furcht
vor persönlichen Nachteilen oder Verunglimpfungen. Denn nur so ist es möglich
uns wieder verstehen und wieder finden zu lernen.
Die Sozialdemokratie hat sich, um einen raschen Erfolg zu erzielen, nun
zunächst auf die Forderung der Sozialisierung des Kohlenbergbaus beschränkt,
und die Regierung scheint geneigt, auf diese Forderung einzugehen. Begründet
wird diese Stellungnahme damit, daß wir unsere Industrie und unser ganzes
Wirtschaftsleben nur aufrechterhalten können, wenn die Kohlenförderung so
steigert wird, daß das Spa-Abkommen ohne Abschnürung der eigenen Bedürfnisse
erfüllt werden kann, und daß das nur zu erreichen ist, wenn die Kohlenbergarbeiter
durch Erfüllung ihrer Forderung wieder arbeitswillig und arbeitsfreudig gemacht
werden. Endlich damit, daß der Kohlenbergbau der Industriezweig sei, der aM
ehesten sozialisierungsreif sei.
Man erkennt ohne weiteres, daß diese Beschränkung nur eine zeitliche, nicht
eine grundsätzliche ist. Denn niemand wird annehmen, daß die Arbeiter der
übrigen Industriezweige es sich auch nur auf eine kurze Spanne gefallen lassen werden,
daß die Kohlenbergarbeiter allein solche Vorrechte genießen sollen, und von
sozialdemvkratischer Seite ist auch schon gesagt worden, wenn sie erst die Schlüssel-
Industrien, Kohle, Elektrizität und Eisen, in der Hand hätten, sei ihnen um das
übrige nicht bange.
, Auch hier heißt es: „o'ost le promisx xas, lui oouw". Wenn erst einmal
mit der Sozialisierung eines Jndustriezweiges begonnen wird, ist das Todesurteil
der individualistischen Wirtschaft aber damit auch der deutschen Volkswirtschaft
gesprochen.
Es ist also eine Entscheidung von grundsätzlichster Bedeutung, die hier
getroffen wird. Nicht Sozialisierung des Kohlenbergbaus lautet die Frage,
sondern Einführung der Sozialisierung überhaupt oder Beibehaltung der
individualistischen Wirtschaft.
Aber selbst wenn man nur das Nächstliegende betrachtet und sich auf die
Frage des Kohlenbergbaus beschränkt, kommt man zu Ergebnissen, die das Ein¬
gehen auf ein solches Experiment im gegenwärtigen Zeitpunkt fast als Selbstmord
erscheinen lassen.
Ich habe eingangs versucht, ein ungeschminktes Bild der Lage unserer
Volkswirtschaft zu geben und jedermann wird zugeben müssen, daß eine Rettung
nur möglich ist, ^wenn eine Steigerung und Verbilligung der Produktion gelingt.
Auch die Regierung hat ja sich in diesem Sinn festgelegt. Der Reichskanzler
Fehrenbach hat in seiner Programmrede am 28. Juni verkündigt: „Zweck und
Erfolg jeder Sozialisierung muß Steigerung der Produktion sein",
und der Arbeitsminister or. Brauns erklärte am 5. August: „Art und Form der
Sozialisierung wird sich aus?derMorwendigkeit ergeben, die deutsche Kohlen¬
wirtschaft in der Richtung größter Produktionssteigerung und Wirtschaftlichkeit
zu entwickeln."
Wir müßten daher doch vorher — nicht idem Beweis erbracht sehen, das
wäre zu viel verlangt, — aber überzeugt werden, daß durch die Sozialisierung
sowohl für die Produktionssteigerung als für die Wirtschaftlichkeit des Betriebes
Vorteile zu erwarten sind. Ich glaube nicht, daß jemand den Mut hat, das als
unmittelbare Folge der Umstellung zu behaupten, er würde zu bald als falscher
Prophet entlarvt.
Ich will gar nicht einmal auf das Beispiel unserer Verkehrseinrichtungen
eingehen, die aus den glänzendst eingerichteten und funktionierenden Staats¬
betrieben mit hohen Überschüssen zu einem bankerotten Unternehmen mit Milliarden¬
verlusten geworden sind, seit sie unter der Herrschaft der Arbeiter stehen. Denn
man wird einwenden können, daß das noch keine sozialisierten Betriebe sind, weil
den Arbeitern kein Anteil am Betrie.bsgewinn zugesichert ist, und daß die Betriebs¬
ergebnisse noch unter den Nachwirkungen von Krieg und Revolution stehen.
Aber wir haben die alte Erfahrung, daß jede nicht aus den Bedürfnissen
des Betriebs heraus entwickelte Umstellung eines Wirtschaftskörpers zunächst zu
einem Rückgang der Erzeugung und der Rente führt, während des Krieges in so
vielen Beispielen bestätigt gefunden, daß es kaum begreiflich ist, wenn man in
diesem Falle an dem gleichen Ergebnis zweifeln wollte. Und ebenso sicher werden
die Arbeiter in einem sozialisierten Betrieb zunächst auf die Verbesserung der
eigenen Lage, also auf Verminderung der Arbeitszeit und Erhöhung der Lohne
bedacht sein und erst in zweiter Linie auf die Bedürfnisse der Allgemeinheit.
Das soll kein Vorwurf sein, sondern nur die Feststellung der natürlichen Folge
der Änderung ihrer Stellung im Betriebe. Ob es gelingt, sie im Laufe der
Jahre zu der wirtschaftlichen Einsicht zu erziehen, daß ihr eigenes Wohl vom
Gedeihen des Betriebes abhängt, daß sie also im Interesse des Betriebes auch
Opfer bringen und auf Verkürzungen der Arbeitszeit und gewünschte Lohn¬
erhöhungen verzichten müssen, ist eine andere Frage, die sich nur bejahen wird,
wenn sie durch Schaden klug werden, ehe das Ganze zusammenbricht. Aber
zunächst werden sie die neue Freiheit und Machtfülle genießen und unmittelbarer
Vorteile teilhaftig werden wollen, wie wir das ja in den letzten zwei Jahren
täglich erleben.
Wer nicht blind von Vorurteilen durchs Leben geht, kann gar nicht darüber
im Zweifel sein, daß die Sozialisierung des Kohlenbergbaus für die ersten Jahre
nicht zu einer Steigerung und Verbilligung, sondern zum Rückgang und zur Ver¬
teuerung der Produktion führen muß.
Und die Kompromißgeburt Rathenaus bringt uns in dem Zentralshndikat
des Reichskohlenrates eine neue Kriegsgesellschaft. Sie wird weder die Arbeit¬
nehmer befriedigen, noch die Gefahren abwenden, die aus der Bureaukratisierung
der Erzeugung und der Wirtschaftlichkeit drohen. Es wird in der Begründung
nicht einmal der Versuch gemacht, darzulegen, wie die Mißstände vermieden oder
abgewendet werden sollen, die sich nach den Erfahrungen der letzten Jahre bei
allen Kriegsgesellschaften gezeigt haben.
Der Vorschlag bedeutet aber vor allem eine unmittelbare Schädigung der
Steigerung der Produktion und der wirtschaftlichen Unterhaltung der Betriebe,
die beim Kohlenbergbau so unendlich wichtig ist. Denn welcher Privatbetrieb
wird sich zu kostspieligen Neuanlagen, zu ausreichenden Aufwendungen für die
ordnungsmäßige Unterhaltung der Anlagen entschließen, wenn dauernd das
Damoklesschwert der Enteignung über ihm schwebt? Und wie kann man in der
gegenwärtigen, gärenden Zeit, die uns kaum einen Überblick über die Zustände
und Bedürfnisse der nächsten Monate gestattet, eine Gesetzgebung rechtfertigen,
deren Vollzug erst nach 30 Jahren beendet sein soll?
Ich halte demnach die beiden Borschläge der Sozialisierungskommission für
unannehmbar. Sie würden zu einer schweren, im gegenwärtigen Zeitpunkt
unerträglichen Schädigung unserer Volkswirtschaft führen und die Arbeiterschaft
nach vielleicht anfänglicher Befriedigung über den erzielten taktischen Erfolg aufs
schwerste enttäuschen. Denn sie würden sicher nicht zu einer Hebung, sondern
zur Verschlechterung der Lage der Arbeiter führen.
Die Frage liegt nahe, warum ich in diesem Zusammenhang so ausführlich
auf die Frage der Sozialisierung des Kohlenbergbaus eingehe. Ich habe schon
darauf hingewiesen, daß es sich tatsächlich nicht um die Sozialisierung auf diesem
Sondergebiete handelt, sondern um die prinzipielle Entscheidung über die
Sozialisierungsfrage überhaupt. Wer darüber noch Zweifel hatte, braucht nur
die Äußerungen der Abgeordneten Wels und Schmidt auf dem sozialdemo¬
kratischen Parteitage.in Kassel zu lesen.
Aber ich gehe weiter. Die Frage, die jetzt zur Verhandlung steht — si
wird in den nächsten Tagen in einem besonderen Ausschuß des Reichswirtschafts-
rats behandelt werden —, ist entscheidend für die ganze wirtschaftliche Zukunft
Deutschlands. Von ihrer Entscheidung hängt Wiederaufstieg oder endgültiger
Zusammenbruch unseres ganzen Wirtschaftslebens — nicht etwa nur des
Kapitalismus — ab.
Der Präsident der Niederländischen Bank, Dr. Vissering, der auch auf
der Finanzkonferenz in Brüssel die bedeutendste Rede hielt, hat in einer kürzlich
veröffentlichten Broschüre „Internationale Wirtschafts- und Finanzprobleme" auch
das Memorandum veröffentlicht, das im Januar d. I. von einer großen Anzahl
von Finanzsachverständigen und Politikern der Vereinigten Staaten von Nord¬
amerika, Englands, Frankreichs, Hollands, Dänemarks, Schwedens, Norwegens
und der Schweiz gleichlautend ihren Regierungen überreicht worden ist, und das
die Voraussetzungen einer internationalen Hilfsaktion für die unter den Kriegs¬
folgen leidenden Länder untersucht. Darin wird als erste Vorbedingung für
weitere Hilfe bezeichnet, daß „die Ausgaben der betreffenden Länder auf die
Grenzen ihrer Steuerkraft reduziert werden."
Und wer den gesunden Geschäftssinn der Länder, die uns allein helfen
könnten, nämlich Amerikas und der europäischen Neutralen, nicht vollkommen
falsch einschätzt, wird nicht annehmen, daß sie den Versuch machen wollen, in ein
Faß ohne Boden einzuschöpfen. Wenn wir aber neben den Verkehrseinrichtungen —
Eisenbahn und Post — auch noch den Kohlenbergbau verstaatlichen wollen —
denn etwas anderes bedeutet trotz aller Verwahrungen und Bemäntelungen die
Sozialisierung nicht —, dann schwindet-jede Hoffnung, unseren Staatshaushalt
wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Dann wird das Restchen wirtschaftlichen
Gewissens, das der Regierung und dem Reichstag noch innewohnt, zwischen der
Forderung höherer Löhne ^und 'dem Schrei nach billiger Kohle erbarmungslos
zerrieben werden. Denn darüber muß man sich aus der bisherigen Entwicklung
doch klar geworden sein, daß wirtschaftliche Fragen von politischen Faktoren nicht
gelöst werden können. Ein Unternehmen, das nicht den alsbaldigen Bankerott
vor Augen sieht, wenn die Erzeugungskosten den Verkaufspreis übersteigen,
sondern für jedes Defizit die große Tasche der Steuerzahler hinter sich weiß, wird
in unserer Zeit finanzieller Demoralisation nicht wirtschaftlich arbeiten.
Man muß auf diese Zusammenhänge hinweisen, um auch den ein-
geschworenenj Anhängern der Sozialisierung klarzumachen, daß gegenwärtig
jeder Versuch der Sozialisierung völligen finanziellen Zusammenbruch bedeutet,
und daß damit auch alle Träume wirtschaftlichen und kulturellen Aufstiegs der
Arbeiterklasse begraben sind. Mag man später solche Experimente machen, wenn
wir wirtschaftlich und kulturell wieder erstarkt sind. Ein gesunder Körper kann
auch naturwidrige Kuren ertragen, für einen kranken bedeuten sie den Tod.
Das den Arbeiterkreisen in völlig unpolitischer, leidenschaftsloser Weise ver¬
ständlich zu machen, scheint mir eine der dringlichsten Aufgaben, aber auch gar nicht
aussichtslos. Ist es doch von vielen geistigen Führern der Sozialdemokratie
schon offen ausgesprochen worden. Besonvers bezeichnend ist, was der preußische
Minister Severing im Mai geäußert hat: „Wäre ich heute Wirtschastsdiktator,
würde ich es mir sehr überlegen, ob ich den Bergbau sozialisieren würde. Wie
Post und Eisenbahn gezeigt haben, ist Sozialisierung nur möglich, wenn
Rentabilät sichergestellt ist. Heute bedeutet Sozialisierung keine Erleichterung
für unser Wirtschaftsleben, sondern unsere Volksgenossen müssen mit neuen
Steuern belastet werden, um die Zuschüsse zu der Rentabilität der Betriebe zu
geben." Und in ähnlichem Sinne haben sich Dr. Lensch, Richard Calwer,
Dr. August Müller, Bernstein, Kautskh und Wissell ausgesprochen. Es sind also
keineswegs bloß die grundsätzlichen Gegner, sondern überzeugte Anhänger der
Marxistischen Lehre, die von der Durchführung der Sozialisierung jetzt abraten.
Man darf also bei der Behandlung der Frage nicht in den Fehler ver¬
sallen, die Sozialdemokratie schadenfroh darüber zu ^verspotten, daß sich die Durch¬
führung ihrer Forderungen als wirtschaftlich unmöglich zeigt. Es hat gegen¬
wärtig keine Partei Anlaß, einer anderen ihre Mißerfolge vorzuhalten. Unser
aller Maß ist voll, und wir sollten die schwierige Lage der Sozialdemokratie
nicht parteipolitisch ausnutzen, sondern ihr goldene Brücken bauen, damit sie die
Geister, die sie rief, wieder loswerden kann. Denn wir haben keine Hoffnung
einer Wiedergesundung, wenn es nicht gelingt, den wirtschaftlichen Wahnsinn, von
dem unser ganzes Volk befallen ist, zu heilen, und das wird nie durch Partei¬
kämpfe oder durch Verhöhnung der Gegner, sondern nur durch Verständigung und
Aufklärung erreicht werden.
Ich lehne deshalb auch jede parteipolitische Behandlung dieser Lebensfragen
unseres Volkes ab und betrachte es als eine besonders günstige Kügung, daß ich
im Sozialisierungsausschuß des Reichswirtschaftsrates Gelegenheit habe, mit
Vertretern aller Parteien leidenschaftslos und rein verstandesmäßig das Problem
zu untersuchen. Aber man muß sich dabei darüber klar sein, daß die ganze
Unterhaltung nicht einfach mit einer Ablehnung der Sozialisierung enden kann.
Das würde nach dem Verlauf, den die Sozialisierungsfrage seit November 1918
genommen hat, zu politischen Erschütterungen führen, die unser Wirtschaftsleben
gleichfalls zum Erliegen bringen. Wir dürfen, wenn wir aus volkswirtschaftlicher
Überzeugung die Sozialisierung gegenwärtig oder grundsätzlich ablehnen, der
Arbeiterklasse gegenüber nicht mit leeren Händen kommen. Wir müssen ihr, wie
ich das schon wiederholt an anderer Stelle aufgestellt habe, eine Stellung im
Betriebe schaffen, in der sie sich nicht mehr als Ausbeutungsobjekt des
Kapitalismus fühlt. Auch hier ist es notwendig, sich in die Seele und den
Gedankenkreis des Arbeiters zu versetzen, um ihn zu verstehen.
Er ist durch die sozialistische Lehre und gewerkschaftliche Schulung darüber
hinaus, daß er sich damit zufrieden gibt, täglich acht Stunden, gleichgültig was,
zu arbeiten, nur um sein Leben zu fristen. Er hat begriffen, welche Bedeutung
seine Arbeit für das wirtschaftliche Gedeihen des Betriebes hat und will daran
Anteil haben. Man hat ihm das mit der Theorie des Mehrwertes beigebracht,
die freilich wissenschaftlich völlig falsch ist und nur ein leicht einprägsames,
bequemes Agitationsmittel darstellt.
Aber wer von dieser Gedankenreihe aus die Verhältnisse betrachtet, wird
begreifen, daß es für den Arbeiter etwas Aufreizendes haben muß, wenn er, der
vielleicht seit Jahren seine ganze Arbeitskraft einem Betrieb widmet, an der
günstigen Entwicklung des Unternehmens keinen Anteil hat, während der Aktionär,
der nichts dafür geleistet hat, als eine Aktie zu kaufen, der meist den Betrieb
nie gesehen hat, von Jahr zu Jahr steigende Dividenden und sonstige Vorteile erhält.
Das ist ein Auswuchs des Kapitalismus, der in der Tat verbitternd
wirken muß. Dem tüchtigen Unternehmer selbst, der durch Organisationstalent,
Erfindungen und Betriebsverbesserungen seinen Betrieb zur Blüte bringt, der
selbst seine Arbeit und Tatkraft dem Werke widmet, werden die denkenden Arbeiter
seinen Gewinn nicht mißgönnen. Denn sie wissen sehr wohl, daß die Werte nicht
nur durch die mechanische Handarbeit geschaffen werden, sondern auch der Kopf¬
arbeit des Leiters zu verdanken sind. Aber der unbegründete Verdienst des
Kapitalisten, der nicht bloß den Zins für sein Kapital erhält, sondern Gewinne
einstreicht, zu deren Erzielung er nichts beigetragen hat, ist das, wogegen die
sozialistische Lehre mit einer gewissen Berechtigung ankämpft.
Der Gegensatz ist also im Grunde genommen Sozialismus gegen Kapitalismus,
nicht Sozialismus gegen Jndividualwirtschaft.
Dem Arbeiter Anteil an diesem unpersönlichen Aktienbesitz zu verschaffen,
sei es durch Bildung von Kleinaktien oder auf einem anderen Wege der Gewinn¬
beteiligung, ist ein durchaus richtiger sozialer Gedanke, der die Wirtschaftlichkeit
weder für den Unternehmer noch für die Allgemeinheit schädigen wird, sondern
zu einer Steigerung der Betriebsergebnisse führen muß.'
Freilich wird der materielle Erfolg für den einzelnen Arbeiter nicht groß
sein. Es ist ausgerechnet worden, daß bei einem großen Bergwerksunternehmen
auf den einzelnen Arbeiter ein Gewinnanteil von 250 ^ im Jahre entfallen
würde, wenn die ganze Dividende von über 10 Millionen Mark an die Arbeiter
verteilt würde, also eine gegenüber den Lohnbezügen verschwindende Summe.
Aber in ideeller Beziehung wird diese Beteiligung am Unternehmen günstige
Wirkungen ausüben, weil sie das verbitternde Gefühl nimmt, nur für andere
zu arbeiten und die Arbeiter an dem Gedeihen des Unternehmens direkt interessiert.
Eine solche Beteiligung des Arbeiters am Betriebskapital und Betriebs¬
gewinn gibt auch erst dem Betriebsrätegedanken den richtigen Inhalt. Denn
nur dann werden sich die Arbeiter im Betriebsrat sowohl für die Arbeiterintercssen
als für jene des Betriebes verantwortlich fühlen und das volle Verständnis für
die Bedürfnisse des Betriebes und den Ausgleich der Interessengegensätze bekommen.
Man wird mit Grund fragen, wie bei einer solchen Verschmelzung der
Interessen der Arbeiter und des Betriebes der Staat und die Verbraucher zu
ihrem Rechte kommen. Ich kann aber nicht annehmen, daß deren Stellung sich
gegenüber dem bisherigen Zustande verschlechtert. Unter den bisherigen Ver¬
hältnissen bildete die Grenze für die Lohnhöhe die Möglichkeit des Absatzes der
Erzeugnisse zu dem sich daraus ergebenden Preis, wobei neben dem Lohnaufwand
und den Nohstoffpreisen die allgemeinen Betriebskosten und der Unternehmergewinn
die maßgebenden Faktoren waren. Die Gewinnmöglichkeit für den Unternehmer
gegenüber der Konkurrenz lag hauptsächlich im billigen Rohstoffeinkauf und in der
Herabdrückung der allgemeinen Betriebskosten, da es infolge der Tarife große
Unterschiede in der Lohnhöhe nicht mehr gab. In allen diesen Voraussetzungen
ergibt sich aus der Beteiligung der Arbeiter am Gewinn keine Erschwerung. Im
Gegenteil ist zu hoffen, daß Lohnkämpfe seltener werden und sich leichter beilegen
^sser, wenn die Arbeiter nicht nur durch vollen Einblick, sondern durch Be¬
teiligung an den Betriebsergebnissen die Grenzen der möglichen Lohnhöhe selbst
erkennen lernen.
, Für den Staat aber bedeutet diese weitgehende Offenlegung der Betriebs¬
ergebnisse und die aus dieser Entwicklung sich ergebende Notwendigkeit einer
Marken Syndizierung der Betriebe die Möglichkeit, sich den Anteil am Betriebs-
gewinn zu sichern, den ich schon in früheren Veröffentlichungen als den einzigen
Ersatz des versagenden Steuersystems bezeichnet habe.
Es kommen also auch bei solcher Gestaltung die berechtigten Forderungen
der Gemeinwirtschaft zum Durchbruch, ohne dadurch die Bordelle auszuschalten,
die wir in der sogenannten Erfolgswirtschaft als die treibenden Kräfte unseres
wirtschaftlichen Aufschwunges erkannt haben. Der Unternehmer wird in seiner
Tatkraft und in seinem Wagemut nicht dadurch lahmgelegt, daß er den Gewinn
mit den Arbeitern und dem Staate teilen muß. Man kann sogar hoffen, daß
die Notwendigkeit einen starken Ansporn bilden wird, durch möglichste Steigerung
und Verbilligung der Produktion die Gewinne zu erhöhen. Vor allem aber bietet
sich so die Möglichkeit, den Gegensatz zwischen Unternehmer und Arbeiterschaft,
der heute unser ganzes Wirtschaftsleben lahmzulegen droht, abzuschwächen, wenn
auch nicht ganz auszugleichen, und damit das Gefühl der Zusammengehörigkeit
und der Zusammenarbeit wieder wachzurufen, das uns allein eine Gesundung der
sozialen Verhältnisse verspricht.
Was ich hier dargelegt habe, sind Gedanken, deren Ausführung sich viel¬
fach an den harten Tatsachen stoßen wird und die vielleicht nach manchen Richtungen
anders geformt werden müssen, ehe sie sich in die Wirklichkeit umsetzen lassen.
Aber es gilt in der gegenwärtigen Krisis weniger, einen in allen Einzelheiten
ausgearbeiteten Plan aufzustellen, als den Boden zu schaffen für gemeinsames
Verhandeln, und vor allem die Geistesverfassung herbeizuführen in unserem
Volk, daß wir uns nicht gegenseitig zerfleischen und aus der Not der anderen
Vorteile erraffen dürfen, sondern daß wir das Leid, das über Deutschland herein¬
gebrochen ist, gemeinsam tragen und alle Opfer bringen müssen.
Wenn uns das gelingt, wenn die Welt erkennt, daß das deutsche Volk sich
wiedergefunden hat und bereit ist, die Lasten zu tragen, die das Verhängnis
der letzten Jahre ihm aufgebürdet hat, dann schätze ich alle die äußeren Ge¬
fahren gering.
Dann wird Deutschland, durch Leid geläutert, auch wieder hilfsbereite
Freunde in der jetzt uns so feindlichen Welt finden.
Sie nennen meine Verteidigung des Obrigkeitsstaates eine Leichenrede und
sehen sich an die Rittertaten des sinnreichen Junkers von La Manch« erinnert, wenn
man mit Gründen gegen ein Prinzip ankämpft, dem wie jetzt eben der Demokratie
das unfehlbare und jedenfalls inappellable Urteil der Geschichte die unbedingte Welt¬
herrschaft zugesprochen hat, wenn man eine Entscheidung anzufechten sucht, welche die
Menschheit nun einmal als endgültig ansieht und über die sie deshalb bereits zu ganz
anderen Tagesordnungen übergegangen ist. Gemach! Schon manchen Totgeglaubten
hat die Weltgeschichte wieder zum Leben erweckt und manche unbedingte Weltherr¬
schaft hat sie gestürzt. Ich glaube nicht an die Unwiderruflichkeit des Richterspruches,
mit dem sie die Demokratie als alleinseligmachendes politisches Ideal auf Erden
eingesetzt hat. Ob wir oder unsere Kinder die Revisionsentscheidung noch erleben,
weiß Gott allein. Aber das Verfahren ist bereits im Gange. Gerade das, was Ihnen
der Übergang zu anderer Tagesordnung erscheint, ist in Wirklichkeit nichts anderes
als die Anmeldung einer nachdrücklichen Berufung gegen jenes Urteil.
Es liegt doch auf der Hand und ist eine beinah tragikomische Erscheinung, daß
die Demokratie im Augenblick ihres beispiellosen Triumphes als Prinzip bereits
überholt war. Eben hatte sie mit der Eroberung Deutschlands ihren Siegeszug
durch die Welt vollendet sie war so unbedingt als selbstverständliche Grundlage des
allgemeinen politischen Denkens anerkannt, daß man mit Zweiflern zu streiten gar
nicht mehr für der Mühe wert hielt: Da meldete sich schon der Abfall. Die Neuesten
wollen nichts mehr von ihr wissen. Sie verleugnen ausdrücklich das Dogma von der
Heiligkeit des Mehrheitswillens. Sie denken es zu überbieten durch die Forderung
«Alter Diktatur der Fortgeschrittensten — und weder sie selbst noch ihre Gegner werden
gewahr, daß damit der Kreislauf vollendet wird und der Grundgedanke des alten
Obrigkeitsstaates wieder zu Ehren kommt. Ein Unterschied bleibt freilich, der eine
unüberbrückbare Kluft zwischen dieser neuesten Lehre und unserer alten Überzeugung
aufreißt: während diese ganz auf der Grundlage der Tradition aufgebaut ist, bekämpft
jene alles, was Tradition heißt, bis aufs Messer. Durch den Beelzebub der Ncite-
diktatur den Teufel Demokratie austreiben zu wollen, wäre ein verzweifeltes und
unverantwortliches Experiment am lebenden Körper der besessenen Menschheit. Nicht
auf solche Tollheiten setze ich meine Hoffnungen.
Aber ich sehe der Demokratie im stillen noch einen anderen Feind heranwachsen:
die EntPolitisierung der Menschheit. Das lebendige, leidenschaftliche Interesse breiter
Volksschichten an der Politik ist die Lebenslust der Demokratie. Mit ihrem Ver¬
legen stirbt sie ab. Ohne daß es einer förmlichen Änderung der Staatsform oder
der Verfassung bedarf, muß die Herrschaft der Demokratie, sobald sie nicht mehr von
der wachen und eifervollen politischen Teilnahme der Bevölkerung gestützt wird, von
selbst erlöschen und wieder einer „obrigkeitlichen" Art des Regierens Platz machen.
Daß aber das politische Interesse der Völker, zumal des deutschen Volkes, auf dem'
Höhepunkt angelangt ist und sich zum Niedergange anschickt, dafür lassen Sie mich
einen Zeugen anführen, dessen Bekanntschaft ich Ihrer eigenen Empfehlung verdanke.
Ich danke Ihnen wirklich von Herzen für den Hinweis auf Kehserlingks Schrift
über „Deutschlands wahre politische Mission". Mit dem tiefsinnigen Nachweis des
Magischen Zuges in Wesen und Geschichte des deutschen Volkes hat sie mir starken
Eindruck gemacht, wenn sie mich auch zu der Auffassung, um deretwillen Sie mich
vermutlich an sie gewiesen haben, nicht bekehren konnte. Gras Keyserling! meint,
das Ergebnis seiner tiefgreifenden Untersuchung kurz und grob wiederzugeben,
^fz wir Deutschen, unpolitisch, wie wir nun einmal unserer unverbesserlichen Natur-
Anlage nach sind, aus der Not eine Tugend machen und durch bewußte Fort¬
entwicklung dieser unserer Anlage, d. h. durch ausgesprochenen Verzicht auf Macht-
bolitik und Verlegung unserer ganzen Kraft auf das soziale Gebiet den mit Verlust
des Krieges erlittenen furchtbaren Rückschlag in einen Vorsprung auf dem offenbar
vom Politischen weg und auf das Soziale hinführenden Wege der Menschheit
umwandeln sollten. Im praktischen Ergebnis heißt das, wenn ich's recht verstehe:
Rückbesinnung auf die Rolle, die Deutschland bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts
in der Welt gespielt hat und aus der es von Vismarck — wie schon Nietzsche klagt
zum Schaden seiner Seele — herausgerissen worden ist. Wer ist nicht schon selbst
von solchen Träumen versucht worden? Vor alten Bildern des anmutigen Dorfes,
das er heut als lärmende Vorstadt kennt, kommt dem naturschwärmenden Gro߬
städter wohl eine wehmütige Sehnsucht nach dein entschwundenen Idyll. Aber das
Idyll, einmal abgestorben, läßt sich nicht wieder zum Leben erwecken. Wie auf dem
Boden der Vorstadt, wollte man die beleidigend neuzeitlichen Mietskasernen nieder¬
legen, kein freundliches Dörfchen wieder erstände, sondern ein Trümmerfeld, so würde
unser Vaterland bei dem Versuche, sich in das Deutschland der Dichter und Denker
zurückzuverwandeln, weder eine neue klassische Zeit von Weimar erleben, noch bei der
Romantik oder auch nur beim Biedermeier anlangen, sondern ganz einfach zugrunde
gehen. Für unser Land mit seiner heutigen Bevölkerungszahl ist dauernde Macht¬
losigkeit gleichbedeutend mit äußerster wirtschaftlicher Not und dadurch auch mit
kultureller Verödung.
Der Verzicht auf Machtpolitik ist ein Netz, das die Übermacht der Feinde
Deutschland über den Kopf geworfen hat und aus dem es, wie zu befürchten ist, noch
lange vergeblich versuchen wird sich zu befreien. In der Gewöhnung an die Ge¬
fangenschaft, in der häuslichen Einrichtung seines Gefängnisses, in der Ausbildung
von Fähigkeiten, zu deren Beteiligung es der Bewegungsfreiheit nicht bedarf,
Deutschlands wahre politische Mission zu sehen, ist mir nicht möglich. Auch mit den
innerpolitisch-sozialen Anschauungen des Grafen Keyserling! stehen die meinigen,
wie ich weiterhin zu zeigen wohl noch Gelegenheit sinden werde, mehrfach in Wider¬
spruch. Seine Beobachtung dagegen, daß der Zug der Zeit künftig dahin gehen wird,
das Politische aus dem Brennpunkt des Geisteslebens, das es heute beherrscht, all¬
mählich zurückzuschieben, trifft mit einer Ahnung zusammen, die mich schon öfter
beschlichen hat. Nicht als ob ein solcher Rückgang jetzt schon wahrnehmbar wäre.
Das Übergewicht der Politik, das alles Menschliche in ihren Strudel hineinzieht, ist
in unseren Tagen stärker denn je, und ich bin in Verlegenheit, auch nur ein greif¬
bares Anzeichen zu nennen, das aus baldiges Sinken der bisher immer reißender
anwachsenden Hochflut schließen läßt. Aber es liegt in der Bewegung selbst etwas,
was mir Hoffnung macht, daß gerade dieser krampfhafte Aufstieg eine baldige Ent¬
spannung zur Folge haben muß. Sie macht noch nicht den Eindruck, als ob ihr der
Atem ausginge; aber die Triebfeder verliert die Spannung, wenn das Ziel erreicht ist.
Schade, daß Sie, wie Sie mir sagen, das letzthin von mir erwähnte Buch
Thomas Manns noch nicht gelesen haben! Sie hätten darin die treibende Kraft jener
Bewegung, ihre Haupttriebkraft in einem Bilde von Meisterhand kennen gelernt.
,Zivilisationsliteratentum" nennt sie der Versasser. Es ist jouer Kreis von „In¬
tellektuellen", der in der westeuropäischen, vor allem in der französischen Zivilisation
sein Ideal sieht. In der französischen Literatur und Kunst sein eifrig nachgeahmtes
Vorbild verehrend, schwört er zu der sie beherrschenden Weltanschauung, die, von
Positivismus und Eudämonismus ausgehend, ohne Organ für das Metaphysische, sich
unter Übergehung der Persönlichkeitswerte ganz auf das Soziale eingestellt hat, w»
sie im „größtmöglichen Glück der größtmöglichen Anzahl" das letzte Ziel der Mensch¬
heit sieht. Dies Ziel ist als politisches gedacht und soll dementsprechend auf politischem
Woge erreicht werden. So streben unsere „Zivilisationsliteraten" dahin, alle Kräfte
des Geisteslebens in den Dienst der Politik zu stellen, und zwar der Politik im Sinne
der westeuropäischen Demokratie, deren Dunstkreis ohnehin ihren Sinnen wohltut
und deren Errungenschaften, mit den Aussichten auf Einfluß und gesellschaftliche
Stellung, die sie ihres gleichen bieten, schon längst das Ziel ihrer Sehnsucht sind.
Erkennen Sie die Richtung wieder? Sind Sie ihrer unermüdlichen, mit viel Geschick,
mit einem unleugbaren Einschlag von wirklichem Geist und mit großer Unbedenklichkeit
in der Wahl der Mittel arbeitenden Wirksamkeit nicht auf Schritt und Tritt begegnet?
Sie hat in den letzten Jahren vor dem Kriege und im Kriege selbst einen unerhörten
Einfluß auf unser öffentliches Leben gewonnen. Die Belletristik dient ihm gleicher¬
maßen wie die politische Literatur. In der Tagespresse beherrscht er alles, was
zur Linken hält. Seine Hauptstützen sind hier die sogenannten Weltblätter, die der
Welt jene Richtung schlechtweg als die öffentl che Meinung Deutschlands hinstellen.
Heute ist sie ja nicht weit davon entfernt, es wirklich zu sein. Sie hat ihren
Siegeszug vollendet. Die Politisierung und Demokratisierung Deutschlands ist
vollkommen und ist ihr Werk. Mit der Sozialdemokratie — vielleicht auch durch die
Sozialdemokratie — beherrscht sie, was vom Deutschen Reiche übrig ist. Wird sie
die zähe Kraft haben, das Errungene zu behaupten? Die Bewegung, die sie erregte,
im Gange, das politische Fieber auf der Höhe zu halten? Es ist schwer, daran zu
glauben, wenn man ihre Hohlheit und innere UnWahrhaftigkeit ansieht. Ich denke
jetzt nicht so sehr an die Nichtigkeit ihres eudämonistischen Ideals und an den kläg¬
lichen Bankerott ihrer schönen Verheißungen. Die Hoffnungslosigkeit der Versuche,
ans politischem Wege dem Glück der Menschheit näher zu kommen, hat die Geschichte
schon so oft erwiesen, daß die Welt, wenn solche Enttäuschung sie zur Vernunft
bringen könnte, längst von ihrem Wahn geheilt sein müßte. Aber bei den Führern
unserer heutigen Bewegung kann man den Eindruck nicht loswerden, daß es ihnen
mit ihrer Politisierungswut selber nicht letzter Ernst ist. Thomas Mann, der seine
Leute kennt, zeigt mit blutiger Ironie, wie sie keineswegs gewillt sind, aus ihrer
Überzeugung für ihre Person unbequeme Folgerungen zu ziehen, daß sie auch anders
können, daß ihr Politizismus im Grunde eine Geste ist, die Maske für ein ver¬
schämtes Asthetentum, dem die Politik als Mittel zum Zweck dient. Solche Ge¬
sinnung kann, von Ehrgeiz, Haß und Aussicht auf Erfolg beflügelt, im Angriff
starke, ja krampfhafte Kräfte entwickeln. In der Rolle des Haltefest, der nach er¬
rungenen Erfolge mit zäher Beharrlichkeit am Werke bleibt, läßt sie sich schlecht
denken. Um so weniger, wenn sie durch die Art des Erfolges selbst enttäuscht und
ernüchtert wurde. Der Sieg der Demokratie in Deutschland ist nichts als eine einzige,
furchtbare Enttäuschung. Er ist in doppeltem Sinne ein Pyrrhussieg. Er brachte die
Herrschaft, aber auf einem Trümmerhaufen. Der jammervolle Zustand, in dem die
Siegerin das Vaterland zu ihren Füßen sieht, muß selbst einem von der Sentimen¬
talität des Patriotismus nicht angekränkelten Sinne den Triumph vergällen.Vielleicht
noch empfindlicher trifft die Sieger der andere Schlag: sie sehen sich überholt, im
Augenblick des Sieges selbst von einem noch moderneren Prinzip überflügelt. Der
Bolschewismus hat ihrem Radikalismus den Rang abgelaufen. Ihr Feldgeschrei, die
Demokratie ist nicht mehr Ssrnisr cri. Das muß sie diesen Herren verleiden!
Alles in allem: es sieht so aus, als ob die Wortführer der Politisierung und
Demokratie, mitten in dem jede Erwartung übertreffenden Erfolg ihrer Sache, die
Lust daran zu verlieren beginnen. Soweit sie nicht den Anschluß an die Allerneuesten
finden — deren Erdreisten sür einen großen Teil von ihnen am Ende doch gar zu
grenzenlos ist —, werden sie sich vielleicht schon bald anderen Gefilden geistiger
Tätigkeit zuwenden. Für viele würde es nach dem eben angeführten Kennerurteil
nur eine Rückbesinnung auf ihr eigentliches Wesen sein, wenn sie sich auf den Stand¬
punkt jenes Inders zurückziehen, den Keyserling! in der vorhin besprochenen
Broschüre etwa sagen läßt: Wir stehen geistig zu hoch für die Politik und überlassen
die Beschäftigung mit ihr den Leuten, die an so untergeordneter Tätigkeit ihr
Genüge finden.
Wohlan! Die Politik wird gut dabei fahren. Um so besser, als damit zu-,
gleich der krankhaften, die Volksseele verödenden Überspannung des politischen
Interesses in den unteren Volksschichten der Nährstoff entzogen wird. Die Schlu߬
folgerung dünkt Sie allzu gewagt? Sie meinen, die Sozialdemokratie zeige zu viel
urkräftiges Eigenleben, sie stehe kraft ihrer Herkunft aus der jede Gemeinschaft mit
anderen Richtungen ausschließenden Marxschen Lehre, in ihrer Geschlossenheit als
Kampforganisation des Proletariats, jener in vielen Farben schillernden, partei¬
politisch kaum bestimmbaren literarischen Bewegung zu selbständig gegenüber, als
daß ihre Lebenskraft von ihr abhängig sein könnte. Wenn Sie an die wirtschaftliche
Arbeiterbewegung denken, gebe ich Ihnen natürlich recht. Als politische Macht
aber ist der Sozialismus ohne die Arbeit jener literarischen Vorkämpfer, die übrigens
zum beträchtlichen Teile in den geschlossenen Reihen seiner Partei fechten, kaum
denkbar. Er leiht all sein Licht von ihrer Geistigkeit, er steht und fällt mit ihrer
Wirkung. So verschlungen, so versteckt und sonderbar die Verbindungskanäle sind:
sie ist die Quelle, aus der die politische Bewegung der Massen gespeist wird, und
auch diese Bewegung muß ebben, wenn sie versiegt.
Um so besser, wie gesagt, für die Politik und ebenso erfreulich für die durch
ihr Überwuchern mit Erdrückung bedrohten und durch Verquickung mit ihr getrübten
Kulturströmungen! Es wird beiden Teilen zum Segen dienen, wenn die Sucht,
alles Geistige auf unmittelbare politische Wirkung hin anzusehen und zuzurichten, alle
Kulturfragen politisch zuzuspitzen, endlich abnimmt und wenn die Mode schwindet,
die trivialsten Alltagsfragen der praktischen Politik in unorganischer und unehrlicher
Vermengung metaphysischer und sozialer Begriffe auf philosophischen Unterbau zu
stellen. Die Staatskunst jedenfalls, die durch solche „Vergeistigung" in ihrer sach¬
lichen Arbeit gestört und durch den radikalen Idealismus der Literarpolitiker unaus¬
gesetzt vor neue unerfüllbare Aufgaben gestellt wird, kann nur gewinnen, wenn die
Philosophie sich wieder auf Schopenhauers stolz bescheidenen Standpunkt stellt und
darauf verzichtet, mit denen zu rechten, „welche die schwere Aufgabe haben, Menschen
zu regieren, das heißt, unter vielen Millionen eines der großen Mehrzahl nach
grenzenlos egoistischen, ungerechten, unbilligen, unredlichen, neidischen, boshaften
und dabei sehr beschränkten und querköpfigen Geschlechtes Gesetz, Ordnung, Ruhe und
Frieden aufrechtzuerhalten."
is der Absolutismus in Preußen 1806 zusammenbrach, war es der
alte ständische Gedanke, das Prinzip der Selbstverwaltung, das der
große Erneuerer des Staates, der Freiherr vom Stein, selbst
Standesherr, aber zugleich auf der Stufenleiter des absolutistischen
Staates zu den höchsten Staatsämtern emporgestiegen, unter den
Trümmern des Absolutismus wieder hervorzog, um aus seinen Überbleibseln den
Staat neu aufzubauen. Das war kein Rückfall ins Mittelalter, keine Kopie über¬
lebter Staats f o r in e n, sondern eine Neubelebung des politischen Lebens aus dem
altdeutschen Genossenschafts p r i n z i p heraus. Seine erste Tat, die Bauern¬
befreiung, beweist es zur Genüge, daß er die Mängel des Feudalsystems erkannte
und die schlimmste Lücke ausfüllte. Seine zweite Tat war die Städteordnung, die
volle Wiederherstellung der Selbstverwaltung. Das waren die Voraussetzungen
seiner Neugestaltung. Aus der Urzelle seines Staates, der Gemeinde, baute er dann
die ständische Volksvertretung auf, in bewußtem Gegensatz zur französischen Revo¬
lution. Politisches Interesse, heißt es in einer Denkschrift des Ministers v. Hum¬
boldt, die Steins Denken widerspiegelt, schwebt ohne feste Grundlagen in der Luft
und muß geradezu schädlich genannt werden. „Ihm fehlt die notwendige Be¬
dingung, daß er beim Nächsten anfange, da, wo unmittelbares Berühren der Ver¬
hältnisse wirkliche Einsicht und gelingendes Einwirken möglich macht." Auf die
Selbstverwaltung der Gemeinde sollte sich mit erweitertem Rechts- und Pflichten¬
kreis die Kreis- und Provinzialverwaltung mit ihren ständischen Vertretungen
gründen. Erst das von unten herauf gegliederte, durch die Schule der Selbst-
Verantwortung gegangene Volk erschien Stein als reif für eine berufsständische Ge¬
samtvertretung, einen Landtag, den er bereits 1808 als Schlußstein der Verfassung
ins Auge faßte. „Die Kreis- und Gemeindeverfassung", schreibt er 1818, „steht in
engster Verbindung mit der Institution der Landstände. Ist sie so gebildet, daß
sie ein freies Leben, eine lebendige Teilnahme an der Gemeindesache bei dem
einzelnen erregt, so enthält sie die reinste Quelle der Vaterlandsliebe. Sie knüpft
«n den väterlichen Herd, an die Erinnerungen der Jugend, an die Eindrücke, fo die
Ereignisse und Umgebungen unseres ganzen Lebens gelassen.....Aber solche
Wirkungen können sich nur äußern, wenn das Gemeindeeigentum und die Ge¬
meindeverfassung gegen Willkür gesichert, die Gemeinde selbst aus tüchtigen, ein¬
gesessener Mitgliedern besteht, gegen das Eindringen von Gesindel geschützt ist und
die Gemeindeangelegenheiten durch selbstgewählte Vorsteher, möglichst frei und selb¬
ständig, verwaltet wird.____ Sie (die Gemeindeverfassung) verbürgt die wahre
Praktische Freiheit, die täglich und stündlich in jedem dinglichen und persönlichen
Verhältnis des Menschen ihren Einfluß äußert und schützt gegen amtliche Willkür
und Aufgeblasenheit....."
Bekanntlich wurde Steins geniales Werk durch Napoleons Machtspruch jäh
unterbrochen und nach dessen Sturz nicht voll durchgeführt. Stein erlebte nur noch
die Verfassungen süddeutscher Staaten, zu deren Ausarbeitung er selbst Anregungen
gab, und ebenso die Einrichtung der preußischen Land (Provinzial-) stände, deren
einem, dem westfälischen, er seit 1826 selbst als Landmarschall Vorstand. Es war
die Tragödie Preußens, daß die politische Not, die diese Neugestaltung erzwungen
hatte, zu rasch verging und daß das feierliche Versprechen des Königs, eine Gesamt¬
verfassung zu geben, uneingelöst blieb.
Als endlich Friedrich Wilhelm IV., dem Drängen der Zeit nachgebend, 1846
die ersten berufsständischen preußischen „Reichsstände" berief, war die Unzufrieden¬
heit über das Zaudern der Krone bereits so gewachsen, die Geister bereits derart
mit westlichen Ideen erfüllt, daß es nur des Ausbruchs der französischen Februar¬
revolution bedürfte, um das junge berufsständische Gebilde fortzuschwemmen und an
seine Stelle den westlichen Parlamentarismus zu setzen. Aus dem Kompromiß
zwischen diesem und dem straff zentralisierten Absolutismus ging dann die dauernde
Konstitution Preußens hervor, aus der ähnlichen Verfassung der Paulskirche
Bismarcks Reichsverfassung, bis schließlich die Revolution von 1918 auch diese
Staatsform zerbrach, die Dynastien verjagte und den westlichen Parlamentarismus
zum parlamentarischen System weiterbildete.
Der Steinsche Gedanke lebte nur im preußischen Herrenhaus in rudimentärer
Form weiter) der regte sich wieder stärker, als Bismarck 1881 den preußischen
Volkswirtschaftsrat! zu schaffen suchte, noch stärker, als die preußische Wahlrechts¬
vorlage von 1917/18 eine berufsständische Ausgestaltung des Herrenhauses vorsah,
und schließlich heute, wo der vorläufige Reichswirtschaftsrat — bewußt oder
unbewußt an den Bismarckschen Volkswirtschaftsrat anknüpfend — zusammen¬
getreten ist.
Diese Entwicklung mußte vorausgeschickt werden, denn aus ihr wird die ganze
Größe und Tragweite des Steinschen Gedankens klar. Ihre Darlegung war um so
nötiger, weil sie teilweise wenig bekannt ist. Es ist klar, daß ihre einfachen,
tastenden Anfänge sich mit den späteren komplizierten Formen nicht decken. Bis¬
marcks Volkswirtschaftsrat, die preußische Regierungsvorlage von 1917/18 und der
Vorläufige Reichswirtschaftsrat von 1920 trugen der hoch differenzierten modernen
Wirtschaftsstruktur Rechnung. Steins Ideen dagegen beruhten auf einem einfachen
Wirtschaftsleben mit Manufakturbetrieb und vorwiegend agrarischen Charakter.
Seine Berufsstände waren daher einfach zusammengefaßt. Sie entsprachen der
geschichtlich gewordenen Schichtung der Zeit: (adliger) Großgrundbesitz, Städte,
Bauern. Es war fast noch die mittelalterliche Dreiteilung der Stände (Geistlich¬
keit, Adel, Bürger), nur mit einem starken Schub nach links: die Geistlichkeit hatte
in Preußen seit der Reformation ihre führende Stellung verloren; dafür war der
im Feudalsystem zu kurz gekommene Bauernstand eingerückt.
Steins verdienter Biograph G. M. Pertz hat ein Bändchen „Denkschriften
des Ministers Freiherrn vom Stein über deutsche Verfassungen" (Berlin 1343)
hinterlassen, das nur dem Historiker bekannt ist. Es enthält aktenmäßig die ganze
Tragödie des Ringens konstitutioneller Gedanken mit dem Absolutismus. Die
demokratische Geschichtsschreibung pflegt Stein als Märtyrer ihrer Sache anzurufen,
aber das ist Geschichtsfälschung. Die Tragödie Steins ist die des berufsständischen
Gedankens, die Tragödie eines Volkes, das nicht zu seiner eigenen Staatsidee
gelangen kann. Ich lege diese Schrift den folgenden Ausführungen zugrunde, wie
ich sie im vorstehenden schon zitiert habe.
Steins erster Stand war der (damals noch fast durchweg) adlige Großgrund¬
besitz. Er war nicht als politische Kaste mit Sonderrechten gedacht. Diese waren
ja gerade erst beseitigt worden. Stein konnte und wollte den Adel somit nur er¬
halten, soweit er im Besitz von Landgütern war, d. h. als wirtschaftlichen Berufs¬
stand. Ethische Motive wirkten dabei mit, wie wir es bei seiner Stellung zu den
anderen Ständen wiederfinden werden. Er wünschte nicht, das der Adel,
wie in Frankreich, „zerstört, beraubt, erschlagen, ausgeplündert, mit der
Sense der Gleichheit und Freiheit abgemäht" würde, um den Glanz
des Beamtentums und des Geldbesitzes zu erhöhen, das; statt des
Adelsbegriffs und der Familienehre materieller Reichtum träte, „Acker¬
flächen und Kornfelder, die höchsten Güter des gemeinen Menschen". Andererseits
sollte der angesessene Adel keine spröd abgeschlossene Kaste sein, sondern durch Aus¬
nahme verdienter Männer in Verbindung mit Grundbesitz „an Vermögen, Geist
und Leben erfrischt und gestärkt werden"____„So wird der Adel allen erreichbar,
das Ziel des Strebens aller politischen Talente." Die neuere Entwicklung ist
freilich über diese Verbindung wirtschaftlicher und klassenpolitischer Gedanken
hinausgegangen, weil die wirtschaftliche Struktur des Landbesitzes sich verschoben
hat. Wir werden ein gleiches bei Steins Zunftbestrebungen wiederfinden.
Der bäuerliche Grundbesitz (Kleinbesitz) bildete Steins dritten Stand. Er
hat es später bitter empfunden, daß Hardenberg durch seine Erbrechtsgesetze eine
fortschreitende Zersplitterung des ländlichen Grundbesitzes herbeiführte, die „den
Bauernstand in Tagelöhner und Gesindel" auflöste. Lange bevor die
wirtschaftlichen Verhältnisse der Neuzeit die Entwurzelung unseres Volkes
von der Scholle vollendeten, sah Stein mit banger Sorge die Pröle-
tarisierung des Bauernstandes voraus. Statt ihn zu zerstören, sagte er, solle man
den Bauernstand vielmehr schaffen, wo er noch nicht vorhanden sei. Ihm stand es
fest, daß ein gesunder, lebensfähiger und bodenständiger Adels- und Bauernstand
das Rückgrat des Staates und Heeres, das ruhende konservative Element des Volkes
sei, ein heilsames Gegengewicht gegen das fluktuierende, vorwärtsdrängende, ver¬
änderliche Element der Städte.
Das städtische Bürgertum (Handel, Gewerbe und gelehrte Berufe) bildete den
zweiten Stand. Ihm galt seine Fürsorge nicht minder wie dem großen und kleinen
ländlichen Grundbesitz. Hatte er die Bauern befreit und wollte er den Adel lebens¬
kräftig erhalten, so hatte er den Städten die Selbstverwaltung wiedergegeben.
Andererseits war er für eine Beschränkung der neu eingeführten Gewerbefreiheit,
d. h. des wirtschaftlichen Liberalismus. Auch hier leiteten ihn ethische Gesichts¬
punkte. Er wollte „den Adel gegen Auslösung, den Bürger- und Bauernstand gegen
das Herabsinken zu einem mit Kummer und Nahrungssorgen kämpfenden Pöbel
schützen, den ein durch Mangel und Bedürfnis aufs äußerste gereizte Habsucht zur
Gleichgültigkeit gegen das Edlere und Sittliche zum Laster und Verbrechen
verführt". Die Zunft sollte das Bürgertum zu Zucht und Berufsehre erziehen, es
„vor dem Eindringen christlichen und jüdischen Gesindels behüten". Die freie Wirt¬
schaft führte nach seiner Meinung zu einem „Mißverhältnis zwischen Produktion und
Konsum, übermäßiger Gewinngier, Betrug, Pfuscherei und Handwerksneid". „Der
Staat ist kein Landwirtschafts- und Fabrikverein, sondern sein Zweck ist die religiöse,
sittliche, geistige und körperliche Entwicklung des Menschen. Er soll nicht ein die
größtmöglichste Menge von Nahrungsmitteln und Fabrikwaren produzierendes Volk
bilden, sondern ein frommes, treues und mutiges Volk..... Aus dem Zusammen¬
halt der Zünfte wird das Bürgertum schöner erblühen, als aus der topographischen
Einteilung nach Stadtvierteln, wo alle durch den Egoismus auseinandergehalten
werden." Kaum irgendwo tritt der Gegensatz von Steins deutscher Staatsidee zur
Manchesterlehre deutlicher hervor, wie hier. Seine genial vorausschauende Kritik
des wirtschaftlichen Liberalismus ist durch die Entwicklung gründlich bestätigt
worden, nicht aber sein Festhalten an der Zunftidee, die damals schon überlebt und
durchbrochen war. Nicht durch geschlossene Zünfte und behördliche Einschränkung
der Gewerbefreiheit war das Problem zu lösen, sondern allein aus dem genossen¬
schaftlichen Gedanken heraus, durch die freien Wirtschafts- und Berufsverbände, die
aus dem wirtschaftlichen Liberalismus heraus und über ihn hinweg seit einem
Menschenalter so gewaltig angewachsen sind, daß sie den Unterbau für eine neue
berufsständische Organisation bilden können. Man täte Stein jedoch Unrecht, wenn
man den Maßstab der modernen wirtschaftlichen Entwicklung, die er nicht voraus¬
sehen konnte, an seine Gedanken anlegen wollte. Er ließ sich von dem Gedanken der
geschichtlichen Kontinuität leiten.
„Verfassungen bilden," schreibt er 1816, „heißt bei einem alten Volke wie das
deutsche, das seit 2000 Jahren eine ehrenvolle Stelle in der Geschichte einnimmt,
nicht, sie aus dem Nichts erschaffen, sondern den vorhandenen
Zustand der Dinge untersuchen, um eine Regel aufzufinden, die ihn ordnet; und
allein dadurch, daß man das Gegenwärtige aus dem Vergangenen entwickelt, kann
man ihm eine Dauer für die Zukunft sichern und vermeiden, daß die zu bildende
Institution nicht eine abenteuerliche Erscheinung werde, ohne eine
Bürgschaft in der Dauer zu haben, weder in der Vergangenheit, noch in der Zu¬
kunft." Und 1813: „Es ist ein Übergang und keine Umwälzung. Er stützt sich auf
das Bekannte; er beseitigt met apolitische weitführende Fragen, mit denen
sich unsere unpraktischen Gelehrten und P amp h tetl se en be¬
schäftigen, und beseitigt die im Laufe der Zeit unerträglich gewordenen Mängel."
Dieser konservative Staatsbildner, den blinde Reaktionäre als „Jakobiner"
verschrien, war ein Antipode der französischen Revolution; seine Gedanken sind weit
mehr von dem Gegensatz gegen sie beeinflußt, als von ihrem Druck auf die öffentliche
Meinung. Die revolutionären Gesetzesmacher „vergessen, daß das Land, dem sie
eine Verfassung geben wollen, die Geschlechter, die sie zu unterdrücken, die Stände,
die sie durcheinanderzumischen die Absicht haben, eine Geschichte besitzen, die
tief in ihrem Gedächtnis eingeprägt ist. Soll dies alles nun gleich behandelt, alles
aufgelöst und das Ungleichartigste zusammengeschmolzen werden, ohne Rück¬
sicht auf die Verschiedenheit des Standes, der Erziehung, des Berufes, des Ver¬
mögens, der Vergangenheit und der Zukunft____der Erfahrung zum Trotz, die
man seit 1789 über die Nichtigkeit solcher papierener Konsti -
tutionen gemacht hat?" Das Volk soll nicht nach französischem Rezept „in
einen großen Klumpen geworfen" werden, sondern gegliedert nach Eigentum,
Verschiedenheit des Besitzes, des Gewerbes und der Art des Gemeindeverbandes,
„wodurch sich eine vollständige Darstellung aller wesent¬
lichen Interessen bildet". Dies Wort von 1822 hätte als Motto für
den Berussstaat des schwäbischen Philosophen Christian Planck (1819—80)
dienen können, dessen kühnen, heute so zeitgemäßen Bau sein nachgelassenes „Testament
eines Deutschen" (1381) enthält. ,
Steins größter Feind nächst dem Jakobinertum ist füglich das allmächtige,
zentralisierte Beamtentum. Ohne eine bodenständige Verfassung kann der Beamten-
apparat keinen Staat durch Zeiten schwerer Krisen hindurchretten. „Von seinen
öffentlichen Beamten darf der Regent in großen Verwicklungen keinen kräftigen
Schutz erwarten, denn wir sehen den großen Hausen derselben sich vor der Über¬
macht beugen, dem Sieger huldigen." „Wahre Anhänglichkeit an den Staat ruht
in der Brust des angesessenen Bürgers, weniger in der des besoldeten Mietlings, fest
und unerschüttert." Der Regent findet bei einer Veamtenherrschcift wenig Unter¬
stützung gegen die öffentliche Meinung, vielmehr paktiert das Beamtentum auf seine
Unkosten mit dieser, und bei den Regierten erzeugt es Widerstand und Lauheit.
Immer wieder bricht die leidenschaftliche Abneigung des Standesherrn gegen die
Staatsbureaukratie durch, die er auf der Stufenleiter des Staatsdienstes bis in die
höchsten Stellungen kennen gelernt hat. Er wirft ihr „gehaltlose Papiertätigkeit",
Schwerfälligkeit, Abhängigkeit von oben, Kostspieligkeit und Einseitigkeit vor. Sie
sucht „die ganze Nation zu Gesindel zu verwandeln". Die reine Bureaukratie ist
„buchgclehrt und aktenempirisch"; sie schöpft ihre Leitsätze nicht aus dem Leben, ist
an kein Interesse der Bevölkerung gebunden, neigt zur Shstemsucht und den
Meinungen einzelner und wechselt ihr System von heute auf morgen.
Auch hier ist der ethische Gesichtspunkt für Stein entscheidend, nicht irgendein
revolutionärer Freiheits- und Machtkitzel. Durch moralische Kräfte soll die Ver¬
fassung des (armen und zersplitterten) preußischen Staates den Mangel an physischer
Kraft ersetzen. Nur auf dieser moralischen Kraft kann Landesverteidigung und
Finanzsystem beruhen. Die Bereitwilligkeit zu den großen Opfern, die beides er¬
fordert, kann allein durch Gemeinsinn erreicht werden. „Der Gemeinsinn bildet sich
nu,r durch unmittelbare Teilnahme am Öffentlichen; er entspringt aus der Liebe
zur Genossenschaft, deren Mitglied man ist, und erhebt sich durch sie
Zur Vaterlandslieb e."
So führt die berufsständische Volksvertretung den Staat zwischen der Skhlla
der „reinen Veamtcnregierung" und der Charybdis des westlichen Parlamentarismus
hindurch. „Die Einwirkung der französischen Revolution, die Bemühungen der
Schreiber und Pressen, ihrem Gewerbe Nahrung zu verschaffen, indem sie alles, was
den Dünkel, die Eigenliebe, den Ehrgeiz und die Habsucht reizen und ihnen
schmeicheln können, unter allerlei Formen vortragen", müssen vom Staat abgewehrt
werden, denn ihre Anerkennung führte dahin, „die Progression des nie
still stehenden menschlichen Begehrens stufenweise und endlich so
SU vermehren, daß der Staat sein Willfahrungsvermögen erschöpft und sich auf der
öefährlichen Grenze findet, wo ihm mit Gewalt auch das letzte entrissen wird
und die Revolution die Periode der Anarchie erreicht". Das
^lügt wie eine Vorausschau der jüngsten Ereignisse; es ist die deutliche Erkenntnis,
daß die konsequente Demokratie letzten Endes zur Anarchie führen muß.
Natürlich bedarf auch eine berufsständische Volksvertretung einer Abgrenzung
der Rechte und Pflichten zwischen Volksvertretung und Staatsgewalt, aber die
öffentliche Tätigkeit (Regierung, Verwaltung und Beaufsichtigung) soll nach Steins
bedanken zwischen Volk und Staatsbehörden geteilt werden, so daß beide mit
fest umschriebenen Rechten zusammen wirken, statt gegeneinander zu
arbeiten. „Den Staatsbeamten bliebe Rechtspflege, Finanz v erw altun g,
Militärangelegenheiten im engeren Sinne und die Oberaufsicht über das Ganze der
Landesangelegenheiten." Alles übrige ist Sache der ständischen Selbstverwaltung.
Die Bedenken der Krone gegen einen Teilverzicht auf ihre Souveränität bilden
Steins dritte Gegnerschaft. Aber Selbstregieren, sagt er, sei nur das Los sehr
seltener Regenten. Diese fänden auch bei einer repräsentativen Verfassung Mittel,
ihre Entschlüsse ins Leben zu bringen. Auch Friedrich der Große hätte nicht auto¬
kratisch, sondern nach den Maximen und Formen seiner Staatsbehörden regiert.
Joseph II. dagegen in seiner unruhigen Neuerungssucht wurde durch den allgemeinen
Unwillen gezwungen, viele seiner Entwürfe zurückzunehmen. Der Regent eines
treuen und gescheiten Volkes verlöre durch eine gute Volksvertretung nichts,
sondern gewänne an Macht, „denn er eignet sich alle geistigen und physischen Kräfte
derselben an, wird durch sie erleuchtet und gestärkt". Eine solche berufsständische
Volksvertretung birgt auch keine Gefahr in sich. Mit den öffentlichen Interessen ver¬
wachsen, „fühlt sie am eigenen Leibe, was sie beschließt, genießt das Gute und büßt das
Schlechte". Sie ist somit keine Brutstätte für Demagogentum und politische Um¬
triebe. Deshalb wünscht Stein auch den „Eintritt der Intelligenz in
die Versammlung zu erleichtern". Nur Ungebildete verfallen dem Einfluß
Subalterner Intriganten. Er ist daher für die Bildung eines Wahlverbandes
der städtischen Intelligenz, „um der Wissenschaft, Geschäftserfahrung
und Welterfahrung Zugang zum Gemeindeleben zu geben". Der Mangel der
Intelligenzen, sagt er, habe sich in den städtischen Selbstverwaltungskörpern sehr
fühlbar gemacht. Und er gibt 1330 wertvolle Erfahrungen über die Geschäftsfähig¬
keit des westfälischen Landtages an, dessen Landmarschall er ist. Im ersten und
zweiten Stand *) (Adel und Geistlichkeit) sind 50 ?S tüchtig, im Vürgerstand 25 ?S,
im Bauernstand 17 ?S. „Angestrengte Tätigkeit der Tüchtigen, eitle Geschäftigkeit
der Mittelmäßigen und passiven Bereitwilligkeit der Unbrauchbaren." Auch die
Schattenseiten fehlen nicht: „Leichtsinn und Gleichgültigkeit bei den Wahlen, be¬
sonders in den Städten; erbärmliche, selbstsüchtige Motive." Nur
langsam wächst die große Masse des Volkes in die neue Staatseinrichtung hinein,
und es ist bezeichnend, daß der meiste politische Verstand noch damals, zur Zeit der
Julirevolution und des „jungen Deutschland", nicht bei dem aufstrebenden Bürger¬
tum, sondern bei den vielgeschmähten „Junkern und Pfaffen" zu finden
ist, obwohl diese numerisch weit schwächer sind. Für seine Zeit zum mindesten war
also die Art der Ständeteilung, wie Stein sie geschaffen hatte, das Richtige, denn
sie gab den Tüchtigsten freie Bahn, nicht der demokratischen, zahlenmäßigen Mehr"
heit. Trotz trüber Erfahrungen, wie sie die obere Charakteristik ausspricht, bleibt
Steins Glaube an ,,die große Erziehungsanstalt der ständischen Verfassung und
der politischen Freiheit" unerschüttert.
Immer wieder mahnt er vergebens, die vom König versprochene Verfassung
nicht länger hinauszuschieben. All die Verhandlungen, Materialsammlungen usw-,
„soll dies alles ein bloßes Gaukelspiel sein"? Seine eigenen Ratschläge
werden selbst bei den Provinziallcmdtagen beiseite geschoben. „Die demokratischen
Ideen", warnt er, „werden nur insofern verderblich sein, als man die dem Volke
gegebene Zusage unerfüllt läßt." Selbst 1830, angesichts der französisch¬
belgischen Revolution, fürchtet er noch nichts „von der Ansteckung durch die demo¬
kratischen und exzentrischen Ideen" des Westens, „wenn es dem Rationalismus nicht
gelingt, alle Religion zu zerstören und an ihre Stelle ein flaches Vernunftgebilde
zu setzen und fremden Intriganten durch Flugschriften, schlechte Zeitungen
und selbst durch Einwirkung auf den Pöbel ihre freies Spiel zu treiben zugelassen
wird". Gerade jetzt (1831) würde die Erfüllung des königlichen Versprechens sehr
wohltätig auf den aufgeregten Zeitgeist wirken. „Es rückt ein neues G e
schlecht heran, es drängt sich in alle Kanäle des bürgerlichen Lebens, es bildet
sich unter dem Einfluß der neuesten Weltgeschichte, der Zeitungen, der politischen
Schriften. Es fühlt in sich Jugendkraft, Drang zum Handeln, Ehrgeiz, Habsucht,
Neid unter den verschiedenen Ständen beseelen es. Ratsam ist es, die
Flamme zu leiten, ehe sie zerstörend wirkt." Aber alle
Warnungen blieben umsonst. „Das junge Deutschland", das der greise Staatsmann
hier heraufdrangen sah, ging 1843 unter dem Druck der französischen Revolution
zur Tat über. Seitdem wurde Preußen und Deutschland zur geistespolitischcn
Provinz Frankreichs — durch Mitschuld der Krone.
Der berufsständische Gedanke ist Steins Vermächtnis an die Gegenwart. Und
deshalb schließen wir angesichts des Reichswirtschaftsrats mit einem Wort Steins:
Eine bloß beratende Versammlung ist ein Spott des Volkes. Sie wird entweder
schlafen „oder sich in: Tadeln und Vorschlagen allen Verirrungen überlassen, denen
sie sich ohne Nachteil für das Ganze mutwillig überlassen darf, da sie für die auf ihre
Beratungen genommenen Entschlüsse nicht verantwortlich ist". Der Neichs-
wirtschaftsrat aber soll keine „Schwatzbude" sein, sondern eine „Kammer der
Arbei t", die Deutschland durch Taten aus dem jetzigen Sumpfe emporhilft. Er
muß deshalb mehr werden, als eine bloß beratende Körperschaft.
Die Besetzung des Ruhrgebiets. Die Schwierigkeit der nachfolgenden Be¬
trachtungen liegt darin, daß zwischen ihrer Niederschrift und ihrem Erscheinen in
der Öffentlichkeit möglicherweise Ereignisse eintreten, die die gesamte Lage wenn
auch nicht ihrem Wesen nach verändern, so doch in anderem Lichte erscheinen
lassen. Die Tat in der Politik hat das Eigentümliche, daß sie wie ein Stoß in
unterkühltes Wasser, das was vorher an Bestrebungen, Wünschen, Entwicklungs¬
tendenzen ein Fließend-Bewegliches, von anderen Tendenzen leicht Verdrängbares,
durch sie Veränderliches war, mit einem Schlag zu einem Festen, nicht mehr aus
der Welt zu Schaffenden werden läßt, zu einem Mittelpunkt und Kern, an den
sich die Unsumme des Hypothetischen hinzuschießend ankristallisiert, einem Kern,
der als Energiequelle die Struktur des politischen Weltbildes unorganisiert.
^ Die Tat, die droht, ist die Besetzung des Ruhrgebiets durch Frankreich.
Der 15. November ist der Tag, an dem nach französischer These Frankreich das
Recht hat, „automatisch", d. h. ohne vorher eingeholte Zustimmung der Alliierten
das Ruhrgebiet zu besetzen, falls Deutschland das Spa-Abkommen nicht restlos
erfüllt hat. Kein Zweifel, daß der Vorwand rasch gefunden sein wird. Es
fehlen vielleicht zwei oder drei Tonnen an der Kohlenlieferung, die Qualität der
Kohlen wird, wie das französischerseits bereits geschehen ist, beanstandet, oder es
werden Dokumente gefunden und vorgebracht, die beweisen sollen, daß Deutsch¬
land die Entwaffnungsbestimmungen nicht oder nur zum Schein durchführt. Oder
es brechen von heut auf morgen — Anzeichen dafür sind ja vorhanden — in
Deutschland Unruhen aus, die Frankreichs Kohlenbelieferung aus dem Ruhrgebiet
„gefährden", so daß die französische Regierung die „unabweisbare Pflicht" hat,
seine Kohlenversorgung durch mindestens vorläufiges Einrücken sicherzustellen.
Gründe sind wohlfeil wie Brombeeren. Die französische Öffentlichkeit ist vor¬
bereitet. Seit Monaten fordern französische Zeitungen tagtäglich die Besetzung
als einzige Bürgschaft dafür, daß Deutschland die Kriegsentschädigung bezahlt, ja,
an einer Stelle ist sogar die Besetzung als Propagandamittel für die neue fran¬
zösische Anleihe gefordert worden. Die Aktion selbst ist bis in die geringsten
Einzelheiten vorbereitet.
Allerdings bestehen innerhalb der französischen Regierung und in Jndustrie-
kreisen Bedenken. Man kann sich nicht verhehlen, daß die eigenmächtige Besetzung
den endgültigen Bruch mit England bedeutet und fürchtet vielleicht eine Gegen¬
aktion der Amsterdamer Gewerkschaftsinternationale. Aber schon wird in Kreisen
französischer Politiker die Loslösung von England, wo die jüngsten Wahlerfolge
der Asquith-Liberalen mit kaum verhehlter Unruhe betrachtet werden, als unver¬
meidlich und als Ersatz dafür eine Annäherung an Amerika befürwortet, schon
wird offen erörtert, auf welche Seite Frankreich im Falle eines englisch-ameri¬
kanischen Konflikts zu treten habe, schon verbreitet Havas die von französischen
Gewerkschaftlern allerdings alsbald lügengestrafte Nachricht: die Gewerkschafts¬
internationale, deren Vertreter augenblicklich das Ruhrgebiet bereisen, erkennt an,
daß Deutschland das Spa-Akommen nicht erfüllt.
Frankreich steht am Scheidewege, es hat die Wahl zwischen friedlicher Ver¬
ständigung und gewaltsamer Sicherung. Immer wieder wird von deutscher Seite
aus versucht, den Franzosen klarzumachen, daß der erste Weg der einzig gang¬
bare, förderliche und vernünftige ist, auch für Frankreich, und es wäre ungerecht,
zu leugnen, daß es auch in Frankreich nicht an Persönlichkeiten fehlt, die ihn für
den richtigen halten. Aber es geschieht eben in der Politik nicht immer das
Richtige, Vorteilhafte und einzig Verständige. Oft genug wird der augenblickliche
Vorteil dem Gewinn in langer Sicht vorgezogen, oft genug erscheint die An¬
wendung von Gewalt als die einzige Möglichkeit, der wachsenden Flut drohender
Verlegenheiten zu entrinnen. Die deutschen Verftändigungspolitiker übersehen
durchweg die Zwangsläufigkeit, in der Frankreichs Negierung, sie sei, welche sie
sei, sich 'befindet. Frankreich hat einen Krieg geführt, dessen Durchführung
das Kräfteverhältnis der Verbündeten Armeen an der Westfront im Jahre 1913
bewies es mit aller Deutlichkeit — weit über seine natürlichen Kräfte hinaus¬
ging. Seit Jahr und Tag ist Frankreichs Volk versichert worden, daß die
Opfer, an denen Frankreichs Kraft sich verblutete, durch Deutschland eingebracht
werden würden. Nun stellt sich heraus, daß dies nicht möglich ist, daß Frank¬
reich nicht nur über seine, sondern auch über die Ersatzkräfte des besiegten
Gegners hinaus gewirtschaftet, daß der Krieg die Opfer nicht gelohnt hat. Wenn
Frankreich die Summe, die Deutschland ihm als Entschädigung zahlen soll, noch
immer nicht nennen will, so geschieht das nicht aus Bosheit, um den Gegner
weiter in banger Ungewißheit zu lassen, nicht wegen der technischen Unmöglichkeit,
die Gesamtheit der entstandenen Schäden schon jetzt zu bestimmen, nicht nur aus
Furcht, dem Gegner, der sich vielleicht doch wider Erwarten rasch erholen könnte,
durch vorzeitige Fixierung etwas zu schenken, sondern vor allem deswegen, wen
die endgültige Nennung der Summe die sofortige Erkenntnis zur Folge haben
würde, daß sie entweder zu gering ist, Frankreichs Defizit an Geld und Wirt-
schaftskraft zu decken, oder viel zu groß, als daß Deutschland sie jemals zahlen
könnte. Es gab in Frankreich einen Mann, der diese Entwicklung vorausgesehen
hat: Caillaux. Man hat ihn lahmgelegt. Mit dem Erfolg, daß es in Frank¬
reich heute keine Opposition gibt, die imstande wäre, die Regierung zu über¬
nehmen, falls sich mit unwiderleglicher Klarheit herausstellt, daß die Kriegs- und
Friedenspolitik der Negierung falsch war. Auf Gedeih und Verderb wird
alles, was heute in Frankreich regieren will, auf dem einmal eingefchlcigenen
Weg fortgetrieben. Verläßt man ihn, so ist ein Regieren in Frankreich über¬
haupt nicht mehr möglich, die Mehrheit des Parlaments, alle Politiker müßten
als kompromittiert abtreten, ohne daß Ersatz geschaffen werden könnte. Eine
Änderung des Kurses wäre nur durch eine gewaltsame Revolution möglich. Aber
die revolutionären Kräfte sind ohnmächtig und zersplittert. Die Ziffer nennen,
bedeutet den Zusammenbruch. Die Annexion des Ruhrgebiets aber schafft einen
Aufschub und Gelegenheit, die Entschädigungszisfern neu zu arrangieren. Der
wirtschaftliche Wert der Ruhrkohle, der Ruhrindustrie schafft, sobald Frankreich
unbehindert über sie gebieten kann, ein Aktivum, dessen Veranschlagung die Mög¬
lichkeit bietet, die Wiedergutmachungsrechnung zu balancieren. Auf die Nuhr-
kohle gestützt, wird Frankreich politischer Diktator in Deuschland, es wird die
deutsche Einheit zerschlagen und diese Maßregel dadurch populär machen, daß es,
nun keinem übermächtigen Gegner mehr gegenüber, seine Wehrmacht verringern
kann. Mit der Loslösung des Ruhrgebiets) mit der mit polnischer Hilfe bewirkten
Ablösung von Oberschlesien ist der deutschen Volksmacht, deren Kriegsgeübtheit
ja nicht aus der Welt zu schaffen ist, die Möglichkeit neuer Rüstung endgültig
genommen. Das ist Frankreichs Gedanke.
Es gibt Optimisten, die behaupten, die gewaltsame Besetzung der Ruhr
würde Frankreich selbst zum Schaden gereichen. England werde sich widersetzen,
die Ruhrarbeiter würden streiken, die Gewerkschaften aller Länder würden sich
empören, Norddeutschland würde sich bolschewisieren und Frankreich anstecken.
Möglich, daß all das eintrifft, aber es ist schwer abzusehen, wie, auf welche Weise.
Von Frankreichs augenblicklichen Machthabern wird kaum jemand diese bloßen
Möglichkeiten als ausschlaggebend anzusehen geneigt sein. Gewiß würde England
das Ruhrgebiet nicht gern in Frankreichs Händen sehen, die wirtschaftliche Ver¬
einigung , von deutscher Kohle und französischem Erz wäre eine furchtbare Be¬
drohung für Englands Industrie (weshalb auch gerade England die französisch¬
deutschen Wirtschaftsverhandlungen mit aller Macht zu stören sucht), aber wie
stellt man sich ein aktives Eingreifen Englands vor? Es kann die Kohlen-
Ueferungen nach Frankreich einstellen, aber Frankreich braucht sie nicht mehr. Es
kann Frankreich im Orient schädigen, aber es ist nicht das erstemal, daß Frank¬
reich im Orient Raum gibt, um 'Vorb ne am Rhein zu gewinnen. Und offenen
Arieg kann England heute nicht mehr führen. Und Amerika? . Amerika ist weit.
Der Streik der Nuhrarbeiter? Ich bin überzeugt, daß sie nicht streiken werden.
Hunger ist heute mächtiger als Nationalgefühl und antimilitaristische Grundsätze.
Und vierzehn Tage, drei Wochen kann Frankreich, gestützt auf seine Borräte, auch
°hre Kohlenlieferungen aushalten. Bis dahin bricht jeder Streik zusammen. Die
Industrie? Die Industrie wird arbeiten, wo ihr Ärbeitsmöglichkeit winkt. Die
Gewerkschaftointernationale? Die handelt langsam und — der Boykott gegen
Ungarn hat es bewiesen — nicht immer wirksam. Und gerade die französischen
Gewerkschaften haben seit dem verunglückten Maistreik an Anhängern sehr ver¬
loren. Sie haben es bis jetzt nicht einmal' fertig gebracht, daß die Munitions-
^eferung an Wrangel in nennenswertem Maße eingeschränkt wurde. Bolschewi-
Nertes 'Norddeutschland? Die französische Regierung hält eine Ansteckung für
Unmöglich und hat alle Ursache dazu. Was also soll Frankreich hindern?
. Möglich, daß das jetzt erfolgte formale Einlenken Englands in der Frage
^r Genfer bzw. Brüsseler Konferenz noch einmal Aufschub schafft, aber dann
?Mu es sich immer wieder nur um Aufschub handeln. Man darf vor allem nicht
"versehen, daß die Besetzung des Ruhrgebiets sich der gesamten übrigen Welt-
Politik Frankreichs organisch einfügen würde. Denn während die englische Politik
unverkennbar darauf ausgeht, mit Hilfe der Völkerbundsorganisation als Gegen¬
gewicht zu Amerika den er sich einheitlichen gesamteuropäischen Staatenbund zu¬
sammenzubringen, der, ohne in inneren Reibungen Kräfte zu verlieren, als
geschlossener, von England beherrschter Organismus möglichst rasch wieder ge¬
sundet, während also England im eigensten Interesse gezwungen ist, vorläufig
eine bis zu gewissen Grenzen altruistische Politik zu betreiben, geht das Bestreben
Frankreichs deutlich auf Befestigung einer unumschränkten Vormachtstellung in
Europa, ohne daß ihm an der Gesundung Europas das geringste gelegen wäre.
Englands Stärke ist Europas Stärke, Frankreichs Stärke soll auf Frankreich
(und seinen Alliancen) allein beruhen, Frankreich hat, was seine Annäherung an
Amerika beweist, kein europäisches Gemeinschaftsgefühl, kann es auch vielleicht
nicht haben, da es zum Festland, anders als das isolierte England, keine Distanz
gewinnen kann. Aber es ist möglich, daß die Geste der Ruhrgebietbesetzung nötig
ist, damit die Völker diesen Unterschied erkennen, damit ein europäisches Bewußt¬
sein sich gegen Frankreich wende. Die nächsten Monate werden erweisen, ob
Europa reif zum Untergange, zur amerikanischen Kolonie ist oder ob es aus sich
die Kraft hervorbringen kann, als geschlossener Erdteil den anderen Erdteilen
Der Neichsfinanzminister will, um des systematischen Steuerbetrugs Herr
zu werden, für die Aufdeckung umfangreicher Steuerhinterziehungen angemessene
Belohnungen gewähren, und zwar sowohl den beteiligten Beamten wie auch solchen
Personen, die zur Finanzverwaltung in einenr Beamtenverhältnis stehen.
Damit ist der in neuerer Zeit nicht mehr so häufig zitierte Rubikon über¬
schritten. Immerhin vermag sich der Seelenkundige von der Spürtätigkeit der
Beamten allein nicht besonders viel zu versprechen. Wohl werden die ausgesetzten
Belohnungen manchen Strebsamen veranlassen, während der Amtsstunden einige
schwatze weniger zu halten, ein Kartenspielchen oder eine Betriebsversammlung
zu versäumen und statt dessen verdächtige Akten zu studieren. Wirklich große
Geldbeträge werden aber den SteuerbeLrügern nur dann abzujagen sein, wenn
jedermann im Volke zur Teilnahme an der Treibjagd eingeladen wird. Gewiß,
wir ziehen uns damit Denunzianten und Schnüffler groß, doch dieses Plus an
allgemeiner Unsittlichkeit und Verächtlichkeit, was macht es gegenüber dem bereits
vorhandenen Bestände aus? In der furchtbaren Not der Zeit muß bis auf
weiteres jedes Mittel recht sein, den Betrügern das Handwerk zu legen, sonst wird
der Steuerdruck, dem die paar Ehrlichen ausgesetzt sind, nicht nur redensartmäßig
unerträglich. Bieten die ausgetobten Belohnungen genügend starken Anreiz, spendet
der Staat dem Anzeiger oder Entdecker einer Steuerhinterziehung ein bis
zwei Fünftel der geretteten Summe, dann wird es schon nach Jahresfrist verteufelt
wenige Waghälse geben, die sich vorm Steuerfiskus kleiner machen, als sie sind.
Heute sind just diejenigen ziemlich steuerfrei, die die Mammut-Einkommen
beziehen, die Schieber aller Grade und Sorten. Ihnen könnte ein Bureau
gefährlich werden, dem jeder nicht als Vollkaufmann geltende Käufer oder Ver¬
käufer irgendwelcher Ware binnen 24 Stunden genaue 'Anzeige von dem Geschäft
zu erstatten hat, bei erwürgender Strafe. Die englische Einrichtung des Kron¬
zeugen und hiermit verbundene gelbliche Vergünstigungen und die gerichtsnotorische
Feindschaft, die zwischen Schiebergeschäftsfreundcn immer sehr bald ausbricht,
würden dem Bureau die Arbeit sehr erleichtern. Auch das Gewimmel der
Telephonbeamten wäre zu interessieren. Jene tausend Mark auf den Kopf der
Bevölkerung, die der Feind jährlich von uns fordert, kämen allein durch einiger¬
maßen gerechte Besteuerung der anonymen Schieberei auf, dieses modernen
Dschingis Khans, der, frei nach Tolstoi, nur mit Telegraph und Telephon arbeitet.
Von den Gebührnissen die die großkopseten Mitglieder der Feindes-
kommissionen in Berlin und Wien erhalten, will ich hier gar nicht lange reden.
Ein Vielvcrbcmdsgeneral als Ausschußpräsident erhält hierzulande jährlich
228 000 ^, ein Bataillonskommandeur 162 000. Wien muß dem Vorstand jeder
staatlichen Abteilung in der „Reparationskommission" rund sechs Millionen Kronen
zahlen, seinem.Stellvertreter drei, seinem Sekretär etwa zwei und eine halbe
Million jährlich. Diese Summen könnten höchstens die Herren Geschäftsführer
und stellvertretenden Geschäftsführer unserer Kriegsgesellschaften neidisch machen,- da
sich aber diese Gesellschaften zunächst in der „Abwicklung" (oder EinWicklung des
Steuerzahlers) befinden, so werden ihre Leiter mehr Gewicht auf jahrzehntelange
Liquidation als vorübergehend hohe Entlohnung legen.
Anders steht die Sache, was das Kleinvolk anbelangt. Ein einfacher
Ententesoldat bezieht von Deutschland 42 000 ^ Verpflegungsgeld, die Maschinen¬
schreiberinnen der Berliner Fremdherren kommen sogar auf 50 000 ^ Jahres-
Aehalt. Das unglückliche Osterreich muß diese schätzbaren Hilfskräfte unteren
Ranges sogar mit je 300 000 Kronen jährlich besolden. Es ist hübsch, daß gegen
diese kraftvolle Ausbeutung verhungernder Völker mit besonderem Nachdruck die¬
jenigen deutschen und deutsch-österreichischen Blätter zu Felde ziehen, die seinerzeit
das Äußerste getan haben, um den Zusammenbruch durch die Aushöhlung der
inneren Front herbeizuführen. Aber ihr ernster Tadel hilft uns nicht über die
Möglichkeit hinweg, daß Deutschlands Privatangestellte eines Tages schon aus
Gründen vaterländischen Stolzes dieselben Bezüge wie die Vielverbands-Maschinen-
fchreiberinnen verlangen können. Da heute alle Macht beim kleinen Mann und
kleinen Fräulein liegt und ein Borstandsbeschluß der Asa sie alle sofort zum
freudigen Streik bewegt, ist es wünschenswert, daß die Tagespresse von den oben
genannten Direktorengehältern der Nichtdirektoren aus Frankreich und England
keine Notiz nimmt. Wir riskieren sonst kaufmännische Handlungsunkosten, die die
letzte Handlung lahm legen.
In Anbetracht des allgemeinen Geschäftsrückganges, der Absatzstockungen,
der Kaufunlust, der unerträglich gestiegenen Betriebsunkosten und der verderblichen
wirtschaftsrevolutionären Strömungen können sich die deutschen Aktiengesellschaften
nicht darauf beschränken, ihre diesjährigen Mammutgewinne in der Form einer
40—60-7°-Dividende, eines entsprechenden Borns und einer Gratisaktie auszu¬
schütten. Sie haben weitere schwer verdiente Millionen massenhaft als stille
Reserven verbunst und die Gebäude, Maschinen und sonstigen Konti bis auf eine
Mark abgeschrieben.'
Hinreißender zur Sozialisierung einzuladen, das Entschädigungsproblem
einfacher zu lösen, ist unmöglich. Wenn der amtliche Sozialismus jetzt nicht zu¬
greift und der Privatindustrie ihre Betriebe zu den Preisen abnimmt, die sie
selbst als angemessen feststellt, dann hat Karl Marx umsonst gelebt, geliebt und
gelitten.'« Mre Papiermark für Gebäude, die Millionen wert sind, eine Papier¬
mark für unschätzbare Maschinenparke — wo bleibt das Gesetz, das den Staat
Die Leser der „Grenzboten" kennen das be¬
rühmteste Buch unserer Tage aus dem Aufsatz
in Ur. 7 S. 191 des laufenden Jahrganges. Das
Buch ist nun auch deutsch erschienen und wird
nirgends eifriger und mit mehr innerer Teil¬
nahme gelesen werden, als bei uns. Ist es
doch der bisher schärfste Widersacher, der
außerhalb unseres unglücklichen Vaterlandes
dem Vernichtungsfrieden von Versailles er¬
standen ist. Wie Keynes auf der Konferenz
von Versailles seine Unter niederlegte, als er
den Sieg Clemenceaus über die Vernunft im
Anmarsch sah, so bildet das glänzend ge¬
schriebene Buch eines bedeutenden Gelehrten
und großen Künstlers auf jeder Seite die gc-
schichtliche Verurteilung des Versailler Ver¬
trages. Das gilt von den berühmten Seiten,
welche den Rat der Vier in atmender Lebendig¬
keit vor uns hinzaubern, wie von den volks¬
wirtschaftlichen Erwägungen, Schlüssen und
Forderungen des Cambridger Professors. Aber
der deutsche Leser muß vor einem Trugschluß
gewarnt werden, den Deutsche immer und
immer wieder begehen. So wie der Rücktritt
Keimes' auf der Versailler Konferenz an dem
Schlußergebnis nicht ein Komma geändert hat/
so entbehrt dies unvergängliche Buch für
unsere Tage noch jeder tatsächlichen Wacht-
Die achtbaren englischen Liberalen, denen
Keynes angehört, sind wohl geeignet, die
Herzen der Menschenfreunde und auch der
Unterdrückten in allen Ländern für sich ein¬
zunehmen. Aber im heutigen England haben
sie für auswärtige Politik nichts zu sagen.
Es könnte kein falscherer Schluß aus Keynes
gezogen werden, als nun das Land zu lieben,
das einen solch prächtigen Kämpen der
Wahrheit hervorgebracht hat. oder von
diesem Land Gnade und Gerechtigkeit für das
gefolterte Deutschland zu erhoffen. Das
England Lloyd Georges, das England des
Knock out, und nicht das sympathische Old
England Kcyncs' ist es, dem wir noch mehr
als die Iren und die Inder gegenüberstehen.
Dennoch und gerade deshalb muß jeder
Deutsche Keynes lesen, aus dem wir die
besten Gründe für unser Recht gerade des¬
halb entnehmen können, weil Keynes von
jeder persönlichen Vorliebe sür Deutschland
frei ist und die Fehler derer, die auf deutscher
Seite den Vertrag zu unterzeichnen rieten,
klar erkennt und offen ausspricht. Sein
Zeugnis ist unparteiisch im edelsten Sinn,
aus ihm spricht die Vernunft und die Liebe
zu Europa. Und da wir nicht müde werden
dürfen, für unsre Sache zu kämpfen und zu
Zeugen, so muß jeder Deutsche sich mit dem
geschichtlichen und volkswirtschaftlichen Rüst¬
zeug vertraut machen, das hier ein junger
Nachfahr Macaulays, Carlyles und Adam
Smiths mit der hohen Politischen Schulung
seiner Rasse gefertigt hat. Der geistvolle
Mann, der das Gewissen der Welt in
Versailles verkörpern wollte, nachdem Wilson
sür diese Aufgabe sich unfähig erwiesen hatte,
darf von sich sagen: Victrix csusg, 6iis
placuit, se6 vices, Latoni, Hätte er recht
behalten, dann wäre nicht Frankreich größer
geworden als Deutschland, und deshalb hat
er nicht recht behalten dürfen. Er ist nicht
der Mann, die aus den Fugen gegangene
Welt einzurenken, aber er ist der Prophet,
der in dem Jahr, das seit der ersten Planung
dieses Buches verging, mit seinen Kassandra¬
rufen bisher stets recht behalten hat. Manches
spricht dafür, daß auch seine noch unerfüllten
Prophezeihungen sich der Verwirklichung
sichern und Europa auf dem Weg durch
selbstverschuldete Qual einer Katastrophe und
^um vielleicht ' dem neuen Zeitalter, das
Keynes wünscht, entgegenreift.
Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart-Berlin.
1920. Preis geh. M. 26,—, geb. M. 32,—.
Danilewskys Buch ist seit zwei Generationen
die Bibel des Panslawismus. Es ist wert¬
voll, daß wir jetzt wenigstens Bruchstücke des
Werkes in deutscher Übersetzung erhalten
haben.'
Krieg und Religion — ein angelsächsischer
Kulturspiegel nach der guten und schlechten
Seite hin ist diese Zusammenstellung feind¬
licher Kriegsliteratur.
Der Verfasser beweist den Selbstmord
Europas, das unaufhaltsame Sinken unseres
Erdteils von seiner führenden Stellung wirt¬
schaftlich und politisch. Hoffentlich wird sein
Buch bei seinen Landsleuten gelesen, die es
angeht. Würde es nur in Frankreich be¬
herzigt, so wäre Europa gerettet. Aber auch
bei uns verdient das Buch als Ergänzung zu
Keynes Beachtung.
Das eigenartige Buch eines biologisch-
soziologisch denkenden Patrioten, das unter
den zahllosen zur Zeit erscheinenden Pro¬
grammen und Rezepten zu Deutschlands
Heilung hervorragt und trotz manchem Wider¬
spruch im einzelnen als Ganzes die Auf¬
merksamkeit ernster Leser lohnt.
Tausend. Leipzig 1920. Verlag von
Theodor Gerstenberg.
Ur. 3. Katechismus für die Sudeten-
deutschen von Ol-. E. Gicrach.
FünfteAufl. (31.—S0. Tausend).
1920.
Ur. 13. Unsere deutschen Schulen und
das Vernichtungsgesetz. 1920.
Bei allem Unheil, das über Deutsch-
Österreich hereinbrach, ergab sich doch das
überraschende: die Papicrverhältnisse lagen
besser als im Reich (heute dürfte das längst
anders geworden sein) und infolgedessen ent¬
wickelte sich der Verlagsbuchhandel günstig;
neue Firmen entstanden und alte verjüngten
sich. Zu den neuen Firmen gehört nun auch
der Amalthea-Verlag, der seinen Hauptsitz in
Wien hat.
Die von ihm herausgegebenen Bücher, die
hier vorliegen, präsentieren sich alle in vor¬
nehmem, stattlichem Gewand.
Der „Amalthea-Almanach" gibt einen
Überblick über seine bisherige, schon recht
reichhaltige Produktion. Wir begnügen uns
damit, aus der Zahl dieser Werke solche
herauszuheben, die für das spezifisch öster¬
reichische Leben charakteristisch sind, allerdings
in sehr verschiedener Weise.
Deutsch-Österreicher im völkischen Sinne
ist nun allerdings Rilke durchaus nicht; eher
das Gegenteil. Der Mann, der schon in
jungen Jahren dem erbitterten Ringen zwischen
Deutschen und Tschechen kühl bis ins Herz
zusah, dem es eine bloße Rechtsfrage war:
des alten vielsprachigen Osterreich vor dem
Kriege) ist er vielleicht doch; nur auf andere
Weise. Die Mischung slavischen und deutschen
Blutes in seinen Adern, die in verschiedenen
Studien über ihn allerdings mehr angedeutet
als bewiesen wird, ist doch etwas, was sich
im alten Osterreich nicht selten vollzog. Und
ebenso wie die leidenschaftlich und einseitig
national empfindenden Männer der ver¬
schiedenen Volksstämme gehört auch ihr Gegen¬
stück: die Männer, bei denen sich infolge
der Völkermischung das Bewußtsein ihres
Volkstums verflüchtigt hat, zum vollen Bilde
dieses Völkerstaates.
Doch wie dies auch sei, jedenfalls ist Rilke
einer der anerkanntesten Dichter aus der Zeit
vor dem Kriege. Und schon einfach dadurch
gehört er zu den bedeutenden Erscheinungen
im alten Österreich.
Er dichtet nicht als Deutscher, immer nur
als einzelner ohne Rücksicht auf den Zusammen¬
hang mit seinem Volke; aber die Einzelseele,
die hier spricht, der bloße Mensch, der hier
empfindet, spricht doch tatsächlich Deutsch. Ob
sie will oder nicht, sie kann den Zusammen¬
hang, auch wenn sie ihn nicht sühlt, doch
nicht sprengen. Das Fehlen des Volksbewußt-
seins besagt an und für sich gar nichts über
Wert oder Unwert seiner Gedichte. Niemand
z. B. wird zweifeln, daß Mörike ein größerer
Lyriker war als E. M. Arndt oder Wildenbruch.
Und diesem Lyriker widmet ein Robert
Faesi eine feinfühlige, eindringende Studie.
Mit liebevollem Verständnis fühlt er sich in
Wesensart und Dichtung seines Dichters ein,
aber er unterliegt ihm doch nicht, sondern
behauptet ihm gegenüber ein selbständiges
befreiendes Urteil. Er liebt ihn, aber er
vergöttert ihn nicht. Er liebt ihn, aber er um¬
schreibt mit fast grausamer Sachlichkeit die
Grenzen seines Wesens und Könnens. Er
liebt ihn, aber — fast scheint es so er
Sarge ihn ein.
Denn wer ist Rilke?
Ein feiner Mensch, aber ohne starke
Lebenskraft: ein „edler Dekadent". Ohne
Aktivität geht er als Beobachter durchs Leben-
Dem entspricht sein Dichten: sein Schauen
ist (und hier führt Faesi sein Schaffen mit
sicherer Hand auf zwei Grundlinien zurück) ^
sein Schauen ist einmal nach außen gerichtet;
ist wirklich sehr weit davon entfernt, im
Namen des deutschen Volkes in Osterreich
oder in Böhmen zu sprechen. Aber eine
spezifisch österreichische Erscheinung (im Sinne
das ergibt seine eigenartige Lyrik, welche die
äußere Welt darstellt. Dann ist sein Schauen
nach innen gerichtet; das ergibt seine religiöse
Dichtung, welche das Verhältnis Gottes zu
seiner Seele darstellt.
Beide Arten seiner Lyrik sind zur voll¬
kommensten Meisterschaft ausgebildet; aber so
vollkommen sie in ihrer Art sind, sind sie
darum wirklich vollkommen?
Diese Frage regt sich besonders der ersten
Gruppe seiner Gedichte gegenüber. Wir sind
gewohnt, daß Empfindungen, Leidenschaften,
die sich in Handlungen umsetzen, Inhalt des
lyrischen Gedichts sind. Und hier? Das Ich
des Dichters (nicht bloß das empirisch-Persön¬
liche, auch das lyrische Ich) zieht sich aus
diesen Gedichten zurück; so fängt es an in
dem „Buch der Bilder", so wird es vollendet
in den „Neuen Gedichten" und deren „anderem
Teil". Und dargestellt werden Gegenstände,
Gestalten, ja, mit Vorliebe werden Werke der
bildenden Kunst mit Worten noch einmal
dargestellt. „Wie in einem ungeheuren
Arsenal, einer Galerie häuft es sich von
Schandarm Dingen, Dingen im engsten wie
im weitesten Sinne des Wortes, toten und
lebendigen Dingen, hundertfachem Natur- und
Phantasiegebilde, Landschaft und Menschenwerk,
Gewächs und Menschengestalt. Wille zu
enzyklopädischem Umfassen wird spürbar." —
Ja, ist das noch die legitime Aufgabe des
lyrischen Dichters? Werden wir nicht wieder
auf Lessings Grundfrage zurückgeführt, der in
einem nicht ganz unbekannten Büchlein die
Darstellung des Koexistierenden dem Maler
und bildenden Künstler, die des Postexistierenden
dem Dichter (als dem Arbeiter mit dem
Material des gesprochenen Wortes) zuweist?
Hat die glänzende Kunst Rittes sich hier
vielleicht an einer unmöglichen Aufgabe ab¬
gequält?
Rittes religiöse Dichtung (vor allem im
„Stundenbuch") wird begrüßt als eine will¬
kommene Mahnung zur Stille, zur Sammlung,
Zur Frömmigkeit; aber es wird doch nicht
verkannt, daß sein religiöser Quietismus
letztlich doch nur auf physiologischer Müdigkeit,
auf überempfindlicher Zartheit beruht. Es
^se keine Religion der Kraft, sondern der
Schwäche.
Auch hier wieder der Grundmängel der
Aktivität. Seine Liebe (denn die Religion
äußert sich wesentlich als Liebe) richtet sich aus¬
schließlich auf Gott, sie bleibt ein Spiel
zwischen Gott und Mensch, und der Mitmensch
geht leer aus. Ja, durch diese Liebe zu Gott
wird sogar die helfende Nächstenliebe verpönt;
der Einsame, der wirklich Religiöse, der mit
sich allein ist, dem nur Gott der „Zweite
seiner Einsamkeit" ist, der verzichtet darauf,
irgendwie Liebe zu anderen Menschen zu
äußern, um sie nicht zu fesseln und in ihr Leben
einzugreifen. Aus Liebe entäußert er sich
einer Äußerung der Liebe!
Es steht viel Nachdenkliches in dem
Buch von Faesi, und es macht einem zu
schaffen. Hier wurden unwillkürlich die
Schranken von Rittes Dichtung hervorgehoben,
so einseitig ist Faesi selbst nicht. Eh er von
den Schranken spricht, schildert er mit liebe¬
voller Andacht all das Schöne und Voll¬
kommene, was innerhalb dieser Schranken
gewachsen ist. Und das gehört doch mindestens
so wesentlich zu dem Werk des Dichters als
die Schranken. Es ist der eigentliche Inhalt,
sie sind nur die Grenzen seines Reiches.
In Fachs Buch verschmelzen sich Ver¬
ehrung und Kritik auf merkwürdige Weise.
Leichter wird man mit der Auswahl
fertig, die Stefan Hock aus dem überreichen
Schatz lyrischer Dichtung, den Osterreich in
achthundert Jahren hervorgebracht hat, zu¬
sammengestellt hat. Von dem Kürenberger
und Walter von der Vogelweide bis auf
Rilke und Werfet, bis auf Georg Trakl und
Theodor Däubler sind alle namhaften Sänger
vertreten, über die Auswahl im einzelnen
zu rechten, hat wenig Zweck; auffällt vielleicht
nur, daß F. K. Ginzkcy verhältnismäßig schwach
vertreten ist.
Doch wirklich „fertig" wird der Leser,
dem diese Lyriker nicht schon bekannt sind,
der sie sich nicht schon als eigenen Besitz er¬
worben hat, doch, nicht mit dieser Auswahl.
Und an solche Leser wendet sie sich doch wohl
in erster Linie. Sie will die reichen Schätze,
die Osterreich besitzt, öffentlich zur Schau
stellen und zu den alten neue Bewunderer
anlocken. Diese aber würden dem Verwalter
dieser Kostbarkeiten es Dank wissen, wenn er
ihnen jeweils einen Wink gäbe über Charakter,
Gehalt und Form der einzelnen Kunstwerke,
wenn er ihnen den Zugang zum Heiligtum
erschlösse. Das ließe sich vielleicht (bei einer
zweiten Auflage) mit wenigen Worten nach¬
holen.
Ins Politische führt die Schrift'von
Max Pirker über die Zukunft der
deutsch österreichischen Alpen land er.
Soweit sie dabei die Grenzen der Alpenländer
nach außen verteidigt, ist sie ub rholt, das
ist inzwischen durch die Bestimmungen des
Friedensvertrages „geregelt"; von dauerndem
Wert aber ist der Versuch, die einzelnen
Alpenländer (Tirol, Kärnten, Steiermark) als
geistig-kulturelle Einheiten und Eigenheiten zu
verstehen.
So hat.sich der neue Verlag respektabel
eingeführt Einige Veröffentlichungen anderer
Herkunft seien angeschlossen.
Das Böhmerland - Jahrbuch ist eine
Neuschöpfung. Die Deutschen in der Tschecho¬
slowakei — und ein besserer Ersatz für diesen
Un-Namen soll die vom wichtigsten Lande des
Staates gcnommcneBezcichiiung „Böhmerland"
sein — müssen sich wohl oder übel in ihren
neuen Verhältnissen einrichten. Und sie tun
es auch. Hier nun ist zum ersten Male der
Versuch gemacht, die geistigen K> äste des heimat¬
lichen Deutschtums zusammenzufassen und so
ein wahrhaftes Hcimatbuch zu schaffen. Dieser
erste Versuch ist gar wohl gelungen und be¬
rechtigt (das Buch soll künftig Jahr für Jahr
erscheinen) zu den schönsten Hoffnungen. Wir
finden da eine Übersicht über die Heimat¬
dichtung, Erörterungen über brennende
politische und wirtschaftliche Fragen, Schil¬
derungen einzelner Landschaften, Berichte aus
der praktischen Arbeit für daS deutsche VoW-
tum und anderes mehr. Auch der rcichsdeutsche
Leser wird Gewinn von der Lektüre haben; er
wird auf diese Weise gleich lebensvoll in die
Nöte der Deutschen im Böhmerland eingeführt,
er erfährt manche großen und kleinen Züge,
die für die dortigen Verhältnisse charakteristisch
sind. So lesen' wir z. B., daß in dem neuen
Freistaat die Bezeichnung Deutsch-Böhmen
verboten, und ihr Gebrauch mit Geldstrafen
bis 700 Kronen oder mit Arrest bis zu
14 Tagen bestraft wird. Schade, daß die Ne¬
gierung mit dem Namen nicht gleich auch die
Deutsch-Böhmen selbst ausradieren kann.
Der Durchfcchtung der Kämpfe um Einzel-
fragen dienen die Böhmerland-Flugschriften.
Es genügt, beispielsweise zwei zu nennen:
den Katechismus, der die Elemente dessen,
was der Sudetendeutsche in: Kampf um die
Selbstbehauptung wissen muß, kurz und bündig
in Frag' und Antwort zusammenfaßt, und
die Flugschrift über das Vernichtungsgesetz
gegen die deutschen Schulen. Denn
natürlich ist auch hier sofort der Kampf um die
deutsche Schule als das Rückgrat des deutschen
Volkstums entbrannt.
gekrönt.
Rücksendung von Manuskripten erfolgt nur gegen beigefügtes Rückporto.
Nachdruck sämtlicher Aufsätze ist nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlages ge
Nerven. . .
von Dr. C. n. Könnet,
NüncKeri.
Tim leiäenscKaktliLk. LucK
6er I^lebe un6 6er Politik,
welcnes uns in 6en
I^el-6 6. ^VeltKatasti-opKe,
Serbien, künrt un6 nocn-
interessante ^uksenlüsse
über 6is Lrmorckuvx 6es
Lriderzoxs?ranic peräinaock
un6 6le 6es l'tirlcell Sem»
K«x ni?»ris unä su6. Zibt.
Uhr verfolgt initwsensen-
6er Lpsnnunx 6le poli-
tiscnen IntriZen, 6is, ge¬
würfelt v. 6ör ianÄtisensn
Slavin äleximära, ^urWelt-
Kstsstropbe wurden.
Uileiiiir.: lieg. g°d. in. S.50. gell. I».Z.i!lI
Verlgg Vkilttd» KM. tem!.
erkalten Kostenlos bs-
Ieliren6e Satirist von
Ilr. ^in. MKl. Ssrim!» ni.1Soeben erschien:
Graf von ver Goltz:
Reine Senöung in Finnland
uns im Saltitum
Mit zahlreichen Vilöern u. Karten, preis gebs. SS.— !N.
Aus jeder Zeile dieses ungemein fesselnden Buches spricht
die kraftvolle Persönlichkeit eines Mannes, der als selbständiger
Feldherr den deutschen Namen und Waffenruhm im Ausland
trotz der Widerstände von allen Seiten noch ein Jahr lang nach
der Revolution hochhielt.
Seine Erfolge als Bekämpfer des Bolschewismus, als
Befreier und Organisator Finnlands trugen diesem „politischen
General" Anfang 1919 auch das Kommando im Baltikum ein,
wo er damals Deutschland vor dem Bolschewismus bewahrte.
Das Buch eines Tat- und Willensmenschen, eines aus¬
geprägten deutschen Mannes, der stets das der Sachlage ent¬
sprechende rechte Wort zum Handeln fand.
Kein Krieqsbuch üblicher Fassung, sondern eine
packende Schilderung eigenartiger Verhältnisse
und Entschlüsse, deren Tragik und Tragweite in
Deutschland noch viel zu wenig erkannt wurden.
K. 5. Koester, Verlag, Leipzig
v^r'i-^'.'v^'^^"»'^"!". ^ . ^ i .^v'.^ ^^ ^ ^?^"^^>^^"?^>, "^''^^
Deutsches Auslands-Inltitut Stuttgart
bezweckt: Erforschung des Auslanddeutschtums, Aufrechterhaltung und
Vertiefung der Beziehungen zwischen den im Auslande lebenden
Deutschen und dem Heimatland, Förderung von Auslandkenntnissen.
Die Jnstitutszeitschrift
Der Auslanddeuttcht
Halbmonatsschrift für Auslanddeutschtum und Auslandkunde mit eigenen Ausland¬
berichten, monatlich 64 Seiten, ist das bedeutendste Blatt für das Auslanddeutschtum
und für Export- undJm Portfirmen in allen Ländern zurAn-
knüpfung von Geschäftsverbindungen vorzüglich geeignet.
Zeitschriftenrethen kulturhistorischer und Staats- oder rechtswissen¬
schaftlicher Abhandlungen dienen der Förderung des Auslanddeutschtums.
Die Auskunft- und.U-rmiMmtgssteU- unterstützt mit Rat und Tat alle Auslanddeutschen.
Die AuswandorerberlrtungssteUe hilft mit Beratung,
Literaturnachweisen und Empfehlungen Auswanderungslustigen.
Die KtellenvermittlttNg schafft Auslanddeutschen im
Inlande und Auslande Unterkommen und Beschäftigung.
Viblisthek. Zeit,»«»g»° ««»d Vevei«-««.«sive. Und., Lichtbild- »»"d
et«vt«,»trvehiV». Besonder» Göte«voy«»« ,»ut Gft«sie«»«rk»teil»»«»S^
Wem Deutschlands Weltgeltung am Herzen liegt, der erwerbe die Mitgliedschaft.
Geschäftsstelle: Stuttgart, Neues Schloß.
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^ ^eitsclirikt tur LleKtrotecKniK unä NascKmendau
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polzfReeKniseKs >Anm«IscKsu
InKaltreieKes ?acdblatt mit -aklreicken ^ddiläungen
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preis viertelMrlicK N. 6.—, ^uslanä Vsluta/usLklal»
Verianxen 8is Prospekte von
^. ivlOLZLii Luc«et^^ii)i.u^c:
Innsder Viti/ öraoästetter un6 or. Kurt 8äuberliod
Vesenäktsst. vresänsr 8er I l/13 I^LIk'^K^ ?ernsprecner Ur. I440I/3
1"eleZrsmm-^är. Imprimatur / ?ostsLneoKKonto I^eip^ix 63 673
WlM^s^^s^SW^^lW^^^l^SW^l^^^l^^^s^lGWM^
Dets Vindel der ILoHbigst^eHteHA
ist die evangelisch-nationale Tageszeitung
^,5^eiehsl»ste^ gegründet 1373 von Heinrich Engel.
Sofort nach dem S, November ISIS, dem tiefsten Schmachtage der deutschen Geschichte, an dem die
vielgepriesene deutsche Treue zusammenbrach wie ein Kartenhaus, trat der „ReichSlwtc" als erstex
religiösen Erneuerung deS tief gcdcmiitigtcn deutschen Volkes d c alleinige Hilfe, in der christlichen
Weltanschauung die allein mögliche Grundlage für einen Wiederaufbau des deutschen Volles.
Detz» „Reietzsbste", Hauptschriftleiter: or. Friedrich Rohrs,
erscheint wöchentlich Is mal. Der Reichsvote" hat folgende Beilagen: Sonntagsblatt (wissenschaft¬
liche Aufsätze, Schriftleircr: Or, Karl Ruhkopf», Kirche und Schule cSchrlf>leider: Super¬
intendent or. Bronisch): UnterhaltunaSblatt (Romane, Novellen, wissenschaftliche und unter¬
haltende Aufsätze, Rätsel- und Schachecke, Schriftleiter- Richard George.
De* „Rei-tzsbste"
bietet alles, was zu einer großen Tageszeitung gehört: Leitartikel, politische TageSüversicht,
Original-Korrespondenzen, Berichte über Theater, Musik, Kunst, Provinztal- und Berliner Lokal-
nachrichten, Wetterberichte, Börsen-, Produkten- und Marktberichte.
„Reietzsbste"
kostet vierteljährlich nur Mi., monatlich nur S,»» Mi. G» ist „»lebt^ »j,
billisst« d«« i,» V«red,» «rsch«i,»«>»»«>» ««dis,»«l«,» S«nu,»g«,». o^.
Sendung von Probenummern erfolgt bei Bezugnahme auf diese Anzeige kostenfrei.
Dey Verlas des „Reichsbsten" G.HHI.k».H.
V-vel« S4V 11, Dsss«et-v Stv«dz» S6/S7.A
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fruhürucke
Koi^Onittbücher
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Reihen wissenschaMcher Teil¬
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Kationen, auch tiunswiätter
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on 6en Vorgängen in 6er Volkswirt.
scZisft, nomentlick im Aktien-, KanK»
un6 Körsenwesen interessiert ist,
virä grünälick informiert 6urcl> 6en
Kritiscne ^eitsckritt für VolKsvirtseKott
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6es t-lerousgebers bürgt für Unsd-
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vlertelitinrlicn 20 r4ort. Verlangen
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Jo°/a IIIi- Sif iiollM ^.Iltiso
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äsr ?iielIvi'l«LSllnz! «le»'
V^Lstlnc? IZsnK,
In I't'anKkllrt ». Ki.: tsi
<lor vo„t!it!l,>!l, MSoltt-n«
null Woo!ise!t>l>nie vorm-
^. in-im, unÄ toi
>Jor I^liclloi'lllKsuliIi «lor
D» L«lIner lZanli,
in Wien: Iioi 6or in. >l-
prlv. ösiterrLietilsciieN
are-litsn^t-lit jür »c>n»
L prillt, (Ihr »0, oiitowi-ISW,
Koi' VnrstAn^l. Ililgsr.
