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]]> Die Grenzboten
79. Jahrgang. Drittes Vierteljahr
jer Friedensvertrag von Versailles ist nicht als Ullsteinbuch heraus¬
gekommen und hat es deshalb trotz seiner literarischen Unbeträcht¬
lichkeit zu keinem Auflagenerfolg gebracht. Er entscheidet über
das Schicksal von sechzig Millionen Menschen, — sind es
noch sechzig Millionen? — er verurteilt zwanzig davon zum
Hungertode, aber man liest ihn nicht. Vielleicht in dem fröhlichen Wahn, ihn
dadurch aus der Welt zu schaffen, wie Gespenster am sichersten dadurch gebannt
werden, daß niemand ihre Namen nennt, niemand sie zu kennen vorgibt. Beschäftigten
wir uns mehr mit dem furchtbaren Buch, dann gäbe es längst kein Lächeln mehr
in Deutschland, dann benutzten wir unsere Augen wirklich und wahrhaftig nur
noch zu dem Zweck, um dessentwillen die Gegner sie uns, ihrem eigenen Worte
nach, gelassen haben: um unser Elend beweinen zu können. Wer sich in den kurzen
Minuten, die dem Zeitgenossen zwischen Kettenhandel und Schlemmerdiele bleiben,
einmal flüchtig mit den Forderungen des Vertrags befaßt hat, der weiß, daß jeder
Gedanke an Rettung aus seinen Verstrickungen ruchloser Optimismus ist.
Ihm und uns andern allen leuchtet als einziger Trost die tiefinnere Über¬
zeugung: so schlimm kann es ja gar nicht kommen, wie die Clemcnceau und Lloyd
George, mit kopfnickendem Einverständnis der deutschen Bevollmächtigten und in
Hörweite des Unterschreibe! - Unterschreibegeschreis der Berliner U. S. P. D.¬
Politiker beschlossen haben. Das Leben ist seit dem 9. November 1918, unruhvoll
zwar, seinen Gang gegangen, Wahlen sind reichlich vorgenommen, Lohnkämpfc
von Straßenkämpfen abgelöst worden, und selbst in die schroffe Umdrehung des
wirtschaftlichen Rades, das unsere Gebildeten, die nötigsten zum deutschen Neu¬
aufbau, unbarmherzig zermalmt, haben wir uns leidlich gefunden. Daß die mit
Pech und Schwefel geladene Gomorrhawolke dauernd über uns schwebt, daß jeder
Tag die Verwirklichung der in Versailles niedergesehriebenen Blutparagraphen
erzwingen kann, dieser Qualgedanke beunruhigt uns kaum noch. Nicht, daß wir
die erkannte Gefahr leichtsinnig leicht nehmen. Denn wir kennen sie ja gar nicht.
Wie einen unerhört grausigen Angsttraum behandeln wir sie, wie einen wilden
und doch närrischen Schemen, der uns wohl nachts einmal sekundenlang das Herz
stillstehen machen kann, den wir aber schon im nächsten Augenblick auffahrend
verjagen. Dann stürzt er in die Hölle des Wahnsinns, der er entkrochen ist, zurück.
So haben wir anderthalb Jahre lang mit dem Ungeheuer gespielt. Nun,
an dem Tage von Spaa, verlangt es seinen Zins. Die sich bisher das Durch¬
blättern des apokalyptischen Friedensbuches erspart haben, werden jetzt dieser
Mühewaltung endgültig enthoben. Statt des schwachen Abbildes bekommen sie
vernichtende Wirklichkeit zu sehen. Die sinnvoll-sinnlos gebaute Maschine beginnt
zu arbeiten, das Würgeisen knirscht.
Heute hat es keinen Zweck mehr, darüber nachzugrübeln, was geschehen
wäre, wenn Deutschland wenigstens im Januar 1919 den gotterfüllten, begnadeten
Mann gehabt hätte, den ihm die Not des Krieges nicht beschert hat. Wäre uns
damals der Diktator gekommen, den, nun es zu spät ist, selbst demokratische
Parteimänner brünstig ersehnen, Hütte statt der Scheidemannschen Rauscher-
Deklamationen von der verdorrten Hand und statt des hysterischen Geschreis der
Weimarer Verwirrten irgend jemand entscheidenden Mut zum unbeweglichen,
kalten Nein gefunden — der Feind hätte unserm Diktator einen Frieden diktiert,
bei dem sich wenigstens hätte vegetieren lassen. Andre Tardicus Zeugnis ist die
abschließende Verurteilung der deutschen Nevolutionsstaatsmänner. Den
9. November 1918 hätte man ihnen verzeihen können^ er war die ungehörige,
unabwendbare Rache des Schicksals für den 13. März 1390. Was jene Unglücklichen
aber zwei Monate später an ihrem unglücklichen Lande gefrevelt haben, ist unschätzbar.
Das Würgeisen knirscht,- nicht mehr läßt sich als Traumspuk abweisen,
was uns brutal ans zuckende Leben will. Und dennoch zeigt sich jetzt, daß die
mattherzige, verschwommene Abgewandtheit von den Tatsachen, in der wir, Herrn
Erzberger die Führung überlassend, dahin dämmerten, ihr Gutes gehabt hat.
Wir sind nun auf den Schlag vorbereitet. Wir haben zu oft mit dem Gedanken
von Deutschlands Tod getändelt, als daß er uns jetzt noch fassungslos zu Boden
schmettern oder als daß er uns möglich scheinen könnte. Ist das Reich in
schwärzester Stunde dem Untergang entronnen, wie darf es anderthalb Jahre
darauf auf den Schüdderump geworfen werden? Während wir träumten, hat sich
das Weltbild zu unseren Gunsten verändert. Wir haben den Glauben an die
deutsche Zukunft nicht verloren, als alles verloren war) nun ist es unsere Pflicht, be¬
wußt und in strenger Gedankenzucht zu tun, was damals triebmäßig und vielleicht nur
ein Ausfluß der Gedankenlosigkeit war, dieses göttlichen Geschenks im finstersten Leid.
Ein Neues will werden. Versailles ist trotz alledem kein Schlußpunkt.
Leises Zittern wie von kommendem Erdbeben geht durch die Lande, und tönerne
Füße wanken. Der Größte von denen, deren Heerhaufen eben gegen das polnische
Häuflein Vielverbands-Elend anrennen und deren politische Khans dem von ihnen
selbstersonnenen Nätmnfug die seidene Schnur um den Hals legen, Dostojewski
hat das Volk verflucht, das nicht glaubt, in ihm allein, ausschließlich in ihm,
ruhe alle Wahrheit, alle Fähigkeit und Berufung, die Welt zu neuem Leben zu
erwecken. Ein wahrhaft großes Volk vermag sich nie mit einer zweitrangigen
Rolle innerhalb der Menschheit zu begnügen, ja nicht einmal mit „einer" erst¬
rangigen, sondern muß unbedingt die führende Rolle erstreben, an sich reißen-
A
Ein Individuum kann arm sein, wenn es aber die Kraft besitzt, eine größere Summe
von wertvollen Gegenständen zu schaffen, als es konsumiert, so wird es reich.
Die Kraft, Reichtümer zu schaffen, ist demnach unendlich wichtiger als der Reichtum
selbst; sie verbürgt nicht nur den Besitz und die Vermehrung des Erworbenen, sondern auch
den Ersatz des Verlorenen. Dies ist noch vielmehr der Fall bei ganzen Nationen, die nicht
von Renten leben können, als bei Privaten. Deutschland ist in jedem Jahrhundert durch
Pest, durch Hungersnot oder durch innere und äußere Kriege verheert worden; immer hat es
aber einen großen Teil seiner Produktiven Kräfte gerettet, und so gelangte es schnell wieder
zu einige», Wohlstand, während das reiche und mächtige, aber despotm- und pfaffengerittene
Spanien, im vollen Besitz des innern Friedens, immer tiefer in Armut und Elend versank.
Noch scheint den Spanien, dieselbe Sonne, noch besitzen sie denselben Grund und Boden, noch
sind ihre Bergwerke so reich, noch sind sie'dasselbe Volk wie vor der Entdeckung von Amerika
und vor Einführung der Inquisition: aber dieses Volk hat nach und nach seine produktive
Kraft verloren, darum ist es arm und elend geworden. Der nordamerikanische Befreiungs¬
krieg hat die Ration Hunderte von Millionen gekostet, aber ihre produktive Kraft ward durch
die Erwerbung der Nativnalselbstündigkeit unermeßlich gestärkt, darum konnte sie im Laufe
weniger Jahre nach dem Frieden ungleich größere Reichtümer erwerben, als sie je zuvor
besessen hatte. Man vergleiche den Zustand von Frankreich im Jahre 1809 mit dem vom
Jahre 1339; welch ein Unterschied! Und doch hat Frankreich seitdem seine Herrschaft über
einen großen Teil des europäischen Kontinents verloren, zwei verheerende Invasionen erlitten
und Milliarden an Kriegskontributionen und Entschädigungen entrichtet.
erner verzichtet Deutschland zugunsten Belgiens auf
alle Rechte und Ansprüche auf die Gesamtheit der Kreise von
Eupen und Malmed y." Äußerlich verschwindet dieser Ab¬
schnitt 34 des Friedensvertrages fast unter den 440 Bestimmungen
und doch schließt er so viel Wehschreie guter Deutscher ein. Also
auch hier Landabtretung, und zwar an Belgien. Was ist aber Belgien? Es war
einst das Gebiet des deutschen Herzogtums Niederlothringen, dann der spanischen
und österreichischen Niederlande, bis es durch Englands Einfluß 1330 als selb¬
ständiger, angeblich neutraler Staat, aber mit Haut und Haaren den Briten und
Franzosen verkauft, erstand. Obwohl drei Fünftel der Bevölkerung Vlamen, ger¬
manische niederdeutsche, sind, haben doch die zwei Fünftel wallonischer, französisch
gesinnter Bewohner die Herrschaft an sich gerissen. Was fragen diese Französlinge
und ihre fremden Auftraggeber danach, ob sich die Vlamen oder Deutschen ihre Ver¬
waltung selber bestimmen wollen! Nein, wie im sogenannten Belgien, so wird
auch in den Kreisen Eupen und Malmender frisch drauflos verfrcmscht, und dieser
Gernegroß unter den Staaten Europas benützt, wie der zur Selbständigkeit unfähige
Pole, die selbstverschuldete Ohnmacht Deutschlands und reißt sich saftige Stücke aus
dem zuckenden, gebannten deutschen Riesen.
Schauen wir uns deshalb einmal Eupen und Malmender, die zwei west¬
lichsten, an Belgien stoßenden Teile der preußischen Rheinprovinz an. Sie bedecken
genau tausend Geviertkilometer Bodenfläche und zählen nahezu 70 000 Einwohner.
Das sind Umfang und Bevölkerungszahl des Fürstentums Waldeck. Es ist die
Gegend des linksrheinischen Schiefergebirgcs, auch Ardennen schon genannt, ge¬
wöhnlich aber Eifel und Hohes Nenn geheißen. Jedenfalls ist nach Westen zu kein
deutlicher Abschluß vorhanden.
Kärgliche Frucht trägt der Boden des großen Kreises Malmender. Darum
ist er auch am geringsten von allen elf Kreisen des Aachener Regierungsbezirkes
besiedelt. Nur 40 Menschen treffen durchschnittlich auf das Geviertkilometer. Die
gleichnamige Hauptstadt und Se. Vieh sind die einzigen Städte des Kreises. Da¬
gegen ist der kleinste Kreis, Eupen, nach Aachen verhältnismäßig am dichtesten
bewohnt. Eupen selbst, die Hauptstadt, birgt schon die Hälfte der Krcis-
bcwohner. Das kommt von der dort schon seit alters heimischen Tuchcrzeugung.
Im 14. Jahrhundert wurde diese Fertigkeit aus Flandern eingeführt. Über acht¬
einhalbtausend Arbeiter beanspruchte einst dieses blühende Gewerbe. Durch die
Maschinenarbeit seit hundert Jahren ist deren Zahl auf etwa dreitausend Tuch-
und Kammgarnwcbcr zurückgegangen.
Durch die Abersiedlung zahlreicher Tuchhersteller aus Vervich (welsch-
Verviers) und französischer Flüchtlinge wurde die Mundart der Stadt, die ein
Gemisch aus rheinfränki scher und altvlämi scher Sprache ist, mit wallonischen und
französischen Brocken verseucht. Aber Wallonen in nennenswerter Zahl (ganze 70)
gibt es im gesamten Eupener .Kreise nicht, so daß Belgien mit keinem Schein von
Recht das Gebiet beanspruchen kann.
Die Wallonen sind ein Überbleibsel der keltischen Urbevölkerung Galliens.
Im benachbarten Belgien gibt es ihrer etwa drei Millionen, in der preußischen
Wallonei allerhöchstens ein Dutzcndtausend. Bei der letzten Volkszählung bekannten
sich clfeinhalbtausend preußische Untertanen zur wallonischen Sprache.
Zum ersten Male erzählt uns der große Deutschenmördcr Cäsar von diesem
Lande. Er vernichtete die zu beiden Seiten der mittleren Maas wohnenden ger¬
manischen Eburonen. Deren keltische Nachbarn nahmen das entvölkerte Gebiet in
Besitz und bildeten in der Folgezeit einen stark nach Osten in den deutschen Sprach-
bcreich vordringenden Keil. Schon bald aber stießen wieder Meerfrankcn über den
Rhein herüber oder wurden, wie ums Jahr 300 unter dem Römcrkaiser Maximian,
auf der Fläche von Se. Vieh angesiedelt. Die Franken erstarkten dann so, daß sie
die Römer aus den: ganzen Rheinland« hinauswarfen und ein freies Reich
gründeten. Die Kelten in der Maasgegend wurden von ihnen, wie es Deutsche
leider zu sehr zu tun pflegen, in Ruhe gelassen, und so haben sie sich bis auf den
heutigen Tag erhalten. Freilich hatten sie im Gegensatze zu den geschlossen bci-
sammenwohnenden Germanen die Sprache ihrer römischen Gebieter erlernt. Daraus
ging das jetzige Wallonisch hervor, eine romanische Sprache mit vielen keltischen
Bestandteilen, jedoch eine dem Schriftfranzösischen schon recht entfernte Verwandte.
Ein Franzose aus Paris steht einem Wallonen nicht verständnisreicher gegenüber, als
ein Schwabe einem plattdeutschen Friesen,
Die Geschichte der deutschen Wallonei ist kurz. Während das nördliche Eupen
jahrhundertelang alle wechselvollen Geschicke des Herzogtums Limburg unter nieder-
lothringisch-brabantischer, burgundischer, spanischer, österreichischer, französischer und
preußischer Herrschaft teilte, erfreute sich das preußische Wallonenland bald der
Verwaltung unter dem Krummstab und ließ seine geistlichen Gebieter die folgenden
elfeinhalb Jahrhunderte allein die Auseinandersetzungen mit der großen Welt
draußen auftragen. Unis Jahr 65V nämlich baute der heilige Remaklus, der Apostel
der Ardennen, die Venediktinerkloster Malmender und Swblo. Malmunderium
hieß auf lateinisch der Platz. Vielleicht, daß ein altdeutsches mahal, ein Versamm¬
lungsplatz, eine Gerichtsstätte, dort schon war. Die Deutschen nannten es in der
Regel Malmender oder Malmder, die Welschen Malmedy (gesprochen häufig:
Mahmdih). Swblo oder Stabulau (welsch: Stavelot) im heutigen Belgien hatte
mit Malmender zusammen stets nur einen Abt. Der besaß aber neben reichen, von
den fleißigen Mönchen hergerichteten Gütern den Rang und die Rechte eines Reichs-
fürsten und herrschte unumschränkt in diesem verborgenen Winkel, bis 1794 von ein
paar Hitzköpfcn die Vereinigung mit Frankreich ausgerufen wurde. Im Jahre
1815 fiel Stablo ein die Niederlande und 1831 an Belgien, der zum Kölner Bis¬
tumssprengel gehörende Teil mit Malmender aber an Preußen.
Die zwanzig Jahre, während derer die Malmderer Wallonei zu Frankreich
gehörte, vermochten nicht im geringsten die Wallonen den stammverwandten
Franzosen geneigt zu machen. Hatten doch die Franzmänner im 17. Jahrhundert
wiederholt dort schrecklich gehaust und 1680 neun Zehntel der Hauptstadt samt der
Abtei niedergebrannt; namentlich der „edle" Turenne steht dort in schlimmstem
Andenken. Dagegen hatte das Deutsche Reich, dem die gefürstete Abtei seit dem
10. Jahrhundert ununterbrochen angehörte, dem Ländchen Unabhängigkeit und
Eigenart gewährleistet. Die strammen Wallonenregimenter leisteten den deutschen
Kaisern geschätzte Dienste. Viele Einwohner warm zweisprachig und konnten so im
großen deutschen Hinterkante, an das sie rege Handelsbeziehungen knüpften, leichter
ihr Fortkommen finden. Somit war ihnen der Anschluß an Preußen vor hundert
Jahren durchaus erwünscht. Hier hatten sie Ruhe und Ordnung.
Die Volkssprache, noch allenthalben gepflegt, ist Wallonisch, die Sprache des
häuslichen Herdes. Alte Bauernleute verstehen oft nur diese Mundart. Den Kindern
fällt das Schriftfranzösische schwer und das wenige Deutsch, das sie auf dem Lande
könne«, kommt mit fremdländischer Klangfarbe aus dem sonst so beredten Munde.
Von den Erwachsenen sprechen in der Stadt jetzt nicht wenig in den drei gebräuch¬
lichen Zungen, Wallonisch, Französisch und Deutsch. Noch gilt bei ihnen, soweit
sie gebildet sein wollen, das Französische wie in Belgien als Schriftsprache. Die
französische Sprache wurde in den letzten Jahren noch in städtischen Sonderschulen
gelehrt. Immerhin ging ihre Kenntnis bet der wallonisch redenden Bevölkerung
zugunsten des Deutschen zurück. Das preußische Entgegenkommen ging sogar so
weit, daß selbst deutsche Kinder in den unteren Volksschulklassen die Christenlehre
in der welschen Schriftsprache anhören mußten. Lernen doch stets einige deutsche
Priester aus dem Rheinlande Französisch, um im preußischen Walenlande die Seel¬
sorge besser ausüben zu können. Allerdings wird nun in den Volksschulen seit
dreißig Jahren Deutsch gelehrt. Auch in den Gcmeindesitzungen gilt das Deutsche
als Amtssprache, wenngleich auf den Dörfern noch viel verdolmetscht werden muß.
In den durchweg römisch-katholischen Kirchen von Malmender wird Sonntags
gleich viel deutsch und französisch gepredigt, in den Landkirchen nnr französisch.
Der Hauptort Malmender, berühmt durch seine Gerbereien, zeigt noch viel
fremdländisches Wesen. Er liegt gleich Eupen in prächtiger, hier geradezu süd¬
ländischer Umgebung. Die Geschäftsschilder an den stattlichen Bürgerhäusern sind
zweisprachig. Vor den Kaffeehäusern mit ihren Sonnenzelten stehen nach fran¬
zösischer Sitte die kleinen Marmortische, an denen die welschredenden Bürger sitzen,
bedächtig ihren Schnaps trinkend und aus kurzen belgischen Pfeifen rauchend. Auf
dem Marktplatze fallen die wallonischen Landleute auf mit ihren langen, von
schwarzem Haare umrahmten Schädeln, dunklen Gesichtern und braunen, lebhaft
funkelnden Augen. Sie lieben noch die alte, buntgestickte Volkstracht.
In den fünf zum Teile auch deutschen Bürgermeistereien von Bellwach (Belle-
vaux), Büttgenbach, Malmender, Wemctz und Recht zählt das deutsche Wallonen¬
land über 50 Ortschaften, wenn man die paar Gehöfte jeweils Ortschaft nennen will.
Hier herrscht noch das alte Wallonisch, das dem in Belgien sehr nahe steht. Doch
gebraucht der preußische Wallone manche Ausdrücke, die der von Lüttich oder Namen
(Namür) nicht versteht, der von dem westlichen Malmender hat wieder andere
Wörter als der im östlich gelegenen Wemetz (Weismes), in dessen Sprache sich
auch deutsche Wendungen eiirgeschlichen haben.
Daß das Dutzendtausend Wallonen sich seit den hundert Jahren, da es un¬
mittelbar zum großen Deutschen Reiche gehört, so gut in Sprache und Sitte erhalten
konnte, begründet sich zum Teil auf die abgeschiedene Lage und die Nachbarschaft der
Stammesgenossen jenseits der Grenze. Bis vor einem Menschenalter gab es keine
Landstraßen und Eisenbahnen aus den belebten Gegenden des Rheinlandes in
dieses rauhe Venngebiet. So mußten die nach Eupen oder Aachen reisenden Be¬
wohner über den belgischen Teil des Venus oder zur Bahnhalte Stablo gehen, wo¬
durch sie natürlich ihre Beziehungen zum welschen Lande weiter hegten. Zum Teil
aber verschuldete neben der bekannten Zähigkeit der Bauern für das Althergebrachte
auch der preußische Staat die mangelnde Eindeutschung. Bis 1870 pflegte die
preußische Verwaltung in den dortigen Schulen geradezu das Französische, das
nämliche Preußen, dem nach dem Mittel „Haltet den Dieb!" die im Unterdrücken
fremder Völker gewandten Feinde so erfolgreich Vergewaltigung kleiner Völker¬
schaften vorwarfen. Wenn sogar im durchaus deutschsprachigen Großherzogtum
Lützelburg die französelnden Behörden in den letzten Jahrzehnten das Wallonische
und Französische in den paar Ardennendörfern im Norden durch den anbefohlenen
deutschen Sprachunterricht vertilgten, warum soll man dann im preußischen Rhein¬
lande päpstlicher sein als der Papst? Immerhin wäre die Verdeutschung deS
preußischen Walenvolkes nur eine Frage der Zeit gewesen, wenn Feingefühl und
Zielbewußtsein und namentlich die deutsche Schule hätten weiterwirken können.
Freilich durften dann die Deutschbürtigen in den Städten nicht weiterhin mit
Welschsprcchen „prunken", was 1917 den deutschen Kaiser in Aachen zu der
Mahnung veranlaßte: „Es muß jetzt hier einmal mit dem Französischparlieren
aufhören."
Nun aber ist dort alles gefährdet. Die belgischen Sendlinge flüstern den
Leuten von Eupen und Malinender zu, daß sie, die an Hof und kargen Venuacker
innig hängen, bei Abstimmung für Deutschland auswandern müßten, andernfalls
aber von Kriegslasten frei blieben. Belgische Besatzung lastet jetzt schmachvoll auf
dein abgesperrten Bezirke. Gummiknüttel, Kolbenstöße und Maschinengewehre sind
ihre Uberzeugungsmittel. Die nach Aachen in Arbeit gehenden Eupener leiden
unter dem niederen Geldwerte ihres früher erdientcn Lohnes. Die Belgier wollen
die auf 100 Millionen Mark geschätzten reichen Waldungen von Malmender ab¬
holzen. Jede Ausfuhr von Vieh nach Deutschland ist den einzig Viehzucht treibenden
Malmderer Bauern verboten worden. Beamte, Geistliche, Lehrer und Arbeiter¬
führer, die im bloßen Verdachte stehen, das selbst in dem niederschmetternder
Friedensverträge „verbürgte" Recht auszuüben, für das Verbleiben der beiden Kreise
bei Deutschland einzutreten, wurden verhaftet oder kurzfristig ausgewiesen. Jede
Regung für Deutschland wird unterdrückt, so daß sogar der neue deutsche Reichs¬
minister des Äußeren sich zu schweren Anklagen entschloß. In vorläufigen nicht¬
amtlichen Abstimmungen aber haben sich in der Wallonei über 95 vom Hundert der
Bevölkerung gegen den Anschluß an Belgien ausgesprochen. Die gefürchtete
Abstimmung im rein deutschen Eupen wurde von der belgischen Besatzungsbehörde
verboten. Für Belgien treten nur ein paar durch äußerliche Vorteile gewonnene
Personen ein. Seit der Bestätigung des Friedensvertrages liegt in den beiden
Hauptorten je eine einzige Liste auf. Darin sollen sich die für Deutschland Ein¬
tretenden öffentlich einschreiben. Der belgische Kreisverwalter jedoch verkündete
frei, er werde den Ersten, der Zur Abstimmung erscheine, die Treppe hinunterwerfen.