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„IZ. »in Aittss«, 6er eio«
interessÄNt^ Zo^ialisisl'Alls^
rekorni im Zinne clef E»--
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»krIsg«!Hkrli8i,8«Zlii>'
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denen man sprich?.
Verlangen Sie kosten!, Prospekte »
Urrl-g Aur-rii (Kurt M«M
Wetnböhla Dresden- ^
ir feierten in helleren Zeiten die Gedenktage, die als geschichtliche
Marksteine den Aufstieg der Nation abzeichnen. Wir sollten auch
heute und gerade heute solcher Tage gedenken, um aus der Erinnerung
an die Taten der Väter frischen Lebensmut in drückender Zeit zu
schöpfen. Wir sollen aber auch der dunklen Tage eingedenk sein,
der Tage der Schande, in denen unser Zusammenbruch sich ausprägt. An ihrem
Gedächtnis soll sich die Leidenschaft entzünden, die einem Volk die Schwingen gibt,
um sich aus Verfall und Zerrüttung wieder auf die Höhen zu heben, in denen allein
sich große Geschichte abspielt.
Im Schicksal unserer Grenzländer spiegelt sich unser nationales Unheil wieder,
in ihren Schicksalstagen besiegelt sich das Geschick des ganzen deutschen Volkes.
Ein solcher schwärzer Tag ist der 22. November, der Tag, an dem der Überwinder
in das deutsche Straßburg einzog, als auf Erwins Münsterturm die Trikolore aufstieg,
als dem Frieden der 14 Punkte der sogenannten Gerechtigkeit zunächst einmal der
Raub unzweifelhaft deutschen Landes vorweggenommen wurde. Dieses Tages sollen
wir in Trauer und Zorn gedenken, solange es in unserem geknechteten Volke Noch
einen Funken von Stolz und Würde, einen Hauch von nationaler Selbstachtung gibt.
Der 22. November ist ein Tag der Besinnung. Er richtet an uns die Frage:
wie kommt es, daß dieser Tag immerhin für eine ganze Zahl deutscher Volks¬
genossen ein Tag des Freudenrausches war? War es nur der Wankelmut des
Grenzlünders, der Eisässern und Lothringern eine Beglückung durch Ludwig des
Vierzehnten Nachfahren vorgaukelte? War es die ewig deutsche Selbstentzweiung,
die sich hier so grundhäßlich auswirkte? Oder war es im Grunde deutsche Treue,
die den Elsässer und Lothringer ein halbes Jahrhundert an die langgewohnte
wer« Mris gefesselt hatte, eine merkwürdig perverse Treue, die sich gegen die Stimme
des Blutes auflehnte, aber eben doch aus deutscher Wesensart kam? Oder war es
wirklich nur eine Kette von Vehandlungsfehlern, durch die wir die Sympathien des
Reichslandes verfehlt oder verscharrt hatten?
Wer durch persönliche Erfahrungen die Verhältnisse in Elsaß-Lothringen
wirklich kennt, der weiß, daß sie außerordentlich verwickelt liegen. Die Hervor-
kehrung eines der angezogenen Momente, wie wir sie aus agitatorischen Kämpfen
kennen, gibt mit Notwendigkeit ein schiefes Bild. Es wird unseren Lesern noch er¬
innerlich sein, wie wir im Oktober 1917 unter den Hoffnungen auf eine deutsche
Selbstbehauptung die Leistungen unserer deutschen Kulturpioniere im Reichsland
überprüften und die mannigfachen psychologischen Verfehlungen, die wir offen zu¬
gestanden, auf ihre Wurzeln zurückzuführen suchten. Wir halten es auch heute noch
für ein Zeichen ruhiger deutscher Sachlichkeit, daß wir inmitten der tobenden Kriegs¬
leidenschaften solche Betrachtungen anstellten. Heute, wo sich viele der damals schon
erkannten Fehler noch viel fürchterlicher gerächt haben, als wir voraussehen konnten,
erleben wir bereits die Genugtuung, den französischen Einwanderer in Elsaß-
Lothringen alles in vergrößertem Maßstabe wiederholen zu sehen. So schwer die
Leidensschule für unsere Volksgenossen dort drüben ist: für die Stärkung ihrer
nationalen Solidarität mit dem Muttervolk hat sie ihr Gutes. Genau wie unsere
Behandlungsfehler den Blick der ewig Schwankenden nach Westen, so lenkt das, was
heute in Elsaß-Lothringen vor sich geht, ihr Gesicht nach dem Mutterland/) Und
hier liegt unsere Überlegenheit. Frankreich ist als aufsteigender revolutionär demo¬
kratischer Machtstaat dem Empfinden der elsässischen und lothringischen Bourgeoisie
zum Vaterland geworden. Übrigens ist es sehr beachtenswert, daß auch wir den Elsaß-
Lothringern und besonders der Jugend des Landes noch als siegreich aufsteigender
Machtstaat vor Augen stehen. Während bei uns der Stolz auf die deutsche Leistung
im Krieg durch die pazifistische Maffenagitation der Linken verdunkelt und die
Führung des Krieges in den Schmutz gezogen wird, singen elsässische Rekruten, die
in französische Kasernen eingezogen werden, beim Abmarsch noch immer: „Dem Kaiser
Wilhelm haben wir's geschworen!" Der Elsässer hat, was man im Reich immer ver¬
kannt hat, sehr ausgeprägte staatliche und militärische Instinkte. Die eigentliche Ein¬
verleibung in das französische Reich hat nicht die Verwaltung Ludwigs XIV.,
sondern der volkstümliche Militarismus von Napoleon vollbracht. Mutterland aber
hat Frankreich den beiden Grenzprovinzen nie werden können, weil eine tiefere
Kulturgemeinschaft nie bestanden hat. Nur wir können nach wie vor dem Elsaß
Mutterland sein. Das wissen die Franzosen: deshalb sperren sie das Land auch
mit einer chinesischen Mauer gegen uns ab. Die tieferen Zusammenhänge freilich
durchschauen sie nicht, weil ihnen das Verständnis für eine fremde Kultur, das wir
in überreichen Maße haben, von Grund auf fehlt. Was uns mit dem Elsaß ver¬
bindet, ist die Kulturgemeinschaft der ausklingenden Gothik, die wir in Goethes
Straßburger Eindrücken und in deren Niederschlägen im Faust noch voll lebendig
finden. Kurz darauf kam die Revolution und damit die seelische Eroberung des
Landes durch französische Staatlichkeit. Damals wurde das Fundament zu jener
chinesischen Mauer gelegt. Das deutsche Bürgertum ging den kulturellen Weg nach
Weimar, den Elsaß und Lothringen, die noch den deutschen Humanismus innerlich
erlebt hatten, nicht mehr mitgingen. Die elsaß-lothringische Bourgeoisie begann
damals sozial aufzusteigen, aber kulturell zu versumpfen. Während uns das Kultur-
erlebnis von Weimar und Jena beispielsweise mit den Deutschbalten unmittelbar
verbindet, trennte es uns auch nach 1871 seelisch von der elsaß-lothringischen Ober¬
schicht. Bemerkenswerterweise sind es heute die unteren Schichten der Bevölkerung,
die den Segen der Vismarckschen Sozialrcform am eigenen Leibe erfahren haben,
die nun am leidenschaftlichsten um das deutsche Theater im bürgerlich verwelschten
Mülhausen kämpfen. Die Bourgeoisie lehnte unsere neudeutsche Kultur und ihren
Exponenten, das deutsche Gymnasium, innerlich ab und schickte ihre Söhne und
Töchter vielfach auf französische Schulen. Das elsaß-lothringische Gymnasium war
deutsch durch die nunmehr vertriebene altdeutsche Lehrerschaft, bei der Universität lag
es ähnlich. Die Volksschule ist deutsch aus den tieferen Instinkten ihrer stammes¬
gebundenen Lehrerschaft heraus. Daher der Ausrottungskampf, den Frankreich an
diesem Punkte ansetzt. Der wirtschaftlichen Ungleichung der Bourgeoisie stand die
Überlegenheit der deutschen Wirtschaft entgegen, die einen reaktionären Konkurrenz¬
neid des einheimischen Elements wachrief. Politisch wurde die Ungleichung durch
eine Maßnahme verfehlt, die wir an anderer Stelle zu wiederholen im Begriffe sind:
durch die provinzielle Abkapselung in einer noch dazu tropfenweise gereichten
Autonomie. Die sofortige Einpreußung nach 1871, der schon damals die Eifersucht
der lieben Bundesstaaten entgegenstand, hätte den Elsaß-Lothringern die Aufstiegs¬
möglichkeiten im französischen Einheitsstaat vielleicht ersetzen können. Das Schächern
dieser Bundesstaaten um elsaß-lothringische Gebietsteile über den Kopf der Be¬
völkerung hinweg, wie wir es als widerwärtigste Erscheinung unserer inneren Politik
während des Weltkrieges erleben mußten, verscherzte dem Reich die letzten Sym¬
pathien. Nachdem nun auch noch das machtpolitische Band zerrissen ist, werden
wir alle Hoffnungen auf die elsaß-lothringische Bourgeoisie fahren lassen müssen.
Wir werden überhaupt auf unmittelbare staatspolitische Einwirkung verzichten
müssen. Der politische Kampf um Autonomierechte, den Elsaß-Lothringen heute
mit veränderter Frontrichtung führt, ist eine innere Angelegenheit des Landes. Die
Träger dieses Kampfes, die mit Iren und Indern in eine Linie rücken, haben vom
gebrochenen Deutschen Reich nichts zu hoffen und nichts zu fürchten. Wahrscheinlich
wird Herr Simons nächstens auch dem französischen Gesandten gern bescheinigen, wie
Wohl sich die Elsässer und Lothringer, nun sie dem ^'oux a1Isw.-z.mal entronnnen sind,
unter den Strahlen der Pariser Sonne fühlen. Daß ein Bittgesuch an den Völker¬
bund unbeantwortet in den Genfer Kanzleien ruht, wird er dabei höflicherweise nicht
erwähnen. Davon braucht die Wilhelmstraße in der Tat nichts zu wissen: weder
ihre rechte noch ihre linke Hand ist daran mitschuldig. Gott erhalte ihr ihre reine
Weste!
Das deutsche Volk hat andere Ausgaben und andere Pflichten. Es hat
die Aufgabe, all seinen abgetretenen und verstvszenen und selbst den davon-
gelaufenen Volksgenossen Mutterland zu sein. Hier und nur hier ist es unersetzlich.
Es soll sich darauf besinnen, wieviel seines kulturellen Erbes bürgerlicher Klassen¬
besitz ist. Es hat die Pflicht, den eigenen Kulturdualismus, ein uweliges Geschenk
seiner Geschichte, von innen heraus zu überwinden. Frankreich erstarit als
wachtpolitischer Obrigkeitsstaat, der gegen die elsässiichen und lothringischen Volks-
wsiinkte mit Feuer und Sckwert wi'net. Seine Zivilisation ist bourgeoise
Obrigkeitszivilisation par orcire cle Nufti. Wir sollen unsere eigene Oberschichten¬
kultur erweichen, die kulturellen Kräfte des Volkes lösen und uns zu einer
nat-oralen korporativ unterhandelt Gesamtkultur durchringen, die aus der bunten
Vielfalt deutscher Stnmmescharaktere lebendige schöpferische Kräfte entbindet. Wir
sollen uns von der kulturellen Vormundschaft des Staates befreien. Was soll
dies gebrochene Reich, das seine zerrüttete Verwaltung aus kleinsten Zellen neu¬
erbauen muß, jener Hälfte unserer Nation, die in fremder Staatlichkeit gebunden ist?
Dies Reich wird noch auf lange hin an innerer Werbekraft einbüßen. Die An-
ziehungs- und Bindekraft der Nation aber wird wachsen, je mehr sie büreaukratische
Fesseln abstreift und inneres stammlich freies Leben gewinnt.
In Elsaß-Lothringen wohnen Alemannen und Franken. staatlich-neudeutsch
sind das versunkene geschichtlich gewordene Gestalten. In ihren Dialekten, in
ihren Sitten, in der Sprache ihres Blutes sind sie noch immer lebendig. Aus
diesen Kräften müssen wir Kultur und kulturellen Lebenslvillen holen. Das Blut
des deutschen Volks, das im Dienste des Reiches sieglos vergossen wurde, muß
wieder zu reden beginnen. Auf diese Stimme wird deutsches Volkes aufhorchen,
wohin immer es durch politische Schicksale verschlagen ist. Vo^k muß wieder Leib
werden. Leib ist Wille. Und Wille ist Zukunft.
Glaube an die Bindekraft von Bolksrum und Sprache: darin liegt heute
mehr als je die elsaß-lothringische Lehre beschlossen.
Am Baum der Menschheit drängt sich Blut' an Blüte,
Nach co'gen Regeln wiegen sie sich drauf,
Wenn hier die eine matt und welk verglühte.
Springt dort die andre voll und Prächtig auf.
Ein ewig Kommen und ein ewig Gehen,
Und nie und nimmer träger Stillestand!
Wir seh'n sie auf-, wir seh'n sie niederwehen
Und j<'de Blüte ist ein Volk, ein Land!
Wir seh'n sie auf-, wir sed'n sie niedcrwehcn
Und ihre Lose rud'n in Gottes Hand!
^it diesen Worten beginnt und schließt Ferdinand Freiligratlj im
Jahre 1844 ein Gedicht an Deutschland. Das dichterische Bild dieser
Strophe spiegelt auch das Geschick unseres Vaterlandes wieder. In»
Auf und Ab des Völkergeschehcns ist Deutschland durch den Krieg
und seine Folgen von einer bisher unerreichten politischen und wirt¬
schaftlichen Höhe herabgestürzt und auf einem Tiefstand angekommen, den noch vor
wenigen Jahren niemand im In- und Auslande für möglich gehalten hätte. ES
ist hier nicht der Ort, die politischen, persönlichen, wirtschaftlichen und sozialen
Gründe zu erörtern, die an diesem Zusammenbruch die Schuld tragen. Im gegen¬
wärtigen Augenblick handelt es sich darum, diesen Zusammenbruch als gegeben anzu¬
erkennen und Klarheit darüber zu gewinnen, was ist. Nüchterne Betrachtung der
eigenen Lage ist die erste Vorbedingung zum Wiederaufstieg.
Politik und Wirtschaft lassen sich nie ganz, trennen. Die Faktoren, welche
beide bestimmen, bedingen und durchdringen sich gegenseitig. So haben auch in
frühere^ Kriegen wirtschaftliche Momente sowohl bei ihrem Ursprung mitgewirkt
wie auf den Ausgang Einfluß gewonnen. Der Krieg aber, der jetzt hinter uns liegt,
und dessen ein Ergebnis ein Frieden ist, den man mit Cl6menceau, dem
früheren Ministerpräsidenten der französischen Republik, als „eine Fortsetzung des
Krieges mit anderen Mitteln" bezeichnen kann, hat wirtschaftliche Ursachen und
Folgen wie noch kein Krieg zuvor, soweit wir die Weltgeschichte zurückverfolgen
können. i /
Bismarck hat etwa ein Menschenalter vor dem Kriege Deutschland ein
„saturiertes" Reich genannt. Das ist richtig, wenn man, wie er, die äußere Ge¬
staltung unserer europäischen Grenzen im Auge hat und mit jener Wendung sagen
will, daß Deutschland zu seiner weiteren Entwicklung keiner Kriege mehr bedürfte.
Es scheint vielleicht nicht völlig zutreffend dem, der die wirtschaftlichen Bedürfnisse
Deutschlands bedenkt, die, so unpolitisch sie an sich sein mögen, in ihren Auswirkungen
ebensowohl die deutsche Politik wie die Politik der, um den Ausdruck Rankes und
KMens zu gebrauchen, großen und Weltmächte entscheidend beeinflußten. Vor
dem Kriege hatte die deutsche Wirtschaft die Aufgabe, auf einem verhältnismäßig
kleinen europäischen Gebiet von rund 540 000 qkm eine sich um mindestens etwa
800 000 Köpfe jährlich vermehrende Bevölkerung von damals 68 Millionen aus¬
kömmlich zu ernähren. Das deutsche Wirtschaftsleben ist dieser Ausgabe gerecht
geworden. Dies war nur möglich dadurch, daß die deutsche Wirtschaft sich zur Welt¬
wirtschaft empor entwickelte, und daß andererseits die inländische Produktion,
namentlich der Landwirtschaft, unter mäßigem Schutzzoll, mit Hilfe technischer Fort¬
schritte und intensiver Bewirtschaftungsmethoden sich erheblich steigerte. Der Anteil
Deutschlands an der Weltwirtschaft wuchs in einem Maßstabe, der namentlich in
England Erstaunen und Schrecken erregte. Deutschland schlug nacheinander auf den
verschiedensten Gebieten des Handels und der Industrie, der Fabrikation, des Ex-
Ports, der Schiffahrt und Technik den englischen älteren Wettbewerb aus dem Felde.
So kam es, daß, obwohl Deutschland in weitem Maßstabe auf die Einfuhr von
Rohstoffen, Erzeugnissen der Tropen, Kolonialwaren angewiesen und seine Handels¬
bilanz infolgedessen passiv war, etwa 11,6 gegen 10,1 Milliarden Mark Wert der Ein-
und Ausfuhr/seine Zahlungsbilanz trotzdem einen Überschuß zu seinen Gunsten auf¬
wies, der als wichtiges Aktivum für die deutsche Volkswirtschaft gebucht werden
konnte. Die Aktivität der Zahlungsbilanz wurde erzielt im wesentlichen aus den
Frachtgewinnen der deutschen Reedereien für fremde Rechnung, aus den deutschen
Kapitalanlagen im Auslande und schließlich aus den Gewinnen deutscher Unter-
nehmungen und Unternehmer im Ausland. Während aber z. B. der letztere Posten,
auch in der italienischen Zahlungsbilanz eine gewisse Rolle spielend, dort sich im
wesentlichen aus den im Einzelfalle geringen Verdiensten der vorübergehend ins
Ausland abgewanderten italienischen Arbeiter zusammensetzte, war die Quelle der
deutschen Unternehmergewinne mehr der Erfolg von Einzelpersönlichkeiten, die in
besonders hoch bezahlten Stellungen oder sonst durch ihre Leistungen erhebliche Ein¬
künfte zu erzielen vermochten. Man wird den Überschuß der deutschen Forderungen
an das feindliche Ausland gegenüber dem, was Deutschland auf Grund von Im¬
porten an das Ausland schuldete, doch mit etwa 1 Milliarde Mark jährlich in Rechnung
stellen können. Dies bei einen Wert der deutschen Jahresproduktion vor dem Kriege von
etwa 40 bis 50 Milliarden Mark und bei einem Volkseinkommen, das man ungefähr
auf 45 Milliarden wird beziffern können. Unter diesen wirtschaftlichen Verhältnissen
war die Bevölkerung Teutschlands, und zwar nicht nur in gewissen bevorzugten
Schichten, sondern aufs allgemeine angesehen, in einer absolut und relativ günstigen
Lage, die zudem sich stetig besserte. Das zeigte sich vor allem in der Zunahme der
Einkommen, insbesondere der Arbeiterbevölkerung, während andererseits die Steuer¬
last, selbst wenn man nicht an die jetzigen Steuergesetze denkt, gering genannt werden
muß. Der Gcsamtbedarf an Steuern für Reich, Staat und Gemeinden belief sich
jährlich aus etwa 4!^ Milliarden Mark oder 67,85 aus den Kopf der Bevölkerung,
während z. V. ein Haushalt mit vier Personen bei einem Reichsbedarf von jährlich
30 Milliarden Mark und einer durch den Friedensvertrag zunächst vorgesehenen Be¬
lastung von 60 Milliarden Mark eine Jahressteuer von 4400 heutzutage aufzu¬
bringen haben würde. Über die Höhe des deutschen Volksvermögens vor dem Kriege
sind verschiedene Schätzungen veröffentlicht worden, die, stellenweise übertrieben,
noch jetzt den Feinden als Maßstab für ihre Erpressungen dienen, obwohl nicht nur
das Volksvcrmögen selbst durch den Krieg und die ihm folgenden Ereignisse erheblich
vermindert ist, sondern auch nahezu alle materiellen Voraussetzungen fortgefallen
sind, die bei der Wertbemessung vor dem Kriege ansprachen. Das steuerbare
schuldenfreie Vermögen, das bei der Veranlagung zum Wehrbeitrag im Jahre 1913
ermittelt worden ist, ergibt etwas über 130 Milliarden Mark. Rechnet man hierzu
das steuerfreie werbende Vermögen und das sogenannte Genußvermögen, so kann
man die Gesamtsumme des deutschen Volksvermögens vor dem Kriege auf nicht
mehr als 220 Milliarden Mark annehmen. Im großen und ganzen war sonach die
deutsche Volkswirtschaft vor dem Kriege, auf gesunder Basis ausgebaut, in blühender
Entwicklung, die durch völlige Sicherheit im Innern und unparteiische Rechtspflege,
gerechte und billige Verwaltung, ein glänzend aufgebautes Verkehrssystem auf einer
Höhe gehalten wurde, die wohl von keinem anderen Staat erreicht, anderen Völkern
ebenso vorbildlich wie ein Gegenstand des Neides war. In Deutschland vermochte
.auch der sogenannte kleine Mann sich mit einer verhältnismäßig geringen Summe
Geldes materielle und geistige Genüsse, Kulturgüter aller Art zu verschaffen, die in
anderen Ländern nur den besitzenden Klassen zugänglich waren. Der Kapitalismus,
bessen schrankenloseste Auswirkung man im Friedensvertrag von Versailles schaudernd
beobachten kann, war in Deutschland lange nicht in dem Maße Alleinherrscher, wie
in der ganzen übrigen Welt, vor allem den westlichen Staaten Europas und den
Vereinigten Staaten von Nordamerika. Es kann und soll hier unerörtert bleiben,
ob nicht gerade diese verhältnismäßige Unabhängigkeit Deutschlands gegenüber der
internationalen Kapitalistenherrschaft einer der wesentlichsten Gründe gewesen ist für
den gegen uns geführten, auch in wirtschaftlicher Hinsicht auf unsere Vernichtung
eingestellten Weltkrieg und ob nicht die deutschen Arbeiter, die im Umsturz unserer
Staats- und Gesellschaftsordnung vor allem den Kapitalismus zu bekämpfen
wähnten, gerade dessen Sieg in dem Triumph unserer Feinde gefördert und vollendet
haben: eine der tragischen Ironien so des Sozialismus wie der Weltgeschichte.
Die Folgen des Krieges lasten jetzt auf uns. Sie, und zwar ebensowohl in
ihrer außenpolitischen wie ihrer innerpolitischen Auswirkung, bestimmen die Lage
der deutschen Wirtschaft.
Sie hatte naturgemäß schon unter dein Kriege selbst schwer zu leiden. Die
Umstellung nahezu der gesamten Industrie auf die Erzeugung von Kriegsmaterial,
die Unterbindung der Rohstoff- und Lebensmitteleinfuhr durch die Hungerblockade,
der Ersatz aller im Felde stehenden kräftigen Arbeiter durch ungeübte weibliche und
männliche Arbeitskräfte, die Verwendung der flüssigen Mittel für die Zwecke des
Krieges, die mangelhafte Bestellung, Düngung und Urbarmachung der landwirtschaft¬
lich genutzten Flächen: alles das mußte naturgemäß das Wirtschaftsleben Deutsch--
lands nachhaltig verändern und beeinflussen. Dann kamen gleichzeitig die innere
Umwälzung, die Revolution und die Waffenstillstandsbedingungen, die nicht, wie
es sonst bei Waffenstillständen zu sein pflegt, ausschließlich oder wenigstens vor¬
wiegend militärischen Charakter hatten, sondern die bereits die wirtschaftliche Ver¬
nichtung Deutschlands einzuleiten bestimmt waren. Schon die durch den Waffenstill¬
stand erzwungene Demobilisierung innerhalb kürzester Frist anstatt des dafür vor¬
gesehenen langsamen Abbaues mußte den deutschen Arbeitsmarkt aufs schwerste er¬
schüttern, weil hierdurch alle vorbereiteten Ubergangsmaßnahmen nahezu gegen¬
standslos gemacht wurden. Außerdem gingen bei der überhasteten erzwungenen
Räumung der besetzten Gebiete dort aufgestapelte Vorräte und Rohstoffe im Wert
von vielen Milliarden der deutschen Volkswirtschaft verloren, die andererseits bei
einer langsamen Umstellung auf die Friedenswirtschaft dieser zugute gekommen
wären. Aber gegenüber diesen mehr mittelbaren Schädigungen der deutschen Volks¬
wirtschaft muß vor allem hervorgehoben werden die Abgabe von 5000 Lokomotiven
und 150 000 Eisenbahnwagen, durch die auf Jahre hinaus das deutsche Verkehrs¬
wesen aufs schwerste beeinträchtigt und geschädigt wird. Infolge der Ablieferung
dieses, übrigens zum großen Teile aus technischen Gründen für Frankreich und
Belgien gar nicht verwendbaren Eisenbahnmaterials im Verein mit der Notwendigkeit
der Zurückbeförderung unserer Truppen traten naturgemäß Verkehrserschwerungen
und Stockungen ein, die mit der fortdauernden Blockade die Lebensmittelversorgung
und die Wiederentwicklung von Handel und Industrie aufs schwerste beeinträchtigten.
Dabei kann selbstverständlich nicht unerwähnt bleiben, daß auch die inneren Wirren
jeden geordneten Neuaufbau unseres Wirtschaftslebens zunächst nahezu unmöglich
machten. Die Weiterführung der Blockade auch nach Niederlegung der Waffen und ihre
Ausdehnung sogar auf das Ostseegebiet hat bekanntlich die deutschen Lebensmittelnöte
ebenso verschärft wie den Mangel an Rohstoffen und sonstigen für den Aufbau des
Wirtschaftslebens notwendigen Produkten. Die Möglichkeit, letztere nach Auf¬
hebung der Blockade zu verhältnismäßig billigen Frachten einzuführen, wurde unter¬
bunden, als unter dem Vorwand der Gestellung von Schiffsraum zur Heranführung
von Lebensmitteln Deutschland als Folge der Brüsseler Verhandlungen vom 13. und
14. März 1919 den größten Teil seiner Handelsflotte den Feinden ausliefern mußte.
Hierdurch wurden ferner etwa 50 000 deutsche Seeleute brotlos, die nun ebenso den
radikalen Strömungen haltlos preisgegeben waren, wie sie andererseits der Arbeits¬
losenunterstützung anheimfielen und auch dadurch die öffentlichen Mittel für sich in
Anspruch nahmen. Daß trotz diesen von Deutschland gebrachten Opfern der damit
verfolgte Zweck, die feindlichen Staaten zur Lieferung von Lebensmitteln zu veran¬
lassen, nur in verschwindenden Maße erreicht ist, darf als bekannt vorausgesetzt
werden. Die Deutschland erteilte Erlaubnis, bei den Neutralen Lebmsmittelkredite
aufzunehmen, wurde in ihrem Wert beeinträchtigt durch das schnelle Sinken der
deutschen Währung. So mußte Deutschland seinen Goldbestand, die fremden
Devisen und ausländischen Effekten heranziehen, um auch nur die notwendigste Ein¬
fuhr zu finanzieren. Als diese Quellen nicht mehr flössen, blieb nur noch der
Export der Marknote ins neutrale Ausland übrig, der wiederum ein weiteres Fallen
der deutschen Währung zur Folge hatte. Daß alle diese Notstände ein Anschwellen
des Notenumlaufes im Inland zur Folge haben mußten, ergibt sich aus der Natur
der Sache. Während noch zu Anfang 1919 der Notenumlauf 22 137,8 Millionen
Mark betragen hatte, steigt er im Laufe des Jahres auf insgesamt 35 698,4 Millionen
Mark. Diesen Beträgen ist noch ein Umlauf an Darlehnskassenscheinen in Höhe von
13 731,2 Millionen am 31. Dezember 1919 hinzuzurechnen. In der gleichen Zeit
fiel die Golddeckung der Noten von 10,2 ?s auf 3,1 ^. Die Neichsbank hat damals
allein zum Ankauf von Lebensmitteln etwa 1 Milliarde in Gold abgeben müssen,
so daß sich ihr Goldbestand auf 1089,5 Millionen Mark verminderte. In welcher
Weise die politischen und wirtschaftlichen Ereignisse von unmittelbarem Einfluß auf
unsere nicht nur, sondern auf die gesamten europäischen Währungsverhältnisse waren,
zeigt am besten eine Entwicklungsquote der europäischen Wechselkurse, verglichen
mit der Goldparität des nordamerikanischen Dollars. Hierbei ergibt sich, daß der
Zeitpunkt des Waffenstillstands, des Brüsseler Abkommens von Mitte März 1919,
der Unterzeichnung des Friedens von Versailles am 23. Juni 1919, sowie des
Friedensschlusses im Januar 1920 die europäischen Wechselkurse, vor allem aber den
Stand der deutschen Reichsmark, in unheilvoller Weise beeinflußt hat. Nimmt man
hierzu nun noch die fehlende Überwachung der Zollgrenzen im Westen, die jede
wirksame Kontrolle des Waren- und Geldverkehrs an den Grenzen des besetzten
Gebietes vereitelte, ferner die damalige Weigerung unserer Feinde, die Erhebung
unserer Zölle in Gold anzuerkennen, so ergibt sich, daß ein zahlenmäßig allerdings
kaum darzustellender Einfuhrüberschuß, da allein im Sommer und Herbst 1919 für
etwa 17 Milliarden Mark entbehrliche Waren, vor allem englische Zigaretten und
französische Luxusartikel eingeführt sind, die Entwertung der deutschen Mark und
damit die Zerrüttung eines der wesentlichsten Faktoren unseres Wirtschaftslebens in
unheilvollster Weise verstärkt hat.
Derartig geschwächt war die deutsche Wirtschaftskrast bereits, als der Frieden
von Versailles am 10. Januar 1920 durch unsere Hauptgegner ratifiziert wurde.
Er vollendete unsere wirtschaftliche Zerrüttung durch Zerstörung nahezu aller Vor¬
aussetzungen, die für einen Wiederaufbau des deutschen Wirtschaftslebens unerlä߬
lich sind. Dies zeigt sich zunächst in seinem Einfluß auf die deutschen Grenzen und
die deutsche Bevölkerung. Von Deutschland wurden abgetrennt mit Elsaß-
Lothringen sowie Teilen von Ostpreußen, Westpreußen (YH der Provinz), Posen
C/i« der Provinz) und Schlesien 64 682 czkm mit etwa 6 Millionen Personen,
d. h. 7,5 ?S der Gesamtbevölkerung innerhalb der alten Reichsgrenzen. Hierzu
kommen aus den Abstimmungsgebieten zunächst 4889 qkm mit etwa 200 000 Per¬
sonen, die in Schleswig-Holstein und Eupen-Malmedy inzwischen bereits ab¬
getrennt sind, während das Saargebiet mit nahezu 700 000 und Oberschlesieir
mit etwas über 2 Millionen Bewohnern zwar die Abstimmung noch nicht voll¬
zogen haben, aber bis zur vollzogenen Abstimmung — dies gilt namentlich
für das Saargebiet — vermöge der Zerreißung der verwaltungstechnischen
und wirtschaftlichen Zusammenhänge mit Deutschland für das deutsche Wirt¬
schaftsgebiet zum großen Teil verloren sind. Das gleiche wird man, wenn auch
in etwas geringerem Maßstabe, annehmen müssen von der Bevölkerung des besetzten
Gebietes, das ohne Saargebiet und Eupen-Malmedy über 6 Millionen Bewohner
zählt. Im ganzen würde ohne Berücksichtigung der besetzten Gebiete im schlimmsten
Falle auf eine Minderung der Bevölkerung Deutschlands infolge des Friedens¬
vertrags um etwa 12 bis 13 ?Z zu rechnen sein. Dazu treten dann die eigentlichen
Kriegsverluste. Sie erreichen an Toten und Vermißten bekanntlich die Zahl von
2 Millionen, während man etwa 1^ Millionen Kriegsbeschädigte zählt, die nicht
oder nur teilweise erwerbsfähig sind. Dabei verdient hervorgehoben zu werden, ein-
mal, daß die Abnahme der Bevölkerung im Verhältnis dem Verlust an Reichs¬
gebiet nicht entspricht, so daß auch ohne Hinzurechnung der zahlreichen Deutschen,
die aus fremden, insbesondere feindlichen Ländern nach Aufhebung der Blockade
zurückgekehrt sind, der deutsche Boden selbst unter ähnlichen Produktionsverhältnissen
wie vor dem Kriege eine verhältnismäßig größere Bevölkerung zu ernähren haben
wird. Ferner muß erwähnt werden, daß die städtische Bevölkerung trotz der be¬
sonders ungünstigen Verhältnisse in den Städten noch zugenommen hat. Fast ein
Drittel der deutschen Bevölkerung ist in Städten von mehr als 50 000 Einwohnern
konzentriert. Daß die Wohnungs- und Ernährungsverhältnisse dieser Bevölkerung
ungemein ungünstig sind, darf als bekannt vorausgesetzt werden. Die Wohnungsnot
findet in dieser Vermehrung sowie in dem Stocken der Bautätigkeit ihre Begründung,
das den vor dem Kriege auf etwa 200 000 Wohnungen jährlich zu bemessenden Zu¬
gang an Wohnraum unterbunden hat. Dank der völligen Auspowerung Deutsch¬
lands infolge der Hungerblockade, sowie der hiermit und mit den zerrütteten inneren
Verhältnissen zusammenhängenden Verminderung der landwirtschaftlichen Pro¬
duktionsfähigkeit ist die Ernährungsmöglichkeit dieser deutschen Bevölkerung, nament¬
lich in den Städten, die denkbar schlechteste. Trotz der Erhöhung der Löhne — die
ganze Revolution hat sich vorwiegend in eine Lohnbewegung umgewandelt —, läßt
die Kaufkraft der großen Massen einschließlich des völliger wirtschaftlicher Ver¬
nichtung und Proletarisierung anheimgefallenen Mittelstandes von Tag zu Tag
nach. Der zur ausreichenden Ernährung eines erwachsenen Menschen nötige Satz
von etwa 3000 Wärmeeinheiten (Kalorien) wird in Großstädten nur noch zur Hälfte
erreicht. Dagegen sind die Kosten des täglichen Ernährungsbedarfs eines er¬
wachsenen Mannes von 6 im Januar 1919 bis auf 10 ^ im März 1920 ge¬
stiegen. Sie sind im Mai und Juni 1920 noch weiter gewachsen und der geringe
Rückgang im Hochsommer war nur vorübergehend, wie leider inzwischen die Er¬
fahrung gelehrt hat. Ebenso bewegen sich die Kosten für den übrigen Lebensunter¬
halt, z. B. Kleidung, Beleuchtung, Heizung, dauernd auf steigender Kurve. Das
Existenzminimum, fordert zu seiner Erreichung stetig höhere Aufwendungen. Der
Verlust von 2 Millionen im kräftigsten Mannesalter stehender Deutschen hat auch im
Altersaufbau der Bevölkerung eine erhebliche Veränderung mit sich gebracht. Hier¬
durch, durch die allgemein verbreitete Unterernährung und schließlich durch die
politischen Wirren dieser Zeit in ihren, wechselseitigen Bedingtsein ist die Leistungs-
Fähigkeit und Willensenergie, die Moral und das Verantwortlichkeitsgefühl in allen
Schichten der Bevölkerung, vor allem in den arbeitenden Klassen, erheblich gesunken.
Schon gegen den Ausgang des Krieges wurde der Rückgang der Leistungsfähigkeit
der Arbeiter auf etwa ein Drittel der normalen Arbeitsleistung berechnet. Bekannt ist
der Rückgang insbesondere in den Werkstätten der vormals preußischen Staatsbahnen,
wo ini Vergleich zum Frieden bei der doppelten Zahl von Arbeitern die Leistungen
eher gesunken sind. Dazu kommt die auch beim besten Willen durch den Krieg ein¬
getretene Verminderung der Qualitätsarbeit infolge der langjährigen Unterbrechung
und der Mangel an sachgemäßer Vor- und Ausbildung. Während sich der erstere Übel-
Hand hauptsächlich bei den Arbeitern bemerkbar gemacht hat, die durch den Krieg
Jahre hindurch ihrer bisherigen Arbeit entzogen waren und dadurch ihre Übung und
'Geschicklichkeit einbüßten, sind die jüngsten Jahrgänge der Arbeiter infolge des Kriegs¬
dienstes oder der Arbeit in den Munitionsfabriken ohne eigentliche gewerbliche Er¬
ziehung geblieben. Daß auch das seelische Gleichgewicht nahezu aller Kreise der
Bevölkerung in unheilvollster Weise gestört ist, kann jeder täglich beobachten. Als
Folge dieser physischen und psychischen Erscheinungen ergibt sich ein für das Wirt¬
schaftsleben verhängnisvolles Nachlassen der Produktion. Sind diese Erscheinungen
bei der arbeitenden Bevölkerung und den Mittelklassen allgemein, so lähmt in der
besitzenden Schicht, die stellenweise die materiellen Unbilden der Kriegszeit nicht
zu hart empfunden hat, die Unsicherheit ihrer Existenzbedingungen infolge deS
äußeren und inneren Zusammenbruchs, sowie die dauernde und immer schärfer in
Erscheinung tretende Konfiskation des Kapitals, die drohende Sozialisierung großer
Produktionsgebiete, den Unternehmungsgeist, der im Zusammenwirken mit der
Leistung der Arbeiterschaft die frühere Quantität und Qualität der deutschen Pro¬
duktion erst ermöglichte. Dazu kommt das fortschreitende Elend in den Kreisen der
Geistesarbeiter, des Offizier- und Beamtenstandcs. Man darf, ohne ungerecht zu
sein, sagen, daß diese Schichten durch den Krieg in sozialer und geistiger wie wirt¬
schaftlicher Beziehung vielleicht am meisten gelitten haben. Aus ihrer führenden
gesellschaftlichen und sozialen Stellung gedrängt, den unmittelbaren Nöten des
Lebens ohne den Rückhalt gewerkschaftlicher Organisationen mehr als die Arbeiter
preisgegeben, unzureichend bezahlt, schlecht behandelt, in ihren vaterländischen
Empfindungen aufs tiefste' verletzt, fühlen sie die materielle und moralische wie
nationale und wirtschaftliche Not unseres Vaterlandes am eigenen Leibe mehr als
jene Schichten der Bevölkerung, die sich einreden ließen, daß die Revolution ihnen
die Befreiung aus der Knechtschaft gebracht habe. Da aus jenen Schichten der
Bildung und des Besitzes zum großen Teil sich die Führer des Volkes auf allen
Gebieten rekrutierten, ist das Herabsinken eines Teiles dieser Elemente ins Prole¬
tariat eine besonders schwere Gefahr für die deutsche Kultur, das deutsche Geistes¬
leben und nicht in letzter Linie die deutsche Wirtschaft. Nimmt man hierzu die Auf¬
hebung der allgemeinen Wehrpflicht, die unter den Gründen für Deutschlands wirt¬
schaftliche Entwicklung infolge der Disziplinierung der Massen nicht die letzte Stell»
einnimmt, nimmt man weiter den Versuch, auch die Schulen zu politisieren und,
ebenso wie die Universitäten, in ihren Leistungen herunterzuschrauben, so wird man
die Gefahren, die dem deutschen Wirtschaftsleben weniger aus der quantitativen
Verminderung wie aus der qualitativen Verschlechterung der deutschen Bevölkerung
«erwachsen, kaum hoch genug anschlagen dürfen. Dazu kommen d i e seelischen Er-
scheinungen, die unmittelbar durch den Friedensvertrag und seine Wirkungen bedingt
werden. Gerade in den Kreisen der Bevölkerung, bei denen Vaterlandsliebe,
nationales Bewußtsein und Staatsgesinnung bestimmend wirkt, müssen die Be¬
dingungen des Friedensvertrages den seelischen Druck verstärken, der bereits durch
die innere Entwicklung Deutschlands bedingt ist. Die geflissentliche Achtung der
Deutschen im Auslande, die Einkleidung des Friedensvertrages in die Form eines
Strafurteils, die Nichtachtung selbst der wenigen in diesem Friedensvertrag dem
deutschen Partner noch zuerkannten Rechte, wie überhaupt die Beiseiteschiebung der
«is Grundbedingung der ganzen Vertragshandlungen auch von unseren Gegnern
zunächst anerkannten 14 Punkte Wilsons: Das alles muß die physische und psychische
Energie gerade der besten Deutschen lahmen. Je mehr die Kenntnis des Friedens-
vertrages von Versailles sich verbreitet — und die weiteste Verbreitung wäre
diesem Dokument des Hasses und der Schande zu wünschen —, um so
tiefer muß die Verzweiflung sein, die sich gerade der schaffenden Stände
Deutschlands bemächtigt. Wer den Geist des Friedensvertrages kennt, weiß,
daß wir dank ihm dauernd in der Hand unserer Feinde sind, stets von
Zwangsmaßnahmen militärischer und wirtschaftlicher Art bedroht und genötigt,
selbst die kärglichsten Früchte eines etwaigen zukünftigen Aufschwunges den
Feinden zur Wiedergutmachung auszuliefern, so zu dauerndem wirtschaftlichen
Siechtum verurteilt. Daß diese Beschreibung nicht zu schwarz sieht, bezeugt das
bekannte Buch von John Maynard Keynes: „l'Ke economicül conZeczuences
of rtie dread^ o5 peace". das unter dem Titel: „Die wirtschaftlichen Folgen des
Friedensvertrages" in deutscher Übersetzung bei Duncker u. Humblot in Leipzig er¬
schienen ist. Bekanntlich hat Keynes als britischer Finanzvertreter und Vertreter
des englischen Schatzkanzlers beim Obersten Wirtschaftsrat an der Pariser Konferenz
teilgenommen. Er hat jedoch am 7. Juni 1319 seine Ämter niedergelegt, als er
erkannt hatte, daß wesentliche Milderungen der mit den Wilsonschen Zusagen unver¬
einbarer Friedensbedingungen nicht zu erreichen sein würden, und damit nach seiner
Ausfassung nicht nur für die besiegten Staaten, sondern auch sür ganz Europa eine
wirtschaftliche und soziale Katastrophe eingeleitet sei. Keynes äußert bei der Er¬
örterung der von Deutschland ein seine Feinde nach dem Friedensvertrag ge¬
schuldeten Leistungen folgendes (S. 169 der deutschen Ausgabe, Anm. 130):
„Im Vorbeigehen darf nicht übersehen werden, daß die Herabsetzung, der
Lebenshaltung zweischneidige Wirkungen aus die Fähigkeit eines Landes zur
Erzeugung eines Produktionsüberschusses ausübt. Auch haben wir über die
Seelenverfassung einer weißen Nasse unter nahezu sklavereiartigen Lebens¬
bedingungen noch keine Erfahrung. Man nimmt jedoch allgemein an, daß,
wenn einem Menschen die Gesamtheit seiner Reinertrage entzogen wird, seine
Leistungsfähigkeit und sein Fleiß sich vermindern. Der Unternehmer und
Erfinder wird nicht arbeiten, der große und kleine Händler nicht sparen, der
Arbeiter sich nicht anstrengen, wenn die Früchte ihres Fleißes nicht zum
Besten ihrer Kinder, ihres Alters, ihres Stolzes und ihrer Lage, sondern
für die Genüsse eines fremden Eroberers bestimmt sind."
In diesem Zusammenhange sei auch an das Wort des ehemaligen Minister¬
präsidenten Cl 6 menceau erinnert, daß es 20 Millionen Deutsche zuviel gäbe.
Er hat mit seinen Verbündeten alles getan, um diese 20 Millionen durch den-
Friedensvertrag und seine Folgen aussterben und verschwinden zu lassen.
Sind sonach die personellen Voraussetzungen für den Wiederaufbau der
deutschen Wirtschaft die denkbar ungünstigsten, so gilt dies nicht minder von den
sachlichen Bedingungen, auf die alle einzelnen Produktionsgebiete angewiesen sind.
Man hat vielfach gefordert, Deutschland müsse wieder zum Agrarstaat werden, wie
es das bis etwa Mitte des vorigen Jahrhunderts gewesen ist, dann werde es unab¬
hängig von der Einfuhr aus fremden Ländern und könne infolgedessen leichter als
ein Industriestaat seine innere und damit auch seine äußere Unabhängigkeit wieder
erlangen. Dabei wird zunächst nur vergessen, daß sich die Bevölkerung eines einmal
industrialisierten Landes nicht ohne weiteres wieder zur Landwirtschaft bekehren läßt
und daß, wie bereits ausgeführt, trotz der großen Einbuße an Bevölkerung die Ein¬
buße an Land nicht unerheblich größer ist und damit die Bevölkerungszahl gegenüber
der Zeit vor dem Kriege relativ vielfach zugenommen hat. Außerdem aber sind auch
die Produktionsbedingungen der Landwirtschaft wesentlich erschwert. Dabei fällt
vor allem ins Gewicht, daß schon die auf Grund des Friedensvertrages eingetretene
Verminderung der deutschen Bodenfläche sich auf Gebietsteile erstreckt, die einen
Überschuß an agrarischen Erzeugnissen zur Ernährung vor allem der Industriegebiete
hervorgebracht haben. Daraus folgt, daß in Zukunft der verhältnismäßige Anteil
der Selbstversorger an der zu ernährenden Bevölkerung herabgehen, andererseits
aber der Einfuhrbedarf an Lebensmitteln zu Lasten unserer Zahlungsbilanz er¬
heblich steigen muß. Der bereits jetzt eingetretene Verlust an landwirtschaftlich
nutzbaren, Boden, insbesondere im Norden und Osten, stellt einen Ausfall dar von
etwa 25 ?Z der deutschen Getreide- und Kartoffelerzeugung, von etwa 10 bis 12 A
der Vieherzcugung, dem eine Verminderung der Bevölkerung durch die jetzt schon«
vollzogenen Abtretungen von nur 7,5 bei ungünstigsten Ergebnis der Ab¬
stimmungen von etwa 12—13 ?S gegenüberstehen wird. Noch im Jahre 1913 hatten
wir eine Getreideernte von 30,7 Millionen Tonnen, während sie im Jahre 1919 sich
auf 15,1 Millionen Tonnen belief, wobei die abgetretenen Gebiete nicht, wohl dagegen
die Abstimmungsgebiete mitgezählt sind. Auf dem gleichen Areal wurden im Jahre
1913 noch 26,7 Millionen Tonnen geerntet. Die Kartoffelernte konnte man im
Durchschnitt im Frieden auf etwa 50 Millionen Tonnen veranschlagen. Das
besonders günstige Jahr 1913 hat sogar 54 Millionen Tonnen erbracht. Bereits im
Kriege war dieser Ertrag auf 30 Millionen Tonnen zurückgegangen. Da hiervon
etwa ein Viertel in den abgetretenen Gebieten produziert wurde, so bleibt dem ver¬
kleinerten Deutschland nur eine Ernte von etwa 20 Millionen. Hieraus ergibt sich,
daß der Rückgang im Ertrage der beiden wichtigsten Nahrungsmittel die Verminde¬
rung der Bevölkerung bei weitem übersteigt. Die nicht nur für die deutsche Land¬
wirtschaft, sondern auch für die deutsche Ausfuhr besonders bedeutungsvolle Er¬
zeugung von Zuckerrrüben hat eine Einbuße um mehr als 50 A zu verzeichnen. Die
Erzeugung von Zucker selbst ist, wie jede Hausfrau weiß, noch viel erheblicher zurück¬
gegangen, weil die Rüben infolge der mangelhaften Futtermittelernten und des
Wegfalls der Futtermitteleinfuhr in großem Maßstabe verfüttert wurden.
Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Viehstände. Während im Jahre 191^
noch 21 Millionen Stück Rindvieh gezählt wurden, war der Viehstand bereits
während des Krieges im Jahre 1918 auf 18,1 Millionen Stück zurückgegangen und'
betrug im Jahre 1919 jn dem durch den Friedensvertrag verkleinerten Gebiet nur
noch 16,3 Millionen Stück. Jn viel größerem Maßstabe ist jedoch eine Verminde¬
rung des Bestandes an Schweinen eingetreten, die bekanntlich für die großen
Schichten der unteren und mittleren Bevölkerungsklassen die bevorzugte Fleisch-
nahrung bilden. Während es Ende 1913 noch 25,7 Millionen Stück Schweine gab,
sind diese in dem verkleinerten Deutschland von 1920 auf 11,5 Millionen Stück
zurückgegangen. Aber dieser zahlenmäßige Rückgang allein drückt den Verlust an e߬
baren Fleisch noch nicht aus. Dabei ist noch in Anschlag zu bringen die infolge
der auch bei dem Vieh hervortreteirden Unterernährung und die durch den Friedens¬
vertrag erzwungene Abgabe von hochwertigem Vieh eingetretene bedeutende Minde¬
rung der Qualität und die Tatsache, daß die Nötigung zu vorzeitiger Schlachtung
die vor dem Kriege erreichte Reife des Viehes nicht mehr erzielen läßt. Auch
hierfür Beispiele. Vor dem Kriege betrug das durchschnittliche Schlachtgewicht bei
Im Januar 1919 sind die gleichen Zahlen bei
'Erwägt man nun noch, daß auf der Viehwirtschaft 90 A der Fetterzeugung im In-
lande und des gesamten Fettverbrauchs vor dem Kriege beruht, daß die Schlacht¬
fetterzeugung damals etwa 700 000 Tonnen, davon allein 590 000 Tonnen aus
Schweinezucht betrug, so wird es klar, wie auch hier sowohl auf dem Gebiet der Er¬
nährung der Bevölkerung wie des sonstigen Wirtschaftslebens der zahlenmäßige
Rückgang und die qualitative Verschlechterung des Viehstandes die deutsche Wirt¬
schaft schädigen muß. Ferner beeinträchtigt die verminderte Leistungsfähigkeit auch
der ländlichen Arbeiter und ihre Disposition zu Arbeitsweigerungen — man denke
nur an die Landarbeiterflreiks —, sowie die auf dem Lande nahezu undurchführ¬
bare Festsetzung des Achtstundentages in Verbindung mit den auch hier maßlos
gesteigerten Löhnen und dem Mangel an Düngemitteln sowie der Zwangswirtschaft
gleichfalls die agrarische Produktion aufs schwerste. Man rechnet jedenfalls in der
Landwirtschaft mit einem Rückgang der pflanzlichen Produktion um 40 der
tierischen um 60 ?Z ihres früheren Umfanges. Vor dem Kriege hatte die deutsche
Landwirtschaft ungefähr 90 H des einheimischen Bedarfs an Pflanzenstoffen, 67 ?Z
an Fleisch und Fett, 50 A an Milch und deren Erzeugnissen selbst gedeckt.
Besonders verhängnisvoll mußte selbstverständlich der Friedensvertrag für
unsere Industrie sein, da deren Vernichtung ja einer der ausgesprochenen Zwecke
des gegen uns geführten Wirtschaftskrieges gewesen ist. Zunächst haben auch hier
die uns abgezwungenen Gebietsabtretungen verheerend gewirkt. Deutschland hat
das bisher behauptete Monopol in der Kalierzeugung verloren. Dies ergibt sich
vor allem aus dem Verlust von Elsaß-Lothringen. Die großen Kalilager des
Elsaß waren bisher noch in keiner Weise abgebaut, vielmehr noch weitestgehender
Erschließung fähig. So erzeugte das Elsaß 1913 erst 26 ?s der deutschen Gesamt¬
förderung von 1110 370 Tonnen, hat aber schon 1914 eine bedeutende Steigerung
der gewonnenen Mengen aufzuweisen gehabt. Hierdurch ist uns, selbst wenn man
von der Verwendung des Kali für die heimische Landwirtschaft völlig absieht, eine
Exportmöglichkeit größten Umfanges einfach abgeschnitten worden. schwerwiegender
noch sind die Verluste, die Deutschland an Eisen und Kohle erleidet, mithin den
beiden Faktoren, auf denen eigentlich die deutsche Industrie aufgebaut ist. Vor
dem Kriege bezifferte man das Gcsamtvorkommen an Eisenerzen einschließlich des
in einem Zollverband mit Deutschland verbundenen Luxemburg auf etwa 2,3 Mil¬
liarden Tonnen. Hiervon verliert Deutschland 1,897 Milliarden Tonnen, so daß
ihm nur 0,403 Milliarden Tonnen verbleiben. Im Jahre 1913 betrug die deutsche
Förderung von Eisenerzen 35 941 Millionen Tonnen, davon entfielen auf
Lothringen mit 21136 Millionen Tonnen 58,81 ?s, auf Luxemburg mit 7333 Mil¬
lionen Tonnen 20,40 ?Z und auf Oberschlesien mit 138 000 Tonnen 0,38 ?S, im
ganzen 28 607 Millionen Tonnen. Daher verbleibt nur noch ein Rest von 7334 Mil¬
lionen Tonnen oder 20,41 ?Z, das ist etwa der fünfte Teil der früheren Gesamt¬
förderung.
Von den drei großen Kohlengebieten Deutschlands, der Saar, dem Ruhr¬
bezirk und Oberschlesien, verliert Deutschland wenigstens zunächst und voraussicht¬
lich auch für die Zukunft den Saarbezirk mit einem Vorrat von 16,50 Milliarden
Tonnen. Ob Oberschlesien erhalten bleiben kann, ist nach der reinen Gewaltpolitik
unserer Feinde, die in krassen Widerspruch selbst zu dem Friedensverträge Ober¬
schlesien von den Polen besetzen läßt und eine etwa noch erfolgende Abstimmung vor¬
aussichtlich gewaltsam zugunsten der Polen zu wenden versuchen wird, immerhin sehr
unsicher. Mit Oberschlesien würde dem Deutschen Reich ein Vorrat von 166 Milliarden
Tonnen Steinkohlen entgehen. Daher würden von einem deutschen Gesamtvorrat
von 409,97 Milliarden Tonnen vor dem Kriege nur noch 227,47 Milliarden Tonnen
verbleiben. Jeder vermag sich selbst zu sagen, was im Zusammenhang mit den uns
in Spa auferlegten Kohlenlieferungen von monatlich 2 Millionen Tonnen dies für
das deutsche Wirtschaftsleben ausmacht. Es bedeutet die Stillegung der deutschen
Industrie in weitesten Umfange, damit weitere Herabminderung der Exportmöglich¬
keit, Stillegung des Arbeitsmarktes und Verteuerung aller Lebensbedingungen.
Dabei sei, um nicht die Darstellung übermäßig mit Zahlen zu belasten, nur er¬
wähnt, daß die Saarkohle 8,95 ^ der Gesamtförderung, die Erträge der ober-
schlesischen Gruben 25 ?Z der deutschen Gesamtförderung ohne Saarkohle betragen.
Sollten etwa die Franzosen, auf das Gewaltdiktat von Versailles und Spa gestützt,
sich des Nuhrgebiets bemächtigen, so würde, nach den Förderzahlen für 1913 be¬
messen, eine weitere Förderung von 114 437 zu Einheiten von 1000 Tonnen Kohlen,
mithin 60,22 A der Gesamtförderung abermals wegfallen. Damit würde Deutsch¬
land vor die Alternative der völligen Stillegung des wirtschaftlichen Lebens oder
des Erwerbes der nötigen Kohlenmengen von den Feinden, insbesondere von den
Franzosen, zu Weltmarktpreisen gestellt sein, die wiederum das Preisniveau der
deutschen Waren, insbesondere der Eisenfabrikate, im Zusammenhang mit den
sonstigen wirtschaftlichen, vor allem Lohnbedingungen, zu einer auf dem Weltmarkt
nicht mehr als konkurrenzfähig anzunehmenden Höhe steigern müßten. Die Erzeugung
von Roheisen würde sich um 45 ?Z vermindern, eine Berechnung, die vielleicht noch M
günstig ist. In Wirklichkeit ist nämlich die Roheisenerzeugung von 19 309 Millionen
Tonnen im Jahre 1913 auf 6251 Millionen Tonnen im Jahre 1919 zurückgegangen.
Die gleichen Zahlen für die Rohstahlproduktion stellen sich nach theoretischer Be¬
rechnung auf einen Rückgang von 37,5 während die tatsächliche Produktion von
18,9 Millionen Tonnen im Jahre 1913 auf 7,79 Millionen Tonnen im Jahre 1919-
gesunken ist. Mehr noch als die Streiks und die sonstigen Arbeitsbedingungen muß
Kohlenmangel als der Hauptgrund dieser Produktionsverminderung gelten. Und dies
zu einer Zeit, wo die Kohlenvorräte Frankreichs dank den aus Deutschland erpreßten
Kohlenlieferungen die Höhe der Vorkriegszeit erreicht, wenn nicht überschritten
haben. Die Pariser Gasanstalt hat mit 900 000 tons zur Zeit mehr Reserven an
Kohlen, als die sämtlichen deutschen Gaswerke zusammengenommen. Dagegen be¬
trugen am 9. Oktober 1920 die Lagerbestände auf allen Zechen des Ruhrgebietes
nur noch 75 661 Tonnen, das Ist nur ein Bruchteil der Tagesförderung. Infolge¬
dessen ist die Produktion der deutschen Industrie aller Gebiete aufs äußerste ein¬
geschränkt worden. Auch hier wieder das Mißverhältnis zwischen dem Rückgang
der Produktion und dem Rückgang der Bevölkerung und damit die so ungemein
gefährliche Verringerung des Nahrungsspielraums. Gleichzeitig aber ein Beweis
für die Verarmung des verkleinerten neuen Deutschland. Nur angedeutet werden
soll, daß, abgesehen von Kohlen und Eisen, auch die auf den Nebenprodukten der
Kohle aufgebauten wichtigen Industrien der Teerfarben- und pharmazeutischen
Produkte unter der Verminderung der Kohle erheblich zu leiden haben werden.
Dies um so mehr, als nach dem Friedensvertrag die Produktionen der deutschen
Farbenfabriken in weitgehendem Maße an die Feinde abzuliefern sind. Die durch
den Friedensvertrag (Anlage VI zu Art. 243/44) festgesetzte Forderung auf Ab¬
lieferung von 50 A ihrer Vorräte und 25 A der Normalproduktion hat schon jetzt
die Ablieferung nahezu der Gesamtproduktion der deutschen Farbenfabriken zur
Folge gehabt, weil einzelne dieser Fabriken wegen Kohlenmangels stillgelegt werden
mußten. Da nun gerade auf dein Gebiet dieser Industrien die durch den Friedens¬
vertrag festgesetzte Rechtlosigkeit hinsichtlich deutscher Patente und Markenschutzrechte
von einschneidendster Wirkung ist, so ergibt sich auch hier die Lähmung einer In¬
dustrie, die vor dem Kriege Deutschland bei weitem den ersten Platz unter allen
Völkern sicherte und an der Gestaltung der aktiven Zahlungsbilanz immerhin nicht
unwesentlich beteiligt war.
Wie bereits angedeutet, war für das deutsche Wirtschaftsleben vor dem Kriege
die Einheit der Verwaltung, die Leichtigkeit des Verkehrs, die Billigkeit der
Frachten Hand in Hand mit der Lage Deutschlands als großes europäisches Durch-
gangsgebist von hervorragender Wichtigkeit. Auch dieser Vorteile gehen wir durch
den Friedensvertrag verlustig. Die deutsche Wirtschaftseinheit ist, wenn nicht zer¬
stört, so doch in verhängnisvollster Weise gelockert. Dies ergibt sich schon aus der
Art, in der, übrigens vielfach in Widerspruch mit den Bestimmungen des Friedens¬
vertrages, unsere Feinde die Verwaltung der besetzten Gebiete ausgestaltet und diese
von dem übrigen Deutschland in weitem Maßstabe abgeschlossen haben. Dadurch
wird, ganz abgesehen von der Verwaltung, der Verkehr, der Waren- und Kapital¬
austausch innerhalb des Reiches selbst erschwert, wenn nicht unterbunden, und aus
den besetzten Gebieten vielfach in neue Bahnen, vor allem in die feindlichen Länder
gelenkt. Dies gilt vor allem von den besetzten linksrheinischen Gebieten, deren
Mitarbeit am Gesamtertrag der deutschen Wirtschaft sowohl zahlenmäßig wie ideell
ungemein hoch zu veranschlagen ist. Der Rhein bildete innerhalb Deutschlands keine
Grenze, die zwei Wirtschaftsgebiete schied. Die hoch entwickelten links- und rechts¬
rheinischen Gebiete waren wirtschaftlich aufs engste verknüpft und konnten ihre
besonders reich entfaltete Leistungsfähigkeit nur auf Grund eines gegenseitigen Aus¬
tausches und der Ergänzung durch ineinandergreifende Organisationen und Betriebe
erzielen. So haben z. V. die auf dem linken Rheinufer gelegenen Werke der
Schwerindustrie vielfach ihre Kohlenbasis auf dem rechten Rheinufer. Vei anderen
Industrien müssen die Halbfabrikate zwecks Weiterverarbeitung die Stromufer
wechseln. Im Jahre 1913 bezifferte sich der Güterverkehr auf der Eisenbahn von
der linksrheinischen Rheinprovinz nach dem rechtsrheinischen Deutschland auf
10 286 452 Tonnen, der Verkehr in der entgegengesetzten Richtung ist auf
13 096 027 Tonnen festgestellt. Für den Absatz ist das linksrheinische Industrie¬
gebiet auf die rechte Rheinseite so vorwiegend angewiesen, daß daneben der Aus¬
landsverkehr kaum in Betracht kommt.
Ein Ziel, dessen Erreichung vor allem für England zu den Hauptzwecken des
Krieges gehörte, war die Zerstörung des deutschen Handels und der deutschen
Schiffahrt, einschließlich der Binnenschiffahrt und der Fischerei. Es ist bekannt,
daß vor dem Kriege Deutschland, allerdings in ziemlichem Abstand von England, die
.Zweitgrößte Handelsflotte der Welt sein eigen nannte. Bereits der Waffenstillstand
forderte die Auslieferung aller Schiffe über 2500 Bruttoregistertons. Infolgedessen
wurden damals ausgeliefert aus Deutschland 227 Dampfer mit 1219 733 Brutto¬
registertons und aus neutralen Ländern 166 Dampfer mit 704 397 Bruttoregister¬
tons, mithin rund 2 Millionen Tons der vor dem Kriege auf etwa 5,3 Millionen
Bruttoregistertons zu beziffernden Handelsflotte. Der gleiche Schiffsraum ist von
den Feinden in ihren Häfen oder sonst beschlagnahmt worden. Wer sich vergegen¬
wärtigt, daß vor dem Kriege die Größenverhältnisse der Schiffe andauernd wuchsen
und damit eine erheblich vorteilhaftere und billigere Verfrachtung erzielt werden
konnte, wird ermessen, wie schwer wirtschaftlich für Deutschland die Notwendigkeit
wiegen mußte, alle größeren Schiffe ausnahmslos abzuliefern. Aber auch diese
Bedingungen waren unseren Feinden noch nicht hart genug. Die weitere Aus¬
lieferung aller Seeschiffe über 1600 Bruttoregistertons und der Hälfte aller See¬
schiffe zwischen 1000 und 1600 Bruttoregistertons ist gefordert und durchgesetzt
worden. Damit war selbst die Küstenschiffahrt in der Nord- und Ostsee auf deutschen
Schiffen nahezu unmöglich gemacht. Deutschland verbleiben von einer Flotte, die
im Jahre 1914 4935 Schiffe mit 5 233 957 Brutteoregistertons umfaßte, an Schiffen
über 1000 Tons etwa 100 000 Bruttoregistertons. Schiffe unter dieser Größe sind
für die Überseesahrt technisch nur zur Not, wirtschaftlich überhaupt nicht geeignet.
Daß die Deutschland noch verbleibende Zahl von Schiffen unter 1000 Bruttoregister¬
tons im wesentlichen nur für die Zwecke der kleinen Küsten- und Erzschiffahrt in
Trage kommt, ist von der deutschen Negierung seinerzeit der Schiffahrtsabteilung
der Wiedergutmachungskommission in einer Denkschrift nachgewiesen worden. Aber
damit noch nicht genug. Um die im Ausland bekannte und von ihm gefürchtet«
Leistungsfähigkeit der deutschen Werften für unser Vaterland auszuschalten oder den
'Feinden nutzbar zu machen, hat der Vertrag von Versailles uns die Verpflichtung
.auferlegt, fünf Jahre hindurch jährlich bis zu 200 000 Bruttoregistertons für die
Feinde an Schiffsraum zu bauen. Damit ist unter den vorgeschilderten heutigen
Produktionsverhältnissen es nahezu unmöglich, für Deutschland selbst neuen Schiffs¬
raum auf deutschen Werften herzustellen. Entweder muß auf die Herstellung
deutschen Schiffsraums überhaupt verzichtet werden, das bedeutet die Aus-
antwortung Deutschlands für die Einfuhr an ausländische Frachttarife, die in
fremder Valuta zu zahlen sind, und wird dadurch abermals eine erhebliche Ver¬
teuerung alles Imports zur Folge haben, oder aber die Notwendigkeit, Schiffe auf
fremden Werften zu bestellen, wodurch gleichfalls die deutsche Zahlungsbilanz ver¬
schlechtert und die Fracht infolge der höheren Kosten abermals verteuert wird. In
etwas ist ja die auf Untergrabung der deutschen Handelsschiffahrt gerichtete Absicht
des Friedensvertrages vereitelt durch das Abkommen, das im Frühsommer dieses
Jahres die Hamburg-Amerika-Linie mit dem sogenannten Harrimcm-Konzern in
Nordamerika getroffen hat. Danach stellt die Hamburg-Amerika-Linie ihre Er¬
fahrungen und Organisation im Gebiete der Weltschisfahrt der amerikanischen Linie
zur Verfügung und betreibt mit dieser zusammen einen überseeischen Schiffsverkehr,
bei dem bis zur Hälfte der Schiffstonnage unter deutscher Flagge fahren kann. Ein
ähnliches Vertragsverhältnis ist der norddeutsche Lloyd mit einer anderen nord¬
amerikanischen Schiffahrtsorganisation eingegangen. Diese der Privatinitiative der
großen Hamburger und Bremer Reedereien entsprossenen und zu verdankenden Ab¬
kommen dürfen neben der Erweiterung unserer drahtlosen Telegraphic als eins der
wenigen uns günstigen wirtschaftlichen Ereignisse der Jetztzeit bezeichnet werden.
Aber selbst wenn im einzelnen hier und da der Wagemut, der Unternehmungsgeist
und die Klugheit deutscher Kulturpioniere wirtschaftliche Vorteile für uns zu
erringen vermag, so darf doch darüber kein Zweifel obwalten, daß unsere weltwirt¬
schaftliche Stellung, auch soweit sie auf dem Überseeverkehr durch deutsche Schiffe
beruhte, auf Menschenalter nahezu zerstört ist. Daraus folgt, daß einer der Fak¬
toren, die vor dem Kriege unsere Zahlungsbilanz aktiv gestalteten, für die Zu¬
kunft zunächst ausgeschaltet ist. In krassen Widerspruch zu den Humanitären
Phrasen, mit denen unsere Feinde ihr satanisches Vernichtungswcrk an unseres
Vaterlandes Größe bekleidet haben, steht auch die Forderung des Friedensvertrages,
wonach ein großer Teil der zur Fischerei bestimmten Fahrzeuge an unsere Feinde
auszuliefern ist. Es leuchtet ohne weiteres ein, daß hierdurch nicht nur wichtige
Vevölkerungsgruppen unmittelbar brotlos, sondern durch die Verminderung des
deutschen Fischfanges die an sich schon knappen Ernährungsmöglichkeiten des
deutschen Volkes noch mehr eingeschränkt werden. Aber England tut ganze Arbeit.
Es begnügt sich nicht damit, die deutsche Flagge von der See verschwinden zu lassen,
sondern entzieht auch unserer Binnenschiffahrt wesentliche Existenzbedingungen.
Diese hatte schon durch den Krieg erheblich gelitten. Die durch ihn erzwungene teil¬
weise Stillegung und der Mangel an Mannschaft hatten zur Folge gehabt, daß
seit 1914 etwa 400 000 Tons Schiffsraum als nicht mehr reparaturwürdig zer¬
schlagen werden mußte. Insbesondere seit dem Waffenstillstand und auf Grund des
Friedensvertrages sind weiter aus dem deutschen Gebiet etwa 100 000 Tons Kahn¬
raum, über 100 Motorboote und mindestens A0 Schleppdampfer der deutschen
Binnenschiffahrt verloren gegangen. Für die noch vorhandenen Binnenschiffe gilt
das gleiche wie für den Fuhrpark der Eisenbahn. Sie sind reparaturbedürftig im
höchsten Grade, ohne daß wegen der Kosten, des Kohlenmangels und der vielfach
bedrängten Wirtschaftslage der Schiffseigentümer die notwendigen Ausbesserungen
in dem erforderlichen Maßstabe durchgeführt werden können. Dabei treten infolge
der erzwungenen Einschränkung des Eisenbahnverkehrs an die Binnenschisfahrt er¬
heblich höhere Anforderungen heran als vor dem Kriege. Schon die Kohlenliefe¬
rungen auf Grund des Vertrages von Versailles und des Diktats von Spa müssen
zum großen Teil per Kahn transportiert werden. Das gleiche gilt für die Zufuhr
der Kohlen zu den inländischen Produktionsstätten und für die deutsche Getreide¬
versorgung.
Aber unsere Feinde gingen noch weiter. Unter dein Vorwand, allen Staaten,
die Anlieger irgendeines deutschen Flusses sind, ungehinderte Verbindung zum
Meere und wesentliche Mitwirkung an der Kontrolle des Flusses zu verschaffen,
haben sie die deutschen Hoheitsrechte über die deutschen Ströme aufgehoben und alle
deutschen Flüsse mit ihren schiffbaren Nebenflüssen und mit Einschluß des Nord-
Ostsee-Kanals sowie des geplanten Großschiffahrtsweges Rhein—Donau außer der
Weser zu internationalen Verkehrsstraßen erklärt. Die deutschen Ströme werden
also in Zukunft internationalen Kommissionen unterstellt, in denen überall England
und Frankreich, außerdem, je nach der Lage, andere Staaten, Deutschland aber nur
mit einer kleinen Minderheit vertreten ist. Frankreich hat sich dabei für den Rhein,
dessen Verkehr durch einen Ausschuß von 19 Mitgliedern in Straßburg kontrolliert
wird, noch besonders weitgehende Rechte vorbehalten. Es stellt in dem Ausschuß
5 Mitglieder einschließlich des Vorsitzenden, während Deutschland nur 4, die
Holländer 2 Mitglieder haben. Daneben sind Frankreich weitgehende Rechte erteilt,
den Rhein für industrielle Kraftzwecke auszunutzen, die Weichsel und Memel sind
uns völlig entzogen und ihre Mündungen werden voraussichtlich tatsächlich britische
Häfen werden. Nimmt man dazu neben der schon erwähnten Verpflichtung der
Ablieferung von Binnenschiffen und Schleppern die Wegnahme des für die Ver¬
senkung der deutschen Kriegsflotte in Scapa Flow abzuliefernden, ursprünglich auf
nicht weniger als 300 000 Tons bezifferten Dock- und Hafenmaterials, sowie den
Zwang, in Stettin und Hamburg besondere, für die Tschccho-Slowakei bestimmte
Häfen einzurichten, so wird man zugeben müssen, daß die Vernichtung der deutschen
Schiffahrt nicht planmäßiger durchgeführt werden konnte, als dies unter dem Motto
der Freiheit der Schiffahrt geschehen ist. Dazu kommt dann noch die in verkehrs¬
technischer Beziehung besonders einschneidende Aufhebung der Tarifhoheit auch über
die deutschen Eisenbahnen, die jede Begünstigung deutscher vor fremden Trans¬
porten ausschließt. Damit fällt z. B. für Bremen und Hamburg die Möglichkeit
weg. den Austausch der Waren aus dem deutschen Jndustriebezirk mit den Einfuhr¬
artikeln aus dem Ausland zu bevorzugten Tarifen zu vollziehen. Ebenso ist Deutsch¬
land nicht in der Lage, die Vorteile auszunutzen, die ihm bisher seine Lage im
Mittelpunkt Europas als Durchgangsland bot. Denn alle fremden Schiffe und
Waren darf Deutschland nur ebenso wie deutsche behandeln.
Hand in Hand mit der Vernichtung der deutschen Handelsflotte, der Binnen¬
schiffahrt und der Tarifhoheit im Inland geht die Zerstörung des deutschen Außen¬
handels, die, schon in den ersten Tagen des Krieges unter der Ägide Englands
geflissentlich begonnen, durch den Friedensvertrag von Versailles vollendet worden
ist. Daß die wachsende Bevölkerung Deutschlands in dem zum Vergleich rin
anderen Staaten nur kleinen Kolonialreich ein Kraftventil und eine an Wert sectis
wachsende Vorratskammer hatte, ist ein Grund mehr, um Deutschland seiner
Kolonien zu berauben, Sie sind an den Völkerbund übergegangen, dessen Mandat
ein lügnerischer Ausdruck für ihre Annexion durch unsere Feinde ist. Damit hat
Deutschland ein Gebiet von 2,9 Millionen Quadratkilometern mit mindestens
12 Millionen Einwohnern verloren. So steht Deutschland ohne Kolonien, ohne
tropische Einfuhr- und subtropische Siedlungsgebiete da. Es besitzt kein Ventil
mehr, um seine auf kleinerem Raum wachsende Bevölkerung auf eigenem Boden im
Auslande ansiedeln oder zur Verfolgung von Kulturziclen dorthin senden zu
können. Aber damit noch nicht genug, ist durch neuere Verfügungen und Gesetze
sowohl Englands wie Frankreichs und ihrer Kolonien den Deutschen auch die
Rückkehr in die früheren deutschen Kolonien für einen Zeitraum abgeschnitten, der
genügt, um im Verein mit der Liquidation des dortigen Besitzes deutsche Ent¬
faltungsmöglichkeiten dort für die Zukunft nach menschlichem Ermessen auszu¬
schließen. Gleichzeitig ist auch für die englischen und französischen Gebiete und
Kolonien ein Einwanderungsverbot für Deutschland ergangen. Ist die wirtschaft¬
liche Lage Deutschlands, das, anstatt wie vor dem Kriege nur Waren, jetzt vor allem
auch Menschen exportieren muß, schon ohne diese Ausschließung schlimm genug, so
verhindern jene Verbote unserer Gegner vielleicht auch zu deren eigenem Schaden
die Ansiedlung Deutscher in ihren Gebieten und erhöhen damit die Spannung
unserer inneren Verhältnisse und unsere Wirtschaftsnot. Daß auch dadurch und
durch den Wegfall der vor dem Kriege wachsenden Einfuhr von Produkten unserer
Kolonien unsere Lebensmittelnöte abermals verschärft und die Bedürfnisse nach
ausländischen Zahlungsmitteln gesteigert werden, ist nur eine weitere Folge, wie sie
der Friedensvertrag bewußt gewollt und bewirkt hat.
Kann man die Fortnahme auswärtiger Siedlungsgebiete noch allenfalls mit
den bisher üblich gewesenen Regeln des Völkerrechts vereinigen, so ist dies nicht
mehr der Fall mit der Fortnahme der deutschen Merseekabel sowie alles deutschen
Eigentums in den ehemals gegnerischen Staaten. Bekanntlich galt früher der Krieg
nur dem feindlichen Staat und dem Eigentum dieses Staates, während Privatrechte
und Privateigentum allgemein als unverletzlich anerkannt wurden. Damit ist in
diesem Krieg und durch den Friedensvertrag gründlich gebrochen und dadurch die
allgemeine Kulturentwicklung auf eine Stufe zurückgeschleudert worden, die man
längst überwunden wähnte. Während Deutschland nach den wirtschaftlichen Be¬
stimmungen in Artikel X des Friedensvertrages die Pflicht hat, alles feindliche
Eigentum, was es, dem Beispiele der Feinde notgedrungen folgend, beschlagnahmt,
liquidiert oder unter Zwangsverwaltung gestellt hatte, restlos wieder heraus oder
dafür Entschädigung zu geben, hat es selbst jeden Anspruch auf die Rechte und
den Besitz seiner Staatsangehörigen im ehemals feindlichen Ausland verloren.
Artikel 297 b des Friedensvertrages geht sogar so weit, daß es den feindlichen
Mächten die Möglichkeit gibt, auch das bei Friedensschluß noch nicht liquidierte
deutsche Eigentum zu liquidieren oder sonst in Anspruch zu nehmen, um daraus
die privaten Forderungen der feindlichen Untertanen zu befriedigen und einen
etwaigen Überschuß zugunsten Deutschlands auf Wiedergutmachungskonto vorzu¬
ragen. Die Eigentümer werden nach Artikel 297 i des Friedensvertrages für ihre
Ansprüche an das verarmte Deutsche Reich verwiesen. Es handelt sich dabei aber
^ehe etwa nur um Liegenschaften, Handels- oder sonstige Unternehmungen
Deutscher auf fremdem Boden, vielmehr hat nach § 10 des Anhanges zu Artikel 298
des Friedensvertrages Deutschland binnen sechs Monaten nach Inkrafttreten des
Vertrages jeder alliierten oder assoziierten Macht auch alle in Händen seiner An¬
gehörigen befindlichen Verträge, Bescheinigungen, Urkunden und sonstigen Eigen-
en mstitel auszuantworten, die sich auf Güter, Rechte und Interessen im Gebiete
der betreffenden alliierten oder assoziierten Macht beziehen. Unter letztere fallen
auch Aktien, Schuldverschreibungen und sonstige Wertpapiere aller in der Gesetz¬
gebung dieser Macht zugelassenen Gesellschaften, Außerdem gibt Artikel 260 dem
Wiedergutmachungsausschuß das Recht, innerhalb eines Jahres die Abtretung aller
Rechte Deutscher an öffentlichen Unternehmungen und Konzessionen in Nußland,
China, Österreich-Ungarn, Bulgarien, der Türkei und den Gebieten, die früher zu
diesen Staaten gehört haben, zu verlangen. Damit ist ein weiterer Faktor der bis¬
herigen Aktivität der deutschen Zahlungsbilanz, die Beteiligung Deutscher an
fremden Unternehmungen und die Geldanlage in fremden Ländern gleichfalls aus¬
geschaltet. Man darf den Wert dieser Interessen nicht zu gering veranschlagen.
Im Jahre 1914 wurde der Betrag der deutschen Auslandsanlagen auf über 20 Mil¬
liarden Gold angesetzt. Trotzdem hiervon immerhin ein Teil auf Länder entfällt,
die uns nicht feindlich gegenüber gestanden haben, so werden die buchmäßigen Ver¬
luste, wie auf Grund der während des Krieges erfolgten Ermittlungen gesagt werden
kann, doch etwa den gleichen Betrag ergeben. Vor allem ist dabei auch nicht zu
unterschätzen der ideelle Wert, den jedes Unternehmen im Ausland durch die nicht
in Geld auszudrückenden und abzuschätzender Erfahrungen und Verbindungen seiner
Inhaber hatte. Wenn man auch dieses ideelle Moment — die Engländer sprechen
in diesem Fall von A00Ä>viI1 — mit in Ansatz bringt, so ist ein Ersatz dieser
Schäden durch die deutsche Negierung überhaupt nicht möglich. Da nun die von
unseren Feinden als Entschädigung verlangten angeblich 100 Milliarden in Gold
weit übersteigenden Summen eine starke aktive Handelsbilanz voraussetzen, die durch
die Bestimmungen des Friedensvertrages von Versailles ausgeschlossen ist, so ergibt
sich schon hieraus die volkswirtschaftliche Unmöglichkeit dieses Vertrages auch in
seinen wirtschaftlichen Bestimmungen. Die Feinde schlachten die Henne, die ihnen
goldene Eier legen soll.
Insoweit die deutschen Anlagen und Guthaben im Auslande dazu dienen
konnten, unsere Zahlungsbilanz zu verbessern oder bei der notwendigen Wieder¬
anknüpfung der Handelsbeziehungen unsere Nohstoffeinfuhr zu finanzieren, ist auch
auch das, wie bereits erwähnt, unmöglich geworden, weil der Friedensvertrag all
diese deutschen Werte im Auslande den Feinden zur Verfügung stellt. Dadurch
wird, und dies ist für die Gestaltung unserer Währung wesentlich, ein großer Betrag
fremder Wahrung, über den Deutsche zu verfügen gehabt hatten, uns entzogen.
Andererseits wird aber eine weitere Entwertung der deutschen Währung künftig da¬
durch herbeigeführt, daß der Friedensvertrag in Artikel 296 und 297 unter den dort
vorgesehenen Voraussetzungen die Umwandlung der deutschen Markschulden in die
Währung des beteiligten feindlichen Gläubigerlandes zum Vorkriegskurse anordnet.
Dies gilt insbesondere gegenüber den feindlichen Staaten, die anstatt der Abrechnung
zwischen den beteiligten Schuldnern und Gläubigern das sogenannte Ausgleichs¬
verfahren, das ist die Abrechnung von Staat zu Staat, auch hinsichtlich der Schuld¬
verbindlichkeiten von Privatpersonen wählen. Diese Wahl war seitens des be-
tciligtcn feindlichen Staates binnen Monatsfrist nach Ratifikation des Friedens-
vertrages vorzunehmen. Für das Ausgleichsverfahren haben sich bisher entschieden:
England mit Kolonien, abgesehen von Ägypten und der südafrikanischen Union,'Frankreich, Italien, Belgien, Griechenland, Siam und Haiti. Die Folgen der vor¬
erwähnten Umwandlung deutscher Markschulden in fremde Währung sind für den
deutschen Geldmarkt nahezu katastrophal und könnten von den deutschen Schuldnern,
auch wenn sie noch so gut fundiert sind, nicht ertragen werden. Man bedenke, was
es bedeutet, wenn ein deutscher Schuldner, der, bei Kriegsausbruch 10 000 einem
Franzosen schuldete, diese 10 000 in Francs zum Vorkriegskurse umwandeln und
nun die betreffende Summe in französischer Währung zum jetzigen Kurse anschaffen
muß. Es bewirkt dies, je nach dem Kurs, eine Vervielfachung der Schuldsumme,
zu der dann noch die gleichfalls umzuwandelnden Zinsen hinzutreten. Be¬
kanntlich hat das Deutsche Reich im Reichsausgleichsgesetz vom 24. April 1920
nach den dort angegebenen, im einzelnen sehr verwickelten Bestimmungen die
sogenannte Valutadifferenz auf das Reich übernommen und übernehmen
müssen, wenn nicht mit einem Schlage der ganze deutsche mit dem feind¬
lichen Ausland in Verbindung stehende Handel hätte zahlungsunfähig gemacht
werden sollen. Über die volkswirtschaftlich gleichfalls hochbedeutsame Frage, wie
die Valutadifferenzen und die Währungsvcrschlechterung, die übrigens auch in den
feindlichen Ländern zu beobachten ist, zur Vermeidung von großen Erschütterungen
des Geldmarktes ausgeglichen werden können, find schon während des Krieges in
Deutschland die verschiedensten Verhandlungen aller beteiligten amtlichen, wissen¬
schaftlichen und beruflichen Kreise gepflogen worden. Wie um die Wende des
Jahrhunderts man die Juristen in solche teilen konnte, die über das Bürgerliche
Gesetzbuch geschrieben hatten, und die dies nicht getan hatten, wobei behauptet
wurde, die ersteren bildeten die Mehrzahl, so hat sich jetzt an dem Thema Valuta
nahezu jeder versucht, der irgendwie mit den einschlägigen Fragen befaßt gewesen
ist. Es ist daher eine nicht unberechtigte Ironie, wenn der bekannte Hamburger
Bankier Max Warburg in einem vor einer Rcichstagskommission in Hamburg
gehaltenen Vortrag über die Valutafrage die etwas bissige Bemerkung machte, über
Valuta spräche heute jeder, der noch vor dem Kriege das Wort Valuta sür einen
Mädchennamen gehalten hätte. Warburg selbst, der kraft seiner Kenntnisse und
seiner ausgedehnten geschäftlichen Beziehungen, namentlich nach Amerika hin, für
einen der ersten Sachverständigen in Währungsfragcn gilt, hat seinerzeit den Vor¬
schlag gemacht, die Valutadifferenzen sollten möglichst durch Valutakrcdite von
Staat zu Staat etwa in der Weise ausgeglichen werden, daß die Staaten mit
besserer Valuta denen mit schlechterer Beträge in ihrer Währung zur Verfügung
stellten, die dann von dem leidenden Staat den beteiligten Kreisen des Handels-
standes zur Abdeckung ihrer Schulden gewährt und bei einem Erstarken der Wirt¬
schaft zurückgezahlt werden könnten. Es kann dahingestellt bleiben, ob dieser in
seiner Einfachheit beinahe genial anmutende Vorschlag durchzuführen gewesen wäre.
Er war zugeschnitten mindestens auf einen sogenannten Verständigungsfrieden und
kommt in der ursprünglich von Wmburg gedachten Art kaum mehr in Frage.
Immerhin basieren die Kredite, die Deutschland von Neutralen, vielleicht auch von
bisher feindlichen Staaten gewährt werden sollen und, wenn man uns zahlungsfähig
ehalten will, gewährt werden müssen, im Grunde doch wohl auf ähnlichen Ideen,
die bei der Finanzkonferenz in Brüssel wohl von neuem erörtert sein dürften. DaS
Hauptmittel zur Hebung unserer Währung bleibt aber nach wie vor die deutsche
Arbeit, die vor allem in der industriellen Produktion jetzt drei Aufgaben zu lösen
hat. Einmal der industriellen Bevölkerung, d. h. 43 A der deutschen Gesamt¬
bevölkerung, Arbeit und damit Existenzmöglichkeit zu geben, dann die Bezahlung der
aus dem Ausland einzuführenden Lebensmittel und Rohstoffe zu bewirken und ferner
die Werte zu schaffen, die nach dem Friedensvertrag von Versailles unsere sogenannte
Wiedergutmachung darstellen sollen. Dabei ist hervorzuheben, daß nach der vorher
gekennzeichneten wirtschaftlichen Lage die deutsche Industrie in Zukunft wesentlich
Veredelungsindustrie werden muß. Auch dies folgt aus dem verminderten Wert
der deutschen Mark, denn die Industrie bezieht jetzt einen großen Teil ihrer Roh¬
stoffe aus dem Ausland zu Kaufpreisen, die sich nach den Wechselkursen richten.
Daher ist sie von den ausländischen Wechselkursen nur dann unabhängig, wenn sie
das ganze, aus deutschen Rohstoffen hergestellte Produkt fertig dem Ausland ver¬
kaufen kann. Das wird in Zukunft weniger denn je der Fall sein. Erhält diese
Industrie für die aus dem Ausland zu beziehenden Rohstoffe nun keine Kredite,
so muß sie mit den Verkaufspreisen für die Ausfuhr der fertigen Fabrikate zunächst
die eingeführten Rohmaterialien bezahlen, daher bleibt in solchem Falle für den.
Bedarf der deutschen Bevölkerung nur etwas übrig, wenn durch die Ausfuhr der
hergestellten Fabrikate der Anschaffungspreis der Rohstoffe gedeckt ist. Es leuchtet
ein, daß nur eine ungeheuer leistungsfähige Industrie gleichzeitig einen Vorrat
von Fabrikaten herstellen kann, der durch die im Ausland erzielten Preise die Ein¬
fuhrkosten der Rohstoffe deckt und der dennoch ausreicht, um auch das Inland mit
seinem gewaltig gesteigerten Bedarf an Waren aller Art einigermaßen auskömmlich
zu versorgen. Die Leistungsfähigkeit der Industrie aber hängt wiederum ebens»
von der Leistung der in ihr beschäftigten Arbeiter, wie von der genügenden Be¬
lieferung mit Kohlen ab. Die leider zur Regel gewordenen Streiks auf der einen
Seite, die infolge des Abtretens der Kohlengebiete und der uns auferlegten Kohlen¬
lieferungen immer schlechter werdende Belieferung mit Kohlen auf der anderen
Seite, bedeuten eine Lahmlegung der Industrie, die sowohl die Ausfuhr ins Aus¬
land, wie auch die Deckung des inneren Bedarfs wesentlich in Frage stellt. Um
anschaulich zu machen, welche Summen zur Beschaffung der nötigen Rohstoffe er¬
forderlich sind, mag erwähnt werden, daß allein die Beschaffung von Rohstoffen
und Halbfabrikaten für die Textilindustrie bei deren voller Leistungsfähigkeit etwa
454 Milliarden Mark in Gold, das sind 45 Milliarden Papiermark, erfordern würde.
Aus diesem Kapitalbedarf der Industrie erklärt sich auch die erhebliche Vermehrung
des Industriekapitals, die zum großen Teil durch Herausgabe neuer Aktien sowie
von Jndustrieobligationen gedeckt wird. Dies im Zusammenhang mit der Steuer¬
gesetzgebung, sowie der Neigung des Auslandes, für infolge des Währungsunter¬
schiedes verhältnismäßig billiges Geld gute deutsche Papiere zu erwerben, ist der
Hauptgrund für die jetzt zu beobachtende außerordentliche Prosperität der deutschen
Banken, die kaum Räume und Personal genug finden können, um ihre Geschäfte
zu erledigen. Dabei soll aber nicht verschwiegen werden, daß infolge der allgemeinen
Preissteigerung, insbesondere aber der Lohnbewegung im Bankgewerbe das Un-
kostenkonto mancher Banken einen Betrag erreicht hat, der bei einem Rückgang der
Gewinn« die liquiden Mittel der Banken immerhin nicht unerheblich bean¬
spruchen kann.
Wenn, wie erwähnt, bereits vor dem Kriege die deutsche Einfuhr die deutsch«
Ausfuhr an Umfang und Wert überstieg, dagegen aus den angeführten Gründen
die deutsche Zahlungsbilanz trotzdem aktiv war, d. h. Deutschland vom Ausland
mehr zu fordern hatte als es ihm schuldete, so wird in Zukunft sowohl Handels-
wie Zahlungsbilanz passiv sein. Dabei ist nicht zu vergessen, daß schon jetzt Deutsch¬
land dem Ausland ohne Vorkriegsverbindlichkeitcn etwa 50 Milliarden Mark
schuldet. In der Denkschrift der Reichsregierung über die Zahlungsfähigkeit
Deutschlands, die in Spa vorgelegt worden ist, und der wie dem sonst für Spa ver¬
wendeten Material die tatsächlichen Angaben dieser Darstellung im wesentlichen ent¬
nommen, während die übrigen Ausführungen lediglich die persönlichen An¬
sichten des Verfassers und nicht etwa amtlichen Charakters sind, wird
der Wert der künftigen deutschen Ausfuhr auf 35 bis 40 Milliarden Mark
Papier angenommen, während der Wert der unumgänglich nötigen einzu¬
führenden Lebensmittel und Rohstoffe auf 30 Milliarden Mark beziffert wird.
Dadurch, daß für die Eisen- und Stahlindustrie die wichtigsten Produktionsstätten
in Deutschland verloren sind und in großem Maßstabe Eisenerz eingeführt werden
muß, erwächst der Zwang, vor allem die hieraus hergestellten Fabrikate vorwiegend
ins Ausland zu exportieren. Denn eine Aktivität der Handelsbilanz kann hier nur
dann eintreten, wenn der Wert der ausgeführten, in Deutschland fertiggestellten
Waren den Wert des eingeführten Rohstoffes übersteigt, aus dem jene Warm
gefertigt wurden. Dabei läuft der Fabrikant, wenn er die benötigten Rohstoffe auf
eigene Kosten einführt, ein nicht unerhebliches Risiko insofern, als jede Hebung
der deutschen Währung den Wert der bereits bezahlten Rohstoffe, gleichzeitig aber die
Ausfuhrmöglichkeit ins Ausland herabmindert. Wirkt doch, wie wir gerade in der
letzten Zeit erfahren haben, eine sinkende Valuta als Ausfuhrprämie, eine steigende
als Ausfuhrzoll. Man hat diesem auf dem Valutaunterschied aufgebauten Mi߬
stand dadurch zu begegnen gesucht, daß die sogenannte Veredelung, d. h. die Be¬
arbeitung des aus dem Auslande eingeführten Rohstoffs in Deutschland für Rech¬
nung des bestellenden Ausländers betrieben wird. Hierdurch wird aber die so
arbeitende Industrie noch mehr vom Ausland abhängig und ihm gegenüber geradezu
in die Rolle einer unselbständigen Lohnindustrie herabgedrückt, eine Art nationaler
Heimarbeit zugunsten fremder Industrien. Auch das entspricht natürlich nicht den
berechtigten Interessen des deutschen Wirtschaftslebens. So bleibt, wie bereits an¬
gedeutet, nur die möglichste Hebung der Leistungsfähigkeit der deutschen Industrie.
Sie läßt sich nicht auf einmal erreichen, es bedarf dazu einer nachhaltigen Kräftigung
des Gesundheits- und Ernährungszustandes der arbeitenden Bevölkerung, einer
Deckung des Inlandsbedarfes an Waren, insbesondere soweit sie für die unmittel¬
bare Lebenshaltung wesentlich sind, und vor allem der nötigen Rohstoffe, um die
volle Aufnahme der industriellen Arbeit erst einmal zu ermöglichen. Alle diese Vor¬
aussetzungen, die bisher nicht vorhanden sind, nimmt der Friedensvertrag von
Versailles als gegeben an, wenn er von 1926 an eine regelmäßige Jahreszahl«»«
von S.4 Milliarden Mark Gold festsetzt. Es ergibt sich dies daraus, daß ein den
Wert der Einfuhr übersteigender Überschuß eine Ausfuhr von Waren im Wert der
obengenannten Summe 25 bis 30 ?6 der Gesamtausfuhr ausmachen würde. Daß
dies nicht der Fall sein kann, folgt aus den vorgetragenen Umständen ebenso wie
aus der Bestimmung des Friedensvertrages, nach der Deutschland nach Inkraft¬
treten jenes Vertrages selbst nirgends die Meistbegünstigung für seinen Handel
erhält, sie aber Wohl den Feinden von vornherein zu gewähren hat.
Ist so das deutsche Wirtschaftsleben aus sich heraus nach der durch den
Friedensvertrag von Versailles geschaffenen Lage nicht imstande, gleichzeitig die
ihm für das eigene Volk obliegenden Aufgaben zu lösen und dabei doch die Ver¬
pflichtungen gegenüber unseren Feinden zu erfüllen, so wird daran auch durch das
Anziehen der Steuerschraube, wie unsere Feinde vielfach zu glauben scheinen, nichts
Wesentliches geändert. Es würde zu weit führen, hier im einzelnen auf die An¬
sprüche einzugehen, die Deutschland zu befriedigen hat, um den Anforderungen des
eigenen Landes auch nur einigermaßen gerecht zu werden. Nur darauf soll in
diesem Zusammenhang hingewiesen werden, daß seit dem Waffenstillstand und der
inneren Umwälzung das Heer der Beamten nahezu ins Uferlose vermehrt ist und
die Verwaltungskosten auf das Vielfache der früher in erheblich besseren Zeiten
benötigten Summe gestiegen sind. Erwähnt wurde bereits der Papiergeldumlauf,
der in Reichsbanknoten, Privatbanknoten, Reichs- und Darlehnskassenscheinen am
23. April 1920 auf 60,3 Milliarden gestiegen war. Bei Ablauf der ersten Oktober¬
woche dieses Jahres betrug der Notenumlauf 62 078,5, der an Darlehnskassenscheinen
13 360,7 Millionen Mark. Die fundierten Schulden des Reiches betrugen am
31. März 1920 92 Milliarden Mark, die schwebende Schuld belief sich auf 105 Mil¬
liarden Mark, insgesamt 197 Milliarden Mark. Am Schluß des Monats Juni war
die Gesamtschuld bereits auf 215 Milliarden, Mitte September 1920 auf 242,7 Mil¬
liarden Mark gestiegen. Weder können zur Zeit die schwebenden Schulden zurück¬
gezahlt, noch in fundierte Schulden verwandelt werden. Die Sparkraft des Volkes
würde dies nicht zulassen, da die völlige Entziehung des Kapitals jedes Erwerbs¬
leben vernichten würde. Der laufende Steuerbedarf, der ordentliche Bedarf deS
Reiches von 1920 an laufenden Ausgaben, war zunächst auf 32,3 Milliarden Mark
berechnet worden, eine Summe, der mindestens 3 Milliarden Mark für die Länder
und Gemeinden hinzutreten. Dieser laufende Steuerbedarf von 32 Milliarden Mark
bringt für den Kopf der Bevölkerung eine Belastung von 533 -F. Die bewilligten mit
den bisherigen Steuern waren auf einen Ertrag von 30 Milliarden 950 Millionen
Mark veranschlagt, so daß also auch da noch ein Fehlbetrag von mehr als 1 Mil¬
liarde Mark bleibt. Nun treten aber zu den: vorbezeichneten Bedarf noch ein¬
malige Ausgaben aus dem ordentlichen Etat, die für 1920 vom Reich ursprünglich
auf etwa 4 Milliarden angenommen sind. Dazu kommt noch der außer¬
ordentliche Etat mit Ausgaben in Höhe von 39,7 und Einnahmen von
2 Milliarden Mark. Hierbei ist der Fehlbetrag der Eisenbahn mit voraussichtlich
über 16 Milliarden Mark und der Post mit 2 Milliarden Mark noch nicht in An¬
schlag gebracht. Der Gesamtfehlbetrag beläuft sich also auf mindestens 1 -> 37,7 ->-, 13
— 56,7 Milliarden Mark. Dies gilt für die Zeit Ende September 1920. Seither
dürfte sich die Belastung des Reiches nicht unerheblich verstärkt haben. Hieraus
dürfte zu folgern sein, daß, zumal die Steuern voraussichtlich unregelmäßig und
spät eingehen werden, das Gesamtdefizit zwar auch nicht annähernd genau errechnet
werden, aber immerhin als so hoch angenommen werden kann, daß von einer Ver-
Wendung zu Zwecken der Entschädigung von Reichsangehörigen (geschätzt auf
131 Milliarden Mark) und der Wiedergutmachung gegenüber den Feinden kaum die
Rede sein dürfte. Im einzelnen sollten im Jahr 1920 eingenommen werden für
die Reichskasse
im ganzen mithin 6X> Milliarden Mark. Außer diesen Steuern waren im Vor¬
anschlag für 1920 3 Milliarden Mark eingestellt aus der Kriegsabgabe vom Ver¬
mögenszuwachs, aus Stempel- und Verkehrssteuern 1030 Millionen Mark und aus
der Umsatzsteuer 3102 Millionen Mark. Aus Verbrauchssteuern, Zöllen und Mono¬
polen glaubte man auf einen Gesamtertrag von 9087 Millionen Mark rechnen zu
zu dürfen, aus Zöllen auf eine Einnahme von 2,5 Milliarden Mark, aus der Tabak¬
steuer wollte man 1 Milliarde verinnahmen und aus der Weinsteuer 250 Millionen
Mark. So erhoffte man aus den laufenden direkten und den Verkehrssteuern 10,88 Mil¬
liarden Mark, aus einmaligen direkten Steuern 3 Milliarden Mark, aus Zöllen,
Verbrauchssteuern und Monopoleinnahmen 9,1 Milliarden Mark, zusammen also
22,98 Milliarden Mark. Dazu treten noch 1 Milliarde Mark aus Ausfuhrabgaben
und 950 Millionen Mark aus dem Bankwesen, sowie an noch nicht bewilligten neuen
Steuern 2922 Millionen Mark. Es bedarf kaum einer Ausführung, daß eine
weitere steuerliche Belastung unter den gegenwärtigen wirtschaftlichen Verhältnissen
auf absehbare Zeit kaum möglich, aber ebenso kaum abwendbar ist. Die Vermehrung
oder Erhöhung der direkten Steuer würde die jetzt schon begonnene Konfiskation
des Kapitals vollenden und damit jede produktive Tätigkeit völlig lähmen. Die
Bewilligung weiterer indirekter Steuern ist in einer Demokratie schon aus politischen
Gründen ausgeschlossen, würde aber auch wirtschaftlich nicht zu rechtfertigen sein,
weil sie die Kosten der Lebenshaltung der Massen noch erhöhen und damit das
Reich voraussichtlich zu neuen Ausgaben zwingen würde. Hat die Regierung doch
in der Zeit vom Juli 1919 bis Ende Juni 1920 fast 10 Milliarden Mark, das sind
160 auf den Kopf der Bevölkerung, zwecks Verbilligung ausländischer Lebens¬
mittel zur Verfügung stellen müssen. Gleichfalls mindestens 10 Milliarden Mark
werden jetzt für die nächsten Monate zur Ermöglichung der Einfuhr ausländischer
Lebensmittel aufzuwenden sein, wenn wir vor dem Verhungern geschützt sein sollen.
Aus dieser finanziellen Not des Reiches den Ausweg des Staatsbankerotts zu
wählen, mag einfach erscheinen, ist aber schon um deswillen unmöglich, weil dann,
abgesehen von der Vernichtung unseres Kredits nach außen, im Innern der völlige
Zusammenbruch des gesamten wirtschaftlichen Lebens und als Folge davon die
Anarchie eintreten würde. Es ergibt sich dies schon daraus, daß, wie bekannt, die
deutschen Kriegsanleihen im Ausland kaum, im Inland dagegen in allen, und
Zwar auch in den ärmeren Schichten der deutschen Bevölkerung weit verbreitet sind.
Nimmt man nun zu den Lasten, die dem Reich schon aus seinen eigenen Auf¬
gaben in der Verwaltung überhaupt im Innern erwachsen, die Riesmsummm ein-
schließlich der sogenannten Wiedergutmachung, die ohne bisherige Begrenzung nach
oben der Friedensvertrag in all seinen Auswirkungen von ihm fordert man denke
nur an die Kosten der feindlichen Besetzung! —, so kommt man zu Beträgen, die
sich jeder Berechnung entziehen und mit deren wirklicher Beschaffung und Ein¬
treibung nicht ernstlich gerechnet werden kann. Infolgedessen dürfte es Aufgabe
der deutschen Regierung sein, bei den bevorstehenden Verhandlungen über die Fest¬
setzung einer Pauschalsumme als Kriegsentschädigung, die in Genf, Brüssel oder
Paris vor sich gehen sollen, in noch intensiverem Maßstabe, als dies in Spa geschehen
ist, die wirtschaftliche Lage Deutschlands wie den Stand seiner Finanzen klarzu¬
legen und alle über die Kräfte des Reiches hinausgehenden finanziellen Forderungen
entschieden zurückzuweisen. Zum Wiederaufbau ebenso der deutschen Finanzkraft
wie des deutschen Wirtschaftslebens, die sich beide gegenseitig bedingen, gehört von
feiten der Feinde eine Schonung, die in ihrem eigenen Interesse liegt, wenn sie über¬
haupt in absehbarer Zeit weitere Leistungen von Deutschland erreichen wollen. ES
gehört von feiten des deutschen Volkes dazu ein Sichbesinnen in allen Kreisen der
Bevölkerung. Die Arbeiterschaft, die durch die politische Entwicklung die herrschende
Klasse geworden ist, muß sich vergegenwärtigen, daß Herrschaft nicht nur Rechte gibt,
sondern auch Pflichten und Verantwortung aufbürdet. Sie muß vor allen Dingen
lernen, anstatt der schrankenlosen Befriedigung der eigenen Bedürfnisse sich als
Glied des Großen und Ganzen zu fühlen und die von ihr veranlaßte Umwälzung
nicht dauernd zu immer erneutem Lohnkampf herabzuwürdigen. Das deutsche
Bürgertum, dessen Feigheit und Fatalismus nach oben wie nach unten an dem
Niederbruch Deutschlands wesentlich mit schuld ist, wird, wenn es sich und sein Volk
vor völligem Untergang bewahren will, die Mahnung Goethes beherzigen müssen:
So ist Deutschland nicht zu retten, die deutsche Wirtschaft nicht wieder aufzu¬
bauen, ohne eine Änderung der psychischen Verfassung des deutschen Volkes. ES
ist der Geist, der sich den Körper baut. Die deutsche Seele, die deutsche Volksseele
ist krank. Alle, die geistige Führer sind, müssen daran arbeiten, daß die deutsche
Volksseele gesunde. Hier erwächst vor allem der Kirche und ihren Dienern eine
gewaltige nationale und soziale Aufgabe. Bismarck hat einmal gesagt: „Nach 1L06
war Deutschland in Preußens Pfarrhäusern". Die evangelische Kirche ist im poli¬
tischen Leben von jeher nie, im sozialen wenig hervorgetreten. Das entspricht ihrer
Eigenart und ihrer Aufgabe, die nicht auf diesseitige Dinge eingestellt ist. Aber
in einer Not des Volkes und Vaterlandes, wo es sich auch in geistiger und geist¬
licher Beziehung um die letzten und höchsten Dinge handelt, kann die evangelische
Kirche durch ihre Diener und Gemeinden ein Sauerteig werden, der die Genesung
des deutschen Geistes und die Erlösung aus den Nöten dieser Zeiten mit herbei¬
führen hilft.
Man hat gesagt, ein Volk von 60 Millionen könne nicht sterben. DaS ist
arr dann richtig, wenn dieses Volk sich nicht selbst aufgibt. Im inneren Kampf
aller gegen alle, wie er jetzt tobt, ist weder auf politischem noch aus wirtschaftlichem
Gebiet eine Genesung möglich. Noch dürfen wir hoffen, daß die Gegenwart nur ein
Qbergangsstadium ist, daß sich unser Volk wieder aufraffen und Eichendorffs Worte
wahr machen wird:
Gott hat uns vor anderen Gaben verliehen, die zur Erreichung der höchsten
Ziele im Völkerleben befähigen. Jetzt kommt es vor allem darauf an, die edlen
Eigenschaften unseres Volkscharakters wieder zu entwickeln und in einmütigem Zu¬
sammenstehen das Gute aus der alten mit dem Berechtigten aus der neuen Zeit auf
Politischen, wirtschaftlichem und sozialem Gebiet in harter, aber fruchtbringender
Arbeit an uns und unserem Volke zu vereinigen und zu läutern. Dann werden
unsere Kinder und Enkel künftig vielleicht doch einmal in Erfüllung gehen sehen,
was in seinem eingangs erwähnten Gedicht des Dichters Sehergabe prophetisch
verheißt:
„Herr Gott im Himmel, welche Wunderblume
Wird einst vor allen dieses Deutschland sein!"
Lasten wir die Zukunft! Ob meine Voraussage über das Zurückbleiben des
Politischen Interesses und der demokratischen Hochflut eintritt oder nicht, wird
schwerlich einer von uns beiden festzustellen Gelegenheit haben. So rasch wird auch
nach meiner Überzeugung der Rückschlag kaum wirksam werden. Aber eine Unter¬
haltung wie die unsrige ist schließlich keine Parlamentsdebatte, in der nur Fragen
bon heute und morgen Beachtung und Gehör finden. Es lohnt sich immerhin, den
Lauf der Dinge auch einmal aus weiterem Abstände zu betrachten. Wer sich des
Abstandes bewußt bleibt, verfällt dadurch noch nicht der Weitsichtigkeit, vor der
Bismarck in dem neulich von mir erwähnten Briefe warnt.
Freilich, über solche Ausblicke zu strei ten, ist unfruchtbar. Lassen Sie mich
lieber das Mißverständnis aufklären, das meine abfällige Bemerkung über die „Ver-
Keistigung" der Politik und ihre unerfreulichen Folgen verschuldet hat. Sie wundern
sich bei mir über diese Scheu vor dem Geiste und fragen, ob ich eine Scheidewand
»wischen der Politik und dem geistigen Leben der Zeit aufrichten wollte. Wenn
eine solche Scheidewand denkbar wäre, würde ich alles tun, um sie niederzulegen!
Sie wissen, ich schwöre auf Platos Wort, daß nur der den Staat gut leiten kann,
der Höheres kennt als den Staat. Ich kann es also nur als beschämenden Mangel
ansehen, wenn der Staatsmann für seine Person nicht die Höhenluft des geistigen
Lebens atmet. Was ich ironisch Vergeistigung der Politik schalt, ist ihre unorganische
und, wie ich's nannte, unredliche Verauickung mit Methoden, Anschauungen und
Idealen aus dem höheren Gebiete, deren unvermittelte Übertragung, stets zu dem
unerfüllbaren Verlangen nach unmittelbarer Verwirklichung jener Ideale bereit, in
der letzthin geschilderten Litcratenpolitik ihre Gefährlichkeit nur zu deutlich erwiesen
hat. Wollen Sie sich an einem Beispiel überzeugen, was dabei herauskommt, wenn
man die Politik mit Künstleraugen ansieht, so lesen Sie einmal das „politische Ge¬
ständnis eines Künstlers", mit dem Meyer-Gränse den „Ganymed" (Blätter der
Marsch-Gesellschaft) von 1919 einleitet. Es ist ein als Kriegsteilnehmer gedachter
Vollblutkünstler, den der bekannte Kunstschriftsteller seine politischen Wandlungen
während des Krieges erklären und deuten läßt. Bei Kriegsbeginn, überwältigt von
der Begeisterung der Tat, marschiert er freudig in Reih und Glied. Dann kam
das abstoßende Einerlei des Schützengrabens, ein Kriegsdasein, das nicht jahrelang
halten konnte, was der erste Aufschwung versprach. Und da es an Führern fehlte,
die mitzureißen wußten — ihre „schlechten Köpfe" sind ihm gleich anfangs aufgefallen,
und freilich, sieben den edlen Charakterköpfen von Erzberger, Scheide manu,
C o h n - N o r d h a u s e n und Liebknecht können sich die Alltagsgesichter
Hindenburgs und der Seinen nicht sehen lassen — so steht der einst begeisterte
Vaterlandsverteidiger heute bei den radikalen Revolutionären. Aber er spielt schon
mit dem Gedanken an eine neue Wandlung, für den Fall, daß auch die Revolution
ihn enttäuschen sollte. Denn er nimmt für sich als sein gutes Recht in Anspruch,
seinen politischen Standpunkt vom Eindruck der Persönlichkeiten, vom Rhythmus
des Geschehens, von der Farbigkeit der Ereignisse bestimmen zu lassen, ohne sich
um Gründe, politische Systeme und Parteiprogramme zu kümmern.
Ganz recht! In dieser Weise wirkt die Politik nicht allein auf Künstler,
sondern auch auf andere Zeitgenossen, auf die Massen, überhaupt auf alle — die eben
nicht politisch denken. Wer so auf politische Eindrücke reagiert, bekennt sich damit
als Objekt der Politik, nimmt nur passiv an ihr Teil. Der aktive Politiker muß
mit diesen Wirkungen rechnen, muß sich auf sie einstellen, mit ihnen arbeiten. Wer
ihnen unterliegt, wer dadurch, wie der Held jenes Künstlergeständnisses blindlings
von einem Gegensatz in den anderen geschleudert wird, muß Unheil anrichten, wen»
seine Auffassung und Denkart irgendwie zu politischem Einfluß gelangen.
Unser Künstler ist nicht der erste beste. Die tonangebende Persönlichkeit seines
Wortführers bürgt dafür. Sein Geständnis gibt sich auch nicht etwa als psychologische
Studie, als dichterisches Seelenbild in der Art wie Tollers „Wandlungen". Es
will augenscheinlich eine Rechtfertigung des politischen Verhaltens bestimmter und
bedeutsamer Kreise der Künstlerschaft und eine Begründung ihres Standpunktes sein.
Darüber hinaus aber scheint es mir bezeichnend für das politische Denken und
Empfinden der „Intellektuellen" überhaupt, und mag so zur Beleuchtung des Ver¬
haltens jener Gruppen dienen, die ich Ihnen als Vorkämpfer der Politisierung und
Demokratisierung vorführte.