Wer nicht willig ist, dem werden u. a. die Lebensmittelkarten entzogen. So wird
diese „Abstimmung" unter dem Drucke des belgischen, alles Deutsche knebelnden
Größenwahns, der auch nach dem Eupener Tuchgewerbe und der blühenden
Ncchrener Steingnterzeugung lüstern ist, nur eine Spiegelfechterei werden. Belgien
denkt nicht daran, auf dieses deutsche und deutsch-sein-wollende Land zu verzichten.
Im Gegenteil, es streckt jetzt seine begehrlichen Klauen auch nach dem urdeutschen
Kreis Monschau aus, von dem nicht einmal in diesem sogenannten Vertrage des
Friedens die Rede ist. Mitte Mai hat es diesen Gau militärisch stark besetzt.
Wie überall, so auch da im Westen ist Fälschung des Volkswillens, Knechtung
des Deutschen die Losung unserer Feinde. Und die Bewohner hier sind alle gute
Deutsche, treue Preußen, selbst wenn sie wallonisch reden. Seit zwölfeinhalb Jahr¬
hunderten, mit nur zwanzigjähriger Unterbrechung, das ist seit dem Anfang der
dortigen Geschichte, gehören sie zum Deutschen Reiche, das ihnen wirtschaftliches
Hinterland war und ihnen ihre Eigenart ließ. Durchaus nicht schielten sie jemals
nach Belgien oder Frankreich. Ja, als 1893 wieder einmal das Zentrum gegen die
Militärvorlage war, da erkor sich der Wahlkreis Schleiden-Malabar einen Ab¬
geordneten, der sich verpflichtet hatte, für die Heeresvorlage einzutreten. Im Jahre
1870 kam unter den Wallonen, trotz der Nähe der belgischen Grenze, kein Fall von
Fahnenflucht vor, und auch während des Weltkrieges waren die Welschen des
Malmderer Kreises die besten deutschen Staatsbürger. Kurz nach der Besetzung von
Malmender, das in schwarz-weiß-roten Fahnen prangte, holten wallonische Arbeiter
die auf der Steinbacher Papiermühle ausgesteckte belgische Fahne herunter.
Was wird all diese begeisterte deutsche Gesinnung helfen? Die Feinde wollen
sie nicht sehen, nicht anerkennen. Wir Deutschen haben noch dazu größere Sorgen.
Die heißen Hunger lind Spartakus, Elsaß-Lothringen, Saarbecken, Pfalz, das ganze
Rheinland, Schleswig, Westpreußen, Ostpreußen, Posen, Oberschlesien, Deutsch-
Gsterrcich, deutsche Schutzgebiete und anderes mehr. Aber trotzdem wollen wir nicht
ganz vergessen der wackeren und treuen deutschen Wallonei!
Lugano, den 10. Januar 1916.
n italienischen politischen Kreisen wird der Wunsch nach Bildung
! eines Konzentrationsministeriums immer stärker. Salandra wehrt
sich vorläufig noch entschieden gegen eine derartige tiefergreifende
> Änderung der bisherigen Regierungsmaximen Italiens. Nach metner
! unmaßgeblichen Auffassung zeugt dies von einigem Weitblick. Was
wir aus Frankreich über die Unzuträglichkeiten hören, die ein Konzentrations¬
ministerium sozusagen im Keime in sich trägt, wirkt für einen italienischen Staats¬
mann wohl kaum ermutigend. Der in Deutschland noch fremde Begriff des Kon¬
zentrationsministeriums verlangt, daß alle Parteien des Landes mit Ausschluß viel¬
leicht der absolut oppositionellen Elemente in ihm vertreten sind. Dies hat zur
naturgemäßen Folge, daß die Parteien, die tatsächlich im Parlament den Aus¬
schlag geben, sich in ihrer Bedeutung reduziert sehen, da ihre Vertretung im Kabinett
unmöglich ihrem zahlenmäßigen Stärkeverhältnis entsprechen kann. In einen:
Konzentrationsministerium muß auch eine Gruppe, die vielleicht höchstens 15 ?S des
Parlaments umfaßt, mit mindestens einem Minister vertreten sein: soll daher das
Ministerium nicht zu einer Kohorte anschwellen, so müssen die großen Parteien auf
eine ihren Stärkeverhältnissen entsprechende Vertretung verzichten. Dies hat, wie
verschiedene Berichte meines französischen Vertrauensmannes haben ersehen lassen,
zu ganz erheblichen Mißvergnüglichkeiten in Frankreich geführt, und es versteht sich,
wenn Herr Salandra vorläufig sich gegen den Vorschlag sträubt, die bisher für das
italienische Verfassungsleben maßgebenden Grundsätze, nach denen das Ministerium
einer annehmbaren Majorität des Parlaments entspricht, einer allzu eiligen Revision
zu unterziehen.
Hierzu kommt, daß bei Bildung eines Konzentrationsministeriums selbst¬
verständlich auch das katholische Element berücksichtigt werden müßte. Der vom
Vatikan stillschweigend geduldete Führer der Katholiken, Meta, hat sich durch die
von ihm in der letzten Tagung gehaltene und außerordentlich vaterländische Rede
zweifellos einen Anspruch auf seine Berufung in ein KonzmtrationsministeriiM
erworben.
Setzt man sich in die Lage des italienischen Ministerpräsidenten, so wird man
anerkennen müssen, daß diese Konstruktion nicht ohne weiteres durchführbar ist.
Herr Salandra, — man möge sich doch bei uns das gedankenlose Schimpfen über
die Unfähigkeit der italienischen Staatsmänner abgewöhnen —. der im Vatikan
wohl Bescheid weiß, ist sich völlig darüber im klaren, dasz die Lösung der Römischen
Frage ihm noch große Schwierigkeiten bereiten wird. Er und mit ihm die Minister
Grippo und Cavasola sind die einzigen, die die Bedeutung dieser Frage für die
innere Politik Italiens würdigen und die daher im Interesse ihres Vaterlandes zu
handeln glauben, wenn sie für eine Verständigung mit dem Heiligen Stuhl ein¬
treten. Diese Gruppe ist aber sehr klein. Ihr stehen gegenüber die ausgesprochenen
Feinde des Vatikans, die, wie Herr Orlando, Martini, Barzilai, Ciufelli und
Carcano, sich den Teufel um italienische Interessen scheren, wenn es gilt, dem
Papst einen Tort anzutun. Herr Salandra hat außerdem mit der Gruppe der In¬
differenten, den Herren Sonnino, Danico und Ricci zu rechnen, die das Problem
von seinem religiösen Grund loslösen und ausschließlich unter dem Gesichtswinkel
der auswärtigen Politik Italiens betrachten. Man begreift daher, um zum Aus¬
gangspunkt zurückzukehren, vollständig, daß Herr Salandra sich erst unter dem Druck
der alleräußersten Notwendigkeit entschließen wird, ein Konzentrationsministerium
zu bilden.
Ich möchte in diesen, Zusammenhang und mit der Bitte um vertrauliche Be¬
handlung melden, daß ich in den letzten Tagen Gelegenheit hatte, Kenntnis vom
Inhalt einiger Briefe zu erhalten, die ein vorübergehend in der Schweiz sich auf¬
haltender österreichischer Magnat, dessen Name in der europäischen Diplomatie einen
guten Klang besitzt, von zwei Mitgliedern des derzeitigen österreichischen Ministe¬
riums erhalten hat.
Hieraus war zu ersehen, daß man im Schoß der österreichischen Regierung
die Entwicklung der wirtschaftlichen Lage der Monarchie mit sorgenvollem Auge be¬
trachtet. Es war — ich wiederhole aus dem Gedächtnis — unter anderem darin der
Satz enthalten, daß es wohl fast unmöglich sein werde, die österreichische Finanz¬
wirtschaft noch sehr lange im Gange zu erhalten und daß man, wenn nicht bald
Frieden werde, schon jetzt „Konvulsionen erleben werde, die einen gefahrdrohenden
Auftakt für die nähere Zukunft Österreich-Ungarns bedeuten würden". Es war in
diesem sehr interessanten Schreiben weiter dem Gedanken Ausdruck verliehen, daß
es wohl schwierig sein würde, das Volk weiterhin noch lange in der Weise zu
täuschen, wie man das bisher getan habe, und daß die geradezu ungeheuerliche
Steuerlast, die Österreich auf sich nehmen müsse, für den gutmütigen österreichischen
Bürger einen Sturz aus allen Himmeln seiner Erwartung bedeuten müsse. Graf
Berchtold und seine kavaliermäßige Art, Politik zu machen, kommen ziemlich unter
die Räder, und der Grundton des offenbar in sehr sorgenschwerer Stimmung ver¬
faßten Briefes ist der einer melancholischen Anklage gegen die Redakteure des be¬
rühmten Ultimatums. Dieser Brief ist gewiß nicht entscheidend, aber er ist immerhin
ein Symptom, das Beachtung verdient.
Luzern, den 26. Januar 1916.
Man wünscht in Berlin die Ansicht meines vatikanischen Gewährsmannes
über die Wirkung zu hören, die die Freigabe der Erörterung der Friedensziele
durch die deutsche Presse im Auslande machen würde, und man wünscht weiters
über den Stand der Friedensströmungen in den Ländern des Vierverbandes
unterrichtet zu werden. Mein Gewährsmann warnt mit allem Nachdruck vor
der Freigabe der Erörterung der Friedensziele, da der Vierverband aus dieser
Maßregel nicht das Bewußtsein der Sicherheit, die uns als beati possiäentös
beseelt, herauslesen, sondern sie lediglich als Zeichen der Schwäche deuten
würde. Außerdem, und damit dürfte er Recht haben, könnte dieser Schritt nur
als Kitt oder besser gesagt Zement für die Entente wirken, deren ohnehin schon
künstlich genug konstruiertes Gebäude eine Menge Risse aufweist. Wie wir
hier hören, ist man in Berlin zur Zeit mehr als je auf den Frieden erpicht. Zu
bedauern ist nur, daß man dies auch im Ausland merkt, und zwar mehr, als
unserem Prestige nützlich ist. Ich hatte neulich Gelegenheit, einer in ziemlich
ungeniertem Ton geführten Unterhaltung österreichischer Diplomaten anzu¬
wohnen und konnte mich nicht genug wundern, wie genau man in diesen Kreisen
über die Tastversuche Berlins unterrichtet scheint. Ich trage daher auch nach¬
gerade Bedeuten, meine Freunde beständig für Fragen zu interessieren, die mehr
und weniger unser Friedensbedürfnis zeigen und uns, die wir militärisch so
stolz und stark dastehen, politisch auf das Niveau einer alten Jungfer Herab¬
drücken, die, von Torschlußpanik befallen, nicht deutlich genug verraten zu
können glaubt, wie sehr ihr Sinn nach dem Standesamt, hier nach dem Friedens¬
protokoll drängt. Was die Sache mißlich macht, ist, daß man in Österreich-
Ungarn, und zwar nicht etwa in politischen Klubs, sondern in Regierungs¬
kreisen diese Friedenssehnsucht mit dem Ergebnis unserer letzten Ernte und mit
den schlechten Aussichten erklären will, die die nächste Ernte angesichts der
anormalen Witterungsverhältnisse dieses Jahres verspreche. Ich bin hier selbst¬
verständlich nicht in der Lage, die Richtigkeit dieser Annahmen nachzuprüfen.
Sie bestehen aber, und es ist jedenfalls charakteristisch sür unsere Verbündeten,
daß sie uns so genau auf die Finger sehen.