Es ist kein Wunder, daß diese Kreise, die Geistigen, wie sie sich heut gerne
nennen, Künstler und Dichter voran — mit Ausnahme allerdings, und auch das ist
kennzeichnend, aller wahrhaft Großen —, politisch so leicht dem Radikalismus ver¬
fallen. Je feiner eine Natur organisiert ist, je stärker sie empfindet, um so tiefer
wird sie von der Unzulänglichkeit des Irdischen ergriffen, um so leidenschaftlicher
bäumt sie sich auf beim Anblick aller der Grausamkeiten, die der schaffenden Natur,
auch auf dem Gebiete menschlichen Zusammenlebens, beliebte Mittel für ihre ver¬
borgenen Zwecke sind. Wo dies starke und edle Gefühl nicht durch sicheren Instinkt
oder kritischen Verstand geleitet wird, wo nicht religiöser Sinn oder philosophisches
Unterscheidungsvermögen den Trieb nach Vollkommenheit und Harmonie dahin
weisen, wo er Heimatsrecht besitzt: ihn aus dem Zeitlichen ins Ewige, aus der Welt
der Erscheinungen ins Transszendentale, aus dem Sozialen ins Reich der Per¬
sönlichkeit, mit dem bekannten Wort F. Th. Wischers gesagt: aus dem unteren in den
Oberstock der Menschheit hinüberrettcn, da wird der Drang nach Weltverbcsserung
übermächtig und rennt den Wirklichkeitssinn und das Verantwortlichkeitsbewußtsein
über den Haufen. So sind gerade die feinsten Geister, wenn in ihrer Entwicklung
nicht durch besonders glückliche Fügung jene überwachenden Kräfte mit der Ver¬
feinerung gleichen Schritt gehalten haben, am meisten in Gefahr, eingefangen und
mitgerissen zu werden, wenn der Radikalismus mit der Peitsche knallt, um die Ent¬
wicklung der Menschheit zum Galopp anzutreiben. Und die weniger feinen Ge¬
fährten, Jünger und Mitläufer legen Wert darauf, sich an ihrer Seite zu halten. Sie
sind es auch, die bei der Stange zu bleiben pflegen, wenn jene Edleren sich ent¬
täuscht in der Erkenntnis abwenden, daß die Zeit ihren gleichen Schritt, unbekümmert
um alles Geknall und Geißelschwingen, weitergeht. Die Schläge aber, wenn solche
literarische Weltverbesserungswut Gewalt über die Politik bekommt, treffen den
Staat, dem sie mit der Forderung im Nacken sitzen, ihre Ideale von heut auf
morgen in die Wirklichkeit umzusetzen.
Das ist der Grund, weshalb ich zugunsten der Staatskunst für reinliche Schei¬
dung zwischen Ober- und Unterstock eifere. Es heißt eine Kunst verderben, wenn
man von ihr verlangt, was sie ihrem Wesen nach nicht leisten kann.
Die Staatskunst hat freilich nicht erst seit gestern unter solchen unbilligen
Forderungen zu leiden. Schon die Erklärung der Menschenrechte, die aus den
Konstitutionen der amerikanischen Freistaaten in die der ersten französischen Republik
und von da in so viele neue europäische Verfassungen übergegangen ist, nannte unter
den Aufgaben des Staates die Sorge für die „Glückseligkeit der Einwohner".
Ebensogut könnte man in einen Wegebauplan die Pflasterung der Milchstraße hinein-
schreiben! Kein geringerer als Jakob Burckhardt sieht in der verfassungsmäßigen
Festlegung dieser Menschenrechte den verhängnisvollen Beginn einer unseligen Ver¬
wischung der Grenzen zwischen den Aufgaben des Staates und denen der Gesellschaft
und beklagt es, daß man dem Staate „in sein täglich wachsendes Pflichtenheft schlecht¬
weg alles oktroyiert, wovon man weiß oder ahnt, daß es die Gesellschaft nicht tun
werde". „Man will eben" — sagt er und rührt damit an den letzten Grund unseres
Politischen Elends, „man will die größten Hauptsachen nicht mehr der Gesellschaft
überlassen, weil man das Unmögliche will und meint, nur Staatszwang könne dieses
garantieren". Er kann es aber nicht! Er kann es am allerwenigsten. Man tut
dem Staate Unrecht und man tut ihm Schaden, wenn man von ihm verlangt, was
bestenfalls die Gesellschaft in allmählicher, Jahrhunderte währender Entwicklung zu
erreichen vermag: die Veredelung der Grundbedingungen menschlichen Zusammen¬
lebens. Er versäumt darüber seine angestammten Pflichten, die Staatskunst verödet
über dem hoffnungslosen Abmühen an unerfüllbaren Aufgaben, Regierende wie
Regierte werden verdrossen und enttäuscht durch die Danaidenarbeit, und auf dem
Boden ununterbrochener Enttäuschungen wächst die tätliche Erbitterung aller gegen
alle, die schließlich, im Kampfe aller gegen alle endend, den Staat selbst zerstört.
Mich dünkt, die Geschichte der Politik seit der Erklärung der Menschenrechte ist
ein einziges, erschütterndes Bild dieses Entwicklungsganges.
Der andere Teil, die Gesellschaft, deren Aufgaben der Staat an sich gerissen Hai,
fährt nicht besser bei dieser Grenzverrückung. Selbst der begeistertste Verfechter der
Staatsallmacht wird nicht zu behaupten wagen, daß die Glückseligkeit der Einwohner
wohl gediehen sei, seit der Staat ihre Förderung pflichtmäßig übernommen hat.
Wir alle sind vom Gegenteil überzeugt. Der Eindruck, daß Glück und Lebensfreud»
im modernen Leben immer spärlicher blühen und immer härter um ihr Recht zu
kämpfen haben, ist so zwingend, daß keiner sich ihm entziehen kann, so sehr wir uns
dagegen sträuben und so wenig sich ein beweisbarer Vergleich anstellen läßt. Den
modernen Staat hierfür als Hauptschuldigen haftbar zu machen — statt der Welt¬
anschauungskrise, die im Grunde das Wesen des Modernen bestimmt —, wäre eine
Lächerlichkeit, die Sie mir nicht zutrauen werden. Ohne Mitschuld aber sind seine
Übergriffe ins persönliche Leben nicht. Wenn das Glück der Erdenkinder einzig
in der Persönlichkeit wurzelt — und über diese Grundwahrheit bedarf es zwischen
uns keiner Verständigung —, dann muß es leiden, wenn die Persönlichkeitswerte
und ihre Pflege vom Geiste der Zeit vernachlässigt werden, wenn die sozialen und
politischen Ideen sich auf ihre Kosten einseitig und im Übermaß aufwachsen und
breitmachen und sie aus dem Mittelpunkt des Denkens und Lebens verdrängen. So
steht es in unserer Zeit. Das öffentliche Leben überwuchert das Persönliche. Die
Arbeit am eigenen Ich, die einzige Handhabe, die dem Menschen gegeben ist, um an
seinem und seines Nächsten wahrem Glücke zu weben, tritt in den Hintergrund.
Sie muß ja auch an Triebkraft verlieren, je mehr auf dem Felde, das sie zu
bestellen hat, von der Allgemeinheit, vom Staate verlangt und erhofft wird. Sie
werden selbst die vielbesprochene Wahrnehmung bestätigt gefunden haben, daß die
Selbstverantwortung des einzelnen verkümmert, wo die Staatsfürsorge für die
Sicherstellung seines Daseins verantwortlich gemacht wird. Die Beziehungen vor»
Mensch zu Mensch aber verlieren ihre Eigenart und ihre Wärme, wenn einer dem
anderen nur noch als Staatsbürger gegenübersteht. Am grellsten tritt dies zutage,
wenn ein soziales Verhältnis durch öffentlich-rechtliche Regelung schematisiert wird.
Nicht allein patriarchalische Verhältnisse müssen dadurch absterben, was ich nicht
anstehe als schmerzlichen Verlust zu beklagen; auch kameradschaftliche Bande aller
Art sehen wir gelockert und durchschnitten, und die großartige, aber unpersönliche,
finster-trotzige, mit Hilfe von Terrorismus zusammengehaltene Gemeinbürgschaft der
Arbeitermassen bietet, menschlich betrachtet, einen schlechten Ersatz.
Von dem geistigen Leben der so politisierten Massen sagte ich letzthin, es ver¬
falle der Verödung durch die einseitige Zuspitzung alles Denkens auf die Politik
Sie halten mir zur Entgegnung das leidenschaftliche Bildungsstreben vor, das ti»
Sozialdemokratie in unserer Arbeiterschaft geweckt habe. Ob sie es geweckt hat oder
ob es ihr entgegengekommen ist, bleibe dahingestellt. Es ist jedenfalls bewunderungS-
wert und hat mich in seiner Hingabe und Opferfreudigkeit oft tief ergriffen. Mit
einem Gefühl allerdings, dem ähnlich, mit dem Goethe in dem venezianischen Epi¬
gramm des Pilgers und seiner Beseligung durch einen falschen Begriff gedenkt. Sind
es nicht Steine, die diesen nach geistiger Nahrung Hungernden statt Brotes von der
nur auf politische Dressur bedachten Partei gereicht werden? Ist die dogmatisch
verknöcherte, im Sumpfe eines platten Materialismus und Militarismus erstickende
sozialistische Volksbildung, ist diese Volksversammlungsrhetorik, diese tendenziöse
Geschichtsklitterung, diese rabulistische Zusammenstellung nationalökonomischer und
statistischer Einzelheiten, dieser Absud aus Haeckels „Welträtseln" und der Religions-
philosophie eines Adolf Hoffmann — eine Partei, die es fertig gebracht hat, ihm
das Kultusministerium zu übertragen, hat eigentlich das Recht verwirkt, über Kultur¬
fragen überhaupt mitzureden —, ist das alles, frage ich Sie, überhaupt Bildung?
Ist es nicht in Wahrheit eine trostlose Verödung und Verflachung der Volksseele,
gemessen an der Kultur vergangener Zeiten, wie sie uns in Volkskunst, Volkslied
und Volksbräuchen überliefert ist? Zeigt nicht das Geistesleben eines weltabgeschie¬
denen Alpennestes, das sich die alte Sitte seiner Mysterienspiele erhalten hat — ich
meine nicht das Allerweltspassionsdorf in Oberbayern mit seiner auf die Schaulust
von Globetrotters berechneten Münchener Malkastentheatralik —, zeigt es nicht in
all seiner Enge, selner Dumpfheit und seinem Aberglauben mehr Reichtum, mehr
Farbe, mehr Seele, fast möchte ich sagen: auch mehr Freiheit als jene parteipolitische
Ablichtung?
Als ich neulich davon sprach, daß der Staat sich wieder auf seine Nachtwächter¬
rolle besinnen müsse, fragten Sie mich ganz bestürzt, ob ich denn in Mcnschheits-
sragen den Entwicklungsgedanken abgeschworen hätte. Im Gegenteil! Gerade
weil ich mich — selbst in den Tagen des Bolschewismus, des Friedens von Versailles
und der jungen deutschen Republik — an diese Hoffnung festklammere, gerade deshalb
will ich nicht, daß der Racker von Staat mit seinen plumpen Fingern an diese
Dinge rührt. Die Entwicklungen der Kultur — das viel mißbrauchte Wort.in
seinem wahren, noch unentweihten Sinn angewandt — vollziehen sich im Oberstock
der Menschheit leise und eigenwillig nach ihren eigenen Gesetzen. Die gutgemeinten
Hilfen und Förderungsabsichten, die aus den Niederungen des praktischen Lebens
regelnd, richtunggebend, beschleunigend hinaufreichen möchten, haben sich von jeher
als heillose Störungen erwiesen. Laßt die droben in Ruhe! Laßt sie wirken und
weben, wie der Geist sie treibt! Das Beste, was ihr tun könnt, ist, ihnen eine treue
Schildwacht sein gegen feindliche Mächte, gegen die Nückfallzuckungen des Faustrechts.
Weit besser jedenfalls, als wenn ihr die Ideale bet dem hoffnungslosen Versuche, sie
vor den Karren der Zeit zu spannen, in den Staub der Alltäglichkeit herabzieht!
Dabei wird nur das Ideal staubig und die Alltäglichkeit auf den Kopf gestellt. Es
führt kein Weg zur Fata Morgana eines Paradieses auf Erden. Die ihn immer aufs
neue zu bahnen versuchen, verwüsten dabei nicht allein die Saatfelder, die uns das
tägliche Brot spenden, sie verlieren auch die Richtung nach einem Menschheitsziele,
das wahrlich mehr bedeutet als ein irdisches Paradies.
t^M
KMUircmkreich, müde des Henkers und des Fallbeils der Schreckenszeit, müde
auch des ununterbrochenen Freudenrausches, der die üppigen Tage
eines Barras ausgefüllt hatte, war reif und geneigt, sich einem
De poker zu beug n — vorausgesetzt, daß er ein Genie war, und
so sank, als Bonaparte aus Ägypten heimkehrte, die verrottete
Well des Direktoriums in Trümmer. Aber neues Leben blühte aus den
Ruinen: ein dreiköpfiges Konsulat ersetzte die gestürzte Behörde der Fünf¬
männer) in Wahrheit freilich trat an die Spitze des Staates der mit dem
Nimbus des Siegers geschmückte General, dem seine Kollegen nur als Dekoration
dienten. Nun lebte, da wohlsituierte Leute unter der geordneten Regierung keinen
Gard mehr halten, ihren Reichtum zu verbergen, überall geselliger Verkehr auf,
und zumal Paris zeigte in dieser Hinsicht Kato ein Antlitz wie vor den Saturnalien,
die während der He>rschaft der Guillotine gefeiert, und vor den Tollheiten, die
unter den Auspizien der Göttin Vernunft begangen worden waren. Der Winter
von 1799 auf 1800 und der ihm folgende verliefen geradezu glänzend und stellten
dem neuen Jahrhundert auf gesellschaftlichen Gebiete eine sehr günstige Prognose)
wie von einem Alb befreit, trank man in vollen Zügen den Becher der Lust. Auf
Befehl des ersten Konsuls gaben auch die Generäle und hohen Staatsbeamten
Gesellschaften, unter denen besonders die Bälle bei dem Kriegsminister Berthier
sich eines gewissen Rufes erfreuten. Einen ihrer Anziehungspunkte bildete die
pikante Frau Hamelin; hätte der Umstand, daß ihr Gatte Armeelieferant war,
ihr nicht Berthiers Tür geöffnet — ihr Liebesverhältnis mit dem einflußreichen
General Fournier würde es getan haben. Den Offizieren und Beamten gegen¬
über wollte aber die hohe Finanz nicht zurückstehen, so lud auch sie denn zu
pompösen Festen, bei denen oft eine geradezu märchenhafte Pracht entfaltet wurde)
besonders der Bankier Ouvrard auf seinem Schlosse Raincy, wo die schöne
Theresia Tallien eine ähnliche Rolle spielte wie Frau Hamelin beim Kricgminister,
konnte sich darin nicht genug tun.
Und im Gefühl der Sicherheit vor ferneren Bürgerkriegen tauchte auch der
alte Adel wieder auf: aus dem Schiffbruch der Gesellschaft des anervn rößimo
hatten sich Trümmer gerettet, die nun, nachdem der stürmische Wellenschlag der
Revolution verebbt war, an der Oberflüche erschienen) dazu kehrten viele Emigranten,
von Sehnsucht getrieben, in die alte Heimat zurück. Diese Royalisten, die einst
in Versailles, wo nach Montesquieus Ausspiuch große Herren in Lakaien verwandelt
wurden, das leere Bett des Monarchen mit einer Knübeugung begrüßt hatten,
standen natürlich dem neuen Herrscher — zunächst wenigstens — frondierend gegen¬
über und bildeien eine Welt für sich, eine Art Frcmdkmper im geselligen Leben
der napoleonischen Kreise. Exklusiv, in ihren alten, vorrevolutionären Ideen
befangen, lebten sie, der Gegenwart feindlich, ihren Erinnerungen und mehr noch
— kunstfertige Architekten im Bau von Luftschlössern — ihren Hoffnungen. A ßer
diesen hielt sie der allen gemeinsame gute Ton zusammen. Manche von ihnen
schlugen sich, durch die Revolution ihrer Güter beraubt, kümmerlich durch: der
Marquis de V6ran z. B. bewohnte ein Dienerzimmer, das, von dem Bette abgesehen,
nur mit einem Stuhle möbliert war, und die Baronin v. Montmorency wusch
und plättete ihr Musselinkleid eigenhändig. Hauptsächlich im Salon der Frau
v. Montesson, der „morganatischen Witwe" des Herzogs von Orleans, Vaters
von Philipp Egalits, einer Verkörperung des Vergangenen, die noch den Hof
Ludwigs XV. gekannt hatte, sammelte sich zu Beginn des Konsulats dieser Zirkel,
die Herren, wie einst, in Kniehose, seidenen Strümpfen und Schnallenschuhen, die
Damen leicht kenntlich an ihrem ungezwungenen Anstünde und der Art, wie sie
beim Gehen den Saum ihres Gewandes hoben. Frau v. Montesson war auch
die erste, die ihre Diener aufs neue in Livree kleidete und an ihren Wagen wieder
ihr eigenes Wappen und dasjenige der Orleans anbringen ließ. Es herrschte in
den gastlichen Räumen ein feiner Ton, obgleich die Dame des Hauses, für deren
Reize der Umstand spricht, daß ihr Neffe, ein Graf Valence, als ganz junger
Mann eine Zeitlang ihr Liebhaber war, nicht nur selbst eine sehr bewegte Vergangen¬
heit hatte, sondern auch gern alte Gecken und leichtsinnige Frauen bei sich sah,
so daß Talleyrand, sarkastisch, wie er war, meinte, das Haus der interessanten
Erscheinung liege am äußersten Ende der Schicklichkeit. Neben solchen moralisch
angekränkelten Existenzen gab es aber auch höchst achtbare Damen unter dieser
Aristokratie,- so eine Frau v. Angiviller, die, in ihrem Inneren zwiespältig — sie
war, weil geistvoll, halb Voltairianerin und, da sie sich vor dem Tode fürchtete,
halb strenggläubig —, doch ein goldenes Herz besaß: von ihren milden Gaben
fristeten etwa dreißig ruinierte Aoelsfamilien ihre Existenz.
Scharf hoben sich von diesen/Edelleuten die oft durch schmutzige Geschäfte
reich gewordenen, aber an Bildung des Geistes und des Herzens unendlich armen
Emporkömmlinge ab, meist Kriegsgewinnler, die nichts von den Schätzen des guten
Tones und der Eleganz ihr eigen nannten. Ihnen ging es ähnlich wie den
Feldherren, die zwar zu siegen, aber den Sieg nicht zu nutzen verstehen: sie hatten
die Gabe, Reichtümer zu erwerben, doch eS fehlte ihnen die Fähigkeit, sich ihrer
mit Anstand zu bedienen. Dabei hinderte ihr Haß gegen die Edelleute diese
Parvenus keineswegs, ihnen nachzuahmen und somit ihre Superiorität anzuerkennen,
die sich auf die Tatsache stützte, daß man Traditionen weder schaffen noch vernichten
kann: die Söhne der aufstrebenden Sphäre suchten ihr gesellschaftliches Neovhytentum
durch eine Weihe in den Sälen des Tanzmeisters Coulon zu verdecken, während
die Töchter bemüht waren, die den Französinnen so oft angeborene Grazie mittels
einer unter dem Beirate sachkundiger Modistinnen zusammengestellten Toilette in
möglichst Helles Licht zu rücken. Der Erste Konsul, der eine Versöhnung aller
Parteien herbeizuführen wünschte, suchte zwischen den sich widerstrebenden Kreisen
»u vermitteln, und da seine Gattin Josephine stets eine gewisse Schwäche für
den Adel der Königszeit gehabt hatte, diente sie als willkommenes Bindeglied
jwiichen den Leuten von gestern und denen von heute, zwischen der alten und der
neuen gesellschaftlichen Welt, und rekrutierte nicht ohne Geschick unter der Aristokratie
für ihren Gatten: eine Anzahl Männer und Frauen, den Familien angehörig, die
Man als das „Faubourg Se. Germain" zu bezeichnen Pflegte, beugten sich, zum
Teil von ihr beeinflußt, der zwingenden Macht der Verhältnisse und suchren Anschluß
an den Ersten Konsul, die heterogenen Elemente begannen sich infolge davon ein-
ander zu nähern, .und beispielsweise im Salon der tonangebenden Frau Nöonnier,
der schönen Gattin eines mit irdischen Gütern reich gesegneten Bankiers, verkehrten
Vertreter des alte-isri rögims mit ausgesprochenen Repräsentanten der republikanischen
Welt — allerdings nicht ohne sie hinter dem Rücken mit dem Gifte ihres Spottes
zu bespritzen —, und dadurch, daß beiden Richtungen sich in manchen Häusern die
Halbwelt einte, entstand eine neue Gesellschaft: die spezifisch napoleonische. Räume
wie diejenigen der Frau Permon, der Mutter der Generalin Junot und späteren
Herzogin von Abrantös, öffneten sich heimgekehrten Emigrantinnen und Damen
der neuen Aristokratie — darunter der Mutter und den schwerem des Ersten
Konsuls — so gut wie der ausgeprägten Halbweltlerin Frau Hamelin,' man war
nicht engherzig im Punkte der Moral.
Und wie derartige tolerante Anschauungen noch vielfach an die Direktorial¬
zeit erinnerten, so auch die Kleidung der Damenwelt. Theresia Tallien, eine der
ausgesprochensten Modedamen ihrer Tage, erschien, um nur diesen einen Fall
anzuführen, gelegentlich einer Galavorstellung im Opernhause als Diana
kostümiert: aus dem dunklen Haar leuchtete ein Diadem von Brillanten in Halb¬
mondform hervor, die entblößte Schulter trug einen mit Juwelen geschmückten
Köcher, und von der schönen Huste fiel ein Tigerfell bis zu den Füßen hinab,
den alabasterweißen unteren Gliedmaßen als günstige Folie dienend. Es wurde
überhaupt auf dem Gebiete der Toilette ein arger Luxus getrieben, und manche
Frau verbrauchte für ihre Kleidung Summen, die zu der Börse ihres Gatten,
selbst wenn sie wohl gespickt war, so wenig in dem richtigen Verhältnis standen,
daß dieser und jener ihrer Freunde reichliche Gelegenheit fand zu zeigen, ob er eine
offene Hand habe. Auch Bonapartes Expedition an die Ufer des Nils wirkte in
der Gewandung und dem Schmucke der F auenwelt nach) Julie Recamier trug
bisweilen einen starken weißen, auf ägyptische Art pyramidal in die Hohe gesteckten
Schleier, und der Pelikan, der ihren Betthimmel livree, wie die antiken geschnittenen
Steine, deren sie selbst und manche andere Frau sich zur Hebung ihrer Toilette
bediente, erinnerten an die kürzlich angeknüpften Beziehungen zum Omme. Ganz
besondere Sorgfalt widmete ihrer äußeren Erscheinung die Gemahlin des Ersten
Konsuls) wenn sie auf ihrem Landsitze Malmaison weilte, wechselte sie, die
Monotonie des Daseins zu unterbrechen, nicht nur dreimal täglich das Hemd,
sondern änderte auch wohl noch öfter ihren Anzug, was sie sich freilich leisten konnte,
da sie über etwa 600 Roben verfügte. Man sieht, sie wirtschaftete nicht weniger
leichtsinnig als ihre Vorgängerin auf dem Throne, den sie selbst besteigen
sollte, Marie Antoinette, die der Volksmund mit Recht „Madame Defizit" genannt
hatte. Die Männerwelt, die begreiflicherweise auf ihr Äußeres weniger Gewicht
legte, trieb einen Luxus anderer Art: Schlemmerei, die manchmal Orgien gebar/
besonders junge Offiziere kamen bisweilen zusammen, um sich mal ordentlich
vollzutrinken.
Ein Vergnügen aber, dem beide Geschlechter mit gleichem Eifer huldigten,
war der Dienst Terpsichores) auf schönes Tanzen, auch seitens der Herrenwelt,
wurde ebenso großes Gewicht gelegt wie in den Teigen vor der Revolution, und
wie damals der berühmte Tänzer Vsstris sich zu den größten Männern seiner
Zeit gerechnet und am Hofe Ludwigs XVI. Beauharnais „Is aan>cur", JoscphinenS
erster Gemahl, die Damenwelt entzückt hatte, so fand jetzt ein Herr v. TrSniS
wegen der gleichen Kunstfertigkeit vor deren Augen Gnade. Auch Frau Nöcamier
tanzte unvergleichlich schön, besonders ihren viel bewunderten „Schaltanz". In
der besseren Gesellschaft hatte man für die Tanzvergnügungen eine von einem
Mohren geleitete Kapelle) er erhielt für 3 bis 4 Stunden 12 Louisdor, und es
gehörte zum guten Ton, ihn zu engagieren. Man ließ sich überhaupt die Geselligkeit
etwas kosten, wie das Vorgehen der Frau Hainguerlot zeiit) Gattin eines über
erhebliche Mulet verfügenden Bankiers, gab diese Dame Bälle, die mit einem
Lotteriespiel endeten, bei dem es keine nieder gab und jeder ein Schmuckstück gewann.
Daß es ihr bei solcher Liberalität an Gästen nicht fehlte, liegt auf der Hand,
aber der stärkere Magnet war doch die schöne, liebenswürdige und geistvolle Wiriin
selbst. Unter den Tanzlustbarkeiten, die sich in der Öffentlichkeit absp eilen, wurden
diejenigen der Ballhäuser TlMusson und Richelieu von den renommierten Schönheiten
der beginnenden napoleonischen Ära mit Vorliebe aufgesucht) außerdem vermittelten
die berühmten Opernbälle, die im Februar 1800 einsetzten und neben gesunkenen
Vertreterinnen vorm hener Kreise auch Repräsentantinnen der Halbwelt Gelegenheit
zur Entfaltung ihrer Reize gaben, unter dem alles Kompromittieren ausschließenden
Schutze von Larve und Domino so hübsch das leichte Spiel der Liebe) hier pflegte
auch Bonaparte, dem Schutze der Maske vertrauend, Freundinnen zu sprechen,
die er in den Sälen der Tuilerien nicht gut empfangen konnte. Neben dem Tanze
gab aber auch die Musik den geselligen Vereinigungen der Konsulatszeit einen
willkommenen Ne z) die Flöte freilich, die einst Friedrich der Große salonfähig
gemacht hatte, trat mehr und mehr in den Hintergrund, dafür wurde die sentimemale
Harfe modern) Frau Moreau beispielsweise, die hübsche Gattin des Siegers von
Hohenlinden, eine sehr talentvolle Dame, die nicht nur eine der elegantesten
Tänzerinnen der Hauptstadt war, sondern auch wie eine Künstlerin malte, stickte
und Klavier spielte, wußte dem schwierigen Instrumente bezaubernde Töne zu
entlocken. Besonders gern gehört wurden — vielleicht ein Nachklang aus der
Periode der Empfindsamkeit — Kompositionen für Harfe und Waldhorn. Mit
Tanz und Musik war aber das Repertoire gesellschaftlicher Unterhaltungen keines¬
wegs erschöpft) die Mimomanie, die Sucht Komödie zu spielen, erfaßte immer weitere
Kreise und artete bald zur Tollheit aus. Die Proben waren aber auch gar zu
amüsant, der Beifall der Zuschauer so berauschend, und zumal die Frauen hatten
ganz besonderes Talent für die Lüge der Szene. Auch in Malmaison führte, der
Mode der Zeit entsprechend, der um den Ersten Konsul sich bildende Kreis häufig
Theaterstücke auf. Ebenso hielten die Karten viele in ihrem Bann. Frau Gail
z. B., die Gattin des berühmten Hellenisten, war ihrem Zauber derart verfallen,
daß sie, wenn es sich gerade so machte, ähnlich wie manche unserer Studenten
beim Dauerskat, vierundzwanzig Stunden ununterbrochen am Spieltiich zuzubringen
vermochte. Und auch das Hasardspiel olÄite) eine Gesellschaft, die großenteils
aus zurückgekehrten Adligen bestand, hatte die Pariser Spielhöllen für eine fabel¬
hafte Summe gepachtet und suchte daher auf jede Weise, so unter anderem durch
wöchentliche Freibälle, das Publikum anzulocken. Und mit Erfolg) die Roulette
wie den unergründlichen Geheimnissen des rougs et noir zog nicht nur die Reichen
ihren Bann — auch der Krieger opfevte ihr oft genug, was er in mühevollen
Feldziigen an Sold gewonnen hatte. V elem wurde der Spielsaal zum Dorado)
Manchem aber, der am grünen Tische, wo die verhängnisvolle Kugel rollte, sein
Glück hatte versuchen wollen und von der trügerischen Göttin genarrt worden war,
zog man anderen Tages aus den Fluten der Seine. Und auch an der Börse
wurde fleißig gespielt? Talleyrond, Minister des Äußeren und nebenbei leiden¬
schaftliche Spielraite, verlor dort Millionen, die er freilich schnell genug zu ersetzen
wußte: ihm flössen reichlich Gelder zu als Gegengabe für diplomatische Gefälligkeiten.
(Schluß folgt.)
Frankreich und die Lage i« Europa. Noch einmal ist der Kelch der
Besetzung des Ruhrgebiets an uns vorübergegangen. Aber wie ernst die Lage
immer noch bleibt, zeigt folgende Äußerung der radikalsozialistiichen (also bürger¬
lichen!) „Lre nouvelle" vom 14. November: „Die Besetzung des RuhrgebietS
ist das Schlagwort unserer gesamten nationalistischen Presse geworden. Es
handelt sich nicht mehr um die Pfandlheorie, sondern um die wirkliche Annexion
des Ruhrbeckens. Wie jetzt der Marschall Fons mit seiner militärischen Rhein¬
grenze veraltet dasteht. Jetzt zählen nur die wirtschaftlichen „Notwendigkeiten".
Tue „industrielle" Grenze Frankreichs ist die Ems. Welcher Vertreter des sive
national (der Clemcncistischen Mehrheit: Der Verf.) könnte sich der Durchschlags¬
kraft solcher Argumente entziehen? Allerdings ist wahr, daß 1915 die deutschen
Kohlenherren in einer berühmt gewordenen Denkschrift mit den gleichen Gründen
bewiesen, daß Buey deutsch werden müßte . . . Wie können wir auf Grund des
Nationalitätenprinzips fordern, daß Oberschlesien an Polen kommt, wenn wir
unsererseits gleichzeitig das Ruhrgebiet verlangen? Allerdings erzählt man uns, daß
nicht alle Deutschen den Einzug unserer Truppen in Westfalen mißgünstig ansehen
würden. Herr StinneS besonders wünscht, daß sie möglichst rasch „die Ordnung
wiederherstellen". Wie sollte man derartige Appelle, die in so rührender Weise
die Jndustrillen Fiankreichs und Deutschlands einigen, unberücksichtigt lassen?
Trotz ihrer Schwäche scheint unsre Negierung noch nicht geneigt zu sein, vor
dieser ständig fortgesetzten Campagne zu kapitulieren. Im Einvernehmen mit
den All'ierien bereit, zur Besetzung zu schreiten, um Deutschland zur Einhaltung
seiner Verpflichtungen zu zwingen, macht sie doch den Einzug in Essen nicht zum
Endziel ihrer Polüik. Sie zeigt sich sogar, nach Äußerungen MillerandS und
Charles Laurents bereit, die Entwicklung der Handelsbeziehungen zu unseren
ehemaligen Feinden zu begünstigen. Aber die Minister denken und der sive
national lenkt. Wird es der Regierung noch lange gelingen, ihrer Mehrheit
Widerstand zu leisten? Wird nicht für Arago (das Haupt der mächtigsten,
183 Mitglieder zählenden Rechtspartei der „Untente i-6pudlicaine-ni6mocratique")
und sure Freunde die Besetzung des Nuhrqebiels mehr und mehr als notwendige
und das Heil bringende Geste erscheinen? Mehr als je muß man wählen zwischen
einer P >init des Friedens und einer Politik der Isolierung. Aber werden
Millerand und Lrygues noch lanqe Herren ihrer Wahl sein können?"r
In der Tat ist es einzig die Furcht vor Isolierung, die Frankreich von de
Besetzung oder, wie man neuerdings zu sagen beliebt, der „Einkreisung" des Ruhr-
beckens zurückhält. Ein glatter Bruch mit England würde einstweilen noch, trotz¬
dem die besten Kräfte der Verbündeten augenblicklich in inneren Kämpfen gebraucht
werden, die französiiche Politik an allzu vielen Stellen der Welt g< fcrhrlichen,
zum mindesten ichmerzhaften Reibungen aussetzen. Schon ist in östlichen An¬
gelegenheiten der durch die polnische Offensive errungene Prestigeerfolg infolge
der leicht (nur nicht von der deutschen bürgerlichen Presse!) vorauszusehenden
katastrophalen Niederlage Wrang, is wieder dahin, und die Franzosen können
nun bei der Erörterung polnischer Angelegenheiten den Engländern nicht mehr
bei jeder Gelegenheit vorwerfen, sie unterstützten die Polen nicht genug, schon
Wird die Wiederaufnahme englisch-russischer Handelsbeziehungen wieder lebhafter
erörtert Schon versuchen die durch den Ausfall der griechischen Wahlen aufs
höchste bestürzten Franzosen an den ursprünglich als Deutschfreunde hingestellten
anawlischen Nationalisten Freunde gegen England zu gewinnen, das in
Konstantinopel als unumschränkter Herricher auftritt. Schon fühlt man sich in
Tunis, wo seit sieben Jahren ununterbrochen Belagerungszustand herrscht, in
Algier, wo Mißernte und übertriebener Getreideerport den Boden für Rebellion
und bolschewistische Umtriebe geschaffen haben, bedroht, und auch die Reise des
spanischen Königs nach London, die in erster Linie wohl der Gewinnung Tangers
für Spanien gilt, kann man nur mit Mißbehagen ansehen. Und wenn man' sich
auch (auf dem Papier!) mit England und Italien über die Einflußzonen in Klein¬
asien geeinigt hat, so bleibt trotz der militänschen Erfolge des Generals Gouraud
die Lage in Syrien noch immer beunruhigend, zumal jetzt auf englischen Antrieb
der Palästmastaat Ansprüche auf den oberen Jordan und Teile des südlichen
Syriens erhebt und die Gründung des chnstlichen Großlibanonstaates Syrier
und Mohammedaner verstimmt hat. All diese Gegensätze würden bei einem Bruch
mit England sofort akut werden. Deehalb hat man es, besonde-s da auch
England alle Schroffheiten vorsichtig veimied, vorgezogen, sich hinsichtlich der
Wiedergutmachungsfragen noch einmal zu einigen, d. h. die Entscheidung hinaus-
zu chieben. Denn mehr als eine Hinausichebung bedeutet die Festsetzung der
vier Konferenzen (1. alliierte und deutsche Sachverständige in Brüssel, 2. Konferenz
allierter Münster im Februar mit konsultativer Teilnahme deutscher Reg erungs-
vertreter, 3. Wiedergutmcichungsausschuß, 4. Oberster Rat) nicht. Sowie es an
die dritte und vierte Konferenz geht, werden die Gegensätze zwischen dem englischen
und dem französischen Standpunkt wieder hervorireten und der Kommentar des
„Echo de Pari?", daß Frankreich zwar sein Ziel, die Akkordmethnde zu beseitigen
und dem Wicdcrguimach.ing«ausschuß alle im Friedensverträge vorgesehenen
Befugnisse zurückzugeben (was auch Poincare- fordert) nicht erreicht habe, daß
dies aber auch leicht zu verschmerzen sei, da der Wiedergutmachungsausschuß so
wenig wie der Völkerbund imstande sei, die Rolle einer über den Staaten
stehenden Regierung zu spielen, läßt deutlich erkennen, daß man in Frank,eich
darauf zahlt und hinarbeitet (womöglich mit diplomatischer Unterstützung Amerikas),
seine Aktionsfreiheit auf gütlichem Wege zurückzuerlangen. Argumentieit doch
auch Tardieu schon allen Ernstes: da der amerikanisch-engliich-französische Allianz-
Vertrag nicht raiifiziert worden sei, habe Frankreich ohne weite,es das Recht,
das Rheinland so lange besetzt zu halten, bis Deutschland alle seine Verpflichtungen
erfüllt habe. Es wäre für Deutjchland selbst immerhin von Interesse, in Erfahrung
zu bringen, wie sich Amerika und England zu dieser Ansicht stellen. W e wenig
man in französischen Nationalistenkrei>en gesonnen ist, auf England Rücksicht zu
nehmen, beweist nicht nur die immerhin höflich gehaltene Antwort Poincar6s auf
den Angriff der „Daily News", in der die Frage aufgeworfen wird, warum
nicht das englische Blatt, wenn es den Deutschen durchaus helfen wolle, von
Lloyd George verlange, daß er Deutschland die Handelsflotte und den englisch
gewordenen Teil Kameruns wiedergäbe, sondern auch Artikel wie die des „Eclair"
vom 2. und 5. November, in denen spaltenlange Listen der Beschwerden Frank¬
reichs gegen England aufgezählt und allen Ernstes erwogen wird, welche Stellung
Frankreich in einem bevorstehenden amerikanisch-englischen Konflikt einzunehmen
hätte und daß seine Küste eine ausgezeichnete U-Booibasis gegen England abgeben
würde. Und ob Erklärungen, wie die, welche unlängst Lord Northclifse d in
,/Journal des D6half" abgab, in denen versichert wurde, daß Deutschland durchaus
bezahlen könne und Frankreich beschworen wurde, nur ja bei den Wiedergmmachungs-
verhandlungen festzubinden, zur Ausgleichung der bestehenden Gegensätze beitragen
werden, darf füglich bezweifelt werden. Daß England die Wendung der Dinge
in Amerika tatsächlich nicht ohne Besorgnis ansieht, beweist seine vorsichtige
Zurückhaltung bei den Völker bundsverhandlungen, deren Ausgang erst noch
abgewartet werden muß, um sie bewerten zu können.
In Osteuropa ist die französische Politik nicht von Glück begünstigt gewesen.
Die Bildung des großen Antibolschewistenblocks aus kleiner Entente, Ungarn,
Polen und Rumänien ist trotz der eifrigsten, infolge der Niederlagen Wrangels
und der damit herausziehenden Gefahr für den gerade erst bestätigten bessarabiscl en
Besitz noch verstärkten Bemühungen Tale Jonescus am Mißtrauen Polens gegen
die Tschechen gescheitert. Amcheinend hält man es in Warschau augenblicklich für
vorteilhafter, sich auf eigene Hand eventuell mit Ungarn zu verständigen und sich
in ihm gegen einen im nächsten Jahr als ziemlich sicher zu erwartenden neuen
russischen Angriff einen verlänlicheren Bundesgenossen zu schaffen, als esTsch'cho-
Slowaken und Südslawen sein würden. Andererseits würden natürlich die West¬
mächte die Bildung eines Gegenblocks gegen die Kleine Entente nicht gerade als
Gewähr für einen dauernden Frieden ansehen können. Besonders nicht, wenn sich
der Kleinen Entente, um einen Rückhalt Griechenland gegenüber, das ihm den
Zugang zum ögäischen Meere sperrt, Bulgarien anschließen würde. Einstweilen
wirbt allerdings Stambuliski in Paris noch um Frankreichs Gunst, die ihm, falls
England nicht Größeres verspricht, angesichts der Entwicklung in Griechenland
vielleicht doch noch zuteil werden wird, besonders da der infolge Wilsons Wahl¬
niederlage und des im Ausfall der italienischen Kommunalwahlen deutlich erkenn¬
baren wneren Erstarkens Italiens überraschend schnell zustande gekommene Vertrag
von Rapallo sehr zum Mißbehagen Frankreichs eine italienisch-südslawische An¬
näherung vmsieht und damit Italien in weniger starkem, bei der diplomatischen
Kunst Giolitt's aber immerhin fühlbaren Maße die Möglichkeit geben würde,
auf dem Balkan zwischen England und Frankreich eine ähnliche Vermittlerrolle
zu spielen, wie es das in Kleinasien getan hat. Jedenfalls at>er erstarkt Italien
durch den Vertrag von Rapallo und die zunehmende innere Beruhigung so sehr,
daß die Gefahr einer Isolierung Frankreichs immer näherrückt, besonders wenn
letzteres nicht endlich die Finger aus den Habsburgischen Intrigen herausläßt.
Das große Rätsel bleibt nach wie vor Nußland, besonders da man über
die Stabilität der Sowjetregierung immer noch im Dunkel gelassen wird. Kleine
lokale Aufstände sind allgemeine Kriegserscheinungen und beweis n gar nichts, aber
auch der viel besprochene Vertrag mit Vanderlip beweist nichts, da ein ostsibirisches
Pachtgebiet selbst bei einem Regierungswechsel in Moskau hinreichende Garantie
hüten würde. Immerhin zeigt der rasche und vollständige Sieg über die gut
ausgebildeten und, wie es (wohl mit Recht) hieß, vortrefflich disziplinierten
Wrängeltruppen, daß es wenigstens um die Militärtransporte in Rußland nicht
so miserabel stehen kann, wie man uns immer wieder glauben machen will. Als
sicher kann angenommen werden, daß die Sowjets jetzt zunächst mit Machno und
Peiljura, sowie urit Balachowitsch aufräumen werden, um sich dann, im nöchsten
Sommer, wieder gegen die Polen zu wenden, die sich inzwischen mit Unterstützung
Lettlands einen ollein zwar ohnmächtigen, mit bolschewistischer Unterstützung aber
immerhin gefährlichen Gegner in den durch Zeligowskis d'Annunziostreich aufs
höchste erbitterten Litauern geschaffen haben. Was dann aus den in der polnischen
Presse schon jetzt erörterten Absichten Polens auf Dünaburg und womöglich R'g»
wird, ist schon jetzt vorauszusehen, beionders wenn etwa die durch eine etwaige
polnisch ungarische Verbindung bedrohten Tschechen ins Lager der Gegner getrieben
werden sollten. Die verstärkte und durch Wahlmißerfolge der Sozialisten keineswegs
abgeschreckte Tätigkeit der Bolschewisten in allen Ländern, der energische Vorstoß
der Kemalisten gegen Armenien, der die langerwartete Erklärung sür ihr ausfällig
rasches Zurückgehen an der griechisch-kleinasiatischen Front gibt, die Verhandlungen
zwischen Sowjet-Rußland und China zeigen, daß die Sowjetregierung noch lange
nicht gesonnen ist, ihre Kampfstellung gegen England und die ganze Welt aus¬
zugeben.
Inzwischen ist England fieberhaft tätig, wenigstens seine Position in
Konstanrinoptl zu stärken. Es hat den Einfluß des französischen Generals Franchet-
d Esperry ausgeschaltet und iucht. trotzdem es damit die Mohammedaner Indiens
beunruhigt, mit allen Mitteln Vmwände zu schaffen, die Türken endgültig aus Europa
zu vertreiben. Halt es den Bosporus und die Ostsee, so wird es auch in Mittelasien
wo Kurdinan inzwischen ganz unter bolschewistischen Einfluß geraten zu »ein scheint,
zum mindesten an der indischen Grenze und in Mesopotamien, Rat schaffen. Jeden¬
falls ist aber für E glaub der Krieg noch lange nicht vorbei, ein Grund mehr,
in Europa möglichst für Ruhe zu orgelt, einerlei, ob es nun auf Kosten Deutsch¬
lands oder Flankreichs g
Hunderttausende von deutschen Mitmenschen wissen schon lange nicht mehr,
wie sie ihr erbärmliches bißchen Leben fristen sollen. Mit dem Ausbruch des Hunger¬
typhus im bevorstehenden Winter wird von vielen Ärzten fast mit Sicherheit ge¬
rechnet; die Zahl der Kinder, die an Tuberkulose, d. h. Unterernährung, zugrunoe
gehen, ist sechs- bis zehnmal so groß wie im Jahre 1913. Wenn unser Nachwuchs vor
der Zeit stirbt, dann kommt es ja am Ende darauf nicht an, daß auch die Alten
frühzeitig in die Erde sinken. Und so haben wir uns mannhaft mit dem über alle
Maßen jammervollen Schicksal derer abgefunden, die sich durch ein Leben voll Arbeit,
Entbehrung und Sparsamkeit ein kleines Kapital für die Greisenjahre zurücklegten
und denen der Staat und die Schieber jetzt das mühselig Erworbene aus der Hand
reißen. Angesichts der grauenhaften Verwüstung, an der niemand geschlossenen
Auges vorbeigehen kann, ist es ungezählten von unseren Besten und Gewissenhaftesten
ein Verdruß ohnegleichen, daß das im Gegensatz zu den Kindern und Arbeits-
greisen nicht ausrottbare Volk der Leichtsinnigen sich weiter jeden Tag zu einem
Fest macht. In Dielen, Bars und Kabaretts, den durch pratschige Zeitungsannoncen
allbekannt gewordenen Schlemmerbetrieben, werden Unsummen vergeudet, mit denen
sich Hunderttausende unserer armen Brüder und Schwestern vom Hungertode retten
ließen. Gewiß, Restaurants für die vornehme Welt müssen sein, gerade so, wie
Schleichhandelhotels sein müssen; denn sie bringen, wie wir täglich lesen, Geld unter
die Leute und geben großen Scharen von Angestellten lohnenden Erwerb. Auch
Modenschauen müssen sein. Zwar können derzeit nur die Damen der ausgepichtesten
Schieber und Vampire daran denken, sich in funkelnde Gewänder zu hüllen; die
entsprechende Mehrzahl unserer Frauen ist froh, wenn sie noch ein ganzes Hemd auf
dem Leibe hat und ihre Strümpfe noch einigermaßen brauchbar sind. Trotz allem,
so lange die rote Niesenflut aus Osten uns nicht hilflos überspült, so lange entzücken
und blenden uns „Abendkleider in gewickelter Form aus Goldstoff mit schleppendem
Übermantel aus giftgrünen Tüll mit Armspangen, dazu Kopfputz aus Gotthard und
Reihern" und „Abendmantel aus Goldbrokat mit Chinchillabesatz, dazu Abendhut
aus grauem Tüll mit grauen Kronenreihern". Sie sind die nettesten Kulturdokumente
aus großer Zeit. „Anschauungsunterricht nach modernen pädagogischen Grund¬
sätzen" nennt übrigens eine Kollegin, die früher die „B. Z. am Mittag" sachver¬
ständig bediente, besagte Modenschau. Nach ihrer Auffassung legte der Abend
beredtes Zeugnis davon ab, „wieviel wir in Fragen der äußeren Kultur gelernt
haben". Diese erhabene äußere Kultur hat nicht nur die moderne Frauenwelt beleckt,
sondern erstreckt sich auch auf unsere Herren, die ja in der Tat jetzt keine finsteren
Sorgen haben. „Gerade unsere Herren könnten, soweit es ihnen möglich ist, sich all¬
mählich bemühen, neben der Dame eine bessere Figur zu machen." Dieser Aphorismus
stammt freilich nicht aus Elsa Herzogs Küche, denn wir haben ihn schon wiederholt
an anderer Stelle serviert bekommen, aber auch aufgewärmt kennzeichnet er
Stimmungen und Auffassungen lange. In welch sonnigem Paradiese müssen alle
diese Herrschaften atmen! Welche Abgründe müssen ihr Fühlen und Leben von
dem der übrigen deutschen Menschheit trennen, die vor Angst nicht weiß, woher sie
das tägliche Brot nehmen soll! Wenn darauf hingewiesen wird, daß das Ausland
an der Berliner Modenschau erkennen werde, wie kräftig und leistungsfähig wir noch
sind, so gehört diese Anschauung vom Ausland, freundlich gesagt, zu den deutschesten
aller deutschen Illusionen. Die irrsinnnige Verschwendung, die angesichts der Götzen¬
dämmerung betrieben wird, kann nur die Wirkung haben, daß das Ausland über
unser tatsächliches Elend weiter im unklaren bleibt. Genau so wie die Mitglieder der
Berliner Vielverbandskommissionen aus der blendenden Lichtfülle, die die großen
Hotels und Restaurants der Stadt umstrahlt, den Schluß zogen, daß es uns durchaus
nicht an Kohlen fehle, gerade so wird die Berliner Modenschau neuen Anstoß zu neuen
Erpressungen geben.
Am 14. November sind im früheren roten Königreich Sachsen 30—40 Proz.
der eingeschriebenen Wähler zu Hause geblieben. Sie müssen dafür Scheltreden ohne
Maß über sich ergehen lassen. Die Presse der Linken nennt sie faul, gebauten- und
gewissenlos; dir Gegenseite wirst ihnen vor, daß allein ihre politische Unklarheit und
Schlappheit es verschuldet habe, wenn trotz allen Rückens nach rechts doch noch einmal
eine Linkenmehrheit von zwei Mann in die Dresdener Landstube einziehe. Vor¬
klage zur Beseitigung des getadelten Übels hageln nur so. Im Vordergründe steht
>le strenge Forderung der Wahlpflicht. Wer nicht stimmt, wird verdienend. Be¬
scheidenere Politiker begnügen sich mit minder grobem Geschütz gegen die offenbare
Wahlmüdigkeit. Sie empfehlen Zusammenlegung der Wahltage im Reich, in den
Einzelstaaten und Gemeinden, damit der gequälte Wähler nicht Sonntag für Sonntag
zum Wahllokal zu rennen brauche. Sie schlagen daneben eine minder aufgeregte und
, gehässige Wahlagitation vor, die jetzt gerade die Anständigen und Feinfühligen zur
Wahlabstinenz zwingt. Was die Wahlpflicht anlangt, so erinnern sich Sachverständige
— es brauchen ja nicht gerade Sachverständige in den Fraktionen zu sein, denn diese
Herren erinnern sich bekanntlich niemals — an die verflossenen nieder-österreichischen
Wahlsatzungen unter Franz Joseph. Dort war jeder Wähler gehalten, bei 5 bis
50 Kronen Buße, seine Stimme abzugeben, und weil die Kronenzettel damals immer¬
hin noch etlichen Wert hatten, so ließ sich wirklich viel gutmütiges Volk zur Urne
treiben. An den eigentlichen Wahlergebnissen ist freilich dadurch nichts geändert
worden, höchstens daß die konservativen Elemente etlichen Zufluß gewannen. Un¬
geheuer nahm dagegen die Zahl der weißen Zettel zu; auch fröhliche Verulkungen
der Wahlhandlung und der Wahlbewerber lagen massenweis im Zettelkasten. Glaubt
irgend jemand, daß in Deutschland solche gehässigen Ablehnungen des Parlamen¬
tarismus, die jeden wahrhaft frei gesinnten Mann mit Widerwillen, Trauer und Zorn
erfüllen müssen, nicht ins Zehn-, vielleicht Hundert- oder Tausendfache gehen würde?
Glaubt irgend jemand, durch die Wahlpflicht jene innerlich Freigewordenen zurück¬
zuerobern, die die Parlamentsspielerei für die letzte Ursache unseres völkischen,
sozialen und wirtschaftlichen Jammers halten? Wo der Wähler trotz einer wahn¬
sinnigen Agitation, trotz unaufhörlichen Peitschenknalls und Gebrülls sich von den
Parteibonzen nicht mehr einfangen lassen will, da ist Hopfen und Malz verloren. Die
Wahlmüdigkeit frißt, daran kein Zweifel, von Monat zu Monat weiter, und ob alle
Posaunen von Jericho ertönen, diese Mauer der Gleichgültigkeit werfen sie doch nicht
um: haben die Herren Posaunisten doch selber die Mauer gebaut. Es wird der Tag
kommen, an dem sich die einstweilen noch nicht müden paar Parteifexe rechts und links
ungefähr das Gleichgewicht halten (in Sachsen ist es ja beinahe so), während die
große Volksmehrheit erst gelangweilt, nachher zornmütig beiseite steht. Die dann
aufsteigenden Parlamentskrisen sind nicht mehr zu lösen und führen den gesamten
Parlamentarismus ack adsuräurn. Damit ist die Parteidämmerung gekommen.
Nachdem die sächsische Staatsanwaltschaft 30 000 auf den Kopf des kom¬
munistischen Politikers Hölz ausgesetzt hatte, ist der jedenfalls nicht feige Herr aber¬
mals im Voigtlande erschienen und hat, selbstverständlich nur für die Partcikasse,
größere Beträge eingezogen. Er durfte den waghalsig aussehenden Schritt mit einiger
Ruhe riskieren. Bei seinem ersten Auftreten zog die sächsische Regierung ein ganzes
Armeekorps gegen ihn, der nur 100 bis 200 Kerle hinter sich hatte, zusammen, und
Wagte es trotzdem geschlagene volle zwei Wochen lang nicht, den Fürchterlichen auf¬
zuheben. Heute, wo Hölz allein auf sich steht, also keine Dummheiten und keine
Verrätereien zu fürchten hat, ist er überhaupt unantastbar und ungreifbar. Da
die sächsischen Wahlen erfreulicherweise eine, wenn auch verringerte sozialdemokratische
Mehrheit ergeben haben, eine Mehrheit, deren Grundlagen die bürgerliche Demokratie
ja wohl alleruntertänigst verstärken wird, so braucht Herr Hölz auch für die Zu¬
kunft keinerlei Besorgnisse zu hegen. Er wird genau so rücksichtsvoll behandelt werden
wie bisher, und die voigtländischen Fabrikanten werden, genau wie vor einem halben
Jahre, bei seinem nächsten Besuche wieder dankbar die Segnungen des Parlamen¬
tarismus empfinden, die Kraft parlamentarischer, von der Straße abhängiger Re¬
Die „Vossische Zeitung" ist heute neben der Marokkaner-Zeitung in
Mainz höchst wahrscheinlich die nützlichste Zeitung in Deutschland. Chemiker studieren
schon das Problem, wie lange es ihr Papier noch aushält, ohne zu erröten. Sie
hat sich in die Verrenkung der Wirklichkeit derartig eingelebt und vertritt ihren
Widersinn so, daß es auch dem harthörigsten deutschen Michel durch Georg Bernhard
(mit Sarah Bernhard nur entfernt verwandt) täglich klarer wird, wie flau es um
die Sache Frankreichs stehen muß. Die verzweifelten Mittel, mit denen hier für
Frankreich gekämpft wird, vermitteln dem Deutschen eine ruhige Sicherheit. Er sagt
sich: Wenn es so in Frankreich aussieht, wie in den Spalten der „Gazette de Voß",
dann wollen wir uns lieber nach Osten orientieren! Insbesondere hat die Art der
Berichterstattung der sämtlichen Angestellten des George Bernhard aus allen Welt¬
teilen bei den Lesern steigende Verblüffung und in diesen trüben Zeiten, ein gewisses
Vergnügen hervorgerufen, da infolge der täglichen deutschfeindlichen Akte Frankreichs
diese Pressekommis täglich gezwungen sind, mehrmals Kobolz zu schießen. Sie haben
sich überkugelt. Man hat bisher den deutschen Journalisten eine solche Gelenkigkeit
gar nicht zugetraut, aber das macht eben die französische Schule.
Es handelt sich hier nicht, wie der Leser zunächst annehmen wird, um
Deutschland, sondern um Litauen, das soeben seine Hauptstadt an die Polen ver¬
loren hat. Litauen steht heute vor der sicheren Aussicht, überhaupt von Polen
aufgefressen zu werden. Es würde deshalb für die Litauer zweckmäßig sein, sich
schon heute zu überlegen, ob sie dereinst einmal wieder russisch werden wollen,
oder ob sie vielleicht jetzt dech erkennen, daß Deutschland ihr bester Freund ist.
Zunächst werden sie es natürlich mit England versunken, und wir wollen in aller
R
Schade eigentlich, daß sich der Verfasser
als biologischer Laie und Berufsoffizier auf
dem Titelblatt vorstellt. Diese übergroße Be¬
scheidenheit kann über den sehr bedeutenden
Wert des Buches nicht hinwegtäuschen. Der
Verfasser hat nicht nur tief aus dem Born
der Wissenschaft getrunken, sondern er hat vor
allen Dingen den Instinkt des praktischen
Historikers, so daß niemand, der unsere Zeit
verstehen will, unbereichert dies selbständige
und gedankenvolle Buch aus der Hand lege»
wird. Biologisches, soziologisches, Welt-
Politisches und scharf beobachtetes Leben: hier
schreibt ein wirklicher Politiker.
Der berufene Biograph Schliessers zeichnet
«in Bild dieser großen Gestalt, aus dem die
ganze Tragik deutscher Geschichte spricht und
das zugleich in aller Kürze sür viele Einzel¬
heiten endgültige Aufschlüsse gibt. Zurück¬
haltend und in keiner Weise endgültig ist
allerdings das Kapitel „Die Verwertung von
Schliessers geistigem Erbe in, Weltkriege",
über die Marneschlacht der Schlieffen-Epigonen
wird man sich an anderer Stelle besser unier¬
richten können, obwohl das letzte Wort heute
überhaupt noch nicht gesprochen ist.
Dieser 60 Seiten umfassende erste Teil
bildet eine willkommene Ergänzung zu der
bisherigen Literatur über den Grafen Schliessen
und seinen Operation5plein, sowie die kritische
Betrachtung der deutschen Operationen in
Frankreich 19 l4. Etwas breit geschildert, ge¬
winnt das Buch durch Angaben über Operativns-
studien, die Graf Schliessen nach seinem Aus¬
scheiden aus dem Generalstabe gemacht hat.
Im übrigen bringt es nicht viel Neues.
Eine außerordentlich klare, übersichtliche
und zugleich kritische Gesamtdarstellung der
Operationen, die zur Marneschlacht führten,
der Marneschlacht selbst und des Rückzuges
hinter die Athme. Man erhält ein Bild der
Vorgänge bei allen Armeen des westlichen
Kriegsschauplatzes. Mit Meisterhand sind die
folgenschweren Entschlüsse des Oberkommandos
und das Versagen der Obersten Heeresleitung
geschildert. Der billige Preis von 10 Mark
ermöglicht es einem größeren Kreis, sich das
vortreffliche Buch anzuschaffen.
i
Nach dem Titel des Buches zu urteilen,
könnt« man glauben, es handle sich um eine
vergleichende und gegenüberstellende Studie
der militärischen Faktoren, als da sind:
höhere Führung, Truppenführung, Zustand
und Leistung der Truppen, Versorgung und
Ausrüstung der Truppen, geographische und
Wettervcrhältnisse in beiden Schlachten. Dem
ist leider nicht so. Der bekannte General
gibt getrennt voneinander eine Schilderung
der Truppen, der Operationen, die zu den
Schlachten führten und der Schlachten selbst.
Daß in dem Abschnitt „östlicher Kriegsschau¬
platz" der Täiigkeit des I. Armeekorps ein
besonders breiter Raum gewidmet ist, erklärt
sich dadurch, daß der Verfasser zu Beginn des
Krieges Führer dieses Korps war. Immer¬
hin muß man sagen, daß das Buch besonders
wegen „Tannenb rg" Beachtung verdient, über
das noch wenig Literatur vorhanden ist im
Vergleich zu der ständig wachsenden Zahl von
Büchern und Broschüren über die Marne¬
schlacht. Gut und wertvoll sind die zahlreich
beigegebenen, übersichtlich und klar gezeichneten
Karten und Skizzen.
Ein österreichischer bedeutender Heerführer,
ein Deutscher nach Charakter und Nasse, der
1914 gegen die Serben kämpfte, General-
stabschef des Erzherzogs Eugen an der
italienischen Front war, als Korpskommandant
das k. u. k. 1. Korps in der Bukowina führte
und dann ein Kommando an der italienischen
Front erhielt, um schließlich den undankbaren
Posten eines Mlitärgouverneurs der Ukraine
zu bekleiden, spricht zum deutschen Volk inner¬
halb und außerhalb der Neichsgrmzcn.
Das Buch ist eine Fundgrube neuer Tat¬
sachen. In den Durchkreuzungen und Hem¬
mungen, die die Politik sowohl in Deutsch¬
land wie in Österreich-Ungarn den Heeres¬
leitungen bereitete, sieht Krauß die Kardinal¬
fehler unserer Kriegsführung. Über Kaiser
Karls schwächlichen Charakter, seine un¬
genügende Erziehung und seine durchaus un¬
erfreuliche Umgebung erhält man wesentliche
neue Aufschlüsse. Die deutschen Operations¬
pläne, das Gegeneinander der deutschen und
österreichischen Heeresleitungen, ti« schweren
strategischen und taktischen Fehler, die vor
allem in Österreich gemacht wurden, werden
eingehend geschildert. Kraus; fühlt sich als
Schüler von Clausewitz, Moltke und Schliessen.
Der geistvolle General, dessen vor dem
Kriege geschriebene Bücher in der ganzen Welt
Beachtung fanden, ist weit entfernt, einem
Kriege der Zukunft das Wort zu reden. Er
betont, daß ein Kneg auf moderner Grund¬
lage für das verarmte Deutschland fürs erste
unmöglich ist, daß aber das miliiärische,
politische und volkswirtschaftliche Interesse am
Weltkriege sehr bald wieder erwachen wird.
Rückblickend gibt er die Lehren dieses großen
Kampfes und darauf aufbauend die Grund¬
sätze für einen modernen Krieg. Das Buch,
das reich an geschichtlichen Erkenntnissen ist,
ist nicht etwa allein für Fachleute, sondern
sür alle Gebildeten geschroben,
Schon Schauwecker gab uns in seinem
Buche „Im Todesrachen" ein Seelenleben
des Soldaten, der mit Liebe und Hingebung
für sein Vwerlcmd kämpfte; der unbeeinflußt
vom Parteigezänk in der Erfüllung der Pflicht
die vornehmste Aufgabe sah. Ihm zur Seite
gesellt sich Dr-. Ludwig Scholz, der den Feldzug
als Truppenarzt vorderster Linie im Osten
und Westen mitmachte, der als Nervenarzt
sür sich in Anspruch nehmen kann, als sach¬
verständig für das Seelenleben zu gelten.
Die Veröffentlichung seiner Aufzeichnungen
hat er nicht mehr erlebt. Er siel am
6. Oktober 1918 in Ausübung seines Berufes
in der Kampflinie.
Das Buch ist sehr wertvoll und gibt einen
klaren und bedeutungsvollen Einblick in die
verschiedenartigen Auswirkungen der Kampf¬
handlung n, der Anforderungen und der Be¬
handlungen, die teils an den Soldaten gestellt,
teils ihm »»teil wurden.
Die Mütze schief aufs Ohr gedrückt steht
dem Volks- und Freiheitsmann wohl. G«
hat auch der jetzige Oberpräsident von
Hannover für seine Denkwürdigkeiten einen
etwas futuristischen Titel gewählt und kann
sich, da nun einmal die Politiker seiner
Färbung erst dreimal „Partei" sagen
müssen, ehe sie einmal „Vaterland" aus¬
sprechen, der Parteiwürze in seinen Aus¬
führungen nicht enthalten. Das Buch ist aber
viel weri voller, als es auf den ersten Blick
scheinen könnte Roste, der Brandenburger,
der kräftige Vollmensch, der langjährige Reichs-
tagsrefercnt gegen Heer, Marine und Kolonien,
der durch die hierbei erworbene Sachkenntnis
und dem Einblick in weltpolitisch gereifte
Kreise zu einem heimlichen Freund deutscher
Macht und Blüte geworden war, hat als die
einzig wirkliche Persönlichkeit in dem ganzen
Neigen der Novembergrößen 1913 in sich den
Mann und Deutschen entdeckt. Sein Buch
spiegelt die tragische Zweideuiigkeit wider,
in der sich, nachdem ein Teil des deutschen
Volkes klassenmäßig und international ver¬
hetzt und von der Voltsj,chain>heit abgesprengt
war, ein Mann wie Roste zerreiben mußte.
Ein deutscher Sozialdemokratenführer als
deutscher Staatsmann ist eben ein Wider¬
spruch in sich selbst. sooft der Zwiespalt
zwischen Parteimann und Patrioten auch noch
überkleiüert wurde, sooft Roste auch eine
wie die andere Seite enttäuscht hat, gerade
um ihr Vertrauen wieder zu verdienen, so
ging dies Spiel doch einmal in die Brüche-
Möchte es nie wieder aufleben!
Er hat eS infolge der Schwäche unserer
führenden Schicht und der erschreckenden
Talente und Instinktlosigkeit im Paria nent,
insonderheit im Zerlinen, fertig gebracht
eine Rolle in der Weltgechichte Z»
spielen. Er ist eine widerwärtige Figa»
gewesen und füllt die traurigste Seite
der deutschen Geschichte an». Jetzt hat
er selbst ein Buch geschrieben, an» allerlei
Gründen, vor allen Dingen wohl, um ficht»,
rehabilitieren. Letzteres ist ihm bisher nicht
gelungen; die Zentrumsfraktion hat ihn doch
abgeschüttelt. Er wartet jetzt auf seinen neuen
Tag, der kommen soll, wenn die sozial-
demokratisch geführten Massen wieder einmal
den taktlosen Sukkurs irregeleiteter ZentrumS-
mannen brauchen können. Wird das deutsche
Volk gesund, so kann es ihn kein zweites Mal
dulden. Inzwischen soll nun also das Buch
wirken. Mit dem vor Gericht festgestellten
individuellen Wahrhcitssinn erzählt er dem
Leser die Hucke voll. Sein Geschick, daS
Wesentliche zu verschweigen, zeigt sich groß.
Wir kennen Leser, die doch, obwohl sie die
Wirklichkeit seinerzeit miterlebt haben, von
diesem Geschichtsmann irregeleitet worden
sind. Auf die Dauer hat er immer nur sich
selbst mit Erfolg bestochen. ES ist wirklich
da» Mildeste, über ihn zu schweigen.
DaS Evangelium Jesu Christi, daS
römische Antichristentum und die Hohenzollern.
Ein Blick hinter die Kulissen deS Weltkrieges
und unserer Not. Eine Auseinandersetzung
mit Herrn Pfarrer Wächter in Kirchborchen bei
Paderborn. Selbstverlag deS Verfassers,
Göttingen. M. 3,—.
Deutschlands Erniedrigung und daS
Zentrum. Politische Briefe an den Grafen
v. Hertling, die ohne Antwort blieben. Hubert
u. Co., G. in. b. H., Göttingen. M. 0,30.
Auf dem Wege zum Abgrund. Politische
Briefe, die ohne Antwort blieben. Neue
Folge. Hubert u. Co., G. in. b. H., Göttingen.
M. 0,60.
Der Verfasser der vielbeachteten Schrift
„Der Kampf des Papsttums gegen das
protestantische deutsche Kaisertum" druckt in den
vorliegenden Broschüren eine Reihe von Briefen
und Streitschriften ab, die eines dokumen¬
tarischen Wertes für die Zeitgeschichte nicht
entbehren.
Viele Leser der „Grenzboten werden sich
gerade heute für den Flottwell, den Vor¬
kämpfer der deutschen Sache in der Ostmark,
besonders interessieren und finden bei Laubert
L30
einen wissenschaftlich wie national sicheren
Führer.
Der Almanach, in idyllischeren Zeiten
als den unsrigen eine literarische E-scheinung
von feinstem und edelstem Geschmack, war
schon vor dem Krieg wesentlich ein Mittel
moderner verlcgerischer Reklame geworden.
Es scheint uns ein glücklicher, zur Nach-
eiferung spornender Versuch, für die Ve-
dürfnisse einer modernen Stadt wie Dresden
einen Merkkalender zu schassen, der, auf
mehrere Jahre angelegt zugleich Verkehrs-
duch, Auswnftsbuch, kleines Adreßbuch, Führer
durch die Stadt und volkstümliches Familien-
duch darstellt. In recht geschickter Weise hat
es der Herausgeber und Verleger verstanden,
Bedürfnisse des täglichen praktischen Lebens
und Ansp'nahe des Geschmacks und der
Kultur gleichmäßig zu befriedigen und dem
Dresdner Bürger ein Vademekum für daS
nächste Triennium zu bieten, das ihn durch
des Tages Mühen und der Abende Rast
begleitet, das berät, anregt und erfreut.
Rücksendung vo» Manuskripten erfolgt nur gegen beigefügtes Rückporto.
Nachdruck sämtlicher Aufsätze ist nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlages gestattet
>
im» vMN
In UMIMW W NllrltMe
Vorbereitung fut file Klüsen aer ver8ctiieäenen Schulsysteme
(UmscKuIunA). In8ve8onäer8 Vorbereitung fut ale LinMriZen-,
prima- uncl Reifeprüfung.Dr. WcdselK.
S
z»c-^sSTc-^si
w. MoMr Vuchhanüluns / Berlin uncl 5cip2ig
Soeben erschien:
kreMreivereiftratrecht
lkriiher «rie»5ouest?rltraftecht)
VI. neubearb. u. vermehrte Aufl. unter Mitwirkung v. Nechtsanw. Dr. Kurt Peschke
U von
? Dr. Max Alsberg
SRechtsanwalt in Berlin
Das Buch gibt eine für jeden Juristen und Gewerbetreibenden unentbehrliche zusammenfassende
Z Darstellung der sür die Übergangszeit geltetiden Handels- und Gcwinnbcschränkungen, unter
N besonderer Berücksichtigung der Praxis der Preisprüfungsstellen und der Rechtsprechung des
U Reichsgerichts. Neu aufgenommen ist eine Bearbeitung der Frage des Ein- und Ausfuhr¬
handels. Das schwierige Problem der Kalkulation hat unter Beibringung weiteren reichen
Materials eine erweiterte und vertiefte Darstellung gefunden.
preis 35 Mark
Aus den Besprechungen der bisherigenAuflagen:
Geheimrat Pro-, or Kohler (Goldt, Ares, f. Strasr,): „Gründlich in die Einzelheiten eingehend; Überall mit
reicher Kenntnis der Literatur, zugleich aber auch mit großer Eigentritil und rin großer Eigenkrast aus allgemeine»
Prinzipien aufbauend; i» jeder Beziehung eine vortreffliche Schrift."
Dem heutigen Heft der „Gr"nzboten" ist ein
Prospekt des Verlages von Ferdinand Hirt in
^rcslan, ein Werk von Wilhelm Bolz „Im Dämmer
ks Rimba" betreffend, beigefügt, auf den wir besonders
^"weisen möchten.
Soeben erschien:
Aritik des ZVeltkrieges
Las Erde MoltKes und Schlieffells im großen Kriege
Von einem Generalstäbler
Mit 12 Karten. Preis: in Halbleinen geb. 30 Mark.
Generslfeldmar'chalk von Macle'sen: .... Das inhaltvolle Werk hat
mich vom Anfang bis zum Ende in hohem Grade gefesselt ....
General vor Infanterie Otto von Velow: .... wertvollste und zutreffendste
aller bisherigen Veröffentlichungen ....
Generaloberst Freiherr von Bansen: .... Meisterhafte Beurteilung, weit¬
ausschauender, großzügiger Blick und vorzügliche klare Wiedergabe ....
General Von Lrttow-Vorbeck: - - - s°hr gut und wertvoll ....
Geschichtsforscher Friedrich M. Nircheisen: .... das beste, was über
die Marneschlacht gesagt wurde ....
Militärisches Echo: .... Ein tiefgründiges, aufsehenerregendes Buch ....
Deutsch s OIP-i> rbi-ne: .... Zweifellos gehört das Werk mit zu dem Bemerkens¬
wertesten auf militärisch-kritischem Gebiet und verdient regste Beachtung in allen Kreisen ....
Wel'er-Zntttnrn .... scharf, aber sachgemäß, ein außerordentlich interessantes
^«rk, nicht nur für den Offuier, sondern vor allem auch sür den Laien.
u. 5. Noehler, Verlag, Leipzig.
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Einzelnummer 60 Pf., Vierteljahr!, (b. d. Post) M. 6.—, Jahresbezug (b. Verlag) M. 20.—.
Verlag: Berlin V 9, Schellingstraße 13, Fernspr.: Liitzow 6196.
DaZ „Gewissen", dessen Leserkreis im „Ring" zusammengeschlossen ist, erscheint
wöchentlich und gibt dem politischen Einheitswillen der Jungen entschiedenen Aus¬
druck. Es wendet sich gegen Korruption, Parteihader und Klassenkampf und versieht
eine aktivistische Politik des nationalen Aufbaus auf korporativer Grundlage.
Aus dem Inhalt der Ur. 46:
Totensonntag. Von Chronist. — Genf. Von Moeller van den Brück. — Die Elsaß-Lothringer und wir.
Von Dr. Max Hildebert Bochen. — Amerika und Frankreich. Von Hermann George Scheffauer.
Spuk Mitteleuropa.
ir sind uns klar darüber, daß das deutsche Volk mitten in einer
Katastrophe steht, und doch freut sich jeder von uns, solange die
Sonne scheint, wieder verstohlen des Lebens, indem er die Wirk¬
lichkeit vergißt. Wir martern uns durch Zahlen und Erkenntnisse,
die vernichtend erscheinen, und dann setzen wir uns zu Tisch mit
dem Stoßseufzer: man könnte überhaupt nicht mehr leben und wirken, wenn man
nicht jene Zahlen auf Augenblicke abschüttelte! Wie der schwindsüchtige bis zum
letzten Augenblick an das Leben glaubt, so sind wir abgehärtet gegen Katastrophen
und vernichtende Eindrücke, denn immer kam wieder ein Tag, und immer ist uns
noch das Letzte erspart geblieben. Muß es denn wirklich kommen? Und wenn es
kommen muß, sollen wir dann nicht umso heißer den Schein des Lebens, der uns
umgibt, genießen? Vielleicht macht doch die Logik der Ereignisse irgendwo holt;
vielleicht geschieht das Wunder ohne unser Zutun von außen; vielleicht, während
die Tendenz der unerbittlichen Zahlen immer jäher in die Tiefe führt, steht das
entschwundene, uns noch so nahe Behagen der vergangenen Jahre wie eine Fata
Morgana in einer traumhaft schwankenden Zukunft wieder auf. Seit sechs Jahren
leben wir in einem unausgesetzten Trommelfeuer stärkster Erschütterungen. Das
stumpft ab. Und doch sind die Zahlen wahr, und wenn wir uns nicht täglich und
stündlich am eigenen Schöpfe packen, um uns aus dem Sumpfe selbstzufriedener
Halbheiten zu reißen, so muß uns der Sumpf verschlingen.
Einer der wenigen nüchtern blickenden sozialistischen Wirtschaftsschriftsteller,
Richard Calwer, hat im Oktober 1920 die Forderung aufgestellt, daß, um den sonst
unvermeidlichen Staatsbankerott zu verhüten, die Löhne und Gehälter aller Arbeiter
und Beamten um 50 vom Hundert herabgesetzt, die Arbeitszeit von 8 auf 1t Stunden
«Höhe, der Arbeitszwang eingeführt, alle überflüssigen Beamten und Arbeiter ent¬
lassen, der Zinsfuß der fundierten Schulden auf 25 v. H. ermäßigt, die Arbeits¬
losenunterstützung aufgehoben, der Druck neuer Banknoten vollständig eingestellt
werde. Auch nach Durchführung dieser Punkte — Calwer selbst zweifelt an ihrer
Durchführbarkeit — würde es noch nicht einmal gewiß sein, ob sich der „Zusammen¬
bruch" in verhältnismäßig naher Zukunft verhüten ließe.
Die mangelnde Solidarität der Menschheit, wie sie Nieders an dem Mord-
instrument von Versailles erläutert, und die mangelnde Solidarität innerhalb des
deutschen Volkes, wie sie kürzlich Solmszen geschildert hat,*) dies weltgeschichtliche
Paradigma vom Zerfall eines Volkes erfährt durch das Calwersche Programm von
der privatwirtschaftlich-sozialen Seite her eine grelle, aufrüttelnde Beleuchtung.
Wird sich der einzelne endlich darüber klar, daß nicht mehr die Teuerung,
sondern die Verarmung das Wesentliche an seiner Not geworden ist, so kann er
dies für die einzelnen Stände des Volkes an folgendem Beispiel überblicken:
Vor dem Krieg hatte der Direktor einer Hypothekenbank etwa 10 000 Dollar,,
ein deutscher Professor etwa 2500 Dollar, ein deutscher Arbeiter etwa 500 Dollar,
die Mark in amerikanisches Geld ungerechnet, zu verzehren. Heute bezieht der
Hhpothckenbankdirektor etwa 1000 Dollar, der Professor 400 Dollar und der Arbeiter
300 Dollar. Das bedeutet, daß der Hypothekenbankdirektor ein Zclmtel, der
Professor ein Achtel und der Arbeiter mehr als die Hälfte seines Vorkriegsein-
kommcns an Goldwert bekommt. Da, an der Goldparität gemessen, das Leben, z. B.
die Mieter, in Deutschland heute noch bedeutend billiger ist als vor dem Krieg,
so kann, im Durchschnitt aller Lebensbedürfnisse gerechnet, der Arbeiter heute reichlich
die Hälfte seiner früheren Lebensbedürfnisse, der Professor etwa ein Viertel, der
Hypothckenbankdirektor ein Achtel befriedigen, wenn man die Steuern außer acht
läßt. Die Steuerbelastung ist aber bei allen drei Kategorien, und zwar progressiv,
um das Vielfache gestiegen. Mit anderen Worten, der vierte Stand hat sich dem
Mittelstand stark angenähert, jedoch so, daß beide an wirklichen Einnahmen außer¬
ordentlich zurückgegangen sind. Das überdurchschnittliche Einkommen spielt im
privatwirtschaftlich-sozialen Gesamtbild eine geringere Rolle, und wir werden unser
Augenmerk hauptsächlich auf die Entwicklung des, Mittelstandes und des vierten
Standes zu richten haben. Zwischen Mittelstand und vierten Stand sind also
heute die Lebensgüter erheblich gleichmäßiger verteilt, aber die Substanz,
die es zu verteilen gilt, hat sich in einem unerhörten Maße verringert.
Was heißt denn eigentlich „teuer" und „billig"? Weshalb war das Leben
in Deutschland vor dem Krieg so billig? Nur deshalb, w e i l w i r r e i es w a r e n.
Der Vorkriegswohlstand war insbesondere ein Paradies des Mittelstandes.
Ein ganz geringer Überschuß über das Daseinsminimum befähigte damals schon
den Europäer, insbesondere den Nordeueropäer, vor allem den Engländer oder
Deutschen, sich als Teilhaber der Weltherrschaft der weißen Rasse zu fühlen. Denn
es war ja alles so billig für ihn. Billigkeit der Verbrauchsgüter ist nur ein anderer
Ausdruck für Kaufkraft, d. h. Wohlstand der betreffenden Verbraucherschicht. Wenn
man sich z, B. schon für 20 einen vollständigen Goethe kaufen konnte, so war
das billig sür den deutschen Mittelstand und sogar für den deutschen Arbeiter, weil
so ziemlich jeder leicht über diese Summe zum Zweck eines solchen Vücherkaufs
verfügen konnte. Und was für einen Goethe galt, das galt auch für einen anderen
Genußgegenstand, eine Familienreise an den Rhein usw. Teuer war die „Kultur"
und „Zivilisation" schon damals für den chinesischen Kuli, der nur wenige Pfennige
am Tage verdiente, oder für einen Armenhäusler in Deutschland. Heute kostet
derselbe Goethe 200 --^ — 20 Fr., ist also gerade so billig oder billiger für den
Schweizer Bürger oder Arbeiter. Nur der deutsche Lehrer oder Student ist mittler¬
weile auf den Vermögensstand des Kuli oder Armenhäuslers herabgesunken, er
kann in bitterem Ringen um die Daseinsfristung diese 20 Fr. oder 200 nicht
mehr für einen Goethe anlegen. Solange er nun nicht seine Lebensbedürfnisse
auf den Stand eines Kukis oder Armenhäuslers herabgeschraubt hat, ist er tatsächlich
viel ärmer als der Kuli, der seine Handvoll Reis verdient, aber nichts anderes kennt.
Mit 400 Dollar jährlich steht heute der Angehörige des deutschen Mittel¬
standes in der Welt; damit soll er außer der Sicherstellung der eigenen Existenz
noch geistige Führerarbeit leisten. Und wenn sich auch augenblicklich noch in
Deutschland mit diesen 400 Dollar vielleicht ebensoviel anfangen läßt, wie in
Amerika mit 1000 — wo kein Schuhputzer mit 1000 Dollar auskommen kann —,
so darf nicht vergessen werden, daß die 400 Dollar Gehalt oder Lohn nicht einmal
wirkliche Dollars sind, sondern mehr oder weniger fiktiven Charakter haben. Wir
bekommen sie in deutscher Reichsmark, die sich von Tag zu Tag mehr entwertet.
Korund aber einmal der Augenblick, wo entweder die Notenpresse stillgelegt wird,
oder wo die Bevölkerung sich weigert, dieses Papier anzunehmen, das nur durch seinen
Ausdruck an die alte Goldmark erinnert, in Wirklichkeit aber Münzverfälschung
bedeutet — und einer dieser beiden Augenblicke muß unweigerlich eintreten —, so
beträgt unser Gehalt auch nur chieder einen Bruchteil der 400 Dollar. Entweder der
gänzlich verarmte Staat kann uns, wenn er die Notenprcsse einmal stillegt, nicht ein¬
mal diese Summe mehr gewähren, oder die Kaufkraft des Papiergeldes sinkt nach
russischem und österreichischem Vorgang so ins Bodenlose hinab, daß wir gezwungen
sind, von dem heute empfangenen Scheineinkommen kaufmännisch noch vieles abzu¬
schreiben.
Eine deutsche Mittelstandsfamilie, die vor dem Kriege mit 12 000 ^ jährlich
alle wichtigen materiellen und geistigen Bedürfnisse befriedigen und ihre sozialen
Leistungen erfüllen konnte, würde heute, wenn die Ungleichung an den Welt¬
marktpreis und die Aufzehrung der Reserven sich vollendet hat, etwa 30 000 Schweizer
Franken Jahreseinnahmen oder 400 000 °F heutigen Wertes benötigen.
Wenn Sie sich vorstellen, Sie müßten sich neu ausstatten und wollten mit
gleichen Ansprüchen leben wie einst, so würde ein Jahresverbrauch von 400 000 ^
uicht zu hoch gegriffen sein — tatsächlich verbraucht der Holländer oder Schweizer
Bürger so viel — vorausgesetzt, daß Ihre Besteuerung auf dem alten, geringen Stand
bliebe, was ja natürlich nicht der Fallest. Aber auch wenn Sie etwa ^ Million
Mark Jahrcseinncchme hätten, so würden Sie doch nicht mehr entfernt so leben
können wie 1914, weil eben die Welt um Sie inzwischen eine andere geworden
ist, eine Welt mit mehr Seuchen und Krankheiten, mit geringerer Sicherheit des
Lebens und Eigentums, schlechterem Verkehr, herabgesetzten geistigen Leistungen,
gesunkener Moral, Zurückgehen der Kultur, Einschrumpfen aller Zivilisativns-
einrichtungen, die auf Massenverbrauch eingestellt waren und die wir eigentlich
für das Selbstverständlichste und Sicherste aller Dinge hielten. Früher glaubten
wir, die Kultur könnte wohl zurückgehen, aber die Zivilisation doch eigentlich
nur immer fortschreiten, denn Einbrüche wie zur Zeit der Völkerwanderung
wären nicht mehr vorstellbar. Das Telephon zum Beispiel wäre nun einmal er¬
funden und zur Erweiterung des Verkehrs unentbehrlich; infolgedessen könnte
seine Verbreitung kaum schrumpfen. Jetzt erleben wir staunend, wie — für uns,
weil wir verarmt sind — der Gebrauch einer Unmenge von Gütern aufhört und die
bisher selbstverständliche Wachstumsstimmung ins Gegenteil umschlägt.
Früher, wenn wir nach Italien reisten, was dem deutschen Mittelstand so
leicht möglich war, daß wir uns wunderten, nicht mehr reisenden Italienern in
Deutschland zu begegnen, bemerkten wir wohl, daß dort eine Schreibmaschine ein
seltener Gegenstand war und belächelten die Italiener als rückständig, statt einfach
den Unterschied des Wohlstandes zu sehen. Nachdem wir jetzt auf einer viel tieferen
Stand gekommen sind, können wir bald unseren Kindern vom Einst wie vom
Märchen des verlorenen Paradieses erzählen.
Es ist eine der großen Lehren unseres weltgeschichtlichen Zeitalters, daß
es weniger auf die individuelle Wohlfahrt ankommt, als auf die Wohlfahrt der Ge¬
meinschaft, in der man lebt, auch für den einzelnen selbst. Ein Millionär in
Serbien war 1914 in Wirklichkeit ärmer als ein kleiner Rentner in Deutschland.
Und so möchte ich hier schon das Gleichnis gebrauchen, das für die später zu erörternde
Erfahrung unserer Tage ein treffendes Bild bieten dürfte: Es nützt dem
einzelnen wenig, wenn er in die Höhe klettert und nicht bemerkt, daß die Wand,
«n der er klettert, sinkt. Es müssen an Stelle des individuellen Kletterns vielmehr
erst einmal alle zusammenstehen, um die Wand zu stützen und so lange auf das
persönliche Vorankommen verzichten.
Der vierte Stand hat sich vor dem Krieg bitter darüber beschwert und seine
ganze Lebensstimmung und politische Organisation darauf eingestellt, daß die Güter-
verteilunx. ungerecht wäre. Es hätte ja Wohl manches gerechter sein können, aber
schließlich war doch damals etwas zum Verteilen da, und es kam doch allen Volks¬
genossen, vor allem auch dem vierten Stand zugute, daß der Mittelstand ein ver¬
hältnismäßig gehobenes Dasein hatte. Das befähigte diesen Mittelstand zu
geistigen und materiellen Leistungen für das Ganze, auf denen auch die Lebens¬
möglichkeit des vierten Standes beruhte. Und was für den Mittelstund gilt, gilt
ganz ebenso für das große Kapital: der Reichtum im Vorkriegsdeutschland war
ganz wesentlich Betriebskapital und arbeitete so rationell für die Gesamtheit,
wie kein Reichtum früherer Geschichtsperioden. Er war unentbehrlich für die Blüte
und Selbständigkeit des deutschen Volkes in der Welt. Wenn in Deutschland
damals wie heute so sehr die Stimmung vorherrschte, daß es einer dem andern
nicht gönnen will, mehr zu haben, als er selbst, so liegt heute die Kurzsicht einer
solchen Einstelking klar zutage. Heute, wo wir fast all? arm geworden sind, er¬
sticken die verhältnismäßig wenigen Reichen, die wir noch haben, zum Teil in
einem unproduktiven, sozial schädlichen Reichtum; andere aber, die ihren Reichtum
als Betriebskapital für die Gesamtheit arbeiten lassen, werden von der Gleich¬
macherei, von der Vermögenskonfiskation durch Steuern bedroht, womit die Henne,
welche die goldnen Eier, legen soll, geschlachtet wird. Aber da heute der Kampf
jedes nur für sich, folglich aller gegen alle den Mangel jedes einzelnen immer
neu entfacht, so haben sich auch die bösen und harten Züge des wirtschaftlichen
Kampfes noch verschärft, statt daß die allgemeine Not die allgemeine Solidarität
gefördert hätte. Und zwar zeigt sich die verstärkte Abwendung vom Allgemeinsinn
seit dem Zusammenbruch Deutschlands gleichmäßig in allen wirtschaftlichen und
sozialen Schichten der Nation.
^
Der blühende Zustand Europas und besonders Deutschlands vor sechs Jahren
gründete sich
1. auf den Besitz von Rohstoffen, namentlich Kohle und Eisen, die durch
die Entwicklung des menschlichen Geistes zu den hochwertigsten aller Rohstoffe ge¬
worden waren,
2> auf eine besonders wertvolle akmelle Arbeit der Nation, eine Qualitäts¬
erzeugung gemäß dem allgemeinen Kulturstand der Bevölkerung, der Höhe der
Wissenschaft, Technik, Bildung, Erziehung und Arbeitsgemeinschaft)
3. auf die jährlich anwachsenden Früchte langer Friedensarbeit, auf die
Rücklagen, die dem ganzen Volk, nicht nur den einzelnen Kapitalisten, einen immer
breiteren Zustrom von Lebensgütern auszer den unmittelbar erarbeiteten gewähr¬
leisteten, kurz, auf die nationale Arbeitsgemeinschaft von Generation zu Generation.
Es gab infolge dieser Aufsummung zweckmäßiger Gütererzeugung durch
lange Jahre keine spürbaren Ketten al er Schulden, unproduktiver Verpflichtungen
mehr. Die Erträgnisse der aktuellen Arbeit wurden zum sofortigen Verbrauch für
Lebensgüter oder zur Aufspeicherung, zur Kapitalvildung frei verwendbar.
Was uns heute schon so fern berührt: die Lasten für tote Zwecke fehlten,
und der jähilich wachsende Zuschuß aus den Folgewirkungen früherer Arbeit wurde
nicht oder doch nicht in erwähnenswertem Maße konfisziert, versteckt, hinterzogen,
ins Ausland verschleppt oder in sinnlosem Luxus vergeudet, sondern er arbeitete,
in der Hauptsache pflichtbewußt, in einem gesunden Zusammenhang privat¬
kapitalistischer und allgemein volkswirtschaftlicher Interessen wenigstens. Er war
in guten Händen, und da die Deutschen unter sich Grund hatten, mindestens
wirtschaftlich aufeinander und auf ihren Staat zu vertrauen, da es damals u, a.
auch ein gutes Geschäft war, Deutscher zu sein, so ging allgemeine und private
Arbeit organisch zusammen. Die praktischen Anlagezwecke, das genügsame Sparen,
das unternehmende Erweitern der wirtschaftlichen Tätigkeit, das verhältnismäßig
geringe Maß der Verschwendung, der rechtliche, offene vertrauensvolle und stabile
Charakter der wirtschaftlichen Beziehungen: das- alles entsprach dem Typus einer
Gesellschaft, die durch solide Eigenschaften vorankommt. Die Menschen lebten im
allgemeinen nicht so gut, wie sie hätten leben können, während wir jetzt alle
noch besser leben, als wir es im Grunde vermögen, da wir in einem Fieberzustand
sind, der die Erkenntnis des tatsächlichen wirtschaftlichen Abgrundes, über dem wir
schweben, noch verhüllt. Damals war es für die oberen Schichten und den
Mittelstand verhältnismäßig leicht, Vermögen zu erhalten und in gesunden Grenzen
zu mehren, aber es war verhältnismäßig schwierig, das Geld auf der Straße zu
finden wie heute. Die Gediegenheit und Zuverlässigkeit der öffentlichen und wirt¬
schaftlichen Sitten war das gesunde Gegenteil von heute.
Der Besitz der Rohstoffe, die akmelle Arbeit und die Verwendung der Rück¬
lagen war aber geschützt durch die Macht, einmal durch die Macht der kapital
und waffenstarken weißen Rasse über die stationäreren Völker der Erde, und im
besonderen durch die Macht unseres Staates, die unsere Wirtschaft vor Beraubung
und Einengung schützte. Diesen Faktor der Macht, d. h. der nationalen Soli¬
darität gegen außen, haben wir vor dem Kriege nicht genügend hoch eingeschätzt.
Wir hatten nicht denselben Instinkt dafür, wie die Engländer oder Franzosen.
Der Deutsche spürte fast keine Steuern, er seufzte zwar, aber der Unter¬
schied ist uns deute klar geworden. Niemals zufrieden zu sein, gehört nun einmal
zu den Attributen der menschlichen Glückseligkeit. Die Ausgaben, die das Reich
für scheinbar unproduktive Zwecke forderte, waren verschwindend/ unsere ganze
einstige deutsche Flotte hat 2V2 Milliarden gekostet,' es ist namenlos zu denken,
daß eine halbe Milliarde mehr, für das Heer ausgegeben, aller Wahrscheinlichkeit
nach den Verlust der Marneschlacht und damit wohl des Krieges verhütet hätte
und dasz wir heute für unsere feindliche Besatzung im Rheinland zehn mal soviel
bezahle» müssen, wie in unserem einstigen Reichtum für die eigene Wehrmacht!
Gegen den Staat hatte man fast nur Rechte und mit Ausnahme der allgemeinen
Wehrpflicht kaum spürbare oder drückende Pflichten/ er drückte vielleicht zu wenig,
sicher nicht zuviel.
Unsere Loge 1914 war wirtschaftlich fast beispiellos in der Geschichte, sie
entsprach genau dem Ideal der Nationalökonomie, der Formel, die etwa so aus¬
gedrückt wurde:
„Das Ideal volkswirtschaftlicher Entwicklung ist, daß eine wachsende
Bevölkerung die Nutzwirkung ihrer Arbeit und damit ihr „Einkommen" in
einem Maße zu steigern vermag, daß gleichzeitig
erstens eine gebesserte Lebenshaltung, also ausgiebige Befriedigung
der materiellen und geistigen Bedürfnisse, und zweitens eine Ver¬
mehrung des Volkswohlstandes außerdem erzielt wird."
Es war ein fortdauernder Überschuß der Erzeugung über den Verbrauch
trotz fortdauernder Steigerung des Verbrauchs, der Lebenshaltung, des Daieins-
minimums, des Luxus, aller Ansprüche. Wir sind uns heute darüber klar geworden,
weil wir in allem das Gegenteil erleben: Eine abnehmende Bevölkerung,
die Nu^wirkung der Arbeit vermindert, das an sich zweckmäßige Erzeugen
erschwert durch die Zerstörung der alten Ordnung, durch die Abnahme der
Kaufkraft, Unsicherheit, Unfreiheit usw. Die Erträgnisse der Arbeit sind ferner
über unsere Kraft vorbelastet durch die Abgaben an unproduktive Zwecke,
Schulden, Feindcsforderungen. Obwohl also der einzelne weit mehr spart,
tue Lebenshaltung herabsetzt, seine materiellen und geistigen Bedürfnisse nicht
Pflegen darf, tritt hierdurch keine Vermehrung des Volkswohlstandes, keine
Ersparnis ein, sondern auch der Volkswohlstand vermindert sich zusehends
unter den erdrosselnden Lebensbedingungen der Gesamtheit. Die Reserven
werden aufgebraucht trop äußerstem Zurückschrauben der Bedürfnisse des einzelnen
bei einer fortwährend wachsenden Schuldenlast. Überall ist die Decke zu knapp-
Die vielen Bedürftigen zehren sich gegenseitig auf) kurz, wir haben das Gegenteil
des wirtschaftlichen Paradieses, die wirtschaftliche Hölle. Statt des Wachstums
droht von allen Seiten eine Aussterbe- und Bankerotlstimmung, die ihren Charakter
erhält durch die beispiellose Jähe, mit der sich alles vollzieht. Das hielten wir
für ganz unmöglich. Wir hatten eine Zuversicht, die sich im wesentlich'n darauf
gründete, daß unsere Stellung unter den europäischen Grvßvölkern in gewissem
Maß immer eine günstige sein würde durch äußeren Umfang, Geschichte usw., daß
das Wachstum des deutschen Volkes (das bis 1870, ja noch länger, lus zu Bismarcks
Zollpolitik von l879, gehemmt war durch äußere Schranken und innere Zerrissen¬
heit) sich von den 80 er Jahren ab explosiv entfaltet hatte, ohne weltreichartige
Ländergebiete zu besitzen wie die Engländer oder Russen. Es entstand eine künst¬
liche Weltmacht durch Warenausfuhr, allerdings bei intensivster Bodennutzung
durch rationelle Landwirtschaft) aber die Landwirtschaft hätte doch niemals auf
ihrem kleinen Gebiet eine Weltmacht fundieren können.
Bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts war Westeuropa infolge des jahr¬
hundertelangen politischen und wirtschaftlichen Siechtums des alten Deutschlands
führend. Jetzt, seit etwa der Jahrhundertwende, überflügelte die deutsche wirt¬
schaftliche Entwicklung die Westeuropas im Zeitmaß. Dies war die tiefste Wurzel
des Krieges, in dem die Westmächte durch eine überlegene politische Schulung und
ein großes Erbe den Ring der Welt zur Erdrosselung des deutschen Volkes
bilden konnten.
Um zu veranschaulichen, wie sehr der Deutsche jeden Standes Teilhaber
dieser Blüte war, nur ein paar Zahlen:
Zwischen der Mitte der 80er Jahre und dem Kriegsausbruch hatte sich, auf
den Kopf der deutschen Bevölkerung gerechnet, der Verbrauch an Roggen um 25
an dem kostspieligeren Weizen um 40 A, an Kartoffeln um 50 an Zucker um
165 A gesteigert. Im Brotverbrauch standen wir an der Spitze aller Völker, im
Fleisch- und Zuckerverbrauch nur noch hinter den Angelsachsen zurück, denen wir
uns rasch näherten, während Rußland im Verbrauch der kostbareren Nahrungs-
nnt el wohl unsern armen Stand vor hundert Jahren verkörperte. So ging es
Jahr für Jahr vorwärts. Gesundheit und Leistungsfähigkeit des Volkes wuchsen)
die Achillesferse unseres Volksdaseins, nämlich die starke Angreifbarkeit eines so
an die Wohlhabenheit gewöhnten Volkes durch den englischen Hungerkrieg, wurde
kaum ins Auge gefaßt. Es war eine Kleinigkeit, den jährlichen Zuschuß aus¬
ländischer Nahrungs- und Futtermittel aus den Überschüssen unserer Volks¬
wirtschaft vor dem Krieg zu bezahlen.
Ferner ist zum Verständnis dieser Zahlen und gleichzeitig als kürzester
Ausdruck der wirtschaftlichen Leistung des ganzen Volkes zu erwähnen, daß der
Jahresertrag der deutschen Ernte von 1885/9 bis 1913 an Roggen und Weizen
sich von 9 auf 16 Millionen Tonnen, an Kartoffeln von 29 auf 54 Millionen,
<in Rübenzucker (verarbeitet) von 900000 auf 2,7 Millionen Tonnen gesteigert
halte. Wir erzeugten im letzten Friedensjahr mehr als anderthalbmal so viel
Karioffeln wie das 40 mal größere Rußland und sogar sechsmal soviel wie die
15 mal größeren Vereinigten Staaten von Nordamerika, die uns an Weizen und
Roggen noch nicht um '/» übertrafen. Daß der Ernteertrag auf der von uns
bebauten Bodenfläche auf eine solche Höhe gebracht wurde, daß er das Doppelte
bis Dreifache wie in Amerika, Rußland oder gar in Frankreich betrug, war nur
möglich, durch die Ausnützung des Bodens und die rationelle Bewirtschaftung,
wie sie sonst in keinem Land vorgenommen wurde. Mit der zweckmäßigen Ver¬
wendung von Menschen und Material hatten wir einen solchen Rekord erreicht,
daß selbst das von Natur ertragreichste Land der Erde mit unserer Landwirtschaft
nicht mehr wetteifern konnte. Welche Summe von Volkstüchtigkeit liegt in
diesem Vergleich! Heute ist . die landwirtschaftliche Anbaufläche Deutschlands
zunächst durch die Abtretungen geschmälert. Das übrig gebliebene Deutschland
wüßte, da im Osten viel landwirtschaftliches Qberschußland verlorengegangen ist,
5ur die verhältnismäßig gewachsene Verbraucherzahl seine landwirtschaftliche
Erzeugung also noch steigern. Infolge Rückgangs der Anbauflächen, unzulänglicher
Bestellung und ungenügender Düngung, kurz, durch Verarmung und Verwirrung
des Erzeugungsmechanismus, sind aber 1920 beinahe 4'/, Millionen Tonnen
Brodgetreide weniger als vor dem Krieg auf derselben Gebietsfläche geerntet
worden. An Brodgetreide allein ist der Einfuhrbedarf des heutigen verarmten
Deutschlands im Winter 1920/21 zwischen 8 und 15 Milliarden Mark zu ver¬
anschlagen) das beträgt für jede vierköpfige Familie in einem Winter 500 bis
1000 Mark, die an das Ausland abgeführt werden müssen, — nur um das
karge tägliche Brot auf dem Tisch zu finden. Diese Zahl bei unserm sonstigen
Defizit bedeutet das Gegenteil von dem, was die Deutschen erhofft haben, als
sie 1918 im Vertrauen auf die Menschlichkeit fremdländischer Staatsmänner und
Völker einen Brot- und Entwasfnungssrieden schließen wollten? sie bedeutet daS
abermalige Näherrücken des buchstäblichen Hungertodes für die schwächeren Teile
der Bevölkerung, unvermeidlich in dem Augenblick, da die Kaufkraft der Mark
auf die der österreichischen Krone gesunken sein sollte. Welch fürchterlichen Ernst
die vierte Bitte des Vaterunsers auf lange hinaus für jeden Deutschen behält^
mag hiernach ermessen werden. Der physische Hungertod hat ja bereits begonnen
und unter den vielen Namenlosen, die er hinwegrafft, ragt doch zuweilen auch
ein Name auf, der die unbegreifliche Häßlichkeit im Schicksal des begabtesten und
bis vor kurzem reichsten der Völker grell beleuchtet. So starb im Oktober 1920
in einem Borort des ehemals heiteren Wiens einer der größten Metereologen
der Welt im klaren Bewußtsein seines Schicksals an Hungerödem, nachdem seine
monatliche Pension von 430 Kronen auf die Kaufkraft von etwa 10 Goldmark
herabgesunken war.
Ähnlich wie bei diesem Beispiel finden wir überall, wo wir in die volks¬
wirtschaftlichen Tabellen hineinstechen, eine weltgeschichtlich beispiellose Blüte bis
zum Krieg und einen atemraubenden Verfall in der Gegenwart. Es ist den
Engländern wohl gelungen. Bei dem Mechanismus der weltbedeutenden deutschen
Industrie ist der Pevdelausschlag noch heftiger als bei der Landwirtschaft, deren
Aufstieg und Niedergang von Natur einen begrenzteren Spielraum hat.
Wir nahmen in den fetten Jahrzehnten in einer unbegrenzten Hausfestimmung
den fortwährenden Zuwachs an Lebensgütern als selbstverständlich an. Nicht
minder als von der Hebung des Wohlstandes galt dies von der Verlängerung
der Lebensdauer, von der Verbreiterung der Wohlfahrtseinrichtungen, deS
Bildungsgrades und des Luxus. Die Umhegung des Einzeln dens war erstaunlich?
trotz der Vermehrung des Volkes um jährlich fast 1 Million — eine ganze
Provinz —, die wir restlos in der wachsenden Volkswirtschaft verwenden konnten,
war jedes Einzelleben kostbarer, gepflegter geworden. Nicht nur wurde die
Aufgabe bewältigt, diesen jährlichen Zuwachs unterzubringen, sondern er wurde
mit jedem Jahr besser untergebracht und jedes Individuum bedachtsamer geschützt
als früher. Vieles von dem, was damals selbstverständlich erschien, berührt uns
heute schon wie ein Märchen, so etwa die Nahrungsmiltelpolizei, die beispiels¬
weise verbot, Butter und Margarine im gleichen Raum zu verkaufen.
Per alte Malchus war a6 absurcium geführt: trotz raschem Steigen der
Bevölkerungszahl wurde der Anteil jedes einzelnen an den Glücksgütern all¬
jährlich größer. Der Zustand des Wachstums wurde als normal empfunden?
die Zeit war für uns schon längst überlebt, da wir Menschen exportierten.
Wir hatten praktisch keine Arbeitslosigkeit mehr.
Wie weit war der einzelne Deutsche sich seines Zusammenhanges mit der
allgemeinen Wohlfahrt bewußt und wie weit hat dies Bewußtsein auch unsere
Organisationen durchdrungen?
Das Gefühl der Teilhaberschaft am nationalen Gedeih und Verderb war
im Deutschen immer schwach entwickelt und ist heute noch niederzehrend gering.
Daß die mangelnde Solidarität des Deutschen einer der Hauptgründe unserer
heutigen Lage ist, dafür nur ein Beispiel an Stelle vieler:
Im Sommer 1919 hat Erzberger die Unterzeichnung des Friedens in
Weimar nur durch das Argument durchgesetzt, daß im andern Fall einzelne Teile
Deutschlands Sonderfrieden schlössen und die Einheit der Nation dann für immer
verloren ginge. Könnte man sich auf jeden Deutschen national verlassen im
Sinne des Zusammenhalts — wie z. B. jeder Engländer sich als Shaveholder
der großen Weltverwaltungskompanie England, als ein kleiner Dschingiskhan auf
Aktien, fühlt —, dann hätte eine vorübergehende gewaltsame Trennung durch den
Feind ja gerade den umgekehrten Erfolg des von den Feinden Gewünschten
gezeitigt. Man stelle sich nur vor, daß wir 1370 die Provence oder die Normandie
Mit dem Abschluß von Sonderfrieden hätten verlocken wollen! Wären wir ein
Volk auch nur im Sinne der Iren oder Ägypter, dann hätte jenes Argument
keinen Staatsmann irre geführt. Aber hätten wir heute einen Bürgermeister
von Cork, so würde er vergeblich 74 Tage lang gegen Feindesgewalt mit der
Waffe des Märtyrertums kämpfen. Sein Tod würde ja in unserer Presse und
w den stumpfen Empfindungen weiter Volksteile nur durch ein mattes Echo auf¬
gefangen und der Funke des Heldentums vielleicht nicht zünden. Und weil dem
so ist, hatten wir auch keinen nationalen Führer vor und nach dem Krieg, war
Mangel an einiger Gesinnung die eigentlich entscheidende Kraft gegen uns selbst.
Ich glaube mich weiterer Beispiele an dieser Stelle enthalten zu können,
Möchte aber nur den Begriff, mit dem ich dies hier nahebrachte, erläutern, den
Begriff der Solidarität oder des Zusammenhalts. Ich deutete schon an, daß
die Solidarität zwei Dimensionen hat, eine räumliche, die aktuelle Volks¬
gemeinschaft, und eine zeitliche, das Bewahren des Erbes. Der Mangel an
Solidarität erscheint bei uns im Raum wie in der Zeit. Zeitlich sind wir ab¬
gewichen von der großen aufbauenden Überlieferung der Linie von 1640—1870
und haben mindestens seit 1917 die Überlieferung des mangelnden Gemeinsinns
von Segest bis auf den Rheinbund erneuert. Die lebende Solidarität in einer
Nation hat zur Folge, daß alle individuelle Kraft und Arbeit, auch wo sie im
stillen und einzelnen wirkt, bewußt oder unbewußt sich dem Gesamtziel einfügt,
denn es bildet sich der Gemeininstinkt aus, der wie im Ameisenstaat auch das
einzelne Gliedchen zum Gesamtzweck führt. Wir hatten zu viel tote Arbeits¬
teilung. Als unser Mechanismus durch dasSchicksal zerbrochen wurde, haben wir zwar
das arbeitsteilige Schuften noch nicht aufgegeben, aber es läuft alles in den Ruinen
wirr durcheinander und gegeneinander, weil der neue, heilige Instinkt noch fehlt.
Zu den unheilvollen Überlieferungen, die noch immer leben, gehört auch die
politische Rückwirkung der konfessionellen Spaltung. Keine unserer beiden
Konfessionen ist an sich nationaler als die andere. Denken Sie nur an die
cÄtdolihues as ?rg.nes, die Katholiken Polens. Aber als einziges großes, in zwei
konfessionelle Hälften gespaltenes Volk haben gerade wir Deutschen die leise
Scheidewand der Konfession selbst bei den letzten Aufgaben der Nation in ihrem
Daseinskampf nicht wegräumen können. Wenn im Weltkrieg das evangelische
Alt-Württemberg, das im 17. und noch im 19. Jahrhundert an der Seite der
Franzosen gegen den Kaiser gekämpft hatte, im großen ganzen ein Vorbild
unerschütterlicher Opferstimmung war — so sehr, daß wir den Krieg trotz allem
nicht hätten verlieren können, wenn alle Teile des Reiches ebenso gesinnt gewesen
wären —, und wenn das nicht minder tapfere und teutschgesinnte Neu-Württemberg
eben doch einen Erzberger nach Berlin abgeordnet und den widernatürlichen Bund
der katholischen mit der marxistischen Weltanschauung gegen den preußisch¬
protestantisch-national geführten Staat geduldet hat, so wird dies nicht erwähnt,
um hier im Kreis von Evangelischen Ruhmredigkeit oder gar eine falsche Polemik
anzuregen. Sondern es soll daran erinnert werden, daß die Kreise, die seit 1870
die Verantwortung für das Ganze in besonderem Maße trugen, auch in Zukunft
die Pflicht haben, jene andern Volksteile, die noch um ein zweites Zentrum
neben der Nation kreisen, durch ihr Beispiel, durch ebenso versöhnliche und
brüderliche Haltung wie führenden Opfergeist, in der guten Richtung mit sich
fortzureißen.
Hier muß ich auch vom Antisemitismus unserer Tage sprechen. Er gründet
sich auf die Überzeugung, daß die Juden schon vor dem Krieg, während desselben
und bei der Revolution den Zusammenhalt der Nation unterhöhlt haben, teilweise
ohne ihren Willen, einfach, weil ihnen der Blutinstinkt zum Ganzen fehlt, woher
sie zwar dem Staat, der sie schützt, Gehorsam erweisen, aber nicht biologisch
gewordene Glieder der Familie sein können, denen das Volk mehr ist als das
eigene Ich. Man klagt die Juden an, daß sie die Opferstimmung im Krieg am
frühesten durchbrochen und das Beispiel gegeben haben, dem die gesamt Volks¬
masse bis in den Abgrund gefolgt ist. Wenn manche Juden bei all den Gewissens¬
proben, welche die Kriegsverhälmisse an jeden einzelnen stellten, die Flucht vor
der allgemeinen Sache begünstigt und damit Schule gemacht haben, so wäre es
indes gefährlich, das Quantum der Fahnenflucht auf unserer Seite geringer
anzunehmen. Es ist nicht Sks richtige, die Schuld nur beim andern zu sehen
und sich dadurch der eigenen zu entlasten. Jedes Volk hat die Juden, die eS
verdient. Wenn wir nicht lernen, durch eigene nationale Kraft unsere Juden
positiv mitzureißen und sie so national zu machen, wie es nun einmal die Juden
Englands und Frankreichs sind, so kann die antisemitische Welle, die augenblicklich
durch unser Land geht, nichts nützen, aber vieles verderben. Nickt spalten und
abstoßen, sondern verbinden und anziehen ist die Aufgabe wahrer solidarischer.
.Arbeit am Volk und Staat. Wir ^schlugen sooft in unserer Geschichte zu spät
und schlugen ins Leere. Möchte man darum weniger gegen die Juden als gegen
den Geist der Unsolidaritüt bei den Juden wie -bei uns selbst ankämpfen. Man
wird dann denjenigen Teil des Judentums, der mit dem Deutschtum geht, nicht
aufs neue in einen Haß hineintreiben, den wir uns in unserer jetzigen Ohnmacht
am wenigsten leisten sollten, und man wird zugleich Positives zur Erziehung
unseres eigenen Volkes leisten. Es gilt, nichts zu vertuschen und keinen Sophisten,
der mit noch so gewandter Zunge unserm Volk Egoismus und Kosmopolitismus
als Ersatz für das Volkstum anpreist, zu schonen.
Gerade die Geschichte der Juden bietet für unsere heutige Lage ein großes
Beispiel. Nach dem Verlust ihres Staates wurden sie in der Zerstreuung erst
groß und mächtig, weil die enge Gemeinschaft um ihren Gott jeden einzelnen
erhöhte und alle zusammen kräftigte. Von Jahwe, d. h. der Volkssolidarität,
abgewandt, wird der Jude individualistisch, zersetzend, weil er hinausgestoßen ist
in die Vereinzelung und weil das Deutschtum ihn nicht genügend in sich hinein¬
zuziehen vermocht hat wie das Briten- und Franzosentum. In der neuen,
deutschen Gemeinschaft, auf die unsere Zeit zugeht, müssen die Besten der deutschen
Juden sich in unserem Hause als Bruder fühlen leinen und Schulter an Schulter
mit uns die gemeinschastsfeindlichen Kreiste bekämpfen. Das müssen wir ihnen
ermöglichen, indem wir die rechte Form der Abwehr wie der Zusammen¬
arbeit finden.
Solidaritätswidrigen Kräften ließ der Deutsche zu viel Spielraum. Die
Einheit Deutschlands war jedenfalls nicht erlebt genug, sie war zu äußerlich, zu
viel noch befohlen, das, was die Franzosen mit so geschickter Verleumdung als
den „preußischen Mechanismus", als die bloße starre Form bezeichnet haben.
Das war in gewisser Weise da, aber nicht im Preußentum als solchem, sondern
in verschiedener Art im gesamten Deutschtum. Der Wille zum Ganzen war zu
vielfach abgelenkt und gebrochen.
Und nun gehen wir zum Hauptherd der geistigen Krankheit, an der heute
unser Volk leidet: zu der scheinbaren Grunderkenntnis aus Krieg und Umsturz,
daß der „Gute immer der Dumme" war und daß gerade der, welcher in Deutsch¬
land auf den Gemeingeist setzte, falsch gewettet hat, der erste Abtrünnige dagegen
recht behielt. Im Zusammenhang mit der Veränderung unserer materiellen Lage
hat diese geistige Krankheit uns in das heutige Chaos hineingeführt, in dem nun
wir die Aufgabe haben, schaffend eine neue Welt erstehen zu lassen. Dabei
stoßen wir immer wieder hart an jene Erfahrung des Volkes: alle die An¬
strengungen und Opfer, die uns diesen größten aller Heldenkämpfe aller Jahr¬
tausende durch viereinhalb Jahre auszuhalten ermöcckicht haben, was bewirkten
sie anderes als den einzelnen zu schwächen oder ganz zu vernichten und durch
Verlängerung des Ausharrens auch unsere Leiden wieder zu vergrößern? Die
Senkung der Moral und Legalität durch das schlechte Beispiel, dadurch, daß der
Drückeberger gegen den Helden Recht behielt und bis heute der Schieber über
den Ehrlichen, welches Volk erträgt eine solche Verwirrung der Begriffe, einen
solchen Hexensabbat der künstlichen Umdrehung aller gewohnten Rechtsverhältnisse
und moralischen Lehren, ein solches handgreifliches reZnum ir^ustitiae. ohne in
eine Psychose zu verfallen?
Doch es kommt rür darauf an, die Gegenrechnung aufzustellen, und die
Wahrheit beginnt offenbar zu werden, langsam, aber sie ist auf dem Weg.
Wenn man während der vergangenen sechs Jahre von irgendeiner Stelle im
öffentlichen Leben aus die Sabotierung der Gesetzlichkeit und des Gemeingeistes,
die Vergeudung und Verschleppung von Besitz, die Durchlöcherung der Ordnung,
die Enteignung der Tugend und R.chtlichkeit im einzelnen mit angesehen hat,
so wunderte man sich eher darüber, daß immer noch soviel vom Gerüst des
öffentlichen Daseins in scheinbar unverwüstlicher Kraft stehen blieb. Wir sehen
jetzt mehr und mehr, daß dieses übrig bleibende Gesamteigentum zur morschen
Gewohnheit geworden ist. In einem Augenblick, da es schon zweifelhaft wird,
ob die Nation das trockene Brot für alle ihre Angehörigen dauernd wird be¬
schaffen können, ist die Auswirkung des Unrechts zusammen mit der des Unglücks
so angewachsen, daß niemand mehr an der Erkenntnis, wie sich Schuld und
Wirkung verketten, vorübergehen kann. Der Verfall des Gemeinsinns
erweist sich als das größte Leiden unter all denen, die wir tragen müssen.
Während sich der Ehrliche heute in vergeblichen Anläufen erschöpft und in der
kleinen Mühsal des täglichen Lebens an tausend Hemmungen totläuft, schwingt
sich der geschickte Gaukler leicht in den Sattel der Macht und des Reichtums.
Durch Spiel, Raub, Machtansprüche, Konnexionen und Protektionen sein Leben
zu fristen statt durch Arbeit, wird weithin als Notwendigkeit, jedenfalls als
Selbstverständlichkeit empfunden. Ein Vermögen zu erraffen, ist heute leicht,
ebenso wie eS unmöglich ist, alten Wohlstand auf gewöhne Weise zu bewahren.
Die Auflösung des Gemeinsinns und des öffentlichen Vertrauens ist so weit
gediehen, daß Begriffe, wie erlaubte Notwehr, Mundrand, die früher ein mehr
dekoratives Leben im Recht führten, für viele die Grundbegriffe ihres Verhält«
riss's zur Allgemeinheit geworden sind, wobei das schlechte Beispiel und die immer
schärfer einsetzende tatsächliche Not den Verführer machen. Das Vergehen gegen
das Eigentum war vor sechs Jahren sozusagen im Aussterben, wenigstens soweit
es aus Not hervorging) es trat bei verbrecherischen Anlagen, aber selten aus
Armut hervor, denn die Versuchung war nicht allgegenwärtig. Wie anders
wurden früher die Gebote und Verordnungen des Staates aufgefaßt! Die Staats¬
vernunft, die zum Besten aller ausschlug, hatte sich augenscheinlich bewährt) sie
war die sicherste Grundlage alles Handels und Wandels. Aus unseren Leiden
begreifen wir heute erst, wie viel der Gemeinsinn von einst bedeutet hat, selbst
wo er mechanisiert war.
Heute läuft der unmittelbare Privatnutzen nicht mehr wie einst dem all¬
gemeinen Borten meist von Natur parallel, sondern ihm zuwider. Wieviele
haben da die Stärke, jedesmal den unmittelbaren Privatnutzen hinter die Erwägung
zu stellen, daß nur die von jedem geübte Hingabe an den allgemeinen Nutzen
letzten Endes auch die Privaten retten kann? Der einzelne sieht ja im Privat¬
nutzen das einzig „Gewisse",' opfert er ihn der Allgemeinheit, ja wem kommt er
denn da zugute, seinen Kindern oder den Franzosen?
Im früheren Gemeinwesen hatten Staat und Reich einen gemeinsamen
Blutkreislauf wie ein Körper und seine Organe. Heute leben teils die einzelnen
im Staat wie Eingeweidewürmer, teils erdrosselt der Staat wie eine Schling¬
pflanze das Volk. Nachdem die einzelnen öfters erfahren haben, daß sie schlecht
regiert werden, haben sie das Gefühl verloren, organisch mit dem Staat ver¬
wachsen zu sein und haben sich nun selbst angewöhnt, den Staat zu betrügen,
ihm immer weitere Säfte zu entziehen, statt für ihn Säfte zu bilden. Sie ver¬
gessen dabei, daß auch der Schmarotzer meistens untergeht, wenn sein Wirt on
Auszehrung stirbt. So krank sind wir geworden, daß selbst die bessere Erkenntnis
noch kein besseres Handeln hervorbringt, weil eben der einzelne noch keine neue
Solidarität im Ganzen sieht. Der Staat andererseits sucht, je machtloser er
den Massendelikten gegen das Gemeinwohl gegenübersteht, durch Zwang seine
Autorität wieder zu erkämpfen. Aber nichts ist gefährlicher für die letzten Reste
von Staatsansehen als drakonische Drohungen, die auf dem Papier bleiben Je
weniger der Staat fertig bringt, desto leichter überschreit er sich. Milde Gesetze
und ihre stritte Befolgung sind das Zeichen einer gesunden Gemeinschaft, strenge
Gesetze und eine davon weit abweichende laxe Übung das Merkmal einer zerrissenen
Gesellschaft.
So wie wir hier zusammengekommen sind, meine Herren, um Maßstäbe
für das Ungeheure unserer weltgeschichtlich gewordenen Zeit zu finden, so ver¬
suchen es heute in Deutschland manche, die vielfach überlebten, für eine andere Zeit-
siimmurg geschaffenen Begriffe umzuschmelzcn und das verworrene Schicksal, das uns
alle umgibt, mit der Klarheit des Gedankens zu durchdringen. Meine wissenschaftliche
Überzeugung ist es, daß nichts rascher zum Mittelpunkt des Problems hinführt
als die alte christliche Gesellschaftslehre, — sowie überhaupt nichts in der
chaotischen Gegenwart mehr Zukunft hat als alte verdunkelte religiöse und sittliche
Wahrheiten. Lassen Sie mich darum einmal die Umbildung Deutschlands in
dieser unserer Zeit auffassen als ein gewaltiges Paradigma für die Gesellschafts¬
lehre, wie sie Ihnen aus den Bekenntmsschristen der evangelischen Kirche und
aus der Weisheit der Kirchenväter und der mittelalterlichen Denker entgegen¬
springt. Ich will versuchen, mit äußerster Kürze die wesentlichen Begriffe heraus¬
zuheben, wie sie mir aus Augustin und Dante, aus der Scholastik und der
Gedankenarbeit des christlichen Naturrechts geläufig find.*)
Wir haben zwei Grundtypen, die materiell gerichtete Gesellschaft und die
idealistisch gerichtete Gemeinschaft, civitss terrens und civitss Oel> In der
civitss terrena beherrscht die Materie als Ziel die Triebe der Menschen. Es
liegt in dem Wesen der materiellen Güter, daß sie entzweien. Was der eine hat,
kann d r andere nicht haben, und immer hat der eine mehr als der andere.
Die civiws terrena ist in irgendeiner Form der Kampf aller gegen alle. Das
Geistige, das in ihr lebt, ist Mittel, Technik, das Ziel bleibt irgendwie stets
materieller Genuß. Infolgedessen ist hier der Mensch im Grunde des Menschen
Fund, wenn er auch, um den Menschen als Mittel zu benützen, Stücke Wegs
mit ihm zusammengeht. Von Stufe zu Stufe führt die civitas terrena zur
Selbstzerfleischung und Selbstauflösung. So geht es durch alle Kreise des Inferno
hinab bis zur Vollendung: dem rein isolierten Individuum, das in der Materie
erstarrt. Ergebnis: das Elend jedes einzelnen und aller zusammen. Rein
Militaristisch gesehen ist die civitas terrena eine verfehlte Sache, ein Widerspruch
w sich selbst. Ob es sich nun um das Verhalten untereinander streitender
Völker oder sich bekämpfender Klassen im Staat oder um sonstige dissoziative
Erscheinungen handelt bis herab zu den Spaltungen innerhalb der en gten
Kreise, bis zu Ehebruch oder dem Verrat an Kameraden, überall zeigt
dieser Typus der civitas terrena die Grunderscheinung: daß das materielle Gut
entzweit statt zu verbinden, unselig macht statt zu befreien. Es ist die Tendenz
zur Vereinzelung und zum Chaos.
In der civitas Oel verschwindet das Individuum für sich selbst, soweit eS
Materie ist, und weitet sich zum Kosmos, soweit es Geist ist. Das geistige Gut
verringert sich nicht durch Abgaben, sondern es wächst durch Mitteilung, der eine
entzündet und bereichert sich am andern. Aller Hader ist ein Stück Materialismus,
beim Geist ist Liebe und Zusammenarbeit, nicht sich selbst zerreibende, sondern
sich steigernde gesammelte Kraft. Das Individuum, das den Läuterungsberg
hinausgeschritten ist und auf jeder Stufe mehr Gemeinschaftsgeist sich erkämpft
und die individuelle Schwerlast der Materie abgeworfen hat, mündet freudig,
souverän und doch demütig, in dem reichgegliederten, arbeitsteiligen Paradiso, der
civitas I)el, die nicht ein graues unterschiedsloses seliges Einerlei, sondern die höchste
Differenzierung des geistigen Gutes in unzähligen individuellen Widerspiegelungen ist.
Nur der Geist, nicht die Materie ist schöpferisch. So gliedert in der wirk¬
lichen civitas vel der Geist sich in unendlicher und doch klarer Mannig¬
faltigkeit in die Materie hinein? er verbindet den Staatsmann, den Erzieher, den
Denker, den Erwerbstätigen, bis herab zum letzten Knecht! Sie bilden einen
wirklichen „Staat", ein organisches Ganzes, das die Verrichtungen der Kultur
erfüllt und immer weiter aufbaut. Die civitas vel flieht nicht aus der Wirklich¬
keit, sondern ergreift sie, um sie im geistigen Sinne zu erschaffen. Ein Enkel
dieser altchristlichen Gesellschaftslehre, hat auch Hegel im Staat die objektivierte
und organisierte Vernunft gesehen.
Wenn wir heute an unsern Staat von 1914 mit seiner Fürsorge, Ordnung,
Redlichkeit, Sachlichkeit, Ineinandergreifen in anständiger, ruhiger Evolution zurück¬
denken, so gewahren wir mit größerer Klarheit als früher, wie, obwohl der Idealismus
der einzelnen und die persönliche Sittlichkeit vielleicht nicht höher standen als
heute, doch in den Einrichtungen, den Sitten und Überlieferungen sich ein System
sittlicher Werte aufgesummt und sozusagen mechanisiert hatte, das heute durch¬
löchert oder zerbrochen ist. — Nur beiläufig möchte ich hinzufügen, damit Sie
mich nicht mißverstehen und keine zu weitgehende Idealisierung des früheren
Zustandes bei mir vermuten, daß die Möglichkeit des Durchlöcherns und Zer-
brechens dieser sogenannten civitas vel von 1914 nur deshalb gegeben war,
weil sie eben weitgehend mechanisiert war. Wäre sie durchweg ein lebendiges
Feuer der Gesinnung statt eines Mechanismus gewesen, so hätte sie nicht zer¬
brochen werden können, — doch dies nur nebenbei, es kommt mir vor allem
darauf an, Sie davon zu überzeugen, daß die Anwendung der Kategorien
„idealistische Gemeinschaft und materielle Gesellschaft", wie sie der Kieler Sociologe
Tönnies unabhängig von den christlichen Gesellschaftslehren, aber völlig parallel
mit dem Blick eines phantasiebegabien, soziologischen Empirikers gefunden hat,*)
unentbehrlich ist, um Grunderscheinungen unserer gesellschaftlichen Umbildung zu
verstehen.
Die beiden Typen der civitas dei-rena und der civitss vel sind ideale
Schemata, die natürlich in unserer aus Geist und Leben gemischten Wirklichkeit
so nicht rein vorkommen. Alle unsere Ideale, Parteiprogramme, öffentlichen Ein¬
richtungen sind gemischt aus Idealen und Interessen, so wie wir selbst aus Geist
und Materie bestehen. Es würde uns viel zu weit führen, wenn wir nun
wirklich, versuchen wollten, eine Soziologie der geschichtlichen Gegenwart oder der
jüngsten Vergangenheit unter diesen Gesichtspunkten zu zeichnen. Sollte ich die
Freude haben, dem einen oder anderen von Ihnen an der „Hochschule für Politik"
zu begegnen, wo ich wünschen würde, eine Arbeitsgemeinschaft für diese Fragen
sich bilden zu sehen, so ließe sich das näher erläutern. Aber greifen Sie nur
selbst hinein in das Erlebte, vergleichen Sie die relativ sehr hohe civitas vel
des Frontsoldaten mit der civitss terrens, der Schuttmoräne der Etappe oder
der Kriegsgesellschaften, sehen Sie zu, wie das selige Mürthrertum der einen,
der civitas vel, lange hindurch, unter Verzehr der materiellen Kräfte und des
materiellen Daseins ihrer Träger, den Schutzwall bildete für das immer
zügelloser sich entfaltende Treiben der civitas terrena und wie dann zuletzt diese
jene verschlang) lauschen Sie in unserer Gegenwart, in unserer nächsten Zukunft
auf das Werden und Wachsen einer neuen unsichtbaren Kirche unter wahrhaften
Deutschen, die den Glauben haben, daß das ungeheure Chaos, in dem wir alle
ringen, an sich selber sterben muß und daß eine neue Generation aus der Prüfung
dieser Tage heraus zu einer neuen Solidarität zusammenwächst, — dann, meine
Herren, werden Sie selbst aus Ihrer eigenen, in dieser Hinsicht durch so viele
Lebenserfahrung bereicherten Anschauung diese Soziologie fortspinnen können, der,
wie ich glaube, eine große wissenschaftliche und praktische Zukunft bevorsteht.
Nehmen wir einmal ein aktuelles Beispiel, die grauenhafte Entwertung
der Mark. Sie begann, als der Ausgang des Krieges lehrte, daß die ganze
Kriegsarbeit Deutschlands keine produktive, sondern eine verlorene wäre. In
diesem Augenblick stabilisierte sich die Teuerung, die durch die inneren Verhältnisse
während des Krieges hervorgerufen war, und gleichzeitig sank unser internationaler
Kredit, nicht nur durch den verlorenen Krieg, sondern infolge des Mangels an
Volkssolidarität, den die Welt seit den Revolutionskämpfen bei uns gewahrte.
Wir hätten dem Markverfall damals aber begegnen können, einmal durch Steuer¬
heroismus, durch eine gesunde, starke Negierung und einen ebenso gesunden und
starken Opferwillen in uns allen. Wir hätten dem Markoerfall weiter vorbeugen
können durch spartanische Sparsamkeit. Statt dessen setzte sich während des
Jahres 1919 die Markentwertung entscheidend fort, namentlich durch folgende
Umstände:
1. Die Einfuhr überstieg bei weitem die Ausfuhr. Das war infolge unserer
Aushungerung unvermeidlich, aber es wäre ein heilbarer Schaden geblieben, wenn
die Einfuhr streng nur für produktive Zwecke, Ernährung und zu verarbeitende
Rohstoffe erfolgt wäre. Statt dessen begünstigte die Unordnung in Deutschland,
die Zügellosigkeit der Bevölkerung, die Schwäche der Regierung und die bewußte
Zerstörungsneigung der Feinde die Einfuhr von unnötigen Luxusgegenständen.
Im Sommer 1919 fühlte jeder volkswirtschaftlich Denkende gruselnd, wie das
deutsche Volk einen unerhört großen Teil seines Vermögens verrauchte und ver¬
naschte. Jede Zigarette und Tafel Schokolade kostete eben im damaligen Augen¬
blick nicht nur den Valutapreis an sich, sondern entwertete in vertausendfachter
Wirkung den Wert aller noch vorhandenen Markwerte, die vielfach rascher Ver-
schleuder ng im sogenannten „Ausverkauf" Deutschlands anheimfielen. Wir
tauschten damals sozusagen Grundstücke, Aktien, Kunstwerke gegen Zigaretten und
Parfüms, genau der umgekehrte Prozeß wie früher, als wir vermöge unserer
rationellen Arbeit billig kauften. Wir bezahlten die Einfuhr mit dem Kapital
statt mit den Zinsen. Eine Genußsucht, die zu anderen Zeiten harmlos gewesen
wäre, wurde in jener Krisis zum Verhängnis, ebenso wie ein Schwerkranker
durch einen kleinen Spaziergang, der einen Gesunden erfrischen würde, sich den
Tod holen kann.
2. Ein zweiter Grund der Markentwertung ist die unbegrenzte Schaffung
künstlicher Kaufkraft durch ungedeckte öffentliche Ausgaben, Staat und' Gemeinden
wetteiferten durch schlaffe Zügelführung im Budget, Verschwendung und Ver¬
antwortungsscheu, durch reichliche Vermehrung der Pfründen an Freunde und
Parteigenossen, durch nicht genügend scharfe Aussicht auf den Schmuggelhandel usw.,
ja durch direkte Plünderung die Grundlagen einer gesunden Wirtschaft zu zer¬
stören. Von Schulden kann man aber immer nur eine bestimmte Zeit leben, und
der Augenblick, wo wir den Strich unter diese Schleuderwirtschaft machen müssen,
wird durch Schwäche immer hinausgeschoben. Jeder Tag, den es länger dauert,
macht die Heilung unmöglicher, die kommende Katastrophe fürchterlicher.
3. Der dritte Hauptgrund der Markentwertung ist Kapital- und Steuer¬
flucht, überhaupt die ganze individualistische, gemeinschaftswidrige Gebarung des
einzelnen, die herrschend geworden ist: „heimlich verdienen, heimlich verzehren." Der
einzelne entzieht die Kräfte, die er hat, der Gemeinschaft. Er ist einmal in die
fürchterliche Bahn geraten, daß er glaubt, für sich allein sein Dasein retten zu
müssen auf Kosten der Gesamtheit. Einzelnen gelingt es ja auch, auf diese Weise
im Wohlstand zu bleiben, und die übrigen zahlen die Zeche, aber im Grund
wird doch kaum einer seines Raubes froh? auch hier gilt es, in solidarischer
Haftung die Sünden zu bezahlen. Denken wir noch einmal an die sinkende
Wand! In der heutigen Gesellschaft klettert jeder mit verdoppelter Kraft und Hast,
um wieder in die Höhe zu kommen. Wir müssen aber erst alle zusammenstehen,
um die Wand zu stützen, dann erst bekommt das Klettern einen Sinn.
Sie sehen an diesem Beispiel, daß wir heute vor neuen, wissenschaftlichen
Aufgaben stehen. Diese Dinge wirklich empirisch und objektiv festzustellen, bildet
eine Schule der Erkenntnis, eine große Lehre vom praktischen Wert der Solidarität.
Die kommenden sechs Jahre werden in der Krisis, in der wir stehen, aller
Wahrscheinlichkeit nach noch ungewöhnlicher und geschichtlich einzigartiger als die
sechs, die wir eben erlebt haben, und die Gedanken der Volksgenossen, die sich
unaufhörlich mit diesen Dingen beschäftigen, werden willig einer Führung folgen,
die zu den Gründen und Gesetzen dieses Geschehens Wege sucht.
Während der Geist überall verbindet, ist das Leben des Lebens Feind, und
überall da, wo die Menschen in weiten oder engeren Kreisen zusammenleben,
kann man beobachten, wie die Lebenstriebe letzten Endes das Auseinandertreibende,
die geistigen das Zusammenführende sind. Wie stark akzentuiert sich nun beides
in einem Zeitalter des verzweifelten Kampfes ums Leben! Unausgeglichener als
in Zeiten mittleren Behagens stehen sich Lebenskampf und geistige Sehnsucht
gegenüber. Alles ist heute so entsetzlich interessiert zu verdienen, und man kann
es nicht einmal schelten/ handelt es sich doch bei den meisten um einen Versuch
der Wiederannäherung an die gewohnte, verlorene Lebenshaltung. Aber die
uneigennützige, öffentliche Gesinnung, das gegenseitige Vertrauen in des andern
Sachlichkeit ist vermindert und damit eine Basis gesunder nationaler Zusammen-
arbeit. Man kann sich nicht mehr aufeinander verlassen, man besinnt sich aber
beim Verlust so vieler Güter auf die im Ich noch lebende Genußfähigkeit und
lockert in Verschwendung und Austoben immer weitere Soli^aritätsbande gegen
Familie und Staat. Der Zwang des Krieges hatte die (vielfach zu mechanisiert
aufgefaßte) Anspannung des einzelnen fürs Ganze auf die Spitze getrieben. Die
Revolution legitimierte die individuelle Freiheit. Die Flucht vor dem Staat ist
jetzt auf einem Punkt angelangt, wo sie bald in den Schrei nach dem Staat
umschlagen muß.
Der Krieg mit seiner Auflösung der europäischen Solidarität wurde sofort
auch zum Prüfstein der innerdeutschen Solidarität. Betrachten wir diese noch
einmal an dem oben gebrauchten Beispiel des Markverfalls.
Wie ist es denn überhaupt zu der Teuerung während des Krieges gekommen,
welche der Ausgangspunkt unserer heutigen Geldentwertung geworden ist? Der
Nationalökonom sagt: infolge Warenmangels, Übersteigen des Angebots durch die
Nachfrage und Schaffung künstlicher Kaufkraft durch Inflation mit Papiergeld.
Aber wir hatten doch im ganzen Krieg genug Nahrungsmittel und sonstige Be¬
dürfnisware im Lande, um bei völlig gleichmäßiger Einschränkung ganz ohne
Teuerung durchzukommen. Ein heldenhaftes Zusammenhalten aller für einen
und eines für alle hätte das hintanhalten können, was wir erlebt haben. Aber
der Erzeuger verbrauchte mehr als auf seine gerechte Kopfquote enifiel. Der
reiche Verbraucher trieb selbst die Preise und entwickelte den Schleichhandel. Die
Staats- und Jndustriebeamten steigerten willfährig die Löhne und damit die Preise,
weil der Staat ja durch die Notenpresse zaubern gelernt hatte. So wurden die
Rationen tatsächlich auch für den redlichen Patrioten zum Leben zu knapp, und so
entstand jener Zustand, da die Guten scheinbar die Dummen geworden waren
und wo einer unserer obersten deutschen Richter, von seinem Gewissen getrieben,
sagte: „Ich lebe von Gesetzesübertretungen (weil ich sonst verhungere)". In
Wirklichkeit aber waren doch die ersten Übertreter die Dummen, d. h. dieser Abfall
von der Staatsvernunft und dem Gemeinsinn wurde der notwendige Anfang der
drückenden Not, Kriegsverdrossenheit, inneren Verzanktheit, kurz, der Katastrophe.
Wenn das Individuum den Staat als Feind betrachtet, sich ihm entzieht und ihn
betrügt, wo es kann, wie der Neapolitaner vor 1860, so entzieht jeder sich selbst
die Lebenskraft, und wenn der Staat seinen inneren Kredit einbüßt, ist auch das
Volk verloren.
Inmitten dieser Auflösung der Solidarität stehen wir nun und gewahren
erst leise Anfänge dafür, daß sich eine neue bildet. Vor allem ist die Autorität
der Gesetze und des' Gesetzgebers, des Staates überhaupt auf den Nullpunkt
gesunken. In einer dichten Kette von Ursache und Wirkung können wir heute,
selbst wenn wir wollten, gar nicht mehr aus dem Kampf aller gegen alle heraus.
Wir können uns nicht mehr voll auf den Staat und unseren Nächsten verlassen.
Zu oft ist dieses Vertrauen getäuscht worden. „Sauvs qui xeut": diese Parole der
Fahnenflucht hat zu oft die einzige Maxime des Individuums gebildet. Zu oft
haben die Hunde den letzten gebissen, der treu bei der allgemeinen Sache aushielt.
Wir erleben es in diesem Augenblick beispielsweise an der Steuerscheu, was
es heißt, einem zerrütteten, vor allem auch moralisch zerrütteten Gemeinwesen
anzugehören. Steuern, zu spät und ohne tieferen Verstand, dilettantisch, nur
parlamentarischen Augenblickserfolgen nachstrebend, also unsolidarisch geschaffen,
Steuern, deren Erträge unproduktivenZwecken, vielleicht nur denen des Feindes zugute
kommen, Steuern, die den einzelnen erdrücken, ohne daß er den Glauben haben
kann, daß sie wenigstens künftigen Geschlechtern zum Heil und zur Heilung
unsrer staatlichen Schäden geraten, Steuern, die konfiskatorisch geplant, zum Teil
vexatorisch eingetrieben und von den Steuerpflichtigen gewissenlos sabotiert werden,
das sind wahre Steuern einer civitas terrsna. Wir haben uns einmal das tote
Organisieren angewöhnt, dies Aufstellen mechanischer Apparate, die ohne die ent¬
sprechende Gesinnung leerlaufen.
Wir fragen uns heute: Wie muß ein Staat, eine Negierung aussehen, damit
sie vom Volk wirklich große Opfer verlangen kann? Und wie muß ein Volk be¬
schaffen sein, daß es legal bleibt, selbst wenn die Legalität gebietet, zeitlebens zu
hungern, zu darben, zu frontem, nur um alte Schulden abzubürden und Ansprüche
der Feinde zu befriedigen?
Von vielen wird heute ein Glaube an die Gesamtheit, eine Hingabe an
die Gesamtheit, wie wir sie bis in den Krieg hinein übten, als Donquichoterie
betrachtet. Und dabei sind die notwendigen Anforderungen an den einzelnen ins
Ungeheure gestiegen. Wenn wir noch nachher davon sprechen müssen, wie nahe
wir heute dem finanziellen und wirtschaftlichen Bankerott stehen, so haben wir
schon jetzt uns verdeutlicht, wie eng sich damit der Bankerott des Gemeinsinnes
verknüpft.
Eine tiefe Erschütterung des Gerechtigkeitsgefühls ist die Folge. In der
mechanisierten civitas ohl vor dem Krieg belohnte sich das geringe und bequeme
Maß von Gemeinsinn, das vom einzelnen gefordert wurde, von selbst. Die
Prämie auf Illegalität, auf unsolidarisches Verhalten war gering. Der Elfolg
hatte gelehrt, daß Redlichkeit am längsten währt, und die aufsteigende Linie
unsres Staates seit dem Großen Kurfürsten hatte den Deutschen zuversichtlich
gemacht, daß auf Zusammenhalt und Opfersinn der Segen des Himmels ruhe.
Jetzt dagegen ist das Hiobproblem neu aufgerollt/ es geht dem Gerechten, einzelnen
wie Völkern, hier so unbegreiflich schlecht, und das Böse triumphiert.
Die größere Macht liegt heute in unserem Land bei den Kräften der Auf¬
lösung. Die Macht und das Geld sind zu einem entscheidenden Grad in den
Händen teils des Feindes, der ganz unmittelbar die Zerstörung unserer Kraft
anstrebt, teils bei rücksichtslosen Egoisten. Die Schwäche der Regierung, das
Ideal- und Führerlose unseres Zustandes läßt die einmal zur Oberhand gelangten
dissoziativen Kräfte immer weiter erstarken) die Verwilderung der Sitten, wie
sie jeder lange Krieg im Gefolge hat, wie sie die Enttäuschung über die Niederlage,
der Verlust der Freiheit, die Aussichtslosigkeit unserer materiellen Lage vervielfacht
und wie sie die Not und Armut unseres Daseins beinahe zu rechtfertigen scheint:
das alles, Ihnen so wohlbekannt, würde, wenn die Zeit eine genauere Analyse
der Zustände gestattete, ein trostarmes Gemälde ergeben. Die guten Kräfte sind
in unserem Volk nicht erloschen, aber sind so geschwächt, entnervt, überwuchert, daß
es, auch wenn wir uns sehr bescheidene Ziele der Wiedergesundung stecken, fraglich
erscheint, ob wir sie noch zu erreichen imstande sind. Wirtschaftlich gesprochen, ist
es fraglich: ob die Gesamtheit noch die Fähigkeit entwickeln kann, zu einer gesunden
Verwaltung und einem das Volk ernährenden Wirtschaftssystem zurückzukehren.
Und es ist fraglich, soziologisch gefehen, ob die für die deutsche Kultur und Lebens¬
fähigkeit maßgebenden Stände, der Mittelstand und der vierte Stand, die Lebens-
bedingungen aufrechterhalten können, die als Daseinsminimum zur Erfüllung ihrer
Aufgaben erscheinen.
Sehen die praktischen Staatsmänner Deutschlands zur Zeit eine Möglichkeit,
das Chaos zu entwirren? Hat die Regierung ein Programm?
Soweit sie eines besitzt, gliedert es sich in drei Fragen: ^
1. Erlaubt der Wille des Feindes unsere Wiederherstellung? (Neu¬
bildung eines gewissen europäischen oder Weltgemeinsinns.)
2. Kann Deutschland sein volkswirtschaftliches Gleichgewicht
wiederherstellen? (Neuaufbau der deutschen Arbeitsgemeinschaft.)
3. Kann die Staatsverwaltung die nötige Kraft und Autorität, die Be¬
völkerung die nötige Staatsvernunft wiedergewinnen, aus der allein die Wieder¬
herstellung eines finanziellen Gleichgewichts erfließen Kinn? (Neuaufbau des
staatlichen Gemeinsinns.)
Das augenblickliche Negierungsprogramm, dürftig wie alles in unserem gegen¬
wärtigen Staat, sucht die Lösung wohl auf dem richtigen Weg, aber noch zu sehr
mit mechanischen Mitteln ohne Erneuerung der Gesinnung, wenigstens was die
beiden innerdeutschen Seiten, die volkswirtschaftliche und die finanzielle, betrifft.
Was die erstgenannte Seite, den Willen des Feindes, anlangt, so steht fest, daß
uns Lasten bis zur äußersten Grenze des Tragbaren aufgebürdet werden, und unent¬
schieden ist bisher nur, ob diese Lasten nicht weit darüber hinausgehen. Im Falle
einer Überschreitung des Tragbaren würde ein Wiedergewinn des materiellen Gleich¬
gewichts nicht möglich sein, selbst wenn die beiden anderen Fragen, die Arbeits¬
leistung des deutschen Volkes und die Vernunft der Staatsverwaltung, sich in
günstigem Sinne beantworten ließen.
Die französischen Nationalisten suchen ohne Zweifel die endgültige Ver¬
nichtung der europäischen Solidarität. Sie haben den Einmarsch ins Ruhrgebiet
sorgfältig vorbereitet, auch die üblichen deutschen Verräter zu diesem Zweck schon
gewonnen. Sie glauben, daß ein wirtschaftlich wieder erstarkendes, zur Bezahlung
von Kriegsschulden fähiges Deutschland einen kräftigen Franzosenhaß entwickeln
und trotz unserer Entwaffnung die unnatürliche und verletzende französische
Hegemonie am Rhein und damit auf dem ganzen europäischen Festland über kurz
oder lang abschütteln wird. Deshalb wollen sie gar nicht uns instant setzen, eine
Kriegsentschädigung zu zahlen. Sie wollen gar nicht, daß wir leben. Sondern sie
wollen die Ruhrkohle, ebenso wie die Saar- und oberschlesische Kohle in die Hand
bekommen und uns dann blockieren, den Brotkorb nach Belieben höher hängen,
unsere Industrie verkümmern, unsere vinZt millions as trop vor die Hunde
gehen lasten.
Es muß sich in den nächsten Wochen und Monaten entscheiden, ob diese
französische Nationalistenpartei stark genug ist, ihr Ziel durchzusetzen. Die deutsche
Regierung hofft noch, daß es vermieden werden kann. Es ist nicht sicher, daß
Millerand dieser Politik zuneigt. Vielleicht sagt er sich, daß diese Politik nur neue
Kämpfe auf Tod und Leben in ihrem Schoße birgt und die unermeßlichen Leiden,
die aus ihr für Deutschland hervorgehen, auch auf Frankreich zurückstrahlen, und
daß es besser ist, die deutsche Fähigkeit, zu verzeihen und zu vergessen, solange man
nicht gerade bis aufs Blut gepeinigt wird, walten zu lassen. Bei der Lage der
Dinge in Frankreich, in England und in Deutschland selbst dürfte an sich aber
doch die französische Nationalistenpolitik der stärkste, durchschlagende, jedenfalls
aktivste Faktor für unser deutsches Schicksal derzeit sein. Siege sie, dann sind alle
Erwägungen, wie wir hochkommen wollen, zwecklos Dann sind wir eben offen
und ganz unter Fremdherrschaft, und es gibt dann überhaupt keine Regierungs¬
programme mehr, vielleicht etwas anderes an ihrer Stelle, nämlich eine neue Ge¬
sinnung in unserem Volke.
Wenn nun aber in Frankreich die Vernunft oder wie man es nennen will,
etwa die Erkenntnis der eigenen zerrütteten Finanzlage über die Einmarschvor¬
bereitungen obsiegt, und wenn dann weiter uns nur eine erträgliche Schuldsumme
aufgebürdet wird, worüber laut Friedensvertrag spätestens bis Mai 1921 die Ent¬
scheidung gefallen sein muß, dann gilt es in Deutschland zu Schuften und zu
darben, damit jeder.von uns außer der eigenen Familie noch seinen Franzosen
oder Engländer miternähre. Dann haben wir uns auf ein Leben einzurichten,
das mit Parasiten im eigenen Leib versehen ist, aber immerhin für den geduldigen
und arbeitsfreudigen Deutschen so etwas wie ein Leben bedeutet. Und dann würde
der zweite Punkt des Regierungsprogramms ins Auge zu fassen sein: der Wieder¬
aufbau unserer wirtschaftlichen Lebensfähigkeit.
Das heißt: Kohle trotz den Franzosen, Arbeitsbereitschaft der Arbeitshand
und Erfindungsschöpferkraft der deutschen Intelligenz trotz der leiblichen und
geistigen Erschöpfung des Hungerkriegs und des inneren Chaos, Arbcitsfrieden trotz
dem durch die allgemeine Verarmung verschärften bsllura omnium ovnti-k »muss,
und heißt zuletzt: offene Absatzgebiete auf dem Weltmarkt trotz der deutschen Macht¬
losigkeit und der hochgekommenen fremdländischen Konkurrenz.
Was türmen sich hier für Probleme, für Schwierigkeiten! Und wir haben
doch keine Wahl, wir müssen sie angreifen, denn es ist uns nicht viel Zeit gelassen
zu überlegen, wenn wir uns rein physisch am Leben, auch an einem dürftigen Leben,
halten wollen. Zunächst die Kohle:
Hinsichtlich der Kohle bedeutet Spa eine gewisse Revision des Friedens¬
vertrages. Laut Friedensvertrag sollten wir monatlich 3,4 Millionen Tonnen an die
Feinde abliefern. In Spa wurden 2 Millionen monatlich festgesetzt. Auch diese
Menge ist nach dem Urteil von StinneS und sämtlichen anderen Fachleuten für
die deutsche Industrie immer noch erdrosselnd. Da aber nun die Franzosen tatsächlich
mit Kohlen gesättigt sind und auch Italien, unser anderer Hauptgläubiger in
Kohle, keinen unbegrenzten Bedarf hat, so hofft die Regierung auf ein gewisses
Entgegenkommen der Feinde, um den Rohstoff, der uns notwendig ist wie das
liebe Brot, wenn auch nicht sofort in ausreichendem, so doch in steigendem Maß
wieder in unsere Verfügung zu bekommen. Die Arbeitsfreudigkeit in der Be¬
völkerung ist, woran ein Kenner unserer Volkspsyche nie zweifeln durfte, schon in
der Wiederherstellung, und die schwere Sorge ist nur: Kann diese Arbeitsfreudtgkeit
sich betätigen, kann sie fabrizieren und Fabrikate absetzen?
Die deutsche Erfindungsgabe ist ebenfalls ungebrochen. Es berührt wie ein
Symbol, daß gerade dieser Tage das Verfahren, künstliche Diamanten herzustellen,
er Deutschland praktisch anwendbar geworden zu sein scheint. Im Augenblick, da
man uns in Südwestafrika die reichsten Diamantenfelder der Erde geraubt hat,
zwingen wir jetzt anscheinend die Welt, die Diamanten in deutschen Fabriken zu
kaufen, weil sie dort billiger und schöner hergestellt werden sollen, als die Natur sie
liefert. So ist es auch denkbar, daß Deutschland, das unter dem bittersten Brennöl-
Mangel leidet, in absehbarer Zeit ein Benzin ausführendes Land sein wird.
Aber dem Fortschritt unserer Wissenschaft und Technik drohen schwere Gefahren
durch die materiellen Schranken unserer Lage, insbesondere durch unsere Armut.
Was den Arbeitsfrieden zwischen Unternehmern und Arbeitern, die Arbeitsgemein¬
schaft des deutschen Volkes, die Verstärkung der konvergierenden Kräfte, betrifft
als unentbehrliche Voraussetzung unseres künftigen Daseins, so werde ich darüber
später bei der Beurteilung der Lage des vierten Standes zu sprechen haben.
Angenommen also, die beiden ersten Vorbedingungen einer Sanierung stellen
sich ein, sowohl die Vernunft der Feinde wie die Wiederherstellung der wirtschaft¬
lichen Erzeugungsfähigkeit unseres Volkes, so wäre das dritte Problem zu lösen:
die öffentliche Verwaltung müßte gereinigt, insbesondere das Finanzgleichgewicht
in Staat, Gemeinden usw. wiederhergestellt werden.
Dazu gehört augenblicklich vor allem eine Ausschaltung der zahllosen un¬
produktiven .Kräfte, die im Verfolg von Krieg und Revolution sich überall einge¬
schaltet haben, sowohl in die öffentlichen Betriebe und in die Verwaltung selbst,
wie durch die Maßnahmen der Verwaltung und Gesetzgebung auch in den großen
produktiven Prozeß, z. B. die Industrie. Alle unsere Betriebe fast sind eine große
Versorgungsanstalt geworden, eine Erwerbslosenfürsorge, ein Armenhaus. Da¬
durch werden nicht nur die Betriebskosten unverhältnismäßig gesteigert, sondern
auch die Arbeit selbst ist in ungeheurem Maße verschlechtert worden. Bei
der eingeborenen, unversieglichen Tüchtigkeit unseres Volkes dürfte man, wenn
Kriegspsychose und Unterernährung einmal überwunden werden, wieder erstklassige
Arbeit erwarten. Heute hemmen sich die viel zu vielen Arbeiter und Beamten
gegenseitig; Scheinarbeit ist Trumpf, und die echte Verantwortung wird künstlich
erstickt. Es gilt, die Ehrlichkeit der Arbeit und den Sinn für das Rationelle
wiederherzustellen, Drohnen und müßige Pfründeninhaber abzusondern. Es gilt
ferner, die Wahrheit unserer finanziellen Lage auch zum Ausdruck kommen zu lassen
im Budget, die unaufhörliche und auf die Länge tötliche Lüge der Banknotenpresse
abzustellen. Ob es noch geht, ist fraglich und wird innerhalb der Regierung selbst
bezweifelt. Es geht selbstverständlich nicht auf einmal. Die Frage ist heute nur,
ob es gelingt, die Tendenz zu ändern, d. h. die Schulden- und Notenflut statt
lawinenartig in immer rascherem Tempo anschwellen zu lassen, zu verlang¬
samen. Was es für den einzelnen Staatsbetrieb, Beamten, Arbeiter und jede
einzelne Staatsnotwendigkeit politischer oder kultureller Art bedeutet, wenn einmal
der unvermeidliche Tag kommt, da wir nicht mehr ausgeben dürfen als wir ein¬
nehmen, vermag sich heute niemand vorzustellen, — der unvermeidliche Tag, an dem
wir endlich spüren werden, wie arm und überschüttet wir geworden sind. Um zu¬
sammenzufassen, so besteht also das Regierungsprogramm vor allen Dingen aus
drei Punkten:
1. Man glaubt sich diesmal ernstlich entschlossen, eine Überforderung der Feinde
bestimmt zurückzuweisen und eine-zu hohe Kriegsentschädigungspflicht nicht zu
Übernehmen. Dann würden die Franzosen auf ihre Forderungen an uns keine
internationale Anleihe bekommen können, und da sie diese Anleihe brauchen, weil
sie vom Schuldner Deutschland direkt ja nichts bekommen können als wertlose Mark¬
werte — Frankreich und Belgien sitzen schon auf 9 Milliarden Marknotcn, mit denen
sie nichts anfangen können —, so hat Frankreich als Gläubiger ein Interesse daran,
zu verhindern, daß Deutschland vor der Welt seine Zahlungsunfähigkeit erklärt.
2. Die Regierung will den Arbeitsprozeß in jeder Weise fördern und solche
Dinge wie Sozialisierung nicht Unter parteitaktischen, sondern wirklich volkswirt¬
schaftlichen Gesichtspunkten betrachten.
3. Sie will Beamte entlassen und Gehälter reduzieren, was auch auf die
Löhne reduzierend rückwirken soll. Sie will die Qualität der Arbeit heben, indem
nicht jeder mehr ein Recht auf Versorgung hat, sondern indem wieder ein starkes
Angebot von Arbeitshand die Auslese, das Verantwortungsgefühl und den Sinn
für Ökonomie neu erzeugt. Die Negierung will ferner durch beschleunigte Steuer¬
einziehung. Niederhaltung übermäßiger Jndustriegewinne und ähnliches der
weiteren Überschwemmung mit Papiergeld und was gleichbedeutend damit ist, der
weiteren Steigerung der Löhne und Gehälter einen Riegel vorschieben in aller¬
letzter Stunde. Sie will auch die Menschen dazu bringen, sich dort einzustellen, wo
sie gebraucht werden, z. B. der Landwirtschaft und der Kohlenerzeugung die
Arbeitshand zuführen, die dort fehlt, während sie anderweit überzählig ist.
Fragt Man die Regierungspersonen, ob sie an die Durchschlagskraft dieses
Programms glauben, so begegnet man einem ziemlichen Kleinglauben. Wenn es
aber nicht in absehbarer Zeit verwirklicht wird, so ist ein Herabgleiten zu öster¬
reichischen Zuständen nach allgemeiner Überzeugung unvermeidlich. Was Oster¬
reich binnen eines Jahres erlebt hat, würde dann bei uns insgesamt von 1918 ab
zwei bis drei Jahre dauern, aber das Zeitmaß sich immer mehr beschleunigen. In
etwa einem Jahre spätestens würde es kein Halten mehr geben, Preise, Löhne usw.
würden ins Uferlose steigen, und der Staat käme an den Punkt, wo er seine Ver¬
bindlichkeiten auch mit den phantastischsten Einnahmesteigerungen durch Steuern usw.
nie mehr auszugleichen imstande wäre. Der chronische Staatsbankerott, in dem
wir uns befinden — der Staat hat sich z. B. den Kriegsanleihezeichnern gegen¬
über durch Weltteuerung und Verfall der Währung schon so entlastet, daß diese
für einen erworbenen Zinsanspruch auf 100 Goldmark nur noch I Goldmark
empfangen! —, würde dann in einen akuten Staatsbankerott übergehen. Die Redu¬
zierung des Beamten- und Arbeiterheeres unter den gegenwärtigen wirtschaftlichen
und psychologischen Umständen ist eine Herkulesarbeit, zu welcher der unerläßliche,
starke, alles fortreißende Volksführer fehlt. Ein Hinaussetzen der Unproduktiven
aus demi Arbeitsprozeß, der allerdings durch sie zur Zeit verschlammt wird, bedeutet
rein finanziell auch nur eine bedingte Entlastung, denn wir sind heute alle ungefähr
auf dem Eristenzminimum, ob wir Arbeiter oder höhere Staatsbeamte sind. Be¬
kommt ein an sich überflüssiger Arbeiter oder Beamter heute 15 000—20 0000 <F,
so würde er als Arbeitsloser 6000—8000 --^ durchschnittlich kosten, und er¬
nähren müßten wir ihn doch. Diese also nur unwesentlich billiger mitgeschleppten
Arbeitslosen aber — wenn an die Stelle der allgemeinen Unterbringung wieder
die nackte wirtschaftliche Wahrheit treten wird — bilden einen Herd fluktuierender
Unruhe bei der Auslösung der Staatsautorität, bei dem aufgeregten Betonen der
Rechte an Stelle der Pflichten, bei der Protektions- und Konnexionswirtschaft in
allen Ständen und schließlich aus einem nicht unberechtigten Gleichheitsempfinden
heraus — denn wer hat im Krieg nicht Gesundheit, Vermögen, Arbeitsgelegenheit,
geopfert und dadurch Ansprüche an die scheinbar unerschöpfliche Allgemeinheit er¬
worben? Dann strömt also das große Heer der wirklich Arbeitslosen in den freien
Raum; die Gefahren liegen auf der Hand.
Das Kabinett hat im Oktober einen Beschluß gesaßt, der den Ernst unserer
Lage jedem spürbar macht: daß von keinem Reichsressort mehr Ausgaben bewilligt,
Beamte eingestellt oder frei werdende Beamtenstellen neu besetzt werden dürfen
ohne ausdrückliches „Planet" des Finanzministers. Welch unendliche, beinahe
unausdenkbare Gegensätze da innerhalb der Behörden aufklaffen! Das Kultus¬
ministerium z. B. hat gewiß Gründe, wenn es dafür sorgt, daß die Privatdozenten
heute nicht glatt verhungern. Aber wenn der alte, reiche Staat die Privatdozenten
nicht ernähren konnte, wie soll der Finanzminister heute die Zuschüsse genehmigen
können, die der Kultusminister ebenso unbedingt fordern muß. So verpflanzt sich der
Krieg aller gegen alle auch in die Regionen der Staatsvernunft hinein.
Überblicken wir nun die drei Punkte, auswärtige Beziehungen, Wirtschaft
und Staatsverwaltung, so kann der Historiker, denke ich, fast optimistischer als die
heutige Negierung urteilen über die Wiederherstellungskräfte unserer Wirtschaft und
die Heilbarkeit unserer Verwaltung — wenn wir frei wären!
Beim Franzosen haben wirtschaftliche Erwägungen nie den Ausschlag gegeben
wie in England. Seine großen Rechner wie Colbert sind immer durch eine Politik
der Magnificence umgestürzt worden. Auch heute haben seine Finanzleute wohl
nicht das entscheidende Wort, und überdies: ist es nicht wieder eine der unzähligen
deutschen Illusionen, daß das siegreiche Frankreich die Blüte des besiegten Deutsch¬
land zu feiner eigenen Blüte braucht? Der Franzose kann nicht über seinen
Schatten springen, und es ist auch nicht zu unterscheiden, ob die französische Ne-
gierungspolitik mehr die Gefangene der öffentlichen Meinung bzw. der Volksavt
oder deren fortgesetzter Verführer ist. Wir haben eine französische Politik, die gar
nicht auf Wirtschaftliches ausgeht, die einfach die Hegemonie in Europa will, einem
beinahe 1000 jährigen Instinkt folgend und nach schweren Erlebnissen, nachdem
fast im ganzen i9. Jahrhundert Deutschland führte, dreimal in Paris einmarschierte
und ein viertes Mal vor den Toren von Paris stand. So oft Frankreich siegte,
war die Knebelung und Peinigung Deutschlands beschlossene Sache. sooft Deutsch¬
land siegte, hat es Frankreich am Leben und bei Kräften gelassen: denn es wollte
nur seine Ruhe haben. Dies ist eine unanfechtbare geschichtliche Tatsache, belegt
durch alle Friedensschlüsse, die Ludwigs XIV., Napoleons I. und Clemenceaus
auf der einen Seite, die Friedensschlüsse von 1814, 1815 wie 1870 auf der anderen
Seite. Wenn der Vertrag von Versailles, solange er besteht, die M-röchelt in Teufel
gegeneinander umwandelt, so ist sicher, daß nur, wenn Deutschland seinen Willen
und seine Freiheit wiedergefunden hat, eine erträgliche Humanität zwischen den
Völkern sich wieder einbürgern wird. In England weiß man das im Grunde so
gut wie bei uns. Jeder Deutsche aber, der diese Wahrheit außer acht läßt und
etwa den himmelweit von Versailles verschiedenen Frieden von Brest-Litowsk auch
nur entfernt in eine Linie mit dem Kriegsverlängerungsfrieden von Versailles
stellt, verletzt seine Pflicht gegen die Wahrheit und die Menschlichkeit. Die Fran¬
zosen wollen zunächst alle. Kohlengebiete Deutschlands selbst verwalten bzw-
durch Polen verwalten lassen. Haben sie diesen Hebel in der Hand, so besitzen sie
vorläufig die Hegemonie in Europa. Die weiteren Momente ihrer Politik deute
ich nur an: Donaukonföderation, süddeutsche Monarchie, Mainlinie, ein neu er¬
richtetes Entente-Rußland, Belgien als französische Nordmark. Die Herrschaft am
Rhein führt mit Naturgewalt hinüber zur Herrschaft an der Donau und in Rußland,
kurz zu Napoleonismen. Es wird den Franzosen auch diesmal nicht gelingen, so
wenig wie vor hundert Jahren. Sie werden einmal damit scheitern, aber was bis
dahin aus Deutschland geworden ist, ist schwer zu sagen. Wirtschaftlich verfolgen
sie uns gegenüber jedenfalls ein reines Beutesystem: sie nehmen von Deutschland,
was eben zu kriegen ist, wenn man es zerstückelt; sie pfänden die Zölle, die Steuern,
die Fabriken, und vor allem die Naturschätze, die wir nicht veredeln, sondern wie
Neger nur fördern und abliefern sollen. Das ist die vermutliche Linie der fran¬
zösischen Politik; ob es noch Mittel gibt, diese Entwicklung abzuwenden, kann ich
nicht beurteilen.
Kommen also die drei genannten Momente, Feindesvernunft, Wirtschafts¬
aufbau und Säuberung der Verwaltung zusammen — und was das Bild außer¬
ordentlich ernst stimmt, kommen sie in sehr naher Zeit alle zusammen, denn das
tempus utile ist knapp —, dann, aber auch nur dann, besteht die Möglichkeit, daß
dem immer rascheren Abgleiten auf der schiefen Ebene, in dem wir uns zur Zeit
befinden, Einhalt geboten wird. Fällt eine dieser drei Voraussetzungen fort, dann
sieht die Regierung keinen Ausweg mehr.
In der Beurteilung des außenpolitischen Faktors gibt es bei uns noch allerlei
Selbsttäuschung, dieselbe Art, die unsere auswärtige Politik mindestens seit 1909
fortgesetzt irregeführt hat, insbesondere hinsichtlich Englands. Gewiß ist die
englische Politik eine kaufmännische und scheut ein Risiko, das größer ist als die
entsprechenden Chancen, weshalb England z. B. 1914 den Krieg nicht mehr wollte,
da die deutsche Flotte schon ein zu gefährlicher Gegner geworden war. Aber gerade
weil die englische Politik kaufmännisch denkt, ist sie für uns heute — und das ist das
entsetzliche der außenpolitischen Aussicht — in keiner Weise hilfreich. Ich gehe hier
nicht ein auf die kalte und grausame Beraubung, die England auch heutigen Tages
noch fortgesetzt in allen einschlägigen Fragen unserer Auslandsrechte, Schiff-
fahrt usw. verübt, sie ist nur weniger geräuschvoll, aber in keiner Weise weniger roh
als die französische Bcraubungspolitik. Das wichtigste aber ist, daß England, das
uns seit der Jahrhundertwende eingekreist hat, um unsere Warenausfuhr einzu¬
dämmen, in seiner heutigen Lage weniger denn je gewillt sein kann, uns den unge¬
hemmten und gesteigerten Export zu gewähren, den wir unbedingt brauchen würden,
um nur erst einmal unseren inneren und äußeren Schulden und Verbindlichkeiten
nachkommen zu können. Von allem, was wir verdienen — und verdienen kann eine
Nation nur durch Überschüsse aus ihrer Handels- bzw. Zahlungsbilanz — geht ja
zu Zweidritteln nicht in unseren Verbrauch über, sondern dient vornehmlich zur
Abdeckung unproduktiver Lasten. Es ist schwer, sich auch nur einen Teil der von uns
benötigten Warenausfuhr vorzustellen ohne einen Handelswettbewerb, gegen welchen
sich in England ausschlaggebende Interessen zur Wehr setzen würden, und heute
genügt es ja, den kleinen Finger zu heben, um dem ohnmächtigen Konkurrenten
das Dasein zu verbieten. Der Wettbewerb auf dem Weltmarkt hat sich infolge
des Krieges verschärft, neue Länder haben sich industrialisiert, Englands Wohlstand
selbst hat stark gelitten. Als einzige englische Kolonie ist heute Kanada für uns in
größerem Maße aufnahmefähig. Es besteht wenig Hoffnung, daß die humane
Gruppe Keynes in England ans Ruder gelangt. Infolge der Minderung unserer
Lebensansprüche sind wir als Arbeitskonkurrenten, als Kuli, heute unbequemer als
vor dem Krieg. So dauern also die Gründe, die uns seiner Zeit zwangen, eine
Flotte zu bauen, in verstärktem Maße für uns fort, nur daß uns heute die ver¬
spätete Einsicht in die Notwendigkeit des Flottenbaues nichts mehr helfen kann.
Unsere See- und Handelsfront steht ebenso einem unversöhnlichen Feind gegen¬
über, wie unsere Landfronten in West und Ost.
Trotzdem würde vom Standpunkt der Weltwirtschaft aus für den deutschen
Unternehmungsgeist kein Grund zu völligem Verzagen sein.
Es bleibt außerdem eine vage Hoffnung auf Amerika und eine Hoffnung auf
das ruinierte Rußland, die aber in allerweitester Ferne liegt. Der Glaube an den
roten Erlöser Lenin freilich, der vor wenigen Monaten durch unser Land ging, war
nur wieder ein Beweis für die kindliche Vertrauensseligkeit des Deutsche und sür
seine Neigung, immer das Gute von außerhalb zu erwarten, auch dort, wo es wirklich
nicht zu finden ist.
Es bleibt dabei, daß keine irgendwie bescheidene Wohlfahrt von Deutschland
wieder zu erringen ist o h n e F r e ih e i t. Natürlich ist die Freiheit auch aus sehr
anderen Gründen als wirtschaftlichen das Gut, das am höchsten anzustreben ist für
ein Volk unserer Lage. Merkwürdig aber, mit welcher Scheu der Deutsche um die
Worte „Fremdherrschaft" und „Freiheit" herumgeht, wie viele Hoffnungen er immer
noch auf Verständigung, Aussprechen, Revision, Vertragserfüllung, irgendwelche
Mächte, Völkerbund usw. setzt. Diese Erwartungen und dieses scheue Umkreisen
des Kernpunktes — man darf nur unsere heutige Presse ansehen — führt auf die
alte deutsche Narrheit zurück, an Ideen zu glauben, die sich selbst durchsetzen. Es
ist ja theoretisch denkbar, daß sogar die Franzosen einmal anders sein könnten, als
sie heute sind; dann müßte aber eine geistige Erneuerung Frankreichs vorangegangen
sein, aber wie soll man das von den Franzosen erwarten, da wir in Deutschland kaum
den Anfang einer solchen Erneuerung haben?! ^
Kehren wir zurück zu dem, was der Deutsche selbst an sich tun kann, so läßt
sich die augenblickliche Lage etwa mit folgenden Sätzen klarstellen:
1. Die Ordnung der Verwaltung und unserer Wirtschaft bleibt wirtungs-
schwach ohne äußere Freiheit.
2. Selbst wenn wir die äußere Freiheit hätten, würden Reformen der Ver¬
waltung an Haupt und Gliedern unzureichend bleiben, solange nicht ein ganz neuer
Geist der Solidarität Regierung wie Bevölkerung durchzieht.
3. Bildet sich dieser neue Geist der Solidarität aber, dann, — und nur dann —
ist die Hoffnung auf innere Gesundung der Verhältnisse wie auf äußere Freiheit
nicht aufzugeben.
Die Regierung und unsere vorherrschende Öffentlichkeit, denen es an dem
fortreißenden Schwung, an der Persönlichkeit, an dem großen Vertrauen eines
Volkes, das in wahrhafter Erneuerung begriffen ist, noch durchaus fehlt, laboriert
in lauter Trugschlüssen, weil sie den Wert der Imponderabilien nicht begreift. Die
zur Zeit versuchte Lastenabbürdung durch Steuern ist hierfür ein sehr aktuelles
Beispiel. Wir können nicht genesen ohne rücksichtslosen Steuerwillen der Regierung
und jedes einzelnen Steuerpflichtigen, aber es fehlt sowohl an diesem Willen im
Volk wie an der psychologischen und wirtschaftlichen Einsicht des Gesetzgebers, wie
an der fortreißenden Kraft der öffentlichen Meinung. Es geht wie mit der Er-
nährungszwangswirtschaft jetzt auch mit der Steuer. Es droht ein ungeheurer
Bankerott der Staatsautorität und der Steuermoral, ebenso wie der auf dem Papier
errechneten Eingänge. Die Kapitalflucht dauert unausgesetzt an. Es gibt ganz
raffinierte Systeme für die Umgehung der hilflosen Staatsverordnungen, und mit
jedem Tag vermindert sich die Substanz, die berufen ist, die ungeheuerliche Last
unserer Lage zu tragen, zum immer steigenden Schaden der Zurückbleibenden.
Wahre, fruchtbare Steuerfreudigkeit würde nur eben im Zusammenhang mit einem
neuen Glauben des Volkes an den Aufstieg eintreten können. Dazu würde die
läuternde Kraft einer wirklichen Regierung, einer neuen Führerschicht, einer großen
vaterländischen Flamme gehören. Trotzdem müßte selbstverständlich auch in der
nicht erneuerten heutigen Gesellschaft von jedermann äußerster Steuerheroismus
gepredigt werden.
Zwei Umstände lähmen besonders eine solche Bewegung zur Opferwilligkeit.
Die Steuern sind infolge langer Versäumnis an sich undurchführbar geworden, denn
sie schneiden ins Daseinsminimum ein, sie sind auf Goldmark kalkuliere, damit ist
alles gesagt. Sie sind sechs- oder zehnmal so hoch wie im steuerlich an die äußerste
Grenze des möglichen Vernünftigen gehenden England. Sie schneiden ins Daseins¬
minimum des Urd eiters wie des Mittelstand es ein — und, das ist ebenso
ernst, in das Daseinsminimum des kapitalistischen Unternehmers.
Dafür nur ein Beispiel: Die Kriegsgewinne sind bis auf 172 000 Maximum
weggesteuert. Wenn z. B. einer unserer großen, wahrhaft produktiven Kapitals¬
riesen vor dem Krieg 100 Millionen Goldmark gehabt hat und 600 Millionen nach
dem Krieg, besitzt er noch 100 Millionen Papiermark nach der Kriegsabgabe zum
30. Juni 1919. Dann kommt das Neichsnotopfer; ihm bleiben danach vielleicht
5 Millionen Goldmark, und dann kommen noch alle die anderen Steuern. Wie soll
der Betrieb aufrechterhalten werden? Die Arbeit und die Arbeiter, die von ihm
lebten, sind zerstört oder verfallen ausländischem Kapital, feindlichen Zwecken. Kein
Steuerheroismus kann die Vergewaltigung der einfachsten volkswirtschaftlichen
Grundsätze rechtfertigen oder verwischen.
Wie arm wir geworden sind, dafür ein kleines Beispiel: in Amerika gibt es
demnächst 6 Millionen Automobile; jede deutsche Stadt von 3000 Einwohnern
müßte bei gleichem Wohlstand also 200 Automobile besitzen! Unsere Industrie
muß konkurrieren mit einem Staat, dessen Industrie einen solchen inneren Markt
besitzt. Die deutsche Industrie hat aber im Kriege Raubbau getrieben mit ihren
Einrichtungen, sie müßte Rücklagen machen, die ungeheuer über das Maß deS
früheren hinausgehen, um einigermaßen in unserer Kapitalarmut mit der Industrie
reicher Länder noch wetteifern zu können, denn ohne großes Kapital gibt es keinen
großen Betrieb. Dies wird verhindert durch das bisherige Steuerprinztp, durch die
Forderungen der Arbeiter in den Betriebsäten usw. Wüten wir gegen unser Kapital,
dann werden wir alle zusammen Lohnsklaven des gefühllosen, wirklich aus--
henkerischen Auslandes. Wie kann das die Parteiwut, der' Neid, die Gleichmacherei
übersehen! ,,,
Der zweite, unausweichlich bedenkliche Punkt ist: Die Steuern sollen nicht
uns, sondern dem Feinde zugute kommen, sie werden für uns vielleicht keine
Schrldenabbürdung, sondem eine Blutentziehung bedeuten, die leicht ein Verbluten
werden kann. Gegen diese Wahrscheinlichkeit ist schwer anzugehen. Man kann mit
Engelszungen gegen die gesunkene Steuermoral predigen und den sicheren Bankerott
des Staates ohne Steuerheroismus vorhersagen, — wenn die Steuer den Feinden
zugute kommt, ist jeder Appell vergeblich.
Schon ein verlangsamtes Zeitmaß im Schuldenmachen würde, wie oben
bemerkt, eine Umkehr zur Besserung bedeuten und viele helfende Kräfte, insbesondere
auch die Wiederkehr des Weltkredits erwecken. Gelingt es nicht, so beginnt früher
oder später die wilde Seisachtheia (Schuldabbürdung). Wer dann inner¬
deutsche Forderungen an den Staat hat, verliert sie einfach, seien es Gehälter, An¬
leihezinsen, Arbeitslosen- und Jnvalidengebühren oder Entschädigungsansprüche
irgendwelcher Art; auch das ein Heilungsprozeß, aber einer, den wir uns nicht
vorstellen können.
Mit dem Wenigen, was der Staat dann zu seinen Zwecken noch hat, wird
eine Art Nvtstandsbetrieb eingerichtet, die unentbehrlichsten Beamten werden vor
dem Verhungern geschützt, die unentbehrlichsten Dienste notdürftig aufrechterhalten.
Kein Bolschewismus oder sonst eine Zuckung wird irgend etwas helfen: die
Maschinengewehre der Franzosen werden für Ordnung im Untergang sorgen. Denn
dann beginnt das, wovon kürzlich einer unserer größten Arbeiter und Denker des
praktischen Lebens erschüttert gesprochen hat, das große Sterben. Dies erst ist dann
der Knockout, die vietoirv kinalv: Deutschland wird ein Ödland, eine ruhige
Grenzmark der Franzosen östlich des Rheins, den Franzosen zinsend mit dem, was
es noch hat und vermag, aber wichtiger als das Zinsen und Verpfänden ist die
sichere Ruhe: vkrmania paoata. Daß die reichen Völker von selber darauf sinnen
werden, den armen Völkern aufzuhelfen — Quäkeralmosen ausgenommen ist
unwahrscheinlich. Arme Völker helfen sich entweder selbst oder sie schmachten sich
zu Tode. Haben doch auch wir im früheren Reichtum uns keinen Augenblick
darüber den Kopf zerbrochen, daß wir, indem wir so billigen Reis und Tee genossen
und die Handarbeit persischer Teppichwirker für wenige Mark auf unsere Parkett¬
boden legten, die Arbeitskraft ferner Menschenbrüder auswucherten. Jetzt sind
wir in, Begriff, Heimarbeiter der kapital- und waffenstarken Völker zu werden.
Unser- Arbeitgeber werden niemals eine soziale Weltgesetzgebung zugunsten unseres
Arbeitnchmervolkes ersinnen. Sie machen auch noch keine Anstalten, uns wenigstens
den traurigsten Export, den es für ein Volk gibt, die Auswanderung zu erleichtern.
Nachdem die Engländer unseren Kindem die roten Wangen und gesunden Knochen
genommen, ihre bevorstehende Lebensdauer gekürzt, sie aber doch nicht ganz um¬
gebracht haben, ist unsere Nasse Physisch zurückgegangen, trotzdem aber unser Volks-
körper, der auf andere Verhältnisse hin gewachsen war, hypertrophisch, und wir
können ihn nicht den neuen Verhältnissen entsprechend verkleinern. Man hat das
ganze Auslandsdeutschtum und das Deutschtum aus den entrissenen Provinzen auf
dem Schub nach der alten Heimat hereingeworfen, damit wir alle zusammen auf
einem Komposthaufen verrotten. In eine solche Verbindung von MervölÜerung
einerseits, Lebens- und Arbeitsmittetbeschränkung andererseits, hat sich das deutsche
Volk nicht einmal in den langen früheren Perioden seiner Armut schicken müssend
Man fragt sich angesichts der Entwicklung verwundert: Wie können Politiker
und Geschäftsleute immer noch heitere Mienen aufsetzen? Nun, sie haben vielleicht
als deutsche Illusionisten das Ohr an der Erde, um die Vernunft in Frankreich oder
sonstwo wachsen zu hören; sie nehmen wie Hans im Glück vielleicht noch jeden Monat
ihre neue Illusion in den Arm und vergessen, daß es immer weiter und weiter
abwärts geht. Einzelne befinden sich ja tatsächlich ausgezeichnet, weil sie als deutsche
Individualisten nur das persönliche Gedeihen empfinden. Wo viel verloren wird,
ist manches zu gewinnen. Jeder Valutasturz z. B. nach unten oder oben, der
jedesmal der deutschen Volkswirtschaft die Seele aus dem Leibe schlingert, bereichert
viele ohne ihr Zutun. Der Überblick über die ungeheuerliche Umwälzung unserer
Tage ist schwierig, und man kann individuell vielleicht bessere Geschäfte machen,
wenn man sich gar nicht um den Gesamtüberbltck bemüht. Die großen Führer
unseres Wirtschaftslebens aber sind frei von jeder Illusion. Je größer der Überblick,
desto schwerer das Herz. Man muß sich an die Hauptsache halten, und die über¬
sehen heute erst einzelne: daß den ungeheuren Anforderungen, die an uns gestellt
sind durch Schulden und Ansprüche der Feinde, durch das Aussetzen produktiver
Arbeit im Krieg und nach dem Krieg, durch die Beraubung Deutschlands an Aus¬
landswerten, Kolonien, Handelsflotte, Landgebieten, Rohstoffen und Arbeitsmög¬
lichkeit für seine Millionen, keine auch nur annähernd entsprechende Möglichkeit zur
Erzielung von Arbeitsüberschüssen gegenübersteht, well wir keine Macht und keinen
Gewährswillen zum Ganzen mehr haben. Unsere Verkrüppelung ist derart, daß
wir heute noch nicht sagen können, ob der lebendige Organismus unseres Volkes
diesen Eingriff überstehen und sich positiv auf die neuen Lebensbedingungen einstellen
wird, oder ob er in Marasmus verfällt. Unsere ganze Hoffnung liegt in der sieg¬
haften Kraft des deutschen Geistes, die sich verhundertfachen muß durch das Wachstum
der Hemmnisse. Wenn sie uns unsere Beraubung auszugleichen vermag durch die
prometheische Leistung unserer Laboratorien und der ganzen „Notgemeinschast der
deutschen Wissenschaft" und der Unternehmung; wenn sie der Entwaffnung und
Schuldknechtschaft ein Paroli bietet durch innere Wiedergeburt und die Ohnmacht
überwindet durch einen Willen zum Ganzen, dem nichts unmöglich ist, dann kann
aus dem tiefsten Schrecken der Erkenntnis unserer Lage ein neuer, fester Glaube
entstehen.
Der Absturz aus der Wohnlichkeit unseres alten Deutschlands zu unserer
heutigen und der uns noch bevorstehenden Drangsal ist in seiner Wucht und Jadeit
ohne Beispiel in der Geschichte der Völker, so wie es noch niemals gelungen ist, daß
ein so großes, gesundes Volk zur Sklaverei und Siechtum verurteilt sein sollte.
Antike Stadtstaaten sind so gestürzt, aber keine mächtigen, blühenden
Nationen. Daß aus diesem Fall nicht noch große Wirkungen dynamischer und
geistiger Art hervorgehen sollen, ist schwer anzunehmen. Wir stehen erst am Ein¬
gang einer ungeheueren Entwicklung. Der Krieg und der ihm folgende sogenannte
Friede haben unsere einstigen Maßstäbe erschüttert und uns alle innerlich und äußer¬
lich umgeformt. Trotzdem wiegen sie noch leicht, verglichen mit den Jahren, die uns
bevorstehen. Unser Dasein ist hart geworden, aber zugleich tragen wir Deutsche
vor allen anderen jetzt die Bürde eines auserwählten Volkes, auserwählt zu eine«
besonderen, gewaltigen Experiment.
Die bisherigen Betrachtungen waren dazu angetan, uns zu martern. Wir
haben nun die volle Erkenntnis unserer wirklichen Lage, und so beginnt sich das
Thema zu wenden.
Nur eine den, außergewöhnlichen Zeitläuften entsprechende außer¬
gewöhnliche innere Erneuerung des deutschen Volksgeistes in tiefstem Zu¬
sammenhang mit dem geschichtlichen Erbteil unseres Volkes kann uns die
Grundlage einer neuen, lebensfähigen Gemeinschaft geben. Wir sind nicht
mehr Bewahrer, denn das Bewährte ist aufgelöst, und noch nicht Erfüller, denn
es fehlt uns die große schöpferische Kraft? sondern, wenn unsere Generation über¬
haupt etwas Lebendiges sein will, so sind wir Vorbereiter. Wir haben die Auf¬
gabe, die geistigen und materiellen Lebensmöglichkeiten Deutschlands neu zu sehen.
Als Erbengeneration hatten wir uns vor dem Krieg arbeitsteilig spezialisiert und
mechanisiert. Als Vorläufer müssen wir uns vereinfachen, zusammenziehen und
aus dem materiell verengten, aber vertieften, lebendigen Kraftmittelpunkt der
Persönlichkeit heraus universal zu fühlen und zu wollen lernen. Unter diesen
Vorläufern zunächst bildet sich ein neues Gemeinschaftsgefühl als unerläßliche
Vorstufe eines neuen Gemeinschaftsgefühls im ganzen Volk. Die Pflege und
Ausbildung dieser neuen Führerschicht, die weder aus den neuen Reichen, noch
aus den alten Armen, sonden aus den „neuen Armen" kommt, ist die größte
Aufgabe unserer Zeit. Auch an die Männer des beschaulichen Lebens und der
Erkenntnis ergeht heute der Ruf: „Zu den Waffen". Nicht der mechanisierte
Gehorsam einer toten Organisation, sondern die lebendige Kraft einer Lcclesi»
militsns, einer „unsichtbar kämpfenden Kirche", ist heute die Werkstatt, aus der die
drei Lebensmöglichkeiten des deutschen Volkes neu hervorgehen: der neue Gemein¬
sinn, die schöpferischen Werke des Geistes in Wissenschaft und Technik, die den
neuen Körper bauen, und die äußere Freiheit. Statt der bisherigen
spezialistischen Breite tritt unsere Kultur, wenn sie aus den Trümmern
Neues schafft, ein in ein Zeitalter der weltanschauungsmäßig verinnerlichten
, Persönlichkeit.
Das Zerbrochensein aller unserer einstigen Machtmittel, Organisationen
und jenes ausgezeichnet mechanisierten Gemeinsinns, wie er in unseren Einrichtungen
vor dem Krieg lebte, ist unser heutiger Ausgangspunkt. Nahe Ziele kann der
Patriot nicht mehr ins Auge fassen, wir müssen uns schon an Fernziele ge¬
wöhnen, was wir vor dem Krieg völlig verlernt hatten. Damals waren wir
Erben früherer Erfolge und hatten uns gewöhnt, greifbare Ziele rasch zu ver¬
wirklichen und nicht darüber hinauszusehen — eine falsche Sicherheit, die an dem
völligen Zusammenbruch aller Kräfte und alles guten Willens im Rückschlag deS
Jahres 1918 wesentlich mit schuld ist. / Wie können wir uns nun zum Glauben
an Fernziele erheben? Der Glaube an Ideen, die sich selbst durchsetzen, oder
der Glaube an die Weltvernunft, die von außerhalb kommt, ist in Ihrem Kreise
sicherlich nicht der vorherrschende. Er entstammt nicht der Menschenkenntnis der
Kirche, sondern der optimistischen Menschenbeurteilung der Ausklärung und ihres
Neffen, des freimaurerisch-liberalen Kosmopolitismus. Aber auch in dessen Kreisen
haben solche, die wirklich mit ihrer Person Opfer bringen, den faden Pseudo-
idealismus, der von der Vernunft der anderen alles erhofft, am wenigsten
geteilt. Der tätige Patriot rechnet mit den Kräften, die da sind, mit den Leiden,
schaften und Interessen der Memleben. Er weiß, daß der Staat Macht sein muß
bis ans Ende der Welt. Es gibt aber auch eine innerliche Macht bei äußerer
Ohnmacht.
Der untadige, auf andere hoffende Pseudoidealismus ist der größte Feind
des wahren, tätigen, sich selbst befreienden Idealismus. Wenn wir die Hoffnung
nur auf uns, nicht auf die Feinde setzen oder auf einzelne Gruppen unter den
Feinde", dann allein wird auch einmal die Weltlage uns wieder zu Hilfe kommen.
An dieser Selbsthilfe fehlt es und zwar aus Unterschätzung des Geistes, aus
Mangel an Persönlichkeit, aus Diirre an Glauben, aus Unkenntnis der Im¬
ponderabilien.
Die Hoffnungslosigkeit der materiellen Lage lahmt den Materialisten, wenn
er sie erkennt; sie verbreitet in einem schlecht geführten Volk die Untergangs- und
Fluchtstimmung, die Zersetzung, den verzweifelten, räuberischen Kampf aller gegen
alle um das.Letzte.
Bei den Idealisten dagegen straffe diese Erkenntnis die Kräfte. Die „neuen
Armen", die Geusen, werden ein Ehrentitel werden, ein Orden, eine Schar von
Pionieren, von Vorläufern eines neuen Zeitalters.
Und wer nicht den lauen, bequemen Glauben auf die wunderbare Hilfe von
außen, auf die Vernunft der anderen und das Weltgewissen zu teilen vermag, der
muß die Hoffnung aus dem Innern schöpfen. Wenn es überhaupt ein Welt¬
gewissen gibt, so kann nicht das Warten und Klagen, sondern einzig das feurige
Lodern des deutschen Geistes es aufwecken. Die Solidarität der Welt oder Europas
wird nicht früher kommen, als bis die Deutschen die Solidarität unter sich wieder¬
gefunden haben; eine größere Aufgabe gibt es nicht für ein Volk. Zweimal ist
das Reich der Deutschen zerbrochen; unser drittes Reich wird nicht auferstehen,
wenn nicht zuvor oder gleichzeitig ein dritter Welttag der Deutschen anbricht, wie
die großen Zeitalter von Wittenberg und Weimar gewesen sind. Nach dem Willen
der Franzosen soll der Rest der deutschsprechenden Menschen, der in Zukunft zwischen
den Trümmern des alten Deutschlands haust, nicht mehr bedeuten als die schatten¬
haften Bewohner Niniveh oder Karthagos nach der Eroberung durch den Feind.
Wir dagegen halten es auf die Gefahr hin, von deutschen Pazifisten als altdeutsch
verschrien zu werden, mit jenem Spanier, der kürzlich im Hafen von Vigo, als
Zwischen den großen englischen, amerikanischen und französischen Schiffen ein
kleiner 2000-Tonnen-Dampfer mit einer großen schwarz-weiß-roten Fahne erschien,
das erste deutsche Schiff seit dem Krieg, mit Thränen in den Augen ausrief:
„«r^via a Viv8, la, danäers, allömana" und mit jenen Kamenmhäuptlingen,
die, nachdem sie einige Jahre französischen Regiments kennengelernt hatten, kürzlich
eine Petition schickten, um wieder deutsche Herrn zu bekommen. Wir glauben
an die guten Eigenschaften unseres Volks. Obwohl wir nicht sicher sind, im
nächsten Jahr noch das Brot für unser Volk einkaufen zu können, glauben wir,
daß die Welt nicht auskommt ohne den deutschen Typus, der durch die jahrhunderte¬
lange Gewöhnung, sich aus tiefster Not und Armut wieder aufzuraffen, an selten
schwierige Lagen angepaßt, eine einzigartige Fähigkeit geistiger und materieller
Wiedergeburt ausgebildet hat, die der gesamten Menschheit zugute kommt. Aber
wir müssen Geist und Staat erst innerlich neu zusammenschweißen, bevor wir wieder
etwas sein dürfen. Die Bismarckisch-Moltkesche Umschalung des weichen Deutsch¬
tums konnte 1918 so völlig zerbrechen, weil sie nicht mit lebendiger Solidarität
ausgefüllt war. Das Gerüst unseres Staates war trefflich, aber doch, wie sich jetzt
zeigt, nur ein Gerüst. Jetzt müssen wir bet Iren und Indern lernen, zuerst den
Willen, ein Volk zu sein, neu zu schaffen; dann findet sich auch der Weg.
Der Weg der deutschen Wiedergeburt führt ausschließlich durch den deutschen
Geist und in ihn hinein. Es wäre Wahnsinn, an äußere Macht zu denken. Selbst¬
befreiung bedeutet ausschließlich die Arbeit an uns selbst. Die Umbildung des
Inferno, in dem wir leben, zu einer wahren Gemeinschaft ist das wahre Ziel. Wir
haben in diesen Jahren geschichtliche Lehren über die Notwendigkeit der Solidarität
empfangen, wie sie größer nicht gedacht werden können. Alles Dissoziative in einer
Nation, Standes- und Klassendünkel, spezialistische Beschränkung, Bürgerzwist und
Voransetzen des privaten Vorteils ist nur ein anderer Ausdruck für schlechte Geschäfte
der Gesamtheit und damit auch aller einzelnen. Solidarität schafft Wohlfahrt,
Klassen- und Parteiideale führen sich selbst aä adkurSum. Im Kri»ge hat man
begonnen, es zu fühlen, wie jedes unbedachte, flau machende Wort, jedes kleinste
böse Beispiel des unsolidarischen „Hintenherum" eine Lawine des Verderbens
ins Rollen brachte oder verstärkte. Wir haben die Gesamthaftung einer Nation
erlebt in der fürchterlichen Form des „aratruro. rMi": die Pflugschar des Er¬
oberers geht über die besiegte Gemeinschaft und legt die Wohlfahrt Schuldiger und
Unschuldiger um.
Wir wollen gewiß nicht behaupten, daß auf Erden sich alles Gute lohnt und
alles Böse straft, aber wir können beweisen, daß der Weg der Solidarität und des
Opferbringens jedenfalls noch besser ist und mindestens für die Nachkommen
günstigere Aussichten schafft als der Weg, den wir einschlugen, nachdem unser Volk,
verzweifelnd an dem Wert des Opferbringens, in den Kampf aller gegen alle aus¬
einanderstrebte. Bei der besonderen Lage Deutschlands ist es nun so weit, daß
ferneres Fortsetzen des inneren Kampfes bestimmt den Hungertod von Millionen
bedeutet; freilich nur, wer Kinder hat oder sein Volk so liebt, als ob er für die
Wohlfahrt künftiger Geschlechter mit verantwortlich wäre, kann freiwillig kleine
Privatvorteile des Augenblicks für künftige Ernte dahingehen. Die Solidarität,
die sich nicht nur durch den Raum, sondern auch durch die Zeit erstreckt, macht
gleichgültig gegen die Frage, ob unsere Arbeit uns selbst zugute kommt. Sie tut
es: denn mindestens lebt, wer sich der Gemeinschaft hingibt, seliger als der Egoist.
In wie anderem Sinn als früher sind wir doch wieder bloß ein Stück der Nation
geworden! Das Wort „Nationalökonomie" war 1914 fast veraltet'vor der inein¬
anderfließenden „Weltwirtschaft". Aber jetzt wissen wir, hart beschränkt, daß, was
wir morgen haben werden, doch nur aus dem besteht, was der Nation zudiktiert oder
von ihr errungen wird.
Die unendlich mannigfaltige praktische Gestaltung der Solidarität, wie sie
aus d-.r uns erteilten geschichtlichen Lehre hervorgeht, mag an einigen Beispielen
verdeutlicht werden:
1. Wir brauchen den rücksichtslosen Kampf gegen die den Willen zum Ganzen
brechenden und schwächenden Momente. Wir müssen die Demagogie be¬
kämpfen, die alle Schuld immer nur auf die anderen schiebt. Wir müssen die
Selbstzufriedenheit der Stände, Klassen und einzelnen bekämpfen; sie ist unser
schlimmster Feind und geht mit nationaler Selbstentäußerung zusammen. Was
wir brauchen, ist Selbstkritik der Parteien und Stände und Erneuerung der
Individuen auf dem Grund des Glaubens an die Nation. Wir müssen in uns
hineinlauschen: „Wo ist die Stelle, wo in mir selbst das Gemeinschaftswidrige be¬
ginnt? Wo der Preuße und Bayer,, der Rheinländer in mir den Deutschen über¬
wuchert und die beschränkte Form, die mir heimatlich die teuerste ist, die unbequeme,
aber allumfassende Deutschheit beschränkt?" Wir müssen lernen, trotz verschiedenem
Empfinden dasselbe zu wollen. Das Kennzeichen des wahren Deutschen ist heute,
ob er zu verbinden statt zu trennen, zu versöhnen statt zu tadeln versteht. Der
härteste Kampf nach außen, d. h. gegen alles Undeutsche, hat zur Voraussetzung,
daß innerhalb der Linie sich einer auf den anderen, auch wenn er ihn nicht sieht,
verläßt, wie der Mann im Schützengraben auf den unsichtbaren Kameraden. Wie wir
täglich und stündlich gegen dieses erste Gebot der Zeit sündigen, wie altererbter
Dünkel und die Lust zu nörgeln, als Fußgänger dem Reiter ein „Herab vom
Pferd" zuzurufen oder als Reiter auf den Fußgänger herab- und über ihn hinweg¬
zusehen, uns schädigt, dafür bedarf es nur eines Blicks in die Zeitung oder das
Parlament oder das Beobachten eines beliebigen Gesprächs in der Eisenbahn.
Fraglos haben sich in der Not der Zeit schon viele neue Ansätze zur Solidarität
in Deutschland herausgebildet, und der geschärfte Blick kann täglich neue Ansätze
entdecken. Aber unsere Geschichte und unser Charakter sind so komplex, es ist so
viel Auseinanderstreben in uns, daß wir auch bei ernstem Wollen und bester Absicht
aus Mangel an Instinkt und Einsicht noch fortgesetzt so viel Unsolidarisches be¬
gehen. Der norddeutsche kennt den Süddeutschen nicht, der Bürger nicht den
Arbeiter und umgekehrt. Wir haben alle den fahrlässigen Verräter in uns, und was
sich da und dort an wirklich neuer Kameradschaft und schöpferischer Bruderschaft
gebildet hat, soll man noch nicht überschätzen. Es sind Betonplatten in unserem
Sumpf, unerläßlich für einen künftigen Hausbau, aber noch kein Haus. Wenn
uns ein Wunder heute wieder Staat und Macht bescherte, so würden wir doch
noch nichts bedeuten. Ehe der innere Prozeß fertig ist, kann Deutschland in keiner
Weise hochkommen, und dieser Umschmelzungsprozeß muß viel gründlicher sein,
als wir alle heute noch ahnen, denn er muß in verhältnismäßig kurzer Zeit zu
den innersten Tiefen gehen, aus denen allein Heilmittel für eine Not erwachsen,
wie die unserige ist.
2. Die Pflege der nationalen Überlieferungen ist in
Zeiten wie den unseligen bei allen Vollen das Herdfeuer künftigen Lebens ge¬
worden. Die Solidarität der Nation drückt sich auch darin aus, daß sie endlich ver¬
stehe, aus der Geschichte zu lernen. Nur ein Volk, das Pietät gegen die Ahnen,
weil es Verantwortung gegen die Kinder hat, gedenkt der früheren Leiden, die
aus den Fehlen, und der früheren Großtaten, die aus den Leiden hervorgingen.
Soll in einem künftigen glücklichen Deutschland noch einmal eine Generation er¬
stehen, die so blind alle Lehren unserer Geschichte vergessen hat, wie wir in den
kürzlich vergangenen Jahren? Dieses Lernen aus der Geschichte ist ein Teil der
Ausbildung wahrer Persönlichkeit, die sich nicht mit dem Hier und Heute des
Futtersuchens begnügt, sondern das Eigengeblüt in den Ahnen verstehen und auf
die Künftigen unverschlechtert vererben will. Wir haben 1914—1918 eine Jugend
und ein Heldentum erlebt, wie es kein Zeitalter der Geschichte schöner sah. Welch
ungeheures Kapital aus dem Jahre 1914 lassen wir heute zinslos liegen! Aber
der feldgraue Geist ist nur scheintot; seine Wiederaufrichtung zu Werken des Friedens
ist die Hoffnung der Jugend. Wir leben in Dankbarkeit für den Nuhm und daZ
Vorbild derer, die Blut von unserem Blute waren. Der Wettstreit der organisierten
Jnteresscnverbände innerhalb der Nation würde weniger geräuschvoll sein, wenn die
Ansprüche der Schwächsten unter uns, der Kriegswaisen, den Maßstab für die Er¬
füllbarkeit der Ansprüche aller bildeten, so wie es einer stolzen Nation ziemt, welche
die Reliquien ihres größten Volksringens ehrt. Von dem Reichtum des August 1914
wird die Nation noch unabsehbar zehren, einerlei ob jetzt große Teile des Volke?
diese Erinnerung schmähen, andere gleichgültig und wie fremd an ihr vorübergehen.
Es gehört aber viel Kunst dazu, die nationale Erinnerung richtig zu Pflegen,
besonders viel Liebe und Versöhnlichkeit. Das Instinktive muß es machen, weniger
die Politik. Wer sich national fester fühlt als andere deutsche Landsleute, darf nie
vergessen, daß er jedenfalls zunächst noch in der Minderheit ist und daß er den
anderen einen gewissen nationalen Kredit einräumen muß, schon um sie zu erziehen.
Mit dem Ablehnen, Tafeltuchzerschneiden allein ist ebensowenig geleistet, wie mit
weichlichem Nachgeben. Die Langmut der nationalen Liebe kann das Feuer deS
nationalen Zornes nicht entbehren und umgekehrt. Wenn sich heute mancher trotzig
gegen die Nation stemmt und der selbstmörderische Instinkt in unserer zweitausend¬
jährigen Geschichte sich noch immer auf das fürchterlichste fortsetzt, so dürfen wir
doch darauf vertrauen, daß der Pendel jetzt nach der anderen Seite des nationalen
ausschlägt. Die Verhältnisse sind zu stark; sie ketten jeden an die Nation, ob er
will oder nicht.
3. Eine dritte Einzelforderung, die sich aus dem Willen zum Ganzen ergibt, ist
die nach einer starken und reinen, parteilosen und produktiven
Negierung unter Absage an den egoistisch feilschenden Parlamentarismus. Ein
Minister wie Erzberger darf nie mehr möglich sein im neuen Deutschland; auch
wenn er gar nichts Böses tut, er wirkt ja wie Mehltau. Die parlamentarische
Scheinregierung entbehrt der Solidarität mit der Nation, gibt unverständig allen
Forderungen nach, versteckt die Verantwortungen, lebt über die Verhältnisse, ist
ungewissenhaft und hat kein Fach ordentlich gelernt. Man kann das Spezialisten¬
tum nicht dadurch überwinden, daß man die Universalität des bloßen Schwatzens an
seine Stelle setzt. Wir brauchen keine Parteiformeln, sondern Führer, an die wir
glauben, um die wir uns sammeln, an denen wir uns entflammen können. Heute,
wo alle Verhältnisse umgeschmolzen sind, befinden wir uns gegenüber den über¬
lebten Parteiformeln in einer ungewöhnlich unbefangenen Lage. Greifen wir nur
hinein in unsere so ungeheuerlich interessante Zeit, zu deren Verständnis freilich
kaum einer der stumpfen, satten Begriffe des Vorkriegslebens noch taugt. Ohn¬
macht und Willenlosigkeit, die sich für eine Regierung hält, weil sie auf Stimmzetteln
ruht und Papierscheine druckt, wird in demselben Augenblick verschwinden in
welchem die Papierwährung einmal ihr Ende mit Schrecken gefunden haben wird.
Eine wirkliche Negierung aber, die in der wahren Wirklichkeit unserer Verhältnisse
wurzelt und Weltwährung hat, kann nur aus einem sehr starken Gemeinsinn der
Nation geboren werden.
4. Die Bestimmung des Deutschen aus Veranlagung und heutigem Schicksal
hat aber auch ein auswärtiges Gesicht. Die innerdeutsche Solidarität, von der wir
sprachen, hängt zusammen mit der Solidarität aller unterdrückten
Völker. Wir können viel lernen von ihnen, und es sollte nicht mehr lange
möglich sein, daß Erfolge, wie sie kürzlich die Solidarität der Ägypter über den
englischen Zwingherrn errungen hat, mit der bitteren Glosse begleitet werden: „Die
Deutschen sind keine Fellachen." Wir dürften einmal und vielleicht bald dazu
berufen sein, der Anwalt aller der Völker zu werden, die im Schatten leben. Die
englische Weltsprache wird wohl mindestens ebenso lange dauern wie einst die
römische, aber vielleicht werden die Engländer selbst dabei den Weg der Römer
gehen. Hunderte von Millionen sind heute in Asten in gewissem Sinne reifer zu
nationaler Politik als wir. Die Mehrheit der Menschen steht auf unserer Seite,
aber wir müssen die Intelligenz und die Wissenschaft für diese Völker organisieren,
die sie nicht haben. Stirbt Deutschland, so wird die Welt eintönig angelsächsisch
angestrichen mit kleinen Flecken französischer Eitelkeit dazwischen. Bleibt Deutsch¬
land leben, so werden sich aus unserem Schicksal Wandlungen ergeben, die größer
sind als der Weltkrieg. Und wenn wir uns gewöhnen, den Kopf zu bilden für
die unterdrückten Völker, dann kommt auch einmal der Augenblick, nach dem der
Deutsche sich so sehr sehnt, daß er wirken und sorgen darf für die Welt. Viele unter
uns wollten diese Aufgabe voreilig genießen und dabei die Pflichten gegen die
Nation überspringen. Davor hat uns der Feind jetzt bewahrt, indem er uns als
den „tollen Hund Europas" von der Welt abgesperrt hat. Aber eben durch diese
völlige Entrechtung sind wir innerlich freier geworden. Was kann uns heute das
geistige Bekenntnis zur Solidarität mit den unterdrückten Völkern der Erde praktisch
noch schaden, wie in der Zeit, da wir als politische Macht Rücksichten zu nehmen
hatten auf andere Mächte? Heute hat man uns nur den Gedanken übrig gelassen,
der nicht nur zollfrei, sondern auch eine Macht ist, wenn wir es keinen, das Wesen
der Macht zu verstehen.
Auch der entnationalisierte deutsche Arbeiter kann von seinen marxistischen
Formeln aus diese neue Lage der Welt wohl begreifen. Der Abgeordnete Lambach
hat es vorzüglich verstanden, in diesem Sinne die Sprache der marxistischen Welt¬
anschauung zu führen, um alt die Seele der Arbeiter heranzukommen. Gesetzt, es
sei richtig, daß der Klassenkampf das wichtigste ist: nun gut, so besteht er doch nicht
nur im Innern des Volkes! Es gibt auch Arbeitnehmer- und Arbeitgebervölker.
Wir sind heute der Lohnarbeiter der Welt gegenüber den Panzerplatten- und
Kapitalvölkern, die uns aussaugen. Nun müssen die Lohnsklavenvölker der Welt
zusammenstehen und die Interessen des Klassenkampfes lernen auch einmal gegen
außen wahrzunehmen. Wir müssen uns als N a t i o n kia s s en b e w u ß t und
solidarisch zusammenschließen. Wenn einmal der Augenblick kommt, wo unsere
Arbeiterorganisationen sich nicht nur für Bela Khun oder Trotzki, sondern auch für
Deutschland einsetzen, dann wird die Volksgemeinschaft gegründet sein, die der
Deutsche erst auf so wunderlichen Umwegen zu begreifen beginnt.
Von allen deutschen Ständen droht jetzt demjenigen, der sich immer am
trotzigsten als eigener Stand abgesondert und seit 1918 durch die Wucht seiner
Masse allen anderen vorangesetzt hat, dem vierten Stand, am ersten der Untergang.
Er hat sich in seinen Klassenidealen getäuscht in jeder Richtung. Alle Pseudoideale
verbrauchen sich rasch in unserer stürmischen Zeit.
Es war nicht alles gerecht in unserer Vorkriegsgesellschaft, und dennoch hat
der vierte Stand, der damals zwar nicht, wie er beanspruchte, Hauptträger, aber
doch Haupterzcugungsmittel der wirtschaftlichen Blüteperiode gewesen ist, größere
Wohlfahrt und reicheren Anteil an der „gemeinen Mark" der Lebens- und Zivili¬
sationsgüter besessen, als der heutige Mittelstand. Weshalb saß die Unzufriedenheit
trotzdem so tief in ihm, weshalb hatte er sich trotz der unglaublich rasch aufsteigenden
Linie seiner Wohlfahrt in eine besondere Kampfstellung zur bürgerlichen Gesellschaft
verschanzt? Der Deutsche hängt überhaupt dem Idealstaat heftiger an als dem
praktisch gegebenen, eigenen, .deutschen Staat. Und er unterscheidet sich vom West¬
europäer auch durch die Anziehungskraft, die er genossenschaftlichen oder land¬
schaftlichen Solidaritätsmittelpunkten gegenüber dem nationalen Mittelpunkt ein¬
räumt. Der Nutzen, den das starke Deutsche Reich ebenso wie die stetig erstarkende
kapitalistische Ordnung allen Volksgliedern, auch den kapitallosen brachte, lag ja offen
zutage. Trotzdem wurde das Ideal der justitig. äistributiva einseitig allem anderen
vorangestellt. Nicht der schöpferische Unternehmer, der Tausenden von Arbeitern
Nahrung und Lebensmöglichkeit gründete, wurde von diesen seinen Arbeitern selbst
als die Seele des Kapitalismus angesehen, sondern der aufreizende, müßig spazieren¬
fahrende Luxus der Drohnen, die im Gesamtbild an sich ein erträglicher Schaden
waren: aber dieser nebensächliche Eindruck des Neides, Hasses und berechtigten Ekels
bestimmte das Ethos des Gerechtigkeitsfanatismus der klassenbewußten Proletarier.
Und um die monomane Energie des Klassenkampfes nicht zu schwächen, wurde den
Arbeitern von ihren sozialistischen Demagogen alles, was die Volksgenossen und
die Menschen verschiedener Stände verbindet, statt Klüfte zu bilden, verekelt, ins¬
besondere Nationalgefühl und Kirchlichkeit ausgeredet. Viele treffliche Arbeiter
und Arbeiterführer, welche den Zusammenhang mit der Nation nicht aus dem
Auge verlieren wollten, blieben doch eine Minderheit. Das Machtgefühl, welches die
Massenanhäufung der Jndustriebevölkerungen, verbunden mit einer aufreizenden
Technik parlamentarischer Opposition, ergab, führte die Mehrheit der Arbeiter zu
einer wirtschaftspolitischen Utopie.
Nicht der tatsächliche graduelle Aufstieg des vierten Standes, der nur parallel
einem Aufstieg des Mittelstandes und einem Ausbau der ganz großen Vermögen
gehen konnte, wurde erstrebt oder anerkannt, sondern mit vorgeklebten volkswirt¬
schaftlichen Irrlehren, in Wahrheit aber mit einer einfachen Stimmung unver¬
nünftigen neidgegründeten Bürgerzwistes ein völliger Umsturz der vorhandenen
Ordnung verlangt, ein Ziel, das bestenfalls zu einer allgemeinen Verarmung oder
einer Umschichtung der vermögenden Klassen hätte führen können, niemals aber
zu der Paradorie, daß die Masse ebenso gut leben könne, wie die sich aus der Masse
heraushebenden, naturgemäß an Zahl geringeren Angehörigen des Mittelstandes.
Der Arbeiter wollte die Solidarität ausschließlich einer Klasse, nicht der
Nation anerkennen. Er sah die erstrebte civitas ohl in drei Utopien:
a) eines Zwangskommunisms, — ein Widerspruch in sich selbst, denn
wahrer Kommunismus kann nur auf die Liebe, nicht den Zwang gegründet sein
d) eines Menschheitsstaates unter Mißachtung der tatsächlichen Sinnes¬
richtung unserer Nachbarvölker und
einer Erfüllbarkeit der materiellen Wünsche, die aber in Wirklichkeit, je
besser es dem deutschen Arbeiter und allen Deutschen zusammen ging, immer höher
aufgestachelt wurden und alle Maßstäbe volkswirtschaftlicher Wirklichkeit aus den
Augen verloren, die Gütererzeugung störten statt sie zu fördern.
Trotz alledem würde ohne den Krieg ein Umsturz wohl nie eingetreten sein.
Der Grund dafür ist einfach der, daß noch niemals eine Revolution geglückt ist, bei
der nicht weite Teile des Mittelstandes den Kopf für die anstürmenden Massen
abgegeben hätten. Vor dem Krieg aber war der Mittelstand in Deutschland mit
Ausnahme einiger Schwärmer, Verbitterter oder gewerbsmäßiger Demagogen unzer¬
reißbar mit der bestehenden Ordnung verknüpft. Der Umsturz hatte nicht die
Köpfe, nicht die öffentliche Meinung für sich. Als er im November 1918 eintrat, ist
er vor allem durch die Schwäche der herrschenden Schichten, die Verblendung weiter
Teile der Intelligenz möglich geworden, und es liegt fern von uns, die Schuld
an dem Vorgefallenen einseitig auf den vierten Stand zu schieben.
Heute hat nun die Ernüchterung begonnen. Schon das Wählen der „Volks¬
männer" — als ob Bismarck oder Hindenburg etwa nicht zum Volk gehörten — hat
hat seinen früheren Reiz verloren, seit die Wirkung des Wählers die geworden ist,
daß die Gewählten regieren, d. h. vom Volk etwas verlangen müssen, während sie
früher nur das ewige Sprachrohr der Unzufriedenheit, des Protestes und unerfüll¬
barer Versprechungen waren. Im stillen sehnt sich ja die Masse von diesen Führern
weg. Sie will auch wieder andere Begriffe als Darwinismus und Koalitionsrecht
verarbeiten, aber bieten w i r ihr statt Steine das Brot, nach dem sie verlangt?
Bieten wir ihl die neue nationale Gemeinde, so lebenerfüllt und geistdurchwirkt,
wie es wirkliche Volksführer müssen? Ich glaube nicht, daß wir das sagen dürfen.
Die Ernüchterung über die ausgebliebene Erfüllung der Parteiutopien lenkt
den Blick zurück auf die geschmähte Zeit vor dem Krieg, als der deutsche Proletarier
in unserem kargen, trüben Norden an menschlicher Würde, Sicherheit und Be¬
hagen der Existenz einen Rekord über alle von der Natur begünstigtercn Völker
errungen hatte. Unsere Vorkriegszeit wird geschichtlich dafür denkwürdig bleiben,
daß die Menschen, die ins irdische Paradies versetzt sind, erst gewahr werden, das;
es das Paradies war, nachdem sie daraus verstoßen sind. Der vom Arbeiter
heute errungene Lohn ist zweifellos entfernt nicht ausreichend, ihm die Lebenshaltung
wie vor dem Kriege zu sichern, die er doch damals schon, obwohl sie eine in der
Weltgeschichte unglaublich hohe war, als ein Parialos anklagte. Nicht einmal zu
dieser alten Lebenshaltung, auch nicht entfernt, befähigt ihn der heutige Lohn,
und trotzdem ist dieser Lohn eine Utopie, ebenso wie das Gehalt des Beamten!
Es ist ein Scheinlohn, wie alle unsere Papierwerte nur Schein sind! Diese Er¬
kenntnis: daß heute die Einnahmen viel zu gering und trotzdem viel zu hoch sind,
ist der kürzeste Ausdruck unserer furchtbaren Lage, und jene Forderungen Calwers,
die wir unseren Überlegungen voranstellten, wirken wie das Fallbeil auf alle die
jahrzehntelang doktrinär und programmatisch genährten Hoffnungen und Ein¬
bildungen. Selbst wenn heute der Verteilungsschlüssel der nationalen Güter
zwischen den verschiedenen Ständen gerechter wäre als vor dem Umsturz, so ist doch
die Masse der zu verteilenden Güter geschwunden und die Existenzmöglichkeit
gerade des vierten Standes am allermeisten bedroht.
Aber ist der heutige Verteilungsschlüssel zwischen den Ständen wirklich gerecht?
Gerecht, nicht im Sinne einer abstrakten Weisheit, sondern gemäß dem notwendigen
Gemeinsinn, der die Bedingungen künftigen Gesamtdaseins einer Nation erfaßt?
Dem vierten Stand geht es nur relativ besser, absolut aber unendlich schlechter
als vor dem Krieg gemäß dem immer noch nicht scharf genug begriffenen Gesetz der
nationalen Gesamthaftung. Trotzdem ist heute für die Volksgesamtheit und alle
ihre Glieder ohne Ausnahme noch wichtiger als die Lohnfrage des vierten Standes
die Frage, ob der Mittelstand, der nicht nur überhaupt mit dem Ganzen gesunken,
sondern noch unter sein mittelständliches Daseinsminimum hinuntergedrückt ist,
wieder befähigt werde, seine Leistungen als Mittelstand, d. h. als Führerstand und
eigentliche Werkstatt schöpferischer Arbeit zu erfüllen? Es ist ja völlig undenkbar, daß
der vierte Stand den Mittelstand für immer zu sich herabzwinge, denn der Mittelstand
ist ja heute keine abgeschlossene Kaste, sondern er bildet sich fortgesetzt Neu aus den
Tätigsten, Klügsten, Pflicht- und Verantwortungsbewußtesten des vierten Standes.
Er entsteht aus einer Veranlagung, die vor allen Dingen in die Zukunft disponiert,
aus Erfahrung lernt, auf lange Sicht Reserven bildet und mehr das Wohl der
Kinder als das eigene ins Auge faßt. Die aufstrebendste Schicht des Mittelstandes
ist die mit dem Solidaritätsgefühl für die Familie und das Volksganze erfüllte
Auslese des vierten Standes. Dazu kommen die Nachkommen dieser hochquali¬
fizierten Emporkömmlinge, Nachkommen, die, einerlei wie stark ihre persönliche
Potenz ist, jedenfalls durch Veranlagung und Erziehung Fähigkeiten mitbekommen,
die dem Größten der durchschnittlichen Proletarier und ihres Nachwuchses fehlen.
Der Stand, der von der Hand in den Mund lebt und nicht lernt, fernerliegende Zu¬
sammenhänge zu begreifen, ihnen entgegenzusehen und sich auf sie zuzubilden, kann
wohl vorübergehend durch seine Masse den anderen Gesetze diktieren, er wird aber
von einer ihm ungünstigen Konjunktur, dem nächsten WellenschlagOebenso rasch wieder
zurückgestoßen; er geht schon an der Lüge der falschen — national unsolidarischen —
Führer ein, die er sich in seiner hoffnungsvollen Unwissenheit gewählt hat. So
schlecht es auch jetzt dem Mittelstand geht, so ist kein Zweifel, daß aus den Volks¬
angehörigen, die sich geistig und materiell Reserven anlegen, wieder ein neuer Mittel¬
stand hervorwächst. Seine jetzigen Schichten dürften großenteils zermürbt werden.
Aber wenn sich nicht ein neuer Mittelstand mit verhältnismäßig gehobenen Lebens-
bedingungen mehr bilden kann, so ist die ganze Nation einschließlich des vierten
Standes verloren. Es ist ein gewaltsamer, unnatürlicher und nicht von Dauer ge¬
krönter Zustand, in dem das Proletariat durch politische Macht den Mittelstand auf
feine eigenen Daseinsbedingungen niedergedrückt hat, so sehr, daß besonders be¬
drängte Mitglieder des Mittelstandes, wie verabschiedete Offiziere, sich geradezu
Mes proletarischen Beschäftigungen der Entlohnung wegen drängen. So etwas
hat keinen Bestand.
Ich predige hier keine Mittelstandspolitik in dem Sinn einer Kampforgani¬
sation gegen den vierten Stand, auch nicht in dem immerhin berechtigten Sinn einer
Abwehrsolidarität gegen die gemeinschaftsschädlichen Einbildungen jenes anderen
Standes. Die mangelnde Solidarität des Bürgertums, seine Lauheit im Klassen¬
kampf, ist zum Teil Philisterart, zum Teil jedoch eben die Kehrseite seiner größeren
Solidarität für die Nation. Der Mittelstand ist immer für das Ganze dagewesen.
Seine Grenzen sind fließend, er reicht von der Basis bis zur Spitze des Volkskörpers.
Er kann kein starkes Standesgefühl haben, und wir brauchen heute auch nicht
mehr Klassenpolitik des Mittelstandes, sondern weniger Klassenpolitik des
vierten Standes.
Mittelstandspolitik bedeutet heute etwas ganz anderes, nämlich die Sorge für
die Leistungsfähigkeit der Nation als ganzer, die Sorge vor allem auch für die nackte
Lebensfähigkeit der viriAt millions as trox, d. h. eben des Jnoustrieproletariats.
Die Arbeiter müßten den Unternehmer, den Erfinder, den seiner deutschen Pflichten
bewußten Kapitalisten heute in Gold fassen, statt durch unreife Sozialisierungs-
wünsche diese Kräfte zu lahmen und das Ganze zu verwirren. Wir sind zu dem
Glauben berechtigt, daß aus den deutschen Laboratorien noch einmal wesentliche Er¬
leichterung für das deutsche Volk hervorgehen wird. Erfindungen und Arbeit werden
für uns das sein, was den Russen ihr Land, den Engländern die Seegewalt, den
Franzosen die Säbelherrschaft und das jus vitas et nsois auf dem Festland und in
Afrika ist. Die Kohle ist nur ein vorläufiges Darlehen der Natur an den Menschen;
unerschöpflich scheinen die Kräfte, welche die Natur bereit ist, sich von den künftigen
Promethiden ablisten zu lassen. Daß in der weiteren Bezwingung der Natur der
deutsche Geist führend tätig sein wird, wenn er imstande bleibt zu forschen und zu
schaffen, darf nicht bezweifelt werden, und es ist Wohl denkbar, daß der Rhythmus
unserer Geschichte, die schon öfter durch Verarmung und Entvölkerung hindurch zu
neuen, fast explosiven Kraftzeitaltern geführt hat, sich abermals wiederholt, und daß
beispielsweise in einem Jahrhundert auf dieser dürftigen und engen deutschen
Scholle noch einmal ein Hundert-Millionen-Volk seine Nahrung findet. Aber an
diese fernen Zukunftsbilder dürfen wir nur glauben, wenn wir in unserer gegen¬
wärtigen Generation mit der geistigen Wiedergeburt der Nation auch das unerlä߬
liche Mindestmaß materieller Pflege der Führerschicht erhalten. Heute sind wir alle
auf eine Art von Einheitslohn herabgedrückt, aber es muß gerade in unserem Lande,
das zum Unterschied etwa von Rußland nicht durch Hand-, sondern nur durch
Kopsarbeit leben kann, dem Mittelstand auch ein Daseinsminimum gewährt werden,
das ein gewisses otium euro. äissnitato, einen Geld- und Zeitüberschuß für Selbst¬
bildung und Kindererziehung übrig läßt.
Hier liegt der Kernpunkt der sozialen Frage unserer Zeit, denn auch die soziale
Frage ist von der Umbildung Deutschlands nicht unberührt geblieben. Und es ist,
wenn ich niir diese Kritik erlauben darf, auch in dem Programm Ihres sozialen
Kursus, der sich fast ausschließlich mit den Arbeiterproblemen beschäftigt, ein Nest
der alten Zeit stehen geblieben, in welcher wir uns als bsati posM<ZQto3 zu dem
vierten Stand, unserem Schmerzenskind, verstehend und hilfsbereit herniederneigten.
Augenblicklich hat sich der Arbeiterstand mit kräftigen Ellenbogen den Weg zur Macht
gebahnt. Er selbst hat nicht das genügende Verständnis dafür, daß geistige Arbeit
höher bezahlt werden muß als Handarbeit, u, a. auch deshalb höher, damit der
Handarbeit überhaupt noch Arbeitsstätten bereitet werden. Nichts ist heute ver¬
fehlter, als eine weichliche Auffassung der sozialen Frage. Wir müssen erst die
Führer des neuen Zeitalters haben, dann wird sich alles andere finden, und auch der
Masse wird eL wieder besser gehen, wenn sie die Führer hat. Es ist ein unmöglicher
Zustand, daß eine Universität — ich denke dabei an die, welcher ich angehöre —
nur noch dann am Leben erhalten bleiben soll, wenn sie sich mit einer Arbeiterhoch¬
schule verbrämt; auch die Arbeiter müssen lernen einzusehen, daß es heute gar nichts
Wichtigeres gibt als Universitäten, oder z. B. auch die „Kinderstube" des Mittel¬
standes, die Erziehung von Intelligenzen zu Führeraufgaben, die Studien derer,
die nicht sowohl zur Rezeption als zur Produktion geistiger Werte berufen sind;
— aus dem „Einheitslohn" kann das nicht aufgebracht werden.