Zürich, den 2, Februar 1916,
Die Fäden, die von Konstantinopel aus früher nach dem Großorient Paris
gingen, waren, wie bekannt, sehr zahlreich und eng geknüpfte und sie sind auch nach
Ausbruch des Krieges, wie die Anlage ersehen läßt, nicht ganz abgerissen. In¬
wieweit dies für die deutsche Politik Anlaß zu einer gewissen Vorsicht werden kann,
vermag ich vo« hier aus nicht zu beurteilen; soviel aber scheint mir auf Grund
meiner Informationen festzustehen, daß die leitenden Kreise der Türkei sich mehr
und mehr zu fühlen beginnen, und daß sie im stillen den Tag herbeisehnen, an dem
sie den deutschen Lehrmeister auf gute Art anbringen können. Vom Standpunkt der
Würdigung der großen internationalen Zusammenhänge der Loge ist auch dieses
heutige Türkenkapitel ein wertvoller Beitrag, da es zeigt, daß die Freimauerei mit
Geschick selbst in Ländern, in denen für sie angesichts religiöser oder politischer
Hindernisse ein Nährboden nicht gegeben ist, in irgendeiner Form mit den frei-
geistigen Elementen sich zu verständigen vermag. Je mehr man sich mit dieser
Materie beschäftigt, desto klarer erkennbar wird die große Linie, die hier inne¬
gehalten werden muß. Der Gedankengang ist in Kürze der folgende. Wir haben
innerhalb des Gebiets der europäischen und der von ihr beeinflußten überseeischen
Zivilisation drei Institutionen mit internationaler Organisation und mit inter¬
nationalen Zusammenhängen: die katholische Kirche, die Sozialdemokratie, besser
gesagt der Sozialismus, und die Freimauerei. Der Weltkrieg 1914/15/16, der fast
ein Dutzend Staaten erfaßt hat, bietet wohl den stärksten Prüfstein dafür, ob und
inwieweit jede dieser drei Organisationen auch in Kriegszeiten ihre internationalen
Verbindungen aufrecht hält und ob und inwieweit ihre Angehörigen die Interessen
des eigenen Vaterlandes vor jene der Organisation setzen.
Was die katholische Kirche anlangt, so ist man, man kann sagen, fast bis zum
Vorabend des gegenwärtigen Krieges, und ganz besonders in Deutschland zur Zeit
des Kulturkampfes nicht davor zurückgeschreckt, ihre Führer mangelnder nationaler
Gesinnung zu bezichtigen und ihnen zu imputieren, sie würden im gegebenen Falle
die Interessen ihrer Kirche vor die des Vaterlandes setzen. Der bisherige Verlauf
des Krieges hat gezeigt, wie außerordentlich dolos diese Anschuldigungen waren.
Der katholische Klerus hat sich in allen Ländern, auch in Italien, wo der Interessen¬
gegensatz zwischen Vatikan und Quirinal immerhin als moralische Hemmung hätte
wirken können, von außerordentlichem Patriotismus beseelt gezeigt und stellt zum
Teil, ich weise auf Belgien und Frankreich hin, das rabiateste Element der Be¬
völkerung dar. Diese Neigung zum Chauvinismus hat ihren Weg bis in den höchsten
Senat der Kirche gefunden und es wird wohl schwer halten, einen Engländer mit
gleicher Rücksichtslosigkeit an der Arbeit für sein Vaterland zu sehen, als dies bei
Kardinal Gasquet in Rom der Fall ist. Das Märchen von der Staatsgefährlichkcit
der internationalen Organisation der katholischen Kirche ist somit durch den der¬
zeitigen Krieg zerstört, was, wie mir neulich mein durch die Schweiz reisender
Ordensgeneral sagte, nach den: Krieg selbstverständlich in allen Ländern als
politisches Verteidigungsmittel von feiten der Kirche ins Feld geführt werden wird.
Die zweite internationale Institution, ziemlich jungen Datums, aber in kurzer
Zeit enorm rasch angewachsen, ist der Sozialismus. Soweit er aber davon träumte,
über die Grenzen des eigenen Vaterlandes hinaus gemeinsame Interessen und
zwar Interessen von solcher Stärke zu haben, daß sie denen des eigenen Landes
unbedenklich vorauszusetzen seien, sind alle seine Hoffnungen kläglich zusehenden
geworden. Auch die Sozialisten sind gute Patrioten geblieben und sie zeigen sich,
von einigen Narren der Konsequenz abgesehen, überall vom gleichen Abscheu beseelt,
wenn es auch nur andeutungsweise heißt, der Sozialismus will sich auf inter¬
nationaler Grundlage oder gar zum Schaden der einzelnen Heimatstaaten seiner
Angehörigen verständigen. Der französische wie der deutsche Sozialist fühlt, wünscht
und kämpft vorerst für Frankreich und für Deutschland. Auch diese Organisation
wird sich in Zukunft gegen den Vorwurf wahren, sie sei nicht vaterländisch gesinnt
oder sie setze die Interessen der Partei über die des Staatsganzen, wenn es dcrrauf
ankommt, das Vaterland zu verteidigen.
Die einzige internationale Institution, deren unter dem Schleier des
Mysteriums errichtetes Gebäude den Stürmen des Weltkrieges getrotzt hat, ist die
. Loge. Nicht nur dies. Sie hat gerade in dieser Zeit internationaler Wirren die
Geschlossenheit ihrer Organisation bewährt. Der Großorient Paris dirigiert im
Verfolg seiner revolutionären und atheistischen Ideale alle Länder, in denen die
Loge offen oder heimlich Fuß fassen konnte, mit fast unbeirrbarer Zielsicherheit.
Die Ententefreimaurerei hat es hauptsächlich durch ihre Presse bisher vortrefflich
verstanden, nach dem Grundsatz des Verbrechers, der ruft: „Haltet den Dieb", die
Aufmerksamkeit der regierenden Kreise aller Länder von sich und auf die Staats¬
gefährlichkeit der katholischen Kirche und wo es notwendig war, auch des Sozialtsmus,
hinzuweisen. Was wir aber bis jetzt und von den Fühlern und Fäden erfahren
haben, die vom Großorient Paris aus nach London, nach Rom, nach Athen, nach
Bukarest und nach Konstantinopel gehen, das zeigt wahrhaftig, welche Organisation
internationalen Charakters die tatsächlich gefährliche ist. Und man wird aus dieser
Erkenntnis doch Wohl die Schlußfolgerung ziehen müssen, daß das Staatsinteresse
es gebietet, diese Organisation und ihre internationalen Zusammenhänge auch
künftighin einer scharfen Kontrolle zu unterstellen und sich auch für die Zeit nach
dem Krieg einen genauen Überblick über die jeweiligen Ziele und Bestrebungen der
Ententefreimaurerei zu sichern.
er erste Eindruck von Petersburg und Moskau war seiner Zeit, da ich
gerade zur Schneeschmelze ankam, einfach unbeschreiblich. Auf den
Trottoiren sank man bis an die Knöchel in den Schmutz. Auf der
Straße selbst konnten Fuhrwerke gar nicht fahren; denn vor manchen
Häusern war das Eis bereits weggeschafft, während es wohl vor
den meisten noch nicht gesäubert war, so daß sich auf den Straßen Löcher und
tischhohe Erhöhungen gebildet hatten, über die selbst Fußgänger immerwährend
springen mußten. Wer Mcskau und Petersburg seit 2 Jahren nicht mehr gesehen
hat, wird sehr erstaunt sein durch die Unmasse abgerissener Häuser. Man hat in
beiden Städten Tausende von Holzhäusern und Holzvillen abgerissen und während
des letzten Winters verbrannt. Viele Straßen gleichen demnach einen. Frontbild.
Man hat die Holzteile der Häuser utiltsiert, während Backsteinhaufen und kahle
Ofen nachgeblieben sind.
Gleich am nächsten Tage nach meiner Ankunft ging ich in das Auswärtige Amt,
um meine Papiere prüfen zu lassen, damit ich von der Sowjetregierung Unsere-
haltsrccht in Moskau erhielte. Aber niemand unterzieht sich der Mühe, Vollmachten
und Papiere durchzulesen. Karrachan, die rechte Hand Tschitscherins, verweist an
Kantorowicz, Kantorowicz wieder an Jakubowicz. (Die Namen dieser Genossen
zeigten mir gleich, wer die Geschicke Rußlands leitet.) Es war gerade Sonnabend,
und ich bat Herrn Jakubowicz, mir bis zur genauen Durchsicht meiner Vollmachten
ein Jnterimspapier zu geben, damit ich mich in meiner Wohnung anmelden könnte,
um wenigstens etwas Lebensmittel auf Karten zu bekommen, außerdem um eine
Bescheinigung, daß ich, um den Sonntag auszufüllen, zu Bekannten auf die
Datsche fahren könnte. Beides wurde ohne jede Begründung abgelehnt. Als L...
hörte, daß ich hinter seinen: Rücken mit Deutschland in Verbindung stehe,
drohte man mir mit Repressalien. Ich warnte ihn vor solchen Sachen, da
derartige Schritte leicht rückwirkend auf seinen Vertreter Kopp in Berlin fein
könnten, worauf ich nur die sonderbare Antwort erhielt, daß Kopp kein Vertreter
der Sowjetregierung sei, sondern nur ein Unterbevollmächtigter von Litwinoss.
Nach diesem Gespräche forderte man mich auf, fofort Rußland wieder zu verlassen,
und der Begründung, daß meine Vollmachten nicht genügend seien. Wenn es nach
L... gegangen wäre, hätte ich bereits nach 3 oder 4 Tagen meiner Ankunft
Rußland wieder verlassen müssen. Ich hielt aber meine Mission noch lange nicht
für beendet, und erreichte dank meiner Beziehungen zu einflußreichen Spitzen der
Sowjetregierung gegen den Willen L.. .s die Erlaubnis, in Moskau zu wohnen,
jedoch nicht offiziell zu arbeiten.
Mein erster Gang war zu T..., dem sür meine Austräge maßgebenden
Sowjetbeamtcn, um bezüglich der vielgerühmten Handelsbeziehungen in
Sowjctrußland Rücksprache zu nehmen. T . . . erklärte mir, daß die
Sowjctrcgierung vor allen Dingen Eiscnvahnmaterial benötige, um die
Transportverhältnisse zu verbessern. Dazu kommen die allernötigften Be¬
stände und Ersatzteile für die fast vollkommen ruhenden städtischen elek¬
trischen Straßenbahnen, außerdem verschiedene Maschinen und Werkzeuge für
Bergwerke. Für diese Artikel zahlt die Sowjetregicrung in Gold und Platin.
Für alle anderen Sachen, die Sowjetrußland benötigt, und es benötigt wirklich
a«es, angefangen von der Stecknadel bis zum Dampfpflug, hat es keine Zahlungs¬
mittel, außer Konzessionen und Kompensationen. Unter Konzessionen verstehen die
Volschewisten die Überlassung der Zutünftscrnten in Südrußlnnd, im Turkestan
und Sibirien, oder die Exploitierung von Bergwerken, im allgemeinen die Utili-
sicrung der russischen Naturreichtümer. Ich sagte T... bezüglich dieser Kon¬
zessionen, daß sich kein ernsthafter Geschäftsmann daraus einlassen könnte, da die
Gebiete, in welchen die Volschewisten derartige Kompensationen zur Verfügung
stellen, heute bolschewistisch und morgen in den Händen der Gcgenrcvolutionme
sein können. Ich bat daraufhin T..., mir doch einen genauen Bericht geben zu
lassen, worin die ökonomischen Verhältnisse Rußlands genau geschildert sind, und
auch die wahren Absichten der Sowjetregierung bezüglich Handelsbeziehungen mit
dem Ausland dargelegt werden, warnte ihn aber vor diesen wie Kompensationen,
an die selbst die Volschewisten nicht glauben. T... versprach, mir einen derartigen
Bericht zu geben, sah aber wahrscheinlich seine Ohnmacht selbst ein und ignorierte
rue derartige Berichterstattung. Soweit ich dank meiner großen früheren Geschäfts¬
verbindungen Einsicht hatte, steht es mit den vielgepriesenen russischen Roh-
Materialien sehr schwach. Es sind wirklich große Vorräte von Flachs, Metall-
alisällen und vielleicht noch manchem anderen vorhanden; aber, ganz abgesehen davon,
daß es sich hier um ehemaliges Privateigentum handelt, welches die Sowjetregierung
infolge ihrer Nationalisierung den früheren Fabrikinhabern ohne Gegenvergütung
weggenommen hat, kann Nußland über diese Vorräte nicht etwa deshalb verfügen,
weil es Überfluß daran hat, sondern nur, weil es nicht die Mittel besitzt, diese
Rohstoffe selbst zu verarbeiten. Währenddem man Baumwolle verarbeitet, stehen die
Leinenfabriken genau so wie viele Hunderte anderer Fabriken und Werkstätten
still, mangels Heizmaterialien und wegen Maschinendefekten, Dabei wird Rußland
bei Abgabe dieser Rohmaterialien genötigt sein, nicht allein die Fertigsabrikate, wie
Wäsche usw. aus dem Auslande zu kaufen, es wird auch bei einigermaßen wieder
hergestellten Transportverhältnissen seine eigenen Rohmaterialien wieder kaufen
müssen, denn der Mangel an allem ist derartig groß, daß wohl die nachfolgenden
Zeilen das beste Bild von allem geben werden.