So wichtig es heute ist, die materiellen Forderungen des Mittelstandes her¬
vorzuheben, so ist doch zweierlei sofort hinzuzufügen, einmal, daß auch im günstigen
Fall die Entbehrungen des Mittelstandes so groß sind, daß nur ein ungeheures
Wollen seine geistige Leistungsfähigkeit erhalten kann, und zweitens, daß einzig und
allein dieses mächtige neue Wollen und nicht das gesättigte Bürgertum von einst
berufen sein kann, die neue Zeit zu verstehen und unseren Verfall zu einer Wieder¬
geburt zu gestalten. Der Mittelstand ist infolge der Weltteuerung in allen Ländern
bedrängt: überall stellt er die „neuen Armen". Es ist für die politisch-soziologische
Schwerfälligkeit und für den Standesdünkel unseres Mittelstandes bezeichnend, daß
das Schlagwort die „neuen Armen" heute in England und Frankreich schon gang
und gäbe ist, während es bei uns gerade auf die, welche es angeht, noch übertrieben
und geschmacklos wirkt, bis die letzten Reserven aufgezehrt sind und die korrekt
verschämte Armut nichts mehr zu verschleiern hat. Der deutsche Mittelstand, der vor
dem Kriege mit der Wünschelrute eines kleinen Rentenvermögens sich als Herr
der Schöpfung die Schätze des Erdballs zu eigen machen konnte, heute gleicht er
einem jäh verarmten Schloßbefitzer, der noch Haus und Einrichtung, Manieren
und mancherlei Bedürfnisse hat, aber das Schloß nicht mehr lange halten kann, schon
die Dienstleute entläßt, die Spuren des Verfalls überall aufsteigen sieht und sich an
den Fingern abzählt, wann er auch das letzte verkaufen muß, um Brot dafür ein¬
zutauschen und wann er schließlich das einzige Kapital, das ihm nicht genommen
werden konnte, die anerzogene Kultur, als Reitlehrer bei Emporkömmlingen nutzbar
machen muß. Bei diesem Hinuntergleiten bleibt den „neuen Armen" die Ver¬
pflichtung, das Wiedervonvorncmfangen zu leiten, die Wiederherstellung der wirt¬
schaftlichen Ordnung, des Verantwortungsbewußtseins, des Nationalgefühls zu
beginnen, neue Lebensmöglichkeiten für die ganze Nation zu ersinnen. Führt der
Mittelstand ein proletarisches Dasein, reibt er seine Kräfte auf in der bloßen Er¬
haltung des Daseins, so hört er eben auf, Mittelstand zu sein, und das ist die schwerste
Krisis für die Kultur und die nationale Zukunft, die weder vom Proletarier, noch
vom überlieferungsarmcn Emporkömmling getragen werden kann, weil beide zu
sehr nur im Hier und Heute aufgehen. Denken wir nun zurück an die früher ge¬
schilderten Zahlen, vergegenwärtigen wir uns, daß die Einkünfte des Mittelstandes
nach Abschreibung der sich aufzehrenden Reserven und der fiktiven Papiergeldwerte
vielfach noch weit unter dem nackten Existenzminimum liegen, vergegenwärtigen
wir uns, daß die Leistung der artss libsralsg im sozialen Dasein großenteils auf der-
ehrenamtlichen Funktion der kleinen Rente beruhte, die z. B. den jungen Gelehrten
zu seinen Leistungen für die Gesamtheit instant setzte, so gewahren wir mit Schrecken
das Zukunftsbild einer Ausgleichung des Bürgertums mit dem Proletariat wie in
den materiellen Einnahmen, so auch in der geistigen Lebensführung, nämlich nicht
von unten nach oben, sondern von oben nach unten. Es lag viel an den Kleinig¬
keiten, die dem deutschen Bürgerhaus Form gegeben haben, den Klavier- und
Zeichenstunden, den kleinen Kunstreisen durch Deutschland und (mit dem viel ver¬
spotteten Lodenzeug) nach Kopenhagen und Florenz, an der Hausbücherei, den
Zeitschriften und der Geselligkeit, der ehrenamtlichen und nationalen Selbstverwal¬
tungs-oder Vereinstätigkeit usw. Es dürfte kein guter Nährboden für das künftige
Deutschland sein, wenn sich die soziale Ausgleichung auf der mittleren Linie der von
Mittelstand und Proletariat gleicherweise gesuchten Kinowärmestube vollzieht.
Aber den Typus des deutschen Mittelstandes halte ich für die spannkräftigste
Organisation, in der Welt; er wird sich anpassen und Hemmungen werden ihm ein
Ansporn zur Überwindung sein. Freilich müssen wir unsern Typus ändern, ihn
vereinfachen. Die neue Solidarität kann nur wurzeln in einer neuen
Persönlichkeit.
Wir sind am Spezialistentum zugrunde gegangen. Aus tausend Einzel¬
erfahrungen des letzten Jahrzehnts setzt sich diese Erkenntnis zusammen: daß die
Verengung des Gesichtskreises, die Zerteilung der Verantwortlichkeit, die Aus¬
höhlung der Persönlichkeit, wie sie unser arbeitsteiliger und mechanisierter Lebens-
thpus der Vorkriegszeit mitbrachte, den Instinkt in uns abgestumpft und die Ge¬
schlossenheit zerbröckelt hat, die allein das richtige und große Handeln in den
Stunden der Krisis gewährleistet. Wir hatten jeder seine spezialistische Welt zu
einem Kosmos für sich ausgebaut, so virtuos und fein, daß wir in den Werken des
Friedens damit fast auf jedem Gebiet Meister und Führer gewesen sind. Jedoch
wir waren, an früheren Generationen Deutscher gemessen, Mann für Mann einzeln
schwächere Persönlichkeiten geworden. Wir hatten große Aufgaben in der Technik
den Naturwissenschaften, der Industrie, und der Wettbewerb steigerte die Leistung;
für solche Teilgebiete hatten wir deshalb kräftige Persönlichkeiten. In den Geistes¬
wissen schaften, in der Weltanschauung, im geistigen Leben überhaupt, sogar in der
Politik aber fehlte der Vorkriegszeit das große Ziel und das Straffen der Kräfte.
Es gewöhnte sich jeder an das Gestalten im Kleinen, an das epigonenhafte Be¬
wahren, Zerlegen und Weiterverfeinern. Wenn uns die Weltgeschichte nicht dazu
verpflichtet hätte, als lauter Kleine ohne einen Vismarck ums Leben zu kämpfen,
dann wäre es vielleicht noch lange gut gegangen. Aus dem Volk der besten
Spezialisten kann ein Führer alles machen; schlecht geführt aber zerfällt es in
Arbeitsteilung ohne schöpferische Arbeitsvereinigung und kann vor allen Dingen-
nie recht erkennen, woran es dem Ganzen fehlt. Der Spezialist fühlt sich als Fach¬
wann, als Vertreter einer bestimmten Klasse, Partei oder Arbeitsmethode, aber
immer umfaßt er nur etwas vergleichsweise Privates, mißtrauisch gegen sein eigenes
Urteil über Außerfachliches, mißtrauisch gegen Einbrüche anderer in das eigene
Fach. Die Schranken des Ressorts und dessen Bedeutung werden von ihm über¬
schätzt, weil sie einen Schutzwall gegen Fremde für ihn bilden. Das Spezialistentum
zieht deshalb die schwächlichen Charaktere an und schwächt die starken. Es zieht den
Dur!?.l der kleinen Päpste groß und zugleich die Verantwortungsscheu. Sie wissen
es aus der eigenen Berufserfahrung, welche dankbaren Herzen man findet, wenn
man diese Schranken, diese Trägheit zu überwinden strebt und die, welche bei einem
Rat suchen, nicht eine überlieferte Autorität, sondern eine ringende Persönlichkeit
fühlen läßt. Eine Persönlichkeit ist, selbst wenn sie unterliegt, für Gott und die
Welt wertvoller als ein Spezialist, der immer das Gesicht wahrt.
Wir sind heute gar nicht vor die Wahl gestellt, ob wir aus diesem Spezialisten-
thpus herauswollen, der in der Auffassung des Ganzen und in der Verant¬
wortung für dos Ganze so schwach war. Dieser Typus ist ja durch die Zeit schon
zerbrochen und zwar nicht nur an seiner eigenen Hohlheit hilflos geworden; sondern
auch viele Voraussetzungen für seine arbeitsteilige Tüchtigkeit sind gleicherweise
weggefegt. Als akademischer Lehrer z. B. kann ich heute nicht mehr Spezialisten
wie früher heranbilden. Für viele Studien sind wir zu arm geworden, die Papier¬
fabrik und der Drucker haben den wissenschaftlichen Autor aufgezehrt. Heute ver¬
langt der Student nur noch rasche Aneignung eines abgekürzten Fachwissens oder
Beihilfe zur Ausbildung einer vertieften Weltanschauung. Wir sind einfach nicht
mehr in der Lage und sind auch nicht mehr dazu verpflichtet, eine Menge Fein¬
arbeit für die Welt zu leisten, die wir früher getan haben. Nur diejenige Fein¬
arbeit, welche zu dem „xrimuin vivsrs" unerläßlich ist, insbesondere die in den
Naturwissenschaften, müssen wir uns erhalten, und das „äewäs Mlvsoptmri" muß
wieder mit einem geringeren Aufwand von Material, mit geringerer Breite und
dafür größerer Tiefe geleistet werden. Die Zeit verlangt von uns jetzt nicht
spezialistische, sondern universalistische Vervollkommnung, nicht Verbreiterung des
Wissens, sondern Vertiefung und Verstärkung der Persönlichkeit; der Wille zur
Ganzheit hat wie im Staat so in der Kultur eine neue furchtbare Notwendigkeit er¬
halten. Wir brauchen — ausgeplündert, wie wir sind — den Instinkt, um die
nicht zu raubenden Werte zu finden.
Vorhin hat mich einer von Ihnen gefragt, ob ich als Volkswirtschaftler oder
als Soziologe, als Historiker oder als Biologe, als Sozialethiker, als Kirchenmann
oder als Professor sprechen wollte. Ich glaube, es kommt in unseren Tagen
nicht so sehr darauf an, ob einer ein Fach verkörpert und ex oatlisÄra, spricht, nicht
das tut not, daß der deutsche Professor überall sein Katheder um sich herumtrage, in
welcher Gesellschaft er auch auftrete, und so jeder Stand sein besonderes papiernes
oder hölzernes Arbeitskleid und „Roll no tanAgrs" zur Schau stelle. Dem englischen
Professor, Offizier oder Geschäftsmann hat man es in der Gesellschaft nie angemerkt,
was er sei; er war einfach englischer Gentleman. Unser Vorzug der Sachlichkeit und
speziellen Tüchtigkeit soll natürlich nicht zum englischen Gentlemantypus verflachen;
dann wären wir, die kein fettes Old-England unter den Füßen haben, freilich ver¬
loren. Aber es kommt doch heute viel mehr darauf an, daß sich jeder zu dem Stand¬
punkt der Verantwortung für das Ganze zwingt, daß er sich gewöhnt, so zu urteilen,
als ob er der Kaiser wäre, und wenn er auch nur der jüngste Leutnant oder Student
ist; daß er im Fachministerlein nicht mehr das letzte Wunderstück der Kultur
erblicke; daß er die neue Zeit nicht mit den vielfältig gebrochenen Begriffen von
einst, sondern aus ihr selbst heraus zu verstehen trachte, auch auf die Gefahr hin,
nicht überall Fachmann sein zu können oder Ressortrechte zu stören. Es muß den
Menschen in unserer Not und Armut jetzt eine neue Kraft zuwachsen, damit das
deutsche Volk seine Anpassung an die neue Lage vollziehen kann: der Instinkt für
das Ganze, der nur hervorgeht aus dem Bemühen des einzelnen, sich selbst zur
Ganzheit zu bilden.
Je arbeitsteiliger und komplizierter ein Organismus geworden ist, desto
weniger leicht kann er sich bei einer jähen Umkehrung der Lebensbedingungen um¬
stellen. Wir sehen dies beim Aussterben von Bevölkerungsklassen wie von Tier¬
arten. Jeder von uns und die deutsche Nation als ganze hat in dem Zustand, den
sie in den letzten Jahrzehnten annahm, zweifellos die Fähigkeit herabgemindert, sich
einem so jähen Wechsel der Lebensbedingungen anzupassen. Wir müssen versuchen,
wieder ein einfacher Organismus zu werden, einfacher, d. h. mehr Ganzheit in jedem
Teil. Unsere früher ausgebildeten Organe werden teilweise verkümmern, zum
andern Teil eine ungewöhnliche Regenerationsfähigkeit entwickeln müssen. Die Ver¬
einfachung unserer Zivilisation, die mit der Verarmung notwendig verknüpft ist,
braucht nicht schlechthin eine Verkümmerung zu bedeuten; sie kann auch zu einer
schöpferischen Tiefe hinführen. Wir müssen in die neue Zeit so viel von spezia-
listischer Genauigkeit hinüberretten, als für die neuen Lebensbedingungen notwendig
ist und unser Fachwissen unter den erschwerten Verhältnissen um so strenger auf
die Jugend dort weitervererben, wo die alte deutsche Weise, Stein zu Stein zu
tragen, uns wieder emporbringen kann. Aber zugleich muß uns das Bewußtsein
erfülle,'., daß alle Einzelarbeit umsonst bleibt, wenn wir nicht wieder als Ganzes
Modell werden für die Welt.
Es ist die geschichtliche Aufgabe unserer Generation, vom Alten zu retten,
was gerettet werden muß, und durch Erkenntnis der Wirklichkeit das Neue vorzu¬
bereiten. Nichts ist falscher als der Individualismus, den man jetzt so häufig als
letzte Zuflucht anpreisen hört, wenn die Persönlichkeit sich aus der schlechtesten aller
Welten mit Goethe oder einem andern Trost auf sich selbst zurückziehen will; die
Einsamkeit, die für den Schaffenden notwendig ist, das Eintauchen des Geistes in
den Geist, ist heute nur erlaubt, wenn die in der Stille gewonnene Kraft und Ge¬
wißheit sich wieder ausgibt für die Allgemeinheit. Es kommt jetzt alles auf Ge¬
meinschaftsbildung und gemeinschaftsbildende Persönlichkeit an.
Die Verarmung bringt die Gefahr der Enge und Kleinlichkeit, der Be¬
schränkung auf das Nächste und Private mit sich. Weltunkenntnis und kleinbürger¬
liche Unduldsamkeit, Eigenschaften, die der Deutsche in früheren Zeiten des Empor-
büsfelns aus der Armut erworben hat, würden in Zukunft sich wieder verstärken,
wenn nicht ein universaler Zug das Gegengewicht bildet. Dem Edlen ist es eine
Qual, die Tätigkeit fürs Allgemeine privaten Zwecken opfern zu müssen; wenn ihn
die bittere Not zwingt, bricht es ihm leicht die Schwingen. Deshalb müssen wir
die allgemeine Pflicht so einfach, tief und volkstümlich gestalten, daß sie von jedem
'auch in der Fron der bis zur Erschöpfung getriebenen Brotarbeit noch erlebt und
«füllt werden könne. Der Instinkt ist das Wesentliche. Wie im Insektenstaat
das völlig mechanisierte Individuum in jeder Bewegung instinktmäßig dem Zweck
des Ganzen folgt, so führen wahrhaft nationale Völker, wie etwa die Engländer
oder Iren, im Individuum, diesem selbst oft unbewußt, die Einordnung aller
Negi'Ngen zum Ganzen. Unser spezialisierter Instinkt treibt uns Fachleute und
Partikularisten ost auseinander .
Persönlichkeit haben heißt in unserer Zeit zugleich: praktisch werden. Wir
hatten vor dem Krieg auch ein Spezialistentum des Idealismus; es gab so viele
treffliche Deutsche, die es verschmähten, auf dem steinigen Boden der Politik und
des realen Kampfes ums Dasein aufzutreten. Heute muß, wer ohne Falsch wie die
Tauben sein will, auch klug wie die Schlangen werden; aus der Solidarität, wie
aus dem Mangel wächst der Realismus heraus. Jeder lege sich für die Zeiten, die
kommen, einen praktischen Beruf zurecht, der ihn im Falle der Auflösung unserer
noch augenblicklich bestehenden Kulturordnung am Leben erhält, und jeder lerne
auch, für den Staat praktisch denken, praktisch reden und praktisch schweigen. Die
Kunst liegt heute darin, die unvermeidlich verschärfte Brotarbeit und den Erwerbs¬
kampf zu verbinden mit einer trotz kürzester Muße um so vertiefteren Aus¬
arbeitung der allgemeinen Bedeutung seiner Persönlichkeit. Trotz schlechter Er¬
nährung, behinderten Verkehr, versperrten Kulturgütern und Arbeitsüberstunden
noch mehr von Goethe oder Luther in sich tragen als früher: darauf wird es an¬
kommen; und zugleich ist alles nur dann fruchtbar, wenn es zum Ganzen strebt.
Aas Zeitalter derer beginnt, die alles, was sie tun und betreiben, auf die
Gemeinschaft beziehen, sei es, daß sie Macht und Besitz, sei es, daß sie Erkenntnis
und geistiges Schaffen anstreben. Nur konvergierende Kräfte kommen heute zu
einem Ziel. So übermächtig auch die divergierenden Kräfte erscheinen, so sind sie
doch schwach und hohl in ihrer Zersplitterung, kurzlebig in ihrer Verwirrung und
werden dem umformenden Druck einer zum Staat entschlossenen Schar sich williger
fügen, als es heute den Anschein hat. Aber nur die Liebe bindet und zieht zu¬
sammen. Auch die zersplitterten Grüppchen, die heute in so reicher Fülle unter¬
einander hadern, sind nur denkbar, weil in ihren Führern und Anhängern doch ein
gewisses, freilich zu spezialisiertes Maß von Persönlichkeit und gemcinschafts-
bildendem Sehnen lebt. Aber sieht man z. V. die sechs bis zehn verschiedenen, sich
aufs Messer bekämpfenden Gruppen sozialistisch-kommunistischer Parteien, so gewahrt
man, daß der Proletarier, der unausgesetzt mit den Farben- und Meinungsver¬
schiedenheiten dieser Gruppen beschäftigt wird, dereinst willig einer neuen Parole
folgen wird, die ihn über diesen Parteijammer und alles, was er dort ausschließlich
zu hören bekommt, hinweg, zu einer viel stärkeren Liebe und Solidarität, in eine
viel größere und reichere Welt der idealen und realen Interessen hineinzieht
vorausgesetzt, daß wir die Kraft haben, diese anziehende Gemeinschaft für ihn vor¬
zubauen. In den bürgerlichen Parteien der Vorkriegszeit war gewiß für den
Arbeiter wenig Naum. In der Gesellschaft der Vorkriegszeit bildeten sich die
eiviws-tvrnma-Triebe der Menschen nach einem selbstbewußten Kraftegoistentum
hin aus, während sich die eivitÄS-voi-Triebe in die immer feinere Spezialiflen-
arbeit verästelten. In unserer heutigen Gesellschaft sind die eivi^s-tsrröNÄ-Triebe
zu einem tollen Wirbel des Genusses, der Spekulation, der Fahnenflucht entartet,
die eiviws-v^i-Triebe aber formieren sich neu, und wer ihnen folgt, kann gewiß
sein, daß er mit der Zeit geht. Beide Welten, die eivitg.s Ost und die olvitus
t>6ri'«zu!i, sind in unserem Zeitalter in eine Ungeheure Fortbewegung geraten. Sie
wachsen nebeneinander her ins Große, die civitas tsrrsna. sichtbar, die eivits-L
vorerst noch unsichtbar; aber Druck erzeugt Gegendruck, und je mehr sich die Züge
der materialistischen Gesellschaft verhärten und versteinern, desto stärker sammelt
sich auch aus den Tiefen ein lebendiger Quell,, der nur darauf wartet, daß der
Zauberstab des Führers ihn aus dem Gestein hervorspringen lasse. Wie im kaiser¬
lichen Rom neben den sardanapalischen Formen das Katakombenchristentum wie im
Quattrocento neben dem Epikuräertum Savonarola, so wächst mit dem Bovist
unserer heutigen Gesellschaft auch die Gemeinschaft von morgen empor, und wenn
jene zusammenbricht, ist diese auf dem Plan. Das Auftreten von Schwarmgeistern
Tanzbruderschaften, Zungenrednern und wirtschaftsphantastischen Sekten beginnt
bereits, unserer Zeit den Anstrich früherer Perioden religiösen Tastens zu geben.
Es kommt jetzt alles auf die Frage an, ob die Erregung der Leidenschaften und der
idealen Triebe gesammelt wird durch klare Führerschaft, die ebenso die gesunden
Notwendigkeiten des Lebens, die Pflege von Erwerb und Macht, wie die idealen
Bedürfnisse der Zeit erkennt. Es gibt keine größere Zeit, keinen schöneren Zu¬
sammenhang, als in der kommenden Gemeinschaft unter den Ersten zu arbeiten.
Das wahre Ideal behält immer Recht, einerlei, ob es gegen die Zeit läuft und an
Ihr zerbricht, oder ob es für die Zeit streitet und sie führt. Wir dürfen aber hoffen,
daß bei der rasenden Entwicklung unserer Verhältnisse die Zeit der Führung für
das Ideal nicht mehr allzu fern ist.
Die Wiedergeburt Deutschlands hat sich in früheren Krisen auch zuerst in den
Tiefen der Seele vorbereitet und ist von wenigen einzelnen in Fluß gebracht worden.
Ergreifend ist es in unserer Zeit zu sehen, wie der Mangel an Führern überall die
Suchenden zusammenführt, die auf den Pfingstgeist warten. Die Gefolgschaft wäre
da, wenn sie nur den Führer hätte. Es werden heutzutage viele Versammlungen
abgehalten, um über das „Führerproblcm" zu diskutieren, etwas fast Komisches
und doch zugleich Rührendes. Ausführende Hände und vaterländische Hingabe
hat Deutschland, wenn es darauf ankommt, wohl genug.
Sind wir eine Zeit der Vorläufer? Wenn man nicht die ältere Generation,
die großenteils für die neue Lage verloren ist, sondern das beobachtet, was in
unserer Jugend heranwächst und zur Gestaltung drängt, dann muß man die Frage
bejahen. Wir haben keine Führer, aber wir beginnen zu wissen, worauf es an¬
kommt, und wenn wir danach handeln, so wird die Generation nach uns vielleicht
den Führer haben.
Völker in unserer heutigen Lage warten auf den Messias, der sie führen soll,
oder auf das technische Wunder, das ihre materielle Lage wieder zum Besseren um¬
wälzt. Aber mit dem Warten ist es nicht getan. Das unmittelbar zu Leistende,
die Bildung der neuen Gemeinschaft und der neuen Persönlichkeit, ist in sich selbst
nicht nur Hoffnung, sondern schon Erfüllung. Verarmung und Verengung der
äußeren Wirkungsmöglichkeit bei innerer Verdichtung der Persönlichkeit, die wieder
von einem festen Zentrum aus lebt, ist die Geburtsstätte eines neuen religiösen
Wefühls. Auch in der Form des Aberglaubens treibt das Sehnen unserer erschreckten
Zeit sonderbare Blüten. Die niederen religiösen Triebe ziehen sich in das Halb-
dämmer zurück, wo das „verfluchte Denken" endlich einmal zur Ruhe kommt, und
so sehen wir schon heute, daß für die rückständigeren religiösen Kulte und Lebens¬
formen eine ganz neue Chance sich ergibt. Die Anschlagsäulen einer Großstadt sind
«in beredtes Zeugnis dafür, wie die Menschen wieder einen Ausgleich im Jenseits
suchen, in Magie, Spiritismus und Zeichendeuterei, ein wilder, verzweifelter Jen-
seitseudämonismus, wie er solchen Zeiten eignet und auch dem Aufstieg echter
und neuer Religiosität als trüber Wirbel voran- oder zur Seite läuft. Ein gewisses
Sinken der Bildung, eine Erschlaffung der kritischen Hemmungen kommt diesem
Treiben zugute. Wie steht es hier um Zukunft und Aufgabe der evangelischen
Kirche, die entweder den Besten ihrer Zeit genugtun muß oder überhaupt nichts
bedeutet? Die deutsche evangelische Kirche ist durch ihre Verkettuung mit dem
nationalen in die Krisis des Nationalgefühls, die wir durchlebt haben, aufs stärkste
mit hineingezogen worden. Wie ihr früher die Feindschaft des Marxismus gegen
das Nationale den Boden abgrub, so wird sie von der Wiedergeburt des Deutsch¬
tums aufs tiefste berührt werden, weil diese Wiedergeburt nicht anders als eine zum
Teil religiöse sein kann. Der Gedanke der Gemeindebildung, einer Gemeinde, die
alle Volksstände umfaßt, wird der Treffpunkt des Deutschen und des Evangelischen
sein. Die Konjunktur ist da und fordert von jedem unter uns unmittelbare Hingabe.
Die großen Religionsstifter hatten das Geheimnis nicht einzigartiger theo¬
retischer Erkenntnis, sondern einzigartiger gemeinschaftsbildender Persönlichkeit. Sie
lebten als erste in einer notwendigen, neuen unsichtbaren Gemeinschaft, und sowie
sie von ihr sprachen, bildete sich diese um sie herum. Das Unmittelbare, Einfache,
Positive und Konzentrische ihrer Forderungen schuf den neuen Körper und zwar
um so viel mehr Körper, je stärker der Geist aus ihnen sprach. Der Glaube, der das
sicherste Zentrum hatte, bildete auch den größten Radius. Das Christentum versteckt
sich in jedem Zeitalter hinter neue Begriffe; es ist unsere Aufgabe, es aus denen
von heute hervorzuziehen und in denen von morgen zu ahnen, nicht es in den ab¬
gestempelten Begriffen von gestern zu predigen. Das Beruhigte, Gesättigte und
Geregelte der evangelischen Kirche vor dem Kriege entsprach dem bewährenden, ge¬
sicherten Charakter unserer damaligen epigonenhaften Aufgaben. Jetzt, na^dem
der Weltkrieg eine neue Kerbe in die Weltgeschichte eingeschnitten hat, sind die
historischen Formen Wittenbergs für sich allein noch weniger als früher ausreichend,
um den ewigen Gehalt des Evangeliums darzustellen und mit dem edelsten Wollen
unseres Volkes zu verknüpfen. Wittenberg muß sich mit Weimar verbinden, und
beide müssen zu jenem Berlin vor 100 Jahren Hinblicken, dem Berlin der nationalen
und idealistischen Wiedergeburt, dem Berlin der Fichte, Scharnhorst, Stein und
Schleiermacher, in dem sich die aus gemeinsamer Wurzel erwachsenen und rin so
vielen gesamtdeutschen Säften genährten Daseinsformen unseres Geistes Wittenberg,
Weimar und Potsdam vereinigten. Die Zeit Metternichs hat zu unserem heute
noch so fühlbaren Schaden diese herrlichste Synthese des Deutschtums abgebrochen.
Ihre Keime heute in einer ähnlichen Lage der ernsten Wiedergeburt zu ent¬
wickeln, ist unsere Aufgabe. Das „Los-von-Verum" — begründet genug, wenn
man das heutige Berlin ins Auge faßt — muß wieder weichen der Sehnsucht nach
einer wahren Hauptstadt des Deutschtums, welche die besten Kräfte aus dem Land
und Volk in sich hineinzieht und eine Seele bildet, so, wie das Berlin von 1810 im
Begriff war, Hauptstadt des Deutschtums zu werden in dem schönen Augenblick, als
die Deutschen glaubten, es gelänge der Nation, in einer Erhebung Freiheit, Einig¬
keit und konzentrische Geistigkeit zu gewinnen. Die Zeit vor hundert Jahren greift
uns heute anders ans Herz als das Zeitalter Karls V. Und vor allen Dingen
braucht die evangelische Kirche heute nicht Führer, die, verzweifelnd an dem alten
Kirchenideal, sich mit der Seelsorge im kleinen abfinden, sondern solche, welche die
Gemeindebildung im größten und weitesten Sinne ins Auge fassen. Glauben Sie
doch nicht, daß Sie die Arbeiter wieder in die Kirche hereinbringen, wenn Sie nicht
gleichzeitig oder früher die Gebildeten wieder in die Gemeinde einzugliedern ver¬
mögen. Das Zeitalter wartet auf neue Manifestationen des evangelischen Ge¬
dankens, die Deutschen verlangen nach neuen Formen der Gemeinschaft, in denen sie
den tiefsten Gehalt unserer geistigen Geschichte wiederfinden, aber alles eingestellt auf
die unmittelbar gefühlten Nöte unserer Tage. Wie die Kirchenväter in einem Zeit¬
alter der Verarmung und Verkümmerung, das keine breit ausgesponnenen
Alexandriakulturen mehr zu tragen vermochte, das antike Erbgut zu Häcksel ge¬
schnitten, diesen zeitgemäßen Auszug aber, um ein neues Zentrum gruppiert, zu
neuer Wirkung brachten, so werden wir den geistigen Schatz unserer Überlieferungen
ini Gedanken an die Gegenwart neu zu mustern haben. Ein Luther unserer Tage
würde vielleicht nicht weniger Werkheiligkeit und Lippendienst bei uns finden als
in seiner Zeit, und er würde vielleicht bei der Scheidung des Lebendigen vom
Toten ein konzentrisches und universales Christentum unserer Zeit unter Ver¬
wendung dessen bauen, was in den vier Jahrhunderten seit seinem Tode dem
deutschen Geist zugewachsen, ist.
Ich ging davon aus, daß unsere Generation, welcher die große Schöpfer¬
kraft etwa im Sinne des Zeitalters vor hundert Jahren fehlt, bei ihrer Sammlung
aller im Volk schlummernden Kräfte die Pflicht hat, nachschöpferisch mit unserem
reichen und noch längst nicht ausgeschöpften geistigen Erbgut zu wuchern. Die Auf¬
gabe, Goethe zu sozialisieren, kann freilich nicht einer unserer vielen heutigen
Snzialisierungskommissionen anvertraut werden; aber man wird auch in Goethe
künftig nicht mehr mißverständlich nur den Individualisten, sondern den großen
Gemeinschaftsbildner suchen. Während sich das Chaos um uns täglich mehrt infolge
der Teufelei von Versailles und der lawinenartigen Gemeinflucht im Innern, kann
man überall in Deutschland die Anfänge einer willigen und frohen, brüderlichen
und zarten Gemeinschaftsbildung bemerken. Es reift etwas unter der Decke heran.
Gegenüber den ungeheuerlichen Zerstörungskräften des Chaos würden diese leisen
Ansätze eines Sichwiederfindens wieder untergehen müssen, wenn unsere Generation
versagt. Die Loslösung des Individuums aus den alten Bindungen kann in ge¬
meinschaftsfeindlichem und in gemeinschaftssuchcndem Sinne geschehen. Verbünde und
Familien sind auseinandergerissen, Arbeitsziele zerstört, die Erhaltung unserer Rasse
in Frage gestellt, aber während die einen aus der Auflösung die Folge ziehen, keine
Verantwortung für die Zukunft mehr zu fühlen und mit der Grundstimmung, „nach
uns die Sintflut" die Triebe des Individuums zügellos und vernichtend ausleben,
Ziehen die anderen umgekehrt aus der ihnen auferlegten Armut und dem neuen
Zölibat in der großen Unsicherheit alles Bestehenden die entgegengesetzte Folgerung,
mit ihrer ganzen Person in der Solidarität des Volkes und des Staates aufzugehen.
In demselben Maße wächst ihre Persönlichkeit. Wenn über dem an sich selber
dahinsterbenden Chaos eine Generation ersteht, die im höchsten Sinne alles nur auf
den Staat bezieht, und eine Staatsvernunft des praktischen Idealismus sich bildet,
dann, aber auch nur dann, können wir den Untergang unserer bisherigen Gemein¬
schaft und Kultur ohne Verzweiflung mit ansehen. Wir erleben einen Bankerott,
und der Bankerott eines Volkes ist eine andere Sache, als der eines einzelnen;
aber wegen eines Bankerottes verzweifelt man nicht, sondern man fängt wieder von
vorne an. Wenn wir unsere spezialistischen Gaben und Fähigkeiten in Deutschland
in einer neuen Gesinnung zusammengießen, so sind wir stärker, als wir heute ahnen.
Was für uns selbst aus der kommenden Arbeit materiell erspringt, bleibt ungewiß.
Wahrscheinlich aber ist es, daß auch die äußere Wohlfahrt der kommenden deutschen
Geschlechter gegründet wird durch das spürbare Wehen des Geistes unserer Gene¬
ration. Was braucht heute Deutschland am dringendsten? Ein Heer, eine Flotte,
Kolonien, Wohlstand, Freiheit, reichliche Nahrung, menschliche Nachbarn, ein wenig
Glück nach so viel Hiobsjahren, alles dies kann es heute noch eher entbehren als das
Eine, das ihm am meisten fehlt, eine Treugemeinschaft innerhalb seiner selbst. Wer
mi ihr mitarbeitet, mit größerer oder kleinerer, aber ganzer Kraft, tut, was Luther,
Msmarck oder Hindenburg zu ihrer Zeit an ihrem Stoff getan.
........ Diesem Reiche droht
Ein gäher Umsturz. Die zum großen Leben
Gefugten Elemente wollen sich
Nicht wechselseitig mehr mit Liebeskraft
Zu stets erneuter Einigkeit umfangen.
Sie fliehen sich, und einzeln tritt nun jedes
Kalt in sich selbst zurück. Wo blieb der Ahnherrn
Gewalt'qer Geist, der sie zu einem Zweck
Vereinigte, die feindlich kämpfenden?
Der diesem großen Volk als Führer sich,
Als König und als Vater dargestellt?
Er ist entschwunden! Was uns übrig bleibt,
Ist ein Gespenst, das mit vergebnem Streben
Verlorenen Besitz zu greifen wähnt.-
...........Wenn du nun,
In frühen Jahren ohne Schuld verbannt,
Durch heil'ge Fügung fremde Fehler büßest,
So führst du wie ein überirdisch Wesen
Der Unschuld Glück und Wunderkräfte mit.
So ziehe denn hinüber! Trete frisch
In jenen Kreis der Traurigen. Erheitre
Durch dein Erscheinen jene trübe Welt.
Durch macht'ges Wort, durch tröst'ge Tat errege
Der tiefgebeugten Herzen eigne Kraft/
Vereine die Zerstreuter um dich her,'
Verbinde sie einander, alle dir,'
Erschaffe, was du hier verlieren sollst.
Dir Stamm und Vaterland und Fürstentum.
le Abtretung Oberschlesiens an Polen ist auch nicht im Interesse der
übrigen Staaten Europas und der Welt; denn sie schafft zweifellos
neue Elemente von Zwist und Gegnerschaft. Die Fortnahme
Oberschlesiens würde Deutschland eine niemals heilende Wunde
schlagen, und die Wiedergewinnung des verlorenen Landes würde
von der ersten Stunde des Verlustes an der glühende Wunsch eines jeden Deutschen
sein. Das würde den Frieden Europas und der Welt schwer gefährden. Es liegt
eigensten Interesse der alliierten und assoziierten Mächte, Oberschlesien bei
Deutschland zu belassen, denn Verpflichtungenaus demWeltkriege
kau nDeutsch land höchstens mit, niemals aber ohne Ober¬
schlesien erfüllen."
So lautete der Schluß des Absatzes über Oberschlesien in den Gegenvorschlägen
der deutschen Regierung vom 29. Mai 1919 gegenüber dem ersten Versailler
Friedensdiktat, das die Abtretung Oberschlesiens an Polen enthielt. Das Auf¬
bäumen, nicht nur der oberschlesischen Bevölkerung selbst, sondern des ganzen
deutschen Volkes, nicht zuletzt gerade gegen diese ungeheure Vergewaltigung, hat uns
dann im zweiten und endgültigen Friedensdiktat die Abstimmung in Ober-
schlesien als eine der wesentlichsten Konzessionen gebracht. Heute trennen uns nur
wenige Wochen von dem Tage, an dem diese Abstimmung stattfinden, an dem ent¬
schieden werden soll, ob überhaupt die Möglichkeit besteht, daß es auch fürderhin
so etwas wie eine deutsche Wirtschaft und ein einiges deutsches Volk geben wird.
Wir sind mit den Sorgen des Tages, mit intensiver sonstiger Arbeit oder auch mit
unwesentlichen anderen Dingen so beschäftigt, daß trotz allem, was gerade in den
letzten Monaten in Oberschlesien geschah, das deutsche Volk in seiner Gesamtheit
beider immer noch nicht den Anteil an dieser entscheidenden Frage nimmt, den sie
verlangen kann und verlangen muß. Werfen wir darum in diesen, der schicksal¬
schweren Entscheidung voraufgehenden Tagen noch einmal einen ganz kurzen Rück¬
blick auf die wichtigsten Phasen der Entwicklung der „Oberschlesischen Frage" seit
den, verhängnisvollen 9. November 1918.
Der Zusammenbruch und die ihm folgende Regierung der Volksbeauftragien
löste in Verbindung mit dem unsäglich Traurigen und Beschämenden, was damals
in unserer Ostmark und in Polen geschah, sofort auch Wirkungen im gläubig katho¬
lischen Oberschlesien aus. Sehr bald erscholl der Ruf: „Los von Berlin!, wo Adolf
Hoffmann Kultusminister ist, wo man uns heiligste Güter schmähen und rauben
will." Schon damals erhob die Freistaatbewegung ihr Haupt, unterstützt durch die
bald zahlreich durchs Land reisenden fremden Agenten und Missionen. Schon
damals entstand auch das Projekt des famosen „Kohlcnstaates", d. h. der Kohlen¬
becken von Oberschlesien, Polen und der Tschechoslowakei; seine Befürworter saßen
besonders im amerikanischen Lager. Am Ende des Jahres 1918 gelang es
indessen der allmählich wieder erstarkenden Autorität der preußischen Negierung,
die Gefahren der Absplitterung fürs erste zu bannen, und an Versprechungen, daß
man in Berlin den oberschlesischen Wünschen mit größter Berücksichtigung ihrer
Eigenart und Selbstverwaltung entgegenkommen wolle, fehlte es nicht.
Dann kamen die eingangs erwähnten Tage des ersten Friedensdiktates von
Versailles und des Aufflammens des nationalen Gedankens, der in der
Folgezeit infolge skrupellosester polnischer Agitation und kommunistischer Ver¬
hetzung zwar überwuchert, niemals aber wieder verschwunden ist.
Die in der endgültigen Fassung des Friedens vorgesehene Volks¬
abstimmung in Oberschlesien ist bekanntlich auf das Eingreifen der
englischen Politik zurückzuführen, die nun doch eingesehen hatte, daß der Bogen
überspannt war. Am Rhein hatte sie den Franzosen gegenüber nachgegeben, aber
im Osten bestand kein englisches Interesse, ein derartig klar zutage liegendes Unrecht
zugunsten Frankreichs zu begehen. Der Wortlaut des die Abstimmung regelnden
Artikels 88 des Friedensvertrages ist seitdem oft zitiert worden und darf hier als
bekannt vorausgesetzt werden. Gerade in diesen Tagen steht er wieder im Vorder¬
grund der öffentlichen Diskussion, weil sich die französische Politik die polnische
These zu eigen gemacht hat und die Heimattreuen Oberschlcsier aus dem Reich nicht,
wie in Ost- und Westpreußen, zusammen mit den eingesessener Oberschlesiern, son¬
dern in Orten des besetzten Gebietes abstimmen lassen will. Die nächsten Tage
werden die Entscheidung in dieser Frage bringen. Hier sei die Hoffnung aus¬
gesprochen, daß die Regierung festbleiben und die Vorschläge, die in Wahrheit
polnisch-französische sind, die uns aber formell ausdrücklich nicht nur im Namen der
französischen, sondern auch der englischen und italienischen Regierung gemacht
wurden, ablehnen wird. Ein Verlassen des klaren und unzweideutigen Wort¬
lautes des Versailler Vertrages in dieser Frage wäre in der Tat ein so verhängnis¬
voller Schritt, daß seine Folgen für die Zukunft gar nicht schwarz genug gemalt
werden könnten. Viel zu wenig beachtet in der Öffentlichkeit wird aber jene andere
Ausführungsbestimmung des Artikels 88, nach der „nach Schluß der Abstimmung
die Interalliierte Kommission in Oberschlesien den alliierten und assoziierten
Hauptmächten zunächst einen genauen Bericht über den Hergang der Stimmabgabo
und einen Vorschlag über die als Grenze Deutschlands in Oberschlesien einzu¬
nehmende Linie einreichen soll, bei dem sowohl der von den Einwohnern ausgedrückte
Wunsch, wie auch die geographische und wirtschaftliche Lage der Ortschaften Berück¬
sichtigung finden soll". Erst auf Grund dieses Berichts bestimmen die alliierten
und assi ziierten Hauptmächte — d. h., nachdem die Vereinigten Staaten fürs erste
weggefallen sind, die Regierungen Englands, Frankreichs und Italiens — die
neue Grenzlinie, Mit anderen Worten sind die genannten Regierungen
nach dein Wortlaut des Vertrages auch an den Vorschlag der Kommission nicht
gebunden und können auch ihrerseits noch bis zum letzten Augenblick Ände¬
rungen an der Grenzziehung vornehmen!
Im August 1919 fand der „erste polnische Aufstand" statt und wurde durch
Reichswehr und Sicherheitswchr schnell niedergeschlagen. Um den, wie vorher schon
erwähnt, niemals zur Ruhe kommenden Bestrebungen nach größerer Selbständigkeit
entgegenzukommen, entschied sich die preußische Regierung sodann im Oktober 1919
dafür, aus dem früheren Regierungsbezirk Oppeln eine selbständige Pro¬
vinz zu machen und ein eigener Oberpräsident sollte die gemachten Versprechungen
in die Tat umsetzen. Seine Wirksamkeit war indessen zeitlich sehr begrenzt, und bald
nach seinem Amtsantritt zogen die Truppen des französischen Generals Lerond,
begleitet von wenigen Italienern und Engländern, in Oberschlesien ein. Die
schmerzliche Zeit der Okkupation begann.
Was Oberschlesien. d. h. seine deutsche und für Deutschland fühlende Be¬
völkerung seitdem erduldet hat, ist nur zum kleinsten Teil in der deutschen Öffent¬
lichkeit bekannt geworden. Vergessen soll es nicht werden; wir kommen darauf
zurück, wenn der Druck der feindlichen Besetzung von Oberschlesien gewichen sein
wird! Besonders verhängnisvoll war es, daß neben den Hauptparolen: Hier
deutsch! — Hier polnisch!, so viele andere nebenher liefen. Wir sprachen schon
von der F r e i se a a t b e w e g u n g, die auch heute noch, und scheinbar nicht-
achtend der Vorschrift, daß am Abstimmungstage die Zettel nur für Deutsch¬
land oder für Polen abgegeben werden sollen, eine rege Agitation entfaltet
und angeblich Hunderttausende zu ihren Anhängern zählt. Es dürfte auch von
sogenannten Kennern Oberschlesiens schwer vorauszusagen sein, wie die versetzten
und irregeleiteten Massen, die diesem Irrlicht folgen, am Abstimmungstage wählen
werden Neben dieser Bewegung ging jene andere Bewegung, die man kurz
A ut o n n in i e b e w e g u n g nannte, die aber ebenfalls in sich die verschiedensten
Strömungen barg. Sie hat, vorläufig wenigstens, ihr formelles Ziel erreicht, nach¬
dem auf den Vorschlag der Reichsregierung und mit Zustimmung der preußischen
Regierung das „Gesetz betreffend Oberschlesien" im Reichstage zur Annahme gelangt
ist, das der oberschlesischen Bevölkerung in einer zweiten Abstimmung die Möglich¬
keit gibt, sich mit der in Artikel 18 der Verfassung vorgesehenen Mehrheit für den
Vundesstaat, d. h. für ein „Land Oberschlesien" zu entscheiden, das dann automatisch
ins L^ben treten würde. Begünstigt wurde diese Entwicklung durch die Verhältnisse
in jenen traurigen Wochen, die dem „zweiten polnischen Aufstand" vom 18. August
dieses Jahres folgten. Die polnische Propaganda hat damals die durch die Duldung,
ja offene Begünstigung der von Frankreich beherrschten Interalliierten Kommission
geschaffene günstige Situation in der skrupellosesten Weise dazu ausgenutzt, um
nach der Methode „mit Zuckerbrod und Peitsche" zu arbeiten. Einmal wurde die
derartigen Methoden besonders zugängliche oberschlesische Bevölkerung auf das
schärfste drangsaliert und eingeschüchtert und gleichzeitig wurden ihr die schönsten
Versprechungen gemacht, die sich in Realitäten umsetzen sollten, falls Oberschlesien
zu Polen käme. Das wichtigste dieser Versprechen war jene famose Autonomie der
„Wojewodschaft Schlesien", in der es angeblich Oberschlesien herrlich gehen und
in der es alle seine Wünsche erfüllt sehen soll. So wurde es zur ernsten Pflicht der
deutschen Regierung und der Parteien, durch die Annahme des erwähnten „Gesetzes
betreffend Oberschlesien" dos von der polnischen Propaganda in die oberschlesische
Bevölkerung getragene Mißtrauen zu beseitigen.
Die Debatten des Reichstages über dieses Gesetz haben aber auch erneut die
Gelegenheit geboten, diewirtschaftlicheBedeutungOberschlesiens
für Deutschland noch einmal auf das dringlichste zu betonen. Auf Zahlen und
Statistiker soll hier nicht eingegangen werden. Auch diese sind dem, der sich nur
einigermaßen mit diesen Dingen befaßt hat, geläufig. Weniger klar ist vielen, wie
sehr sich im besonderen die Kohlenversorgung Deutschlands gegenüber den
Verhältnissen vor dem Kriege dadurch geändert hat, daß die englische über 9 Millionen
Tonnen betragende Einfuhr in Fortfall gekommen ist, und daß von der fast ebens»
großen Einfuhr böhmischer Kohle heute nur noch ein Bruchteil nach Deutschland
gelangt. Wenn aus dem anderen großen Kohlenrevier, dem Nuhrgebiet, die Züge
nach Frankreich rollen, so wird es ohne weiteres klar, welche gesteigerte Bedeutung
die staatliche Zugehörigkeit des oberschlesischen Kohlenbeckens für die deutsche Kohlen¬
versorgung und damit für die deutsche Wirtschaft gewonnen hat. Besonders in der
ausländischen Presse findet man so oft Ausführungen über die angebliche Not¬
wendigkeit der Wiederaufrichtung der nun selbständig gewordenen mittel¬
europäischen Länder. Dabei werden die Statistiker des Jahres 1913! zum
Vergleich herangeholt, an zu beweisen, daß die damals getätigten oberschlesischen
Lieferungen nach diesen Ländern heute wiederhergestellt werden müßten! Man
begeht dabei einfach den kleinen Rechenfehler, den damals vorhandenen und heute
fortgefallenen großen Import von Kohle nach Deutschland unter den „grünen
Tisch" fallen zu lassen! Oft wird im Lager unserer Gegner auch damit argu¬
mentiert, daß man auf die Verpflichtung Polens hinweist, im Falle, daß es
Oberschlesien erhält, uns oberschlesische Kohlen zu denselben Bedingungen zu liefern,
zu denen es sie selbst bezieht. Auch dieses ein ungeheures Trugschluß und nichts
als leere Worte! Vom wirtschaftlichen und finanziellen Teil dieses „Trostes"
ganz abgesehen — gibt es noch einen ernsthaften Politiker oder Wirtschaftler in
Deutschland, der auf polnische Zusagen, Versprechungen, Verträge baut?!
Bekanntlich hat der Außenminister in geschickter und wirkungsvoller Weise
die oberschlesische Frage bei der Konferenz von Spa vom wirtschaftlichen Gesichts¬
punkte aus in die Debatte geworfen. Er schlug damals vor, von der Abstimmung
gänzlich abzusehen, um dem schwergeprüften oberschlesischen Lande endlich Ruhe
und Frieden zu geben und seine Bodenschätze und Arbeit endlich wieder ungehemmt
der deutschen und der europäischen Wirtschaft zuzuführen. Das Wenige, waS
Minister Simons damals erreichte, war die Zusage des englischen Ministerpräsidenten,
daß eine Kommission gebildet werden sollte mit dem Zwecke, diejenigen Ma߬
nahmen borzuschlagen, die eine verstärkte Belieferung der deutschen
Wirtschaft mit oberschlesischen Kohlen zum Ersatz für die außer¬
ordentlichen und für die Dauer unerträglichen Ruhrkohlenlieferungen sicherstellen
sollten. Diese Kommission ist auch tatsächlich zusammengetreten und einer unserer
ersten Kohlensachverständigen ist ihr deutsches Mitglied; anstatt aber ihren Zweck zu
erfüllen, hat sie ihre Zeit mit mehr oder weniger unnützen Diskussionen und
statistischen Debatten verloren. Die deutschen Vorschläge blieben hauptsächlich in-
folge der Gegnerschaft des belgischen und französischen Vertreters mehr oder minder
unbeachtet. - Dazu hielt Polen in seiner immer zunehmenden inneren Unordnung
eine große Anzahl deutscher Waggons nach Entladung zurück und heute stehen wir
vor der Tatsache, daß die Zusage des englischen Ministerpräsi¬
denten in Spa unerfüllt geblieben ist. Dies alles bezieht sich wohl¬
gemerkt aber nur auf die Aufrechterhaltung derheutigen Wirtschaft. Wir sollen
doch aber „wiedergutmachen", wir sollen „wiederherstellen", wir sollen unsere „Pro¬
duktion steigern", wir sollen die deutsche Wirtschaft „wiederaufbauen" — also nicht
nur das heutige halten, sondern nach den Fesseln des Friedensvertrages morgen
und übermorgen ungeheure Mehrleistungen zu Nutzen unserer früheren Feinde
vollbringen!
Eine schon vom 10. Ma dieses Jahres stammende, von führenden deutschen
Wirtschaftlern, darunter auch dem jetzigen Außenminister, unterschriebene Denk¬
schrift sagt an ihrem Schlüsse über die oberschlesische Frage:
„Noch stärkerer Hervorhebung bedürfen die Erörterungen, die sich auf
Oberschlesien beziehen. Sollte wider alles Erwarten die Abstimmung
gegen Deutschland ausfallen und Deutschland auf dieses Gebiet trotz der
engen wirtschaftlichen und kulturellen Verbundenheit verzichten müssen, so
würde der Arbeitszusammenhang der deutschen Volkswirtschaft völlig zer¬
rissen werden. Deutschland würde unter schweren sozialen Notständen, unter
beträchtlicher Verminderung der Bevölkerung im Restgebiet, versuchen müssen,
zu einem neuen wirtschaftlichen Gleichgewicht unter Auflösung seines
industriellen Überbaues zu gelangen. Bei solcher Sachlage würde die
Abgabe eines deutschen Angebots zum Zwecke der Wiedergutmachung h i n f ä l l i g
werden müssen, da die Unfähigkeit Deutschlands zu nennens¬
werten Leistungen ohne Gegenleistung ohnehin für alle Welt erkennbar
sein würde."
Seitdem ist das Wesentliche dieser Ausführungen oft genug wiederholt worden
— und doch blieb es ohne sichtbares Echo bei unseren Gegnern. Jetzt stehen
die ersten Sachverständigenverhandlungen über die von Deutsch¬
land zu leistende Wiederherstellungssumme bevor; so muß erwartet oder besser ge¬
fordert werden, daß von unseren Vertretern das oberschlesische Problem
vom wirtschaftlichen Standpunkt mit aller Schärfe und allem Nach¬
druck dargelegt wird. Daß es wenigstens im Kreise der englischen Regierung
ganz allmählich mehr verstanden wird, als bisher, ergibt sich aus der auf ihren Druck
erzielten französisch-englischen Übereinkunft darüber, daß die zweite Etappe der
Wiederherstellungsvcrhandlungen, d. h. die Konferenz der Minister erst
nach dem Abstimmungstage in Oberschlesien stattfinden soll; daher das plötzliche
Drängen nach baldigster Abstimmung, — daher die Ansehung dieses Termins auf
die ungünstigste, kälteste Zeit des Jahres!
Die oberschlesische Frage erschöpft sich nicht in dem, was bisher gesagt wurde;
sie ist längst neben ihrer völkischen und wirtschaftlichen Bedeutung zu einer An¬
gelegenheit der europäischen Politik geworden. Deutschland hat
Oberschlesien wirtschaftlich notwendig, Polen braucht es nicht. Aber Polen ver¬
langt es aus allgemeinen Machtgelüsten und hinter ihm steht Frankreich. Die
französische Politik, so wie wir sie heute am Werks sehen, will Deutschland militärisch
entwaffnen, politisch entzweien, ethnographisch verkleinern und wirtschaftlich
schwächen. Im selben Maße, wie Oberschlesiens Abtrennung Deutschland gegenüber
diese Ziele fördern würde, soll Polen gekräftigt werden; ähnlich wie die überall
in Europa sich vordrängende und einnistende französische Politik in kleinerem Maße
zwei solche natürliche Gegner wie die Tschechoslowakai und Ungarn gleichzeitig
begünstigt, so träumte sie bis vor kurzer Zeit davon, ein Großpolen zu schaffen
und gleichzeitig vom Süden Rußlands her ein neues Groß-Rußland erstehen
zu lassen. Der Zusammenbruch Wrcmgels hat diese utopischen Pläne zunichte
gemacht. Daß Rußland, das sicher einmal sich vom Bolschewismus befreien und
wiedererstehen wird, das wird ganz gewiß kein Frankreich ergebenes Rußland
sein. Um so mehr muß die französische Politik bestrebt sein, den polnischen Schützling
zu stützen und aus seiner Wirtschafts- und Finanzmisere (7 bis 8 polnische Mark
gleich 1 deutsche Mark!) zu erretten. Und die englische Politik? Ihre frühere
Auswirkung in der Frage der oberschlesischen Abstimmung fand schon Erwähnung.
Gemeinsam mit der französischen hegt sie den Wunsch, Deutschland von Rußland
getrennt zu halten; aber anders als der französische Partner wünscht die englische
Politik ein geschwächtes, uneiniges Nußland, offen für jede Betätigung des eng¬
lischen Handels. Sympathie für Polen besteht in London nur noch in geringem
Grade und auch in Warschau gibt es kaum ein polnisches Witzblatt ohne eine bos¬
hafte Karikatur des englischen Ministerpräsidenten. So bleiben die Endziele sowohl
der französischen, wie der englischen Politik unklar und verworren, vor allem auch
deshalb, weil niemand sagen kann, wie sehr sich vielleicht schon in wenigen Wochen
oder Monaten die Lage im Osten von Grund aus wiederum ändern wird.
Auch für Deutschland handelt es sich deshalb bei der Entscheidung über Ober-
schlesien nicht nur um eine der wichtigsten Fragen seiner Wirtschaft und Politik,
— es handelt sich darüber hinaus immer mehr um eine der großen Ideen, welche
die deutsche Politik der nächsten Jahre beherrschen sollten! Ganz gewiß ist der
Untergrund aller heutigen und künftigen Politik des zusammengebrochenen
Deutschlands das W ir t s es af t l i es e. Nur über Wirtschaftliches geht der Weg
zur Wiederaufnahme und zum Aufbau der Politik mit Unseren bisherigen europäi¬
schen Gegnern sowohl wie mit den Vereinigten Staaten, die, wenn die Zeichen des
Tages nicht trügen, gleichzeitig mit dem Amtsantritt des neuen Präsidenten wieder
aktiver in die Weltpolitik eingreifen werden. Auch dort steht hinter der Politik
der Druck der Wirtschaft, d. h. das Bestreben des amerikanischen Handels, Absatz¬
märkte großen Stils zu finden. Aber so wichtig diese wirtschaftlichen Fäden und
später hoffentlich wieder starke wirtschaftliche Bande auch sein mögen, höher noch
muß für uns stehen die Kunst der Politik, d. h. die Fähigkeit und Mög¬
lichkeit, auf dem wirtschaftlichen Untergrunde politisch zu gestalte n. Und
wiederum höher noch als dieses steht die Macht der Idee, ohne die starke
Kräfte der Völker überhaupt nicht ausgelöst werden können. Kampf um die
Erhaltung des Dents es tu ins im Osten — das muß eine der Ideen
sein, mit denen und an denen sich das zusammengebrochene Deutschland wieder auf¬
richtet — und Oberschlesien wird dabei eine ganz besondere Stellung einnehmen!
Meine Philippika Wider Staatsallmacht und „Menschenrechte" macht Sie neu¬
gierig auf die praktisch-positive Nutzanwendung? Ich sollte meinen, die ergibt sich
von selbst: Selbstbcscheidung des Staates, Herabstimmung der Erwartungen, die
man auf sein unmittelbares Eingreifen in soziale Verhältnisse setzt, Zusammen¬
fassung all seiner Kräfte auf dem Gebiete, auf dem er unbestrittener Herrscher ist,
auf dem des Rechtsschutzes, von dem aus er mittelbar einen weit wirksameren Ein¬
fluß auf die soziale und Kulturentwicklung üben kann. Sie bezweifeln freilich,
daß ihm noch etwas, was des Schweißes der Edlen wert, zu tun übrig bleibe, wenn
er sich auf das Altenteil seiner Nachtwächterpflichten zurückziehe. Sie fragen auch,
wie man gerade dem modernen Staate eine Versäumnis dieser Pflichten vorwerfen
könne, da er doch die „Sekuritcit" — um I. Burckhardts beliebten Ausdruck zu
gebrauchen — auf eine nie zuvor gekannte Höhe gebracht habe. Ich könnte erwidern,
daß die Erlebnisse der letzten Jahre die vielgerühmte bürgerliche Sicherheit im neu¬
zeitlichen Staate als einigermaßen trügerische Eisdecke erwiesen haben, unter der nach
wie vor die dunklen Gewässer Strudeln. Auch möchte ich bitten, das Paradox vom
Nachtwächterpostcn nicht gar zu wörtlich zu nehmen. Mit unbedingter Ausschlie߬
lichkeit auf die Handhabung von Spieß und Horn den Staat beschränken zu wollen,
fällt keinem vernünftigen Menschen ein.
Aber ich will mich aus der Theorie durch einen Sprung in die allerhcutigstc
Freiheit befreien und Ihnen an der brennendsten Frage des Tages einen Fall zeigen,
in dem der Schutz eines wichtigen Rechtes nicht allein versäumt, sondern geradezu
verweigert wird. Dabei wird sich ergeben, daß die bloße Gewährung dieses Rechts¬
schutzes genügen würde, um jene Frage, die Lebensfrage unserer Volkswirtschaft,
befriedigend zu lösen, während alle Versuche unmittelbarer Einwirkung sie immer
heilloser verwickelt haben.
Sein und Nichtsein unseres in den letzten Zügen liegenden Wirtschaftslebens
hängt davon ab, ob wir arbeiten, stetig und mit Anspannung aller unserer Kräfte
arbeiten wollen. Nur durch rastlose Arbeit können wir die Werte schaffen, die wir
zum eigenen Leben gebrauchen und deren Ausfuhr uns den erforderlichen Er¬
nährungszuschuß und neue Rohstoffe zur Fortführung unserer Produktion erkauft,
das Valutaelend und mit diesem zugleich die Not der Teuerung heilt. Das ist eine
so allgemein anerkannte Wahrheit, ist so unendlich oft von allen Seiten und in allen
Tonarten gepredigt worden, daß man sich fast schämt, die abgesungene Melodie zu
wiederholen. Fast ebenso einmütig scheint die Überzeugung zu sein, daß die er¬
drückende Mehrzahl der Arbeiter arbeiten wolle. Alle Sachkenner, die ich zu hören
Gelegenheit hatte, versichern, daß es eine kleine Minderheit ist, die immer neue
Streiks anzettelt und der Mehrzahl durch brutalen Druck, wenn nötig, durch offene
Gewalt ihren Willen aufzwingt. Wenn dem so ist — und unter denen, die es wissen
können, habe ich, wie gesagt, noch keinen gefunden, der es anders wußte —, dann ist
offenbar unser ganzes wirtschaftliches Elend letzten Endes darauf zurückzuführen, daß
die Arbeitswilligen dem Zwange der Streikhetzer schutzlos preisgegeben werden, daß
ihr Recht auf Arbeit gegen das Faustrecht der Minderheit keinen oder nicht hin¬
reichenden Schutz findet. Um Deutschland wieder arbeitsfähig zu machen und damit
seine wirtschaftliche Gesundung einzuleiten, braucht also der Staat hier lediglich
seine selbstverständliche, Ihnen so untergeordnet erscheinende Nachtwächterpflicht zu
erfüllen und rechtswidrige Gewaltanwendung zu verhindern. ,
Das ist gewiß leichter gesagt als getan. Aber um die — bei gutem und
festem Willen nicht unüberwindbaren — Schwierigkeiten der Durchführung handelt
es sich gar nicht. Die Sache liegt so, daß die Regierung gegen den Schutz der
Arbeitswilligen einen unverhohlener Widerwillen zeigt, daß sie ein entschiedenes
Vorgehen gegen die Streikhetze aus politischen Gründen scheut. Allen Klagen über
diesen das Leben des Volkes gefährdenden Mißbrauch zeigt sie taube Ohren und
macht nicht einmal ernstliche Versuche zu bessern. Kann sie sich doch nicht dazu
aufschwingen, aus dem von ihr eingeführten öffentlich-rechtlichen Tarifvertrags¬
verhältnis die notwendige, in anderen Ländern längst Gesetz gewordene Folgerung
zu ziehen und es gegen Bruch unter öffentlichen Schutz zu stellen, d. h. den unter
Verletzung der Vertragsbestimmungen begonnenen Streik und die Anstiftung dazu
— ebenso natürlich auch die entsprechende Vertragsverletzung von feiten der Unter¬
nehmer — mit Strafe zu bedrohen. Die Regierung begnügt sich damit, in langen
Reden, häufigen Zeitungsartikeln und mehr oder minder schönen Plataeer zur
Arbeit zu mahnen, ihren Segen zu preisen und die traurigen Folgen der ArbeitL-
unlust an die Wand zu malen. Sie spricht von Zeit zu Zeit*) einen feierlichen
Fluch gegen das Streikfieber aus, verhandelt gelegentlich, wenn es besonders gefähr¬
lich aussieht, mit den Arbeitern und drückt auf die Unternehmer, die Bedenken
tragen, allzu maßlose Forderungen streitender zu erfüllen.
Natürlich spottet das Übel solcher weißen Salben. Der Streikterror wird
immer dreister — und die Regierung drückt sich um seine Bekämpfung nach wie vor
mit mehr oder weniger Grazie herum. Statt diese Staatspflicht zu erfüllen, gefällt
sie sich in hochfliegenden Weltverbesserungsversuchen: Begrenzung der Arbeitszeit,
Erwerbslosenfürsorge, Sozialisierung der Industrien, Beteiligung der Arbeiterschaft
an der Betriebsleitung und dergleichen mehr. Daß all diese willkürlichen Eingriffe
der Staatsallmacht in das Gesellschaftsleben die Arbeitsleistung nur noch weiter
Herabdrücken, daneben auch den Unternehmungsgeist lähmen müssen, liegt auf der
Hand. Fördern sie wenigstens, was ihr Zweck ist, die Arbeiterwohlfahrt und den
sozialen Frieden? Eine nicht aufzuwerfende Frage angesichts des Jammers unserer
heutigen Verhältnisse! Auf diesem Gebiete sind eben Erfolge nur möglich durch
allmähliche Entwicklung des Gesellschaftslebens.
Auf die Beeinflussung dieser Entwicklung soll der Staat keineswegs ver¬
zichten. So radikal ist, wie gesagt, das Schlagwort vom Nachtwächteramte nicht
gemeint. Was es verlangt, ist, daß jene Beeinflussung organisch sei, daß sie sich
unmittelbarer, gewaltsamer Eingriffe enthalte und sich darauf beschränke, den Rechts-
boden zu bereiten, auf dem der Keim sich zu entfalten vermag. Lassen Sie mich ein
Beispiel dafür anführen, wie auf diesem Umwege, wenn er im rechten Augenblick ein¬
geschlagen wird, der soziale Fortschritt ungleich wirksamer gefördert werden kann
als durch all unsere sogenannte Sozialpolitik.
Die Gelegenheit, die ich meine, ist die Geburt des Kapitalismus. Ich ver¬
stehe darunter den Ausgangspunkt der Entwicklung, die das Kapital durch Los¬
lösung von der Person des Eigentümers zu einer selbständigen Macht sich aus-
wachsen ließ. Denn erst das unheimliche Walten dieser unpersönlichen Macht ver¬
dient den Namen des Kapitalismus mit seinem gehässigen Unterton. Erst mit der
durch das moderne Gesellschaftsrecht ihm verliehenen Fähigkeit, unabhängig vom
Willen des Besitzers, sozusagen auf eigene Faust, zu wirken und Verbindungen ein¬
zugehen, erlangte das Kapital die grenzenlose Bewegungsfreiheit, die Möglichkeit
zu der unerhörten Zusammenballung und rücksichtslosen Kraftentfaltung, die ihm die
Reiche der Welt zu Füßen gelegt hat und die es zugleich in dieser, aller menschlichen
Beziehungen entkleideten Form zu einer so furchtbaren Gefahr für den sozialen
Frieden hat heranwachsen lassen. Die Aktiengesellschaft, die beliebig viele Kapital¬
anteile beliebiger Kapitalisten, unter Ausschaltung der Verlustgefahr für ihr übriges
Vermögen, zu einem selbsttätigen Organismus zusammenschweißt, ist die Wurzel
dieses neuzeitlichen Kapitalismus. Mit der Schaffung des Aktienrechts, das dieser
„anonymen" Gesellschaftsform durch Regelung ihrer Organisation und Einschaltung
von Sicherungen gegen Mißbrauch das öffentliche Vertrauen gewann und den Teil¬
habern die Sicherheit gegen Verlustrisiko bestätigte, wurde der ebenso verheißungs¬
voller wie gefährlichen Pflanze der Boden bereitet.
Damals hatte der Staat die Fäden der Entwicklung in der Hand. Krieg und
Frieden barg der Gesetzgeber in seiner Toga: die soziale Verständigung und den
Klassenkampf. Ahnungslos, welche Entscheidung in seine Hand gelegt war, zog
er den Erisapfel hervor. Er bot dem Kapital die unschätzbare Rüstung der neuen
Gesellschaftsform zum Geschenk, ohne die geringste soziale Gegenleistung zu fordern,
und verhalf ihm dadurch in der Folge zu der erdrückenden Übermacht, die, an sich
eine Herausforderung, aus Neidern Feinde weckend, als Verleitung zum Mißbrauch
doppelt gefährlich, den Kapitalismus zum sozialen Störenfriede gemacht hat. Mit
der bedingungslosen Zulassung des unpersönlichen Kapitals aus dem wirtschaftlichen
Kampfplatze war die verhängnisvolle Entwicklung vorgezeichnet, die zu der sozialen
Krise der letzten Jahrzehnte führen mußte. Diese Folgen waren damals nicht zu
übersehen, überhaupt hatte die herrschende Manchesterlehre den Blick für die soziale
Seite wirtschaftlicher Fragen nicht geschärft. So erkannte man weder die Möglichkeit
noch die Notwendigkeit, durch Abgrenzung des Kampfplatzes, durch Bedingungen,
die man dem neuen, mit einer so furchtbaren Waffe ausgestatteten Kämpfer auf¬
erlegte, die gesamte soziale Entwicklung der Folgezeit — organisch, ohne unmittel¬
baren Eingriff — zu beeinflussen und in friedliche Bahnen zu leiten.
Wie anders hätten die Dinge sich gestalten können, wäre der Staat sich dieser
seiner Verpflichtung rechtzeitig bewußt geworden! Unendliche soziale Werte konnten
für die dem Kapital durch den Schutz seines Zusammenschlusses gewährte Ver¬
günstigung eingetauscht werden. Es bedürfte nur einer Gesetzesbestimmung, die den
Aktiengesellschaften neben den Bedingungen organisatorischer und wirtschaftlicher
Art, an die ihr Vorrecht gebunden wurde, neben der Bildung eines Aufsichtsrats
und eines Reservefonds auch Verpflichtungen gegen ihre Arbeiter und Angestellten
auferlegte. Ein Mindestmaß hätte genügt, dem Gedanken zum Durchbruch zu ver¬
helfen. Für das Wachsen des Keimes hätte das Bedürfnis gesorgt. Und was er¬
rungen wurde, konnte unmöglich auf Aktienbetriebe beschränkt bleiben. Sobald die
Gesellschaftsform sich ihren Platz im Wirtschaftsleben erobert hatte, mußten alle
privaten Unternehmungen ihren Arbeitern von selbst die gleichen Bedingungen ge¬
währen, sofern sie nicht etwa im patriarchalischen Zustande Befriedigenderes zu
bieten verstanden. Der gesamte Arbeiterschutz, das soziale Versicherungswerk, all
unsere vielgerühmte und vielumstrittene Sozialpolitik konnte auf diesem Wege ohne
polizeilichen Zwang, ohne den riesenhaften, mit bedenklichen Reibungen arbeitenden
Apparat, sozusagen selbsttätig erreicht werden. Noch mehr: man hatte die Lösung
jener Kernfrage in der Hand, von der es abhängt, ob der Arbeiter ein am Ergebnis
seiner Arbeit interessierter, vollberechtigter und vollwertiger Produktionsfaktor werden
und ob ihm die Möglichkeit des sozialen Aufstieges beschicken sein soll. Man
konnte ihm die Beteiligung am Gewinn des Unternehmens sichern. Was
lag näher, als sie zur Bedingung der Gesellschaftsgründung zu machen, bei der
ohnehin über Verteilung des Gewinns von Staats wegen sichernde Bestimmungen zu
treffen waren?
Heut freilich ist der Weg verbaut, der zu Beginn der kapitalistischen Ent¬
wicklung gangbar war und zum Ziel geführt hätte. Die Errungenschaften, die
damals mit Staunen begrüßt worden wären, würden jetzt niemanden mehr be¬
friedigen. Wird doch selbst die Gewinnbeteiligung der Arbeiter, die solange ein
Hauptpunkt im Programm des Sozialismus war — mir übrigens.immer als die
gesundeste seiner Forderungen erschienen ist —, gegenwärtig gerade von der Arbeiter¬
schaft mißmutig abgelehnt. Es ist nicht allein das Gefühl, daß jetzt im allgemeinen
nicht viel an Gewinn zu holen sei. Es besteht eine grundsätzliche Abneigung gegen
die Interessengemeinschaft der Arbeiter mit dem Unternehmer des sie beschäftigenden
Betriebes, von der die politischen Führer eine Milderung der Unzufriedenheit und
des sozialen Gegensatzes — der Wurzeln ihrer Macht —, die Arbeiter selbst die
Beeinträchtigung ihrer Freizügigkeit, der eifersüchtig gehüteten Ungebundenheit in
der Verwertung ihrer Arbeitskraft befürchten. Hier liegt in der Tat der entscheidende
Punkt. Die Frage lautet: Sollen Kapital und Arbeit als zwei in sich geschlossene
Mächte kampfbereit einander gegenüberstehen, oder sollen sie, in jedem einzelnen
Betriebe durch gemeinsamen Nutzen verbunden, alle Kräfte an die Erreichung des
gemeinsamen Produktionsweckes setzen? Welche dieser beiden Ärbeitsverfassungen
der Produktion dient, der durch den ständigen Kampf zwischen den beiden Faktoren
ihres Daseins ein schwer zu schätzendes Maß von Kraft entzogen wird, kann nicht
zweifelhaft sein. Ebensowenig, welcher Weg zur sozialen Gesundung führt.
Wenn es uns beschieden ist, die furchtbare Krise zu überwinden, die jetzt unser
Dasein bedroht, so werden wir uns noch einmal vor jenen Scheideweg gestellt sehen.
Daß aus dem gegenwärtigen Chaos der sozialistische Zukunftsstaat geboren werde,
glauben Wohl seine eigenen Anhänger nicht mehr. Möglich, daß wir durch das rote
Meer des Bolschewismus hindurch müssen. Er ist, wie ich Ihnen, bereits nachwies,
das gerade Gegenteil des sozialdemokratischen Ideals: eine neue Form des Obrig¬
keitsstaates. Er erweist sich sogar immer deutlicher als eine Autokratie von nie
dagewesener Brutalität. Daß die Autokraten und die sie umgebenden und beeilt-
flussenden „Sphären" nicht mehr aristokratisch, sondern proletarisch sind, macht das
Gesamtbild in seiner gesteigerten Roheit noch abstoßender, ändert aber am Wesen der
Sache nichts. Halten kann sich der rote Terror auf die Dauer ebensowenig wie
alle übrigen sozialistischen Experimente. Wenn wir eines Tages aus diesem Fieber¬
traum erwachen, dann werden Staat und Gesellschaft vor der Aufgabe stehen, die
individualistische Wirtschaftsform, als die einzige, in der die Menschheit auf ihrer
heutigen Entwicklungsstufe arbeiten und produzieren kann, auf einem Trümmerfeld«
wieder aufzubauen. Dann wird sich vielleicht von neuem die Gelegenheit bieten,
durch organische Beeinflussung der Entwicklung die Übermacht des Kapitals ein¬
zudämmen. Gebe der Himmel, daß dann nachgeholt wird, was in den letzten
hundert Jahren versäumt wurde!
Bezeichnend für das gesellschaftliche Leben der Jahre vor der Errichtung
des Kaiserthrones ist aber auch das allmähliche Entstehen und die weitere Aus¬
bildung einer bonaparteschen Hofhaltung. November 1799 siedelte der Haushalt
des Ersten Konsuls aus der bisherigen bescheidenen Privatwohnung in das Petit-
Luxembourg über, und hier tauchte im Salon Josephinens das so lange verpönt
gewesene Wort „Madame" wieder auf, die „Citoyenne" verschwand — allerdings
erst nach und nach -— von der Bildfläche. Und schon im Februar des folgenden
Jahres vertauschte man das Luxembourg mit den Tuilerien. Bonaparte hatte
nun, wo repräsentiert werden sollte, nichts Eiligeres zu tun, als den Zutritt zum
Salon seiner Gattin allen Vertreterinnen einer laxen Moral zu untersagen, was
Josephine, die mit dieser unstäten Welt einigermaßen verwachsen war, viele Tränen
kostete/ selbst Frau Tallien, mit der sie jahrelang das gleiche Interesse intensivsten
Lebensgenusses verbunden hatte, wurde veranlaßt zu weichen, um so mehr, als
steh ihren früheren Sünden neuerdings das Verhältnis zu Herrn Ouvrard gesellte.
Eine einzige Ausnahme mußte der Konsul bei diesem Reinigungsprozesse aller¬
dings machen: Josephine selbst blieb. Dann aber galt es, eine neue Hofgesellschaft
M konstituieren. Die Guillotine hatte glücklicherweise einen Tanzmeister von Ruf,
Herrn Despr6aux, verschont, dem, da er als lebendiger Anstandskodex galt, sich
anvertraute, was in aller Eile ein formvollendeter Kavalier oder eine große
Dame werden wollte/ und neben ihm spielte die Rolle der Pythia in allen
Fragen des guten Tones Frau Campan, einst erste Kammerfrau Marie Antoinettes.
Sie kramte eifrig in dem Schatze ihrer Erinnerungen, um die alte Höfordnung
der Königszeit möglichst vollständig zu reproduzieren/ und auch durch Frau
von Montesson, die sich den neuen Verhältnissen gegenüber bald nicht mehr völlig
ablehnend verhielt, ließ Bonaparte sich gern belehren. Im März 1802 wurden
die ersten, die neue Etikette regelnden Vorschriften erlassen, die Dienerschaft erhielt
Livree, und bald hörte man von großen Diners, zu denen die Mitglieder deS
diplomatischen Korps, die hohen Staatsbeamten und die Generäle mit ihren
Frauen erschienen. Die intimsten Geheimnisse höfischer Förmlichkeiten waren
allerdings im Ozean der Revolution versunken, und den von manchem schmerzlich
vermißten Schatz zu heben, erforderte Zeit.
Wie in allen Perioden der Weltgeschichte spielte aber auch während der Tage
des Konsulats die Liebe eine Rolle? genußfreudig auf diesem Gebiete, waren die
Menschen damals nicht anders geartet als die Vor- und die Nachwelt. Selbst¬
verständlich blühten bei geselligen Zusammenkünften jene harmlosen Scherze, die
ihren Höhepunkt in dem Einlösen von Pfändern durch Küsse fanden? aber eS
gab doch auch in den besseren Kreisen Frauen und Mädchen genug, die intensiver
genießen wollten und sich legitim oder, wenn das nicht glückte, illegitim mit einem
Manne verbanden. Manchmal trieb die Liebe ganz wunderbare Blüten: wie vor
kurzem der Herzog von Bourbon in einem offenkundiger, nichts weniger als
geschwisterlichen Verhältnis zu seiner Schwester, der Herzogin du Maine, gestanden
hatte, so unterhielt jetzt die schöne Frau v. Savary, spätere Herzogin von Rovigo,
ebenfalls zarte Beziehungen zu ihrem Bruder, einem Herrn v. Faudoas, und Theresia
Tallien soll dieselben Pfade gewandelt sein. Ein origineller Kauz war auch der reiche
Bankier Beaujon, der, als er, hochbetagt, auf den Verkehr mit Maitressen ver¬
zichten mußte, sich doch noch ein Dutzend „boreeuses" — Wiegerirmen — hielt,
schöne Frauen, die ihn unter dem Gesänge von Schlummerliedern in Schlaf
schaukeln mußten, eine Prozedur, durch die dem lüsternen alten Burschen ver¬
mutlich liebliche Bilder aus der Vergangenheit vor die Seele gezaubert wurden.
Auch innerhalb der Armee florierte begreiflicherweise die Liebe? in den Feldlagern
fand man nicht nur Gattinnen und Maitressen der Offiziere — der General
Bonaparte hatte 1796 während des italienischen Feldzuges ein schlechtes Beispiel
gegeben, indem er Josephine zu sich kommen ließ —, sondern auch ganze Scharen
sonstiger Frauen und Mädchen, die, eine Art Kriegsdrohnen, die Lebensmittel
aufzehren halfen und überdies Krankheiten unter den Mannschaften verbreiteten.
Eine wunderliche Ehe schloß der eine Zeit lang in Ägypten kommandierende
General Menou: er heiratete die ihrem Vater abgekaufte hübsche junge Tochter
eines Bademeisters und wurde sogar ihr zu Liebe Muselmann? als sie aber noch
nicht lange die Zwanzig überschritten hatte, sah sie aus wie eine wohlbeleibte
Hökerin und zeichnete sich durch nichts mehr aus als durch grenzenlosen Stumpfsinn.
Auch dem Ersten Konsul war natürlich die Liebe nicht fremd geblieben?
immerhin konnte aber der schon kriegserprobte General für einen im Minnedienste
noch völlig unausgebildeten Rekruten gelten, als er zur Direktorialzeit die graziöse
und elegante Josephine v. Beauharnais kennen lernte, die, von finanzkräftigen
Freunden unterstützt, deren Beihilfe sie durch Gefälligkeiten anderer Art wett zu
machen wußte, die Trauer um ihren guillotinierten Gatten mit Vorliebe auf Bällen
und in Konzerten zur Schau trug und Bonapartes bald entzündete Glut zu immer
höheren Flammen schürte, bis er der mittellosen und verschuldeten lustigen Witwe
die Hand zum Ehebunde reichte, die nur allzu gern ergriffen wurde, weil diese
Verbindung ihr und ihren beiden Kindern wenigstens das tägliche Brot sicherte.
Geduldig ließ der Hochbeglückte es über sich ergehen, daß Josephinens Hündchen
Fortuns, ein etwas mißratener Mops, der gewohnt war, im Bette seiner Herrin
ihr zu Füßen zu nächtigen, seinen Unwillen über die mißliebige Störung der
gewohnten Behaglichkeit dadurch dokumentierte, daß er den neuen Teilhaber der
Ruhestatt kurzer Hand ins Bein biß,- geduldig ertrug er selbst die absolute Gleich¬
gültigkeit seiner jungen Gattin, die ihm den „Pulsschlag eines Marmorbildes" zu
haben schien,- erst als unbestritten festgestellt war, daß die Angebetete sich einem
schmucken Husarenoffizier, Herrn Hippolyte Charles, gegenüber weit weniger zurück¬
haltend zeigte, änderten sich die Empfindungen des aus allen seinen Himmeln
Gestürzten, und als Erster Konsul ließ er sich in den Tuilerien eine Garvon-
wohnung Herrichten, wo er, vor eifersüchtigen Blicken geborgen, allerhand Freundinnen
empfing. Manchmal freilich markierte Josephine, in steter Angst vor der angedrohten
Scheidung lebend, die Tolerante: den Schauspielerinnen Mademoiselle Duchenois
und Mademoiselle Georges, deren zarte Beziehungen zu ihrem Gatten ihr zweifellos
nicht unbekannt waren, schenkte sie sogar kostbare Gewänder, wie Witzbolde erzählten,
»um ihre Nacktheit zu kleiden".
War aber für die Anschauungen, die zur Zeit des Konsulats über Liebe und
Liebesleben in den tonangebenden Sphären herrschten, die Ehe Bonapartes
charakteristisch, so nicht minder diejenige seines Bruders Lucian. Dieser hatte
seine erste Frau durch den Tod verloren und kam zu der zweiten in etwas un¬
gewöhnlicher Weise. Ihre Bekanntschaft machte er auf Schloß M6r6ville bei dem
Grasen Laborde. Die junge und hübsche Alexandrine Jouberthou war bei der,
sobald es sich um sexuelle Fragen handelte, absoluten Vorurteilslosigkeit ihres in
Konkurs geratenen Gatten und dessen Bedürfnis, seinem an chronischer Auszehrung
leidenden Geldbeutel neuen Inhalt zuzuführen, des Schloßherrn Geliebte. Nun
kamen einst zum Teil in Gesellschaft ihrer Maitressen als Gäste des Grafen
erschienene Herren — auch Lucian war' darunter — nach einem lukullischen Mahle
auf den die Sinne kitzelnden Gedanken, eine Art Spiel zu treiben, das Kinder
als „Bäumchen verwechseln" zu bezeichnen Pflegen,' die Rolle der Bäumchen über¬
nahmen aber hier die Damen. Beim Verlosen fiel Frau Jouberthou Lucian
Bonaparte zu, beide fanden aneinander Gefallen, und bald hatte die kluge, im
Verkehr mit Männern gut geschulte und nach Höherem strebende Frau den Bruder
des Ersten Konsuls so sicher in ihrem geschickt geknüpften Netze, daß er sie nach
dem baldigen Tode ihres Gatten heiratete. Die Vorwürfe Napoleons waren
wirkungslos,- nicht mit Unrecht durfte Lucian darauf hinweisen, daß das Schicksal
der einstigen Frau v. Beauharnais mit demjenigen seiner Alexandrine eine ganz
frappante Ähnlichkeit habe. Konnte in diesem Falle der Erste Konsul den Eintritt
einer Dame von überaus lockerem Lebenswandel in seine Familie nicht hindern,
so wußte er bei anderer Gelegenheit eine stark kompromittierte Persönlichkeit den
Hofzirkeln fern zu halten. Es handelte sich um die schöne Frau Visconti, mit
der der General Berthier in wilder Ehe lebte. Dieser spähte nach einer Möglichkeit
aus, seiner ehrgeizigen Freundin den Zutritt zu den Salons der Tuilerien zu
vermitteln, und glaubte sie bei folgendem Anlaß gefunden zu haben. Als Karoline
Vonaparte sich Anfang 1800 verheiratete, schenkte Napoleon dieser seiner Schwester
ein Diamantenhalsband aus dem Juwelenschatze Josevhinens, deren Schulden er
eben unter großen Opfern bezahlt hatte. Diese, über die Beraubung verstimmt,
Keil sich durch den heimlichen Ankauf einer weit schöneren Kette — die Perlen,
"us denen sie zusammengesetzt war, entstammten dem Schmuckkästchen Marie
Antoinettes — schadlos, und die dafür dem Juwelier Foncier zu erlegende Summe
entnahm der von ihr ins Vertrauen gezogene Berihier ungeniert den für die
Militärlazarette bestimmten, zu seiner Verfügung stehenden Kapitalien, in der
Hoffnung, diese Gefälligkeit werde Frau Visconti zu der ersehnten Vergünstigung
verhelfen Aber der Erste Konsul blieb allen Bitten Josephinens unzugänglich,
zumal außerordentlich pikante Briefe, die der verliebte General von Ägypten aus
an seine Trauteste gerichtet hatte, britischen Spionen in die Hände gefallen und
kürzlich von England aus gedruckt über halb Europa verbreitet waren.
Nicht minder wie die Herzensangelegenheiten Berthiers, des ersten militärischen
Gehilfen Vonapartes, wirbelte aber auch ein Liebesverhältnis Talleyrands, seiner
rechten Hand in politischen Dingen, Staub auf. Warmer Neigung fähig und
bedürftig, huldigte dieser den Frauen mit aufrichtiger Hingabe, so auch einer
Madame Grant, die als seine Maitresse bei ihm im Ministerium des Auswärtigen
wohnte. Als aber nach und nach die bei dem Ersten Konsul akkreditierten Ver¬
treter der fremden Mächte in Paris erschienen, bereiteten diese Zustände
Schwierigkeiten) die Damen des diplomatischen Korps verspürten, wie zu ver¬
stehen, keine Neigung, der Geliebten eines Ministers ihre Aufwartung zu machen.
Da griff denn Bonaparte energisch ein und wies Talleyrand an, die Freundin,
falls er sein Amt behalten wolle, entweder zu entfernen oder zu heiraten. Man
sieht, die Zuk der Ungebundenheit war vorbei,' es wehte bereits Hofluft in Paris.
Der so Gedrängte aber, der sich weder von Frau Grant trennen noch seiner
glänzenden, Stellung und allen mit ihr verbundenen pekuniären Vorteilen entsagen
wollte, faßte den Entschluß, die Beanstandete zu seiner Gattin zu machen, und
damit war das Problem gelöst: einer Frau v. Talleyrand konnten die fremden
Damen sich ohne jedes Bedenken vorstellen lassen, selbst wenn sie eine bewegte
Vergangenheit hatte. Und auf eine solche blickte die verflossene Madame Grant aller¬
dings zurück. Geboren in dem vorderindischen Trankebar, war die nunmehrige
Exzellenz, die, eben erwachsen, bereits aus ihren Reizen Kapital zu schlagen ver¬
stand, in Batavia als Tänzerin aufgetreten,' hier verliebte sich ein Kaufmann
namens Grant in die sechzehnjährige und heiratete sie, ließ sich aber bald wieder
von ihr scheiden wegen einer Episode, deren Held Sir Philipp Francis, der Verfasser
der vielgenannten „Juniusbriefe", war. Längere Zeit in der Welt umher-
abenteu rud, lernte die Heimatlose schließlich irgendwo Talleyrand kennen, der
die „schöne Jndierin" mit nach Paris nahm,' wer ihr von der Lebrun-Vig^e ge¬
maltes Bild sieht, wird das verstehen. Man bewunderte an ihr in erster Linie
den Teint, der wie Perlmutter und Rosen leuchtete, dann die blauen, von schwarzen
Wimpern bedeckten Augen, vor allem aber die üppigen Wellen des wundervollen
Haares, das sie Wohl ihren Freunden zu Liebe auflöste, um sich ihnen, wenn
wir den Memoiren der Comtesse de Boigne Glauben schenken dürfen, in diesem
natürlichen Mantel, andere Kleidung verschmähend, zu zeigen. Aber diesem s»
bevorzugten Wesen fehlte eins: das Gehirn, und wenn unwissende Frauen auch
sehr wohl anziehend sein können, dumme sind es selten und keinesfalls auf die
Dauer. Talleyrand pflegte denn auch, seine befremdende Eheschließung gewisser¬
maßen entschuldigend, zu äußern: „Eine Frau, die Geist hat, kann ihren Mann
leicht bloßstellen, eine dumme kompromittiert nur sich selbst."
Die Charakteristik der während eines Teiles der Konsulatszeit an hervor-
ragender Stelle stehenden Dame zu vollenden, mögen ein Paar kleine Erzählungen
dienen, die bald nach ihrer zweiten Verehelichung in Paris zirkulierten. Als sie
einst die prachtvollen Diamanten der Fürstin Dolgorucki bewunderte und diese
meinte, es würde ihr doch ein Leichtes sein, ihren Gatten zum Ankauf eines ähnlichen
Schmuckes zu bewegen, erhielt sie die Antwort: „Glauben Sie vielleicht, ich hätte
einen Papst geheiratet?" Und den berühmten Kunstkenner und Agyptologen Denon,
der nach einem längeren Aufenthalte im Lande der Pyramiden ein Buch über
dieses geschrieben hatte, fragte sie einst, ob er denn auch seinen treuen Freitag
mitgebracht habe. Sie verwechselte das Werk des Gelehrten mit dem „Robinson
Crusoe". Man kann verstehen, daß es unter solchen Umständen boshaften Leuten
Spaß machte, sich bei der törichten Frau nach ihrer Heimat zu erkundigen, nur
um die Antwort zu vernehmen: ,,^s suis ä'Iaäs". „Vincis" heißt aber bekanntlich
„Pute". Talleyrand hatte bei dieser Beschränktheit seiner Gattin gewiß den
lebhaften Wunsch, sie möge in Gesellschaft den Mund nur zum Essen öffnen, und
sicherlich meinten viele, der interessantere Teil ihrer Unterhaltung sei die Sprache
der schönen Augen. Und doch brachte die geistig vernachlässigte Frau das alte
Sprichwort zu Ehren, nach dem auch eine blinde Henne mal ein Korn findet.
Als der Minister seine junge Gattin bei Hofe vorstellte und der Erste Konsul ihr
gegenüber die Erwartung aussprach, die jetzige Frau Talleyrand würde das
Verhalten der einstigen Madame Grant in Vergessenheit bringen, entgegnete die
Harmlose, völlig unbefangen mitten ins Schwarze treffend, sie werde sich in jeder
Weise die Bürgerin Bonaparte zum Muster nehmen. Möglich, daß es diese Antwort
war, die den Gewalthaber veranlaßte, einst an seinen Minister die Frage zu
richten, ob die von ihm zur Gemahlin Erkorene Esprit habe, worauf der also
Interpellierte weniger boshaft — er hätte nicht ganz mit Unrecht antworten
können: „Genau so viel wie die Ihre" — als geistvoll replizierte: „So viel wie
eine Rose".
Wir sehen, die Jahre des Konsulats zeigen gesellschaftliche Typen, die näher
zu betrachten sich Wohl verlohnt.
uf keinem Gebiete künstlerischen Schaffens lassen sich vielleicht so
innige Verbindungslinien herstellen mit der Gegenwart als gerade
bei dem Roman. Sei es nun der Roman nach der alten guten Auf¬
fassung, dem vor allem ein breiter Untergrund in der Umwelt zu
eigen sein muß, oder sei es der Roman nach der Meinung der
^ung,lxn, der nur einen wirren Abriß von Eindrücken, Stimmungen bietet und
gerade auf diese Art (allerdings unfreiwillig) ein deutliches Bild der Zeit gibt.
Weder in der Malerei, der bildenden Kunst, noch in der Musik liegen die gegen¬
seitigen Abhängigkeiten so klar zutage, wie bei dem Roman, der schon allein durch
sein äußerliches Gewand, die Breite, alle richtigen Möglichkeiten dazu enthält. Und
auch in Bücher, die scheinbar abseits vom Tage zu liegen scheinen, spielt die
Epoche, in der das Werk geschrieben wurde, immer wieder deutlich hinein, äußert
sich in Ansichten, Meinungen, Werturteilen, die immer wieder durchaus abhängig
sind von der Gegenwart.
Daß die Jetztzeit nun scheußlich, grauenvoll ist, daran zweifelt heute niemand
mehr, der die letzten Jahre über die Augen offen hielt und ein hörendes Ohr für
seine Zeit hatte. Man kommt nicht darüber hinweg, sich auch mit der Zeit aus¬
einanderzusetzen, wenn man auf den deutschen Roman der Gegenwart hinweisen will,
allzu enge ist die Verbindung und ihr Verständnis bedingt sich gegenseitig.
Gekennzeichnet ist die Epoche, in der zu leben wir das wirklich zweifelhafte
Vergnügen haben, vor allem durch ihren schrankenlosen Materialismus. Man ver¬
stehe recht, Materialismus in der wahren Wertbedeutung, als Anbetung des einen
Götzen: Materie. Es wäre völlig falsch, den Krieg allein dafür verantwortlich zu
machen, er brachte nur in seinen Folgeerscheinungen den Höhepunkt einer Ent¬
wicklung, die sich schon seit Jahrzehnten vorbereitet hatte.
Hand in Hand damit geht eine scheinbar unaushaltbare innere Auflösung,
Zersetzung. Eine Zeit, die so völlig entgöttert ist wie die unsere, brauchte
dringender denn je eine starke Hand, nicht nur im Sinne staatlicher Autorität
gemeint, sondern vor allem im Geistigen, vielleicht sogar im Religiösen. Mannig¬
fache Spuren solcher Bewegungen lassen sich bereits heute aufzeigen. Eine Sehn¬
sucht geht durch das deutsche Volk, ein schwärmerischer Hang zum Mystischen,
Geheimnisvoller. Der Mensch, der sich drückend in die engen Grenzen seines
Wesens eingekerkert fühlt, will hinaus über diese Grenzen seines jammervollen All¬
tages. Es ist durchaus nichts Neues. Auch in der Gegenwart hat es bereits sein
Beispiel in Amerika gefunden. Die Heilslehre der „christlichen Wissenschaft"
drüben, die immer mehr Anhänger findet und auch bereits in Deutschland Fuß zu
fassen beginnt, spricht deutlich dafür. Nichts anderes ist diese Bewegung, als der
Wunsch, ein Gegengewicht gegen den Materialismus zu schaffen. Gerade in der
jüngsten Zeit hielten doch in Deutschland einige Apostel der „christlichen Wissen¬
schaft" Vorträge über ihre neue Glaubensauffassung und sollen damit tiefe Wirkungen
erzielt haben. In Berlin befindet sich doch sogar eine Art Niederlassung dieser
Jünger, ein „Lesezimmer der christlichen Wissenschaft" in der Dessauer Straße.
Besonders die Frauenwelt zeigt sich für diese neuen religiösen Strömungen empfäng¬
lich, gerade jene Frauen des Mittelstandes, die während des Krieges und in der
Nachkriegszeit am meisten zu leiden hatten, suchen ihre Zuflucht nun darin; eine
Art von Fatalismus hat sich heute mancher deutschen Hausfrau bemächtigt. Eine
bedeutsame Erscheinung, die auch hierher gehört, ist das Überhandnehmen okkul¬
tistischer, spiritistischer Vorträge in den deutschen Landen. Aus alledem spricht doch
unbedingt ein neuer Zug zum Mystischen, Geheimnisvoller.
Und daß gerade diese Zeit, die Gegenwart, in der wir leben, mehr vielleicht
denn je, einer starken, aufrichtenden Kunst bedarf, die weite Kreise des Volkes zu
«rfassen vermag, das leuchtet Wohl auch sogleich ein. Vor allem wäre hier der
Roman berufen, rettend, aufbauend einzugreifen. Was aber sehen wir, welche Art
von Kunst und Scheinkunst wird heute in Massen gedruckt und mit dem Hilfsmittel
einer laut trompetenden Reklame verbreitet? In welchem Zusammenhange stehen
nun diese neueren Werke vor allem heute mit dem deutschen Volke?
Diese Frage beantwortet sich nahezu von selbst. Und doch gibt es keine«
anderen Weg zu einer inneren Gesundung, als den über das eigene Volk.
Viel, sehr viel wird heute geschrieben, wie wenig aber davon ist wertvoll
wenn man es von dem durchaus gesunden und absolut nicht unkünstlerischen Stand-
Punkt (wie von der Gegenseite immer gern mit Spott geltend gemacht wird) be¬
urteilt; inwieweit steht dieses Buch in einem Verhältnis zu meinem Volke, in einem
nutzbringenden, aufbauenden?
Zweierlei Bücher kann man unterscheiden in ihrer Beziehung zur Gegenwart.
Jene, die sich mit dieser kritisch auseinandersetzen, denn das bedingt schließlich jede
Zeitschilderung, und dann jene, die in ihrer Zerfahrenheit, in ihrem Suchen nach
verschrobenen Stoffen, in der Darstellungsart, in ihrer Gesinnung, richtige —
traurige Kinder ihrer Zeit sind. Die kniekurzen Röcke einer verhurten gro߬
städtischen Weiblichkeit finden ihren Gegenpol in einer schamlosen, völlig un¬
künstlerischen Erotik, die ebenso Lockmittel für den Käufer sein soll wie lockender
Waden Pracht, und das rücksichtslose Schiebertum unserer Zeit findet ebenso sein
literarisches Gegenspiel in Romanen, die sich kühn über alle künstlerischen Bedenken
hinwegsetzen, nur auf der Jagd sind nach irgendeinem besonderen Stoff, einer
Sensation. Und der sichtbare Erfolg all dieser Machwerke äußert sich dann vor allem
in einer verblüffenden Ähnlichkeit mit der durchschnittlichen Filmware, man fragt
sich da mit Recht: warum wurde dieser Stoff gerade zu einem Roman „verarbeitet",
ein Filu hätte das ebenso gut, ja vielleicht besser getroffen I
Ein besonderes Wort wäre hier wohl auch über den nationalen Roman im
allgemeinen zu sagen. Daß der innere Gesundungsprozeß, der heute vor allem
anzustreben ist, nur über das eigene Volk erfolgen kann, wurde bereits erwähnt.
Nun stellt diese Gesundung, dieser Weg, vor allem eine Einkehr, eine Rückkehr zu
den Urbestandteilen alter deutscher Dichtung dar. Was wir heute vor allem von
dem deutschen Roman verlangen müssen, ist, daß er gesund sei, daß er von einer
lebensbejahenden Anschauung getragen werde. Man darf darunter keineswegs eine
Einschränkung des Stoffgebietes des deutschen Romans erblicken, alles, jedes Gebiet
siehe ihm frei, es ist sicherlich wünschenswert, wenn Verfallserscheinungen unserer
heutigen Kultur ihre Former und Gestalter finden, aber gesund sei das Ethos der
Romane. Sind sich doch wohl die wenigsten der schreibenden und dichtenden Ver¬
sasser bewußt, welche Macht in ihre Hände gegeben ist und welche Verant¬
wortung eben daraus für sie erfließt. Man sage nur ja nicht, Kunst sei Kunst,
habe mit Ethos, Nationalgefühl gar nichts zu tun, die hohle Phrase, die einst so
diele auch sonst gesunde Köpfe verwirrte und natürlich aus Frankreich kam. Das
berüchtigte „I'art pnur I'art" gehört heute, gottlob, zu den erledigten Schlagworten.
Wann wird man es aber endlich überall begreifen lernen, daß Volkstum und Kunst
Zwei unlösbare Bestandteile eines Wesens sind, daß jeder Künstler mit seiner Sitt¬
lichkeit, seiner Art der Ausfassung und Darstellung innerhalb der Grenzen seines
Volkstums bleiben muß, soll etwas Ganzes und Wahres daraus entstehen. Den
Wahn des Internationalismus, unter dessen Bann hinte leider noch immer der
deutsche Arbeiter steht, wollen wir von unserem deutschen Schrifttum fern¬
halten! Zu sammeln gilt es heute die leider so spärlich gesäten gesunden
Kräfte im deutschen Volke, kein Pessimismus kann uns da helfen, keine verstandes-
wäßigen Triumphe, keine erklügelten Hirnarbeiten, der Weg führt einzig und allein
über die reine Freude an Menschtum und Welt ins Freie. Das deutsche Volk täte,
heute mehr denn je, gut daran, wieder zu Goethe und Schiller zurückzufinden, diese
waren doch schließlich auch noch wer, trotz ihrer deutlichen Begrenzung durch ihr
Volkstum! Damit sei durchaus keine Nachahmung dieser auch mit ihrer Zeit ver¬
bundenen Werke verlangt, sondern nur eine Annäherung an den Geist, dem diese
Werke ihr Entstehen verdanken. Der nationale Gedanke, das nationale Ethos ver¬
mag es, wie nicht bald eine andere Triebkraft, den Menschen aus den Niederungen
seines Alltags, seiner haftenden Sorgen, dem lähmenden Bewußtsein, in einer
fürchterlichen Gegenwart zu leben, emporzureißen.
Was heute aber zum größten Teile in „Literatur" macht, Literatur heißt,
das hat nieist alle Zusammenhänge mit seinem Volke verloren, ist eine wurzellose
Sache der vielen schreibenden Heimatlosen, die sich in den tollsten Sprüngen gefallen,
zusammenhängend wie die Kletten, einer des anderen frischgelegtes El getreulich
begackern und vor allem ihre diebische Freude daran finden, den deutschen Philister
zu überraschen, zu entrüsten, und aus diesen Gründen die eigenen Bücher von diesem
kaufen zu lassen. Die Faselei von der Internationale in der Kunst, von allgemeiner
Menschenverbrüderung auf diesen Gebieten, ist schon an und für sich stets hohles,
unmögliches Geschwätz gewesen, hervorgerufen nur durch die Angst vor dem
völkischen Erwachen des Deutschen. Damit er nur ja nicht einmal erkenne, welche
ganz und gar minderwertige Gesellschaft ihm seit Jahr und Tag das vormacht, was
er Literatur zu nennen gewöhnt ist. Denn der Weg zur Menschlichkeit führt eben¬
falls nur über das eigene Volk, solange aber der Haß in dieser Art, vor allem der
Haß gegen alles Deutsche, die Welt regiert, so lange haben wir es doch, bei Gott,
nicht nötig, die, Hemd zu lecken, die uns täglich und stündlich ins Antlitz schlägt!
Haben es nicht nötig, den fremden Literaturen nachzulaufen und darüber beglückt
zu sein, daß wir nun endlich wieder, seit der „böse Krieg" vorbei, die Schöpfungen
französischen Geistes genießen können. Wir brauchen das doch gar nicht! Man soll
uns keine Märchen erzählen! Uns nicht noch ärmer machen, als wir ohnehin schon
geworden sind. Unverlierbar sind die Schätze deutschen Geistes- und Gemütslebens,
niemand kann , uns diese rauben, wenn wir selbst sie nicht verschleudern, in einer
wahnsinnigen Zerstörungslust in uns selbst vernichten!
Sind wir doch heute schon so weit, daß unsere führenden „deutschen" Literatm¬
zeitschriften all das mit gallbitterem Spotte abzutun suchen, als unkünstlerisch,
tendenziös verhöhnen, was irgendwie eine Gesinnung zeigt oder gar — das größte
aller Verbrechen — sich untersteht, auch nur ganz leise völkisch angehaucht zu sein!-
Ein wüstes, schamloses Leben, wie draußen auf den Straßen, wo Schicber
tum und Gemeinheit täglich Triumphe feiern, macht sich heute auch im „deutschen
Dichterwaldc", wie es einmal so schön hieß, bis zur Unerträglichkeit gesteigert,
bemerkbar.
Die Jünger des heiligen „Data" lassen ihr Stottern vernehmen, die Sinn¬
losigkeit des Expressionismus gräbt sich schön langsam auch ihr eigenes Grab, nach¬
dem diese „Ausdruckskunst" es völlig verlernt hat, irgend etwas auszudrücken, wohl
vor allem deshalb, weil gar nichts vorhanden ist, was ausgedrückt werden könnte!
Der Verlag Kurt Wolfs sammelt die meisten dieser deutschen Dichter, manche, so auch
die offenkundiger planvollen Schweinereien von Corrinth, der nur so nebenher
etwas verrückt tut, haben zu Georg Müller in München gefunden, auch der alte
Fischer in Berlin hat seit einiger Zeit sein Herz für den Expressionismus entdeckt
und gab sogar ein Sammelbuch allein für diese Kunstgattung heraus. Mancher
andere deutsche Verleger machte diese Mode leider auch mit.
Eine Wohltat ist es da, wenn ein so altangesehenes Verlagshaus wie das
„Bibliographische Institut" in Leipzig sich entschlossen hat, einen belletristischen
Verlag seinem Unternehmen anzugliedern, der einzig und allein den Zweck haben
soll, der aufbauenden, wahrhaft deutschen Kunst zu dienen, die vor allem dazu
berufen ist, unserem Volke aus den undurchsichtigen Wirren der Gegenwart hinaus-
und emporzuhelfen. Andere Verlagshäuser, die sich frei von all diesem Unräte er¬
halten haben (die Liste macht durchaus keinen Anspruch auf Vollständigkeit!), sind
wohl in erster Linie die „Deutsche Verlagsanstalt" in Stuttgart, Schere in Berlin,
Grethlein und Theodor Welcher mit seiner belletristischen Abteilung in Leipzig
und ganz besonders wäre hier das Haus Staackmann zu erwähnen, das seit
Jahren eine bestimmte Überlieferung pflegt, dieser stets treu blieb, einen bestimmten
Verlagsrahmen einhielt und im deutschen Lesepublikum ein vernehmliches Echo
seiner tüchtigen Arbeit findet.
Aus der großen Flut von Romanen sollen hier nur einige, die im allgemeinen
den Anforderungen, die man an einen deutschen Roman stellen muß, genügen,
betrachtet werden.
Der Wiener Paul Buffon, der vor allem als entzückender Schilderer des
Kleinlebens bekannt ist und als Dichter feiner Reflexionen, hat bei der „Wila" in
Wien einen Roman erscheinen lassen: F. A. E. (Friede auf Erden). Buffon ist
entschieden ein großer Optimist, der sich den schlicszlichen Sieg Deutschlands völlig
unblutig vorstellt. In seinem kühnen Zukunftsbilde, das der Roman ist, siegt
Deutschland durch eine Erfindung, die auf völlig friedlichem Wege dem Deutschen
Reiche zu seiner gebührenden Stellung in der Welt emporhilft und die Völker zu
den: ersehnten allgemeinen Frieden bringt. Buffon zaubert ein Bild der Zukunft
vor uns hin, in der Kunst, Wissenschaft und Erfahrung dem Allgemeinwohl dienstbar
gemacht wird. Die Menschenliebe feiert Triumphe und das Glück blüht in der
ganzen Welt. F. A. E. aber ist der geheimnisvolle Erfinder von kleinwinzigen,
elektrisch betriebenen Flugzeugen von der Größe eines mittleren Vogels, die ein ganz
unglaublich verheerendes Zerstörungsmittel mit sich führen können und so eine
schwere Bedrohung darstellen. Der Erfolg dieser Erfindung ist sensationell. Die
Stadt Paris versöhnt sich mit den dort lebenden Deutschen, gibt ihnen ein Gelage,
das zu einem allgemeinen Versöhnungsfest wird. Man sieht, der fromme Wunsch
war hier der Vater des Gedankens, von der wahren Stimmung in Deutschland, die
heute bereits alle Bevölkerungsschichten erfaßt hat, machte sich der Autor wohl einen
falschen Begriff. Schön an dem Buche ist vor allem der ethische Gedanke und eine
hervorragende Technik, die viel Spannung zu erzeugen versteht und mit einer kühnen,
fest zugreifenden Phantasie verbunden ist."
Bei Grethlein in Leipzig sind zwei Romane erschienen. „Gottesferne von
Walter Bloemund „Barrikaden" von Zdenko v. Kraft. Was man an Bloems
Romanen mit Recht auszusetzen hat. ist ein Mangel an künstlerischer Vertiefung
seiner Charaktere, seiner ganzen Darstellungsart. Was ihn aber für das deutsche
Volk unbedingt wertvoll macht, ist der innere nationale Gehalt seiner Bücher. Das
hat sein großer Roman über den Krieg der siebziger Jahre bewiesen, und dies gilt
°"es für sein neues Buch „Gottesferne", das seinen Stoff deutscher Vergangenheit
entnimmt, wobei es Bloem gelingt, sehr anschauliche Bilder des Mittelalters zu ge¬
stalten. Künstlerisch bedeutend höher steht der Richard-Wagner-Roman von Zdenko
v. Kraft „Barrikaden". Als vierter hat sich Kraft diesen Stoff erwählt und dessen
Gestaltung ist ihm bedeutend besser geglückt als seinen drei Vorgängern. Mit großer
Bescheidenheit geht der Verfasser vor, bringt nur ausgewählte Quellen und Lebens-
dokumente Richard Wagners, giefzt alles in eine ansprechende, anregende Form und
ist vor allem von aufrichtiger Liebe und Begeisterung für Wagner erfüllt. Glänzend
sind die Schilderungen der Umwelt, die Gestalten Schumanns, Bakunins treten
besonders hervor. Auch dieser Roman wirkt vielleicht allein schon dadurch auf¬
bauend, daß er einen der Großen unseres Volkes in den Mittelpunkt der Handlung
stellt, er pflegt die bedeutenden Erinnerungen Deutschlands und ist von einer hohen
Gesinnung getragen.
Große Liebe zum deutschen Vaterlande zeichnet den Roman von F. E. Cor?
sepius, „Annemarie Zurzeit", aus (Th. Welcher, Leipzig). Es ist
die Geschichte zweier Unglücklichen, eines Kriegskrüppels, dem der Krieg alles raubte,
und einer Siechen an der Lunge, der deshalb die Mutterschaft verschlossen bleibt.
Das Buch ist in einer rein sachlichen Art des Erzählens geschrieben, die einerseits
wohltuend wirkt, andererseits aber doch wieder allzu wenig Schwung besitzt. Aber das
vaterländische Gefühl, das den Roman durchpulst, ist so stark und hinreißend, daß
man das Buch bestens empfehlen kann. Heute, in diesen Ausnahmezeiten, ist auch
eine besondere Beurteilung des Romans am Platze, die Gesinnung eines Dichters
fällt da sehr schwer in die Wagschale.
Ein feines, stilles Buch, über dem ein durchaus gesunder Humor liegt, ist
der Roman von Alice Verend, „Der Glückspilz" (bei Albert Langen,
München). Hier ist einmal eine Frau, der wirklich wahrer, erfrischender Humor
zu eigen ist, die köstliche Schilderungen in der Gewalt ihrer Feder hat und hart
neben dem Drastischen stets das Tragische bereit hält. Auf des Messers Schneide
wandert ihr Held, der eifrige Sammler von Käfern und Schmetterlingen, der sich
für einen ausgesprochenen Glückspilz hält, durch das Buch, versäumt über seinen
Liebhabereien die Liebe seiner Frau, die seiner niemals wert war, und verschenkt
sein ganzes Herz schließlich einem klugen Affen, den er sich in seiner Wohnung hält.
Seine Ehe geht in Scherben, er aber findet in dem Tier seinen Freund. Wie der
Professor dann einmal eines Abends den entsprungenen Affen suchen geht, hinaus
in die Schneenacht und dort selbst den Tod findet, das ist von einer echten. Dichterin
geschrieben, die des Lesers Herz ganz in ihre Gewalt bekommen hat.
Ähnlich in gewissem Sinne ist der Roman von Hellmuth Unger, der sich
bereits als Dramatiker einen guten Namen gemacht hat. „Schnurpels" heißt
das Buch (bei Th. Welcher, Leipzig). Es ist auch die Geschichte eines Einsamen,
eines Menschen, der seinen Beruf verfehlt hat, mit seiner Frau, einer geborenen
Schnurpels, die vor allem über eine unheimlich große Verwandtschaft verfügt, auch
ein kleines Kolonialwarengeschäft mitgeheiratet hat und in dieser Luft kleinlichen
Krämergeistes nicht leben kann. Etwas von einem heimlichen Dichter hat er in sich,
wird aber von den Schnurpels in deren „Familientagen" tüchtig hergenommen.
Bis er sich losreißt, in die Thüringer Berge, in ein Bad, entflieht, dort nahezu
ein richtiges Liebesabenteuer erlebt, aber doch wieder heimfindet zu seiner Frau
und seinen Kindern, Das alles ist mit einer gewissen stillen Behaglichkeit erzählt,
mit einer Liebe für Menschen und Dinge, die einem warm ums Herz macht.
Ein ernst zu nehmendes Buch ist auch der Roman von Grete Urbcmitzky,
„Das andere Blut" (hei R. Wunderlich, Leipzig), der das Problem des Mischt
lings aus jüdischem und arischen? Blut behandelt, mit einer Denkschärfe und Folge¬
richtigkeit, die bei einer Frau besonders auffällt. Deutlich wird' an einem Menschen¬
schicksal gezeigt, wie verheerend das Ergebnis einer solchen Mischehe wirken kann,
wie schwer ein junges Menschenleben dadurch belastet wird. Zwei Seelen wohnen
in der Brust des Helden, eine deutsche, die sich rückhaltlos an allen gegebenen
Schönheiten der Welt zu erfreuen vermag, und die andere, der bohrende, zerstörende.
Zersetzende Intellekt, der alles zerfasert und jede Glücksmöglichkeit raubt. Es fällt
manch kluges Wort über das Verhältnis der beiden Raffen zueinander. Eine sehr
gute Figur des Buches ist dieser Dr. Adler, den es in tausenderlei Gesten und Namen
heute in Deutschland gibt. Der kommunistelnde Zeitungsmann, der hinter allen
möglichen politischen Umtrieben her ist und mit System an dem Bau der Vor¬
machtstellung seines Volkes arbeitet.
Auf einen echten, ich stehe nicht an, zu sagen, großen Dichter möge
dieser Aufsatz noch ganz besonders hinweisen. Das ist Johannes T dünnerer,
der soeben bei Grunow in Leipzig ein neues Buch veröffentlichte. „Krämer und
Seelen", ein deutscher Großftadtroman. Schon in seinen beiden vorhergehenden
Büchern „Hcmnerl" und in der „tanzenden Familie Holderbusch" hat Thummerer
die Aufmerksamkeit weiter Kreise auf sich gezogen. Mit seinem neuen Roman aber
hat er entschieden einen großen Wurf getan. Leipzig ist der Schauplatz der Hand¬
lung, und die biederen Leipziger wollen es scheinbar dem Dichter nicht verzeihen,
daß er es wagte, ihre heilige „Messe" anzutasten und diese in ein — recht nahe¬
liegendes — Verhältnis zu dem Krämergeist unserer Tage zu bringen. Der schreiende
Gegensatz unserer Tage, der auch in diesem Aufsatz besonders betont wurde, zwischen
geistigem, ideellen Leben und dem Götzen Materie bildet die geistige Grundlage
dieses bedeutenden Buches. Der Händler Kirmse, der sich aus kleinen Anfängen
emporarbeitet, steht im Mittelpunkt der Handlung und dessen erste Frau, Pauline,
die ihn verläßt und sich ein eigenes Leben zurechtzimmert. Wie Kirmse, der
Händler und Schieber, reich wird, durch mißglückte Spekulation wieder verarmt
und zum Spartakisten wird, das ist mit einer ganz hervorragend plastischen, rea¬
listischen Darstellungskunst wiedergegeben. Voll dieser großen Kunst ist auch das
überaus anschauliche Messekapitcl, das an die allerersten Vorbilder deutscher Er-
zählungskunst gemahnt. Prächtig gesehen in ihrem triebhaften, durch und durch
einfachen Dasein, die Törin Pauline, drastisch und wahr die schnoddrige Berlinerin
Auguste, die "sich zu Kirmse als dessen geschäftstüchtige Frau in zweiter Ehe gesellt,
rührend in seiner Einfachheit das Kind Willibald aus reichem Hause, das daheim
keine Liebe findet und diese anderswo suchen geht. Ein düsteres Bild entwirft das
Buch, aber prächtig dargestellt, unsere Welt, unsere Zeit! Thummerer hält ihr den
Spiegel vor und in der Linse seiner bedeutenden dichterischen Kraft fangen sich
alle Strahlen. Schade nur, daß das Gegenspiel, die freundliche Welt, nicht gleich
kraftvoll gestaltet ist. Besonders hoch einzuschätzen ist das Ethos Thummerers, das
auch den hart gesehenen und gestalteten Szenen ein Gegengewicht zu verleihen
vermag.
Drei Bücher des Verlages L. Staackmann in Leipzig seien auch noch
besonders hervorgehoben. Da ist einmal der neue Roman von Paul Burg, „Der
Wegbereiter und die Liebe". Diesmal hat sich der Autor des erfolg¬
reichen Leipziger Messeromans „Der goldene Schlüssel" das Lebensschicksal des
Pioniers der Eisenbahn Friedrich List zum Vorwurfe gewählt und damit ein
prächtiges Lebensbild eines tüchtigen deutschen Mannes geschaffen, der — selbst¬
verständlich, muß man leider sagen — daheim völlig verkannt wurde und besonders
von einem Leipziger Konsortium, das sich dessen Idee der ersten deutschen Eisenbahn
Leipzig—Dresden zu eigen machte, beispiellos vergewaltigt wurde. Betrogen wurde
List um die Früchte seiner Arbeit, beiseite geschoben, er, der geniale, stürmische Geist,
der sich in Amerika die ersten Lorbeeren als Erbauer von Eisenbahnen geholt hatte.
Aber er fand über dem Wasser drüben keine Ruhe, es trieb ihn immer wieder in seine
Heimat zurück, uni dieser die Früchte seiner langen Arbeit zu schenken. Doppelt«
schwer wird daher die Enttäuschung, doppelt schwer die Kränkung, die man ihm
zufügt. Paul Burg ist ein Schilderer, bei dem man nicht sogleich warm wird, um so
stärker versteht er es aber, einen dann zu packen und mitten in den Wirbel der Ge¬
schehnisse hineinzustellen. Einen besonderen Reiz dieses schönen Buches bildet die
anschauliche Schilderung des geistigen Deutschlands dieser Tage, die mit viel Liebe
und Verständnis wiedergegeben ist.
Robert Hohlbaum, der Schlesien von Geburt, erzählt uns in seinem neuen
Roman, „D i e A in o u r e n d c s M a g i se e r D ö d er l e i n", das Schicksal eines
stets Einsamen, nirgends Rastenden, der als junger Bursche auf die Universität
kommt, von dort aus durch die halbe Welt, von Amour zu Amour eilt und doch
nirgends sein Glück finden kann. Meisterhaft, wie immer bei Hohlbaum, ist die
historische Umwelt gemalt (der Roman spielt ungefähr um 1800), das wilde Leben
auf den deutschen Hochschulen zu dieser Zeit. Blendend glüht die Fackel der
französischen Revolution auf, die in packenden Szenen voll dramatischer Wucht fest¬
gehalten ist. Auch als Magister und Vater leidet es Döderlein nicht bei den
Seinen, die großen Freiheitskriege reißen ihn wieder hinaus in die Welt und er
fällt auf dem Schlachtfelde. Vielen Amouren lebte er, seiner größten Liebe aber
starb er, der Liebe für sein deutsches Vaterland! Mit diesem schönen Schlu߬
gedanken entläßt der Dichter seine Leser.
Karl Hans Strobl, der seinen neuen Roman „Gespenster im
Sumpf" (ein phantastischer Wiener Roman) betitelt, ist ein Tausendkünstler,
der mit einer beispiellosen erzählerischen Begabung ausgerüstet, jeden Stoff be¬
zwingt. In unserem Gedächtnis ist noch seine prächtige Vismarck-Triologie. Nun
hat er sich die Zukunft Wiens, das völlige Ende dieser schönen Stadt als Vorwurf
genommen und in phantastischen Bildern voller Grauen und Wucht gemeistert. Be¬
sonders sympathisch bei Strobl ist es, daß auch hinter seinen oft scheinbar ver¬
schrobenen Einfällen immer ein ganzer Mensch steht, der uns etwas zu sagen
hat. Wien ist in seinem Roman eine völlige Ruinenstadt geworden, in der nur
mehr Verbrecher und Narren Hausen. Ein Krüppel hat sich an ihr gerächt für er¬
fahrenes Leid, indem er ein Mittel erfand, um alle Gehirne zu vergiften. Sein
eigentlicher Antrieb aber ist Laib Meische Seelenheil, ein galizischcr Jude, der
auch seine Rache an dieser Stadt befriedigen will und sich rühmt, sie umgebracht zu
haben. Eine Figur von leicht erkennbarer Symbolik. Und daneben reihen sich
kühne Bilder des Grauens, die eine erschütternde Sprache reden. Strobl meistert
das alles mit einer virtuosen Geschicklichkeit, bleibt aber stets über seinem Stoffe.
Damit sei der Neigen beendet. Es gibt einen deutschen Ro.mein, einen ge¬
sunden und dabei doch künstlerisch hochstehenden, einen Roman, der die Kräfte auf¬
zeigt, die im deutschen Volke an der Arbeit sind, von innen aus einen Genesungs¬
prozeß durchzuführen. Man verschone uns nur mit dem lauten Getriebe einer
Klique, die sich einbildet, den modernen Roman, die Kunst überhaupt, für sich allein
gepachtet zu haben, und deren ganzes Schaffen nichts anderes ist, als eine atemlose
Hetze hinter Sensationen, ein lüsternes Spiel auf den Saiten der Sexualität. Eine
derartige Bereicherung unseres deutschen Schrifttums aber sei dankend und energisch
abgelehnt.
Athen und London. Über die tieferen Ursachen des Regierungswechsels
in Griechenland sind noch keine authentischen Nachrichten zu bekommen und die¬
jenigen griechischen Persönlichkeiten, die sie liefern könnten, tun dies schon deshalb
nicht, weil es noch nicht einmal feststeht, ob der Wechsel des Regimes auch
einen wirklichen Umschwung der griechischen Außenpolitik bedeutet. Die aufge¬
tauchten Nachrichten über Truppeimieutereicn in Kleinasien wird man vorderhand
mit äußerstem Mißtrauen auszunehmen haben und anscheine« d geht in den leitenden
Kreisen Athens eine starke Strömung darauf aus, zwar, schon im Interesse
nationaler Selbständigkeit, König Konstantin zurückzurufen, aber die Errungen¬
schaften des Krieges nicht fahren zu lassen. Im ««runde wäre damit nur der
letzte Schritt zur Krönung der venizelistischen Politik getan: Griechenland zur nicht
nur großen, sondern auch selbständigen Mittelmeermacht werden zu lassen. Dadurch
würde vor allem Italien einen auf die Dauer recht gefährlichen Rivalen bekommen,
besonders wenn die Griechen, soweit es tunlich wäre, auf eine sehr kostspielige
gewaltsame Befestigung ihres so rasch angewachsenen Machtbereichs verzichteten und
die dabei ersparten Mittel anderweitig nutzbar machen würden. Eine Internatio-
nalisierung Smyruas z. B. würde Griechenland, abgesehen von ideellen Gesichts¬
punkten wesentliche Nachteile kaum bringen, und auch bezüglich Thraziens könnte es
ihnen genügen, wenn es in irgendeiner Form Bulgarien entzogen bliebe. Natürlich
sind die Italiener viel zu klug, sich irgendein Mißbehagen anmerken zu lassen; sie
wissen sehr wohl, daß eine innere und äußere Konsolidierung Griechenlands, solange
das entwaffnete Bulgarien zwar in Fragen des Zugangs zum Ägäischen Meer
«u Griechenland in starkem, durch Frankreich heimlich verstärktem Gegensatz steht,
jedoch als Machtfaktor auf dem Balkan augenblicklich selbständige Bedeutung kaun,
besitzt, die Sttdslawen trotz aller inneren, namentlich auch infolge des Wahl¬
ausfalles von Kroatien ausgehenden Hemmungen ihrem Einfluß zugänglich machen
und zu weiterem Ausbau der im Vertrag von Rapallo vorgesehenen italienisch¬
südslawischen Annäherung treiben muß, und es ist möglich, daß man in Italien schon
jetzt für den Balkan eine ähnliche Politik ins Auge faßt, wie sie England Deutschland '
und Frankreich gegenüber verfolgt: bei scheinbarem Desinteressement und unter dein
Gesichtspunkt der Erhaltung des Friedens einen Gegner gegen den anderen aus¬
zuspielen. Es darf nicht übersehen werden, daß diese Politik einstweilen durch die
Bestrebungen Frankreichs, Bulgaren und Südslawen in der mazedonischen Frage ein¬
ander anzunähern, absichtlich oder unabsichtlich Unterstützung erhält. Auch in der
türkischen Frage ist eine Annäherung Frankreichs an Italien zu verzeichnen, nicht
umsonst wird auf der Durchreise nach London Graf Sforza bei Millerand Station
gemacht haben, und es darf angenommen werden, daß Italien jetzt überall aus¬
gleichend, vermittelnd, mäßigend auftritt. Italiens politische Kraft ist eben in den
letzten Wochen außerordentlich gewachsen, nicht zum wenigsten durch Giolittis kluge
Innenpolitik, die die Bestrebungen der extremen Sozialisten mit scheinbarer
Passivität entschlossen ani absuräuro. führen ließ, und die ganze Torheit außen¬
politischer deutscher Schmücke, die auf die unverantwortliche, nur in Deutschland
mögliche Falschmeldung vom Rücktritt Graf Sforzas hin, diesen Rücktritt schon „seit
langem vorausgesehen" hatten, wird durch diese ganze Entwicklung ins rechte Licht
gesetzt. (Nur der deutsche Zeitungsleser läßt es sich bieten, daß ein Redakteur, nach¬
dem er derartigen Unsinn verzapft hat, sein Referat noch weiter ausübt, ganz ab¬
gesehen davon, daß derartige Vorkommnisse die Italiener sehr viel mehr verstimmen,
als man bei uns glaubt.)
Fest steht, daß die katastrophale Niederlage der venizelistischen Negierung Eng¬
ländern und Franzosen gleicherweise, selbst denen, die an Ort und Stelle waren,
gänzlich überraschend gekommen ist. Es scheint sich nicht nur um ein großartig
organisiertes Wahlkomplott, sondern um einen vollständigen und ziemlich plötzlich
erfolgten, durch Venizelos' Gewaltregime hervorgerufenen Umschwung der öffent¬
lichen Meinung zu handeln. Den Franzosen aber ist die Wendung trotz aller Proteste
gegen den hauptsächlich wegen seiner Potsdamer Rede 1913 und infolge der durch
die feindliche Propaganda breit ausgeschlachteten Vorgänge während des Welt¬
krieges natürlich zu Unrecht als aktiv deutschfreundlich geltenden König Konstantin
insofem nicht unerwünscht gekommen, als sie dadurch Gelegenheit bekamen, gegen
die schon seit langem mit größtem Mißbehagen beobachtete englische Türkenpolitik
Stellung zu nehmen. Der Vertrag von Sövres, hieß es, dessen Ratifizierung von
feiten der Türkei die Engländer seit Monaten vergebens anstreben, müsse revidiert
werden. (Wenn die deutsche Tagespresse begriffen hätte, um was es ginge, hätte
sie im Anschluß daran sofort in größter Aufmachung behaupten müssen, damit wäre,
besonders da die Franzosen und die ententefreundlichen Vertreter der zentral¬
europäischen Staaten immer behauptet haben, die fünf Friedensverträge ^Versailles,
Se. Germain, Trianon, Neuilly, SevresZ bildeten ein Ganzes, grundsätzlich auch die
Möglichkeit einer Revision des Versailler Vertrages ausgesprochen. Dadurch hätte
man die Franzosen genötigt, bescheidener auszutreten und der englischen Politik im
deutschen Interesse wertvolle Dienste leisten können.) Ja, nach einer Meldung des
Lokal-Anzeigers haben die Franzosen in London noch weit mehr gefordert, nämlich
nicht nur die Rückgabe Smyrnas an die Türkei unter italienischer (!) Kontrolle,
Errichtung eines autonomen Staates in Thrazien unter der Kontrolle einer noch zu
bezeichnenden Macht (wahrscheinlich Rumäniens oder Amerikas), Verzicht der Schutz¬
mächte auf die Gewährleistung der Unabhängigkeit Griechenlands sowie Aufhebung
jeder finanziellen Unterstützung an Griechenland und Erlaß einer Erklärung an
das griechische Volk, die es auf diese Folgen einer Rückberufung Konstantins hin¬
weist, sondern auch Rückgabe des Dodekcmes an Italien und Abänderung der neuen
Grenzen Griechenlands zugunsten Serbiens und Bulgariens. Selbstverständlich
mußte England, wenn es auch auf Natifizierung des Sövresvertrags nicht bestand,
diese Forderungen, die die ganze Balkanfrage noch einmal wieder aufrollen, ab¬
lehnen, um so mehr, als es fürchten mußte, daß, wenn man den anatolischen Natio¬
nalisten gar zu weit entgegenkäme, dadurch auch seine Stellung in Konstantinopel,
wo erst unlängst der Einfluß des französischen Militärs mit sanfter Gewaltsamkeit
zurückgedrängt worden ist, in Mitleidenschaft gezogen würde. Und es ist bezeichnend,
daß die englischen Gegenforderungen weit mehr darauf hinauskommen, aus Griechen¬
land ein neues Portugal zu machen, als den Türken Zugeständnisse zu bringen.¬
Verlauf und Ergebnisse der Londoner Konferenz lassen sich noch nicht voll
ständig überblicken. So viel aber ist sicher, daß in diesem Augenblick, vielleicht
im Hinblick auf die im Januar bevorstehenden neuen Senatswahlen, von denen
die Linke eine Stärkung ihres Einflusses erhofft, vielleicht infolge von enttäuschten
Hoffnungen auf kräftigere Unterstützung durch die Vereinigten Staaten, vtelleich-
in der Befürchtung, daß die neue französische Anleihe ungenügende Ergebnisse zeitigt,
Vielleicht um auf der Völkerbundskonferenz weitere Nachgiebigkeit Englands durch¬
zusetzen, vielleicht (all die Faktoren können zur Zeit der Niederschrift noch nicht
mit voller Sicherheit beurteilt werden) auch um in der Wieoergutmachungs-
Kohlen- und Oberschlesienfrage englische Konzessionen zu erreichen und weiter infolge
des Zusammenbruchs der Wrangeloffensive, auf die man so große Hoffnungen ge¬
setzt hatte, sich ein Umschwung in der Politik Frankreichs vollzieht, dessen bedeut¬
samstes Anzeichen die vor dem Kammerausschuß abgegebenen, freilich alsbald durch
eine Erklärung des „Temps" abgeschwächten Erklärungen des Ministerpräsidenten
Levgnes betreffs Wiederaufnahme privater wirtschaftlicher Beziehungen zu Sowjet¬
rußland bilden. Es ist ohne weiteres klar, daß sich Frankreich damit auf den
Weg zur förmlichen Anerkennung der Sowjetrepublik begibt. In erster Linie
das lassen die letzten Leitartikel des „Temps" deutlich erkennen, geschieht
das wohl, um die Rechte der französischen Vorkriegsgläubiger sicherzustellen.
Man will verhüten, daß die Russen ohne Berücksichtigung der Schulden
des zaristischen Regimes Konzessionen und Vorrechte an England, Deutschland,
Amerika vergeben, und zu erreichen versuchen, daß die endgültige Wieder¬
aufnahme der englisch-russischen Handelsbeziehungen von der Anerkennung
der früheren russischen Staatsschuld an Frankreich abhängig gemacht wird.
Ob die Franzosen diese Forderung durchsetzen werden, muß einstweilen dahin¬
gestellt bleiben und ist ganz von dem Grade abhängig, in dem Lenin die Hilfe
Frankreichs braucht. Möglich, daß man einstweilen auch in Fragen der galizischen
Polen einen Druck ausüben will, dessen Angriff auf Wilna, schon weil es
dem nicht gern gesehenen Völkerbund Anlaß zum Einschreiten gab, in Paris stark
verstimmt hat; auf die Art wie Frankreich seine Freundschaft für Polen mit
einer gegen Nußland zum mindesten neutralen Politik vereinbaren wird, darf man
überhaupt gespannt sein, zum mindesten im Hinblick auf den Zeitpunkt, in dem
Frankreich, was auf die Dauer nicht ausbleiben kann, Rußlands (und der mit
Rußland verbündeten Anatolier) Unterstützung braucht, um Englands Kon¬
stantinopelstellung zu bedrohen. Damit wäre dann in der Tat, d. h. falls Deutschland
mittut und Polen zufriedengestellt werden kann (durch Verstärkung seines Ein¬
flusses in Danzig), die Möglichkeit eines Festlandblocks gegen England gegeben, die
Idee eines europäischen Völkerbundes unter englischer Führung lahmgelegt. Und
um England einstweilen die Möglichkeit rechtzeitiger Gegenwirkung zu nehmen,
bemüht man sich französischerseits gerade jetzt wieder um Abschluß eines förmlichen
englisch-französischen Bündnisses. Auf Grund eines solchen Bündnisses, für das
übrigens in England an sich kaum große Neigung bestehen wird, könnte man dann
innerhalb des Völkerbundes noch energischer auftreten und seine Aktion noch wirk¬
samer sabotieren oder auch gegebenenfalls sie als Vorspann zur Erreichung der
eigenen Ziele benutzen. Die Verhandlungen des Völkerbundes sollen, sobald sie
sich in ihrer Gesamtheit überblicken lassen, zusammenhängend gewürdigt werden.
Kompliziert wird die Lage dadurch, daß die Arbeiter nicht gesonnen sind,
die Politik ihrer Regierungen unter allen Umständen mitzumachen. Schon hat der
Londoner internationale Gewerkschaftskongreß, auf dem 24,8 Millionen organisierter
Arbeiter aus sechzehn verschiedenen Ländern, allerdings — ein bedeutsames Moment
nicht die Amerikaner, vertreten waren, sich sehr kräftig gegen die Besetzung
des Nuhrgebiets ausgesprochen (die Stinnesschen Sozialisierungsoorschläge dürften
diesen auf Informationen durch Arbeiter des Ruhrbeckens beruhenden Protest be¬
schleunigt und verstärkt haben) und ein von Henderson, Macdonald, Vandervelde,
Troelstra, Engbjerg, Huysmans, Wels unterzeichneter Aufruf des Vollzugsaus¬
schusses der zweiten Internationale, dessen Sitz bezeichnenderweise nach London ver¬
legt worden und damit unter Einfluß der englischen Labour Party geraten ist, weist
darauf hin, daß die Arbeiter, ebenso wie der Kapitalismus, ihrerseits Weltpolitik
treiben müßten, um ihre Ziele zu erreichen. Möglich, daß auch hier Ansätze zu einer
gesamteuropäischen Politik liegen, die über kurz oder lang unumgänglich ist, falls
der alte Erdteil die Herrschaft über die Welt nicht einfach an den neuen abtreten will.
Vor dem großen französischer Umsturz, der bekanntlich eine neue Menschheit
gebar, mußten die Hochstapler, um erfolgreich zu sein, nicht unbeträchtlich viel
Geist ausbringen. So verrottet und fluchbeladen das System der Louis auch
gewesen sein mag, seine Träger oder doch wenigstens seine Nutznießer waren oft
außerordentlich intelligente Bestien, und ohne Intelligenz war ihnen schlecht bei¬
zukommen. Alle die großen Affären jener Zeit sind mit Geist oder doch mit
Schlauheit gedeichselt worden,' die Cagliostro, Se, Germain und Genossen Pflegten
ihn hier nicht auszuschalten. Wir Heutigen sind schlichtere Naturen. Gewiß kann
das freien r^Zirne hinsichtlich der Zahl und der Frechheit seiner Gauner es
nicht annähernd mit uns aufnehmen, und nun gar die von überstrengen Spie߬
bürgern beherrschte Robespierre-Revolution hat' den Spitzbuben jeden Kalibers
das Leben so sauer gemacht, daß unsere Gegenwartshalunken im Vergleiche damit
einfach auf Rosen gebettet sind. Wer nicht zu den ganz Dummen zählt, schwindelt
und betrügt heute, und die Tatsache, daß alle Gefängnisse und Zuchthäuser über¬
füllt sind, etwaige Bewerber ihre Ansprüche morale-, vielleicht jahrelang zurück¬
stellen müssen, diese Tatsache verlockt immer weitere Volk?kreise zu fröhlicher
krimineller Betätigung. Die Bahn ist nicht nur für jeden Tüchtigen frei,
Plumper ein Hochstapler die Sache fingert, desto sicherer gelingt sie ihm. Ob
sich ein krummbeiniger, kleiner Buchhalter, dem sogar die „Neue Freie Presse" starke
Galizerei nachsagt, als hochanstokrarischer Graf Sternberg und habsburgischer
Bänkerl ausgibt und Millionenkredite erlangt? ob zwei achtzehnjährige Büro-
gehilfen mit nachgeahmten Dokumenten ohne weiteres 280000 Mark von einer Bank
abheben können — immer wieder glückt selbst der plumpste Schlag. Die Welt,
die deutsche Welt, ist anspruchslos geworden. Was unsere Gemütstiefe anbelangt,
so hat sie sich fraglos imponierend erweitert, unser Kultur- und unser Nacht¬
leben übertreffen bedeutend das och achtzehnten Jahrhunderts — doch eben des¬
wegen scheinen wir intellektuell sehr herabgekommen zu sein.
Herr Trotzki-Braunstein hatte bei der siegreichen bolschewistischen Offensive,
die das rote Heer bis vor die Tore Warschaus führte, mit feierlichsten Nachdruck
geschworen, die deutsche Grenze unter allen Umständen zu respektieren. Hier sollten
sich, so versprach der rote Napolium, seine stolzen Wellen brechen. Heute ist
es längst kein Geheimnis mehr, daß die Rote Armee Befehl hatte, sofort nach
der Niederwerfung Polens über die deutschen Grenzen vorzustoßen und die
bolschewistische Bewegung gänzlich unplombiert ins Reich hineinzutragen. Wir wären
schon damals, obwohl unsere Reichswehr noch rund 150 000 Mann zählte, gegen
den Gewaltstoß wehrlos gewesen? wir sind es heute selbstverständlich noch mehr
als vordem. Vermögen wir doch dem Anprall der Übermacht kaum eine erste
dünne Sicherungskette entgegenzustellen! Die Bolschewistengefahr, mit der man
hierzulande gern tändelt, ist seit der Vernichiung Wranoels wieder brennend
geworden. In ihrem Siegesvertrauen gestärkt, mit eroberten Kriegsmaterial
aller Art reich versehen, wird die Sowjet» egierung es darauf anlegen, si hr bald
^lit Polen in neue Meinungsverschiedenheiten zu geraten. Ob die erlauchte freie
sarmattsche Republik imstande sei» wird, diesen erneuten Angriff zu bestehen, ist
Aehr als fraglich. Die für den Frühling 1921 längst prophezeite bolschewistische
Völkerwanderung, der Heuschreckenzug hungernder Verzweifelter und Fanatisierter
"ach Deutschland, zählt nicht mehr zu den fabelhaften Unmöglichkeiten. Wir aber
fahren fort, zu tanzen und die bereits vorhandenen Parteien durch neue Schöpfungen
dieser Art zu vermehren. Deutschland muß eben, koste es, was es wolle, unbedingt
die Lage versetzt werden, gegebenenfalls auch nicht den schwächsten Widerstand
Listen zu können. So haben wir es ja kurz vor allen entscheidenden Tagen
Hof in Werschch. In Werschetz (ehemals Süd¬
ungarn, jetzt Südslawien) gibt es einen
"Deutschen Hcldenfriedhof", in welchem
viele Stammesbrüder aus dem Mutterlande
Deutschland, die in'der Fremde den Tod fanden,
ihren ewigen Schlaf schlummern. Diese Ruhe¬
stätte deutscher Soldaten blieb nach dem Un-
Sturze1918 ungepflegt und „verwahrlost und vom
weidenden Vieh zertreten, bot sie einen traurigen
Anblick, eine wahrhafte Schande für unsere
deutsche Bevölkerung" schrieb die in Werschetz
erscheinende Tageszeitung, der „Deutsche Volks-
freund". Diese Mahnung genügte, und die
aufgerüttelte deutsche Jugend hat den richtigen
Weg gefunden. Volksschüler zogen in ihrer
freienZeit unter Führung ihres deutschen Lehrers
Otto Meistrik auf den Friedhof, und trotz der
geringen zur Verfügung stehenden Mittelrichteten
sie die iür die Werschetzer Bevölkerung heilige
Ruhestätte würdig her. Am 2. November, dem
Allerseelen tag, legte die Werschetzer Ferialver-
bindung „Banatia" einen prachtvollen, mit
Schoa z-rot-goldener Schleife versehenen, eichen-
laubcnen Ehrenkranz, unter Absingung des er¬
greifenden Traucrchorals „Über den Sternen
wohnt Gottes Friede", nieder. Der Erst-
chargicrte der Verbindung, Franz Secmaycr,
hielt in tiefempfundenen, zu Herzen gehenden
Worten die Gebändes ete und schloß mit dem
Ge öbnis, die Ruhestätte der Helden immerdar
in Ehren zu halten. viwa.
Unsere
großen Siedlungspläne von 1919 sind als
gescheitert zu betrachten. Der Minister sagt: Die
bescheidenste Landsiedlung kostete 12(1000,/« —
wir haben das Gelf nicht oder, wenn wir's
sei einbar schaffen, treibt uns das unaufhaltsam
ins grundlose Meer der Schuldenwirtschaft.
Für das Nuhrrevier sind für 150 000 Heim¬
stätte» 400 Millionen bereitgestellt, Die sind
bald verbtaucht und Ende des Jahres werden
auch schon 40"0 Heime fertig sein. Die Aus¬
führung des Projektes dauert 30 Jahre. Was
nützt uns das für die Last der Gegenwart.
1914 kostete die Heimstätte t>000 .//ü, heute
über 100 000 Die Mittel sind also mit
4000 Heimstätten draufgcgangen. Der Berg¬
mann soll und kann nicht mehr als 700 ^
Miete zahlen (das Doppelte von 1914).
Also schweben bei jeder Heimstätte (die
700 ^ kapitalisiert) etwa 90 000 in
der Luft. Schaffen wir weitere Mittel, so
heiß das — — usw. — wie oben, — Hoff¬
nungslos!
Will man dennoch Siedlungshoffnung
haben, so muß man zunächst den Grundfehler
der bisherigen Siedlung einsehen. Wir wollen
immer noch nicht begreifen und als einen
Faktor in unsere Hauptrechnung einstellen,
daß wir ein besiegtes, ein wirtschaftlich
zerbrochenes Volk sind, daß wir ein ganz
armes Vaterland haben. Es geht nicht an,
immer Forderungen an den Staat zu stellen
als wäre gar nichts passiert, als wären wir
noch reich. Dabei ist zunächst die Frage ganz
gleichgültig: wird der einstige Reichtum recht
angewandt oder nicht? Hin ist hin!
Zu dieser ersten Erkenntnis kommt ti^
zweite Notwendigkeit: Soll das Siedlungs¬
problem staatlich, gemeinwirtschaftlich gelöst
werden, lo kann dieser armselige Staat es
nur, wenn ihm gleichzeitig etwas ganz Positives,
Reales gegeben wird, wirkliche Werte: ein
Kapital, mit dem er wirtschaften kann
Sind diese beiden Tatsachen richtig, so
sind unsere jetzigen Sicdlungsmaßnahmen
fal es Ganz besonders falsch ist der Gedanke,
das Siedlungsplvblem mit dem der produktiven
Erwerbslvsensürsorge zu verbinden. Denn
zwei No,e, zwei Minuswerte geben addiere
kein Plus.
Fürsorge und siedeln sind aber auch an
sich nicht kongruent. Fürsorge ist Notbehelf,
auf eine gewisse Dauer über gewisse Not
hinweghelfend bis eben „bessere Zeiten" ge¬
kommen, die der Fürsorge nicht mehr benötigen,
oder noch schlechtere, die alles gefressen haben.
siedeln aber heißt, von vorn herein etwas
auf Dauer tun, heißt Menschen seßhaft
machen sür ein ganzes Leben, heißt aus Heim
und Scholle Werte schaffen, reale Werte ^
und ideale aus crMter Sehnsucht der Boden-
ständigkeir heraus — Segen der Heimat!
Soll der Staat die Siclungss.age lösen,
so hat er vom subter zu verlangen, daß er
sich bereitwillig einstellt auf ganz kleine, be¬
scheidene Verhältnisse, wiedieZeir si instch trägt-
Bescheidenste Ansprüche und trotzdem
völlige Hinuabc und ganze Kraft. Mit
Arbeilszeitparagraphcn ist zunächst g r nichts zu
machen. Die Sonne steht über den Gefilden
und kommandiert als Alleinherrscher von
Aufgang bis Niedergang!
Man muß den Mut haben, das zunächst
allen Beteiligten ganz unverblümt zu sage»!
Der Staat muß den Mut habe», das
zu sagen! Und dann: Klein anfangen, d«/
wo die Werte vorhanden sind, aus denen sich
die Siedlung bezahlt.
Diese Werte können nur aus neuen
heimischen Rohstoffen bestehen. Als
solchen gilt es die Groß was serflvra kennen
zu lernen, aufmerksam die hier gegebenen
Möglichkeiten zu überprüfen und dann mutig
zuzugreifen. Sicher ist mit diesem neue»
heimischen Rohstoff, dem Schilfrohr, nicht die
ganze Sicdlungsarbeit zu erfassen und zu
lösen, ebenso sicher aber ist mir, daß mit
diesem Rohstoff tatsächlich ein heimischer Schatz
i» beben >se.
Der Rohstoff erfüllt zunächst drei wichtige
Bedingungen:
Im Hintergründe steht also die Produk-
Uon deutschen Rohrzuckers. Produziert ist
^tzt schon das Fragenit, ein Futtermittel für
^wß- und Kleinvieh. Sehr gute Zeugnisse be¬
stätigen die Qualität. Ein Ncstprodukl, das im
Wasseraufguß el» kakaoähnliches Getränk ergibt.
Alkohol (greifbar nur aus dem starken Zucker-
s^halt). Und endlich liegen Proben von
Pavierrohstoffen vor, die zu Pappe sowohl
^ Zu weißem zähen Druckpapier eben
jetzt vcrnibcitct werden.
um die Hebevorrichtungen weiter zu verbessern.
Bei der Hebung der Wurzeln, die in einer tiefen
verfilzten Matratzenschicht im Schlemmboden
ruhen, wird naiürlich viel Schlemmerde un¬
gehoben. Diese einfache Tatsache führte nun
dazu, die Arbeit am Rohstoff mit dem
Siedlungsgedanken zu verbinden Die
Schlemmerde ist bester Humus, natürlicher
Dünger. Auf den Uferrand geworfen, schafft
er dort schmale Streifen fruchtbarsten Garten¬
landes, das mehrfache Ernte im Jahre trägt.
Das ist das Siedlungsland; Gemüsebau, Obst¬
bau, Kleinviehzucht. Hinter dem Gartenland
werden (ichon um der Entwässerung willen)
Teiche a sgchoben zur Fischaufzucht. Alles klein,
primitiv. Es werden nicht gebraucht große
Stallungen, denn Großvieh wird nicht gehalten,
große Maschinen erübrigen sich. Straßen¬
anlagen werden kaum benötigt, denn der Ver¬
kehr spielt sich auf dem Wasser ab
Das Siedlerheim ebenfalls ganz
primitiv. Die Grundmauern aus Natursteinen.
Sind die an Ort und Stelle nicht vorhanden,
müssen hier Ziegel verwandt werden. Aber
sonst alles ohne Kohle (und mit ganz wenig
Holz). Die Baumasse wird nach den Plänen
von Professor Schad von der Frankfurter
Universität aus der Schlcmmcrde im Stampf-
vcrfahren gewonnen. Sie wird mit Steinen,
wie sie sich im Boden finden, mit Abfällen
der Rohrwurzel, mit dem Rohr- und Binsen¬
werk der Oberpflanze filzartig verbunden. Das
Dach aus Schilf. Es wärmt im Winter
und kühlt im Sommer. Gegen Nässe wird
die Fassade nochmals mit Schilf überspannt.
Das ist das Schilshaus und das ganze die
Wasserländische Siedlung!
i" Ostasnür. Der deutschen Jugend erzählt
von Grnercil von Lettow-Vorbeck unter
Mitarbeit von Hauptmann W. v. Rucktcschell.
Mit einem farbigen Bild des Verfassers,
3 Kunstbeilagen und 3 Vollbildern nach
Originalen von W. v. Rucktcschell,
>>it»se>ationen nach in Afrika gemachten
^ Aufnahmen des Autors und seiner Mit¬
kämpfer sowie einer Karte von Deutsch-
Ostafrika und den angrenzenden Gebieten
mit Angabe des Zuges der Leitowschen
Truppe. In farbigem Originalumschlag.
K. F. Koester, Verlag, Leipzig,
Ein Buch für den Weihnachtstisch der
Knabcuwclt. Der Held des deutschen Volkes
erzählt der Jugend, die ihn liebt und verehrt,
von den Kämpfen und Ringen in unserer
Kolonie, von der Treue und Freundschaft,
die die tapferen Koloniallrieger miteinander
verband. Und er findet mit seiner Erzähler¬
art unzweifelhaft den Weg zum Herzen unseres
„kleinen Volkes". Die sittliche Auffassung,
die dem Buche zugrunde liegt, gibt ihm einen
hohen erzieherischen Wert. Wer sich noch als
deutscher Junge fühlt, dem kann man mit
diesen» Buch kein schöneres Geschenk machen!
Durch die beigegebene Karte regt es zum
geographischen Studium an, während die vielen
Bilder, die sämtlich von Mitkämpfern in Asrika
ausgenommen sind, die tausenderlei Erlebnisse
Unserer Heldenschar aufs beste illustrieren.
Baltikum. Von General Graf Rüdiger
von derGoltz. Verlag von K, F. Koester,
Leipzig.
Auf dieses Buch hat man mit Spannung
gewartet. Der charakterstarke Mann, der
seine Mitwelt an festem Willen, an selbstloser
Hingabe für Deutschlands Wohl und an vor¬
bildlicher Führertreue zu seinen Untergebenen
weit überragt, der, obwohl in erster Linie
Soldat, mit dem einfachen, klaren Menschen¬
verstande die politischen Wege wies, die wir
hätten gehen müssen, beschert uns in dem
vorliegenden Buche ein Werk, das eine Fund¬
grube militärischer und politischer Werturteile
ist. Ihm ist es in allererster Linie zu danken,
das» Finnland auch heute noch in den Herzen
der meisten seines Volkes ein Freund Deutsch¬
lands ist; allerdings nicht des neuen Deutsch¬
land, aber des deutschen Geistes, der deutschen
Pflichtauffassung und der deutschen Treue,
wie sie ehedem bestanden und sich bei der
Mission in Finnland bewährten
Das Buch deckt schonungslos das Doppelspiel
auf, das die Engländer mit uns trieben, die
uns erst aufforderten, Riga zu nehmen und
dann die deutschen Truppen beim Angriff auf
diese Stadt mit Minengeschützen beschossen.
Das „Goltzsche Werk" wird seinen Weg
finden. Es mangelt leider an Raum, es ein¬
gehend zu besprechen; mit gutem Gewissen
aber kann man es zu dem Besten rechnen,
was der Büchermarkt in diesem Jahre bot.
Trilogische Dichtung mit einem
Vorspiel von Max Sidow. Einleitung
von Theodor Däubler. Haus Heinrich
Tillgner Verlag, Potsdam 1920.
Das Erlebnis der Stadt dichterisch zu
formen, in einer einheitlichen, umfassenden
Vision, wird von Dichtern der Gegenwart
und jüngsten Vergangenheit mit steigender
Andacht und Kraft versucht. In diesen
Versuchen lebt die Einsicht: daß die moderne
Großstadt all die Wirkungs- und Erscheinungs¬
bereiche, aus denen die dichterische Formen¬
welt sich aufbaut, die der dichterische Genius
in sich hineinreißt, um sie neu zu schaffen,
in gedrängtester Fülle enthält, — und, was
wichtiger ist, nicht als bloßes Nebeneinander,
sondern als wesentliche Einheit, als symbol¬
tragende Gestalt. Der Framose erlebte vor
uns die Zusammenstrahlung aller schöpferischen
Energien, aller individuellen Beseeltheit iH
den Brennpunkt einer einzigen, der einzigen
Stadt: so steht im Hintergrund der große«
französischen Dichtung und Malerei seit
hundert Jahren die vMe lumiöi-e. Viel
später, in fortwährender Wechselwirkung von
Aufstieg und Verfall, von Intensivierung und
Zerstreuung, Verschlammung wuchs für uns
Berlin zur „Stadt" in gleichem Sinne auS-
Man mag den Gang der Dinge segnen oder
verfluchen, man mag sich dieser unerhörten
Stadt hingeben oder sie ausrotten wollen, —
sie ist da, wir erleben sie und können der
Bedeutung dieses Erlebens nichts abdingen.
Max Sidows Gesang hebt mit der Stadt
an. Er ist hinaus über die impressionistische
Zerpflückung disparater Eindrücke. In ihm
lebt eme spanische Glut des Jubelns und
Weinens, der Andacht und Verzweiflung, die
mit der distanzierten Betrachtung des Ästheten
nichts mehr zu tun hat. Musik trägt er in
sich, so vermag er es, die Musik der Ding»
zu hören. Das Musikalische in ihm ist s»
stark, daß seine Dichtung, obwohl dramatisch
gegliedert, dennoch nicht von Tun und Leiden
beschränkter Individualitäten spricht, sondern'
die große Leidenschaft visionärer Gestalten i«
chorischen Gefüge übereinandertürmt. Der
Wechselgesang, zuletzt zur krönenden Monodie
vereint, weckt die Erinnerung an antike
Chorlyril; nur daß hier die Träger nicht
anonyme Sänger sind, sondern Personen, i»
denen das unendliche Leben der Stadt
Einheiten gefaßt erscheint. Den Sinn der
Dichtung erfasse ich in diesen ihren Worte«''
„Die Stadt ist Wissenden die Gotterscheinung-
Aus ihrem Taumel ragen wir empor.
Bejahung opfert, tot ist die Verneinung."
Dort sucht der Dichter darum ihr
Wesen, wo es in Wesenlosigkeit zu zer¬
rinnen scheint, dort ihren Sinn, wo das
getrübte Auge des nicht zu vollkommener
Andacht Gelangten nichts als Entartung und
Verderbnis und Schande zu gewahren glaubt.
In der tiefsten Finsternis das Licht leuchten
zu sehen, in grenzenloser Verwirrung reine
Musik zu hören, — darin liegt die menschliche
Reinheit, die dichterische Reife in Max Sidow.
Einung erschließt, die das Ende aller mensch¬
lichen Wanderung zu sich selber darstellt.
Die Besinnung auf die aus > der Getciltheit
neu zusammenzuschließende Allheit des Geistigen,
auf das Zurruhckommen aller endlichen Be¬
wegung in einer Mitte, die keine Grenzen
mehr kennt, gibt dieser Sinfonie bis zu ihren
letzten Akkorden Klarheit und Kraft. — Der
große Dichter Theodor Däubler hat in
den tiefen Worten, die er der Dichtung vor¬
ausgeschickt hat, die Ursprünge ihrer Visionen
in verborgenen, geistigen Bereichen aufgezeigt
und ihren Gang, wie Platon es im Timaios
tut, im Gang der Gestirne verankert.
hat, das weitere Ziel, die höhere Weihe einer
Rücksendung von Manuskripten erfolgt nur gegen beigefügtes Rückporto.
Nachdruck sämtlicher Aufsätze ist nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlages gestattet
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Einzelnummer 50 Pf., vierteljährl. (b. d. Post) M. «.—, Jahresbezug (b. Verlag) M. 20.—,
Verlag: Berlin V 9, Schellingstrasze 13, Fernspr.: Lützow 5196.
Das „Gewisien", dessen Leserkreis im „Ring" zusammengeschlossen ist, erscheint
wöchentlich und gibt dem politischen Einheilswillen der Jungen entschiedenen Aus¬
druck. Es wendet sich gegen Korruption, Parteihader und Klassenkampf und versieht
eine aktivistische Politik des nationalen Aufbaus auf korporativer Grundlage.
Aus dem Inhalt der Ur. 48:
Das System Schüler. Von Chronist. — Zwei Welten. Von Heinrich von Gleichen. — Der wirtschaftlich«
Niederrang Pr »ßisch-Pole»s. Von Wilhelm Oslei ling. — Ländliche Siedln»«. Von Fritz Ehrenforth.-"
Partciiozialismus und Weltwirtschaft. Von F itz Weth. — Genuinschaft, Von Hans Schwarz,
im»»»«»»»»«
Me KaruMristen
früMrucke
tot2lchmttvUOer
ÄUe Kcipvare cmvänüe
franMMe liuvstrwerke
Reihen wUenMastUcher 2eit-
Mristen u. MMemie-rubU--
Kattonen, auch iiunttblätter
MerMtsSttche, Radierungen,
KmMTeichnungsNl
und Autographen
Kanst u. verkauft
Mrlw.MerFcmann
?l n t l it u a r i a t
IciMg, KönMtr. 29
Dem heutigen Heft der „Greniboten" ist ^
Prospekt des Vertuges der Täglictien R«"°.
sei,»n. Berlin, diverse Neuerscheinungen belreW°'
beigefügt, auf den wir besonders aufmerksam in»O
möchten.
Ferner sind Prospekte beigefügt des Verlags
Oldenburg ^ t'«., Berlin, über d.e bela""w
Weltanschauungsbücher von Emil Felder und >v
Verlages Frie? Würtz, Berlin. „Gute Un"'
haltungs und Geschenkliteratur" betreffs'
in 14. August 1921 läuft die zweijährige Frist ab, die in Artikel 167
der Reichsverfassung für das Inkrafttreten der Bestimmungen des
Artikels 18 festgesetzt worden ist, welche die Neugliederung des
Reiches vorsehen. Im Hinblick hierauf ist bekanntlich von der
Reichsregierung bereits eine Kommission zum Studium der Frage
ver Neugliederung des Reiches eingesetzt worden. Die allgemeine Lage, die hierfür
in Betracht kommt, ist folgende:
Die Provinz Oberschlesien soll für den Fall, daß sie sich durch die Volks¬
abstimmung für Deutschland erklärt, Autonomie erhalten, d. h. also, Oberschlesien
soll diesfalls aus dein preußischen Staatsverband ausscheiden und ein selbständiges
«Land" im Sinne der Reichsverfassung werden. Hiermit wäre der Anfang zur
Zerstückelung des preußischen Staatsgebietes gemacht. Falls Oberschlesien diese
Sonderstellung im Reiche erringt, ist als verhältnismäßig sicher anzunehmen, daß
die Rheinprovinz, in der ja schon lange ähnliche Bestrebungen auf Autonomie vor¬
handen sind, folgen würde. Dadurch wieder würde die autonome Bewegung in
Hannover, die für die Wiedererrichtung eines selbständigen hannoverschen Staates
unter welfisch-monarchischer Führung eintritt, außerordentlich gestärkt werden und
Hannover als dritte preußische Provinz auf dem Plane der Autonomiebewegung
^scheinen. Man kann es verstehen, daß unter solchen Umständen alle an der großen
Vergangenheit Preußen-Deutschlands hängenden Kreise gegen jede Ncueinteilung
des Reiches, die mit der Zerstückelung des geographischen Preußens gleichbedeutend
sein würde, geradezu leidenschaftlich Front machen. Dennoch verkennen sie die
Macht der Tatsachen.
Neben den Loslösungsbestrebungen preußischer Provinzen oder besser gesagt
ihrer scharfen Begünstigung durch die heutigen Machthaber, sind im Reiche zweifellos
sehr starke und gutbegründete Bestrebungen im Gange, eine neue Einteilung des
Reiches aus wirtschaftlichen Gründen zu fordern. Im Reichswirtschaftsrat sind
wir Unterstützung weiter Kreise der Arbeiterschaft Anträge der Industrie eingereicht
worden, die dem Gedanken der Gemeinwirtschast und des wirtschaftlichen Rüte-
systems entgegenkommen und deshalb eine Neueinteilung des Reiches nach Wirt¬
schaftsgebieten herbeiführen wollen. Gerade im Westen Preußens werden sich diese
Bestrebungen vielfach mit den politischen Autonomiebestrebungen decken, jedenfalls
diesen einen starken Halt verleihen.
Den stärksten Rückhalt gibt aber all diesen Bestrebungen der Gedanke des
deutschen Einheitsstaates. Daß dem größten Teil seiner Freunde die Schwierigkeit
des Problems noch nicht genügend klar zur Erkenntnis gekommen ist, tut seiner Volks¬
tümlichkeit in keiner Weise Abbruch. Von großen Parteien können die sozialistischen,
die demokratische Partei und die deutsche Volkspartei nahezu geschlossen als An¬
hänger des Einheitsstaates gelten. Vom Zentrum und der deutschnationalen Volks¬
partei werden sich mindestens starke Teile für ihn entscheiden, — alles in allem
zweifellos die Mehrheit des Reichstages und der Gesamtbevölkerung.
Der Weg zum Einheitsstaate führt nur über Opfer an liebgewordenen Über¬
lieferungen und wird insbesondere die Kreise der Rechtsparteien vor schwere Ent¬
schlüsse stellen. Hier stehen die Sympathie für den monarchischen Gedanken und
die Anhänglichkeit an die Bismarcksche Reichsschöpfung der unbewußten Erkenntnis
gegenüber, daß eine völlige Rückkehr zu den staatspolitischen Zuständen, wie wir
sie vor der Revolution gehabt haben, nicht möglich ist. So weit die Anhänger der
Rechtsparteien das Alte wieder aufbauen wollen, kommt in Betracht, daß die
Grundlage des Reiches von 1870 bis 1913 nicht so sehr der preußische Staat, als
die preußische Monarchie war, sofern es überhaupt einen Sinn hat, zurückblickend
zwischen beiden zu unterscheiden. Selbst wenn es gelänge, die angeführten Los-
lösungsbcstrebungen preußischer Provinzen hintanzuhalten — der geographische
Bestand des Staates wäre nicht der politische Machtfaktor der Monarchie von
ehedem. Es ist schwer abzusehen, wie diese bald wieder hergestellt werden könnte,
wo die Kräfte, welche die Staatsumwälzung im Reiche herbeigeführt haben, in ihrer
Gegensätzlichkeit zum Alten zur Zeit noch so stark sind, wie gerade in Preußen. Die
Anhänger Preußens rufen jetzt nach preußischen Neuwahlen in der Hoffnung, das
Schicksal zu wenden. Nach Lage der Sache aber können sie nicht mehr erreichen,
als sie bei den Wahlen zum Reichstag erreicht haben. Und daß auch dies keine ent¬
scheidende Wendung zur Wiederherstellung der früheren Macht Preußens bedeutet,
dürfte wohl auf der Hand liegen. So weit aber der Wunsch nach dem Einheits¬
staat bei den Anhängern der Rechtsparteien vorhanden ist, sind sie sich in vielen
Köpfen nicht klar darüber, daß der Weg hierzu schwerlich geebnet wird, wenn in,
einzelnen anderen Ländern Deutschlands Teilmonarchien entstehen. Hier kommen
zuvörderst Bayern und Hannover in Frage. Die staatliche Entwicklung in Bayern
drängt unaufhaltsam zur Wiedereinführung der Monarchie und kaum minder stark
ist das in Hannover der Fall. Werden aber im Süden und Westen Deutschlands
Teilmonarchien neu errichtet, so bedeutet das, da der Norden zweifellos noch nicht
für die Wiedererrichtung der Monarchie reif ist, außer unausbleiblichen inner¬
politischen Erschütterungen innerhalb des Gesamtkörpers des Reiches schwerwiegende
dynastische Verwicklungen. Man wende nicht ein, das sei heute nicht mehr möglich.
Die deutschen Erbfehler können auch hierfür wiederum einen dankbaren Boden
abgeben.
Man mache sich doch einmal die Entwicklung des Deutschen Reiches durch
die Jahrhunderte hindurch und insbesondere seit der Vismarckschen Gründung des
neuen Reiches klar. Wir dürfen nie vergessen, daß wir vor tausend Jahren ein
einheitliches Deutsches Reich gehabt haben. Die deutschen Könige waren die auf
einer gesunden demokratischen Grundlage erwählten Fürsten eines Reiches, die
Herzöge und Gaugrafen waren nur Reichsbeamte. Erst allmählich hat sich die
Territorialherrschaft durchgesetzt, das Reich geschwächt und schließlich zerstört, bis
es 1806 als Schemen versank. Vismarcks Aufrichtung des Reiches auf dem Grunde
der Fürstengewalt war seinerzeit die einzig mögliche und deshalb geniale Lösung.
Sie war aber eben nur möglich infolge des Übergewichts der preußischen Monarchie.
Die Stärke des preußischen Staates und sein verfassungsmäßig festgelegter, über¬
ragender Einfluß im Stimmenverhältnis des Bundesrath gewährleisteten die Ein¬
heitlichkeit der Reichspolitik. Heute ist es anders und die Verhältnisse, die früher
bestanden, kommen unzweifelhaft nicht wieder. Es ist nicht daran zu denken, daß die
größere Mehrzahl der Fürsten, die mit ihren kleinen Bundesstaaten gerade in ihrer
Abhängigkeit von Preußen eine Verstärkung desselben bis zum Übergewicht bildeten,
zurückkehren. Der monarchische Gedanke, soweit er nicht der Kaisergedanke des
Einheitsstaates ist, ist im wesentlichen nur an den drei Stellen lebendig, die oben
genannt wurden, in Bayern, Hannover und Preußen. Preußen aber und die Hohen-
zollern sind zur Zeit der schwächste dieser drei Faktoren. Geschwächt in erster
Linie durch den Versailler Frieden, der Preußen am schwersten getroffen hat,
geschwächt durch die Teilung in Sozialisten und Individualisten, wie sie stärker als
im Osten und Westen der früheren preußischen Monarchie nirgends zum Ausdruck
gekommen ist, geschwächt schließlich besonders durch den Unitarismus, der seine
Verwirklichung über Preußen abgelehnt und sich auf alle antipreußischen Tendenzen
gestützt hat. Eine Neugestaltung des Reiches auf bundesstaatlicher Grundlage
würde also insoweit ganz veränderte Verhältnisse vorfinden. Das Bismarcksche
Reich war möglich, weil es einen König von Preußen und daneben 22 andere
deutsche Fürsten enthielt. Das künftige Reich ist unmöglich, wenn es einen
deutschen Kaiser und daneben 3 bis 4 größere Monarchen erhalten soll. Dann kehren
wir einfach zu hohenstaufischen Zeiten zurück, wo sich die Welsen und Ghibellinen
um die Macht im Reiche stritten, dann müssen wir noch einmal die Entwicklung
durchmachen, die zu 1866 und zur Hegemonie einer der deutschen Territorial¬
gewalten führte.
Die Sympathien, die heutzutage in preußischen, monarchischen Kreisen für
den monarchischen Gedanken, wie er sich in Bayern täglich wieder mehr herausbildet,
zu sehen sind, sind deshalb schlechterdings unverständlich! Wir können zu einem
gesunden, in sich gefestigten Kaiserreich nicht auf dem Wege kommen, daß der Ge¬
danke der Monarchie von Bayern aus über Deutschland einen Siegeszug antritt,
denn er würde zu einem Föderalismus führen, der uns Jahrzehnte, wenn nicht
Jahrhunderte weit hinter die Bismarcksche Reichsgründung zurückwerfen würde.
Hält man dies fest, so wird man sagen dürfen, daß, von einem höheren Standpunkt
der Geschichte aus betrachtet, die Bismarckschen Gründungen von 1866 und 1871 ein
genialer Notbehelf waren, weil mehr im Sinne eines einheitlichen Reiches damals
nicht zu erreichen war. Daß Bismarck der Gedanke des Einheitsstaates nicht fremd
war, bewies er 1866 mit der Einverleibung von Kurhessen und Hannover. Erst
mußte Preußen so stark werden, daß es den Föderalismus im Reich ertragen
konnte, dann erst wurde dieser von Bismarck 1870 gutgeheißen und angenommen.
Das verkennen unsere heutigen Föderalisten, Zum großen Teile aber (Politiker
wie Dr. Heim ausgenommen) fordern sie unter der Flagge des Föderalismus
durchaus Verständliches und Berechtigtes, etwas, das auch im Einheitsstaat nötig
und möglich ist und den Kernpunkt ter Bismarckschen Massenpsychologie bei der
Reichsgründung 1871 bildete: Die Berücksichtigung der deutschen Stammeseigen¬
tümlichkeiten bei der politischen Gestaltung der einzelnen Reichsteile, ganz be¬
sonders auf kulturellen Gebiete, was gleichbedeutend mit einem verständnisvollen
Eingehen auf die Erbfehler und Schwächen der deutschen Natur ist. Sie sprechen
vom Föderalismus und meinen die Dezentralisation, meinen sie ehrlich in einem
verständigen Grimm über den unsinnigen Zentralismus, den der Sozialismus
und die Revolution uns in überreichen Maße beschert haben. Alle die Kreise, die
die Staatsumwälzung billigen, sind ja unitarisch; gleichzeitig aber tun sie mit
ihrem Zentralismus das Menschenmögliche, um den Einheitsstaat praktisch nicht
lebensfähig zu gestalten. Ein trauriges Zeichen von Mangel an politischer Be¬
gabung!
Heute ist die Lage anders als zu Vismarcks Zeiten. Die Fürsten sind nicht
mehr, die Territorialgewalt der Länder ist heute der
Schemen, der 1806 die Reichsgewalt war. Die Reichsgewalt aller¬
dings ist schwach durch den Frieden von Versailles und die Unfähigkeit ihrer Ver¬
walter. Der Gedanke des Einheitsstaates aber ist stark; er wird die Tat erwecken.
Wenn Bismarck heute lebte, er könnte nicht anders, er würde den Einheitsstaat
schaffen. Er ist die einzige Frucht, die uns aus der erbärmlichsten aller Revo¬
lutionen erwachsen kann. Ein schöpferischer Geist würde den Einheitsstaat aber
nicht nur schaffen als Fortsetzung des Reiches von 1871 bis 1913, sondern darüber
hinaus als Zusammenfassung aller Deutschen im Reiche und in Deutsch-Österreich.
Er würde damit nur die Pläne wieder aufnehmen, die Bismarck 1866 hatte, als
ihm Frankreich in Nikolsburg in den Arm fiel, und er in der scheinbar größten
Stunde seines Lebens an Selbstmord dachte. Trotz der gleichen Gegnerschaft wie
damals und einer im ganzen weit schlimmeren Lage ist die Verwirklichung dieses
groß-deutschen Gedankens heute doch sehr viel aussichtsreicher. Denn Deutsch-
Österreich will keiner der von der Entente neugeschaffenen Staaten haben, so daß
die von Frankreich betriebene Donaupolitik in sich unfruchtbar bleiben muß, selbst
dann, wenn sie unter Verleugnung des Reichsgedankens von einer bayerischen
Monarchie gestützt werden sollte. Die einzige als dauerhaft mögliche Lösung ist der
Anschluß Deutsch-Österreichs an das Deutsche Reich, und wenn er heute infolge der
Gegnerschaft der Entente, insbesondere Frankreichs, nicht zu erreichen ist, so muß
er doch unweigerlich allen Deutschen im Reiche und in Deutsch-Österreich als das
Ziel einer nahen Zukunft vorschweben. Auf dieses muß hingearbeitet werden. Das
kann aber unmöglich geschehen, wenn sich innerhalb Deutschlands der Föderalismus
wieder durchsetzt und Sondermonarchien bildet. Bismarck, der Titan der deutschen
Staatsvernunft, würde sich im Grabe umdrehen, wenn wir seine Schöpfungen von
1866 und 1870 in einer für ihre Wiederholung unmöglichen Lage einfach kopieren
wollten, statt in seinem Geist mit den Mitteln unserer Zeit den groß-deutschen Ein¬
heitsstaat ohne Wiederherstellung der Territorialgewalten zu erstreben. Und noch
ein anderes. Es ist gut, aus der Geschichte zu lernen, es wäre aber falsch, anzu¬
nehmen, daß frühere Entwtcklungsstadien in gleicher Reihenfolge wiederkehren.
Der Vorläufer des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches war der
deutsche Zollverein. Die Einigung damals ging also vom Wirtschaftlichen aus und
endigte im Politischen. Es ist nicht undenkbar, daß es diesmal umgekehrt sein
wird. In einer Zeit wirtschaftlichen Niederbruchs ohne gleichen und bei einer
politischen Entwicklungsmöglichkeit, wie sie bisher noch selten in der deutschen Ge¬
schichte bestanden hat, kann diesmal wohl die politische Einigung den Vortritt
erhalten.
Man mag über die „nationale Verlumpung" der deutschen Sozialdemokratie
— ein gutes Wort Rostes — so absprechend urteilen, wie man nur will, der Real¬
politiker wird nie vergessen dürfen, daß die von ihr vertretenen Massen in ihrer
Abkehr vom Föderalismus eine Strömung bilden, die, sicher geleitet und genutzt,
uns dem Ziele des Einheitsstaates näherbringen muß. Diese Strömung steht in
einer beiden Teilen unbewußten Wechselwirkung mit den guten, für unsere staatliche
Entwicklung nützlichen Seiten des Föderalismus, wie sie oben gekennzeichnet
wurden. Der Gedanke des Einheitsstaates muß das Brauchbare nehmen, wo er es
findet und das Unbrauchbare abstoßen. Wenn die staatliche Konsolidation Bayerns
in ihrer Einwirkung auf Norddeutschland bei uns Sowjetzustände verhindert, so
kann es ihr wirklich nicht hoch genug gedankt werden. Führt sie aber zu einer
notwendig die Reichseinheit sprengenden Sondermonarchie, so wird sie wahrscheinlich
schwereren Schaden anrichten, als sie Nutzen stiften kann. Hätten wir nur ein
bißchen politischen Fernblick und Großzügigkeit, so müßte uns der Umstand, daß
unsere Feinde den Föderalismus wollen, der beste Beweis dafür sein, daß wir jetzt
den Einheitsstaat haben müssen. Er ist heute möglich und es bleibt nur dafür zu
sorgen, daß er in einer Gestalt ersteht, die eine organische Fortsetzung des preußisch¬
deutschen Reiches verbürgt, wie es von 1870 bis 1918 doch schließlich die größten
Leistungen aufzuweisen hatte, die in der Weltgeschichte in so kurzer Zeit jemals
vollbracht sind. Um den Kaisergedanken braucht kein Anhänger Preußens in
Deutschland bange zu sein. Wie er sich durch die Jahrtausende erhalten hat und
wie er nach zweijährigem Umsturz bereits wieder mächtig angewachsen ist, so wird
auch die weitere politische Entwicklung des deutschen Volkes niemals an ihm vorbei¬
gehen können. „Kaiser" und „Reich" klingen immer wieder zusammen.
Es klang fast nach einer Einladung zum gemästeten Kalbe, so freudig begrüßten
Sie mich verlorenen Sohn, der eben noch mit Schutz der Arbeitswilligen, Obrigkeits¬
staat u, tgi. reaktionären Schändlichkeiten das Erbe seiner Vernunft vergeudet hatte,
wegen der Abkehr vom Kapitalismus, die Sie in meinem letzten Briefe überrascht
hat. Hätten Sie die „Reaktion" mehr im. Lichte ihrer eigenen Betiitigung statt im
Spiegel gegnerischer Schlagworte betrachtet, so wäre Ihnen die Überraschung erspart
geblieben. Ich brauchte Ihnen dann nicht zu sagen, daß der Konservatismus für
den Kapitalismus niemals etwas übrig gehabt hat. Die rücksichtsloseste Beschneidung
der Kapitalsallmacht ist uns willkommen; unter einer Bedingung: sie darf der Volks¬
wirtschaft nicht ins eigene Fleisch schneiden. Hier liegt die unermeßliche praktische
Schwierigkeit der Frage. Jede Beschränkung der Gewinnmöglichkeit dämpft den
Unternehmungsgeist und ist daher eine Gefahr für die Produktionskraft. Es gehört
sehr viel Augenmaß, tiefer Einblick in das Wirtschaftsleben und sogar eine gewisse
Sehergabe dazu, um zu ermessen, wie tief man schneiden kann, ohne diese Kraft zu
lahmen oder doch ihre Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkte zu unterbinden.
Liegt überdies der Organismus der Volkswirtschaft so schwer krank darnieder wie
heut der unsrige, und die Führung des Messers in so ungeübten Händen, so ist
doppelte Behutsamkeit geboten, wenn es nicht heißen soll: die Operation gelang, der
Patient ist verschieden.
Den orthodoxen Marxisten, der zwischen seinen Scheuklappen nur den Kampf
gegen das Kapital sieht, wird das wenig anfechten: kia,t, soeialikzinus, xorss-t Meria!
Der Teil der Sozialdemokratie, der sich regierungsfähig vorkommt, hat notgedrungen
Vorsicht gelernt und will bei der Durchführung des Parteiprogramms nicht mehr
unbedingt über Leichen gehen., Aber seine Vergangenheit drängt ihn zur Erfüllung
der alten Verheißungen, es drängen die Genossen von links auf Sozialisierung um
jeden Preis — ob zwischen diesen Forderungen und der Vernunft, d. h. den Lebens¬
bedürfnissen der Volkswirtschaft eine Verständigung über das Maß des Erträglichen
möglich sein wird, bleibt mehr als zweifelhaft.
Es tut mir leid, Ihnen die Freude stören zu müssen, mit der Sie mich halb
und halb als „Genossen" begrüßen zu können meinten. Da Sie mich aber aus¬
drücklich fragen, was mich von der Sozialdemokratie trennt, so muß es gesagt sein:
Selbst wenn über die Sozicilisicrung der Produktionsmittel eine Verständigung
möglich wäre, liegt eine ganze Welt zwischen uns. Vor allem schließt ihre Haltung
in der nationalen Frage jede Einigung aus. Nicht, weil sie international, aber weil
sie antinational ist.
Gegen den Internationalismus, gegen das Ideal der Völkerverbrüderung habe
ich nichts einzuwenden, als daß man sich keinen Illusionen hingeben soll und daß für
die Entwicklung der Menschheit in ihrer Gesamtheit nach meiner Überzeugung noch
auf lange Zeit hinaus dadurch am besten gesorgt wird, daß jedes Volk rüstig seinen
eigenen Weg geht. Für „völkische" Versticgenheiten habe ich, wie Sie wissen, sehr
wenig übrig. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß die krampfhafte Be¬
flissenheit, mit der ein gewisser Kreis braver und wohlmeinender Leute auf ihr
Deutschtum pocht, mit dem Begriffe „deutsch" sich nicht begnügend, ihn zu „deutscher"
und „am deutschesten" zu steigern und die unmöglichsten Dinge auf den völkischen
Leisten zu schlagen bemüht ist, ihre Wurzel gerade in dem durchgehenden Mangel
jenes ruhigen und selbstverständlichen Nationalgefühls hat, um dessen Gemeinbesitz
wir andere Völker beneiden müssen. Auch hier halte ich's mit Jakob Burckhardt
und meine, daß „auf geistigem Gebiete alle Schlagbäume billig in die Höhe gehen".
Ich gestehe, daß Michelangelo und Giorgione mich früher gepackt haben als Dürer
und Grünwald, daß es mir schlechterdings nicht gelingen will, zum Nibelungenlied
ein Verhältnis zu gewinnen wie zum Homer, und daß es mir gar nicht in den Sinn
kommt, in Dante den Italiener, in Shakespeare den Briten zu sehen. Wenn ich
mich in diesen Sphären bewegen darf, verschwinden mir die Ländergrenzen in
dämmriger Ferne. Ich will gar nicht bestreiten, daß ich vielleicht für diese Grenzen
und Schlagbüume auf geistigem Gebiete gar zu wenig Sinn habe, daß ich hier von
Natur — gerade darin allzu deutsch — zum Weltbürgertum neigen mag. Mein
Nationalbewußtsein trägt sehr hausbackene Züge: es bedeutet nicht mehr, aber auch
nicht weniger als treue Kameradschaft mit den Volksgenossen, als das Bewußtsein
unbedingter Zusammengehörigkeit mit ihnen und den Willen, an dieser Gemeinschaft
festzuhalten um jeden Preis und unbeirrt durch alle anderen Bindungen, seien sie
materieller oder idealer Art.
Gerade das ist es, wovon die Sozialdemokratie nichts wissen will, was sie ver¬
leugnet, verhöhnt, bekämpft. Wie ist es Ihnen möglich, sich damit abzufinden, Ihnen,
bei dem ich, seit wir uns kennen, die Stärke und Unmittelbarkeit des geistigen
Nationalgefühls immer und nicht ohne Beschämung bewundert habe? Können Sie
wirklich daran zweifeln, daß der Internationalismus der Sozialdemokratie bewußt
antinational, als Sprengstoff für den nationalen Gedanken gedacht ist? Daß
sie die Internationale gerade zur Zersetzung der Volkseinheit, die Völker¬
verbrüderung eben auf Kosten des inneren Friedens anstrebt. Sie will die
Grenzwälle nur niederreißen, um neue Schranken zu errichten, quer über die Landes¬
grenzen hinweg, aber mitten durch das Herz des Volkes hindurch. Wenn sie dem
Völkerkricg ein Ende machen will, so ersetzt und überbietet sie ihn durch den
Klassenkampf. Seltsam eigentlich, daß ihr strenger Pazifismus nicht beleidigt wird,
sondern mit kaum verhehltem Wohlwollen zusieht, wenn dieser sich gelegentlich zum
Bürgerkriege entwickelt! Dabei bedürfte es der Erlebnisse dieser Jahre kaum, um
die geschichtliche Erfahrung zu bestätigen, daß solch ein Bruderkampf mit gesteigerter
Erbitterung, mit besonders vergifteten Waffen ausgefochten zu werden pflegt. Wenn
ohne Scheidewände zwischen Mensch und Mensch nun einmal nicht auszukommen ist,
dann lasse man sie um Gottes willen an den Lcmdesgrenzcn stehen! Dort trennen sie
wenigstens nicht, was unbedingt zueinander gehört, was durch den Zwang der un¬
mittelbarsten Bedürfnisse und zugleich durch die ursprünglichsten aller menschlichen
Regungen auf Zusammenleben und Zusammenarbeit angewiesen ist, was um der
Menschheit und ihrer Ziele willen zusammenhalten muß, weil sein Zwist die Grund-
Pfeiler aller Kultur erschüttert. Der Verkehr von Volk zu Volk kann sich mit Grenz¬
hindernissen abfinden, Stacheldraht und Schützengraben erlebt ein Menschenalter
kaum zum zweiten Male; an der Mauer aber, die zwischen den Schichten unseres
Volkes aufgerichtet wird, stoßen wir uns täglich die Stirne wund.
Wenden Sie nicht ein, daß der Sozialismus diese Mauer nicht gebaut, sondern
nur auf die längst vorhandene aufmerksam gemacht habe. Das ist ein und dasselbe.
Soziale Scheidewände entstehen erst dadurch, daß sie zum Bewußtsein kommen. Sie
werden nicht leugnen, daß die Sozialdemokratie dafür und davon gelebt hat, dies.
Bewußtsein recht scharf und schmerzhaft zur Geltung zu bringen, und daß sie überdies
alles daran gesetzt hat, die Mauer selbst immer mehr zu verstärken, zu erhöhen und
jeden Versuch ihrer Durchbrechung zu vereiteln.
Sie können auch nicht bestreiten, daß dieser Klassenkampf, der das Lebens¬
element der Sozialdemokratie ist, sie zur Todsünde wider den nationalen Gedanken,
zum Bunde mit dem Landfremden gegen den Volksgenossen verleitet. Ruhme sie
sich doch selbst, daß ihr der Proletarier aller Länder näher stehe als der Landsmann
andren Standes! Im seelenmordenden Parteikämpfe kommt es dann so weit, daß
jeder Fremde unbesehen als Bundesgenosse willkommen ist, wenn es nur gegen
das eigene Vaterland geht. Müssen wir es doch mit ansehen — ja, wir daven uns
daran nachgerade wie an etwas Unvermeidliches gewöhnt, daß Leute, die sich Deutsche
nennen, ihren Pazifismus und ihre Todfeindschaft gegen Kapitalismus und
Imperialismus dadurch betätigen, daß sie dem brutalen Imperialismus des vom
Kapitalismus beherrschten Frankreichs zur Vergewaltigung ihres Heimatlandes, des-
sozialistisch regierten und schon aus Ohnmacht friedfertigen Deutschlands ihre Dienste
als Spitzel und Denunzianten aufdrängen!
Sie wollen das als Verirrungen eines verstiegenen Radikalismus abtun. Haben
Sie vergessen, mit welchem Behagen auch Mehrheitssozialisten feindliche Lügen über
die Schuld des kaiserlichen Deutschlands an und im Kriege wiederkäuten? Alle diese
beschämenden Gesinnungslosigkeiten wachsen aus der einen Wurzel: aus dem anti¬
nationalen Klassenkampsgedanken, der allen Richtungen der Sozialdemokratie
gemein ist.
Ich weiß wohl, daß ihn keineswegs alle Parteigenossen teilen. Sie brauchen
mich wahrlich nicht an den Sommer 1914 zu erinnern! Die Erlebnisse dieser Wochen
werde ich bis an mein Ende nicht vergessen, und freudig gedenke ich der Treue, die
Hunderttausende von sozialdemokratischen Arbeitern und auch viele ihrer Führer
dem Vaterlande damals bewährt haben. Wenn Sie aber daraus der Partei als solcher
einen Nuhmeskrcmz flechten wollen, so muß ich Ihnen entgegenhalten, daß die
Parteileitung sich bei Kriegsbeginn in einer Zwangslage befand. Hätte sie sich
der Regung entgegenstemmt, die in jenen Tagen mit urkräftiger Gewalt das
Volk dahin riß, sie wäre selbst mit hinweggeschwemmt worden. Daß sie sich alsbald
daran gemacht hat, diese Strömung einzudämmen und allmählich ins alte Bett zurück¬
zuleiten — eine Mühe, die ihr durch die Bethmannsche Politik der Verschleierung
aller Gegensätze in verhängnisvoller Weise erleichtert worden ist —, das kann niemand
bezweifeln, der damals die Haltung der sozialdemokratischen Presse verfolgt hat. Sie
werden sich entsinnen, daß schon bald nach Beginn der Ernährungsschwierigkeiten
das blöde Schlagwort aufgetischt wurde, der Mangel sei nicht sowohl Schuld der
feindlichen Sperre, als vielmehr des agrarischen Nahrungsmittelwuchers. Damit
war im Grunde die alte Frontstellung wieder eingenommen: Gehässigkeit gegen den
Landsmann und Anbiederung nach außen. Es dauerte dann nicht mehr lange, bis
man anfing, die Not des Vaterlandes zu innerpolitischen Erpressungen zu mi߬
brauchen. Der Burgfriede wurde gekündigt. Fragen des Koalitions- und Wahl¬
rechts mußten gerade im Augenblick vaterländischer Gefahr aufgerollt werden, damit
der Gegner, dem mehr Verantwortungsbewußtsein zugetraut wurde, durch die Rück¬
sicht auf den inneren Frieden zur Aufgabe seines Widerstandes genötigt werde.
Lebensfragen der Kriegführung und die Friedensgewinnung hat der Parteigeist
— allerdings nicht allein der sozialdemokratische, der aber auch hierin voranging
und den Kern der Neichstagsmehrheit bildete — zu Waffen im Kampfe um die
Parlamentsherrschast herabgewürdigt, unbekümmert darum, ob dadurch, wie bei der
Il-Voot-Debatte und der Friedcnsresolution, unsere Lage dem Auslande gegenüber
aufs verhängnisvollste geschwächt wurde.
Lassen Sie mich abbrechen. Das, was zum Ende führte, ist ja noch in frischer,
blutender Erinnerung: die planmäßige Vorbereitung der Niederlage durch Zersetzung
der bewaffneten Macht, deren sich Wortführer der Unabhängigen öffentlich gerühmt
haben; der „Dolchstoß in den Rücken" des Heeres im Augenblick, als es nach Er¬
löschen der Siegeshoffnung galt, einen Diktatfrieden abzuwehren; die Erdrosselung
des letzten Willens zur Verteidigung, der Druck auf Annahme der vernichtenden
Wasfcnstillstandsbedingungen, die Deutschland wehrlos der Raub- und Rachgier
seiner Feinde überantwortete; endlich die Umwälzung selbst, die im Augenblicke
äußerster Not des Vaterlandes alle Autorität, allen Zusammenhalt, alle Möglichkeit'
zum Widerstande vernichtete. Über diese Bergeslast von Schuld, die sich die Sozial¬
demokratie aufgeladen hat die Sozialdemokratie in ihrer Gesamtheit! Denn ihre
Saat, jahrzehntelang in einmütiger Arbeit gestreut, wenn auch durch zahllose Fehler
der Negierung und der anderen Parteien gedüngt, ist es gewesen, die in jenen
schwarzen Herbsttagen aufging, und was die Radikalen mit Vorbedacht herbeiführten,
haben die Mehrheitssozialisten, um nicht unter die Räder zu kommen, wenigstens
nachträglich gedeckt und mitgemacht — über all dies Unnennbare kann ich beim besten
Willen nicht mit der Gelassenheit reden, die zu wahren ich mir alle Mühe gebe, um
brennende Streitfragen mit einem alten Freunde in Freundschaft zu besprechen.
ach Verhandlungen, die viele Monate dauerten und oft zu scheitern
drohten, schlossen sich am 31. Mai 1910 die vier britischen Kolonien
in Südafrika: Kapkolonie, Natal, Oranjefreistaatkolonie und Trans¬
vaal, zur südafrikanischen Union („Union of South Africa" lautet
die amtliche englische Bezeichnung) zusammen. Die zu über¬
windenden Schwierigkeiten waren ungeheure gewesen. Um nur eine davon zu er¬
wähnen: Jede der vier Kolonien hatte ihr eigenes Ministerium, und die Zustimmung
?um Zusammenschluß bedeutete für die große Mehrzahl der Minister das politische
Harakiri. Die Selbstverleugnung und politische Einsicht dieser Männer verdient
Bewunderung. Ein großer Teil des Verdienstes am Zustandekommen dieses für
Südafrika so wichtigen Werkes gebührt übrigens der Staatskunst und dem Takt
eines Mannes, dem die Geschichte bisher noch nicht den gebührenden Tribut zollt,
vielleicht weil seine Bescheidenheit einen der stärksten Züge seines vornehmen
Charakters bildet. Es ist dies Lord Selborne, wohl der größte und sähigste General¬
gouvemeur, den Südafrika je gehabt hat.
Ein weiterer Mann, der an dem Zustandekommen der Union hervorragend
beteiligt war, ohne in der Öffentlichkeit sehr hervorzutreten, war Jan Hendrik
Hofmeyr, einer der bedeutendsten Führer der Burenpartei in der Kapkolonie und
Gründer des „Afrikanderbond", des Bundes der Afrikaner, der im politischen Leben
Südafrikas während einiger Jahrzehnte eine wichtige Rolle spielte und in der:
Hauptsache die burischen, deutschen und holländischen Elemente, die Südafrika als
ihre Heimat betrachten, umfaßte. Hofmehr war schon bei Beginn der Verhand¬
lungen über die Gründung der Union sehr kränklich und hat die Vollendung der
großen politischen Umwandlung Südafrikas nicht mehr erlebt. Er starb am 16. Ok¬
tober 1909.
Noch in letzter Stunde drohten die Verhandlungen an einer verhältnismäßig
nebensächlichen Frage zu scheitern. Die Kapkolonie, als die älteste Kolonie, ver¬
langte, daß Kapstadt die Unionshauptstadt sein sollte, während die Delegierten des
Transvaal, als der wirtschaftlich wichtigsten Kolonie, dieses Vorrecht für Pretoria
forderten. Ihr Führer, General Bodha, erklärte rundweg, daß er es gar nicht wagen
könne, nach dem Transvaal zurückzukehren (es wurde damals in Kapstadt ver¬
handelt), „ohne die Hauptstadt mitzubringen". Schließlich kam eine Einigung auf
der Basis zustande, daß Pretoria der Sitz der Regierung, Kapstadt der Sitz des
Parlaments sein solle: Die Minister müssen also zu jeder Parlamentssitzung, begleitet
von einem zahlreichen Stab von Beamten, von Pretoria nach Kapstadt übersiedeln.
Berücksichtigt man, daß die schnellsten zwischen den zwei Städten verkehrenden Züge
36 Stunden gebrauchen, so ergibt sich ein Verhältnis, wie wenn die deutsche Re¬
gierung in Berlin, der Reichstag aber etwa in Rom wäre! Ein ans die Dauer
unhaltbarer Zustand.
Nach der Verfassung setzt sich die gesetzgebende Körperschaft aus zwei Kammern
zusammen. Das Oberhaus, der Senat, hat 40 Mitglieder. Acht davon waren von
dem Generalgouvemeur mit Zustimmung der Unionsminister zu ernennen, und je
acht wurden von den Mitgliedern der vier früheren Einzelparlamente gewählt. Der
Senat behält seine ursprüngliche Zusammensetzung für zehn Jahre, nach dieser Zeit
kann das Unionsparlament die Zusammensetzung ändern und einen neuen Wahl¬
modus einführen. — Das Unterhaus (englisch: House of Assemblh) hatte ur¬
sprünglich 121 Mitglieder, wovon 51 auf die Kapkolonie, 17 auf Natal, 1,7 auf die
Oranjeflußkolonie und 36 auf den Transvaal entfielen. Das Unterhaus hat eine
Dauer von fünf Jahren, wenn es nicht früher aufgelöst wird. Alle fünf Jahre
findet eine Zählung der Wähler statt und die Zahl der Abgeordneten wird auf
Grund der Zählergcbnisse revidiert und gegebenenfalls vergrößert, bis die Zahl 150
beträgt; diese soll nicht überschritten werden. Für die letzte Wahl, die am 10. März
dieses Jahres stattfand, war die Zahl der Abgeordneten auf 134 festgefetzt.
Die Regierungsform lehnt sich an die britische an. An der Spitze der Re¬
gierung steht der Generalgouvemeur als Vertreter des Königs; ihm zur Seite steht
e-in ausführender Rat (Executive Council), der sich aus den Ministern zusammen¬
setzt. Die Minister müssen Mitglieder des Senats oder des Unterhauses sein und
sind dem Parlament verantwortlich, sie behalten also ihr Amt nur so lange, als eine
Mehrheit im Parlament sie stützt. Die Zahl der in der Verfassung vorgesehenen
Ministerportefeuilles ist zehn.
Wie in einem Gebiet mit so weitgehender Selbstverwaltung, wie die Union sie
besitzt, nur natürlich, spielt der Generalgouvemeur im parlamentarischen Leben eine
ähnlich passive Rolle, wie der König von England. Er hat das Recht, ein Veto
gegen ein vom Parlament angenommenes Gesetz einzulegen, hat davon aber in den
zehn Jahren des Bestehens der Union noch nie Gebrauch gemacht. Er kann ebenso-
wenig, wie der König von England, einen Minister ernennen, sondern muß einen
führenden Parlamentarier mit der Bildung eines Ministeriums beauftragen.
Nachdem die Union konstituiert war, sandte der Generalgouvemeur, in der
richtigen Voraussetzung, daß die „Afrikaner" bei den Parlamentswahlen die meisten
Sitze gewinnen würden, nach deren Führer, dem General Louis Bodha, und beauf¬
tragte ihn mit der Bildung des Ministeriums. Bodha besetzte das Kabinett fast ganz
mit seinen Parteigängern. Er übernahm selbst das Amt des Premierministers und
das Portefeuille der Landwirtschaft und verteilte die anderen Portefeuilles wie
folgt: An Parlamentarier vom Transvaal zwei, an solche der Kapkolonie vier, an
solche der Oranjefreistaatkolonie zwei, während ein Posten an einen Vollblut¬
engländer, als Vertreter der Kolonie Natal, fiel. Das erste Kabinett hatte folgende
Zusammensetzung:
Die Wahlen fanden am 15. September 1910 statt und brachten mancherlei
Überraschungen, unter anderen auch die, daß General Bodha selbst durchsiel, -was
ihn so verärgerte, daß damals von manchen Seiten mit seinem Ausscheiden aus dem
öffentlichen Leben gerechnet wurde. Er entschloß sich aber, zu bleiben, und es wurde
natürlich ein sicherer Wahlkreis für ihn frei gemacht. Die Wahlen hatten das folgende
Ergebnis: Nationalisten 66, Unionisten 39, Unabhängige 12, Arbeiter 4 Sitze.
Vor den Wahlen bestanden in Südafrika eigentlich nur zwei Parteien, die
»Nationalisten" oder Buren, und die „Unionisten", die sich ganz überwiegend aus
Engländern zusammensetzen. Von den Arbeitern konnte man als von einer Partei
kaum reden. Bemerkenswert groß war die Zahl der Unabhängigen; nicht weniger
als 11 waren in Natal gewählt worden, und sie bestanden meist aus Leuten, die
noch zögerten, welcher der beiden großen Parteien sie sich anschließen sollten.
Die Bezeichnung „Nationalisten" hatte bis dahin ausschließlich für die Buren
gegolten. General Bodha sah darin einen Nachteil für seine Partei, die er auf eine
möglichst breite Grundlage zu stellen wünschte, und gab ihr nach den Wahlen den
Namen „Südafrikanische Partei". Dies war von Erfolg begleitet, mehrere Un¬
entschlossene traten der Partei bei, und auch sonstige Abgeordnete englischer Ab¬
stammung schlössen sich ihr an. Tatsächlich ist die vielfach verbreitete Ansicht, daß
die beiden großen Parteien lediglich Gegensätze zwischen Briten und Buren dar¬
stellten, unrichtig. Auch ist die Annahme, daß die Südafrikanische Partei die länd¬
lichen, die Unionistenpartei die städtischen Interessen vertrete, in dieser Verall¬
gemeinerung nicht zutreffend. Vielleicht läßt sich der Unterschied am besten so er¬
klären, daß die Südafrikanische Partei dazu neigt, das südafrikanische Interesse über
das von Großbritannien zu stellen, während bei den Unionisten das Umgekehrte
der Fall ist.
Bis Ende 1912 hatten sich in den Stärkeverhältnissen der Parteien folgende
Verschiebungen ergeben: Die Südafrikanische Partei hatte 73, die Unionisten hatten
34 Sitze; die Zahl der Arbeitervertreter war 5, die der Unabhängigen 4. General
Botho, verfügte also über eine stärkere Majorität, als zu Anfang seiner Amtsführung/
Aber schon damals machten sich Anzeichen des Zerfalls der südafrikanischen
Partei bemerkbar. Der Justizminister, General Hertzog, geriet immer mehr mit
seinen Kollegen im Ministerium in Widerspruch; er warf ihnen zuerst in versteckter
Form, dann immer unverblümter vor, daß sie Großbritannien gegenüber zu liebe¬
dienerisch seien und die Interessen der südafrikanischen Union vernachlässigten.
Auch trat er in sehr heftiger Weise gegen die englische Sprache im öffentlichen
Leben und in den Schulen auf und entfremdete damit die englischen Elemente, die
anfänglich mit der südafrikanischen Partei sympathisiert hatten. General Botho,
entschloß sich schließlich, den ungebärdigen Gefolgsmann loszuwerden; er reichte
dem Generalgouvemeur im Dezember 1912 die Demission des Kabinetts ein, wurde
aber mit der Neubildung des Ministeriums betraut. Aus dem ursprünglichen
Kabinett waren schon vorher zwei Minister ausgeschieden. Both« übernahm wieder
das Amt des Premierministers und das Ministerium für Landwirtschaft und bildete
sein Kabinett im übrigen wie folgt:
General Hertzog trat nun offen in die Opposition und bildete eine eigene
neue Partei, für die er die alte Bezeichnung „Nationalistenpartei" wieder ins Leben
rief. Zuerst war seine Gefolgschaft nur gering, aber seiner Beredtsamkeit und
geschickten Taktik gelang es bald, weitere Anhänger zu gewinnen. Damit führte er
eine Zersplitterung der Stimmen der Buren im Parlament herbei und schuf aus
seinen Anhängern eine zweite Opposition. Aber er konnte zunächst dem Kabinett
nicht gefährlich werden; schon aus dem Grunde, weil die Unionisten ihm, als dem
verkörperten Mittelpunkt der englandfeindlichen Richtung, gewiß nicht geholfen
hätten, die Negierung zu stürzen.
Als General Botho, bei Ausbruch des Weltkriegs nach einigem Zögern M
erkennen gab, daß er das Heil Südafrikas in der Teilnahme am Kriege auf der
Seite Großbritanniens sah, vertiefte sich der Gegensatz zwischen den beiden Rich¬
tungen der Buren noch erheblich, denn General Hertzog und seine Anhänger ver¬
fochten mit aller Heftigkeit die Forderung strenger Neutralität. Gerade dadurch
aber gewann Bothas Kabinett an Festigkeit, denn die Unionisten versprachen in aller
Form, das Ministerium während der Dauer des Krieges, solange es an seiner
Loyalität England gegenüber festhalte, zu stützen.
Einige extreme Elemente der Nationalisten glaubten kurz nach Ausbruch deS'
Weltkrieges, daß der Augenblick günstig sei, um die britische Herrschaft abzuschütteln.
Da sie wußten, daß das Ministerium für solche Pläne nicht zu haben war, erhoben
sie sich Anfang Oktober 1914 mit bewaffneter Hand und versuchten, die Macht an
sich zu reißen. An die Spitze der Aufrührer stellte sich General Beyers, ein all¬
gemein geachteter, tüchtiger Mann, Er war bis zum Ausbruch des Weltkriegs
Oberstkommandierender der Streitkräfte der Union gewesen, war aber zurückgetreten,
da er den von dem Ministerium beschlossenen Feldzug gegen Deutsch-Südwestafrika
schärsstens mißbilligte. Ein weiterer Führer des Aufstandes war der aus den,
Burenkrieg so allgemein bekannte General de Wer. — Aber die Leiter, der Er¬
hebung hatten offenbar weder die allgemeine Stimmung unter den Buren, noch die
Energie und die Machtmittel der Negierung richtig beurteilt. Der Aufstand wurde
in kurzer Zelt niedergeschlagen, General Beyers fand auf der Flucht seinen Tod in
den Wellen des Vaalflusses und General de Wet mußte ins Gefängnis wandern.
Dem General Hertzog konnte trotz vorhandener Verdachtsgründe keine Schuld an dem
Aufstände nachgewiesen werden.
Im Oktober 191S fanden die verfassungsmäßigen Neuwahlen für das Parla¬
ment statt. Sowohl Unionisten wie Nationalisten und die Südafrikanische Partei
entfalteten eine fieberhafte Wahlpropaganda. Das Ergebnis war wie folgt: Süd¬
afrikanische Partei S4, Unionisten 40, Nationalisten 27, Arbeiter 4, Wilde 5 Sitze.
General Botho, hatte somit keine Majorität mehr, denn im Grunde waren sowohl
die Unionisten wie die Nationalisten für ihn Opposition. Die Wilden stimmten
gewöhnlich mit den Unionisten, während die Arbeiter ein unberechenbarer Faktor
waren. Wie gesagt, konnte aber das Ministerium auf die Unterstützung der
Unionisten rechnen, und ist tatsächlich mit ihrer Hilfe die ganze Zeit im Amte
geblieben: die öfter erhobene Forderung, daß ein Koalitionsministerium gebildet
werden solle, in dem die Unionisten einige Sitze zu erhalten hätten, ist von General
Both« nicht bewilligt worden.
Das parlamentarische Leben der südafrikanischen Union bildet bis zum Ende
des Weltkriegs keine für die Außenwelt sehr bemerkenswerten Ereignisse, General
Hertzog gab aber immer deutlicher zu erkennen, daß er und seine Partei als letztes
Ziel die völlige Loslösung vom britischen Reiche und die Gründung einer das ganze
Gebiet der Union umfassenden südafrikanischen Republik ins Auge gefaßt haben.
Es kam der Zusnmmenbruch der Mittelmächte und damit der Kampf um die
14 Punkte des Präsidenten Wilson, die auch das freie Selbstbestimmungsrecht der
Völker einschlossen. General Hertzog und einige andere Führer der Nationalisten
Nahmen dieses Recht der Selbstbestimmung auch für die Bevölkerung Südafrikas in
Anspruch; sie kamen in den ersten Monaten des letzten Jahres nach Europa unb
versuchten, eine Unterredung mit dem Präsidenten Wilson zu erreichen, was ihnen
aber nicht gelang. Dagegen hatten sie eine Besprechung mit dem britischen Premier¬
minister, Lloyd George. Es fiel diesem klugen und schlagfertigen Parlamentarier
nicht schwer, die Deputation in der öffentlichen Meinung ins Unrecht zu setzen.
Tatsächlich stand auch ihre Sache auf einem etwas schwachen Fundament, Sie
konnte bei ihrer Forderung der Selbstbestimmung unmöglich geltend machen, daß sie
ein Mandat von der ganzen Union habe, denn in der Kapprovinz war der Wunsch,
die Unabhängigkeit von Großbritannien zu erlangen, bis dahin nicht in so energischer
Weise laut geworden, daß man hätte annehmen müssen, ein beachtenswerter Teil der
Bevölkerung stehe hinter einer solchen Bewegung; in der Natalprovinz stand die
probritische Stimmung der überwiegenden Mehrzahl der Bewohner sogar außer allem
Zweifel. General Hertzog und seine Kollegen beschränkten sich daher darauf, von
dem britischen Premierminister nur das Recht der Selbstbestimmung für die beiden
annektierten Jnlandstaaten, den Transvaal und die Oranjefreistaatkolonie, zu fordern.
Lloyd George wies in seiner Erwiderung zunächst darauf hin, daß die Buren-
sichrer, als der Burenkrieg sein Ende erreichte, nicht bedingungslos die Waffen
streckten, sondern sich in dem Friedensvertrag von Vereeniging vom 31. Ma 1902
ausdrücklich bereit erklärten, die britische Oberhoheit anzunehmen. Sodann legte
er mit allem Nachdruck dar, daß der Zusammenschluß der vier südafrikanischen
Kolonien zur Union ohne den geringsten Druck oder irgendeine Einwirkung von
England zustande gekommen sei; es sei eine reine innerafrikanische Angelegenheit
gewesen. Die beiden binnenländischen Kolonien hätten damals bereits Selbst¬
verwaltung gehabt und Parlamente besessen, die aus freien, allgemeinen Wahlen
der Landesbewohner hervorgegangen seien. Diese Parlamente hätten einstimmig
den Vertrag ratifiziert, der zur Bildung der Union geführt habe. Der Vertrag
sehe nicht vor, daß einer oder der andere Teil beliebig früher oder später wieder
zurücktreten könne. Es handle sich somit um ein feierlich und in aller Form ab¬
geschlossenes Bündnis der vier früheren Kolonien unter- und miteinander, und die
britische Krone würde, selbst wenn sie es wünschte, gar kein Recht haben, einzeln«
Kontrahenten dieser Abmachung von ihrer Vertragspflicht zu entbinden.
Die Deputation kehrte also unterrichteter Sache nach Südafrika zurück.
Am 27. August 1919 starb der Premierminister der Union, General Bodha.
Die Südafrikanische Partei erlitt dadurch einen schweren Verlust, der um so mehr
ins Gewicht fiel, als die Neuwahlen heranrückten. General Smuts, der mit Zu¬
stimmung des ganzen Ministeriums an seine Stelle trat, verfügt im Lande nicht über
die allgemeine Beliebtheit Bothos.
Schon lange, ehe der Tag der Parlamentswahlen feststand, begann eine Wahl¬
agitation, wie sie bisher in der Geschichte Südafrikas nicht dagewesen war, und der
Kampf wurde mit äußerster Erbitterung geführt.
Den Unionisten fehlte es an einem überragenden Führer und auch an einem
zugkräftigen Kampfruf für die Wahl. Es war von Anfang an klar, daß sie schlecht
abschneiden würden.
Anders die Arbeiterpartei; ihr kam zunächst die durch den Krieg hervor¬
gerufene starke sozialdemokratische und kommunistische Strömung zustatten, die auch
in Südafrika nicht ohne Einfluß geblieben ist. Außerdem war die Bevölkerung,
namentlich in den Städten, über die während des Krieges eingetretene Preis¬
treiberei und Preisteuerung sehr erbittert, und die Arbeiter versprachen hier schnellste
und gründlichste Abhilfe. Es mußte also mit einer starken Zunahme der Arbeiter
im Parlament gerechnet werden.
Ausschlaggebend für das fernere Geschick der Union erschien naturgemäß das
künftige Zahlenverhältnis der Anhänger der beiden Burenparteicn im Parlament,
und hier tobte der Kampf am wildesten. Die beiden Führer, General Smuts und
General Hertzog, leisteten monatelang eine geradezu herkulische Arbeit; unausgesetzt
reisten sie in, Lande umher, besuchten Wahlversammlungen und hielten Reden,
wobei es auf beiden Seiten an bitteren Vorwürfen und Schmähungen nicht fehlte-
General Hertzog bezeichnete den Premierminister als einen Diener der bri¬
tischen Herrschsucht, als Verräter an den wahren Interessen Südafrikas, er warf
ihm vor, daß er der Union ganz unnötigerweise eine schwere Schuldenlast auf¬
gebürdet habe, um einen nur zu englischem Vorteil dienenden Krieg zu führen.
Im übrigen führte er aber in bezug auf das Verhältnis der Union zu Gro߬
britannien eine verhältnismäßig ruhige Sprache; er ließ zwar keinen Zweifel daran
aufkommen, daß er die völlige Unabhängigkeit Südafrikas von Großbritannien an¬
strebe, er forderte aber nicht zu Gewaltmitteln auf und gab zu erkennen, daß er das
Ziel auf „konstitutionellem Wege", d. h, mittels eines Mehrheitsbeschlusses des
Parlaments oder Volkes herbeizuführen wünsche. Einigen seiner Anhänger ging
dies allerdings nicht weit genug, sie sprachen sich viel schärfer und leidenschaft¬
licher aus.
Smuts bezichtigte Hertzog der Untreue und des Wortbruchs, da er die von
ihm selbst mituntcrzcichnetcn Verpflichtungen des Friedensvertrags von Verceniging
beiseite setzen wolle. Er warf Hertzog außerdem vor, ein rechthaberischer Eigen-
brötler zu sein, der Verwirrung und Uneinigkeit in die Reihen der Buren getragen
und dadurch ihren Feinden in die Hände gearbeitet habe. Zugleich aber trug
General Smuts dem unter den Buren stark ausgeprägten Unabhängigkeitsgefühl in
sehr geschickter Weise Rechnung. Er sagte, daß die ganze Unabhängigkcitsbewegung
des Generals Hertzog und seiner Anhänger überflüssig sei, da die südafrikanische
Union tatsächlich bereits unabhängig sei. Das britische Reich (Empire) habe am
4. August 1314 aufgehört zu bestehen, es sei nur noch eine Art Staatenbund, dessen
einzelne Teile, die „Dominien", das volle Selbstbestinimungsrecht besäßen, und
dessen gemeinsames Bindeglied lediglich in der Krone bestehe. Er gab bei einer
Wahlrede zu, daß die britische Flagge bei den Südafrikanern unangenehme Er¬
innerungen erwecke und sprach sich für die Schaffung- einer eigenen Unionsflagge
aus. Er versprach, die englische Khakiuniform bei den südafrikanischen Truppen
abzuschaffen (was ihm bittere Anfeindungen, namentlich von der Natalprovinz aus,
eintrug); er tat in einer Rede in Zeerust den aufsehenerregenden Ausspruch, daß
die Holländer — womit er wohl die Buren holländischer Abstammung meinte —
wenig Ursache hätten, das britische Reich zu lieben.
Es versteht sich, daß diese Aussprüche in England nicht immer angenehm
berührten. Aber die dortige beneidenswert politisch geschulte Presse verstand es,
daran ohne viel Aufhebens vorbeizugehen.
Die Wahlen am 10. März 1920 ergaben die nachstehenden Stärkeverhältmsse
'M Parlament:
Das Ministerium war nun in eine höchst schwierige Lage geraten; selbst wenn
°s sich auf die Mitglieder der südafrikanischen Partei zusammen mit den Unionisten
weiterhin stützen konnte, so hatte es keine Majorität, mit der eine Regierung mög¬
lich schien, denn auf die Stimmen der Arbeiter war keinerlei Verlaß. Man glaubte
daher in manchen Kreisen, daß der Premierminister Smuts dem Generalgouvemeur
das Nücktrittsgesuch des Ministeriums einreichen und es auf einen nochmaligen
Wahlgang ankommen lassen werde. Man irrte sich aber; Smuts beschloß, den
Versuch zu machen, am Ruder zu bleiben. Zwei der Minister, nämlich der Finanz¬
minister und der Landwirtschaftsminister, waren bei den Wahlen unterlegen.
General Smuts mochte selbst nicht mit einer langen weiteren Amtsdauer des
Kabinetts rechnen, denn er ersetzte diese Minister nicht durch neue Männer. Die
Portefeuilles wurden wie folgt neu verteilt:
Dieses Ministerium ist noch heute im Amt. Alle Minister gehören nach wie
vor der südafrikanischen Partei an. /
'
General Smuts hat es ermöglicht, das Schiff seiner Regierung durch alle
Klippen der ersten Session des neuen Parlaments hindurchzusteuern. Er konnte mit
Recht erwarten, daß ihm die Unionisten keine nennenswerten Schwierigkeiten bereiten
würden. Die Gefahr drohte naturgemäß in erster Linie von den Nationalisten, und
diese versuchten denn auch wiederholt, den Sturz des Kabinetts herbeizuführen;
aber ihre Zahl allein reichte dazu nicht aus. Von den Unionisten konnten sie keine
Hilfe erwarten, aber auch die Arbeiterpartei lehnte es ab, sich zu Vorspanndienften
gebrauchen zu lassen. Den Arbeitern war zwar das Ministerium keineswegs sym¬
pathisch, aber die Nationalisten waren noch weit weniger nach ihrem Geschmack, weil
diese allen Neuerungen sozialistischer oder gar kommunistischer Richtung besonders
schroff ablehnend gegenüberstehen. Die Arbeiterpartei schloß sich daher den Nationa¬
listen in ihrem Kampf gegen das Kabinett nicht an. Ja, es ergab sich sogar wieder«,
holt eine recht komische Lage; die Arbeiterpartei beantragte eine für das Kabinett
umumehmbare Resolution, die Nationalisten ergriffen begierig die Gelegenheit, die
Neuierung zu Fall zu bringen, aber sobald die Arbeiter bemerkten, daß die Regierung
in ernstliche Gefahr geriet, machten sie nicht mehr mit, sondern verließen vor der
Abstimmung in solcher Anzahl den Smal, daß das Ministerium noch über eine, wenn
auch kleine Mehrzahl verfügte.
Am 17. August wurde die erste Session geschlossen; das Parlament wird aller
Voraussicht nach erst Anfang nächsten Jahres wieder zusammentreten.
Die Männer, die seit dem Zustandekommen der Union ganz besonders im
Brennpunkt des öffentlichen Interesses standen, sind die Generale Bodha, Smuts
und Hertzog, die alle drei ihr Ansehen bei ihren Landsleuten ursprünglich ihrer
Gegnerschaft gegen England, ihren Taten im .Kriege gegen dieses Reich zu ver¬
danke.! hatten.
Both« und Smuts, die bis zum Tode des ersteren eng zusammengehalten
haben, sind in Deutschland sehr verschiedenartig beurteilt worden. Man sah mit-
unter die Ansicht vertreten, daß Bodha der Titane war, in dessen Schatten Smuts
lebte, dann wieder wurde angenommen, daß Bodha ein ziemlich unbedeutender
Mann war und ganz unter dem Einfluß von Smuts stand und handelte. Diese
beiden extremen Ansichten sind völlig irrig.
Louis Bodha war eine durchaus selbständige Persönlichkeit und besaß zweifel¬
los hervorragende Eigenschaften. Er hatte ein großes Maß von gesundem Menschen¬
verstand und, wie dies unter den Buren nicht selten vorkommt, eine starke natürliche
Begabung für das Kriegshandwerk. Außerdem hatte er die ebenfalls unter den
Buren vielfach anzutreffende Gabe großer Redegewandtheit. Sein Einfluß auf
seine Landsleute ging sehr weit, was nicht zum wenigsten darauf zurückzuführen war,
daß er als Landwirt zu ihren Kreisen gehörte, und daß er auch an Bildung nicht
wesentlich über ihrem Durchschnitt stand. Noch im Jahre 1907, als er Premier¬
minister der Transvaalkolonie wurde, beherrschte er die englische Sprache nur unvoll¬
kommen; er hat sich allerdings später darin weitergebildet, aber noch während seines
letzten Aufenthalts in Europa hat er öffentliche Reden nicht auf Englisch, sondern
unter Zuziehung eines Dolmetschers auf Kapholländisch gehalten.
Jan (Johannes) Smuts ist eine von Both« sehr verschiedene Individualität,
schon aus dem Grunde, weil er an Bildung weit über ihm steht. Er ist von Beruf
Rechtsgelehrter und hat in Cambridge studiert. Die Tatsache, daß er nicht Land¬
wirt ist, daß er ein sür einen Südafrikaner hohes Maß von Bildung besitzt, bringt
es mit sich, daß seine Landsleute ihm etwas fremd gegenüberstehen, daß sie ihm
nicht das unumschränkte Vertrauen entgegenbringen wie dem verstorbenen Bodha.
Smuts ist ein Mann von durchdringendem Verstand und hervorragender politischer
Begabung, von einer glänzenden Rednergabe und von großer Schlagfertigkeit. Seine
völlig? Beherrschung des Englischen sowohl wie des Kapholländischen kommt ihm
im öffentlichen Leben natürlich sehr zustatten. Wenn es auch unwahr ist, daß er
Bodha „gegängelt" hat, so ist es doch unverkennbar, daß sein Rat bei den Ent¬
schließungen Bothas oft eine ausschlaggebende Rolle gespielt hat. Die beiden
Männer haben sich in der glücklichsten Weise ergänzt, und wenn Smuts auch durch
den Tod Bothas an die erste Stelle gerückt ist, so ist doch anzunehmen, daß das
frühere Verhältnis ihm lieber war, denn er weiß gut genug, daß er nicht in gleicher
Weise von der Zuneigung und dem Vertrauen eines großen Teils der Buren
^getragen wird, wie sein Vorgänger.
General I. V. M. Hertzog ist ebenfalls Jurist; er hat in Holland, England
und Deutschland studiert, beherrscht natürlich das Englische, Hochholländische und
Kapholländische vollkommen und spricht auch mit ziemlicher Geläufigkeit Deutsch.
Er ist ein sehr sympathischer, vornehmer Charakter, und auch seine politischen Gegner
wagen keinen Zweifel an der Lauterkeit seiner Beweggründe zu äußern. Bei Aus¬
bruch des Burcnkrieges war er oberster Richter im Orcmjefreistaat. An Bildung
steht er natürlich hinter Smuts nicht zurück, wohl auch nicht an Intelligenz, aber er
reicht an staatsmännischer Begabung und an Rednertalent schwerlich an ihn heran,
und wenn man dagegen geltend macht, daß er heute der Führer der stärksten Fraktion
im Parlament ist, so ist zu erwidern, daß ihm zweierlei zuHilfe kam: Der tief-
«ewurzelte Freiheitsdrang der Buren und die unverzeihlicher Fehler der englischen
politischen Taktik während des Weltkrieges, dieser Politik, die sehr treffend als
»Eintagspolitik" bezeichnet worden ist. Daß die Union nur gezwungen in den
Krieg eingetreten ist, weiß man in Südafrika heute allgemein; die rund dreißig Mil¬
lionen Pfund Sterling, die der Krieg der Union gekostet hat, würde man, auch im
Hinblick auf den durch Deutsch-Südwestafrika erhaltenen Gebietszuwachs, allenfalls
verschmerzen; aber das Hineinziehen der Schwarzen in den Krieg war ein geradezu
ungeheuerlicher Fehler, dessen Folgen man in den Kreisen der wirklichen Kenner
des Landes, der Buren, mit größter Besorgnis entgegensieht. Noch ein weiterer
Umstand ist der nationalistischen Partei zugute gekommen: Das maßlose Schimpfen
und Hetzen der englischen Presse gegen alles, was deutsch ist. Es ist schwer ver¬
ständlich, daß die sonst politisch so einsichtige Presse in England nicht versteht,
wie sehr sie der eigenen Sache in Südafrika damit schadet. Der Bur erinnert sich
bei der Schimpferei immer aufs neue daran, was im Burenkrieg alles über ihn
gesagt und geschrieben worden ist; bei der ewigen Aufwärmung der deutschen
„Greuel" weist er auf ein Monument in Bloemfontein hin, das dem Andenken an,
über 25 000 Frauen und Kinder gewidmet ist, die in den englischen Konzentrations¬
lagern elend ums Leben gekommen sind. Mit Ekel und Verachtung blickt er auf
die noch heute fortgesetzte Verunglimpfung eines unterlegenen Gegners. Daß
besonders die Buren deutscher Abstammung (und ihre Zahl ist groß) durch dieses
wüste Treiben der englischen Sache völlig entfremdet werden, versteht sich von selbst.
Der Leser wird fragen, wie es denn unter so bewandten Umständen geschehen
konnte, daß die Buren überhaupt gegen Deutschland die Waffen ergreifen konnten.
Darauf möchten wir heute die Antwort schuldig bleiben; für eine Erörterung dieser
Gründe ist es zu früh. Das deutscheVolk möge aus derTatsache nur die eine dringende
Lehre ziehen, daß auf Völkerfreundschaften kein Verlaß ist. So wenig wie der Soldat
im Felde darüber nachsinnen kann, ob der Feind, den er durch Verwundung oder
Tötung unschädlich machen soll, im Recht oder Unrecht ist, so wenig kann der
Politiker sich bei seinen Maßnahmen von Sympathien oder Antipathien leiten lassen;
der Vorteil seines Landes darf allein für ihn ausschlaggebend sein. Wer ihn dafür
tadelt, beweist nur, daß ihm jedes Verständnis für Politik fehlt.
Wenn man, von ganz nüchternen Erwägungen ausgehend, fragt, ob ein Ab¬
fall der südafrikanischen Union von England und die Gründung einer Republik
nahe bevorsteht, so wird die Frage zu verneinen sein, ja, es wird sogar stark be¬
zweifelt werden müssen, ob ein solcher Schritt klug wäre.
Die Union, deren weiße Bevölkerung weniger als Millionen beträgt, ist
für eine unabhängige Existenz nicht reif, selbst wenn die Weißen in der Forderung
der Unabhängigkeit einig wären. Das sind sie aber nicht; die Ansiedler englischer
Nationalität und Abkunft wünschen dem Mutterlande treu zu bleiben, und wenn sie
auch in der Minderheit sind, so ist ihre Zahl doch so beträchtlich, daß ein Bürger¬
krieg zu befürchten wäre, wenn der Abfall von England proklamiert würde. Die
etwa 5 Millionen Farbigen und Schwarzen in der Union bilden nicht ein Element
der Stärke, sondern der Schwäche, da sie sehr zur Unbotmäßigkeit neigen.
Ein unabhängiges Südafrika könnte ohne Anlehnung an eine Großmacht nicht
bestehen. Welche könnte dies sein? Deutschland scheidet auf lange Jahre aus;
Frankreich oder Italien kommen nicht in Betracht; die Vereinigten Staaten vo«
Amerika wollen sich auf überseeische Abenteuer nicht mehr einlassen und werde«
wenig Lust haben, sich Südafrikas wegen der englischen Feindschaft auszusetzen.
Japan aber würde von dein unabhängigen Südafrika sofort die Zulassung der
japanischen Einwanderung fordern, die heute untersagt ist.
Die militärische und maritime Macht Südafrikas ist sehr gering, und wird «s
«och geraume Zeit bleiben. Die Zugehörigkeit zum britischen Reiche bietet die beste
Sicherheit für die Verteidigung, ohne dem Land nennenswerte Lasten aufzuerlegen;
im Gegenteil, der englische Flottenstützpunkt am Kap und die wenn auch kleinen
englischen Garnisonen in Südafrika bilden eine nicht unerhebliche Einnahmequelle
Kr das Land.
Man muß auch billigerweise zugeben, daß Großbritannien es sorgfältig ver¬
meidet, in die inneren Verhältnisse der Union diktatorisch dreinzureden; es findet
sich sogar mit Gesetzen und Maßnahmen ab, die seinen Interessen zuwiderlaufen.
So zum Beispiel ist ihm das Verbot der Einwanderung der Inder sehr unangenehm,
und es hat sich früher eine solche Maßnahme von seiten des unabhängigen Trans¬
vaal nicht bieten lassen, so daß man sagen kann, die Buren seien heute unabhängiger
von Großbritannien als zur Zeit, als sie noch freie Republiken besaßen.