Bei der Haussuchung gelang es den Bolschewisten nicht, die von mir aus
Deutschland mitgebrachten Briefe zu finden. Es waren dies viele Hunderte von
Briefen, welche dem Roten Kreuz zur Beförderung übergeben wurden. Da keine
PostVerbindung mit Rußland besteht, waren die Empfänger in den meisten Fällen
seit mehr als zwei Jahren vollkommen ohne Nachricht von ihren in Deutschland
und überhaupt im Ausland wohnenden Bekannten und Verwandten. Die Briefe
dort in Nußland in den Postkasten zu werfen, wäre sinnlos, denn bei der Haus¬
suchung erklärten mir die Kriminalbeamten, daß sämtliche Briefe der esthnischen
Friedenskommission, welche deren Mitglieder dem Postkasten anvertrauten, in der
Geheimpolizei in der Zensur seien. Natürlich erreichten diese Briefe niemals ihren
Bestimmer. Um den Leuten die Nachrichten wirklich zukommen zu lassen, war ich
gezwungen, sämtliche Briefe teils persönlich, teils durch meine Bekannten austragen
zu lassen. Wer die Ausdehnung Moskaus kennt, wird sich leicht ein Bild machen,
wie schwer es ist, ohne Straßenbahnverbindung eine derartige Post zu befördern,
wobei man Gefahr läuft, für jeden Brief von irgendeinem Geheimagenten der
Bolschewisten verhaftet zu werden. Die Briefe wurden auf die alleroriginellsten
Arten übergeben, denn die meisten der Adressaten hatten inzwischen ihre Wohnung
geändert. Teils waren sie von den Bolschewisten, sobald es sich um die Bourgeoisie
handelte, aus ihren alten Wohnungen vertrieben, teils waren die Holzvillen und
Holzhäuser abgerissen, so daß es oft sehr schwierig war, die neue Wohnung der
Adressaten ausfindig zu machen.
Die Wohnungsverhältnisse der meisten Leute in der Stadt sind die gleichen,
und zwar wohnen mehrere Personen in einem Zimmer; vor allen Dingen im Winter
scharen sie sich in größeren Mengen um einen kleinen eisernen Ofen, um sich auf
die primitivste Art zu erwärmen. Der Ofen wird mit Holz geheizt und raucht
furchtbar. Seife ist nicht vorhanden, so daß die Stadtbewohner im Winter fast
alle grau und schwarz von Nuß sind, welchen sie mit dem kalten Wasser und ohne
Seife nicht abwaschen können. Überhaupt sind die Begriffe von Hygiene und Rein¬
lichkeit in Nußland derart gefallen, daß man von einem Bad oder Wäschewechsel oder
Geschirrwaschen kaum mehr spricht. Man interessiert sich nur für das tägliche Stück
Brot und sucht es durch die nach dortigen Begriffen gefährlichsten Spekulationen zu
erlangen. Zerrissene Stiefel, zerfetzte Kleider, defekte Wäsche sind an der Tages-
ordnung. Nur die Kommunisten schwelgen im Luxus. Ich fand in allen Sowjet¬
behörden die sogenannte Sabotage. In Wirklichkeit ist es aber keine Sabotage,
denn jedermann ist infolge des von der Sowjetregierung festgesetzten unmöglichen
Gehalts gezwungen, während seiner Arbeitszeit private Nebenbeschäftigung zu
haben, um sich sein tägliches Stück Schwarzbrot und vielleicht ein paar Kartoffeln,
und für den Feiertag etwas Grütze zu erwerben. Oder man spekuliert, d. h. man
verkauft etwas von seinen früher erworbenen Sachen. Nach den Sowjetgesetzen ist
dies strafbar. Der Hunger ist aber stärker als die Sowjetgesetze, so daß man trotz
der schärfsten Maßnahmen nicht allein den Diebstahl und die Spekulation nicht
bezwingen konnte, sondern diese durch die jedem Naturgesetz widersprechenden Gesetze
nur vergrößerte.
Ganz Rußland einschließlich der Arbeiter würde heute dem Sowjetparadies
den Rücken kehren, wenn man ihm eine Möglichkeit zur Ausreise geben würde.
Die Unmöglichkeit, dort zu leben, geht so weit, daß sich viele Leute finden, die sich
um die Sowjetregierung scharen, um ins Ausland zu Einkäufen kommandiert zu
werden, trotzdem deren Familien in Rußland als Geiseln zurückgehalten werden,
um etwaiger antibolschewistischer Propaganda vorzubeugen. Von einer politischen
sowie von einer wirtschaftlichen Freiheit der Arbeiter kann überhaupt keine Rede
sein. In den Versammlungen sprechen fast ausschließlich Kommunisten, und die
Resolution wird sofort nach der Rede des letzten Redners verlesen. Wenn die an¬
wesenden Arbeiter irgendwelche Einwendungen vorbringen, so wird die Versammlung
aufgehoben. Die wirtschaftliche Freiheit existiert schon insofern nicht, als sämtliche
Arbeiter in Rußland als mobilisiert gelten; keiner darf seinen Posten verlassen.
Sie werden außer ihrer gewöhnlichen Arbeitszeit abends sowie an Feiertagen zu
Zwangsarbeiten herangezogen, bei denen sie in Herden von einigen Hundert Per¬
sonen, bewacht von Letten und Chinesen, Straßen kehren, Holz spalten und die
Ruinen der abgerissenen Häuser wieder ausgleichen müssen? dies alles aber voll¬
kommen ohne jedwede Entschädigung tun müssen. Sie erhalten als Vergütung nur
300 Gramm Schwarzbrot.
Der 1. Mai d. I. sah sämtliche Kommunisten und Arbeiter Moskaus und
Petersburgs auf den Straßen arbeiten, Kisten und Kasten schleppen, aber keinesfalls
feiern. Wenn man die heutigen Löhne der Arbeiter betrachtet, so ergibt sich
folgendes Resultat: Der russische Arbeiter, ganz einerlei, ob Tagelöhner oder Ge¬
lehrter, erhält eine Monatsgage von 2400 bis 4200 Rubel, und außerdem in den
meisten Fabriken und Werkstätten sowie auch bei den Sowjetbehörden, den
sogenannten Pajok, d. h. etwas Suppe und Grütze oder Gemüse täglich. Natürlich
kann er von dieser Ration nicht existieren und ist gezwungen, sich bei Schleich¬
händlern oder auf der sogenannten Sucharewka Lebensmittel zu kaufen. Wie
weit er da mit seiner Gage kommt, mögen folgende Preise der Lebensmittel im
Schleichhandel zeigen:
Wenn er Kleider oder Schuhe braucht, so zahlt er für ein Paar Stiefel 15- bis
20 000 Rubel, für einen Anzug zirka 100 000 Rubel usw. Im allgemeinen ent¬
sprechen diese Preise dem Kurs, welchen man in Rußland für die deutsche Mark
bezahlt. So erhält man z. B. in Moskau für 1000 deutsche Mark 90 000 bis
100 000 Sowjet-Rubel, so daß also, wenn man mit deutschem Gelde dorthin kommt,
ein Anzug ungefähr 1000 -F, ein Pfund Butter zirka 30 <^ kosten würde, oder
anders betrachtet, die Gage des russischen Arbeiters einer Löhnung in Deutschland
von 30 --./^ monatlich entspricht. Vor einem Jahr waren die Moskaner Preise durch¬
weg erst ein Bruchteil der heutigen. Die ehemalige Bourgeoisie hat man inzwischen
vollkommen vernichtet, doch haben die Bolschewisten eingesehen, daß sie ohne
Spezinlisten nichts erreichen können. Andererseits wurde die Bourgeoisie durch
Hunger gezwungen, bei den Bolschewisten zu arbeiten. Vielleicht durch den Ein¬
fluß der in den Sowjetbehörden angestellten ehemaligen Bourgeois ist es zu erklären,
daß die Bolschewisten täglich mehr rechts gehen. So hat man z. B. in letzter Zeit
wieder den Freihandel für sogenannte Heimarbcitsmagazinc erlaubt. In diesen
Magazinen, in denen nur Heimarbeit verkauft werden soll, kann man natürlich alles
kaufen, angefangen von Brillanten und Gold bis zu den feinsten französischen
Pcirfümerien, den letzten Modemodellen, Spiritus, Eßwnren usw. Auf dem letzten
Kongreß in Moskau wurde die Resolution ausgesprochen, daß man in den Fabriken
die anfangs so beliebten revolutionären Komitees und kommunistischen Kontrollen
abschafft und wieder das persönliche Direktorsystem einführt. Natürlich sind die
Direktoren die alten Spezialisten. Das letzte Dekret der Bolschewisten war die Er¬
klärung der Möbel als Eigentum, nachdem man doch noch vor einem Jahr gerade in
dieser Hinsicht den kommunistischen Prinzipien huldigte, und alle Möbel als All¬
gemeingut erklärte.
Die Sucharewka, der alte Trödelmarkt, welche früher in 5 Minuten durch¬
schritten war, zieht sich heute ungefähr 4 Ku hin. Man kann dort alles kaufen. Am
interessantesten ist die sogenannte Bourgeoisiereihe. Es ist dies die frühere In¬
telligenz, darunter der russische Adel, welche ihre letzten Sachen verkauft. Man hört
dort alle Sprachen, sieht, wie die blassen, eingeschüchterten Gesichter ihre ehemaligen
Balltoiletten, seidenen Stiefelchen, Bracelcts, goldene Uhren usw. zum Verkauf
anbieten. Diese Reihe ist ganz separat von anderen Händlern, und wird auch, da
sie gewöhnlich zu mehreren Hundert zusammenstehen, nur die Bourgeoisiereihc
genannt. Thpisch für das Proletariat ist z. B, daß man die schönsten Künstlerflügel
halb so teuer wie ein gewöhnliches Grammophon kauft, und beides für ein paar Mark
im Gegensatz zu den märchenhaften Summen für Lebensmittel. Die wohlhabendsten
Russen, die früher, was Komfort und Luxus anbelangt, wohl die verwöhntesten
Leute der Welt waren, sind heute zufrieden, wenn sie täglich etwas Schwarzbrot und
einige Kartoffeln haben, und man sie in irgendeinem Zimmerchen in Ruhe läßt.
So fand ich z. B. einen Bekannten aus einer der angesehensten und reichsten Familien
Rußlands. Der Mann, der früher in Moskau für sich allein ein Schloß bewohnte,
erhielt von den Bolschewisten in seinem eigenen Hause als Wohnzimmer das
Toilettezimmer (Klosett!) angewiesen. Im jammervollsten Elend geht die verfolgte
alte Kulturschicht unter; die heutigen Machthaber rächen sich an ihr.
Wirklich große Anstrengungen machen die Bolschewisten für die Schulen. Sie
bemühen sich vor allen -Dingen, dein Proletariat etwas zu bieten, und zwar wird am
meisten getan für die kleineren Kinder von 4 bis 8 Jahren. Diese sind in den so¬
genannten Kindergärten untergebracht, wo sie, von Lehrerinnen unterrichtet, sich mit
Modellierarbeiten usw. beschäftigen. Man gibt diesen Kindern das denkbar beste
Essen, darunter Kaviar, Wurst, Fleisch, Butter usw., in genügenden Mengen. Man
sorgt für Kleidung und gibt den Kindern unentgeltlich Stiefel und Wäsche. Man
ging sogar so weit, daß man in die Kindergärten das aus den Villen requirierte
feine Porzellan und die schönste Wäsche und Teppiche gab. Natürlich verfehlen
dies- Sachen ihren Zweck, denn das Porzellan wird von den Kindern in Massen zer¬
schlagen, die Wäsche, Servietten usw. von den Lehrerinnen gegen gewöhnliche
Lumpen umgetauscht und auf der Sucharewka verkauft. Die Teppiche, welche be¬
sonders in manchen Villen Rußlands einen historischen Wert darstellten, hat man
einfach, um sie zu verwenden, in Stücke geschnitten und den Kindergärten übergeben.