Auch General Hertzog würde sich wohl, wenn seine Partei ans Ruder käme,
Erwägungen dieser Art nicht verschließen. Er würde zwar jedenfalls bestrebt sein,
ein recht weites Maß von Unabhängigkeit von England durchzusetzen, er würde de«
südafrikanischen Standpunkt stark vertreten und die Interessen des britischen Reiches
hintunsetzen: er dürfte aber kaum so weit gehen, die völlige Unabhängigkeit der
Union zu proklamieren und damit eine innere und äußere Krise heraufzubeschwören,
bie für sein Land verderblich werden könnte.
n seinem schweren Schicksal ringt das deutsche Volk nach Auf¬
klärung über die Gründe, die den furchtbaren Zusammenbruch
herbeiführten, über die Zusammenhänge, die die Not der Zeit
verursachen, um auf solcher Erkenntnis den Weg zum Wieder¬
aufbau und zur Zukunft zu finden. In Memoirenwerken haben
an leitender Stelle stehende Persönlichkeiten, vom Standpunkt der Weltanschauung
und der Partei aus, Politiker und Philosophen die Gründe des Unglücks darzu¬
legen gesucht. Die Kritik der wirtschaftlichen Bestimmungen des Friedens¬
vertrages durch Kehnes hat die ganze Welt auf furchtbare Gefahren für Europa
hingewiesen. Aber sür Kcynes scheint es doch eine feststehende Grundtmsache,
daß der Krieg und seine Entwicklung zu einem schonungsloser Kampf um Sieg
«der Niederlage Deutschland zur Last zu legen ist, die Zusammenhänge werden
Vorzugsweise vom wirtschaftlichen Standpunkt aus dargelegt, und auch den meisten
anderen deutschen und ausländischen Werken haftet trotz allen Srrebens nach
Wahrheit meist eine gewisse Einseitigkeit an, die der nur schwer vermeiden kann,
der verantwortlich oder politisch an den Ereignissen beteiligt war.
Der schwedische Gelehrte Kjellckn, dessen Werk „D>e Großmächte der
Gegenwart" in Deutschland berechtigte Anerkennung fand, gibt in seinem kürzlich
erschienenen Buche „Die Großmächte und die Weltkrise" auf der Grundlage der
treibenden Kräfte im alten Großmachtsystem vor 1914 eine Darstellung der Ent¬
stehung und des Verlaufs der Weltkrise und des aus ihr entstandenen neuen
Großmachtsystems mit seinen Zielen und Zukunftsmöglichkeiten. Kjellsn fußt auf
Erkenntnissen, die er in seinem früheren, vor dem Kriege geschriebenen Werke aus¬
gesprochen hatte. So baut er auf dem sicheren Grunde eines in ruhigen Zeiten
gewonnenen objektiven Urteils, aus dem sich eine vom Streben nach wissen¬
schaftlicher Erkenntnis, Gerechtigkeit und Objektivität getragene Darstellung der
Zusammenhänge der Weltkrise, ihres Verlaufs und ihres Abschlusses entwickelt, die,
auch wenn man in manchen Fragen von den Anschauungen des Verfassers ab¬
weicht, doch aufklärend und befreiend wirkt. Denn sie führt hinaus über den
Kampf der Weltanschauungen, des Vvlkerhasses und der Interessengegensätze
unserer Tage zum Welt blick, zur Fernsicht, zu den großen Zusammenhängen, sie
fußt nicht einseitig auf wirtschaftlichen, sozialen, militärischen oder rechtlichen Er¬
wägungen, sondern sucht das Leben zu erfassen in der Fülle seiner vielseitigen
Beziehungen und Verknüpfungen.
Für den deutschen Leser mögen vor allem die Urteile über Deutschland
und seine Stellung im Weltkriege von Bedeutung sein. So schreibt KjellSn über
Kaiser Wilhelm II.: „Eins kann nicht geleugnet werden: diese kaiserliche Politik
mit all ihrer Sprunghaftigkeit und ihrem zuweilen sichtbaren Dilettantismus
hatte doch ein Ziel, und das war, Deutschland zu einer Weltmacht an der Seite
Rußlands, Englands und Amerikas zu erheben", und an anderem Ort: „DaS
Werk des großen Reichsgründers hatte Folgen, die über seine eigenen Voraus¬
setzungen hinausgingen: sie wiesen aufs Meer, auf Seemacht, auf große Märkte
und auf ferne Ziele für ein größeres Deutschland. Den Blick, diese weiten Aus¬
sichten zu sehen, und den Mut, auf sie zu vertrauen, besaß Wilhelm II. und
damit die Eigenschaft des Staatsmannes, dessen Ehre durch den Ausgang nicht
ganz herabgesetzt werden kann." — Die Frage der Schuld am Kriege wird nicht,
wie das so oft geschieht, im Rahmen der Ereignisse unmittelbar vor dem Kriege
behandelt, sondern vom allgemeinen Standpunkt des Daseinskampfes der Völker,
aus dem die großen Krisen der Geschichte hervorwachsen. Kjellen entwickelt den
Kampf, den England gegen Deutschland, in dem es ein ernstes und wachsendes
Hindernis für seine Weltherrschaft sah, schon vor dem eigentlichen Kriege eingeleitet
hat, und der sich aussprach in der Entente mit Frankreich, das Elsaß-Lothringen
wiedergewinnen, mit Rußland, das die Dardanellen in Besitz nehmen wollte und
als Führer des Panslawismus den Bestand Österreich-Ungarns bedrohte. Er
erkennt, weshalb die Entwicklung Deutschlands dahin führen mußte, daß es über
Europa hinauszuwachsen strebte, um das Maß einer Weltmacht zu erreichen und
damit der germanischen Rasse einen Platz innerhalb der Gleichgewichtslage auf
der weltpolitischen Bühne zu sichern. „An dieses Ziel glaubte es durch Verträge
gelangen zu können. Seine militärische Rüstung zielte seiner Meinung nach nur
auf Verteidigung."
Eine in ihrer Knappheit meisterhafte Schilderung des Weltkrieges von
seinen geschichtlichen Voraussetzungen an und des Inhalts des Friedens, der
„tatsächlich mehr Böses schafft, als er bessert", leitet über zu dem Schlußkapitel
„Die Großmächte nach dem Kriege". Kjellön sieht die Umrisse einer neuen
Weltherrschaft auf der Grundlage des Atlantik aussteigen und erblickt in der
deutschen Niederlage die Überwindung eines letzten Hindernisses für die Allein¬
geltung des angelsächsischen Stammes. Innerhalb der angelsächsischen Welt
könne England nicht mehr den ersten Platz behaupten. Es werde also entweder
die alte Bündnispolitik betreiben, nunmehr gegen die Vereinigten Staaten, oder
freiwillig verzichten. Kjellen hält letzteres nicht für unwahrscheinlich und glaubt,
daß das „angelsächsische Bewußtsein" sich stärker erweisen könne als trennende
Politische Überlieferungen. Damit wird eine der für die Zukunft der Mensch¬
heitsgeschichte entscheidenden Fragen aufgeworfen, die in engem Zusammenhang
mit bin japanischen Pioblem steht. Der geschichtliche Standpunkt des Lesers
mag zum Anschluß an die Anschauungen Kjellens oder zum Widerspruch führen.
Die Geschichte Englands und Hollands im 17. und 18. Jahrhundert in Ver¬
bindung mit dem Kampf gegen Frankreich mag zu Vergleichen anregen. Ihre
Lehren sprechen nicht für die von KjellSn für möglich gehaltene Arbeitsteilung
zwischen England und Amerika — Europa und die indische Welt für England,
Amerika und den Pazifik für die Union —, da trotz Völkerbund ein über beiden
Staaten stehender Schiedsrichter nicht vorhanden sein wird. Wenn sich vielleicht
auch, ähnlich wie einst England und Holland gegen Frankreich, die angelsächsischen
Mächte einmal gegen Japan Verbunden sollten, so wird doch schließlich einer von
ihnen zurücktreten müssen, da die Herrschaft über die See sich nicht begrenzen
läßt. England wird nach den Erfahrungen der Geschichte wohl nicht ohne
Wasfenentscheidung Verzicht leisten, solange das englische Volk den Willen zur
Großmacht bewahrt. Die Feststellung ferner, daß Frankreich seine eigentliche
Stütze im dauernden Bündnis mit den angelsächsischen Mächten suche, wird viel¬
leicht der Ergänzung bedürfen in der Erkenntnis, daß Frankreich jetzt wieder
bewußt die seit Ludwig XlV. traditionell gewordene Politik des Strebens nach
Vorherrschaft über Europa aufzunehmen und entschlossen scheint, auch bei der
Lösung des russischen Problems, des „größten und verhängnisvollsten Rätsels des
neuen Staatensystems" eine durchaus selbständige Politik ohne Rücksicht auf
angelsächsische Interessen einzuschlagen.
Es ist unmöglich, im Rahmen einer Besprechung die Fülle der Gedanken
zu erschöpfen, die Kjell6us Werk auslöst. Wir kehren zu Deutschland zurück und
hoffen, daß erreicht wird, was Kjell6n als Ziel der deutschen Verfassung
bezeichnet, „die werktätigen Schichten mit dem Staat zu versöhnen". In
seiner Darstellung der Friedensbedingungen — „die Geschichte der Christenheit
kennt kein Gegenstück zu diesem folgerichtig durchgeführten Programm, die Lebens-
quellen eines großen Kulturvolkes zu erforschen und sie alle zu unterbinden" —
kommt Kjellön zu dem Ergebnis: „Damit ist Deutschlands Stellung als Welt¬
macht endgültig vernichtet, es fällt aus dem Weltkampf um den Welthandel
aus." Der in dem „endgültig" sich aussprechenden pessimistischen Anschauung
Wird nur zustimmen können, wer glaubt, daß das deutsche Volk den Willen zur
Größe für immer verloren habe. Denn „die Großmächte sterben wie die Natur¬
völker, aus Mangel am Willen zum Leben in seiner höchsten Steigerung". Und
Kjellen sagt ja auch an anderer Stelle mit Bezug auf Deutschland: „Was i»
Zukunft wirklich emporsteigen wird aus der geheimnisvollen Tiefe der Seele, w»
noch alles in wilder Gärung ist, das weiß niemand." Vor dem Kriege war nachKjell^us
Urteil das deutsche Volk „ein Volk auf der Höhe der Zivilisation und auch der
Kraft und des Mutes zum Leben. Es schien würdig eines Platzes an der Sonne".
Wir glauben, daß aus den schweren Nöten und Kämpfen dieser Zeit dem
deutschen Volk das „Verantwortungsgefühl für eine Menschheitssendung" und
„der Wille zur Größe" erwachsen werden und daß es sich verjüngt zu neuem
Aufstieg erheben wird. Wir dürfen den Anschauungen des schwedischen Gelehrten,
die sich aus dem Friedensschluß und den Ereignissen der letzten Jahre ergeben,
die Erfahrungen und den Glauben entgegenstellen, die auf unserer unvergleichlich
schweren und doch auch unvergleichlich großen Geschichte fußen.
Von diesen Voraussetzungen aus sieht Kjellön im Dreiverband eine an¬
greifende feindliche Gegenverbindung gegen den Dreibund. Und er kommt zu dem
Schluß, daß die volkstümliche Auffassung, nach der der Weltkrieg wie ein Blitz
aus heiterem Himmel kam, bei der Suche nach dem Sündenbock haften geblieben
sei an der Fingerfertigkeit der Staatsmänner bei Eröffnung des Spiels: dabei
fährt freilich nach seiner Ansicht Deutschland schlechter als England. „Der
Gelehrte hingegen, der nur die Wahrheit sucht, kann nicht eine Frucht vom Baum
oder einen Baum von seinen Wurzeln sondern." — „So^ wird das Problem
zuletzt mehr ursachlich als sittlich bedingt. Die Verantwortung mehr gemein¬
schaftlich als persönlich, das Ganze weniger Schuld als Schicksal."
Den kriegentscheidenden Eintritt Amerikas in den Weltkrieg bezeichnet
Kjellckn als Antwort auf die Erklärung des unumschränkten U-Bootskrieges durch
Deutschland. Aber den tieferen und eigentlichen Gründen geht er auch hier nach,
wenn er an anderer Stelle sagt, daß Kapitalinteressen den Ausschlag für den
Eintritt in den Krieg gaben, da Deutschlands drohender Sieg sie in Gefahr
stellte, und wenn er in anderem Zusammenhang ausspricht, daß die innerste Trieb¬
kraft in der amerikanischen Kriegserklärung das Gemeinschaftsgefühl mit dem
englischen Kultur- und Gesellschaftsideal war.
In seinen Betrachtungen über die Niederlage Deutschlands sieht Kjelle«
die äußere Ursache in der physischen Überlegenheit der Gegenseite, rückt aber die
vorgetretenen heimischen Mängel in den Bordergrund. Er erblickt die ent¬
scheidende Schwäche „in der Volksseele und im nationalen Willen, die nicht die
geistige Blockade und Verachtung der Feinde zu ertragen vermochten", er weist
auf den Geist der Zersplitterung hin, der im deutschen Obrigkeitsstaat entstand,
„während die Demokratien sich in Diktaturen umwandeln mußten, um zu be¬
stehen," er kommt zu dem Schluß: „So ging zuletzt für Deutschland, die Haupt¬
gestalt des Weltkrieges, durch das Zusammenwirken der feindlichen Übermacht,
der Schwäche der Verbündeten und der eigenen politische<Verblendung alles verloren"
und sagt bei Besprechung der Friedensverhandlungen: „Es blieb Deutschland noch die
Erfahrung ^ übrig, daß ein Volk, welches die Waffen fortgeworfen und sich selbst
entmannt hatte, weder Gerechtigkeit noch Gnade zu erwarten habe."--
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^?)<Ü^^M
'^^Wlie Verantwortung für unseren schmählichen Zusammenbruch, der uns
auf Gnade oder Ungnade dem Siegerwillen der Feinde auslieferte,
tragen diejenigen Kreise, die mittelbar und unmittelbar die Re¬
volution in den Sattel gehoben haben. Hierzu müssen wir letzten
Endes jedermann rechnen, der während des Weltkrieges das Wesen
und Wirken unserer Wehrmacht angezweifelt und herabgesetzt hat.
Auch der Ubootkrieg, unsere schärfste Waffe gegen den Hauptfeind England,
ist stumpf geworden infolge des Wirkens derer, die lange vor dem Zusammenbruch
im November 1913 von hinten den Dolchstoß gegen die eigene Front führten. Mit
einer Zaghaftigkeit und Scheu ist an die Ausnutzung der Ubootwciffe herangegangen
worden, die von vornherein den Gegnern alle Trümpfe in die Hand spielten. Wer
als Erstes, bevor er zur Tat schritt, die Neutralen fragte, wie sie sich zum Uboot¬
krieg stellten, durfte sich nicht wundern, wenn in jenen Ländern der Handels-
«efährdung und des verminderten Geschäfts wegen eine erhebliche Erregung Platz
griff. Und in dieses anfänglich nur glimmende Feuer hat England immer wieder
das Ol seiner deutschfeindlichen Propaganda gegossen, bis der Vrcmd gegen Deutsch¬
land in hellen Flammen stand und selbst die Augen unserer eigenen Politiker
und Volksgenossen blendete. Da man des mangelnden Rassetriebes wegen nicht
an sich selbst, sondern vornehmlich an die Auswirkung der Tat bei Feinden und
Neutralen dachte, kam sehr bald zu dem Zögern in Ansehung des Ubootkrieges das
Schwanken in seiner Ausführung hinzu. Jenes unheilvolle Schwanken, das abermals
der englischen Propaganda unter die Arme griff und selbst wohlwollenden Neu¬
tralen die Ansicht förmlich einhämmerte, wir selbst seien im Grunde genommen von
dem Unrecht und der Gesetzwidrigkeit unseres Vorgehens überzeugt. Solcher
Schluß lag nahe, er war sogar geboten, denn ein gutes Gewissen wird immer Festig¬
keit zur Schau tragen. Wir verrieten aber nur allzu deutlich unsere Unsicherheit.
Und sie war durch nichts begründet.
Wer den Ubootkrieg gab es noch keine Vorgänge. Als etwas völlig Neues trat
er in Erscheinung. Jedes Neue will aber erprobt und begutachtet sein. Alte,
unter ganz anderen Voraussetzungen aufgebaute Regeln und Grundsätze lassen sich
«uf Neues nicht ohne weiteres übertragen. Der Ubootkrieg paßte aber in seinen
Formen in das bestehende Völkerrecht nicht reibungslos hinein. Für ihn mußten
Erweiterungen Platz greifen, an die man früher nicht gedacht hatte und auch nicht
hatte denken können. Und daß England diese Erweiterungen für sich beansprucht
haben würde, wenn es selbst nicht der leidende, sondern der angreifende Teil
«cocher wäre, steht außer jedem Zweifel. Zum Beleg hierfür genügt der Hinweis,
daß der sehr angesehene britische Admiral Sir Percy Scott bereits vor dem Kriege
«uf die Gefahren des Ubootes hingewiesen und seine Verwendbarkeit im Handels¬
kriege als ein drohendes Gespenst für England bezeichnet hat. Damals hat sich
kein Entrüstungssturm im Vereinigten Königreich erhoben. In der britischen
Admiralität hat man sich vielmehr verständigerweise mit Plänen und Erwägungen
befaßt, wie dem Gespenst entgegenzutreten sein würde, wenn es sich wirklich einmal
zeigen sollte. Als aber der Krieg ausgebrochen war, als in der Nordsee schon nach
wenigen Wochen wett außerhalb der britischen Hoheitsgewässer Hunderte von
britischen Minen lauerten und die deutsche Seekriegführung dazu zwangen, diesem
Völkerrechtsbruch den Uboothandelskrieg entgegenzusetzen, da wurde die Entrüstung
künstlich und mit geschicktester Mache geschürt. Warum hat Großbritannien nicht
schon vor dem Kriege die Völker zu einer Besprechung eingeladen, die die Ver¬
wendung des Ubootes als einzigen Gegenstand auf die Tagesordnung setzte, wenn
das neue Kampfmittel, dessen Bau und Förderung England sich im übrigen selbst sehr
angelegen sein ließ, wirklich so verabscheuungswürdig war, wie man es während
des Krieges darzustellen beliebte? Die Antwort ist einfach gegeben: England
hat zu keiner Zeit ernstlich daran gedacht, die Ubootwaffe auszuschalten, und zwar
deshalb nicht, weil es sie selber braucht, nicht nur rein militärisch, sondern gegebenen¬
falls auch im Handelskriege! Der Entrüstungssturm über den gesamten Ubootkrieg,
der nach Abschluß des Waffenstillstandes in der herrischen Forderung ausdröhnte,
das Uboot müsse kraft zwischenstaatlicher Vereinbarungen als eine fluchbeladene
Schöpfung abgeschafft werden, ist denn auch längst wieder verklungen. Der Lärm des
britischen Propagandatheaters schweigt, die Wirklichkeit tritt wieder in ihre Rechte
und damit auch die restlose Anerkennung, daß die Ubootwaffe in jeder Form ihre
volle Berechtigung hat und weiter entwickelt werden wird.
Auch Frankreich steht auf demselben Standpunkt. Es hat uns sogar neuer¬
dings ein Beweisstück an die Hand gegeben, das so offenherzig wie keines zuvor zugibt,
daß man mit der Verurteilung des Ubootkrieges nur den dünnnen Michel hat
täuschen wollen. In der „Revue militaire", dem Organ des französischen Marine¬
ministeriums, haben kürzlich folgende Ausführungen gestanden: „Es ist höchste
Zeit, mit allen irreführender Meinungen über den Ge¬
brauch der Ubootwaffe durch Deutschlandaufzuräumen. Der
Ubootkrieg war vollkommen gerechtfertigt, und das Gegenteil zu be¬
haupten, ist nicht nur falsch, sondernschafft auch vom mili¬
tärischen Standpunkt aus ein durchaus unzutreffendes Bild. Es ist
ferner an der Zeit, mit dem Glauben aufzuräumen, als sei der Gebrauch der
Ubootwaffe durch die Deutschen mit den Gebräuchen des internationalen Kriegs¬
rechts nicht zu vereinbaren gewesen. Diese während des Krieges
irrtümlich (?) verbreitete Ansicht könnte unserer natio¬
nalen Verteidigung für die Zukunft großen Schaden zu-
fügen Unter diesem höheren Gesichtspunkt muß rückhaltlos anerkannt werden,
daß die deutsche oberste Kriegslcitung ihr gutes Recht vertrat, wenn sie sich der
Ubootwaffe als Mittel zur Erlangung des endgültigen Sieges bediente. Esmuß
daher mit allem Nachdruck darauf bestanden werden, daß
trotz der während des Krieges lautgewordenenEinsprüche
gegen den Gebrauch der Ubootwaffe diese selbst, vom mili¬
tärischen Standpunkt aus betrachtet, unanfechtbar ist. Es
ist auch vollkommen ungerechtfertigt, wie man im Anfang des Krieges immer glaubte,
daß ein feindliches Handelsschiff vor der Torpedierung gewarnt werden müsse.
Hier handelt es sich um grundsätzliche Fragen des Kriegsrechts, über deren Aus¬
legung bei denen nicht der geringste Zweifel bestehen sollte, die die Verantwortung
für die Leitung eines Krieges übernommen haben. Nach allem kann daher nnr
anerkannt werden, daß die Verwendung der Ubootwaffe als entscheidender Faktor
im verflossenen Weltkriege in jeder Weise korrekt gehandhabt worden ist."
Es erübrigt sich, diesen Ausführungen etwas hinzuzufügen. Sie sprechen
für sich selbst und sind zugleich ein Anklagematerial schwerwiegender Art gegen
alle diejenigen von unseren Vollgenossen, die während und nach dem Kriege unser
Ubootwirken geflissentlich angegriffen und herabgesetzt haben. Je schwächlicher
sich die Reichsleitung gebiirdete, desto kecker und eigennütziger wagten sich damals
die Kritiker hervor. Und ihrem unheilvollen Einfluß ist in erster Linie das
Schwankende unserer Haltung in der Ubootfrage zuzuschreiben. Es hat seine
nachteiligen Folgen einmal in der schon berührten Frage unseres scheinbar schlechten
Gewissens dargetan, dann vor allem aber auch in der Unstetigkeit unserer Uboot-
baupolitik. Ihr wurden immer wieder dadurch die größten Schwierigkeiten ver¬
ursacht, daß die politische Leitung heute vom Ubootkrieg ganz abrückte, morgen ihn in
der Form des Kreuzerkrieges durchgeführt sehen wollte, übermorgen nach dem
Ubootminenkrieg schrie und übermorgen jede Einschränkung für die Uboote
wieder aufhob. Infolge dieser Vuntscheckigkeit der Entschlüsse entstand ein bunt¬
scheckiges Bauprogramm, 'denn für jede Art der angedeuteten Ubootverwendung
war ein besonderer Bootstyp erforderlich. Wenn man sich ferner noch vergegen¬
wärtigt, daß die Bauzeit der einzelnen Uboote Jahresfrist überschritt, so wird es
selbst dem Laien klar, daß ein planmäßiges Vorausbestimmen bei diesen politischen
Irrungen und Wirrungen schlechterdings kaum möglich war.
Die Würfel sind gefallen; zu unseren Ungunsten sind sie gerollt. Wo aber
das deutsche Volk noch immer von einem künstlichen Nebel der Entstellung umbraut
ist, vor allem in der so wichtigen und viel erörterten Ubootfrage, da ist es eines
der vornehmsten politischen Gebote, immer wieder darauf hinzuweisen, wie die Ver¬
hältnisse tatsächlich lagen. Der Wahrheit muß zum Siege verholfen werden, soll
unser Volk gesunden. Und die Wahrheit ist kaum jemals so entstellt worden
von Freund und Feind — wie in der Ubootfrage. Der Tag wird kommen,
wo es das deutsche Volk bitter bereuen wird, daß es dem Manne nicht gefolgt ist,
der ihm den Weg zur Abschüttelung seines gefährlichsten Feindes gezeigt hat. Als
unsere politische Welt sich am Versöhnungszauber mit England berauschte, ist Gro߬
admiral von Tirpitz allein und klar auf seinem Standpunkt stehen geblieben, daß es
rin England einen Ausgleich der Gegensätze unter der Losung der Ebenbürtigkeit nur
'M Zeichen bewußt zur Schau getragener Macht geben könne. In Schaffung der Flotte
hatte bei Großadmiral das gegen England allein brauchbare Machtmittel erkannt.
Und zwar nicht in einer Flotte kleine,/ Stils, die von vornherein zur Unterlcgen-
heit verdammt gewesen wäre, sondern in einer vollwertigen Hochseeflotte. Als die
technische Entwicklung das Uboot reifen ließ, hat es auch im deutschen Schiffbau-
Programm seine Ausnahme gefunden. Nicht zu spät, wie uns g.müsse Laien mit
einem Talmimissen in Marinefragen immer wieder weismachen wollen. Sondern in
demi Augenblick, wo das Motorenvroblem gelöst war, von dem die Entwicklung der
Rainen Ubootfrage abhing. Wäre es nach dem Tirpitzschen Plan: gelungen, den
Kriegsausbruch wdterbin zu verhindern und damit Englands Macht und Krugs-
Killen Schritt um Schritt einzudämmen, dann hätte sich auch unsers Nbootwaffe
"icht unwesentlich verstärkt, und der Risikogedanke eines Krieges mit Deutschland
wäre immer deutlicher in die Erscheinung getreten. Das Tempo der Entwicklung des
Ubootbaues wäre, nachdem einmal gesunde Bahnen gefunden waren, im wesent¬
lichen von den Etatsmitteln abhängig geblieben. Daß auch hier Geld, wenn nicht
alles, so doch vieles macht, hat der Krieg bewiesen, der alles andere nur kein Knauser
in Bewilligung von Mitteln war und dem Ubootbau einen ganz gewaltigen Impuls
gegeben hat.
Das vollendete Flottengesetz — in diesem Jahre hätte es im wesentlichen
seinen Abschluß gefunden — wäre unsere sicherste Bürgschaft zur Aufrechterhaltung
des Friedens geworden. Unter den tragischen Erscheinungen des Weltkrieges ist es
vielleicht die tragischste von allen, daß die Seemacht, die wir uns geschaffen hatten,
und die allein imstande gewesen wäre, England zur Friedensgeneigtheit zu zwingen,
nur unvollkommen ausgenutzt worden ist. Woran hat es gelegen? Nicht zum mindesten
daran, daß sich das deutsche Volk in breiten Schichten von der kontinentalen Be
trachtungsweise alles Weltgeschehens nicht hat freimachen können. Wir hatten es
trotz aller Aufklärungsarbeit nicht begriffen, daß der Weltkrieg zwischen England
und Deutschland ein Ringen um die Seeherrschaft war, das allein mit Mitteln
des Landkrieges nie und nimmer zu einem für uns günstigen Abschluß hätte gebracht
werden können. Wäre dem gesamten deutschen Volke die Erkenntnis aufgegangen,
daß es sich in dem Riesenkampfe um die Behauptung eines Platzes auf dem Welt¬
markt handelte, dann hätten wir auch die Schwerkraft unserer gesamten Kriegführung
auf den Ozean verlegt, über den die Hauptstraßen der Weltwirtschaft laufen.
Und die Schwerkraft hätte darin bestehen müssen, daß ohne Hin und Her und ohne
Vor und Zurück mit dem rücksichtslosesten Einsatz der Ubootwaffe Englands See¬
handel bis zum Untergang hätte bedroht werden müssen. Erst dann hätte es
von seinem Vernichtungswillen gelassen, der ihm als einziges Ziel vor Augen
stellte, den zur Zeit gefährlichsten Nebenbuhler auf dem Weltmarkte den Garaus
zu machen, um sich wieder ungestört der Ausnutzung der Weltschätze hingeben zu
können.
Ob England sich nicht verrechnet hat? Man darf es fast als sicher annehmen.
Wenn auch der Spruch wahr bleibt, daß Blut dicker ist als Wasser, so wird doch
Deutschlands Nachfolger im Überseehandel — und das sind die Vereinigten Staaten
von Amerika — ohne jede Frage ein Konkurrent werden, der dem Engländer zehn¬
mal mehr Angelegenheiten und Sorgen bereiten wird, als wir es jemals getan
haben würden. Bruder Jonathan ist es gewöhnt, mit breiten Ellenbogen durchs
Leben zu wandern. Er wird bald genug mit John Bull, sei es auch nur auf handels¬
politischen Bahnen, heftig zusammenprallen.
ich vor 35 Jahren in Jena studierte, war die von meinem Vater
ererbte Gunst des greisen Karl von Hase der hellste Glanz, der aus
jener sonnigen Jugendzeit lag. „Der alte Hase", wie ganz Jena die
rVxiM^ Exzellenz zu nennen pflegte, dessen Lebensjahre mit dem Jahrhundert
zählten, der als Burschenschafter auf dem Hohenasperg gesessen, der
von Goethe nach Jena berufen worden war, nun der Senior der Universität und der
Nestor unter den Kirchengcschichtsschreibern, zugleich der Künstler unter diesen, er¬
schien uns wie ein Heiliger. Wenn der Greis mit seinem vom silbernen Locken¬
schmuck umwallten ausdrucksvollen Kopfe durch die traulichen Gassen des alten
Jena zu seinem geliebten „Berge" wandelte, mutete er uns an wie ein Stück Ver¬
gangenheit, das in unsere Gegenwart hineinragte. Und doch war er noch lcbens-
und schaffensfreudig, voll reger Teilnahme an allen geistigen Interessen und emsig
um die Drucklegung seiner großen Kirchengeschichte bemüht. Daß ihm aber damals
im Winter des Lebens noch eine zarte Liebe wie eine Christrose erblüht war, ahnten
wir freilich nicht, obwohl ich selbst mit seiner jungen Freundin an seinem Tische
habe sitzen dürfen. Rudolf Eucken, der Philosoph, stand damals als Vierzigjähriger
auf der Höhe des Lebens, eben mit der Grundlegung seiner eigenen Gedankenwelt
beschäftigt. Die Anregung, die von seiner Lehrtätigkeit ausging, und die Güte und
Förderung, die er dem ehrlich Strebenden erwies, habe ich selbst als junger Doktorand
in reichem Maße erfahren.
Der Zufall fügte es, daß jetzt gleichzeitig Memoirenwerke der beiden alten
Jenenser erschienen sind.
Das Hasewerk ist keine Biographie, sondern beleuchtet nur das letzte Jahr¬
zehnt eines 90 jährigen Lebens. Es sind 117 Briefe, geschrieben an eine junge
Freundin, sowie 11 Antworten, die Oskar von Hase jetzt, 30 Jahre nach dem Tode
Vaters, mit einer feinsinnigen Einführung nebst einem Begleitwort der Adressatin,
°le schon vor 30 Jahren pietätvoll diese Briefe zusammengestellt hat, und den
wildern der beiden Briefschreiber veröffentlicht. Auf seiner 17. und letzten Rom-
reise im Jahre 1882 hatte Hase bei einem Feste des Botschafters auf dem Kapital
eine junge Dame (Jenny von der Osten aus Gotha) kennengelernt, eine „Frühlings-
^Mzipessa", die ihm durch ihre Anmut und weil er sie im eifrigen Gespräch mit
dem alten Mommsen fand, auffiel. Aus dieser Bekanntschaft hat sich ein Briefwechsel,
"us diesem, zumal als Hase nach dem Tode seiner Lebensgefährtin vereinsamt war,
eme Freundschaft, und aus dieser die — letzte große Liebe des im Herzen jung
gebliebenen Greises entwickelt. Der zu einem krasesptor 6srmÄni-z,s, sagt Oskar
Hase, gewordene Gelehrte, der als Kirchenhistoriker in seinem langen Leben
^"anch Heiligenbild der Kirche menschlich verständlich gemacht hat, erhob in
seinem hohen Alter ein reizvoll modernes Kind antiker Bildung in einer stillen
Nebenkapelle seines Herzens zu seiner persönlichen Heiligen. Wie dem 70 jähriges
Michelangelo und dem 80 jährigen Goethe, so hat sich dem nahezu Neunzig¬
jährigen eine ehrlich und beglückend empfundene Leidenschaft entwickelt, nicht als
ein kläglicher Nachsommer, sondern als ein sonniger Spätherbst, fast ein Winter¬
märchen. In dem hohen und vollendeten Menschentum, das diese Briefe offenbaren,
liegt der eigenartige und eigentliche Reiz der Publikation; es ist unsagbar lieblich
und ergreifend, das Werden und Wachsen dieses zarten „seltsamen, fast überirdischen
Bundes" zu verfolgen, den erst der Tod löste. Auch inhaltlich bietet dieser
Briefwechsel eines reichen, abgeklärten mit einem feinen, hochstrebenden Geiste
viel Interessantes; so aus dem Jenaer Universitätsleben, von Hases vielseitigen Be¬
ziehungen zu Gelehrten, Künstlern und Fürstlichkeiten, kluge Urteile über damalige
Tagesfragen, z. B. die in Gotha zuerst eingeführte Feuerbestattung und die Parsifal-
cmfführungen. Reizvoll ist auch der feine Gegensatz zwischen der politisch auf die
Barthsche „Nation" schwörenden und religiös freigesinnten, mehr noch von Kurt
Laßwitz als von Otto Dreyer beeinflußten Gothcmerin und der abgeklärten theo¬
logischen, religiösen und politischen Reife Hases; gerade hierbei offenbart sich oft
seine köstliche Gabe, „mit irenischer Ironie" ihm wesensfremde Gedankengänge
Anderer gelassen oder schalkhaft abgleiten zu lassen, wie überhaupt diese Briefe ein
Spiegel seiner feinen und klugen, zarten und gütigen Art sind.
Man hat Hase öfter den Goethe unter den Theologen genannt. Insofern
jedenfalls mit Recht, als auch er ein Meister harmonischer Lebenskunst war und hohe
Frauenliebe sein ganzes Leben durchzieht. Als junger Dozent, noch ehe er 1830
nach Jena berufen wurde, schrieb er seine klassischen „Erinnerungen aus Italien"
in „Briefen an die künftige Geliebte", die ihm dann über 50 Jahre die Lebens¬
gefährtin war. 70 Jahre später klingt in diesen „Briefen eines Kirchenvaters an
ein holdseliges Heldenmädchen", an seinen „Abendstern", sein Leben und Lieben
aus. „Dein Alter sei wie deine Jugend."
Die Lektüre dieser Briefe wird jedem feinen Geiste eine auserlesene Freude
bereiten. Die Eigenart ihrer Entstehung und ihres Inhalts sichert ihnen eine einzig¬
artige Stellung in der Briefliteratur aller Zeiten.
Während die Wirkung der Hasebriefe vornehmlich auf ästhetischem Gebiete
liegt, geht von Euckens Werk*) ein starker sittlicher Impuls aus. Er hat seine
Lebenserinnerungen „ein Stück deutschen Lebens" benannt. Das bieten sie in der
Tat durch die liebevolle und anschauliche Schilderung der Umwelt, in der Eucken
im Laufe seines Lebens gestanden hat: im weltfernen Ostfriesland, wo er aufwuchs,
auf der Universität Göttingen um die Mitte der 60er Jahre, als Gymnasiallehrer
in den geistig bewegten Kreisen Berlins und Frankfurts, dazwischen als Episode
im stillen Husum zur Zeit Theodor Storms, dann als Universitätsprofessor in Basel
und Jena. Aber noch in einem höheren Sinne trifft jener Untertitel des Buches
zu. In der Schilderung des Lebens Euckens von den unkomplizierten, patriarchali¬
schen Verhältnissen seiner ostfriesischen Kindheit bis zur Revolution und Gegenwart
wird zugleich ein Bild der inneren Wandlungen des deutschen Lebens gezeichnet,
des Umschwungs, der sich seit den 70er Jahren unter der Einwirkung der Fort-
schritte von Industrie und Technik auf sozialem wie geistig-sittlichem Gebiete voll¬
zogen, und in dem Maße, in dem sich das deutsche Leben zur wirtschaftlichen Blüte
und steigender äußerer Kultur entwickelte, zu einer zunehmenden Veräußerlichung
und geistigen Verarmung geführt hat. Diese Entwicklung des deutschen Lebens hat
Eucken von jeher mit banger Sorge verfolgt; in dem Maße, in dem er ihre Ge¬
fahren immer klarer erkannte und wachsen sah, hat es sich ihm als seine Lebens¬
aufgabe aufgedrängt, in seiner eigenen Gedankenwelt eine Philosophie der Lebens¬
erneuerung als Schutz- und Heilmittel gegen jene Gefahren zu schaffen. So geht
seine Lebensentwicklung zum geistigen Reformator parallel, aber in umgekehrter
Richtung, zu der Entwicklung des deutschen geistigen Lebens; und seine schlichte
Darstellung des eigenen Lebens wird somit zu der „eines Stückes des deutschen
Lebens".
Das eigene Leben des nun bald 75 jährigen ist ohne besondere Krisen gleich¬
mäßig in aufsteigender Linie verlaufen: mit 25 Jahren wurde er bereits Ordinarius
in Basel, seit 1374 hat er in Jena gewirkt. Es ist, bis sich dem 60 jährigen das
Wirken weit über Deutschlands Grenzen hinaus eröffnete, ein äußerlich einfaches
und stilles, innerlich reiches Gelehrtcnleben, das sich vor uns entfaltet. Seine
Jugendentwicklung stand unter der treuen Obhut der Mutter, die ihn noch nach
Basel begleitete. Ganz prächtig — ein treffliches Kulturbild — ist die ostfriesische
Richter-Bild anmutende Kindes- und Knabenzeit gezeichnet. Auch die Göttinger
Studentenzeit ist mit frischen Farben geschildert. Ein zweiter Abschnitt des
Lebens beginnt deutlich mit Euckens Jenaer Zeit, als er sich von den bis dahin
vorzugsweise gepflegten aristotelischen Studien abwendet und in der 80er Jahren
mit dem Aufbau seiner eigenen Philosophie beginnt, zugleich auch den eigenen
Hausstand begründet. Es ist nun eine merkwürdige, von Eucken selbst mehrfach
hervorgehobene Erscheinung, daß seine Gedankenwelt und seine Bücher in Deutsch¬
land zunächst wenig Beachtung fanden. „Es war für mich ein Stück des Geschickes,
daß mein Streben eine warme Teilnahme und verständnisvolle Anerkennung zunächst
außerhalb Deutschlands fand; ohne Schweden, England, Amerika, Ostasien wäre
ich schwerlich durchgedrungen" (S. 116). Der Lebensabschnitt, der ihn in die Weite
führte, beginnt mit der Verleihung des Nobelpreises. Welch ein Gegensatz: der
schlichte Knabe im stillen Aurich und der Nobelpreisträger und Austauschprofessor,
dessen Worten Schweden und Holland, England und Amerika lauscht, den nicht nur
Finnland und kanadische Universitäten, sondern auch Japan und China zu Vorträgen
rufen, zu dem noch nach dem Kriege der chinesische Minister von den Friedensver¬
handlungen in Versailles nach Jena reist! Von besonderem Interesse ist der aus¬
führliche Bericht über den amerikanischen Aufenthalt mit seinen Beobachtungen
über das dortige Leben und das Deutsch-Amerikcmertum. Der Weltkrieg brach
Euckens Weltmission ab, er rief das Herz des Mannes, dessen Streben an sich über¬
national ist, der im Auslande die Anerkennung gefunden hatte, die ihm das Vater¬
land lange vorenthielt, zum deutschen Volke zurück und auch ihn auf seinen Posten:
unermüdlich hat er in Vorträgen und Schriften für die deutsche Sache gewirkt.
Die Katastrophe und unsere innere Not, die aus ihr erwuchs, hat vollends bewirkt,
daß Ezicken hier sein Arbeitsfeld erkannte. Man lese das tiefschürfende, ergreifende
Kapitel „Erwägungen", in dem er, von dem Problem der sittlichen Ordnung, der
Frage nach Glück und Glückwürdigkeit, angesichts des Kriegsendes ausgehend, die
jüngste Vergangenheit und gegenwärtige Lage in großzügiger Weise Kud »pseio
»eterniwtis betrachtet! Eine geistige Reformation allein kann uns retten. Um
für sie mit aller Kraft wirken zu können, hat Eucken im Sommer dieses Jahres
seine akademische Lehrtätigkeit eingestellt. Möge sein Mahnruf offene Ohren und
willige Herzen finden! Möge ihm vergönnt sein, in voller Frische und Kraft weiter
zu wirken und die Gesundung unseres Volkes zu erleben! multos anno»!
äre Gundolfs „George" als privater Sonderdruck der „Blätter für die
Kunst" erschienen, wir würden es schweigend beiseite legen, uns
schämend für den Mann, der sich nicht schämt, derartige seelische
Schamlosigkeiten auch nur für einen kleinen Kreis drucken zu lassen.
Würden es mit dem gleichen Achselzucken abtun, wie die kürzlich
anonym erschienenen, .im wesentlichen wohl nur von der „Gemeinde" gekauften
„Georgica", den Ausdruck fanatischer Hirnlosigkeit des geborenen Jüngers.
Wo das Buch in einem großen Verlag erschienen und als „Werk der Wissenschaft"
angezeigt ist, halten wir es für die Pflicht der öffentlichen Persönlichkeit, eine
öffentliche Angelegenheit voll verhängnisvollster Wirkungsmöglichkeit öffentlich zu
geißeln. Und es ist nicht bloß die Empörung dessen, dem Jugend anvertraut ist, es
ist auch die durch dieses Buch aufs tiefste verwundete Liebe zu der Dichtung
Georges, die uns, fast wider Willen, die Feder in die Hand zwingt.
Der Kreis um Stefan George hat in jahrzehntelanger Betriebsamkeit unter dem
Deckmantel erlogener Unöffentlichkeit, aber mit ausgewiegter, Welt- und jugend¬
kundiger Psychologie langsam den Boden bereitet, auf dem die jetzt in großen
Schwüngen ausgesäte Saat aufgehen soll. Man benutzt die Verstörtheit der gerade
«us dem Pubertätsalter herausgetretenen Jugend, ihre Empfänglichkeit für Mystik
zur Verpestung und Vergiftung der besten Elemente, der geistigen Oberschicht, die
später mittelbar die anderen Schichten mitbestimmt, derjenigen Elemente, die ihren
verlorenen Gott suchen. Die Fratze von Sendung, Jüngertum, Evangelien¬
gebärde und Weihe, mit der bislang im wesentlichen nur die jüngste Bluse der
«akademischen Jugend geschreckt, gelockt und umstrickt wurde, wird durch das neue
Georgebuch Gundolfs jetzt auch vor Primanern aufgepflanzt. So muß der Speku¬
lation auf die Unreife der Knaben ein Damm entgegengesetzt werden, der die
esoterischen Herren mit der Sotergebärde von unseren deutschen Jungen abdämmt.
Wollte man das Gundolfsche Buch wirklich als „Werk der Wissenschaft"
werten, dann könnte man sich die Sache leicht machen. Man sagte: der Kritiker muß
mit seinem Urteil warten, bis der Autor das Buch ins Deutsche übersetzt hat. Aber
es handelt sich um Wichtigeres, und der Mantel der Wissenschaft ist bei näherem Zu¬
sehen nichts als eine Dunsthülle, hinter der sichtbar wird ein Korpus, da« die
Wissenschaft allerdings nötig hat — welche, soll später gesagt werden.
Um nicht als leerer Schwätzer zu scheinen, muß ich zunächst kurz auf das
Äußere des Gundolfschen Werkes hinweisen, seine Sprache. Der Leser schlage es
auf, wo er wolle: nach wenigen Sätzen schüttelt er den Kopf; denn man müßte
doch annehmen, die gepriesene — auch von uns bewunderte — Kraft der Georgeschen
Sprache könne aus einen so gelehrigen Jünger nicht anders als erzieherisch und in
gleiche Bahnen zwingend gewirkt haben. Aber dem ist nicht so. Im Gegenteil!
In der Einleitung zur Gundolfschen Auswahl der Romantikerbriefe fehlt noch der
Verblasens Schwulst, fehlen fast ganz die Hunderte sinnloser, Pfauenhaft gespreizter,
„Wortschöpfungen" dieses neuesten Buches, wähkrend die sprachliche Unlogik, die
hier Orgien feiert, dort ebenfalls schon ihr Wesen treibt. Aus den „Nomantiker-
briefen" zwei Beispiele für viele. Einem falsch gebrauchten „Übersättigung"
geht der Parallele wegen die neu und falsch geprägte „Unersättigung" voraus
(S. VII), als ob „Sättigung" und „satt sein" dasselbe wäre und nicht viel
mehr Aktion und Effekt, und als ob es eine Aktion des „Sich-nicht-Mt-
machens" gäbe. Dann: die Romantiker „reiben sich ,durch' kleine Bosheiten
aneinander" (S. IV unten), so daß man unwillkürlich erwartet: „die Mitglieder
des Georgekreises schmiegen sich ,durch° Zärtlichkeit aneinander." Aber da wir nicht
wissen, ob Herr Gundolf des Deutschen mächtig genug ist, uns aufs Gebiet der
Grammatik zu folgen, und dem Leser ihre Wege eintönig sind, verzichten wir, an
dieser Stelle wenigstens, auf den Nachweis, welche Blüten die frühe Fähigkeit zu
sprachlicher Unlogik inzwischen getrieben hat, verzichten um so leichteren Herzens, als
diese grammatischen Sünden des Herrn Gundolf keine sittliche Ansteckungsgefahr
sür die Jugend bedeuten.
Anders liegt es mit dem mystischen Schwulst und Dunst des Stiles, der ent¬
weder Schwulst und Dunst ist, weil der Gefühlsnebel Gundolfs keine greifbareren
Worte findet, oder Berechnung, die sich sagt, daß jugendliche Unreife im Alter
von 17 bis 22 auf derlei reagiert wie die Motte aufs Licht. Ähnlich wie im
Andersenschen Märchen „Des Kaisers neue Kleider" die beiden Brüder dem
Kaiser erklären, sie verständen die schönsten Kleider zu weben, aber diese Kleider
hätten die sonderbare Eigenschaft, daß sie jedem Menschen unsichtbar wären, der nicht
Ü'ir sein Amt tauge oder unerlaubt dumm sei, — ähnlich, aber weniger harmlos
sagt Gundolf mit wohlerwogener Suggestion, einleitend und hinleitend zu dem
Satze, George „vergotte den Leib und verleibe den Gott", S. 27: „Ich bin mir dabei
der Schwierigkeit bewußt, Geistiges durch Worte sichtbar zu machen: keiner begreift,
^as er nicht steht und keiner steht, wovon er nichts ist." Mit diesen Worten, die,
etwas variiert, öfters wiederholt werden, soll jede Kritik, jeder Zweifel von vorn¬
herein auf die Unwürdigkeit oder Dummheit des Ungläubigen zurückgeworfen, jedem
Wngen Leser jedesmal der Mut zur Kritik genommen werden. Nachdem so die
^ötiae H^in? ^-xH erzeugt ist, wird mit überrennender Selbstverstcind-
Kchkeit S. 31 des Kapitels abschließend gesagt: „Die Gestaltung, die Gemeindunz
und — langsam stufenweise — die Volkwerdung des Ewigen Menschen, dessen
^tzter Ruf Nietzsche gewesen, und damit das Ende des Fortschritts, die Voll-endung
des Gesamtmenschentums, das ist Georges besondere Sende. Betrachten wir nun,
^le er als Person dazu ausgestattet ist." Wenige Seiten später (S. 40) taucht zum
^sten Male das halbgeistreiche kokette Geschwätz von Eros und Kairos auf — von
^ Altos ist nie die Rede —, dann der Kommentar von der Verleihung Gottes als
mythischer Schau der plastischen Schönheit, und das zwischen den Zeilen spielende
Erotische wird langsam gesteigert bis zur Besprechung des Problems „Maximin", Nun
wird der Leser endlich für hinreichend geweiht und verwirrt gehalten, um sich durch
den'Inhalt von S. 202—220 in das volle Verständnis für die Gestalt von Georges
Geliebten einführen zu lassen. Der Raummangel läßt leider den Abdruck dieser
Linosklage in falschem Tone nicht zu. Folgende drei Stellen (aus S, 202) mögen ihre
Atmosphäre wenigstens ahnen lassen: „Daß ein Mann sich in Knaben verliebt statt
in Mädchen, gehört in den Vereich der natürlichen Blutreize, nicht der geistigen
Lebenskräfte. Ob man es als naturwidrig verabscheut, als Natur-umweg ent¬
schuldigt oder als Naturverfcinerung billigt: an sich hat diese Verliebtheit mit
Liebe so wenig zu tun wie der Geschlechtsakt." „Dieselbe Weltkraft, die sich bekundet
in schönen Leibern, Eros, drängte die Männer, dies wahrgenommene Schöne zu
besitzen, zu verewigen und zu verherrlichen: der schöne Männerleib regte (bei den
Griechen) den geistigen Zeugungstrieb, den plastischen Formtrieb, den heroischen
Tatentrieb in derselben Weise an, wie der schöne Frauenleib den natürlichen
Zeugungstrieb."
„Nur wo gestaltige Schönheit entsteht aus der Anbetung männlichen
Leibes, da waltet Eros, der geistig zeugende, der weltschaffende Dämon, wie nur da,
wo ein Kind entsteht, die natürliche Gottheit waltet, Aphrodite."
Auf S. 209 erfahren wir: „Die Götterstufe erreicht er (George) durch das
Erscheinen Maximins, und S. 214: „Der Zeitpunkt seiner (Maximins) Er¬
scheinung gehört durchaus zu ihm und macht sie erst für George nicht nur zur Aroh-
botschaft, sondern zur Erlösungstatsache", S. 217 folgt eine Art Erklärung des
„Zu-ihm-Gehörens": „während .... spricht George mit dem Geliebten, den er
gefunden, ja erschaffen, mit dem Gott, den er durch die Stärke seiner Liebe in
sein Erdenleben hereingezogen". Gleich darauf erfolgt „in ihrer (beider) Kom¬
munion" die „Verschmelzung irdischer Fülle und himmlischer Helle". (Was man
sich unter dieser Kommunion zu denken hat, erhellt aus Beeses Aufsatz.,e//7i^oeui>et
Fon/^?" im „Rheinischen Museum".) Erotik und Mystik werden eines, und wie
diese Mystik des weiteren aussieht, davon können wir uns auf Grund folgender
Worte (S. 210) ein Bild machen: „Daß seit Urbeginn der Geschichte Sieben die
Zahl der Vollkommenheit ist, geht aber nicht auf bloße Klügelei oder überlieferte
Konvention zurück, sondern auf das „kosmische" Maßgcfühl beginnlicher (sie)
Menschheit, das allen ursprünglichen Menschen ohne jede Zahlenmystik gemein ist
und von dem auch George, überall ein Erneurer der Ursprünge, unwillkürlich durch¬
drungen ist."
' Wenn Herr Gundolf in dem neuesten Bande der Blätter für die, Kunst aus
S. 53 den Talmud in Reime bringt, wenn im selben Bande auf S. 224 der
schwäbische Anonymus ein perverses Gedicht, das mit der Siebenzahl angeht, druckt,
so regt uns das wenig auf. Vergewaltigt Gundolf Knabenhirne mittels dieser
mystisch-homosexuellen Erotik, indem er den ^-ü/--»»? Maximin neben, fast übel
Christus setzt, einen Heiland göttlicher Art nennt (S. 215) und jedem an-
num ist es, gnug.
Lohnt es sich noch, die Anmaßung zu brandmarken, mit der George über
Wolfram und Goethe, der „Stern des Bundes", schamhaft andeutend, über die
Bibel gestellt wird (S. 248), lohnt es sich noch, das Bild des schamlos retuschierten,
fürs eigene Treiben usurpierten Griechentums zu korrigieren, darauf hinzuweisen,
daß die Griechen zwar lasterhaft, aber nicht pervers waren, und diese Lasterhaftigkeit
auf ihren wahren Grund, das Leben der Frau in der Gynaikonitis wie der
Orientalin im Harem, zurückzuführen? Nein, es lohnt sich nicht. Das Buch ist
kein „Werk der Wissenschaft", es gehört als Ausdruck einer schwer kranken Gesell¬
schaft nicht vor den Richterstuhl der philosophischen Fakultät, sondern vor den
Psychiater.
Buche noch eins zu fragen, ein Entscheidendes: Wußte George selbst von
diesem Buche, das seine privatesten Angelegenheiten prostituiert und exhibitioniert?
Wir hoffen nein. Sonst rissen wir uns die jahrelang gehegte leidenschaftliche Liebe
zu seinen Büchern aus dem Herzen.
Zum Parteitag der Deutschen VoNspartei. Die Deutsche Volkspartei trat
in den ersten Dezcmbertagen in Nürnberg zu einer großen Tagung zusammen. ES
war die erste Revue nach der Wahlschlacht vom 6. Juni. Da mit dein siegreichen
Ausgang jener Schlacht die Partei die bedeutsame Wendung von einer Oppositions¬
partei zur Regierungspartei vollzog, mußte für Außenstehende noch mehr als für
Parteimitglieder die Nürnberger Tagung vom Gesichtspunkt der Nechenschafts-
ablegung über diese Wendung Interesse haben. Inzwischen hatten zudem die
sächsischen Wahlen der Deutschen Volkspartei gegenüber dem 6. Juni einen Rückgang
von etwa 7V V00 Stimmen gebracht. Und dieser Umstand mußte jener Rechen-
schaftsablegung zugleich auch den Charakter einer Besinnung auf politische Neu¬
orientierung verleihen.
Den Politiker hat die Tagung insofern wenig befriedigt, als keine gesamt-
Politische Linie zu erkennen war. Man hatte zu sehr den Eindruck, daß die Tagung
auf den momentanen Effekt berechnet wurde, deswegen auch den Zufälligkeiten der
Massenstimmungen des Tagungspublikums preisgegeben war und nur in wenigen Er¬
scheinungen den Rahmen eines reinen Agitationskongresses sprengte.
Gerade deswegen ist es vielleicht am Platze, von einer neutralen Stelle aus
einige kritische Bemerkungen zum Entwicklungsstande der Deutschen Volkspartei zu
wachen. Denn die allgemeine Parteigärung ist so tiefgreifend, daß auch die äußerlich
imposantesten Tagungen dem nachdenklichen Politiker die Tiefendinge dieser Gärung
nicht verbergen können.
Die Deutsche Volkspartei hat bekanntlich in den letzten Reichstagswahlen
als Sammelpartei des Bürgertums große Erfolge davongetragen. In instinktiver
Gegenbewegung gegen die Revolution im allgemeinen und gegen die wilsonistisch-
westlerische Politik der Demokratie, in gefühlsmäßigen Klassensolidarismus gegen
das Proletariat und seinen weichen Anhang in der regierenden Mitte, versuchte
damals das Bürgertum in einer neuen Mittelpartei sich zu scharen. Die Ernüchterung
vom „Kappismus" hielt die bürgerlichen Massen zunächst von einer radikalen Ent¬
scheidung zugunsten der Deutsch-nationalen Partei zurück. Es fand sich zudem
fast die gesamte Unternehmerschicht Deutschlands in instinktmäßiger Reaktion gegen
°as Betriebsrätegesch in der alten Jnteressenpartei des Unternehmertums, in der
"en ausgemachten Nationalliberalen Partei zusammen. Das Herausstellen einer
>o gewaltigen Führerpersönlichkeit wie Hugo Stinnes war nur äußeres Symbol für
Ache parteipolitische Konzentration der Unternehmerschicht. Endlich hatte die
Partei mit einer ganzen Reihe zugkräftiger Parolen (Sachverständigenführung,
Arbeitsgemeinschaft, Kammer der Arbeit, Wiederaufbaupartei, Volksgemeinschaft)
°er negativen Bewegung des Bürgertums eine starke positive Richtung gegeben und
""Mit große Werbekraft entwickelt.
Nach dem Wahlerfölg sah sich die Partei vor die schwierige Aufgabe gestellt,
die auf sie gesetzten großen Erwartungen zu erfüllen. Die Revolution als Chaos
und Zusammenbruchsbewegung galt es durch eine kühne Ideen- und Sachpolitik
im Inneren zu überwinden. Nach außen sollte die westlerische Orientierung der
loyalen und servilen Erfüllung des Friedensvertrages gebrochen werden. Zur Er¬
füllung beider Aufgaben mußte auf Grund der Wahlresultate eine neue Aufbau-
regterung realisiert werden. Die Partei selbst als stegreiche Sammelpartei des
Bürgertums schien dazu berufen, die Regierungsbildung zu bestimmen. Gerade
weil das Wahlresultat vom parlamentaristischen Gesichtspunkt aus größte Schwierig¬
keiten schuf, konnte angenommen werden, daß die Deutsche Volkspartei im anti-
parlamentaristischen Sinne auf Grund der neuen Ideen der Sachverständigenführung,
des Wirtschaftsprimats, vor allem der Arbeitsgemeinschaftspolitk, die Frage lösen
würde, wie auch zu erwarten war, daß die Deutsche Volkspartei auf Grund ihrer
Wahlpolttik sofort die Frage des Anbaues der Verfassung in der Richtung des
s 165 aufwerfen und mit ihren Ideen eine Verfassungsreform erzwingen würde.
Mit der EntPolitisierung, d. h. im parlamentaristischen Staate mit der Entstaat¬
lichung der Wirtschaft konnte ernsthaft begonnen werden. Vor allem galt es
draußen im Volk das gesammelte Bürgertum und darüber hinaus weite Kreise der
Arbeiterschaft mit den positiven Ideen der Wahlen zu durchdringen, uM zwischen
den zum Teil widerspruchsvollen, ja entgegengesetzten Tendenzen der eigenen'
Wählerschaft einen tatsächlichen Ausgleich zu schaffen.
In der Frage der Regierungsbildung trat indes Merkwürdiges zutage. Als
die Partei das Mandat zur Regierungsbildung weitergab, war dies nach außen
das Eingeständnis einer Ohnmacht, die in auffälligen Widerspruch zum Wahlerfölg
stand. Läßt steh auch advokatorisch der Beweis erbringen, daß für die Weitergabe
des Maubads allerhand Gründe vorlagen, so kann der Eindruck nicht verwischt
werden, daß in jenem Verhalten eine gewisse Impotenz zum Ausdruck kam. Es
gelang der Partei auch nicht, ihre Sachverständtgenidee durchzusetzen. Der Hinweis
auf Groener weckt bei Kennern der Dinge nur ein Schmunzeln. Nur die Wahl des
Außenministers kann als Erfolg gebucht werden. Aber die Entscheidung lag auf
wirtschaftlichem Gebiete. Die großen industriellen Sachverständigen entzogen sich,
wie bekannt, der Aufgabe, nach einer antiparlamentaristischen Wahlkampagne in
einem unverantwortlichen, parteiparlamentaristischen Kabinett Brucharbeit zu
leisten und für solche Brucharbeit die lebenswichtigeren Dinge der Wirtschaft
zu gefährden. Die Partei hatte nun nicht die Energie, auf Grund dieser Haltung
der Wirtschaftssachverständigen ihre Vorstöße gegen den im Wahlkampf bekämpften
Parteiparlamentarismus fortzusetzen und zu steigern. Im Gegenteil. Man deutete
die Haltung der Wirtschaftssachverständigen sogar für den Parteiparlamentarismus!
Man war eben trotz der „Ideen" der Wahlkampagne so stark parlamentaristisch, der
Gesinnung nach, daß man gar nicht auf den Gedanken kam, daß die Haltung der
Wirtschaftssachverständigen ein Zeugnis gegen den Parlamentarismus war. So
verloren alsbald die im Wahlkampf vertretenen neuen und eigenen Ideen der
Deutschen Volkspartei (Überwindung des Parlamentarismus, Primat der Wirt¬
schaft, Sachverständigenpolitik, Kammer der Arbeit usw.) ihre Zugkraft. Und eS
kann nicht wundernehmen, wenn auf der Nürnberger Tagung dies dadurch zum
Ausdruck kam, daß keiner dieser Ideen ein Ehrenplatz bei der Verteilung der
Themata eingeräumt wurde.
Dementsprechend gestaltete sich auch die Haltung der Deutschen Volkspartei
zur sogenannten „nationalen Front". Die intime Verbindung mit der Deutsch-
Nationalm Partei, die an der Eigenart des von den zwei Rechtsparteien vor den
Wahlen formulierten „nationalen Gedankens", wie vor allem an der Gemein¬
schaftsarbeit in zahllosen Volksgruppen (Jndustrieschicht, Deutschnationaler Hand-
lungsgehilfenverband^ nationale Frauenbewegung usw.) festgeknüpft worden war,
riß ab. Die Deutsche Volkspartei, die führend war, zog nicht aus dem Vorhanden¬
sein der unterirdischen Einheitsfront beider Parteien die Konsequenz. Mit den
Gedanken der „Arbeitsgemeinschaft", „Notgemeinschaft", „Volksgemeinschaft" konnte
sie von der Rechtspartei bis weit in radikale Arbeiterkreise hinein die seelischen
Fundamente festmauern, auf denen parlamentaristisch oder antiparlamentaristisch
eine kraftvolle Regierung aufgerichtet werden mochte. Statt dessen mühte sich die
Parteiführung auf Grund ihrer einseitig parlamentaristischen Zwangsvorstellungen
viel zu sehr um das Scheinvolk der linksstehenden Parlamentarier, vernachlässigte
die Einheitsfront rechts und brachte die Partei in Abhängigkeit von jener demo¬
kratischen Parlamentsmitte, gegen die man eben mit so großem Erfolg den Wahl¬
kampf geführt hatte. Damit bekamen die „Negativen" in der Deutsch-nationalen
Partei mehr Gewicht, als ihnen der Tendenz der nationalen Einheitsfront nach
zukam. Die starken gemeinsamen Unterbauten der beiden Rechtsparteien wurden
durchlöchert und in ihrer politischen Tragkraft geschwächt. Auch hierfür war die
Nürnberger Tagung charakteristisch. Die „nationale Front" der zwei Rechts¬
parteien wurde dort nicht ausgewertet. Und das in einem Moment, wo einer¬
seits auf der Tagung der Gewerkschaften in Essen die „Arbeitnehmerfront" von
Lambach (D.-Rat.) bis Jmbusch (Zentrum) gezogen wurde, und in Dresden
U. S. P. und M. S. P. die gemeinsame Regierungsfront realisierten. Da die
Verbindung nach der demokratischen Seite hin ob der Sprengungsgefahr gar nicht
ernsthaft erwogen werden durfte, blieb die Nürnberger Tagung für die Deutsche
Volkspartei der Kongreß dersplsrläiäisolatioii.
Vielleicht wäre das die beste Stellung geworden, wenn die Tagung nur
den „Ideen" der Partei gewidmet worden wäre. Also vor allem der „Arbeits-
gemeinschaftsidee". Aber hier offenbarte sich eine überaus bedeut¬
same Lücke.
Der Gedanke der Arbeitsgemeinschaft war ursprünglich die bewußte politische
Idealisierung der im Herbst 1918 ins Leben gerufenen tarif-politischen Arbeits¬
gemeinschaft der führenden Männer der Jndustriellenverbände und der Gewerk¬
schaftsverbände. Generaldirektor Vogler war, vom Gesichtspunkt der Wirtschaft
her, der lebendige Träger dieses Gedankens. Die Partei als solche hatte zunächst
damit nichts zu tun. Die alte nationalliberale Ideologie war der Arbeitsgemein¬
schaftsidee sogar zuwider. Man könnte es sogar als eine Anomalie des deutschen
Parteilebens bezeichnen, daß die Partei des Unternehmertums, die Partei deS
stärksten antisozialistischen Liberalismus, den Gedanken der Arbeitsgemeinschaft auf¬
nahm. Das Merkwürdige fand seinen Grund zunächst in der Persönlichkeit Voglers
selbst, der als neuer Typ im Unternehmertum diesen Gedanken mit dem ganzen
Schwergewicht einer in chaotischer Zeit doppelt gewichtigen Persönlichkeit seiner
alten Partei ausdrückte. Ich sage: „crufdrückte", denn die merkwürdige Bereitschaft
der Deutschen Volkspartei diesem Gedanken gegenüber fand ihren zweiten Grund
darin, daß die Arbeitsgemeinschaft als taktischer Versuch zur Überwindung der
Betriebsräte aufgefaßt wurde. Von diesem Gesichtspunkt aus schluckte mancher die
„Arbeitsgemeinschaft", der sonst niemals für diese „sozialistische Idee" hätte ge¬
wonnen werden können. Hier lag eine Zweideutigkeit vor, die dem großen Taktiker
Stresemann die glänzendsten Wahlchancen bot. Mit sicherem Instinkt griff er danach.
In der Kampfstellung gegen das Betriebsrätegesetz und gegen die Rätebewegung
konnte man fast die gesamte deutsche Unternehmerschaft parteipolitisch um die Partei
konzentrieren. Mit der Idealisierung der Arbeitsgemeinschaft konnte man anderer¬
seits die von der demokratischen und sozialistischen Revolution enttäuschten „Posi¬
tiven" gewinnen. Man übersah nur dabei, daß diese Zweideutigkeit die größten
Gefahren in sich barg, für die Partei selbst, noch mehr für die Arbeitsgemeinschaft,
wenn nicht alsbald Klarheit geschaffen wurde.
Die Arbeitsgemeinschaftwar nämlich die neue po¬
litische Idee von rechts, wie der radikale Rätegedanke
die neue politisch «Ideologie von links war. Und Ideen
wollen merkwürdigerweise ernst genommen werden. Die Deutsche Volkspartei mußte
es als ihre wichtigste Aufgabe empfinden, gerade weil von der latenten Zweideutigkeit
her Gefahren drohten, durch ideelle Vertiefung und durch kühne praktische Politik
der Arbeitsgemeinschastsidee so viel Eroberungskraft zu verleihen, daß jede Zwei-
deutigkeit behoben und dadurch der gegenpolare Rätegedanke überwunden würde.
Ansätze dazu lagen vor. Im Reichs Wirtschaftsrat wie in den von
Stinnes und Vogler geforderten Landeswirtschaftsräten ging der
Arbeitsgemeinschaftsgedanke praktisch und kühn zugleich an die Eroberung und Über¬
windung des Rätesystems. Auch in der B e er i e b s r at s f r a g e hätte man nur
durchzustoßen brauchen, wo man bereits angesetzt hatte. Denn schon im Früh¬
jahr 1919, als Scheidemann den Rätegedanken noch als „spartakistische Schweinerei"
abtat, hatten Hugo Stinnes und Vogler einen gesunden Kern in der Bewegung ent¬
deckt. Voglers Parteiverbundenheit hatte dann dazu geführt, daß der Kampf gegen
die falschen Betriebsräte den positiven Kampf für die Arbeitsgemeinschaft über¬
wucherte. In seinen an Stein erinnernden Reformideen hatte sich Vogler, leider
hierin im Gegensatz zu Stein, zu sehr an die oberen Konstruktionen (Reichswirt¬
schaftsrat, Landeswirtschaftsräte) geklammert. Aber gerade an diesem Punkte hätte
die Deutsche Volkspartei bewahrheiten können, daß sie es tiefernst mit der Arbeits¬
gemeinschaftsidee meinte. Statt dessen ließ man vielfach die „Arbeitsgemeinschaft"
mehr oder weniger unter den Tisch fallen. Die Nur-Taktiker verschlossen sie in den
Truhen, wo Wahlerinnerungen und Wahlprogramme, zu Hunderttausenden auf¬
gespeichert, vermodern. Sie waren ja weder die Eigenschöpfer noch die gläubigen
Anhänger der Idee. Ihnen war die Idee eine glänzende Sache der Wahlkampagne
gewesen. Und so kam es, daß die Nürnberger Tagung den Gedanken der Deutschen
Volkspartei, die Arbeitsgemeinschaftsidee, gar nicht mehr herauszustellen wagte. Man
tröstete sich mit dem Hinweis darauf, daß die Arbeiterschaft die formale Aus¬
gestaltung der Arbeitsgemeinschaft in der sogenannten Zentralarbeitsgemeinschaft
ablehne, statt an die eigene Brust zu klopfen und sich der eigenen Jnteressenlosigkeit
gegenüber der Idee bewußt zu werden.
Damit komme ich zu der bedeutsamsten Feststellung: Wenn die Deutsche Volks¬
partei in einer Zeit allgemeiner geistiger Gärung nicht in grundsätzlichster Weise
aus den von ihr selbst lanzierten Ideen heraus (Arbeitsgemeinschaft, Arbeitsfrieden,
Sachverständigenführung, Überwindung des Parlamentarismus, von der Arbeits¬
gemeinschaft zur Volksgemeinschaft, Primat der Wirtschaft, Kammer der Arbeit usw.)
immerfort politische Zielbilder entwirft, politische Tageswege weist und politische
Schlachten siegreich durchführt, dann geht sie über kurz oder lang an diesen Ideen
zugrunde.
Eine erste Warnung lag im Wahlresultat der sächsischen Wahlen. Die
Parteimüdigkeit der Wähler übertrug sich nicht zuletzt auch auf die Partei, welche
versprochen hatte, mehr zu sein als parlamentaristisch-spielerische Partei, die mit
ihren Ideen gerade die Befreiung vom Parlamentarismus verkündet hatte. Jenes
„Es ist doch nichts anders geworden", das Stresemann und Heinze vor dem Forum
de^ 1000 Delegierten in Nürnberg dialektisch zerzausten, ist nicht das logische Re¬
sultat politisch-wissenschaftlicher Untersuchungen, sondern der einfache volkspsycho¬
logische Reflex auf das Zurückstehen der Tatpolitik der Deutschen Volkspartei bei
der Führung der Regierungsgeschäfte hinter der Wortpolitik der letzten Reichs¬
tagswahlen.
Eine andere Warnung stellt das Schicksal der U. S. P. D. dar. Der Zerfall,
ja die Sprengung jener Partei zeigt, von wie geringer innerer Kraft eine Sammel¬
partei heute ist, wenn sie dem Opportunismus verfällt und Ideen assimiliert, die
nicht genügend ernst genommen werden. Die U. S. P. D. ist am Rätegedanken
zugrunde gegangen, weil sie diese Revolutionsidee mechanisch übernahm,
damit spielte, stolz auf den Lorbeeren eines ersten Wahlerfolges ausruhte, sich um
«me Vertiefung des Gedankens gar nicht mühte und damit die Massen auf Grund
der unausbleiblichen Enttäuschungen aus dem eigenen Lager verdrängte. Dasselbe
Schicksal droht der Deutschen Volkspartei, wenn sie ihren eigenen Ideen noch
untreuer wird, als sie im Gefühl der Massen heute schon vielfach erscheint.
Die dritte Warnung an die Partei kommt, unbewußt, von der Deutsch-demo¬
kratischen Partei her. Dort haben wir es mit einem leerstehenden Apparat zu tun,
von dem einige Dutzend Parteirepräsentantcn noch traditionell getragen sind. Man
will in Ehren untergehen. Das kann nicht besser geschehen, als durch eine Ver-
schweißung mit der Deutschen Volkspartei. Selbstverständlich wird man auf der
demnächstigen Tagung der Deutsch-demokratischen Partei (ebenfalls in Nürnberg)
das Gesicht währen. Aber der Zug dahin ist überaus stark. Zwischen dem parla¬
mentarischen Flügel der Deutschen Volkspartei und der Demokratischen Partei
besteht faktisch kein Unterschied. Da die Aufnahme alter Parteigrößen der Demo¬
kratischen Partei schon anläßlich der letzten Wahl die Wege geebnet hat, .läßt sich
der Strom zwischen beiden Bewegungen kaum noch aufhalten: Formaler Demo¬
kratismus, Berufspolitikertum gegen Sachverständigenführung, Parlamentarismus,
Opportunismus, Politik des kleinen Tagesausgleichs, das sind die ausgesprochenen
und . unausgesprochenen Losungen. Das wäre praktisch die Rettung der Formal-
dcmokratie und — Sprengung der Deutschen Volkspartei.
Und als letzte Warnung wird jeder ernste Politiker innerhalb der Deutschen
Volkspartei die Essener Tagung der christlich-nationalen Gewerkschaften empfunden
haben. Was der Nürnberger Tagung an politischer Bedeutung ermangelte, hatte
diese Essener Tagung fast im Übermaß. Die Rede Stegerwalds war inhaltlich und
politisch-taktisch eine Tat, deren Bedeutung für unsere politische Entwicklung nicht
leicht überschätzt werden kann. Weniger der Umstand, daß Stegerwald sich einmal
wieder zu einer programmatischen Kundgebung aufsbchwang, als vielmehr die Tat¬
sache, daß die Rede wie die ganze Tagung von langer Hand als neuorientierende
vorbereitet worden waren, lassen die Vermutung aufkommen, daß die Initiative
zum Handeln im parteipolitischer Umbildungsprozeß von der Deutschen Volks¬
partei auf die christlichen Gewerkschaften übergegangen ist.
Jedenfalls wird man innerhalb der Deutschen Volkspartei diese Warnungen
nicht einfach in den Wind schlagen können. Im Sturm der heutigen Zeiten hält
nur der Stand, der auf Horchposten hört und das Gesetz des Handelns nur vom
England und Amerika. Wie schon im vorigen Weltspiegel angedeutet, versucht
man in Griechenland tatsächlich, die außenpolitische Linie festzuhalten. Wenigstens
hat sich Gunaris einem Vertreter der „Times" gegenüber, in diesem Sinne aus¬
gesprochen und darauf hingewiesen, daß sich eine solche Politik jetzt besser denn je
durchführen lasse, da die jetzige Regierung sich auf das Vertrauen des Volkes zu
stützen in der Lage sei. Seitdem läuft zwischen Athen und Luzern, Athen und
London und Paris und London Vorschlag über Vorschlag, Erwägung über Er¬
wägung. England will den Vertrag von Svvres unberührt wissen. Griechenland
aber verlangt für Aufrechterhaltung des Vertrages und Unterstützung der englischen
Politik finanzielle Kräftigung, die wieder England ohne Kontrolle nicht gewähren
kann oder will. Die Franzosen möchten, abgesehen von ihrem Mißtrauen gegen
Konstantin, wieder nicht, daß England allein die-griechischen Finanzen kontrolliere,
ohne doch andererseits den Griechen den Besitz von Smyrna garantieren zu sollen.
Denn das verdürbe wieder die Annäherung an die Anatolier, die man braucht,
erstens zur Balcmcicrung des englischen Übergewichts im nahen Orient, zweitens
um in Cilicien zur Ruhe zu kommen und hier Geld und Truppen zu sparen.
Bekommen aber die Anatolier Smyrna, so brauchen die Griechen wieder keine
finanzielle Unterstützung und brauchen auf Frankreichs Wünsche in der Königsfrage
keine Rücksicht zu nehmen. Inzwischen scheint sich nach der Fassung der Entente¬
note an Griechenland, mehr noch nach den Äußerungen Konstantins im „Matin"
zu urteilen, der englische Standpunkt in der griechischen Frage in allem Wesentlichen
durchgesetzt zu haben. Die Revision des Vertrages von Sevres wird verschoben.
Die Franzosen werden um ihrer plötzlich erWächten Freundschaft für Mustapha Kemal
willen noch manchen harten diplomatischen Strauß auszufechten haben, und es ist
möglich, daß einer dieser Wassergänge dem französischen Ministerpräsidenten seine
Stellung kostet. Für diesmal hat er sie, trotzdem man mit seinen mehr dekorativen
„Erfolgen" in der griechischen Angelegenheit wenig zufrieden ist, noch gerettet weil
er außer einem Abkommen mit England in Sachen der syrisch-palästinensischen Ab-
grenzung und Zuteilung der oberen Jordanzuflüsse, in dem England (wohl um für
die Zukunft die Gegensätze zwischen' Syrern und Palästinensern nicht zu groß
werden zu lassen) nachgab, einen anderen Erfolg mitbrachte, der gemäß seiner
eigenen kürzlich im Senatsausschuß vorgebrachten Äußerung, daß eine kräftige
Mittelmeerpolitik das Rückgrat von Frankreichs politischer Orientierung bilden
müsse, allerdings nur ein Nebenerfolg wäre: die Alliiertennote über die Minister¬
reden im Rheinland. Diese Reden haben besonders das Mißfallen Poincar6s er¬
regt, der sie in der „Revue des deux Mondes" als bedrohliche Symptome wachsender
deutscher Widersetzlichkeit auffaßte. Wenn der Reichskanzler, so führte er aus, heute,
nach den Kautskyschen Feststellungen, noch die monstreuse Behauptung wage, die
deutsche Regierung von 1914 und der Kaiser hätten, den Krieg nicht gewollt, so
erwecke das nicht nur Überraschung, sondern vor allem müsse man sich fragen, wie
die Alliierten, die in Versailles das feierliche schriftliche Eingeständnis der Deutschen
erhalten hätten, sich heute derartige unverschämte Unwahrheiten bieten lassen könnten.
Wenn Reichsminister Simons den Einwohnern Cölns ankündige, daß die Besetzung
ihre.. Stadt spätestens am 10. Januar 1925 abliefe, so stelle er sich damit in be¬
wußten Gegensatz zu Millerand, der wiederholt versichert habe, der Ausgangspunkt
der Okkupationssrist werde durch die Ausführung des Friedensvertrages bestimmt,
wenn er die Stärke der Besatzungstruppen als übertrieben groß hinstelle oder sich
über die Anlage von Flugplätzen beschwere, so mache er damit in Wirklichkeit den
Versuch, die Bewohner des linken Rheinufers gegen die Alliierten aufzuhetzen, wenn
er behaupte, daß die französische Industrie Kohlen sanftere und daß Deutschland
Frankreich keine Kohlen mehr zu liefern habe, so verdrehe er nicht nur Tatsachen,
sondern zerreiße den Friedensvertrag, der Ziffer,: festsetze, die bei weitem nicht
erreicht würden. Absichtlich lasse er unberücksichtigt, daß Deutschland aus dem
Spaa-Abkommen insofern Nutzen zöge, als es die von Frankreich für die Er¬
nährung der Ruhrbergarbeiter vorgeschossenen Beträge zu Manövern zur Herab-
drückung des Frankenkurses benutze. Wenn er schließlich erklärt, daß Deutschland
das Recht habe, bei Wiederholung eines Aktes wie der Besetzung von Frankfurt
diesen als feindselige Handlung zu betrachten, so erinnere das nicht nur an die
heftigsten Improvisationen Wilhelms II. und die Aussprüche vom trockenen Pulver,
sondern bilde wiederum eine Außerachtlassung des Friedensvertrages, der den
Alliierten in einwandfreier Weise das Recht gebe, die Durchführung der von Deutsch¬
land eingegangenen Verpflichtungen durch Sicherung von Territorialpfändern zu
erzwingen.
Aus solchen Gedankengängen heraus muß die Note, die an sich einen un¬
erhörten Eingriff in die Souveränitätsrechte des Reiches darstellt, verstanden werden.
Die Reden Simons' sind den Franzosen, wie fast jede Aktion des mit mißtrauischem
Respekt beobachteten deutschen Außenministers, sehr unangenehm gewesen, besonders
wegen der unleugbar großen und günstigen Wirkung, die sie im Rheinland getan
haben, und es war der französischen Presse nur ein ziemlich geringer Trost, mit Be¬
friedigung darauf hinweisen Zu können, daß die im Rheinland viel bemerkten und
unsagbar törichten Äußerungen Herrn von Falkenhayns (von der Reichsgetreide¬
stelle), der, wenn sie (in der Kölnischen Volkszeitung vom 9. November) wirklich
richtig wiedergegeben sind, sofort fliegen bzw. an eine Stelle versetzt werden müßte,
wo er weniger Unheil anrichten kann, den Effekt der Ministerreden abgeschwächt und
die Rheinländer aufs neue mit Mißtrauen gegen die Berliner Zentrale erfüllt hätten.
Jedenfalls beweisen aber die Äußerungen Poincarös, daß man in Frankreich un¬
entwegt an dem u. a. auch von Tardieu geteilten Standpunkt festhält, daß die Be¬
satzungsfristen noch nicht laufen, und wenn auch eine Klärung dieser Streitfrage
in der nächsten Zeit kaum zu erlangen sein wird (und wenn sie erfolgte, im Augen¬
blick sicher gegen uns ausfallen würde), so ist es doch gut, daß der Reichsminister
der deutschen Auffassung rechtzeitig und wieder einmal Ausdruck verliehen hat. Auf
keinen Fall kann natürlich davon die Rede fein, daß Reisen und Reden deutscher
Minister im besetzten Gebiet verboten werden, auch gegen die fortgesetzten Chikayen
der Presse sollte nachdrücklich Einspruch erhoben werden.
Weniger intransigent scheint, möglicherweise infolge amerikanischer Einflüsse,
der Standpunkt der französischen Regierung in der Wiedergutmachungsfrage zu sein.
Allerdings sind hier und da (bei Poincarö und im „Temps") Versuche bemerkbar,
die Entschädigungsansprüche der durch den Krieg geschädigten Privatleute möglichst
hinaufzuschrauben (womit leider Hoffnungen erweckt werden, die sich kaum werden
erfüllen lassen). Wenn aber derselbe „Temps" nicht nur eine Summe von 10 Mil¬
liarden Pfund als unrealisierbar ansieht, und erwägt, ob man die Schäden nicht nach
dem Wert der zerstörten Güter zur Zeit der Zerstörung berechnen und Deutschland
eine Erholungssrist zubilligen solle, so ist, sofern nicht die Gewährung einer solchen
Frist als Vorwand einer weiteren Hinausschiebung der endgültigen Fixierung der
Gesamtentschädigungssumme benutzt werden soll, immerhin eine Einstellung aus
reale Möglichkeiten bemerkbar, wenn auch angesichts der durchaus hypothetischen
Form des „Temps"artikels und angesichts der an anderer Stelle vertretenen Forde¬
rung, Deutschland müsse unbedingt sofort den Fehlbetrag des neuen französischen
Budgets von 1921 decken, zu optimistischer Ausfassung keinerlei Anlaß besteht.
Jedenfalls tragen aber Äußerungen, wie die Herrn von Oldenburgs, daß die Entente
sich in der Entwaffnungsfrage als „ohnmächtig" erwiesen habe, Äußerungen, die
von der französischen Presse sofort registriert und zweckentsprechend verwandt werden,
augenblicklich nicht gerade zur Erleichterung der Verhandlungen bei.
Weltpolitisch von weitaus größerer Bedeutung als die griechische und die
deutsch-französische Frage ist die an England gerichtete Note der amerikanischen
Regierung vom 25. November über die mesopotomischen Olfelder, die zum erstenmal
den schon lange latent vorhandenen Gegensatz zwischen England und den Ver¬
einigten Staaten offen zutage treten läßt (vgl. Grenzboten 1920 Heft 14). Dill
sehr lange (in vollem Wortlaut in der „World" vom 26. November veröffentlichte)
Note erörtert in großer Ausführlichkeit den Mandatbegriff, und weist sehr nach¬
drücklich darauf hin, daß Amerika nicht daran denke, sich bei der Ausbeutung der
von England durch das Abkommen von San Remo praktisch zu seinem eigenen
Vorteil mit Beschlag belegten Olfelder ausschalten zu lassen. England meine zwar,
daß die Erörterung des Mandatbegrisfs nur innerhalb des Völkerbundes statthaft
sei, aber Amerika habe nicht den Krieg gewinnen helfen, um bei der Nutzbarmachung
fremder, infolge des Sieges einzelnen Staaten zur Verwaltung übergebenen Ge¬
biete diesen Staaten eine den Weltfrieden gefährdende Sonderberechtigung zu
schaffen. Auch müsse das Mißverständnis, daß Amerika reichlich mit Ol versorgt sei,
aus der Welt geschafft werden, die Vereinigten Staaten verfügten leider nur über
ein Zwölftel der Weltproduktion. Diese Note muß gerade in diesem Augenblick,
da die Franzosen Elemenceaus Nachgeben in der Mossulfrage noch immer schmerzlich
empfinden, da England in Persien die Natifizierung der Verträge der Persian Oil
Compagny durch das Parlament seit Monaten vergeblich zu erzwingen sucht, da die
Vereinigten Staaten durch Duldung von de Valeras Propagandatätigkeit dem
irischen Aufstand mindestens indirekt Vorschub leisten, den Engländern sehr unan¬
genehm sein, um so mehr, da die Vereinigten Staaten jetzt auch mit vollem Nachdruck
dem anderen großen englischen Plan, sich mit Hilfe des Völkerbundes zur Vormacht
eines geeinigten Europas zu machen, entgegenwirken. Denn die Äußerungen Hol¬
dings über eine amerikanische Konkurrenzgründung sind keineswegs nur ein sehr
geschickter und notwendiger innerpolitischer Schachzug, verschiedene Anzeichen deuten
klar darauf hin, daß man in den Vereinigten Staaten sehr ernsthaft daran denkt, den
englischen Bund zu sprengen. Nicht nur verschanzen die Franzosen sich bei jeder
Gelegenheit, wo sie ihre eigenen Ziele Völkerbundszwecken unterordnen oder auch
nur anpassen sollen, hinter eine einstweilen noch aufstehende Stellungnahme
Amerikas, nicht nur übernimmt in der armenischen Frage Wilson eine Rolle, die der
Völkerbund, um seine Ohnmacht nicht allzu deutlich hervortreten zu lassen und mit
den Einzelregierungen nicht in Konflikt zu geraten> ablehnen mußte, auch inner¬
halb des Völkerbundes selbst macht sich schon der Einfluß der Vereinigten Staaten
geltend. Es darf nicht übersehen werden, daß der Vertreter Argentiniens, Puyrredon,
der in Genf für eine wirklich demokratische Entwicklung des Völkerbundes eintrat
und Verhindern wollte, daß er ein Werkzeug zum ausschließlichen Gebrauch der
Großmächte bliebe, schon vor einigen Monaten mit Oberst House verhandelt hat,
und daß der amerikanische Gesandte in Buenos Aires nichts Eiligeres zu tun hatte,
als die argentinische Regierung zur Stellungnahme ihres Genfer Vertreters zu be¬
glückwünschen und der völligen Billigung von selten der Vereinigten Staaten zu
versichern. Nordamerika wird jetzt sehr energische Anstalten machen, zunächst,
übrigens durchaus im Sinne der Monroedoktrin, zu der ja der Völkerbund, wie er
von England konzipiert worden ist, im Widerspruch stehen soll, sämtliche Staaten
des amerikanischen Kontinents zusammenzufassen, Englands Einfluß auf Süd¬
amerika, der während und infolge des Krieges sowieso abgenommen hat, zu
schwächen, um dann, gestützt auf diese Autorität, alle diejenigen europäischen Staaten
anzugliedern, die mit der englischen Konzeption unzufrieden sind. Daß diese Politik
ganz zielbewußt in Angriff genommen wird, darauf weisen nicht nur Anzeichen, wie
die Reise Colbys nach Südamerika, Äußerungen amerikanischer Senatoren über die
künftige Stellung zu Deutschland, sondern vor allem auch die Verhandlungen mit
Mexiko. Ganz deutlich haben nämlich die Vertreter Washingtons zu erkennen
gegeben, daß sie ihre bisherigen Cinmischungsmethoden aufzugeben gesonnen sind,
wofern die Mexikanische Regierung den Versuchen europäischer Mächte, in Mexiko
ihren wirtschaftlichen Einfluß (namentlich auf die Petroleumausbeutung) zu
festigen oder auszubreiten, einen Riegel vorschieben wird. Das heißt natürlich nichts
anderes, als daß man Mexiko zunächst Selbständigkeit zuerkennen will, Um es dann
desto sicherer als ungeteiltes' Ganzes überschlucken zu können, aber es scheint doch,
daß Mexiko, vielleicht auch aus innerpolitischen Rücksichten auf amerikanische, ihm
am nächsten liegende Hilfe angewiesen, in diesem Punkt optimistischer über seine
künftige Selbständigkeit denkt als die Amerikaner. Ähnliches scheint sich in Mittel¬
amerika zu vollziehen. Der beabsichtigte Zusammenschluß von San Salvador,
Guatemala, Costarica, Honduras und Nicaragua ist zunächst sicher als ein süd¬
amerikanischer Riegel gegen den Norden gedacht, aber auch hier werden die Nord-
crmerikaner hoffen dürfen, ein Ganzes sei letzten Endes leichter zu bewältigen als
disparate Stücke. Beharrt Argentinien, dessen Auftreten in Genf von deutschen
Blättern zum Teil recht ungeschickt kommentiert worden ist, auf seiner sezessio--
nistischen Haltung, wird man über den amerikanischen Gegenbund bald neues hören.
Leider besteht für Deutschland keinerlei Anlaß, sich der hierdurch entstehenden
Verlegenheiten Englands zu freuen. Auf Deutschland allein kann sich England
gegen Amerika, zumal die deutsche Flotte auf dem Grunde von Scava Flow liegt,
nicht stützen, Nußland wird, auch wenn England Polen aufgibt, und trotz aller
Handelsabkommen, bei deren Verhandlung die Nüssen neuerdings wieder, ebenso wie
gegen Polen, sehr selbstbewußt auftreten, sein gefährlichster Feind bleiben. Bleibt als
Rückhalt nur Frankreich, und es ist nicht unwichtig, daß Lord Derby unlängst mit
viel Energie eine Lanze für ein förmliches (eventuell durch Belgien vermitteltes)
englisch-französisches Bündnis gebrochen hat. Und wenn auch die alte englische
Scheu, eine feste Bindung einzugehen, wahrscheinlich die Oberhand behalten wird,
so wird England doch alles tun, um eine weitere französisch-amerikanische An¬
näherung zu verhindern, und wird diesem Bestreben auch ohne weiteres die Rück¬
sicht auf eine kaufkräftige deutsche Kundschaft zum Opfer bringen. Die Stellung¬
nahme Polen gegenüber ist in dieser Hinsicht lehrreich genug. England braucht den
europäischen Frieden, und ein Wiederaufleben des russisch-polnischen Konfliktes wäre
ihm höchst unangenehm. Aber da Frankreich die Polen für seine Politik gegen
Deutschland braucht und nicht verstimmen will, läßt man es in England ruhig zu,
wenn von Paris aus den Polen nahegelegt wird, sich für Mäßigung in Riga an
Deutschland, in Danzig und Oberschlesien, schadlos zu halten, und dieser Gedanke
war es auch, der der Abstimmungsnote zugrunde lag. Deutschland selbst sieht sich
diesmal genötigt, auf dem Versailler Vertrag, dessen Milderung (man sollte in öffent¬
lichen Erörterungen endlich aufhören, das die Franzosen stets mit neuem Schreck
durchzuckende Wort Revision zu gebrauchen) es mit allen Kräften anstreben muß,
zu besteh
Weil ihm zwei vberfränkische Blätter nachgesagt hatten, daß in seiner ge¬
räumigen Behausung ungeheure Mengen von Lebensmitteln aufgespeichert wären,
hatte der unabhängige Vorkämpfer des ausgesogenen und unterdrückten Volkes,
Herr Blumentritt, die dreisten Redakteure verklagt. Der Prozeß ging für den
unabhängigen Idealisten mit dem poetisch wohlriechenden Namen indessen nicht
ganz wohlriechend aus. Wurde doch festgestellt, daß Blumentritt schleckerhafterweise
außer 40 Pfund Mehl, 20 Pfund Speck und 50 Pfund Schweinefleisch auch noch
20 Pfund Bohnenkaffee für den eigenen Bedarf weise reserviert hatte. Dem
Gericht schien diese Selbstversorgung nicht nur über die landesüblichen Rationen,
sondern auch über die besonderen Verhältnisse eines Freiheitsapostels hinauszu¬
gehen, und es sprach die Beklagten in der Hauptsache frei, Blumentritt hat aller¬
dings viel Entschuldigungen für sich. Auf der einen Seite die Herren Helphant
und Sklarz, deren Vorräte nicht nur ausreichten, um in den blutigen Januar¬
wirren ganze Ministerien üppig zu beköstigen, sondern aus denen auch heute noch fein¬
schmeckerische Exzellenzen in Schwanenwerder ganz nach ihrem Gusto ernährt werden
tonnen. Als zweiter Nothelfer Blumentritts tritt die „Vossische Zeitung" auf, die
die erstaunte Fuge stellt, ob seine Schleichvorräte für fränkische Verhältnisse wirklich
so viel seien. Es verdient ausdrücklich festgestellt zu sehen, daß die „Vossische
Zeitung" nicht einseitig parteiisch verfährt. Was nach ihrer Meinung den großen
Berliner Hotels recht ist, das ist im Falle Blumentritt billig. Sowohl die er¬
lauchten Ententevertreter und Oberschieber, die es sich im Edenhotel und in den
Betrieben der Hotelgesellschaft bei übertischtem Mahle gefallen lassen, wie die fetten
Leithammel des souveränen Volkes müssen der „Vossischen Zeitung" zufolge in der
Lage sein, sich besser als das gewöhnliche Pack zu ernähren. Nun bleibt auf der
Gegenseite nur noch übrig, daß die Staatsanwaltschaft ebenso unparteiisch wie die
„Vossische Zeitung" vorgeht und neben den Vorratskammern der Berliner Gasthöfe
auch die der hervorragenden Unabhängigen allen Kalibers einer Nachprüfung unter¬
zieht. Es darf nicht vorkommen, daß stark links gerichtete Abgeordnete bloß von
Privatleuten, windigen Redakteuren usw. angeschuldigt werden. Sie habe» un¬
bedingt dasselbe Recht auf amtliche staatsanwaltliche Behandlung wie die großen
Berliner Schlemmerstätten.
Nachdem ein Dr. Goldstein vor Jahresfrist die Berliner Frauenwelt auf die
unnatürliche Verruchtheit des Kindersegens aufmerksam gemacht hatte und in zahl¬
reichen Versammlungen gegen den Gebärzwang aufgetreten war, glaubt auch die
sozialdemokratische Partei nicht länger ungestraft heilige Pflichten vernachlässigen zu
dürfen. Sie brachte also im Reichstage den Antrag ein, die Sö 218 bis 220 StGB,
aufzuheben. Der „Vorwärts" unterstützte diese menschenfreundlichen Bestrebungen
durch eine hingerissene, öfter unwillkürlich den Reim anwendende Ode des Herrn
Quessel, worin u. a. zu lesen stand:
„Milderung des Gebärzwanges, das ist die Gabe, die zahllose prole¬
tarische Frauen von der Gesetzgebung ersehnen. Sie wollen nicht zu
ihren zwei oder drei Kindern, die sie kaum satt zu machen wissen, ein viertes oder
fünftes hinzugebären. Dagegen erhebt sich das tiefste und edelste Gefühl des
Weibes, ihr mütterliches Empfinden, ihre Liebe für die schon
geborenen Kinder, deren Dasein sie durch den Zwang ruhelosen Gebarens
bedroht steht____Je früher das Ausnahmegesetz gegen Proletarier¬
frauen, das der Gebärzwang zweifellos darstellt, fällt, um so besser für die
Arbeiterschaft und das deutsche Volk____ Die Zeit drängt, mahnend pocht die Rot
an unsere Türen. Helft den Müttern, die ein unsinniges Recht zwingt,
die Lebensgrundlagen der schon vorhandenen Kinder durch ruhelosesWeiter-
gebären zu zerstören!""
Selbst die „Frankfurter Zeitung, die doch wahrhaftig allen modernen Ge¬
dankengängen ein frohes und empfängliches Herz entgegenbringt, kann nicht umhin,
in diesem Falle von ihrem Lieblinge abzurücken. „Hier stehen sich", so ruft sie aus,
„wirkliche Weltanschauungen gegenüber. Man kann verschiedene praktische Gründe
für und wider anführen, aber darauf kommt es gar nicht an, und es ist schade um
jedes Wort darüber. Denn man muß es schon im Gefühl haben, daß das
nicht angeht. Wenn jene Paragraphen nicht beständen, würde man sie heute
schwerlich einführen, aber es bedeutet etwas ganz anderes, sie aufzuheben, und es
müßte sich schon das natürliche Gefühl dagegen sträuben. Das ist christlich gedacht,
aber ebenso idealistisch in dem Sinne, daß wichtiger noch als die unmittelbare Frage
die Wirkung einer solchen Änderung auf die ganze geistige Verfassung
eines Volkes wäre, einer Änderung, die den plattesten Nützlichkeitserwägungen die
Ite« der Heiligkeit werdenden Lebens operierte. Eins geht ins
andere. Wer dieses Leben nicht achtet, wird Leben überhaupt nicht achten, und es
möchte gerade heute wichtig sein, diese Achtung wieder wachsen zu lassen, gar nicht
Zu reden von der seelischen Verwüstung, die besonders in der Frauen¬
welt angerichtet würde."'
Die Frankfurter Worte seien hier wiederholt, obgleich jede ernsthafte Wider¬
legung der Goldstcmerei und der Quesselei eigentlich eine Versündigung gegen die
gesunde Vernunft der Masse ist, die ja doch schließlich selbst nach dem 9. November
nicht gänzlich erwürgt werden kann. Deshalb bleibe auch die Frage unerörtert,
ob den Frauen und Mädchen, die auf Goldstein, Quessel und die sozialdemokratische
Fraktion hören, aus den massenhaft gewünschten Eingriffen nicht schlimmerer ge¬
sundheitlicher Schaden erwachsen würde, als der besonderen roten Volksgesundhett
durch die Beseitigung neuen Lebens Nutzen geschähe. Wir sind augenblicklich
freilich in der Stimmung, für erlaubt und schön zu erklären, was früher als niedriges
Verbrechen galt. Läßt man Mörder, Totschläger, Räuber, Brandstifter, Spitz¬
buben, Gauner usw. usw. gewähren, so haben schließlich die Sünder gegen die
ßs 216, 220 StGB, dasselbe Recht. Von diesem Standpunkt aus sind Goldstein
und Quessel auf dem richtigen Wege. Teile ihn irgendein honoriges Mitglied der
S. P. D.?
Den Schwarmgeistern entgegenzuhalten, daß der Neomathusianismus immer
nur eine Spielerei überhitzter Köpfe und ausgelaugter Überbildeter sein wird, hätte
wenig Zweck. Denn die Vorkämpfer des allerneuesten bethlehemitischen Kindermordes
können sich darauf berufen, daß Malthus keineswegs auf schlimmere Zustände stieß
als sie. Was entscheidend sein muß, ist die ungeheure, die letzten staatlichen und
sittlichen Fundamente zerstörende Verwahrlosung, die die Goldsteinerei notwendig
zur Folge haben wird. Eine Nation, die die Tötung werdenden Lebens jedermann
frei gibt, streicht sich dadurch nicht nur mit eigener Hand aus der Liste der
Lebendigen, sondern verschmutzt auch ihr feinstes seelisches bis in die letzten Aus¬
strahlungen. Zur Kennzeichnung des Zeitgeistes von 1920 wird es dereinst genügen,
daß solche Bestrebungen sich überhaupt ans Tageslicht wagen durften. Man scheute,
von Grauen geschüttelt, vor ihnen zurück, solange sie durch die Dunkelheit schlichen;
man verliert den bescheidenen Rest von Hoffnung, daß dem deutschen Volke doch
noch ein neuer Aufstieg beschieden sein könnte, wenn man feststellen muß, daß sich
führende Männer, führende Parteien in ergreifender Schamlosigkeit vor aller Welt
In dem vorliegenden Buche schildert uns
ein ausgezeichneter Kenner japanischer und
ostasiatischer Verhältnisse, ein klarsehender
Weltpolitiker das Problem Japans. Erst im
Laufe der Jahre werden wir erkennen, wie
>«S dies Land im Weltkrieg verstanden hat,
seine Bedeutung als Großmacht, seine Stellung
als Beherrscherin des Ostens zu erweitern und
zu festigen. In kurzsichtiger Politik hat Eng¬
land Japan zu dem Ziele verholfen, nach
«in seine Beherrscher, eine kleine hinter dem
dem Throne stehende Gruppe, seit der
Restaurationsperiode 1^63 streben. Unmöglich
kann das riesenhafte Emporblühen Japans,
das von den Vereinigten Staaten mit ängst-
licher Spannung verfolgt wird, für Europa
ohne Folgen sein Welche Bündnisgruppen
auch in Zukunft erstehen werden, immer wird
Japan eine aktive oder passive Rolle dabei
spielen.
Der uns fehlende Blick für Weltpolitik ist
mit ein Hauptgrund, daß Deutschland heute
am Abgrunde steht. Das vorliegende Buch
wird für jeden, der den kommenden Er-
eig lösen in der Weltgeschichte nicht blind
gegenüberstehen will, eine Fundgrube reichen
Wissens sein. Wir können es unseren Lesern
nur aufs wärmste empfehlen.
Das Buch beschäftigt sich auf Grund
geschichtlicher Darlegungen mi> der zukünftigen
Politik Japans und prophezeit ein neues
Bündnis zwischen Japan, Deutschland und
Rußland, unter dem Eindruck der Unveimeid-
lichkeit einer künftigen Abrechnung zwischen
Japan und Amerika.
'
Enthält die Zeitungsartikel des deutsch¬
nationalen Politikers aus der Zeit des Krieges,
des Zusammenbruchs und des Friedensschlusses.
Enthält die politischen Vorträge und Auf¬
sätze des großen Nationalökonomen von 1397
bis 1916. '
Das Buch ist die eindrucksvollste, weil
authentischste Darlegung des Standpunktes
der deutschen Politiker, welche die Unter¬
zeichnung des Versailler Friedens abgelehnt
haben. Es wird deshalb in späteren Zeiten,
wenn unserm Volk die Augen über seine
Lage mehr und mehr aufgegangen sein werden,
noch stärkere Beachtung finden als in unserer
müden und zersplitterten Zeit.
Der zweite Band der Ludendorff sehen
Denkwürdigkeiten (Berlin, E. S. Mittler
H Sohn) enthält das wichtigste Urkunden-
material, das von deutscher Seite zur Ge¬
schichte des Weltkriegs bisher veröffentlicht
worden ist. Die Volksausgabe des ersten
Bandes (Berlin, E. S. Mittler 6 Sohn,
Preis 22 Mark) mit gekürztem, aber in sich
geschlossenem» Text und in annehmbarer Aus¬
stattung bedarf keiner Empfehlung.
Das reizvolle Abschiedsbuch Martin Spahns
an Elsaß-Lothringen ist seinerzeit in den
„Grenzboten" gewürdigt worden. Ihm stellt
sich nun die Darstellung eines zweiten
deutschen Historikers zur Seite, der zugleich
mit Spahn im November 1918 von der
Universität Straßburg vertrieben worden ist.
Keine Provinzialgeschichte im gewöhnlichen
Sinn will dieses Werk bieten; sein Rahmen
ist die europäische Geschichte vom frühen
Mittelalter bis zur jüngsten Gegenwart. Zu¬
gleich ist der Verfasser sich bewußt, daß wir
heute an >mein der größten Wendepunkte
der Geschichte stehen Er wünscht, daß das
Buch mit seiner Rückschau und seinem Aus¬
blick auch Lehre und Mahnung für unser
Volkstum werde.
Etwas schnell und flüssig geschrieben und
nicht gerade quellenmüßig tief, wie so ziemlich
alles, was über die jüdische Geschichte im
Zeitalter der Emanzipationen geschrieben
worden ist, bietet Dubnvw immerhin umfang¬
reiches Material, das, mit der nötigen Vorsicht
und Kritik benutzt, auch für das Verständnis
aktueller Vorgänge und Probleme dienen kann.
In seiner anschaulichen, menschlich vertieften
Art spricht der bekannte Verfasser von „Im
Todcsrachen" über die Gründe und den Verlauf
des deutschen Zusammenbruchs. Sowohl die,
welche den Zusammenbruch wie der Verfasser
von der Front her gesehen haben, wie die,
welche ihn in der ganz anders gearteten
Stimmung der Heimat erlebten, werden dieses
nachdenkliche Buch mit Nutzen in sich aufnehmen.
Es enthält viele Folgerungen, die auch für
jede künftige Politik von Wert bleiben.
Das vor zehn Jahren bahnbrechende Buch
hat den reichen Segen deutscher relig'vns-
geschichtlicher Forschung, der sich inzwischen
wesentlich unier Anregung des Verfassers selbst
einwickelt hat, in der zweiten Auflage in sich
aufgenommen und bewahrt damit seine führende
Stellung für das Verständnis der Neligjons-
epoche, in der das Christentum wurzelt.
Es Wird wohl noch lange dauern, bis sich
auf der Seite unserer Feinde vie eigentlichen
Führer im Krieg entschließen werden, ihre
Denkwürdigkeiten zu veröffentlichen. Auch
steht sicher heute noch nicht fest, was in diesen
Büchern zu lesen sein wird. Das hängt
sicher davon ab, ob Männer wie Cl6menceau
oder Lloyd George im Augenblick der Ver¬
öffentlichung noch Grund haben, sich ihres
Sieges zu freuen oder nicht. Mittlerweile
melden sich die Persönlichkeiten zum Wort,
die durch erfolgreiche Episoden im Drama
des Weltkrieges sich ihren günstigen Platz in
der Geschichte sichergestellt haben. Zu ihnen
gehört der schneidige Verteidiger von Paris,
dessen Darstellung für die Marneschlacht un¬
entbehrlich, freilich der Kritik sowohl von
deutscher wie von alliierter Seite unter¬
worfen ist.
Dem auf amtlichen Material beruhenden
Buche ist eine recht weite Verbreitung ,u
wünschen. Man kann es als eine nationale
Tat des Verfassers bezeichnen, daß er leine
Mühe und Arbeit gescheut hat, um auf¬
zudecken, mit welch unmenschlicher Grausamkeit
gerade unsere Feinde gegen uns Deutsche ver¬
fahren sind. Indem er den Stoff entsprechend
der Auslieferungsliste unserer Feinde ordnet,
bringt er für jeden Abschnitt unwiderlegliche
Beweise dafür, daß gerade die Feinde es sind,
denen man diese Verbrechen vorzuwerfen voll
berechtigt ist Es wäre dringend zu wünschen,
daß das Buch auch seinen Weg ins Ausland
findet. Man kann es als die von national-
denkenden Deutschen schon lange geforderte
Liste feindlicher Kriegsverbrecher bezeichnen.
Zwei hervorragende Kenner tropischer Ge»
biete vermitteln uns die Kenntnis afrikanischer
und sumatranischer Natur und Kultur in
fesselnder Darstellung. Der Breslauer
Geograph bringt uns den Urwald als Er¬
lebnis näher, während Waibel als Objekt
fünfjähriger Forscherarbeit auch das afrikanische
Veld und die Wüste mit ihren eigenartigen
Bewohnern in den Kreis seiner Betrachtung
zieht. Die beiden schön ausgestatteten Band chen
sollten jedem Natur- und Kolonialfreund auf
den Weihnachtstisch gelegt werden.
Überaus spannend und in schöner Sprache
gibt der Autor in Tagebuchform eine Geschichte
der von ihm so oft und so gern behandelten
leidenschaftlichen Liebe. Diesmal ist es ein
Künstler, der als Ulanenrittmeister vorm
Feinde fällt und dessen Leidenschaft zur
Tochter seiner zweiten Frau ihn zur Sünde
fortreißt. Geschickt versucht der Autor diesen
Mann durch Hervorhebung seiner inneren
Werte zu entschuldigen.
Auch hier die leidenschaftliche Liebe eines
Mannes zu einem Mädchen, das, aus kleinen
Verhältnissen zu ihm heraufgezogen, schließlich
doch seiner edel empfindenden Liebe nicht
würdig ist. Wie stets in solchem geistig und
seelisch ungleichem Zusammenleben Platzt ein¬
mal die Bombe, diesmal in Gestalt der Hals¬
kette eines Großfürsten. Immerhin eine
spannende Erzählung mit feiner Detailarbeit
der Charaktere.
Rücksendung «o„ Manuskripten erfolgt nur gegen beigefügtes Rückporto.
Nachdruck sämtlicher Aufsätze ist nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlages gestattet
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In lMIeiltW »»Mi«
Vorbereitung fut file Klagen der ver8edle6enen Lernt^Steine
(Um8onulung). In8be8vnäer8 Vorbereitung fut ale LinMriZen-,
?rima- und KeikeprükunZ.or. KictmelK.
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Soeben erschienen ist eine neue Lcnrikt von
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^b^vendunx» der WirtscKsktsnot durch die Voll»
industriellen (Zliederunx ist die se,t Harren ernobeue
?orderunx lV«»> »elf. ->le ernZlt dudurcn besondere»
»ut dem Lebiere der VVirtscK-liest'orseKun'; einen »n-
Kok Vunioli lluskUnrlloti« prospslito.
^ubemenendurcnalleLucdKsndlunxen oderdirektvom
WuelKvss'LAN KTZSGZiuiTÄ,
of?Jm K«f S, I»nil,el,»«5SlAs 2«
s)aut Langenscheidts
Taumel
Geh. M. 14.—, geb.
M. 18.—. 24. Taus.
„Hamburger Fremdenblatt": Die geistvolle Art des
Dichters läßt die Lektüre dieses Romans einer Ehe-
irrung »um höchsten Genuß werden.RomaneUm nichts
Geh. M. 10.50, geb.
M. 14.50. u6. Taus.
„Berliner Lokalanzeiger": Das Buch mit seiner
ernsten Tendenz ist hoch interessant, glänzend
geschieden.
Die weiße Nacht
Geh. M. 14.— geb. M. 18.—. 17. Tausend
>,Da» kleine Journal", Berlin: Dieses imponierende,
atemlos spannende Werk eines wirklichen Dichters
ist «in kulturgeschichtliches Dokument.Eine dumme Geschichte
Geh. M. 10.50, geb. M. 14.50. 1V. Tausend
„Berliner Lokalanzeiger": Ein Roman, der dem Leser
„labende Trafen" abpreßt, ihn packt und ergreift, —
köstliche Worte, köstliche Menschen und ein warmer,
köstlicher Humor.
Soeben erschienen!Vendee Geh. M. 10.50, geb. M. 14.50
„Neueste Nachrichten", Kiel: Paul LangenscheidtS jüngst« Roman ist in seiner dramatischen Spannung
und Meisterschaft der Sprache kaum wie ein anderer vom Zauber dichterischer Schönheit durchtränkt.
Du bist mein!
Geh. M. 9.50, geb. M. 13.50. 54. Tausend
„Hamburger Nahrichten": Seit langem haben wir
kein, Wert gelesen, da» uns so in tiefster Seele
erschüttert hätte.Blondes Gift
Geh. M.14.—, geb. M. 18.—. 47. Tausend
„Berliner Lokalanzeiger": Es ist ein unbarmherziges
Buch; mögen seine lehrreichen Wahrheiten weit
hinausklingen in die Welt.
Arme kleine Goa!
Geh. M. 10.50, geb. M. 14.50. 74. Tausend
„Posener Tageblatt": Alle reifen Menschen sollten
dieses erschütternde Werk lesen.Rudler, hilf mir!
Geh. M. 12.—, geb. M.16.—. 16. Tausend
„Tägliche Rundschau", Berlin: Dieser Roman gehört
in aller Eltern vaut.
Ich hab' dich lieb!
Geschichte einer jungen Ehe.
Geh. M. 10.50, geb. M. 14.50. 59. Tausend
„Le pziger Abendzeitung": Es ist einMeist-roe k,das
Paul Langenscheidt der modernen Literatur schenkt.Graf (lohn
Geh. M. 14.—, geb. M. 18.—. 25.Tausend
„Magdeburger Tageszeitung": R ich anspannenden
Details, die zeitweise auch goldenen Humor ,u Worte
kommen lassen, muß der Roman „Graf Cohn" eine
Mei'terschöpfu'g genannt werden.
Paul Langenscheidt, Diplomatie der Ehe.
Ein Buch für g'ne und böse Tage.
Kochen »Bibl- Nachr.": Dieses „ L-bensbuch" des Verf.. ein wunder-
^V. , voller Berater und Warner, möge jedes Braut- und Ehepaar
erschienen. sich schenken. DaS Werk wird Generationen überdauern.Preis eleg.
geb. M. 20.-
Martin Lamp l
wie Leutnant Jürgens
Stellung suchte
Roman
Geh. M. 10.-, geb, M. 15.-
Dieser fesselnde Roman schildert — ohne
»olirische Tendenz — an einem Einzel«
Schicksal da» Los von Tausenden unterer
verabschiedeten Offiziere. Das Buch ist
ein lebensprühendes Bild aus stürmischen
Tagen,Clara Sudermann
Am Glück vorbei
Roman
Geh. M. 10—, geb. M. Is.—
Sir spannender Liebesroman, der — frei
von aller Eioril — jedem i» die Hand
gegeben werden kann. Das Werk hütet
in seiner bewgten Handlung und
glänzenden Sharalreristir «me Zierde
unserer Literatur.Robert Heinz Brigg
Du meine Königin
Roman
Geh. M. 11.-, geb. M. 14.—
In leuchtender Sprache rollt sich ale«.
beklemmend diese „««schichte «in-r Leiden,
schaft" ab. D«r Roman ist nach Form
_und Inhalt vollendet.
Dr. p. Langenscheidt, Verlag, Berlin U?j3
V e K 1.^ (Z L ^^.I.'I'^L^ Q e IX 8 e 1-l I IX ^ L 1^1 ^
n K ^ V L ^ . . .
^.us 6en Memoiren eines serdisenen
Diplomaten
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Von ^«i-^-riivO soni^c;^8IVVI.I^ 80^OLK^^K0
Koma» von VWLc»
I^iscKienev in 6er Oeutüonen Kom^n^eitunx unter 6/?nel
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All gemeine Zeitung
Wochenschrift für Politik und Wissenschaft, Runst und Literatur,
Volkswirtschaft und Technik.
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Die Allgemeine Zeitung
ist treu ihrer Tradition das ^amilienblatt der gebildeten N)ete
preis durch die Post vierteljährlich M. S.—. Probenummern kostenlos durch den Verlag
München, Müllerstraße 2? — 29. ^ Bestellungen durch jede Postanstalt, jede Buchhandlung,
oder die Geschäftsstelle der Allgemeinen Zeitung, München, Müllerstraße Ur. 27.
Alte KanaMriften
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Äntiyuartat
Leipzig, Komgftr. 29
er Geist Vismarcks ist es gewöhnt, von Unberufenen beschworen zu
werden. Aber selten wurde er falscher zitiert, als in der für alle
Grenzpolitik maßgebenden Angelegenheit des Botschafters der
deutschen Republik in Rom. Herr von Beerenberg, der anscheinend
weniger seines Könnens als seines Habens wegen zum Vertreter der
Person des Herrn Ebert bei Viktor Emanuel III. ernannt worden ist, hat seine Aus¬
gabe damit begonnen, das Grenzdeutschtum — heute gut ein Viertel unseres
Volkes — im tiefsten Herzen zu verletzen. Er hat auf dem Weg über eine Trentiner
italienische Behörde den Südtirolern den Rat gegeben, sich als Italiener deutscher
Nationalität mit dem italienischen Staat abzufinden. Die einhellige Ablehnung
seiner ebenso ungeschickten wie unwürdigen Äußerungen seitens der Tiroler wurde
nun seinen Verteidigern zum Anlaß, daran zu erinnern, daß Bismarck seiner Zeit
die Grenzdeutschen in den russischen Ostseeprovinzen oder in Österreich-Ungarn in
Schutz zu nehmen vermieden habe. Man könnte darauf zunächst erwidern, daß, wenn
Herr von Beerenberg Königgrätz und Sedan gewonnen und das Deutsche Reich ge¬
schaffen hätte, in seiner Stimme immerhin etwas Metall läge, welches zarter Stimni-
gebung erst den eigentlichen Reiz verleiht. Vor allem aber: Bismarck unterließ
es, in die inneren Angelegenheiten Rußlands und Österreich-Ungarns dreinzureden,
weil er in der heiklen diplomatischen Lage, die ein starkes, zentraleuropäisches Reich
immer vorfinden wird, durch Ausschaltung aller Neibungsflächen mit den beiden
östlichen Kaisermächten unserm Reich und damit dem ganzen Deutschtum auf der
Erde die sicherste Grundlage gab. Demgegenüber konnten die schmerzlichen Erlebnisse
der Ballen nicht ins Gewicht fallen, mußten die Deutschen des Habsburgerreichcs
sich nut eigenen Kräften behaupten.
.Heute ist alles anders. Ein heutiger deutscher Botschafter im Ausland ist
der Vertreter eines geknechteten, verstümmelten und bankerotten Staates, sowie
eines großen, unbesiegten und zukunftskräftigen Volkstums. Jeder Italiener hat ein
schlechtes Gewissen über den ursprünglich gar nicht beabsichtigten Raub Südtirols.
Als Italien im Mai INI in den Krieg trat, sagte sein leitender Staatsmann, er
lege auf Bozen und Meran keinen Wert, dort sein gute Deutsche, sie würden immer
schlechte Italiener sein. Jeder Italiener achtet jeden Deutschen, der ihm bei
jedem Gespräch mit ungezwungener Aufrichtigkeit ruhig, Auge in Auge blickend,
sagt: „Über die Vergangenheit gebe es keinen Streit! Das italienische und das
deutsche Volk sind in Zukunft aufeinander angewiesen. Aber ihr Italiener habt
eines dürftigen Augenblicksvorteils wegen, entgegen eurer besseren politischen
Überzeugung und eurem diplomatischen Gewissen, eine sonderbare Unklugheit be¬
gangen, indem ihr einen der kräftigst deutschempfindenden Teile unseres Volkes
eurem Staate einverleibt habt. Das rv^no ü'ItaliÄ steht und fällt mit dem Grund¬
satz der Nationalität. Ihr habt ihn verletzt, aber ihr könnt eure Unklugheit jederzeit
wieder gutmachen. Ihr werdet es tun, weil ihr unseren sentimentalen Punkt noch
tiefer getroffen habt als seiner Zeit Habsburg durch das Einbehaltcn von Trient
and Trieft den euren, werte Jrredcntistcn von gestern! Ihr wißt, daß wir euch
gern die Hand reichen möchten, aber dies nicht können, solange ihr das einzige
Stück Erde, auf welchem seit tausend Jahren die südliche Sonne deutsches Volk
bescheint, wie ein mißtrauischer Hehler in Gewahrsam behaltet. Der Raub lohnt
für euch nicht. Ihr habt genug Sonne, Granitgebirge und Wein im eigenen Land.
Bis auf weiteres kann leider kein Deutscher mit einem Italiener sprechen, ohne zum
Abschied „Bozen und Meran" zu sagen. Sorgt ihr dafür, daß dies anders werde,
damit Italien vor sich selber und vor seiner politischen Zukunft klar stehe."
Was sollte eine solche Haltung heute dein Deutschen Reich oder dem Deutschtum
schaden können? Was dagegen die Fortsetzung unserer unehrlichen Verstcindigungs-
diplomaristerei im Munde eines Beerenberg geschadet hat, braucht nicht mehr be¬
wiesen zu werden. Sie hat unehrlich gewirkt und Mißtrauen auf beiden Seiten
geschaffen, den Stand der Südtiroler erschwert und das Urteil der Italiener ver¬
wirrt. Als aber in denselben Tagen, da sich Beerenberg in Rom wie in Südtirol
unmöglich machte, der deutsche Reichskanzler und der Minister des Auswärtigen
sich die Freiheit nahmen, in Köln und Aachen davon zu sprechen, daß dieses Land
deutsch sei und deutsch bleiben wolle, wurde ihnen ein Allerhöchster Rüssel in Form
einer Ententenote zu teil. Gewöhnliche Deutsche pflegen in solchen Fällen aus
dem besetzten Gebiet ausgewiesen zu werden. Ein Volk, das mit dem kleinen
Nestbestand seines Bodens, der nicht unmittelbar von französischen, polnischen,
tschechischen, italienischen usw. Soldaten besetzt gehalten wird, derartige Entente¬
noten entgegennehmen muß, spielt die Rolle eines politischen Hanswurstes, wenn
es sich mit Bismarckischer Geste an dem Schicksal seiner unterjochten Glieder des-
interessiert.
Die Grenze für die Zuständigkeit des deutschen Auswärtigen Amtes und seiner
Beamten liegt heute nicht an den Grenzen des Deutschen Reiches. Das Deutsche
Reich heißt wieder „deutsches Arm". Für einen ohnmächtigen Spielball der Feinde ,
außenpolitische Verantwortung tragen zu wollen, wird leicht unehrlich, denn zu
Verantwortung gehört Macht. Verantwortlich ist heute aber jeder Deutsche und
insbesondere jeder amtliche Vertreter des deutschen Volkes — einerlei, ob er auf
Privatkosten in Valutaländern leben kann oder nicht, ob er Geist hat oder nur
Routine —, verantwortlich ist jeder in gesteigertem Grade der Idee des deutschen
Volkstums und dem Volksgefühl. Niemand braucht mehr Würde, als ein ge-
schlagener Staat. Wo die Ententesoldaten zur Zeit haltzumachen belieben, das
ist eine Frage zweiten Ranges, die sich zudem jeden Tag verändern kann, ohne daß
deshalb unsere Ehre berührt wird, denn wir können ja doch keinen Krieg erklären.
Die Grenzen Deutschlands sind heute unsichtbar; sie leben nur in den Herzen. Ver¬
schwinden sie oder verwischen sie sich auch dort, so dürfte das deutsche Volkstum
selbst in jene Periode eingetreten sein, die das Griechentum zur Römerzeit erlebt hat,
d. h. es wird sich verflüchtigen. Leben aber die Grenzen des deutschen Volkstums
in den Herzen fort und jener Mut, der früher oder später den Widerstand der
stumpfen Welt besiegt, so wird dieser „Vertrag" von Versailles eine ebenso vor¬
übergehende Phase sein, wie der Vertrag von Sövres infolge des türkischen National¬
gefühls, oder wie der Wiener Kongreß im Laufe eines Jahrhunderts seine sämtlichen
Grenzziehungen an das Naturrecht der Völker verloren hat.
Im Jahre 1920 zeigte ich meinen Kindern zum erstenmal den Rhein, „Deutsch¬
lands Grenze, nicht mehr Deutschlands Strom". Als Alfred von Musset höhnte:
„Z'it est ä vorig, votre I^Ilm allem-me!,
Kien, lave?-^ votre livr^e",
konnten ihm damals deutsche Dichter mit der „Wacht am Rhein" und verwandten
Gesängen antworten. Heute wird das Singen dieses Liedes von den Wächtern am
Rhein mit Haft bestraft; stumm schlafen die Sänger ihre drei bis sechs Monate in
der gmuen Dietzer Burg, von deren Turm die mächtige Trikolore weit übers
Lahntal leuchtet. Daneben im Schloß des Reichsfreiherrn von Stein machen sich's
französische Leutnants mit deutschklingenden Namen und germanischem Aussehen
neben maurischen Schergen bequem, und der alte, gepflegte Hausrat dieser nationalen
Erinnerungsstätte zerfällt. In dem Turm aber, den Stein 1815 als Gedenkhalle
der Befreiung einrichtete, steht im Fremdenbuch zwischen den Namen französischer
Kapitäne ein stilles: „l5xoriar«z aliquis", und von den Wänden schauen in un¬
gewohntem, oft tragisch zwiespältig anmutenden Verein alle die (im Leben vielfach
unter sich streitenden) Gestalten aus unserer zerrissenen und widerspruchsreichen
deutschen Geschichte herab, welche der Reichsfreiherr weitherzig unter dem einzigen
Gesichtspunkt der Freiheit und Selbstbehauptung der Nation im Bild zusammen¬
getragen hat, mittelalterliche Kaiser und Landesherren, evangelische und katholische,
preußische und österreichische Führer. Geisterhaft wirklich lebt für die heutigen
Kinder wieder auf, was für unsere eigene sorglose Jugend vergangene Romantik
war, der hin- und herwogende Kampf um den Rhein, Knechtschaft und Hoffnung,
Demütigung und Zähneknirschen, stille Tränen, Ahnentrost und Gelübde. Die Ge¬
schichte geht weiter; was vor hundert Jahren abgeschlossen schien, liegt jetzt wieder
in der Zukunft verhüllt vor unserer eigenen, zunächst noch weniger Sarges-, gedanken-
und glaubensstarken Generation. Die eisernen Gedenktafeln, auf welchen der Reichs¬
freiherr der Zeiten Lauf über Jena, Moskau, Tauroggen und Leipzig bis Belle-
Alliance eingraben ließ, müssen wieder auf Fortsetzung warten. So wie es ist,
kann es ja nicht bleiben. Arme, reiche Jugend, die kein Friedensbehagen mehr
kennt und vom großen Deutschen Reich nur noch ein seines Leuchten versinken
sah. Opfer und Krisen, aber auch vertiefter Lebensgehalt liegen vor ihr.
Unauslöschliche Eindrücke sammelten die Kinder auf dieser deutschen Familien-
reise von 1920. In Ems, wo sie den Erklärer des Benedettigedenksteins plötzlich
von einem lauschenden französischen Aufpasser mit der Verhaftung bedroht sahen.
Am abendlichen Rhein, auf dem ein englisches Torpedoboot, von uns bezahlt, den
Union Jack spazieren fährt, während aus dem Haus mit der Inschrift ,,I^6pubIi^ne
krÄNyaise, Oenciameiie n^tionAle, Lercle nie Lopparc!" die Marseillaise klingt,
jenes Fcuerlied einer Revolution, die, anders als die unsrige, nationalen Schwung
entzündet hat. Endlich am Nationaldenkmal, an dessen Fuß gerade die Aßmcmns-
hciuser Schienen der bankerott gegangenen Ntederwaldbahn abgebrochen wurden
und dessen Symbole in ihrer ehernen Unbeweglichst heute wie Gestorbene leeren
Blickes ins Land schauen: Germania, die sich die Kaiserkrone aufs Haupt setzt,
Vater Rhein, der das Wächterhorn der Mosel übergibt, der über die Generalstabskarte
nach den Vogesen blickende Moltke. Alles so fürchterlich, wie zum Hohn, dieses
erstarrte Glück, das doch noch fester in unseren Vorstellungen haften will als die
Gegenwart, dieses bräutliche Lächeln der schon wieder verwitweten Germania, dies
junge Deutsche Reich, das geschwinder als die Wellen des Stromes zerrann.
Auf dem linken Rheinufer drüben fehlt die Bergkrönung, die nach Angabe des
vor sieben Jahren gedruckten Reisehandbuchs zu Bismarcks hundertsten Geburtstag
1915 „errichtet wird"; sie wartet jetzt auf ein neues Geschlecht, das sie mit mehr Recht
als das unserige erstehen lassen darf; und am Sockel des Niederwalddenkmals bleibt
über die Zeiten hinweg stehen der vergebliche Schwur der Väter:
„So lang ein Arm die Büchse spannt,
Betritt kein Feind den deutschen Strand."
Welche von beiden Wirklichkeiten ist denn nun eigentlich der Traum, dies
siegstrahlende Denkmal, unser Denkmal, oder das Jahr 1920 ? Erst unsere Kinder
werden es einmal wissen; wir finden uns heute nicht zurecht. Und nun zurück
in die „neutrale" Zone! In Gießen trifft man dann wieder auf eine neue
„Reichsgrenze": dort hält die am weitesten nach Westen vorgeschobene Reichswehr¬
abteilung entwaffnete Wacht, niemand weiß wozu, ein Idyll, aber nicht von Spitzweg,
Wagen wir uns aber noch einmal durch das besetzte Gebiet, so stößt der
Deutsche auf die schmerzliche Linie, die im Jahre 1920 entstanden ist, und die
ihm zur Zeit zu überschreiten fast unmöglich gemacht wird. Jenseits von ihr liegt
Eupen und Malmedy, „Ausland" geworden wie die Düppeler Schanzen, Vromberg
und Thorn, das soeben sein Kriegerdenkmal von 1870 als Altmetall verkauft hat,
und wie das herrenlos gewordene Danzig und M.einel. Noch trennt die alte Grenze
von 1914 im Osten innerhalb des jungen Polenstaates die glücklichere deutsch¬
erzogene Westhälfte des Landes vorläufig von dem Elend der echten Kongreßpolackci;
noch trennt sie im Westen den alemannischen Eigensinn der Elsässer (mit seinem
inneren Kampf zwischen entseelender Verwelschung und heimlichem Deutschgefühl)
von der Gleichförmigkeit der Departements. Und so nahen wir im Geist den
wirklichen Grenzen des Deutschtums tief drinnen in fremden Staatsgebilden, von,
„dtetschcn" Vlamentum, das sich gegen die „Fransquillons" behauptet, bis zu
dem Kampf der Alpendeutschen gegen die Trentiner Signori und das serbische
Parvenütum, oder der Deutschböhmen gegen die immer wiederholten Hussitenzüge
ihrer Bedrücker. Wir schauen hinaus zur verödeten Seegrenze, von der uns keine
Schiffe mehr zu einem Übersee-Deutschland, höchstens noch zu der ostpreußischen
„Insel", der letzten Kolonie Deutschlands, tragen. Besonders aber denken wir an
dieser Jahreswende an Oberschlesien, das Glied des deutschen Volkskörpers, das fast
am meisten von allen sein Gedeihen der Gemeinschaft mit dem Ganzen verdankt und
wiederum für das Gedeihen der Gesamtheit unentbehrlich ist. Jeder Deutsche, der
dort etwa aus feiger Furcht zögert, sich ganz einzusetzen, um das Land für das
Reich zu retten, lädt nicht nur schwere Schuld, sondern durch eine vorübergehende
Bequemlichkeit endlose Plagen aus sein eigenes Haupt. Dort im äußersten Winkel
des Vaterlandes wird in nächster Zeit um das deutsche Schicksal gekämpft. Der
Sieg ist unser, wenn jeder mannhaft nach dem Wort „Einer sür alle, alle sür einen"
handelt. Aber auch nur dann!
Wann wird die Grenze der deutschen Langmut und Halbheit, wann die
der deutschen Zwietracht im Innern erreicht sein? Die Not der Zeit und
das Wirken des Feindes ringsum, das unsere Jugend in den besetzten und
annektierten Strichen Deutschlands täglich vor Augen sieht und auch hier
in Berlin unsichtbar, aber nicht weniger schrecklich in ihren eigenen
frierenden, hungernden und rhachitisch verkümmerten Gliedmaßen fühlt,
arbeitet wie nie zuvor an der Seele unseres Volkes. Es beginnt wunder-
glciübig zu werden und auf die Geburt des Erlösers zu harren. Das Wunder, das
in der deutschen Geschichte noch aussteht, ist die Geburt des einigen Willens der
gesamten Nation. Nur aus ihm kann die Erlösung kommen, und sie wird kommen,
sicher, wenn auch spät.
ielleicht wird Deutschlands außenpolitische Lage heute am eindring¬
lichsten klar, wenn man sich — Japans heutige Stellung im Konzert
der Weltmächte vergegenwärtigt. Am großen japanisch-amerikanischen
Gegensatz ist kein Zweifel. Von der Erneuerung des Bündnisses
zwischen England und Japan hören wir nichts. Sibirien und der
Norden Ostasiens liegt dem japanischen Machtehrgeiz frei, aber weder eine aktive
Chinapolitik Japans ist bemerkbar, noch nützt dieses die Auflösung Rußlands, um
seine Macht bis zum Baikalsee auszudehnen. Der Krieg hat Japan wirtschaftlich
und finanziell außerordentlich gestärkt, voll Blut sind alle Adern seines Macht- und
Wirtschaftskörpcrs, und alle Kräfte und Nerven dieses Imperialismus sind gespannt.
Aber ist es nicht, als wenn er an der Kette läge? Rußlands und Deutschlands Zu¬
sammenbruch hat ihm die Entlastung geraubt, ohne die er keinen anderen Wassergang
wagen kann. Es hat jetzt, wenn es sich rührt, allein alle auf dem Halse, was heute
in der Weltpolitik aktiv sein kann, es ist ohnmächtig gegen den Imperialismus der
Angelsachsen und ihrer Vasallen. Das wahre Gleichgewicht der Mächte ist heillos
zerstört, seit Deutschland aus ihrem System ausfiel, und alle Spekulation über
deutsch-japanische Beziehungen heute ist reine Phantasie, solange Rußland nicht
wieder in das System der Weltmächte eingeordnet ist.
Die Pariser Friedensschlüsse wollten dies Verhältnis in feste und dauernde
Form gießen, und der Völkerbund soll darum einen ideologischen Mantel hängen,
Das Jahr 1920 war für uns nominell das erste Friedensjahr wieder; am 10, Januar
wurde der Versailler Frieden ratifiziert. Und die erste Aufgabe der deutschen aus¬
wärtigen Politik war, diesen Frieden durchzuführen, besser gesagt, der Welt seine
Undurchsührbarkeit zu demonstrieren, indem sie versuchte, ihn durchzuführen. Aus¬
lieferung des .Kaisers, Verfahren gegen die sogenannten Kriegsschuldigen, Abtretung
und Abstimmung, Entwaffnung, Kohlenlieferung, Sachleistung und Kriegsentschädi¬
gung (so bezeichne man deutsch „roy^raUon", das mit: „Wiedergutmachung"
wiederzugeben gedankenlos und unwürdig ist) — die Erinnerung an eine Flut von
Protesten und Konferenzen, Fehlern und Demütigungen, Reden und Noten sind im
Rückblick auf das zu Ende gehende Jahr in uns wach. Da und dort eine kleine
Erleichterung, mehr so, das; eine Frage von der Entente in der Fülle der ihre Staats¬
männer umdrängenden Geschäfte halb liegen gelassen, als daß wirklich nachgegeben
oder gar im Sinne der Verständigung eine Einigung herbeigeführt wird. Im
ganzen aber, so gern die Illusion manches Deutschen das anders sehen möchte, der
feste Wille der Entente, insonderheit Frankreichs, den Friedcnsvertrcig durchzuführen,
der Deutschland macht- und wehrlos machte, seine Wirtschaft in den Sklavendienst
der bisherigen Feinde einstellt, und mit dem Selbstbestimniungsrcchte der Völker
vergewaltigend betrog.
Zwei der allerwichtigsten Fragen sind noch in der Schwebe. Trotz alles
Drängens von deutscher Seite ist das Schicksal Oberschlesiens noch nicht entschieden,
und erst ganz am Ende des Jahres kommt man dazu, in Sachverständigcnkonserenzen
beider Teile wenigstens die Frage vorzubereiten, was das bisherige Deutschland
denn wirklich leisten und zählen soll, um die Pflicht zur Kriegsentschädigung, die es
übernahm, zu erfüllen. In zahlreichen Konferenzen sind die entgegenstehenden
Interessen der Mächte in dieser Kardinalfrage hin und her geschoben worden. In¬
zwischen haben die unsinnigen Kosten der Besatzung auf dem linken Rheinufer, in
Verbindung mit .dem, nur vorübergehend im Frühsommer unterbrochenen, kata¬
strophalen Sturz der deutschen Valuta den Boden für diese Diskussionen immer
mehr zum Sumpf gemacht. Das Jonglieren mit Milliarden deutscher Entschädi¬
gung, das die französischen Staatsmänner ihrem Publikum vormachen, war An¬
fang 1920 schon Schaumschlägerei. Am Ende dieses Jahres ist es zur hoffnungs¬
losen Lüge geworden. Männer wie Poincars, Tardieu, Dubois, selbst Maurice
Barros können heute vor den Milliardenzahlen der deutschen Notenemission und
Schulden nicht mehr im Ernst an die mechanische Forderung glauben, daß der
Deutsche alles bezahlen wird. Dagegen werden sie immer noch daran glauben, daß
das Ruhrgebiet, dessen Besetzung ein Ersatz für die ausgefallene Forderung an
Deutschland sein soll, wirklich ein solcher sein würde, und daß ein deutsches Wirt¬
schaftsgebiet, dem man Oberschlesien zugunsten der Polen wegnimmt, noch zu
erheblichen Sachleistungen fähig sei. Auch in Frankreich gibt es indes eine Richtung,
deren reeller Einfluß nach den Erfahrungen des ganzen Jahres 1920 freilich sehr
gering ist, die weiß, daß es so nicht geht, daß Deutschland, um arbeitsfähig zu
werden, erst wieder zahlungsfähig gemacht werden muß. In England werden die, die
sich überhaupt für Deutschlands Lage interessieren und sich darüber ein Urteil bilden,
sämtlich dieser Meinung sein, und in Nordamerika desgleichen. Aber für England
ist diese deutsche Frage eine und nicht einmal eine in erster Reihe unter den Dutzenden
von Fragen, die die Männer des Foreign Office bedrängen, und Nordamerika hat
sich gerade während des Jahres 1920 aus den europäischen Dingen bewußt heraus¬
gezogen und freiwillig-absichtlich seinen Einfluß auf sie, sein Interesse an ihnen
gemindert. Von Japan wurde schon gesprochen. So hat die französische Politik,
die nur in einer Richtung vorgeht und nur e i n Ziel kennt — selbst Fragen, wie
die syrische oder Konstantinopel, kommen ihr erst sehr in zweiter Linie —, die Hände
frei. Sie will keine Revision des mühsam zustande gebrachten Versailler Werks,
sie verlangt seine Realisierung, und die Erfahrung des abgelaufenen Jahres lehrte,
daß im Konfliktfall die Genossen England und Italien dem französischen Ver¬
bündeten zumeist freie Hand ließen. Was Lloyd George allein durchgedrückt hat,
ist, daß die französisch geführte „oominission des röMi-allons" nicht die alleinige
Entscheidung, die alleinige Verfügung über Deutschlands Wirtschafts- und Finanz¬
kräfte erhielt, die Frankreich anstrebt, sondern daß die Konferenzen der Premier¬
minister und Botschafter, zum Ärger der Franzosen, das Heft in der Hand behielten.
Es ist kein Zweifel, daß Nordamerika nicht lange, so wie heute, den euro¬
päischen und deutschen Dingen fernbleiben wird. Die ganze Politik Wilsons, die
sich schließlich in der Sackgasse verirrt hatte, ist elend gescheitert und wurde in den
Neuwahlen abgelehnt. Der republikanische Präsident wird den Friedenszustand
mit Deutschland wiederherstellen, Wirtschaftsbeziehungen werden die Folge sein.
An sich schon konnte ja eine Macht, wie die Vereinigten Staaten, die den Krieg
entschieden hatten und finanziell mindestens sich eng mit Teilen Europas ver¬
strickt hatten, gar nicht lange Europa so fern bleiben, wie sie es 1920 getan haben.
Jetzt tritt aber noch die Wirtschaftskrisis zwingend hinzu, die allmählich in Aus¬
wirkung des Krieges die ganze Welt ergreift. Nordamerika ist voll von Rohstoffen,
Lebensmitteln, Waren, aber die Kaufkrcist Europas ist immer weniger imstande, das
abzunehmen. Auch die nichtcuropüischen Mächte verschließen sich notgedrungen den
nordamerikanischen Preisen, zu denen auch da die wirtschaftlichen Folgen des .Krieges
geführt haben. Diese sich immer stärker bemerkbar machende Weltwirtschaftskrise ist
das wichtigste Symptom des zu Ende gehenden Jahres. Die wirtschaftliche
Schwindclblüte der Nachkriegszeit geht für die Sieger zu Ende. Auch ihre Wirt¬
schaft wird, nachdem die der Unterlegenen vorangegangen ist, von der Zersetzung
ergriffen, zu der dieser ungeheure Krieg wirtschaftlich führen mußte. Und das
muß zur Revision der Pariser Verträge führen oder — ins allgemeine Chaos.
Bestimmte Ergebnisse des Weltkrieges werden ja bleiben, wie sie in diesen
Friedensschlüssen gezogen sind. Die Türkei wird die nichtosmanischen Gebiete, die
si.- verlor, nicht zurückerobern und das Habsburgische Österreich-Ungarn wird nicht
wieder entstehen. Es gibt historische Ereignisse, die man sofort als endgültig
empfindet; dazu gehören der Untergang der Türkei und Österreich-Ungarns als
Großmächte. Aber sonst schaffen diese Friedensschlüsse nicht eine Staatenordnung
von Dauer, wie der Wiener Kongreß nach 25 Jahren Revolution und Krieg. In der
Hauptsache werden sie geschichtlich in der heutigen Umwälzung keine andere Rolle
spielen, als in der vor 100 Jahren die Verträge von Campo Forniio oder Luneville.
Selbst wenn wir die Revision des Friedensvertrages, die heute eine Forderung des
ganzen deutschen Volkes ist, nich dem Gebot der nationalen Ehre empfänden, —
wir Würden sie als eine geschichtliche Notwendigkeit empfinden, zu der die Ent¬
wicklung mit innerer Logik führen muß.
Dafür ist die weltwirtschaftliche Krisis, die jetzt die Sicgerlünder ergriffen hat
und dadurch die neutrale Welt Europas und auch von Übersee empfindlich berührt,
von bestimmender Wirkung. Sie stellt die Vereinigten Staaten im Norden
Amerikas anders zu Europa, und damit zu Deutschland, und wir glauben, daß
sie auch auf die Haltung der großen südamerikanischen Republiken, deren Stellung
der Weltkrieg, so fundamental verändert hat, einwirken wird. Aber für Deutsch¬
lands außenpolitische Lage ist am Ende des Jahres 1920 die Frage noch viel ernster
und bedrohlicher als zu Anfang, ob Zeit genug sein wird, daß diese die Pariser
Friedensschlüsse von innen heraus umbildende Wirkung auf Solidarität der Volks¬
wirtschaften und gegenseitige Hilfe — darauf muß es ja hinauslaufen — eintritt.
Es geht zu langsam mit dieser Einsicht, mit dieser Entwicklung! Das Gefühl
hat doch jeder, der Verhandlungen wie die von Hythe und San Remo, Spa,
Bushel und Genf vergleicht, mit den schrecklichen hippokratischm Zeichen im
Antlitz der deutschen Volkswirtschaft! Sie kann zusammenbrechen, ehe die inter¬
nationale Hilfe zustande kommt, ohne die die Mitte, der Osten und der Südosten
Europas nicht wieder zu wirtschaftlicher Gesundung kommen..
Darin aber liegt allein die wirkliche Gefahr, die der Bolschewismus für
Deutschland bedeutet. Er wird auch von außen, von Rußland her nur dann uns
gefährlich werden, wenn die inneren Voraussetzungen aus jenen Gründen in Deutsch¬
land da sind, wenn es einmal wirtschaftlich und finanziell einfach nicht weitergeht.
Und nur wenn sie diese inneren Voraussetzungen in Deutschland für gekommen
halten, werden die russischen Bolschewik ihren Angriff auch auf Deutschland aus¬
dehnen, den sie gegen Polen ziemlich sicher, vielleicht auch gegen Estland und Lett¬
land und Finnland vorhaben. Denn nur dann würde ihre militärische Macht, über
die ein Urteil zu beschaffen, eins der wichtigsten Ergebnisse ihres diesjährigen An¬
griffs gegen Polen war, überhaupt gegen Deutschland ausreichen.
Zu Beginn des Jahres 1920 rechneten weite Kreise Deutschlands mit einer
planmäßigen großen Offensive des russischen Bolschewismus. Dabei wurden seine
militärischen Kräfte, indem man Vorstellungen der Kriegszeit auf diese revo¬
lutionären Verhältnisse übertrug, überschätzt. Statt der Angriffe der Bolschewik!
sah die Welt einen Angriff der Polen, der diese bis zum Dnjestr führte. Sowjet¬
rußland stieß gegen und kam im August in die Nähe von Warschau; die Absicht, ins
Korridorgebiet hereinzustoßen, schien klar und der Verwirklichung nahe. Aber den
Bolschewiki ging der Atem aus, Polen stieß seinerseits nach, am 14. Oktober schloß
es in. Riga mit Sowjetrußland einen Frieden, der den polnischen Imperialismus
befriedigen konnte. Auf dem Papier ist Frieden im Osten, mit Ausnahme des
Streites zwischen Polen und Litauen und der Beziehungen zwischen Moskau und
Rumänien. Somit ist Frieden geschlossen von Sowjetrußland mit Finnland, Estland,
Lettland, Litauen und Polen, Deutschland hat Frieden mit Lettland gemacht,
mit Litauen und Sowjetrußland hat es gar keinen Kriegszustand, und der Frieden
mit Polen ist uns in Versailles aufgezwungen worden. Aber von Ruhe und Frieden
ist der Osten Europas noch weit entfernt.
Wird das neue Jahr eine Umwälzung in Rußland bringen? Oder einen
neuen Angriff des Bolschewismus nach Westen oder nach Asien herein, in Ver-
bindung mit türkischen Nationalisten und anderen Gegnern Englands? Oder
Wirtschaftsabkommen und Handelsbeziehungen der europäischen Mächte mit
Sowjetrußland? Das Jahr schließt ab mit einer militärisch und politisch nach außen
ungemein günstigen Stellung der Sowjetregierung. Nach allen Berichten von
Augenzeugen aber nimmt man an, daß es ihr vor der ungeheuren, alle Begriffe
übersteigenden Erschöpfung und Zerstörung in ihrem Lande mehr darauf ankomme, in
wirtschaftlich-friedliche Beziehungen mit der Außenwelt zu kommen, als neue Kriegs-
opcrationen vorzubereiten. Doch um das zu entscheiden, müßten wir (und auch die
Ententemächte!) genauere Borstellungen von dem Verhältnis zwischen Sowjet¬
regierung und Sowjetarmee haben, als uns zu Gebote stehen. Wer die Berichte
der Augenzeugen über Rußland liest, wird immer vermissen, daß über diesen
wichtigen Punkt so wenig, im Grunde eigentlich nichts gesagt wird. So bleibt nichts
übrig, als heute jene Fragen zu stellen, sich innerlich auf sie einzustellen und sich
nach außen auf sie zu rüsten. An aktiver Politik war und ist zunächst nicht mehr zu
tun, als im Hinblick auf die absolut notwendige und als solche im ganzen deutschen
Volk erkannte künftige Verbindung mit dem Nußland der Zukunft die Brücken schon
zu schlagen oder den Brückenschlag wenigstens vorzubereiten. Im deutsch¬
lettischen Friedensvertrag und im Wirtschaftsabkommen mit der Tschecho-Slowakei
und Ungarn sind 1920 wenigstens die Anfänge dazu auf sehr schwierigem Boden
zu gleichfalls absolut notwendigen Beziehungen gemacht. Mit Deutsch-Österreich
ist auch ein Wirtschaftsabkommen geschlossen, mit Litauen und Jugoslawien sind
Verhandlungen im Gang. 'Die deutsch-polnischen Verhandlungen aber haben zu
keinem Ziel und Abschluß geführt und können es auch nicht. Es fehlt auf beiden
Seiten die Möglichkeit, sich darauf einzustellen: mit dem Imperialismus Polens,
der uns die deutschen Gebiete Posens und Westpreußens entriß, Danzig zu seinem
Ausfallsfort machen, Ostpreußen abschnüren und Oberschlesien an sich reißen will,
sind keine Beziehungen von Tragkraft möglich. Das gleiche gilt ja von Osten
her für das Verhältnis zwischen Russen und Polen.
Darum war im Sommer im deutschen Osten die Stimmung zwiespältig, als
die Russen Polen über den Haufen zu werfen schienen. Der russische Bolschewismus,
der heranrückte, befreite ja von der polnischen Herrschaft, aber er bedrohte zugleich
Staat und Wirtschaft in Deutschland. Vielleicht stellt uns das kommende Jahr wieder
vor diese Aussicht. Nach den Erfahrungen von 1920 wird dann Polen noch weniger
von der Entente zu erwarten, Sowjetrußland noch weniger von einer militärischen
Intervention der Entente zu fürchten haben als bisher. Und auch wir werden
dann auf uns allein angewiesen sein!
Zwischen dem Imperialismus Frankreichs und der Entente und dem
Bolschewismus des Ostens ist Deutschland, auss tiefste erschöpft, eingekeilt und
bedroht. Seine geographische Lage im Herzen Europas ist heute wie seit zwei
Jahrtausenden sein Schicksal. Sie schreibt ihm sein innen- und sein außenpolitisches
Programm vor und sie weist ihm seine große geschichtliche Mission in die Zukunft.
Es ist möglich, daß wir die Lasten, Schwierigkeiten und Gefahren unserer außen¬
politischen Lage nicht meistern können. Es ist auch möglich, daß unserer inneren
Entwicklung, so wenig nach unserer Überzeugung die psychologischen Voraussetzungen
in Teutschland dafür gegeben sind, die Umwälzung zum Bolschewismus nicht erspart
bleibt. Niemandem aber gibt solche Erwägung das Recht, die Hände sinken zu
lassen, so entsetzlich lähmend der außenpolitische Sinn unseres Volks ist, dessen
Politisierung trotz Revolution und Parlamentarismus mindestens nur sehr langsame
Fortschritte macht. Das gilt für die Außenpolitik noch mehr als für die Innenpolitik.
Aber wir werden als Volk und Staat nicht wieder zur Höhe hinaufsteigen, wenn sich
der deutsche Mensch nicht erzieht zum außenpolitischen Sinn, wenn er sich nicht
erfüllt mit dem unlösbaren Zusammenhang inner- und außenpolitischer Ent¬
wicklung, inner- und außenpolitischen Tuns, in dem festen Bunde, dem Preußen
seine schnelle Erhebung nach 1806 dankte, dem Bunde von Macht und Idee!
in 9. Juni des Jahres schrieb ich an dieser Stelle unter dem Ein¬
druck der Reichstagswahlen: „Der Sinn dieser Wahlen geht auf
ein Neues. Jenseits aller Parteien und aller Parteipolitik sucht das
Volk nach den sachkundigen, unabhängigen Führern.... Die Demo¬
kratie als Parteircgierung sollte in diesen Wahlen ihr Urteil
empfangen. Sie muß damit abgetan sein." Man hat auf diese deutliche Be¬
kundung des Volkswillens nicht gehört. Die Regierungsbildung, die den Juni¬
wahlen folgte, war ein Schauspiel parteitaktischer Mcichlerei schlimmster Art. Die
praktische Leistung einer so unrühmlich zustande gekommenen Regierung entspricht
dieser ihrer Entstehungsgeschichte. Unsicherheit und Unentschlossenheit in allen Ma߬
nahmen, weitere Abhängigkeit von Strömungen heterogenster Art ist ihr Kennzeichen.
Nur durch volles Begreifen der Aufgabe, die sich nach dieser Wahl für die Parteien
ergab, Vermittler, nicht Organe des Volkswillens zu sein, und darum durch einen
klaren Verzicht auf Weiterführung der vom Volke abgelehnten Regierungsweise
konnte die in der Tat „parlamentarisch" nicht zu lösende Krisis überwunden werden.
Man hat nicht begriffen und hat dadurch die Krisis in Permanenz erklärt. Oder ist
ein Zustand, wie der gegenwärtige, bei dem die Minderheitsregierung abhängig ist
von der Gnade einer Partei, die brutal, ohne auch nur das „Gesicht" zu wahren, zu
erkennen gab, daß sie sich lediglich von parteitaktischen Erwägungen leiten zu lassen
gedenke, etwas anderes als eine permanente Krisis? Man hat uns gesagt, es sei
schwer, ja unmöglich gewesen, Fachmänner für die Ministersessel zu gewinnen.
Können halbe Entschlüsse etwas anderes als halbe Ergebnisse zeitigen?
Die völlige Abhängigkeit der Reichsregierung von der linken Opposition wird
aber erst dann ganz erkennbar, wenn man bedenkt, daß in fast allen Regierungen der
Länder, vor allem in der Preußenregierung, eben diese Opposition die fast un¬
geschmälerte Herrschaft ausübt. Der Verwaltungsapparat des weitaus größten
Teils des Reichsgebiets ist in sozialdemokratischer Hand. Es bedürfte nicht erst
der agitatorischen Leistung des Abgeordneten und Ministerpräsidenten Braun, um
die ganze Unmöglichkeit dieses Zustandes kraß zu beleuchten.
Inzwischen dringt abermals die Stimme eines unverkennbaren Volksurteils
über unser derzeitiges System an das Ohr der Verantwortlicher. 30 bis 40 ?S der
eingeschriebenen Wähler sind am 14. November im roten Freistaat zu Haus ge¬
blieben. Wer Ohren hat zu hören, der höre! Alle Entrristungsstllrme der Partei-
Presse aller Richtungen wird an der Tatsache eines unbezwinglichen Mißtrauens
der Massen gegen das Glück demokratischer Freiheit nichts zu ändern vermögen. Die
Aussichten für die Wahlbeteiligung in zukünftigen Fällen sind für alle Unent¬
wegten geradezu vernichtend.
Doch ist es nicht nur das System, das mit erstaunlicher Schnelligkeit abwirt¬
schaftet. Auch innerhalb der Parteien bereitet sich die große Götzendämmerung vor.
Von der Demokratie ist nicht viel mehr zu sagen. Kaum daß sie, infolge der völlige»
Ermattung, ja Verzweiflung des Volksgeistes an sich selbst, zu einem ihr selbst
übcnkschendcn vollständigen Sieg auf der ganzen Linie gelangt ist, muß sie schon
erleben, daß sie in einer neuen Zeit bald nur noch als Übergangserscheinung, als
letztes Überbleibsel einer versinkendem Welt empfunden wird. Wen rührte nicht die
komische Entrüstung, mit der die demokratische Presse in der neugebackenen Republik
nach den dazu gehörigen Republikanern sucht und im Tone väterlicher Belehrung
dem deutschen Volke klarzumachen sucht, daß es nicht genüge, eine demokratische
Verfassung zu haben, es gelte, sich nun auch die entsprechende Gesinnung anzu¬
schaffen. Erstaunlicher ist eigentlich das Tempo, in dem der Sozialismus Marxschcr
Rechtgläubigkeit seinem Ende zueilt. Seine imponierende Geschlossenheit, seine
Sicherheit hat sich als Schein herausgestellt. Es war die Geschlossenheit der hoff¬
nungslosen Opposition, die es wagen kann, jenseits aller positiven Verantwortung
der Neigung der Massen zu dogmatischer Gläubigkeit zu huldigen. Wie sehr das
der Grund'war für die Partcierfolge dieses Sozialismus, zeigt heute die geradezu
tragische Lage ihrer einsichtigen, nüchternen und ernsten Köpfe, die sich vergeblich
abmühen, den Nurschreiern Boden abzugewinnen, und die mit ihrer Einsicht in die
politische Unzulänglichkeit des Dogmas scheitern ein der reichen taktischen Er¬
fahrung derer, die das Ressentiment als stärkste politische Triebkraft des deutschen
Spießers, auch des proletarischen Spießers) zu schätzen lernten und darum auch
heute noch, freilich mit immer krampfhafteren Mitteln und Mitteschen, diese so
schätzenswerte Stimmung auszunützen sich bemühen. Kann eigentlich außen- und
innenpolitische Torheit und Armseligkeit eindrucksvoller illustriert werden, als durch
die „Hohenzollerntage" des Vorwinters in Reichstag und Landtag? Freilich zeigt
die Art, wie man auf der Gegenseite zum Teil diese minderwertigen Versuche, die
kommenden Prenßenwahlen vorzubereiten, aufgriff und sie nun im entgegengesetzten
Sinn „auswertete", daß man auch da sich nicht freihält von der Spekulation auf
menschlich gewiß sympathische, politisch jedoch unfruchtbare Stimmung. Mit die
bedamrlichste, ja schmerzlichste unter diesen Erscheinungen eines hoffnungslosen
Rückfalls in öde Taktik ist aber doch der Anblick, wie ein Huc, der in Spaa großen
Sinn für gemeindeutsche Notwendigkeiten bewies, jetzt einem echten Gefühl dafür,
daß es so nicht weitergeht, wie es geht, und etwas Grundlegendes geschehen muß,
nur die Forderung der Vollsozialisierung, also eine heute doch dem sachlich Denkenden
längst nur zu leere Phrase in den Mund zu legen weiß.
Man hat es übel vermerkt, daß in Hannover von der Überflüssigkeit einer
„liberalen'' Volkspartei gesprochen worden ist. Und doch zeigt vielleicht kein Bei¬
spiel so sehr wie das dieser Partei, was ihre Entstehungsgeschichte und ihre Sondcr-
Zdcologie angeht, wie stark unser gesamtes Parteiwesen noch bestimmt ist von
politischen Einstellungen der Vorkriegszeit, wie sehr wir immer noch beherrscht sind
von Gefühlen, Vorstellungen, die mit den Aufgaben unserer Gegenwart wenig genug
zu tun haben Die Erkenntnis bricht sich unaufhaltsam Bahn, daß wir in veralteten
Schützengräben kämpfen, daß wir uns innerpolitisch in Fronten gegenüberstehen, die
den wahren Kampf, das echte Ringen um Zukunftsgestaltung nicht widerspiegeln.
Eine der bedeutungsvollsten Äußerungen dieser Erkenntnis scheint mir in der Essener
Rede Stegerwalds vorzuliegen. Man möchte es seinen ehrlichen und offenen Worten
nur zu gern glauben, daß sich in der christlich-nationalen Arbeiterbewegung der
Wille zu nationaler, verantwortlicher Politik großen Stils regt. Vielleicht wächst
uns da in der Tat eine Möglichkeit, die letzte Möglichkeit vielleicht, zu, den Zu¬
sammenschluß aller derer herbeizuführen, die, vom Willen zum Aufbau getrieben,
ihre Richtung durch das Ziel der innerlich gegründeten, gewachsenen, nicht gemachten
Volksgemeinschaft erhalten. Freilich muß an die Führer der christlich nationalen
Gewerkschaften die ernste Frage gerichtet werden, ob sie entschlossen sind, in ihrer
Bewegung mit aller Ungleichung an die Klasscnkampfideologie zu brechen und einer
organischen Wirtschastsauffassung den Boden zu bereiten. In der Richtung auf die
Volksgemeinschaft liegt unserer festen Überzeugung nach die einzig fruchtbare Quelle
politischer Kraftentfaltung nach außen und innen. Bejaht man diese Richtung, so
muß man auch ohne Scheu alte Bahnen verlassen und es wagen, ganz neu zu denken
über Fragen, die unter dem Druck der bisherigen krankhaften Entwicklung agi¬
tatorisch beantwortet wurden. Das Vorwärtsdrängen in der bezeichneten Richtung
war es auch, das den Parteitag der Deutschnationalcn in Hannover über die nackte
und leere Stimmung der anderen Parteitage dieser letzten Monate hinaushob. Man
spürte es, daß sich da die Bereitschaft regte, über sich selbst hinauszukommen, Bahn¬
brecher eines zukunftstüchtigen, völkischen Gemeinwillens zu werden. In dieser
Bereitschaft fanden sich in Hannover gerade die Vertreter der Arbeiterschaft mit
denen der Jugend zusammen.
Auch damit hat Stcgerwald recht, daß er es als, die Aufgabe nationaler
Politik bezeichnet, nicht nur mit der Revolution „fertig zu werden", sondern in
positiver Würdigung der Ursachen, die zu dieser Katastrophe geführt haben, eine
Überwindung der ganzen Entwicklung der letzten Jahrzehnte anzubahnen, einer
Entwicklung, die in der Abkehr von den irrationalen geistigen Grundkosten volk-
lichen Gemeinschaftslebens zu einer Entseelung, einer Aushöhlung und dement¬
sprechend zu einer Mechanisierung aller Lebensformen geführt hat. Diese Über¬
windung der Folgen der so verhängnisvollen Entwicklung kann darum grundlegend
auch nur in einer Erneuerung der Gesinnung gefunden werden, einer Belebung des
Gemeinschaftsgedankens von innen heraus durch die Kräfte eindringlicher Selbst¬
befreiung, durch die Kräfte der Religion.
Die Geschichte erleidet nur scheinbar Brüche ihrer kontinuierlichen Entwick¬
lung, Die inneren Zusammenhänge zwischen unserem Heute und dem Gestern der
wilhelminischen Ära werden uns immer erkennbarer. Und damit wächst die Einsicht,
daß unser Leiden nicht nur der Krieg mit seinen Folgen ist, daß wir leiden an einer
Krankheit, einer lebensgefährlichen Krankheit seit langer Zeit, Machen wir uns an
einem Bilde klar, was uns fehlt. Ich war vor kurzem in Köln. Und wie immer,
so ergriff mich auch diesmal der Anblick des „Hohen Hauses". Wir wissen keinen
Namen, wir spüren nur, da hat Geschlecht nach Geschlecht gebaut, Bogen über Bogen
aufgeschwungen, Wölbung über Wölbung kühn getürmt und bis zur letzten Blume
und dem obersten Knauf atmet der Stein, beseelt von einem Leben. Denn vom
Meister bis zum letzten Gesellen erfüllte sie alle, die dies Werk schufen, derselbe
Volksgeist und belebte sie in seinem Dienst mit gleichem Schöpferdrang. So steht
der Dom da. ein Denkmal und Sinnbild lebendiger Volksgemeinschaft. Und dann
schaue man sich das Vahnhossviertcl einer beliebigen Stadt an, das in den Jahren
seit der Reichsgründung entstanden ist. Dies Sammelsurium von Nachahmungen
der Stile aller Zeiten und Völker, diese Häufung von Willkür und Laune ist ein
getreues Wbild einer Zeit, in der die Volksgemeinschaft zerfiel, in der alle gemein¬
samen, die Volksgeiwssen bindenden und so verbindenden Werte verloren gingen,
in der das Individuum sich selbst zum obersten Ziel und letzten Wert wurde. Und
nun spüren wir, wie diese Zeit des schrankenlosen Individualismus, der Auf¬
lösung aller Gemeinschaft, der Zersetzung aller Bindungen seelischer Art sich erschöpft
hat. Ihre Mittel der Organisation sind verbraucht. Die mechanisierenden Ord¬
nungen haben keine Kraft mehr und werden von den Strömen des erwachenden
Lebens zerbrochen, eines Lebens, das sich zunächst nur dumpf und ziellos aufbäumt
gegen seine Vergewaltigung durch erstarrte Formen, durch Gebilde des bloßen Ver¬
standes und der ihn bestimmenden bloß materiellen Interessen.
Auch Marxismus und Demokratismus gehören zu diesen Formen. Es kenn¬
zeichnet die Lage wie kaum etwas anderes, daß die der politischen Phrase über¬
drüssigen Massen sich religiösen Stimmungen und Erwartungen zuwenden. Der
politische Theaterdonner der Linksradikalen, ihre übersteigerten Gesten sind nur ein
Zeichen dafür, daß die Massen nicht mehr anheben. Der psychologische Moment
für den Sieg politischer Utopien ist verpaßt und kommt nicht wieder. Nur unter
einem anderen Zeichen könnte der Radikalismus noch siegen, und das ist das Zeichen
des religiösen Chiliasmus.
Es ist eine unleugbare geschichtliche Tatsache, daß die metaphysischen Grund¬
kräfte des religiösen Lebens immer nur in einer Verbindung mit irdischeren Form-
krüften zur geschichtlichen Auswirkung kommen. Drei Möglichkeiten solcher Bindung
scheinen mir heute vorzuliegen. Die erste ist der übernationale Kirchcngedcmkc des
.Katholizismus. Die zweite ist eine innige Verbindung des Gehalts christlicher
Religiosität mit dem Gedanken der Volksgemeinschaft als der irdischen, geschichtlichen
Erscheinungsform des Ewigen, also eine Lebensform der Religion, wie sie als
Gedanke am klarsten vom deutschen Idealismus ausgesprochen worden ist. Die
dritte Möglichkeit ist die bereits angedeutete Verschmelzung mit chaotischen Urtricben
und grenzenlosen Sehnsüchten chiliastischer Art. Dahin gehört zuletzt alles, was
sich heute als „Täufertum", ekstatisch gearteter religiöser Sozialismus u. a., regt.
Ob es überhaupt zu einem Entweder-Oder dieser Möglichkeiten kommen wird, ist
mehr als zweifelhaft. Auch darüber, welche dieser drei Möglichkeiten die stärkste
Wirkung ausüben wird, ist schwer vorauszusagen. So viel dürfte sicher sein, daß
heute auch im deutschen Katholizismus gewisse Möglichkeiten und auch Neigungen,
der zweiten,Form sich zu nähern, bestehen. Auch in dieser Hinsicht scheint mir
gerade die Einstellung der christlichen Arbeiterbewegung bedeutungsvoll. Möchte
auf der anderen Seite die evangelische Kirche oder besser die in ihr vorhandenen
Kräfte religiösen Lebens endlich die unfruchtbare Haltung einer Defensive im Stil
des evangelischen Bundes mit der Sammlung zu positiver Wirkung vertauschten und
entschlossen den zweiten der gekennzeichneten Wege einschlagen.
Wir sprachen von der Kraftlosigkeit der mechanisierenden Ordnung aller Dinge,
die sich in und nach der Revolution herausgestellt habe. Das deutlichste Zeichen
für diese mehr und mehr erlahmende Kraft scheint mir gerade das Überwuchern der
Organisation zu sein. Bismarck hat es als ein Zeichen staatsmännischer Fähigkeiten
bezeichnet, mit möglichst wenig Gesetzen bei der Regierung eines Landes aus¬
zukommen. Wir ersticken heute in der Flut der Gesetze. Gewiß hat der Staat diese
Fülle der Aufgaben nicht gesucht, sie sind ihm durch die Entwicklung aufgedrängt
worden. Aber gerade darum scheint es mir völlig im Einklang mit dein Willen zur
entschlossenen Abkehr von der bisherigen Entwicklung zu stehen und die notwendige
Konsequenz einer Besinnung auf die Grundkräfte staatlichen Lebens zu sein, wenn
der einzige Staatsmann, der zur Zeit an leitenden Stellen in Deutschland steht,
wenn der bayerische Ministerpräsident von Kasr in seiner sehr bedeutungsvollen
Rede vom 10. November von der Notwendigkeit spricht, die Grenzen staatlicher
Wirksamkeit neu abzustecken und auf die Beseitigung der hypertrophischen Aus^
Weitung des staatlichen Aufgabenbereichs hinzuwirken. Als vornehmstes Mittel
hierfür nennt er den Ausbau der Selbstverwaltung auf allen Gebieten des öffent¬
lichen Lebens. Da liegt in der Tat der Weg der Leibwerdung deutscher Volks¬
gemeinschaft in dem Wachstum von unten auf, bei dem der Gemeinsinn geweckt und
durch solchen Gemeinsinn in korporativer Gestaltung des wirtschaftlichen, kulturellen
und politischen Lebens erst wieder die tragenden Grundsteine für die Kuppelbögen
des gesamtstaatlichen Aufbaus gelegt werden. Freilich führt auch dieser Weg einer
Wiederaufrichtung staatlicher Macht und darin einer gesicherten Ordnung des Lebens
— ini Gegensatz zu dem papiernen, nicht in: Volksleben selbst verwurzelten Schein¬
dasein des augenblicklichen Staatswesens — nur dann zum Ziel, wenn er von
erneuerter Gesinnung beschritten wird. Solange z. B. die Arbeitsgemeinschaften
ihr Ziel nur im Ausgleich der Interessengegensätze sehen, solange nicht in ihren
Mitgliedern und den hinter ihnen stehenden Organisationen der Wille zur verant¬
wortlichen Gemeinschaftsarbeit für die Aufrichtung der deutschen Volkswirtschaft er¬
wacht und so die Arbeitsgemeinschaft nicht in unfruchtbaren Kompromissen stecken
bleiben läßt, sondern weitertreibt zu schöpferischer Gestaltung, so lange haben sie
ihre Zukunstscmfgabe verfehlt. Auch auf dem Gebiet der Wirtschaft hilft nur der
ehrliche Entschluß, die Methoden der alten Zeit aufzugeben und willig und vor¬
urteilslos an die Lösung der Aufgabe heranzugehen, die sich mit dem einen Satz
umschreiben läßt: Wie verhelfe ich dem Menschen, seiner Sehnsucht nach Gemein¬
schaft, in der allein seine Würde ruht, zu seinem Recht gegenüber der erstickenden
Macht der Dinge, der Mittel, des toten Mechanismus, wie, so lautet die Frage ins¬
besondere für den Arbeiter, gewinnt der einzelne wieder ein verantwortliches, inneres
Verhältnis zu seiner Arbeit. Die Frage ist keine andere, als die entsprechende auf
kulturellen Gebiet und dem Gebiet des im engeren Sinne politischen Lebens.
Solange freilich diese Gestaltung der Dinge, die wir für die Zukunft erhoffen,
noch nicht wirksam in die Erscheinung tritt, ist irgendeine Nothilfe erforderlich, um
unter den unvermeidlichen Stürmen und Erschütterungen des politischen und wirt¬
schaftlichen Lebens, die uns die Übergangszeit noch in reichem Maße bringen wird,
uns die einfachsten Existenzgrundlagen zu retten und das von Ostens drohende
Chaos abzuwehren. Es ist darum nicht mehr als der einfachste Selbsterhaltungstrieb,
wenn die Bevölkerung in dieser Lage zum Selbstschutz greift, und der bayerische
Ministerpräsident hat ganz recht, wenn er den Entwaffnungsvorlagen der Entente
gegenüber am 10. November darauf hinwies, daß Sclbstaufgabe keinem Staat durch
keinen irgendwie geordneten Friedensschluß zugemutet werden könne. Um so ver¬
werflicher erscheint die parteiblinde Verfolgungssucht des preußischen Innen¬
ministers, der sich bemüht, der ihm anvertrauten Bevölkerung die Wiederherstellung
gesicherter Zustände zu verbieten. Seine gesetzwidrigen Bemühungen werden ihm
nichts helfen. Immerhin erscheint gerade sein Vorgehen geeignet, dem Preußenvolk
die Ausgabe der kommenden Wahlen eindringlich zu Gemüte zu führen. Sie müssen
die Rettung bringen für all das, was von preußischer Verwaltung noch vorhanden
ist und damit für die stärkste Stütze auch einer jeden Reichsregierung der
nächsten Jahre.
Damit sind wir bei der Frage Preußen und Reich und haben zugleich an¬
gedeutet, warum uns in der gegenwärtigen politischen Situation jeder Versuch einer
Auflösung der staatlichen Einheit Preußens eine unverzeihliche Torheit zu sein
scheint. Denn diese Auflösung Preußens würde mit der tatsächlichen praktischen
Handlungsunfähigkeit der Reichsregierung gleichbedeutend sein. Das eine Beispiel
der Erzbergerischen Umgestaltung der Finanzverwaltungen der Länder in die große
Reichsfinanzverwaltung sollte uns hinlänglich darüber belehrt haben, was es in
diesen mit ganz unmittelbar drängenden Aufgaben überlasteten und mühevollen
Zeiten mit der Umstellung einer Verwaltungsorganisation auf sich hat. Was wir
jetzt brauchen, ist die Erhaltung und sorgfältige Ausnutzung alles Hessen, was an
realen Wirkungsmöglichkeiten des Staates noch vorhanden ist und noch funktioniert.
Allzuviel ist es wahrhaftig nicht mehr. Was die Zukunft bringt, soll man ihr über¬
lassen. Mir scheint freilich die Geschichte eine sehr deutliche Sprache zu reden und
das Problem Preußen-Deutschland hinlänglich geklärt zu haben. Aber wie man
darüber auch urteilen möge, man schütze uns vor der schnellen Klugheit der Leute,
die eine Weimarer Verfassung zusammengeschrieben haben und denen es selbstver¬
ständlich ein leichtes ist, auf der Karte neue Grenzen einzutragen. Nur zu leicht
könnte man dabei dem deutschen Kantönligeist die letzten politischen Zukunsts-
möglichkeiten zum Opfer bringen. Frankfurter Bundestagungen schrecken. Und
ein Bismarck konnte nur über sie hinausführen, weil er einen Großstaat Preußen
hinter sich hatte. Man regiere Preußen gut und der Ruf: los von Berlin wird ver¬
stummen. Außerdem hat das alte Wort immer noch seine Berechtigung: timso
llanaos et ciona ksrentss! Der Gegner weiß, warum er so brennend an dem
Verschwinden des preußisch geeinten Norddeutschland interessiert ist. Gewiß bieten
heute die wirtschaftlichen Zusammenhänge eine starke Gewähr der Rcichseinheit,
aber die schweifende deutsche Seele wird auch in Zukunft den stählernen Einschlag
kolonialdeutscher, staatenbildender Kraft nicht entbehren können. Im Preußengeist
liegt doch irgendwie die Gewähr der deutschen Zukunft Man gebe ihm die Mög¬
lichkeit, zu sich selbst zu kommen und Preußen in einer neuen Zeit in neuer Weise
und doch in der schöpferischen Auswertung des so verpflichtenden Erbes wieder
zu dem zu machen, was es allezeit gewesen ist, zum Hüter der deutschen Einheit.
M-AMZMM Jahreswende 1V20/2I. ist von besonderer Bedeutung für die
M^W^^A schichte des deutschen Heerwesens und damit auch für die Geschichte
unseres Vaterlandes. Mit ihr ist die Wehrmacht des Drmschcn
Reiches auf das durch den Friedensvertrag von Versailles vor-
geschriebene Heer von 100 000 Mann zurückgeführt.
Die große Tragödie der Selbstentmannung, die sich Deutschland durch die
Annahme des Waffenstillstandsvertrages auferlegt hat, ist beendet; an die Stelle des
Übcrgangsheeres, der sogenannten Neichswe h r, tritt das neue Reichsheer
mit seinen 100 000 auf lange Frist verpflichteten Berufssoldaten. Die Geschichte
hat erlebt, daß große Heere aus dem Boden gestampft und daß große Heere im
Kampfe vernichtet und aufgerieben wurden, aber sie kennt kein Beispiel dafür, daß
sich ein 70-Millionen-Volk selbst entwaffnet und wehrlos seinen Feinden aus
Gnade und Ungnade ausgeliefert hat.
Während das Jahr 1919 unter dem Zeichen der Demobilmachung, der Zu-
rückführung des mobilen Millioncnheeres auf ein Friedensheer von rund
400 000 Mann stand, brachte das Jahr 1920 die Überführung des auf der Grund¬
lage der allgemeinen Wehrpflicht aufgebauten Volksheeres in unsere künftige, nach
den Bestimmungen des Vertrages von Versailles aufgebaute Armee von Berufs¬
soldaten. Spätere Geschlechter werden staunen, wie glatt und mit verhältnis¬
mäßig wie gelingen Erschütterungen sich dieser Übergang vollzogen hat. Es wird
ein dauerndes Ruhmesblatt in der Geschichte der kaiserlichen Armee bleiben, daß
sie ihre Offiziere und Kapitulanten zu einem so hohen Grad von Pflichtgefühl
und Vaterlandsliebe erzogen hat, daß man viele Tausende dieser Männer verab¬
schieden konnte, ohne daß es zu ernsten Schwierigkeiten kam. Spätere Zeiten
werden auch die maßvolle Energie, den sicheren Takt und die zielbewußte Klugheit
zu würdigen wissen, mit der die Minister Roste und Dr. Geßler und die Generale
Reinhardt und von Seeckt die Überführung des mobilen Heeres in das Übergangs¬
heer und des Übcrgangshecres in das neue Reichsheer geleitet und durch¬
geführt haben.
Man hat es diesen Männern nicht leicht gemacht, ihre Aufgabe zu lösen. Er¬
innern wir uns an die schweren Rückschläge, die der Kapp-Pulses zur Folge hatte,
an das mit elementarer Gewalt erfolgende Wiederaufleben des mühsam bekämpften
Argwohns und Mißtrauens großer Teile der Nation gegen die Offiziere und die
Armee, an die tiefgehenden, gefährlichen Gegensätze, die durch den Staatsstreich
in die bewaffnete Macht selbst hineingetragen wurden, an den Ausbruch der Un¬
ruhen im Gefolge des Kapp-Putsches, durch die die organisatorische Entwicklung des
Heeres um Wochen und Monate zurückgeworfen wurde. Erinnern wir uns an
die außerordentlichen Schwierigkeiten der Auflösung der Freikorps-Formationen,
die sich in Zeiten der höchsten Not große Verdienste um das Vaterland erworben
hatten, deren große Mehrzahl, vom rein militärischen Standpunkt aus betrachtet,
als erstklassige Truppe anzusprechen war, die sich aber nicht in den Nahmen der uns
von unseren Feinden diktierten Heeresorganisation einfügten. Ihrer politischen
Gesinnung nach bildeten diese Freikorps in den Augen der Mehrheit des Volkes
eine Gefahr für den Bestand der Republik; dank ihrer Geschlossenheit und ihrer
Hüten Bewaffnung waren sie aber ein Machtfaktor, über den man nicht mit papierene»
Verfügungen zur Tagesordnung übergehen konnte. Trotzdem ist es gelungen, sie
restlos aufzulösen, ohne daß es dabei zu ernsteren Zwischenfällen gekommen wäre.
Die dauernde Verschiebung der Ratifizierung des Friedensvertrages durck
unsere Feinde und damit auch der im Vertrage festgesetzten Fristen, sowie das
Scheitern der auf die Verhandlungen in Spa gesetzten Hoffnungen hatte zahlreiche
und ernste Schwierigkeiten in der technischen Durchführung der Hecresverminderung
zur Folge. Sie wurden verstärkt durch die daneben laufende Durchführung der
vorn Friedensvertrag vorgesehenen und von unseren Feinden in der rigorosesten
Weife kontrollierten Ablieferung und Zerstörung unseres Kriegsmaterials.
Mit der Reichsregierung waren der Reichswehrministcr und die führenden
militärischen Persönlichkeiten vom festen Willen durchdrungen, den einmal rati¬
fizierten Friedensvertrag in den Grenzen des Möglichen mit unbedingter Loyalität
auszuführen. Sie gingen dabei von der Voraussetzung aus, daß es für die Zu¬
kunft und im Interesse des Vaterlandes wichtiger sei, die Entente von unserem
ehrlichen Willen zu überzeugen, als Teile unseres Kriegsmaterials vorübergehend
dem feindlichen Zugriff zu entziehen. Die Erscheinung, daß dieser Auffassung
nicht überall das nötige Verständnis entgegengebracht, sondern teilweise sogar eine
in falsch verstandenen Patriotismus begründete passive Resistenz entgegengesetzt
wurde, ist verständlich und entschuldbar, bedeutete aber in ihren teilweise ver¬
hängnisvollen Folgen doch eine überaus empfindliche Erschwerung der zu lösenden
Aufgabe.
Daneben vollzog sich nur langsam und begreiflicherweise nicht ohne mancherlei
Reibungen die Rückentwicklung von der Kriegswirtschaft zur Friedenswirtschaft.
Für Führer und Truppe war es nicht leicht, nach mehrjähriger Gewöhnung an die
Verhältnisse des Krieges den Weg zur altpreußischen Sparsamkeit zurückzufinden. ,
Nicht weniger schwer war für Offiziere und Unteroffiziere der Verzicht auf die
verhältnismäßig große Selbständigkeit während des Krieges und in der Nach¬
kriegszeit, die Umstellung auf den Friedensdienst, die Rückkehr zur Einzelaus¬
bildung auf dem Exerzierplatz und Schießstand. Für viele unserer jüngeren, im
Kriege auf dem Gefechtsfclde bewährten Führer-galt es, von vorn anzufangen
und zunächst sich selbst zum Exerziermeistcr und Lehrer auszubilden.
Vor allem aber die Einstellung auf die neuen politischen Verhältnisse! Sie
wurde uns Soldaten weiß Gott nicht erleichtert. Daß wir im Kriege unsere Schuldig¬
keit getan, daß wir Gesundheit und Leben eingesetzt und mitgeholfen hatten, deutsches
Land vor den Schrecken einer feindlichen Invasion zu bewahren, wurde völlig ver¬
gessen. Was wir verloren hatten, was wir aufgeben mußten, daran dachte man
nicht. Die Fehler und Verfehlungen einzelner wurden verallgemeinert und dem
ganzen Stande zur Last gelegt; mit einer Flut von Schmutz und Beschimpfungen
wurden" wir überschüttet. Wie hat man es uns erschwert, uns zu der Überzeugung
durchzuringen, daß vor der Not des Vaterlandes die Frage nach der Staatsform
in den Hintergrund treten muß! Welch kränkendes Mißtrauen bringt man unserer
Versicherung entgegen, daß wir bereit und imstande sind, im Interesse des Vater¬
landes der verfassungsmäßigen Regierung treu zu dienen!
Zwei Waffen, die schwere Artillerie und die Fliegerei, durften nach den Ve-
siimmungen des Friedensvertmgcs nicht und in das neue Fricdcnsheer übernommen
werden. Im Herzen des deutschen Volkes werden sie weiterleben; ihre Ruhmes¬
taten im Kriege machen sie unvergeßlich.
Als wichtigsten Posten mußten wir aber auf dem Verlustkonto des Jahres
1920 die endgültige gesetzliche Aufhebung der allgemeinen Wehrpflicht hundelt. Noch
ist weiten Kreisen der Nation das Verständnis für die Tragweite dieser Maßnahme
verschlossen. Noch immer gibt es Deutsche, die die Aufhebung der allgemeinen
Wehrpflicht als einen Fortschritt begrüßen, weil sie in ihr lediglich eine Einrichtung
sehen, die vom Einzelnen schwere Opfer fordert und der Allgemeinheit Arbeitskräfte
entzieht. Die Erkenntnis, daß die Aufhebung der Wehrpflicht für uns Deutsche
nicht nur einen schweren Verlust an Wehrkraft, sondern vor allem einen noch
viel empfindlicheren Verlust an Volkskraft bedeutet, wird leider nicht lange
auf sich warten lassen. Nicht nur auf militärischem Gebiete, sondern im ganzen
öffentlichen Leben und im Wirtschaftsleben wird sich nur allzu bald der durch
den Wegfall der allgemeinen Wehrpflicht bedingte Rückgang an körperlicher
Leistungsfähigkeit und an Disziplinierung des Körpers und des Willens fühlbar
machen, vielleicht beim deutschen Volke mehr, als dies bei einer anderen Nation
^er Fall wäre. Die Bedeutung der allgemeinen Wehrpflicht als Schule für die
deutsche Nation wird erst dann voll erkannt und gewürdigt werden, wenn sich die
Folgen ihrer Abschaffung fühlbar machen.
Die bange Frage nach dem, was nun an Stelle des im Frieden und Kriege
bewährten Volksheeres treten soll, wird jeden guten, für die Sicherheit der Grenzen
und die Ruhe im Innern des Reiches besorgten Deutschen bewegen. Wir sind heute
noch nicht imstande, die Frage endgültig zu beantworten.
Der ungeheuere Umfang und die Mannigfaltigkeit der Geschäfte, die seit dein
Zusammenbruch auf Regierung und gesetzgebenden Körperschaften lasten, haben
dazu geführt, daß trotz des dauernden Drängens des Neichswehrministers am
1. Januar 1921 das neue Heer ohne genügende gesetzliche Grundlagen und ohne
endgültigen Haushalt ins Leben treten muß. Ganz abgesehen von den sachlichen
Erschwerungen und Unzuträglichkeiten, die dieser Zustand zur Folge hat, bedeutet
er eine neue schwere Belastung des Opfermutes und des Patriotismus der Soldaten
aller Dienstgrade. Man bedenke, was es heißt, eine unkündbare Verpflichtung auf
i2 oder 25 Jahre eingehen zu müssen, ohne die Rechte und Pflichten zu kennen,
die aus diesem Dienstverhältnisse entspringen. Aber es gibt keinen anderen Aus¬
weg: auf der einen Seite das Gebot des Feindbundes, daß es vom 1. Januar 192!
ab nur noch langfristig verpflichtete Soldaten in Deutschland geben darf, auf der
anderen Seite die technische Unmöglichkeit einer rechtzeitigen Erledigung der Ge-
setzesvorlagcn. Der deutsche Soldat wird auch diese neue Belastung tragen, aber er
hat Anspruch darauf, daß die Nation sich darüber klar ist, welche Anforderungen
sie an die Opferfreudigkeit ihrer Soldaten stellt.
Wir kennen wohl den äußeren Nahmen unseres künftigen Neichsheeres, wie
er uns durch die Verfassung und den Friedensvertrag von Versailles vorgeschrieben
ist. aber zu einem Urteil über die wichtigste Frage, die Frage nach der Leistungs¬
fähigkeit und nach dem inneren Wert des künftigen Heeres, fehlen uns zur Zeit
noch alle Grundlagen.
In der Presse und im Parlament hört man mehrfach die durchaus irrige An¬
schauung vertreten, daß das 100 000-Mann-Heer infolge seiner Schwäche und infolge
des Mangels an personellen und materiellen Reserven überhaupt nicht befähigt sei,
militärische Aufgaben irgendwelcher Art zu lösen und infolgedessen lediglich als
Polizeireserve bewertet werden müsse. Diese Auffassung ist falsch und muß auf das
entschiedenste bekämpft werden.
Wir Berufssoldaten, die wir am eigenen Leibe die feindliche Überlegenheit
an Munition und Material und den Einfluß der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit
der Heimat auf die moderne Kriegsführung kennengelernt haben, sind wohl die
letzten, die mit dem Gedanken an einen Revanchekrieg oder Angriffskrieg spielen
oder auch nur an die Möglichkeit glauben, dem Angriff einer europäischen Gro߬
macht mit ihren gut geführten, vortrefflich ausgebildeten und mit dem modernsten
Kriegsmaterial überreich ausgestatteten Armeen bewaffneten Widerstand entgegen¬
zusehen.
Wir haben aber auch Nachbarn, bei denen diese Voraussetzungen nicht zu¬
treffen und in deren friedliche und freundschaftliche Gesinnungen gegen uns wir
leider genötigt sind, ernste Zweifel zu setzen. Vielleicht sind wir nicht imstande,
gegen diese Nachbarn einen lange dauernden Verteidigungskrieg zu führen, aber
unter allen Umständen werden 100000 friedensmäßig aus¬
gebildete und gut ausgerüstete deutsche Soldaten unter
der Führung geschulter Offiziere und unter der Leitung
straff organisierter Stäbe imstande sein, unsere Grenz¬
gebiete solange gegen einen feindlichen Einfall von dieser
Seite zu verteidigen, bis eine Lösung auf diplomatischem
Wege herbeigeführt werden kann. Wir schulden unseren im Kriege
zum Teil schon so schwer heimgesuchten Grenzgebieten, daß wir alles tun, was in
unseren Kräften steht, um sie vor den Greueln einer neuen feindlichen Invasion
zu schützen. Außerdem muß unserem Heere die Verteidigung des Vaterlandes
und seiner Grenzen Ziel und vornehmste Pflicht sein, wenn anders wir ihm die
besten Elemente des Volles zuführen, seine Leistungen auf das höchste steigern
und unserem Vaterlande die unerfreulichen Erscheinungen ersparen wollen, die
sonst nur allzu leicht mit einem Heere aus lange dienenden Berufssoldaten ver¬
knüpft sind.
Allerdings ist die Befähigung des Heeres zur Lösung dieser Aufgabe an
gewisse Voraussetzungen geknüpft: es muß sich aus den besten Elementen des Landes
rekrutieren, es muß in echt soldatischem Geiste erzogen sein, es muß so gut aus¬
gerüstet sein, als es im Rahmen der Bestimmungen des Friedensvertrages möglich
ist, es muß die bestmögliche Ausbildung erhalten und beweglich sein, es muß straff
organisiert und gut und einheitlich geführt werden. Ob und in welchem Grade diese
Boraussetzungen bei unserem künftigen Heere zutreffen werden, hängt in erster
Linie ab von der Form, in der das Neichswehrgesctz und das Wehrmachtversorgungs¬
gesetz die gesetzgebenden Körperschaften verlassen und von den Mitteln, die Reichsrat
und Reichstag für das Heer bewilligen werdey.
Je kleiner das Heer ist, um so straffer muß es organisiert, um so einheitlicher
«aß es ausgebildet und geführt werden, um zur möglichen Höchstleistung befähigt
zu sein. Den Luxus, sein Heer im Bedarfsfalle aus verschiedenen mehr oder minder
selbständigen Kontingenten zusammenzustellen, kann sich das neue Deutsche Reich
nicht mehr leisten; dazu ist das Heer, das uns unsere Feinde gelassen haben, zu klein.
Formell haben die Länder ja in der Verfassung auf ihre Militärhoheit verzichtet,
tatsächlich strebt man aber — wenigstens in einzelnen Ländern —, gestützt auf den
Wortlaut und nicht auf den Sinn der Vereinbarungen von Weimar, die dievoIl -
kommene Einheitlichkeit des deutschen Heeres gewährleisten wollen —
zur Zeit noch Rechte an, die den Verzicht auf die Militärhoheit mehr oder minder
illusorisch machen, die die Einheitlichkeit und damit auch die Leistungsfähigkeit des
Heeres stark beeinträchtigen und seine Eignung zur Lösung der ihm übertragenen
Aufgabe in hohem Maße in Frage stellen. Das kleine 100 000-Mann-Heer ist zu
den Leistungen, die das deutsche Volk von ihm mit Recht erwartet und erwarten soll,
nur dann befähigt, wenn seine Leitung entsprechend der Verfassung einzig und
allein in den Händen des Reichspräsidenten liegt, wenn außer diesem niemand das
Recht hat, auch nur über einen einzigen Soldaten zu verfügen.
Neben der Vereinheitlichung der Armee und ihrer tatsächlichen Unterstellung
unter einheitlichen Oberbefehl ist für den Grad ihrer künftigen Leistungsfähigkeit
von ausschlaggebender Bedeutung, in welcher Weise das Problem der EntPoliti¬
sierung der Armee und die Beschränkung der Koalitionsfreiheit ihrer Angehörigen
gelöst wird. Es erübrigt sich, auf die ungeheueren Gefahren hinzuweisen, die eine
politisierende Armee für jede Regierung, welcher politischen Richtung sie auch
angehören möge, bedeutet. Eine politisierende Armee ist nicht eine Stütze, sondern
eine Gefahr für die Staatsautorität. Sie wird nicht mehr eine unbedingt verlässige
Waffe in der Hand der verfassungsmäßigen Regierung sein, sondern — in sich
gespalten und uneins, zerwühlt und in ihrem inneren Halt erschüttert durch den
Kampf der politischen Parteien — wird sie im entscheidenden Moment versagen.
Den berechtigten Interessen des Staates und eines 60-Millionen-Volkes gegenüber
spielt die „politische Entrechtung" von 100 000 deutschen Männern keine Rolle?
sie werden dadurch ebensowenig zu Staatsbürgern 2. Klasse degradiert, wie seiner
Zeit die Offiziere und Kapitulanten des alten Heeres, sondern sie ehren sich selbst,
indem sie den: Staate ein selbstverständliches, in der Eigenart des von ihnen frei¬
willig erwählten Berufes begründetes Opfer bringen.
Würde man dem Heere unbeschränkte Koalitionsfreiheit zugestehen, so würde
es sich in kürzester Zeit in eine bewaffnete Gewerkschaft verwandeln, die Streikrecht
u. tgi. für sich beanspruchen und in der neben den militärischen Vorgesetzten die
Gewerkschaftsfunktionäre regieren würden. Es wäre nur eine Frage der Zeit,
wann eine solche Gewerkschaft sich der Meistbietenden politischen Partei in die Arme
werfen würde.
Wozu es führt, wenn die Armee nicht dem politischen und wirtschaftlichen
Kampfe der Parteien ferngehalten wird, zeigen uns die gegenwärtigen Zustünde in
Österreich und Tschechien. Die sozialdemokratische Regierung und die sozialdemo¬
kratische Mehrheit im Parlament des letzteren Landes sah sich infolge der unhaltbaren
Zustände in der Armee gezwungen, ihre Entpolitisicrung anzuordnen.
Die Bedingungen des Friedensvertrages über die Verpflichtung des Soldaten
zu einer ununterbrochenen 12jährigen und des Offiziers zu einer ununterbrochenen
25jührigen Dienstzeit werden selbstverständlich nicht ohne Einfluß sein auf die
Quantität und Qualität des Angebotes an Rekruten und an Anwärtern für den
Offizierberuf. Für das Ansehen und für die Leistungsfähigkeit des neuen Heeres
ist es von allergrößter Bedeutung, daß ihm die besten Elemente der Nation zugeführt
werden. Unter allen Umständen muß vermieden werden, daß das Heer die Zu¬
fluchtsstätte für solche Leute wird, die in anderen Berufen gescheitert sind, die
nichts gelernt haben und die nicht arbeiten wollen.
Die Ansprüche, die wir künftig an die körperlichen, geistigen und sittlichen
Qualitäten der Offiziere stellen müssen, sind weit höher, als dies im alten Heere
der Fall war. Je kleiner das Heer ist, um so allgemeiner und umfassender muß
die berufliche Ausbildung der Führer und Soldaten sein, um so höher sind die An¬
forderungen, die an die Lehrtätigkeit der Offiziere gestellt werden müssen. Der
Offizier hat nicht mehr wie früher junge Leute einseitig für ihren militärischen
Beruf auszubilden, sondern er arbeitet mit gereiften, dienstcrfahrenen Männern, die
ihm kritisch gegenüberstehen und ihn innerlich nur dann als Führer anerkennen
werden, wenn sie von seinem überlegenen Können und Wissen überzeugt sind und
die überlegene Persönlichkeit in ihm fühlen. Mehr noch als fniher wird der Offizier
bestrebt sein müssen, auf jedem Gebiete durch sein Beispiel und durch vorbildliche
Leistung seinen Einfluß und fein Ansehen zu stärken. Er muß lernen, den Dienst
so vielseitig, so anregend und abwechslungsreich zu gestalten, daß das Interesse
am Dienst bei seinen Untergebenen während der langen zwölfjährigen Dienstzeit
nicht erlischt. Im Verein mit Lehrkräften aus dem Zivilstande obliegt ihm endlich
die völlig neue und ganz besonders wichtige Aufgabe, seine Untergebenen für den
Übergang in den Zivilbcruf und das Erwerbsleben vorzubereiten.
Nur dann werden wir dem Heere Rekruten und Anwärter für den Offizier¬
beruf, die sittlich, geistig und körperlich ihrer Aufgabe gewachsen sind, in genügender
Zahl zuführen können, wenn die Nation im Soldaten wieder den Mann ehrt, der
bereit ist, Leben und Gesundheit für das Vaterland zu opfern, wenn durch erträg¬
liche Besoldungs- und Bcförderungsverhälwisse und die Aussicht, bei guten
Leistungen in nicht zu vorgeschrittenen: Alter gehobene Stellungen zu erreichen,
dem gesunden Ehrgeiz Entwicklungsmöglichkeiten geschaffen werden, wenn der
Offizieranwärter die Hoffnung haben darf, in Stellungen vorzurücken, die nach
Wirkungskreis, Rang und Einkommen etwa den Stellungen gleichkommen, die seine
gleichaltrigen Schulkameraden in annähernd gleich langer Dienstzeit im Zivilberuf
erreichen können.
Für die Qualität des Zuganges an Mannschaften wird es von ausschlag¬
gebender Bedeutung sein, wie der Soldat während seiner Dienstzeit verpflegt, ge¬
kleidet und untergebracht wird, vor allem aber, in welcher Weise ihm nach Ablauf
seiner 12jährigen Dienstzeit der Übergang in das bürgerliche Leben erleichtert wird.
In weit höherem Maße als bisher müssen Reich, Länder und Kommunen Veamten-
stellen für gediente Soldaten zur Verfügung stellen. Vor allem aber muß die Aus¬
bildung des Mannes je nach Veranlagung, Vorkenntnissen und Neigung für den
Beamtcnberuf, für Handel und Gewerbe oder für die Landwirtschaft planmäßig und
systematisch durch erstklassige Lehrkräfte gefördert werden.
Diese Maßnahmen erfordern, ebenso wie die militärische Ausbildung, sehr große
Mittel, die infolge der Entwertung unseres Geldes die Forderungen des Haushaltes
für das Heer zu erschreckend hohen Ziffern anwachsen ließen.
Die trostlose Finanzlage des Reiches macht es begreiflich, daß den gesetz¬
gebenden Körperschaften die Bewilligung der für das 10V 000-Mann-Heer geforderten
Mittel nicht leicht fällt. Möge ihnen ihr verantwortungsvoller Entschluß erleichtert
werden durch die Erkenntnis, daß ohne die Möglichkeit, sich auf eine verlässige, gute
und zufriedene Armee zu stützen, keine Regierung — welcher politischen Partei oder
Parteigruppierung sie auch angehören möge — in der Lage sein wird, unserem
armen gequälten Vaterland jenes Maß von Ruhe, Ordnung und Sicherheit zu
schaffen, dessen es zum Überwinden der schwersten Krise, die jemals ein großes Volk
durchzukämpfen hatte, unter allen Umständen bedarf.
Weihnachten 1913. Es ist nicht zu leugnen, daß sich das seit 1850 ohne und
gegen unsere Partei regierte Preußisch-Deutsche Reich in einem unglaublichen Auf¬
stieg an Wohlstand, Bevölkerungszahl und Weltmöglichkeiten befindet. Aber der
Zall Zabern, anläßlich dessen ich von vielen englischen und amerikanischen Freunden
warme Zustimmungsschreiben zu unserer Entrüstungsrede im Reichstag erhalten
habe, zeigt doch, wie sehr sich dieser Junkerstaat mit seiner Verachtung demokratischer
Grundsätze die einstimmige Verurteilung aller Demokraten in der ganzen Welt zu¬
gezogen hat. Ich konnte meinem Freund C. W. P. Davis auf seine Behauptung,
die deutsche Militärkaste bereite einen Krieg vor, glücklicherweise erwidern, die deutsche
Demokratie wüßte den deutschen Militarismus genügend zu fesseln. Haben wir doch
im vorigen Jahr durch den Finanzgrundsatz „keine Ausgabe ohne Deckung" die
übermäßige Verstärkung des deutschen Heeres zu Fall gebracht. Allerdings haben
die Franzosen stärker gerüstet als wir, und mein konservativer Landsmann und
Reichstagskollege A- behauptet, gerade unsere Abstriche an den Armeeforderungen
erhöhten nur die Kriegsgefahr. Ich bin aber überzeugt, daß die durch die Ein¬
schränkung unserer Rüstungen tatkräftig bekundete Friedensliebe des deutschen Volkes
mit Hilfe unserer demokratischen Freunde.in Frankreich und England die allgemeine
Entspannung fördern wird, und ich sehe in Bethmann Hollwegs Verständigung mit
England ein diplomatisches Meisterstück und die eigentliche Lösung unserer
Zchwicrigkeiten. Die zweite weltgeschichtliche Tat Bethmann Hollwcgs soll dann
sein, daß er in das starre und schroffe Junkerregiment, das neben der äußeren Wohl¬
fahrt uns so viel Verärgerung gebracht hat, einen frischen Luftzug, neue Männer
und neue Ideen hereinbringt. Freilich im stillsten frage ich mich: Welche Männer
und welche Ideen haben wir Epigonen der achtundvierziger Freihcitsmänncr heute
noch anzubieten, die wirklich einen in sich blühenden Staat noch weiter fördern?
Weihnachten 1914. Ein furchtbares Geheimnis, das man nicht laut sagen
darf: Der Abstrich vom März 1912 hat uns die drei entscheidenden Armeekorps an
der Marne fehlen lassen. Aber auf militärische Siege kommt es ja gar nicht an.
Ein Volk von achtzig Millionen, das so einig ist wie das unserige, ist nicht zu
besiegen, und der demokratische Gedanke wird sich mit der Länge des Krieges in
allen Ländern, auch bei den Meuchelmördern von Belgrad und ihren Helfeshelfcrn
an der Themse, Seine und Newa, durchsetzen und auf den Trümmern des alten
Europa die wahre Völkerverständigung herbeiführen. Die Aufgabe von uns deutschen
Demokraten ist es, zunächst einmal bei uns zu Haus der Vernunft zum Durchbruch
zu verhelfen. Kollege U- behauptet allerdings, bestimmt zu wissen, daß das Kricgs-
ziel Belgien kein alter Plan unserer Annexionisten wäre, und daß es insofern gar
keine Rolle spielte, als die feindlichen Regierungen doch bis zur Vernichtung des
Deutschen Reiches kämpfen wollten. Ich setze dagegen meine Hoffnung auf die
liberale Regierung in England und auf Bethmann Hollweg. Ich verstehe nicht, wie
mir Roste neulich sagen konnte, er mißbillige, daß Bethmann Hollweg die Flotte
zmmckhaltc. Ein deutscher Seesieg über England würde ja den Frieden nur hinaus¬
schieben, ja unmöglich machen. Wir dürfen England nicht weiter reizen. Aller¬
dings muß ich zugeben, daß Tirpitz' Flottenbau die Verständigung mit England
bis zum Juli 1914 nicht gestört hat, wie wir damals glaubten. Haben doch die
Engländer, die 1905 und 1911, als wir noch keine starke Flotte besaßen, zum Kriege
drängten und nur durch das furchtsame Frankreich gebremst worden sind, im Juli
1914'angesichts unserer inzwischen so stark gewordenen Flotte die Verständigung
mit uns gewünscht und die Weltherrschaft in Vorderasien und Afrika mit uns teilen
wollen. Die furchtbaren diplomatischen Fehler unseres Auswärtigen Amtes haben
aber dann den Engländern eine so verlockende Gelegenheit zum Losschlagen geboten,
daß die Kriegspartei in England zum überwiegen kam. Jetzt aber müssen wir die
verständigungsbereiten englischen Politiker moralisch stützen, und deshalb ist es Zeit,
dich Wir auf den Machtgcdanken zur See entschlossen verzichten. Wenn wir dafür
im Innern dem demokratischen Gedanken zum Siege verhelfen, so fällt jeder Grund
zum Mißtrauen gegen Deutschland bei unseren Feinden weg. Unser einziges Kriegs¬
ziel muß sein, den russischen Zarismus zu zertrümmern. Freilich macht mir das
Kriegsziel gegen Osten schlaflose Nächte. Wir können doch Polen nicht befreien!
Die frühere polenfreundliche Politik unserer demokratischen Presse bedeutet eine
gewisse Verlegenheit, und mit Schrecken sehe ich als Ostmcirker, wie meine Fraktions-
kollcgen aus dem Westen und Süden nicht das mindeste Verständnis für die Gefahr
einer Auflösung des russischen Reiches zu haben scheinen. .Ich darf diese Gefahr
auch nicht zu sehr betonen, sonst verliere ich meinen ganzen Einfluß in der Partei
und störe die notwendige Einheitlichkeit und Stoßkraft zur Erlangung unserer
inneren Kriegsziele.
Weihnachten 1315. Unsere Lage nach außen ist besser, als es den Anschein
hat. Der immer wiederholte vergebliche Anprall der Feinde wird sie zur Vernunft
bringen, und länger als bis zum Herbst 1916 hält es finanziell und moralisch keiner
der Kriegführenden aus. Mehr Sorge macht mir die innere Lage. Die fabelhafte
Kraft und Gesundheit unseres Volkskörpers, die unerschöpflichen Leistungen unserer
Wirtschaft und das Ansehen der militaristischen Kreise infolge der letzten Siege und
den unbestreitbaren Überlegenheit des deutschen Heeres über alle feindlichen Heere
laß? die Notwendigkeit gründlicher Reformen im Innern dem breiten Volksbewußt¬
sein immer noch nicht deutlich genug werden.
Weihnachten 191K. Das Friedensangebot im Zusammenhang mit der Polen¬
befreiung ist ein moralischer Sieg, der schwerer wiegt, als unsere so fruchtlosen
Siege auf den? Schlachtfeld. Einerlei, ob das Friedensangebot angenommen wird
oder nicht, so hat Deutschland doch jetzt moralisch die Führung des Weltgewissens
übernommen. Ich habe meine Bedenken gegen die Polenbefreiung niedergekämpft
und finde das Bedauern von U. über die versäumte Möglichkeit eines Sonder¬
friedens mit dem Zaren recht charakteristisch für diese Kreise, die offenbar eine Ver¬
ewigung des zaristischen Regimes in Rußland mit Rücksicht auf ihre eigene Macht¬
stellung in Preußen ersehnen. Die Zukunft der Welt kann nur darin liegen, daß
die beiden stärksten und aufgeklärtesten Völker, Deutschland und England, gemeinsam
führen. Das dekadente Frankreich und der vom Zarenjoch befreite Osten werden
uns dann nie mehr gefährlich werden. Meine kürzliche Reise nach der Schweiz war
eine währe Befreiung für mich. Endlich einmal wieder aus der Kriegspsychose
heraus, sich als Europäer zu fühlen und mit edlen Menschen aus den feindlichen
Staaten Blick und Händedruck zu tauschen! Der Amerikaner D. wie der Eng¬
länder M. waren merkwürdig einig in dem Vorwurf, daß die deutsche Demokratie
es sich zu geduldig gefallen ließe, von der Regierung ausgeschlossen zu bleiben. Sie
meinten, wir müßten den Vcrständigungssrieden nach außen durch entschlossenen
Kampf und Sieg im Innern erringen. Ich sehe jetzt ganz klar, daß wir einen
guten Frieden nur erreichen, wenn Deutschland sich rot oder mindestens rosa um¬
färbt. Die Demokratisierung Deutschlands wird damit zum wichtigsten, auch außen¬
politischen Kriegsziel. Ich werde im nächsten Jahr meine ganze Kraft daran setzen,
die Demobilisierung der Geister in Deutschland zu betreiben, die verrückt gewordene
Kncgsleidenschast zu dämpfen und Männer und Ideen an die Spitze der Nation
zu bringen, die das Vertrauen des Auslandes genießen. Die Mitteilungen meiner
ausländischen Freunde haben mir den moralischen Rückhalt gegeben, den ich brauchte,
und ich schäme mich jetzt meiner schwache, daß ich, im Wahn, während des Krieges
die inneren Kämpfe zurückstellen zu müssen, so lange zu dem Unrecht geschwiegen
habe, daß man uns von der Negierung fernhält,
Weihnachten 1917. Das einzig erfreuliche Ereignis dieses schweren Jahres
war unsere Friedensresolution. Man kann gegen Erzberger sagen, was man will,
er hat doch weit mehr auswärtige Politik in den Fingerspitzen, als die ganze alte
Schule. Leider ist die Wirkung unserer befreienden Tat durch das nervöse Gekreisch
der Vaterlandsparteilcr zerstört worden. Ich erhalte jetzt dank den für uns
Pazifisten endlich verbesserten Verbindungen mit dem Ausland beinahe täglich Be¬
stätigungen aus England und vereinzelt sogar aus Frankreich, das; ein Ver-
ständigungssricde in demselben Augenblick da sein werde, da wir deutsche Demo¬
kraten das Heft in die Hand bekommen. Aber welche harten Kämpfe gegen innen
und außen liegen im kommenden Jahr noch vor uns!
Weihnachten 1919. Ich greife wieder zur Feder. Die Welt um uns ist
eine andere geworden. Unsere Ideale liegen, wie die der Annexionisten, am Boden.
Hätte ich vorige Weihnachten das infolge der Besetzung meines Hauses durch die
Polen und meiner abenteuerlichen Flucht vorübergehend abhanden gekommene Tage¬
buch bei mir gehabt, so würde ich wohl noch von Hoffnungen auf Wilson und seine
14 Punkte, den Völkerbund und die Vernunft der Feinde geschrieben haben. Heute
weiß ich, daß unser Vertrauen schmählich getäuscht worden ist. Es nützt nichts, sich
das zu verheimlichen. An, 30. September 1918 hatte ich H. auf seinen Vorschlag
eines nationalen Sammclkabinetts aus allen Parteien, geschrieben: „Wie soll ich
mich mit Tirpitz und Ludendorff auf eine Bank setzen! Es kommt jetzt einzig darauf
an, das Vertrauen des Auslandes zu gewinnen." Ich wünschte diesen Brief heute
ungeschrieben. — Unsere demokratischen Forderungen sind durch die wüste Sturm¬
flut der Pöbelherrschaft hi.nweggeschwemmt, und gegen unseren Willen finden wir
uns heute nach rechts abgedrängt, wie die Gironde durch den Berg oder die
Kerenski-Revolutionäre durch die Bolschewisten. Es war vielleicht doch nicht richtig,
mit Rücksicht auf die Verständigung mit England unsere Kriegsencrgie nach Westen
zu dämpfen, nach Osten zu übersteigern und den Bürgerzwist im Innern gewähren
zu lassen, ja zu schüren. Altweibersommer! Ich ziehe mich aus der Politik zurück.
Weihnachten 1929. Der Rückgang unserer Partei bei den letzten Wahlen war
die Quittung dafür, daß unsere Illusionen so wenig wie die der Annexionisten
Deutschland heischt konnten. Die große Müdigkeit unseres Volkes und der lang¬
same Fluß der politischen Ereignisse dämpft die Leidenschaften. Wir haben heute
keine großen Spannungen mehr in der inneren Politik. Man weiß nicht recht, für
welche demokratischen Forderungen man noch kämpfen sollte. Aber gerade deshalb
müssen wir aus der Hut sein. Auf der Hut gegen die nur zu begreiflichen, überall
und namentlich im besetzten Gebiet und bei unseren unterjochten Brüdern jenseits
der verschandelten Grenzen aufkeimenden Revanchehoffnungen: auf der Hut gegen
die Reaktion der Monarchisten und Militaristen. Gerade heute, da man in Deutsch¬
land kaum mehr einer deutschen Uniform, dafür um so mehr uns auslaugenden
feindlichen Militärs begegnet, muß man gegen die Müdigkeit und Hoffnungslosigkeit
ankämpfen. Es sieht sehr faul aus mit dem demokratischen und völkerversöhnenden
Gedanken in Frankreich und England. Meine dortigen Freunde schreiben mir nicht
mehr. Ich bedeute offenbar für sie nichts mehr. Man interessiert sich dort viel zu
wenig für uns deutsche Demokraten. Schließlich waren wir anscheinend doch nur
etwas, solange Deutschland eine Macht gewesen ist, und man hat uns benutzen
wollen, diese Macht zu untergraben. So etwas mache ich nicht mit. Aber wenn
meine ausländischen Freunde mir einmal wieder schreiben sollten, so werde ich ihnen
eine warme Rechte entgegenstrecken und bis zum letzten Atemzug ein guter Europäer
bleiben. Vorerst gilt es, Kleinarbeit zu leisten. Ich freue mich, daß es mir gelungen
ist, aus dein Etat der Reichswehr drei vollkommen überflüssige Generäle zur
Streichung zu bringen. Und sollte man in München es wagen, noch einmal ein
Schützenfest abzuhalten, so werde ich nicht zögern, das von meinem sauberen „Kol¬
legen" U. versteckte Maschinengewehr vor das Parlament zu bringen.
Mit einer ganz neuen Eindringlichkeit werden jetzt in der Weihnachtszeit von.
Tausenden von Menschen die Worte gelesen und gesprochen: Kinder in Not.
Es ist, als ob ganz plötzlich der Schleier gefallen ist, der ihren Augen bisher das
furchtbare Elend der Kinder verhüllte, und sie nun sehend sind. schmerzhaft sehend!,
Zahlen wie: Berlin hat von 485 000 Kindern 29000 tuberkulöse und über
200 000 schwer kranke und unt er er n äh re e Kinder — werden ihnen zu.
lebendigen Vorstellungen, die in ihrer Furchtbarkeit das Gewissen aufpeitschen. Zum
erstenmal empfinden viele Eltern ihre gesunden und glücklichen Kinder als einen
Besitz, der verpflichtet, dazu beizutragen, das riesengroße Heer der .ranken
und glücklosen Kinder zu verringern.
Wie kann dies geschehen? EssolleinWeggezeigtwerden:
Auf jedem für den Heiligen Abend festlich geschmückten Tisch muß
als größte Freude für die Schenkenden und für die Beschenkten eine Anweisung
zugunsten der Volkssammlung für das notleidende Kind liegen — unabhängig
davon, ob schon vorher hierfür Beträge gespendet worden sind. Nirgends, wo
Weihnachten gefeiert wird, darf dieses Geschenk fehlen. Wenn
die Mittel beschränkt sind, müssen die zu Beschenkenden freiwillig auf
Gaben verzichten, um ihre Pflicht den notleidenden .Kindern Deutsch¬
lands gegenüber zu erfüllen.
Wenn viele, sehr viele diesen Weg gehen, dann wird nicht nur ein großer
materieller Erfolg erzielt, sondern es wird — was unvergleichlich wertvoller ist —
Weihnachten 1920 ein wirkliches Volksfest, da es auf dem Gefühl innerer Ver¬
bundenheit und auf dem Geist der Verantwortung des einzelnen für die Gemein¬
schaft beruht.
DiescrWeg, jetzt unter einsichtiger Führung beschritten auch von unseren
Kindern, wird dazu führen, daß in der heranwachsenden Jugend allmählich die
Gefühle von Haß und UnVersöhnlichkeit abklingen, deren rasendes Tönen jetzt
die Welt erschüttert. Auf dem freigewordenen Gefühlsacker wird dann der Samen,
der zu Weihnachten 4920 in die Kinderherzen gesät ist, aufkeimen und zum Blühen
bringen: Güte, Achtung und Liebe für alle Menschen.
Deutsche Väter und Mütter! Führt eure Kinder diesen Wegs
In jeder Stadt nehmen die Banken, Sparkassen und Postämter Spenden für
die Deutsche Kinderhilfe entgegen. Sonst Postscheckkonto Berlin 89 900
Deutsche Kinderhilfe.
Platzhoff faßt auf Grund der jüngsten.
Memoirenliteratur die Grundzüge der Bis-
marckschen Politik gegenüber Österreich-Ungarn,
Nußland, Italien, Rumänien usw., auch seine
Versuche, mit England in ein engeres Verhältnis
zu kommen, zusammen. Er ist der Auffassung,
daß Bismarcks Bündnispolitik stets „Doppel-
Politik" war und den Gegensatz zwischen östlicher
und westlicher Orientierung, mit dem heute
so viel doktrinärer Mißbrauch getrieben wird>
acht gekannt hat. Es war eben wirkliche
Realpolitik, die ihr Ziel, Aufrechterhaltung
des Friedens und der deutschen Großmacht,
auch erreichte. Die Schwäche des neuen
Kurses sieht Platzhoff nicht darin, daß er mit
Bismarcks Politik brach, sondern im Gegen¬
teil epigonenhaft an ihr festhielt, auch unter
Verhältnissen, zu denen sie nicht mehr paßte.
Die Wahlschen Studien behandeln den
Kulturkampf von der inner-und außenpolitischen
Seite, sowie den „Krieg in Sicht"-Artikel
von 1875.
Hans Plehns Buch ist vorerst das
Klügste und Beste, was zusammenfassend über
Bismarcks Außenpolitik geschrieben worden ist.
Für deutsche Verhältnisse ist bezeichnend, daß
Plehn, der als Engländer zweifellos ein
Journalist von großem Rang und Gewicht
geworden wäre, nach der Revolution freiwillig
aus dem Leben geschieden ist, weil das Vater¬
land keine Verwendung für diesen feinen
Historiker-Politiker gehabt hat.
Kämpfer wendet sich gegen die Bismarck-
herabsetzer, die mitdenDeutschtumsverkleinerern
und Selbstbezichtigern zumeist eineZunft bilden.
Die zuerst 1903 erschienenen treuen Gc-
denkblätter aus dem Forsthaus von Friedrichsruh
werden auch in der neuen Auflage zahlreiche
Deutsche erfreuen, denen die letzte große Ge¬
stalt unserer politischen Geschichte bis zur
Kenntnis seiner Alltäglichkeit hin teuer ist.
Diese Erinnerungen einer 93 jährigen, von
der Otto von Bismarck einst sagte: „Vor
Cousine Hedwig nehme ich den Hut ab!",
schaffen uns die Begegnung mit einem Menschen,
der sich tapfer und bescheiden, pflichttreu und
hilfsbereit, klug und liebevoll, mit Hellem
Blick für das Echte und Schöne und zugleich
mit köstlich frischem Humor kernhaft durch ein
langes Leben kämpfte. Es ist ein wunder¬
volles Buch, das nur Freude macht und das
zu besitzen noch mehr bedeutet.
Unsere Ostmark ist auf der Karte nicht
mehr, aber sie bildet sich neu im Herzen
unseres Volkes. Dieses geschichtliche Bewußt¬
sein, vorzubilden und zu vertiefen, ist nun
auch einem der bedeutendsten lebenden
Geschichtschreiber, dem bekannten Bismarck-
biographen, Bedürfnis geworden. Seine
Gedanken verdienen allgemeine Beachtung.
Ein Sohn Roberts v. Mohl, der vom
Vater die Einschätzung des eigenen Gewichts
geerbt und in verschiedenen hohen, aber mehr
dekorativen Stellen des Berliner Hof- und
Auswärtigen Dienstes unter Wilhelm I. und II.
viel repräsentativen Vordergrund der Politik
gesehen hat, veröffentlicht Tagebücher, die als
Geschichtsdokument am besten durch Mohls
Stellung als Kabinettsekrctär der Kaiserin
Augusta und seine dreijährige Tätigkeit als
Zeremonienmeister am kaiserlich japanischen
Hof charakterisiert werden.
Behncke hat als Nachfolger des durch den
Kapp-Pulses unnötigerweise gestürzten Admiral
v. Trotha die Leitung der Marine in der
gegenwärtigen schweren Zeit übernommen.
Wenn man nicht aus dem Ruf, den sich
Behncke früher im Krieg wie im Frieden er¬
worben hat, wüßte, daß er der richtige Mann
an dieser Stelle ist, so würde diese schöne
Schrift es beweisen. Sie ist ein objektives,
doch mit warmem Gefühl geschriebenes Vade-
mecum „na See to", die für die „Grenz¬
boten" immer mit die wichtigste Grenze
bleiben wird. Behncke beantwortet knapp
und doch vollständig die Fragen: War es
notwendig, die Flotte zu bauen? Hat sie uns
den Krieg gebracht? Welche Wirkung hat
diese Nisikoflotte im Kriege ausgeübt? War
es richtig, den Unterseebootskrieg zu erklären?
Hat er uns die Feindschaft Amerikas gebracht?
Ist er richtig geführt worden? Hat die Marine
uns die Revolution gebracht? Was hat zu
ihrem Zusammenbruch geführt?
Der Text des Vertrages, härtlich ver¬
einigt mit den Urkunden der Pariser Ver¬
sammlungen von 1919 und einer Übersicht
über die offiziellen und privaten Völkerbnnds-
entwürfe.
Das alte lustige Wien, durch die nüchternen
Augen eines gescheiten zopfigen Berliners ge¬
sehen, wirkt in eine? Zeit, da Wien unier¬
geht und Berlin seinen Charakter abstreift,
als eigentümlich anregende Lektüre.
Von den neueren Erscheinungen der
Sammlung „Aus Natur und Geisteswelt"
erwähnen wir hier: M. Stimmings Gute
Deutsche Verfassungsgeschichte vom Anfange
des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.
W. Stammlers Geschichte der nieder¬
deutschen Literatur, die bis Gorch Font herab-
reicht und die vorzügliche K. Beth sehe Ein¬
führung in die vergleichende Religionsgeschichte.
Rücksendung von Manuskripten erfolgt nur gegen beigefügtes Rückporto.
Nachdruck sämtlicher Aufsätze ist nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlages gestattet
"1
In UllilMlüH W WÜM
Vorbereitung auf »lie Klagen aer ver8cbiecZenen Lebuls^keine
l^mscKuIunZ). In8be8onäer8 Vorbereitung auf die LinMriZen-,
prima- unä k^eikeprükung.Dr. UicKZelis.
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öSoeben erschienen:
Graf von der Goltz:
Meine Sendung in Finnland
Mit zahlreichen Bildern und Rarten. Preis geht. 50 Mark»
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öAus jeder Zeile dieses ungemein fesselnden VucheS spricht die kraftvolle Persönlichkeit
eines Mannes, der als selbständiger Feldherr den deutschen Namen und Waffenruhm im
/! K Am land trotz der Widerstände von allen Seiten noch ein Jahr lang nach der Revolution hochhielt. 11!
Seine Erfolge als Bekämpfer des Bolschewismus, als Befreier und Organisator
Finnlands trugen diesem „politischen General" Anfang An!) auch das Kommando im Baltikum
ein, wo Graf Goltz weniger mit den Bolschennsten als mit der Vielheit der Entrnte, Letten,
der eigenen Soldatcnräte, der deutschen Regierung und Presse dauernd Kämpfe und Schwierig¬
keiten zu bestehen hatte. Dennoch vermochte er sich lange Monate erfolgreich zu behaupten
und damals Deutschland vor dem Bolschewismus zu bewahren.
Das Buch eines Tat- und Willcusmcnschcn, eines ausgeprägten deutschen Mannes, der
stets das der Sachlage entsprechende rechte Wort zum Handeln fand.
Kein Kricgsbnch üblicher Fassung, sonvcrn eine Packende Schilderung
eigenartiger Verhältnisse und Entschlüsse, deren Tragik und Trag-
.: weite in Deutschland „och viel zu wenig erkannt wurden. ::«v
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U. F. Verlas, Leipzig
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« _____!^_WK^II^2I^^I!^M« !
VSoeben erschien:
^ebenserinnerungen
Ein Stück deutschen Lebens
In Halbleinenbanü auf völlig holzfreiem Papier 30 Mark
Mit offenem Freimut schildert der greise Philosoph seine geistige Entwicklung von der
frühen Kindheit in seiner ostfriesischen Heimat bis zum echt deutschen Gelehrten, auf dessen
Stimme die ganze Welt Hort. Das geistige Leben der letzten Jahrzehnte spiegelt sich in diesen
Erinnerungen wider; auch zu den politischen Ereignissen nimmt der Philosoph mit wohl¬
tuender Adgeklörthett Stellung. Den Tausenden, die in Berlin, Frankfurt, Basel und Jena zu
Euckens Füßen gesessen haben und in die leuchtenden Augen dieses gütigen und doch starken
Weltweisen schauen durften, werden diese Lebenserinnerungen eine Quelle freudigen Miterlebens
sein. Das deutsche Volk in seiner Gesamtheit wird aber vielleicht erst durch dieses Buch
erfahren, was Eucken Ihm in seiner Geistesarbeit geschenkt hat.
K. §.
««c»««c-^i»«e^^««e-^o«e»»«e^«»e^^e^^
Soeben erschien:
ZUt»N MldsKsvL VssHiM
übtö^VL^fchctft Und GeMLinTvesen
(Grundbegriffe der Politik ^est 1)
SI Inhalt: Niedergang des
>I Körperschaftlicher AufbauNiedergang des Staates. — Zersetzung des Volkskörpcrs.
Durch Selbsthilfe zum neuen GemeinwesenDer korporative Gedanke. I«
Preis Is Mk. jZ
Der körperschaftliche Gedanke wird in dieser neuen Schrift vo» Max Hildebert Bochen zuni ersten Male in seiner
ganzen Tragweite und Bedeutung fitr die politische NeuauSrichtnng erfaßt. Die Schrift riehrt an die Grundfrage» der
politischen Theorie. Sie will nicht an den verengten und vereinseitigten Maßstäben der Parteilehren und Klassenvorurteile
gemessen sein. Die Grundsätzlichkeit dieser Anregungen erfordert es, daß die junge Generation in Anerkennung oder Ab¬
lehnung zu dieser Stimme aus ihren Reihen Stellung nimmt.
4t. F. LLssHTsv, V K v T «» S , ,L e> 5 P> z i <K.
«««-^«»<-^««c^^««c^s»«<^^««<!^^»«c^^c-^«ac-^
ßSeit 1. Januar 1S20 erscheint im 2. Zayrgang:
Die OSutschS Nation
- Kluc Zeitschrift für Politik--
Unter den vielen, seit Ausbruch der Revolution in Deutschland neu entstandenen politischen Zeitschriften nimmt die „Deutsche
Nation" eine besondere, eigenartige Stellung ein. Diese Monatsschrift ist das Organ einer Reihe junger demokratisch
gerichteter Politiker, die sich z» zielbewuszter Mitarbeit an der Erneuerung unseres politische» LevenS zusammenfanden
Die „Deutsche Nation" ist die Zeitschrift sachlicher »mo loyaler Politik
Bezugsbedingungen:
Jahr-Sprei«: 12 Monatshefte 20 Mari / Vierteljahrspreis: S Monatsheft-K Mark / Einzelheft: 2 Mark / Probeheft kostenlos
Verlag Die Deutsche Nation
Deutsche Jerlagsgesellschaft für Politik «no Geschichte in. v. K. / GKarlottenönrg / Schisserslr. 119
Aoeben erschien:
MrivMMfe
ven Nter W wie vemeMgml!
an eme
In MMemmtmM Wk vöMss hoWreieM VaMr ^8 Mark
Ein eigenartiges Buch, dieser Briefwechsel des bekannten vor 30 Jahren ver¬
storbenen Jenenser Theologen mit einem jungen hochgebildeten Mädchen. Im Greisen¬
alter, im 82. Lebensjahre, lernte er Jenny von der Osten auf dem Kapital in
Rom im Gespräch mit Mommsen kennen. Aus dieser Begegnung entwickelte sich
eine beiderseits beglückend empfundene Leidenschaft, eine trotz aller Verschiedenheit
der Anschauungen tdeale Freundschaft.
Diese Briefsammlung, ein seltsam kostbares Vermächtnis eines Gewaltigen
im Reiche des Geistes, wird sich die Herzen aller gebildeten Deutschen erobern.
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