Näher betrachtet, sind diese ganzen Schulorganisationen keine Lehranstalten, weil
niemand an Lernen denkt, sondern nur Abfütterungen. Dabei werden die hygienischen
Verhältnisse wiederum absolut nicht beachtet, denn die Kinder kommen derart ver¬
kauft in die Schule, daß bei manchen der Hals wie von einem Kollier von Läusen
unikränzt ist. Den Eltern deswegen Vorwürfe zu machen, ist unmöglich, denn aus
Seifenmangel (ein Pfund Seife kostet 1500 Rubel) können die Eltern weder die
Kinder noch deren Wäsche waschen, außerdem sind die Eltern selbst angestellt und
kommen abends derartig müde nach Hause, daß sie nicht in der Lage sind, sich wie
früher um ihre Kinder zu sorgen.
Dem Bauern, der nach Aussage mancher mit dem Sowjetregime so zufrieden
sein soll, geht es nicht besser wie dem Stadtbewohner. Er hat zwar genügend zu
essen, weil er weder Milch noch Eier verkauft, sondern alles selbst verzehrt. Er hat
seine Koffer voll Geld, meistenteils altes Zarengeld, und will das Sowjetgeld nicht
sehen, denn für kein Geld bekommt er heute in Nußland die ihm zur täglichen Arbeit
so nötigen Instrumente, wie Sicheln, Sensen, Pflüge, Nägel, Hufeisen, landwirt¬
schaftliche Maschinen oder sonstige Gerätschaften. Er hat kein Petroleum und keine
Zündhölzer (eine Schachtel Zündhölzer kostet 100 Rubel), dafür kann man sich auch
ein Klavier kaufen. Er muß mit der Sonne aufstehen und mit ihr schlafen gehen
oder bei Holzspanbeleuchtung sitzen. Außerdem ist er sehr aufgebracht über die bei
Beginn der Bolschewistenherrschaft in jedem Dorfe eingesetzten Armenkomitees. Er
hat gesehen, wie sich diese Kommissare der Armenkomitees, zu welchen man fast aus¬
schließlich ehemalige Trinker und Nichtstuer gewählt hat, allmählich aus Kosten
der umliegenden Grundbesitzer sehr bereicherten. So hat jeder dieser Kommissare heute,
rwtzdem er absolut unmusikalisch ist, in seiner Holzhütte ein Klavier, sehr oft im
Kuh- oder Schweinestall ein hochelegantes Herrschaftsbüffett, feine Samt- und
Plüschmöbel, während der arbeitssmne Bauer vielleicht reich an Papier, aber sonst
in jeder Beziehung arm geworden ist. Denn abgesehen davon, daß man ihm, wenn
er, was jetzt nicht mehr vorkommt, mehr auf seinem Lande erntet, als er für seinen
persönlichen Gebrauch benötigt, zu normierten Preisen, d. h. umsonst, wegnimmt,
läßt man ihn durch allerhand Dekrete seinen Viehstand nicht vergrößern. Man
requiriert ihm laut Dekret jedes überzählige Stück Vieh, so daß er nachts sein Kalb
schlachtet und das Fleisch heimlich, teils mit Lebensgefahr, an Stadtbewohner ver¬
kauft. Die größte Not im Dorfe herrscht an Salz (das Pfund Salz kostet
lOOl) Rubel). Der Bauer kann sich keine Wintervorräte einsahen. Er ißt sämtliche
Speisen ohne Salz und würde für Salz gern seine ganzen Produkte eintauschen.
Interessant sind die heutigen Heiraten in Sowjetrußland. Der Mann kann
nach Wunsch den Namen der Frau annehmen, oder die Frau den Namen des
Mannes. Die Zeremonien vollziehen sich glatt und sehr schnell. Man geht auf das
Volkskommissariat, gibt seine Personalien an, bekommt einen Stempel und ist ver¬
heiratet. Als Prämie gibt die Sowjetrcgierung noch 40 Arschin leichten Stoff, eine
Teemaschine und noch einige Kleinigkeiten zu Markenprcisen. Viele heiraten nur,
um diese Sachen zu bekommen, um sie nachher im Schleichhandel zu hohen Preisen
wieder zu verkaufen. Ebenso leicht wie das Heiraten ist das Scheiden. Einer der
beiden Gatten geht auf das Volkskommissariat und in ebenfalls 5 Minuten ist die
Scheidung verwirklicht.
Das Eheleben an und für sich ist durch die trüben Wohnungsverhältnisse fast
vollkommen vernichtet. Jeder der Gatten ist angestellt und sorgt nur für das täg¬
liche Stückchen Brot. Eine Allgemeinerscheinung, wahrscheinlich infolge der schon
jahrelangen einseitigen Ernährung und Kartoffelkuren, ist die Unfruchtbarkeit bei
den Frauen. Theater und Kinematographen sind von den Kommunisten überfüllt,
während Konzerte außerordentlich schwach besucht werden.
Für die deutschen Kriegsgefangenen in Moskau und Petersburg sorgen die
dcrtigen deutschen Arbeiter- und Soldatenrätc. Sie sind nicistenteils frühere
Ordonnanzen der während des Brester Friedens in Rußland anwesenden deutschen
Konsulate und Hilfskommissionen. Um von der Sowjetregierung geduldet zu
werden, müssen sie unter den Kriegsgefangenen bolschewistische Propaganda ver¬
breiten, und es wird sehr anerkannt, wenn deutsche Soldaten infolge dieser Propa¬
ganda in die Rote Armee eintreten. Im großen und ganzen muß man aber vor allen
Dingen den Leitern der Heime alle Anerkennung für die Aufopferung den Kriegs¬
gefangenen gegenüber aussprechen, denn wenn diese Fürsorge nicht vorhanden wäre,
würde es unseren Gefangenen außerordentlich schlimm in Rußland gehen. Der
Abteilung VII vom Zentralkomitee der deutschen Vereine vom Roten Kreuz ist es
als erster gelungen, die Verbindung mit den in Sowjetrußland zurückgebliebenen
Deutschen wiederherzustellen. Es waren rührende Szenen und Ströme von Dankcs-
und Freudentränen, als unsere Landsleute nach zweijähriger Abgeschnittenhcit
wieder Nachrichten von ihren Angehörigen im Auslande erhielten. Ebenso um¬
gekehrt, als Nachrichten aus Rußland von längst erschossen oder verhungert ge¬
glaubten Freunden und Familienmitgliedern hier eintrafen. Es ist dies um so
mehr eine hervorragende Arbeit, als sich unsere Regierung um die in Moskau,
Petersburg usw. ansässigen deutschen Zivilpersonen absolut nicht kümmert. Für
die Kriegsgefangenen hat das Rote Kreuz viel statistisches Material, amtliche Todes¬
urkunden usw. erhalten und wird auch weiter, dank seiner internationalen Ver¬
bindungen und freundschaftlichem Zusammenarbeiten mit dem esthnischen Noten
Kreuz, in der Lage sein, Nachrichten über die in Rußland darbenden
und verschollenen Deutschen zu geben. Die deutsche Regierung zusammen
mit dem Noten 5treuZ hat es endlich zu Vereinbarungen mit der
Sowjetregierung gebracht, daß die noch in Rußland befindlichen Kriegs¬
gefangenen heimbefördert werden, und es gehen jetzt auch regelmäßig wöchent¬
lich ab Moskau zwei Transporte mit fast ausschließlich aus Sibirien kommenden
Kriegsgefangenen. Die Transporte werden über Narwa geleitet und gehen von
dort zu Schiff nach Swinemünde. Die Lage der sibirischen Gefangenen war vor
allen Dingen nach der Auflösung der Koltschak-Armee eine sehr traurige, denn die
Lnger wurden von den BolsclMisten aufgelöst und die Gefangenen ihrem eigenen
Schicksal überlassen. Die Sehnsucht nach der Heimat machte viele der deutscheu
Soldaten zu Abenteurern. Sie zogen mit Kartenlegen und Clownkunststücken von
Dorf zu Dorf, bis sie nach monatelangen Wanderungen nach Moskau und Petersburg
kamen. Viele gingen unterwegs zugrunde oder blieben krank irgendwo liegen, und
nur wenigen gelang es, ihr Ziel zu erreichen. Die Verpflegung der Kriegsgefangenen
in Moskau in den deutschen Heimen ist verhältnismäßig gut. Auch sorgt die Ne¬
gierung jetzt dafür, daß man zirka 50 Waggons Liebesgaben und Medikamente nach
Rußland expediert. Die Wertsachen der Deutschen, welche vor Ausbruch der
Revolution in den deutschen Konsulaten in Moskau und Petersburg deponiert
wurden, sind sämtlich von der Sowjetrcgierung beschlagnahmt und konfisziert. So¬
weit ich ermitteln konnte, ist in Moskau von all diesen Sachen nur etwas Tafelsilber
nachgeblieben, während man in Petersburg den Arbeiter- und Soldatenrat aus dem
Hause Jussupoff auswies und sämtliche dort lagernden Sachen wegnahm,.
Ein Umsturz in Rußland ist gewiß nur eine Frage der Zeit, doch ist das Volk
heute außerordentlich apathisch und abgespannt, während die Sowjetregierung desto
kräftiger und wachsamer ist. So hat man z. B., um einer unverhofften Überraschung
vorzubeugen, in Moskau die besten Arbeiter des Telephonamtes längst erschossen,
traut aber auch den heutigen Angestellten nicht und hat ganz Moskau mit einem
neuen, .sehr dichten Netz von Extra-Telephonverbindungen durchwebt, welches un¬
abhängig von der Telephonstation nur von Kommunisten bedient wird. Aber selbst
damit noch nicht zufrieden, hat man kleine Radiostationen an allen Ecken Moskaus
und im Kreml aufgestellt.
Das 19. Heft der Grenzboten brachte einige Nachdichtungen aus Hases, in
denen ich den poetischen Gehalt einzelner Gedichte und Verse auszuschöpfen und
in eine dem Dichter kongeniale Form zu gießen suchte. Eine der Hauptschwierig¬
keiten bildete die Widerspiegelung des Doppelsinns, der, glühende Sinnlichkeit
als Bild für das Übersinnliche verwendend, bisweilen mit der Ironie des
Romantikers aus der Rolle fällt (vergl. z. B. unter Ur. 459, 6)^ dieses launige
Spiel erzielt poetische Kontraste und wirkt dabei nicht frivol, weil dem pantheistischen
Dichter sich schließlich auch die Sinnenwelt vergoldet. Daß rein-sinnliche Auf¬
fassung, wie sie Bodenstedt vertrat, auf Mißverständnissen beruht, lehren unter
anderm Fälle, in denen Hafis selbst die übersinnliche Bedeutung dem sinnlichen
Ausdruck in Genetivverbindung anfügt und Verse wie der Anfang des letzten
vollständigen Gasels (Ur. 573, 1):
In diesem wörtlich übersetzten Verse wird die Liebe ausdrücklich als die
ewige d. h. himmlische charakterisiert.
Das noch nicht gelöste Problem einer Hafisübersetzung
beschäftigt, und ich möchte heute drei Versuche mitteilen,
falls näher kommen als die freieren Vorarbeiten im 19.hat mich weiter be-
tle seiner Lösung jeden-
Heft.
Die SoMdemowien. ^^Kfzahl WA.^U^
5S"d?^
für den Staat der herrschenden und besitzenden Minderet
aber auf den inneres Ka!.npf gegen diese ^eine internationale Erscheinung sein. Die Ponnr ^ . ^,,„5/ in-..^.
dieser Art. Ihre Volkstribunen überließen dem Senat Wu^Staatspolitik und trieben selbst nur KlassenpolM.
mochten sehen, wie sie die Bedürfnisse des Ganzen in t den Fordern^ d r
Plebejer in Einklang brachten. Gelegentlich übten d' se be em^ de»
Staates auch Erpressung am Staat zur Erzwingung von Klassenforderungen. ^,e
Glieder empörten sich gegen den Magen. Aber im ganzen war doch der Kopf. d. h.
der römische Nationalgeist, so einflußreich, Glieder und Magen zusammenzuhalten.
Die Klassenpolitik der englischen Massen ist dem Staat nie gefährlich geworden.
Jeder Engländer ist eben Mitglied einer gutgehenden Erwerbsgesellschaft zur Welt¬
beherrschung, ein kleiner Dschingiskhan auf Aktien. Das bindet. Ferner hat in
England die regierende Schicht stets den Mittelstand zu sich herangezogen, in sich
aufgesaugt, während in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert eine genügend große
Schicht von Literaten, Politikern, Gebildeten aller Art lebte, die sich im Gegensatz
zu der herrschenden Schicht fühlten. Sie gaben den deutschen Massen die ätzenden,
oppositionellen Führer, ohne welche die Massen keine gefährliche Klassenpolitik zu
treiben vermögen. Sie erwecken immer aufs neue in den Millionen kleiner, die
Politik nicht im ganzen überblickender Wähler den Wahn, als könnte durch Umsturz
oder radikalen Umbau das Los der Mühseligen und Beladenen grundsätzlich verbessert
werden. Da sie immer nur opponieren und Paradiese schildern, ohne je in grauer
Wirklichkeit zu regieren und den Bankerott ihrer Utopien vordemonstrieren zu
müssen, so werden die gläubigen Schäflein nicht alle. Und da der deutschen herrschen¬
den Schicht die kluge Höflichkeit fehlte, womit Engländer und Franzosen seit langer
Zeit den Unterworfenen die Bittemis einzuwickeln geschult sind, so wurde, obwohl
wir im alten Deutschland das beste, uneigennützigste und für die Massen goldenste
Regieren besaßen, welches die Weltgeschichte je gesehen hat, der Klassenhaß bei uns
weniger übertüncht als anderswo. Vor allem, weil der nationale Instinkt bet uns
jung und unentwickelt war. Der Sozialist vertrat die eine der beiden national
instinktlosen Spielarten des Deutschen, die kosmopolitische, am reinsten. Wenn er
die andere Spielart, den Partikularisten, verwarf und dadurch vorübergehend sogar
zur Stütze zentralistisch-unitarischer Bestrebungen werden konnte, so teilte er doch
mit dem Partikularisten die Gabe, den Deutschen anderer Couleur gründlicher zu,
hassen und zu bekämpfen als den nichtdeutschen. Er sah über das Nationale hinweg
und mißachtete die Schranken zwischen Volk und Volk ebenso wie die Schranken
zwischen Stamm und Stamm oder Konfession und Konfession. Solange er in der
Opposition war und andere, national empfindende Kreise regierten, mochte das mit
Mangel an Erfahrung entschuldigt werden, obwohl es tiefer, nämlich im Charakter
des halbgebildeter Deutschen liegt. Aber nachdem der Frieden von Versailles und
eigene Regierungserfahrung die harte nationalistische Wirklichkeit aufgezeigt und
den Untergang einer klassenverhetzten, in Arbeit und Abwehr nicht einigen Nation
erwiesen haben, wie soll man es nennen, wenn die Sozialdemokratie noch heute
Klassenhaß auf Kosten des Volksganzen treibt, heute fanatischer, eigenbeschränkter
als je?
In einer deutschnationalen Volksversammlung saß ich neben Arbeiterfrauen.
Der Redner verlangte, daß Oberschlesien und das Rheinland dem Reich erhalten
bleiben müßten. Die Frauen neben mir riefen entrüstet: „Bluthund! Kriegshund!",
und ihre Genossen klatschten und lachten. Sie wußten ja bei ihrer eintönig klassen¬
mäßigen Politisierung überhaupt nicht, daß diese Länder noch deutsch waren, sie
sahen nur in jedem, der von nationalem Besitzstand sprach, einen Annexionisten,
Kriegstreiber und natürlich auch Kapitalisten, dem man nur niedrige Beweggründe
zutraut und demgegenüber man auch, ob Deutschland zugrunde gehe oder nicht, den
niedrigen Gefühlen des Hasses und des Besitzneides nachgeben darf.
An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Jene armseligen Weibletn, die
Frucht sozialdemokratischer Agitatoren, sind nicht dümmer als ihre Lehrmeister selbst.
Denn auch diese vermeiden jeden Gedankengang, der nicht den Klassenkampf direkt
angeht. Denn das würde die monomane Energie des Klassenhasses schwächen. Das
Nationale würde ja sogar Gemeinsamkeit zwischen Kapital und Proletarier spinnen.
Das darf um alles in der Welt nicht sein. Daß das Kapital, soweit es deutsch ist,
erhalten werden muß gerade um des Arbeiters willen, und daß wir bei deutschem
Kapitalreichtum vor dem Krieg auch glückliche Arbeiter hatten, jetzt dagegen alle¬
samt Lohnsklaven ausländischen Kapitals geworden sind: solche Wirklichkeiten
existieren im Agitatorengehtrn nicht. Dort darf keine Wirklichkeit existieren, kein
logischer Gedankengang, sondern nur aneinandergereihte Jnterjektionen des Klassen-
kampfs. Fort mit der Wirklichkeit, wenn sie meine Gefühle stört!
Der Feind ist grausam; wir müssen einig gegen ihn zusammenstehen, sagt
der Nationale. „Der Feind hat Recht, grausam zu sein, denn wir haben an allein
Schuld", lenkt sofort der Sozialist ab.
Der Nationale: Selbst wenn es so wäre, dürftest du das doch nicht dem Feind
sagen. Und selbst wenn du es sagen wolltest, müßtest du doch gegen die Rachegrau¬
samkeit des Feindes mit mir zusammenstehen.
Der Sozialist: Nützt ja doch nichts, der Feind ist zu stark.
Der Nationale: Weißt du nichts von der Waffe des Schwachen, z. B. dein
Streik? Einigkeit macht stark, nicht nur im Klassen-, sondern auch im Völkerkampf.
Der Sozialist: Befriedige die Arbeiter, dann tun wir mit.
. Der Nationale: Das ist Erpressung. Denn unersättlich begierig Gemachte,
unmögliches Verlängerte zu befriedigen, machst gerade du uns unmöglich. Nun,
ich gewähre dir den inneren Kampf. Er mag weiterdauern. Aber gibt es denn
keine deutsche Solidarität gegen außen?
Der Sozialist: Unsere englischen und französischen Genossen werden Deutsch¬
land befriedigen. Mit den jetzigen feindlichen Machthabern ist doch nichts
anzufangen.
Und so füllt die heute wieder in sich einige, in die utopistische Opposition
zurückgetretene Sozialdemokratie jedem Versuch einer deutschen Regierung, Gesamt¬
deutschland zu vertreten, in den Rücken und richtet, teils unbewußt, teils bewußt,
die Sklaverei des deutschen Volkes mit auf, die ebenso sehr auf dem gebrochenen
nationalen Gesamtwillen der Nation wie auf der Übermacht der feindlichen
Waffen beruht.
Heute aber hat die Sozialdemokratie es wirklich in der Hand, den Bürgerkrieg
als Schlußkapitel der deutschen Geschichte zu beschwören. Denn heute ist der Staat
schwach, seine Autorität zerstört, die Regierung zerstückelt und ärmlich, das Prestige
Um, Not und Verzweiflung, Zuchtlosigkeit und Auflösung als Helferinnen des
-ourgertriegs allgegenwärtig. Und der Bürgerkrieg wird kommen.
Staatsmännisch verbrämt sagt es am Tag nach dem Antritt des neuen bürger¬
lichen Kabinetts die „Freiheit":
-Nicht in der Teilnahme an der Regierung, sondern in der Gewinnung neuer
Mitkänipfer, in der Ausbreitung und Vertiefung des sozialistischen Ge¬
dankens, in der Weckung tatbereiter Entschlossenheit in den Massen, mit
einem Worte in der Verschiebung der sozialen Kräfteverteilung zugunsten
der Arbeiterklasse liegt für uns das Arbeitsfeld. Die Änderung der Macht¬
verteilung in der Gesellschaft ist für uns die Vorbedingung, um eine künftige
Teilnahme an einer Negierung zu ermöglichen, die dann nicht eine Re¬
gierung des sozialen Ausgleichs, sondern des Auftrags der Gegensätze, nicht
eine Regierung der Klassenversöhnung, sondern der Beseitigung der Klassen¬
herrschaft und damit der Klassenunterschiede überhaupt, nicht eine Regierung
des kapitalistischen Wiederaufbaues, sondern des sozialistischen Neubaues der
Gesellschaft sein wird."
Mit diesem Artikel vom 29. Juni 1920 wird vielleicht der künftige Historiker
einmal ein Kapitel vom großen Bürgerkrieg überschreiben. Es besteht ein wider¬
wärtiges Bündnis zwischen den deutschen Linkssozialisten und dem französischen
Imperialismus, um das Polizeiheer, das Deutschland noch besitzt, zu zerschlagen,
^se der deutsche Staat erst entwaffnet, so bricht das tausendjährige Reich der
sozialistischen Träume an. Sein Name ist Fremdherrschaft und Volkstod Aber
»e
Beträchtliche Ereignisse werfen nicht nur ihre Schatten voraus, sondern
pflegen auch rechtzeitig für ebenso eindrucksvolle wie prophetische Symbole zu sorgen,
Gütige Erlaubnis vorausgesetzt, sei es gestattet, die große Revolution des großen
französischen Volkes mit unserem schlichten Bochesaufstand vom November 1918
in Beziehungen zu bringen. Vorm Bastillensturm war es Marie Antoinettes Hals¬
bandgeschichte, die allen Gesinnungstüchtigen die abgrundtiefe Verfaultheit der
herrschenden Klasse am erschütternden Beispiele bloßlegte. Unser roter Spießer¬
aufstand hat es natürlich zu einem ähnlich stark phosphoreszierenden Verwesungs¬
fanal, das seinen dunklen Weg weissagend beleuchtete, nicht bringen können. Er
ließ es sich wohl oder übel an dem berühmten Krupprummel genügen, der wenige
Jahre vorm Kriegsaubruch die liebe deutsche Öffentlichkeit beinahe so fiebernd wie
Zubern erregte. Kruppsche Korruptionsonkel waren beschuldigt worden, die Beamten
eines Berliner Abnahmeamtes dadurch zur Untreue verführt zu haben, daß sie
ihnen gelegentlich einmal abends ein Paar warme Würstchen mit Kartoffelsalat und
dem dazu gehörigen Glas Bier spendiert hatten. Bei Aschinger kostete dieser Genuß
Anno 1910 etwa 50 bis 60 Pfennig.
Zwischen einem Wunder von Halsband und einem Paar warmer Würstchen
bestehen zweifellos Unterschiede, wie zwischen einer in Schönheit strahlenden
Kronenträgerin und einem schlecht rasierten, Röllchen tragenden Bureauassistenten,
oder kürzer ausgedrückt, wie zwischen französischer und deutscher Zivilisation.
Dennoch glaube ich, trotz der Marneschlacht und Versailles, um der historischen
Gerechtigkeit willen, die inneren Ähnlichkeiten festhalten zu sollen. Der Nouhensche
Halsbandschwindel ist, wenigstens soweit die Geschichtsschreiber und die Moralkritiker
in Frage kommen, der armen Marie Antoinette nicht gefährlich geworden. Man
hätte ihr aber in Paris den kleinen Spaß auch dann verziehen, wenn er schließlich
nicht als Falle und Betrug entlarvt worden wäre. Denn sehr bald nach 1789 gab
sich mit solchen Halsbandkleinigkeiten kein revolutionärer Franz Moor mehr ab.
Um echte Republikaner vom Pfade der Tugend fortzulocken, bedürfte es beträchtlich
wertvollerer Kleinodien und größerer Summen. Ähnlich melancholisch wie die Carlos
der Directoirezeit auf das arme Königsweih, blicken heute wir auf die Empfänger
der Kruppschen warmen Wurst. Was ist es doch für ein herziges Deutschland
gewesen, das unter solchen Korruptionserscheinungen litt und dessen freigesinnte
Leitartikler solche Drachen zu bekämpfen hatten.
Mit dein oft gehörten Vorschlage, der sogenannten Korruption tatkräftig auf
den Leib zu rücken, will sagen, Masseneinsperrungen auf Jahrzehnte hinaus vor¬
zunehmen, wird sich kein einziger befreunden. Schon der dadurch verursachten
unüberwindlichen Schwierigkeiten im Baugewerbe wegen. Wer will denn die
erforderlichen Gefängnisgroßstädte auftürmen, wer die Wohnungsnot noch durch
eine Zellennot verschärfen? Viel eher würde es sich schon empfehlen, an Stelle
der gerissenen Spitzbuben aller Couleur die übriggebliebene Handvoll dummer Ehr¬
licher hinter Schloß und Riegel zu bringen und ihnen dadurch den einzig möglichen
Schutz vor Ausbeutung zu schaffen. Im übrigen tun unsere Richter den ihnen
schandenhalber immer noch vorgeführten Korruptionssündern gegenüber ihre behörd¬
liche und beschworene Pflicht. Sie verurteilen, wenn auch ohne Glaube, Liebe und
Hoffnung. Nur dem?vint ä'Lonnsur oder auch nur dem schönen Schein zu
gefallen. Es ist wahrhaftig nicht allein der Umstand, daß die bestehenden Gesetze,
die für eine paradiesisch harmlose Zeit geschrieben waren, auf die geldmachenden
Herrschaften von heute nicht entfernt mehr passen. Selbst wenn es messerscharfe und
tyrannisch harte Paragraphen gäbe, so würde ein vernünftiges Richterkollegium sie
doch nur in sehr seltenen Fällen anwenden. Längst teilt sich unser Volk in zwei
große Gruppen, Wie man früher wohl behauptete, daß hinter jedem Deutschen
ein Schutzmann stünde, so darf man jetzt ruhig sagen, daß jeder Deutsche von seinem
besonderen Schieber ausgesogen und, sofern er des Bestechens überhaupt wert ist,
von seinem besonderen Bestecher bestochen wird. Eine Gruppe betrügt, die andere
läßt sich betrügen; wenn es die Gunst der Verhältnisse einmal gestattet, nehmen
die Betrogenen zur Entschädigung Schmiergelder entgegen. Gegen diese rasch
beliebt gewordene Volkssitte vermag die Justiz nicht auszukommen; sie spielt deshalb,
schon um die Augenbinde der Themis praktisch ausnützen zu können, blinde Kuh.
Selbst ein Drakon hätte übrigens den Fluch der Lächerlichkeit gefürchtet und sich
in Zeitläuften wie den jetzigen hübsch bescheiden zu Hause gehalten. Der Kampf
gegen Jahrhundertgedanken ist stets Narretei gewesen, und eine neue Volks¬
sittlichkeit gibt sich, über altfränkische Biedermeierei zur Tagesordnung übergehend,
ihre neuen Gesetze.
Beruhigend wirkt in weiten Kreisen, daß dank einer wahrhaft weisen Regierung
anfänglich aufgebauschte Lärmfälle, wie zum Beispiel der des Herrn Sklarz, immer
mehr in wohltuende Vergessenheit geraten und daß von den so eifrigen Gesetzmachern,
die Tag für Tag im Halbschlafe mindestens ihre zwei Dutzend Paragraphen er¬
zeugen, kein einziger daran denkt, eine Lex gegen Abgeordnete oder Minister zu
entwerfen, die, wie es in der rohen deutschen Sprache heißt, ihre Vertrauens¬
stellung zu persönlicher Bereicherung gebrauchen. Erzberger wird nach aus¬
gehenden Halsleiden wieder alle Welt zu überreden wissen, wird wieder der Viel-
nmworbene und Einflußreiche von früher fein und uns rasch die letzten Segnungen
des westlichen Parlamentarismus erschließen.
Aus Schieberei und Bestechlichkeit, die man nicht russisch nennen darf, weil das
eine grobe Verkennung russischer Kindlichkeit wäre, hätten uns vor einem Jahrfünft
vielleicht Hindenburg oder Groener retten können, als sie auf dem Potsdamer Platz
Galgen errichten wollten. Obgleich die Leute recht haben, die es grundsätzlich
verpönen, wenn gegen Geist und neue Ideen rohe Gewalt angewandt wird. Heute
würde man übrigens auch mit Galgen und Rad der großen fortschrittlichen Be¬
wegung, die alle Klassen fortreißt, nicht mehr Herr werden. Das ehedem in heftigen
Versammlungserörterungen so beliebt gewesene Wort vom großen Volksbetrug
hat jetzt endlich die richtige Bedeutung gewonnen und ist aus einem Passionen ein
Aktivum geworden.
In Genz ist die Zensur wieder eingeführt und die Preßfreiheit aufgehoben
worden. Nicht infolge eines Rechtsputschcs oder durch sonst einen reaktionären
Staatsstreich. „Die Zeitungssetzcr in Graz haben beschlossen, keine ungarnfreundlichen
Meldungen zu setzen." Sie wollen damit auf ihre besondere Art den von Amster¬
dam her verkündeten Weltverruf Ungarns unterstützen. Haben sie Erfolg, so
hindert sie nichts, den siegreich beschrittenen Weg zu Ende zu gehen. Kein klassen¬
bewußter Setzer setzt mehr, kein Buchdrucker duldet mehr in der Maschine, was
seiner politischen Auffassung widerstreitet. Die antisozialistische Presse und Literatur
verschwindet; widerstandslos nimmt, wer überhaupt noch Zeitung lesen will, den
marxistischen Glauben an. Auf diesen fortschrittlichen und freiheitlichen Einfall
sind nicht einmal die bestellten Gazettengenien des mehr oder weniger aufgeklarten
Absolutismus gekommen. Vielleicht, weil sie machtloser als ihre proletarischen
Übertrumpfer von heute, vielleicht, weil sie schamhafter und sich ihrer Verantwortung
bewußter waren. Ein kluger Kapp der Zukunft hat es jetzt nicht mehr schwer. Er
braucht sich nur auf das Beispiel der Grazer Zeitungssetzer zu berufen, auf den
ihm freundlichst gelieferten, von jeher so beliebt gewesenen Präzedenzfall. Alle
Blätter im Lande werden von weißterroristischen Setzern gesetzt. Familienväter, die
sie nicht abonnieren wollen, dürfen ihre Kinder nicht zur Schule schicken, so daß
nur noch die Sprößlinge politisch zuverlässiger Leute lesen lernen. Für die
Einheitlichkeit der politischen Überzeugung wäre es allerdings besser, wenn über¬
haupt niemand mehr lesen und Gift aus den lebensgefährlichen Zeitungen ziehen
könnte; da aber die Setzer ihr Brot nicht verlieren wollen, ist, zum mindesten für
die ersten Jahrzehnte der bevorstehenden Diktatur, ein gewisses Entgegenkommen
nötig. Man kann dafür den Schreibunterricht abschaffen: sobald keine Schriftsteller
mehr gezüchtet werden (weder rechts- noch linksgerichtete, denn bedenklich sind sie
alle), verschwinden die Zeitungen von selbst. Die Journalisten ihrerseits werden mit
einem solchen Gesetze einverstanden sein: es befreit sie von einem immer lästigeren
Wettbewerb, der einzig und allein daraus entstanden ist, daß jeder Mensch schreiben
lernt und nun natürlich auch schreiben will.
Die Tat der Setzer von Graz ist eine fruchtbringende Tat, unübersehbar in
ihren gesegneten Auswirkungen. (Das modische Wort „Auswirkungen" paßt hier
einmal ausnahmsweise gut her. Wirken wir noch lange so weiter, dann hat die
Demokratie bald ausgewirkt.)
Zwischen den, Theaterdirektor Robert-Kovacs aus Ungarland und dem Präsi¬
denten Rickelt von der Schauspielergenossenschaft hat sich ein heftiger, ins Gerichtliche
ausartender Streit entsponnen, über dessen Eindruck auf die Geruchsnerven man im
Rabbi- und Mönchgedicht des Sachverständigen Heinrich Heine nachlesen kann.
Kovacs hat, und das werfen ihm — selbstverständlich nur aus überirdisch streng
moralischen, nicht etwa aus unterirdischeren Gründen — seine Moabiter Kritiker
vor, u. a. Wedekind dadurch geadelt und künstlerisch durchleuchtet, daß er in der
„Franziska" die Schauspielerin Wojan ungemein fortgeschritten entschleiert auftreten
ließ. Aber für die künstlerische Notwendigkeit des Verzichts auf Kleidung sind
Fachmänner wie der andere Heine, die Exzellenz a. D., und Herr Theodor Wolff
eingetreten. Und der liberal denkende Kovacs hat den kleinbürgerlich sozialistischen
Cato Rickelt niedergerungen. Jede Kultur war verfault, sobald Weiber nackt die
Bühne betraten, und wenn Kovacs der Verfaultheit unserer Kultur hiermit den
Spiegel vorhält, so tut er nur seine literarische Pflicht. Daß ihm dafür höhere Ein¬
trittspreise bezahlt werden, ist eine nicht unerfreuliche, das Zeitbild wertvoll
ergänzende Nebenerscheinung.
Gleich ihm bemühen sich strebend, das soll ehrlich anerkannt werden, die übrigen
Bühnenleiter der Reichshauptstadt. Beispiel: „Eine stark liebebedürftige Herzogin
entdeckt, daß die Geliebte eines Landjunkers, der ihr nicht gleichgültig ist, eine
verblüffende Ähnlichkeit mit ihr besitzt. Um ihn auf die Probe zu stellen und zugleich
die Wonnen eines Stelldicheins mit ihm zu kosten, spielt sie auf eine Nacht die
Tänzerin. Und da er seine Sache so gut macht, avanciert er zum Schluß zum
Leutnant der „Leib"garde, was so viel bedeutet, wie — na, Sie wissen
ja schon." Garstig um das Augenzwinkern des Kritikers! Die Grimasse
verdirbt den Text. Die beiden Bühnen, um die es sich hier handelt,
Tribüne und Thaliatheater, beides Monumente von unserer Zeiten seelischer Größe,
beides Pioniere der vielerwähnten inneren Erneuerung, sträuben sich mit Fug
dagegen, durch die Lustbarkeitssteuer zu bloßen Vergnügungsstätten herabgedrückt
zu werden. Ihnen geht es gewiß nicht ums Geld. Der bankerotten Gemeinde, der
wir alle ausschweifend zinsen, und die die Tausendmarkscheine hernehmen
muß, wo sie sie bekommt, werden auch die Theaterdirektoren ihre Hilfe nicht ver¬
weigern. Aber sie sträuben sich dagegen, ihre Anstalten auf eine Stufe mit Kinos,
Varietes, Lunaparks und Tanzdielen gestellt zu sehen, sie, in deren Hand der
modernen Menschheit Würde gegeben ist und die das Diagramm der heutigen
deutschen Weltseele aufnehmen. Das Theater gehört, auch wenn man von Rein¬
hardts großem Schauspielhause absieht, ganz und gar nicht zu den Lustbarkeiten. Es
sollte dem Institut für Psychologie an der Berliner Universität unterstehen,- weit
wichtiger und lehrreicher als für uns sind seine Leistungen für zukünftige Sitten-
Philosophen.
Rettet Europa! Mit dem Begriff „Bol¬
schewismus", der zum Schlagwort im Partei¬
kampf herabgesunken ist, verbindet jeder einen
anderen Sinn. Während die mehr wissen¬
schaftliche Tätigkeit der deutschen Gesellschaft
zum Studium Osteuropas Wohl nur das
Interesse der dieser Vereinigung nahestehenden
Kreise fand, und während bei anderen Dar¬
stellungen mehr oder weniger die Parteibrille
den klaren Blick trübte, liegt jetzt eine Schrift
vor, welche uns das wahre Gesicht des Bol¬
schewismus in seiner ganzen grauenhaften
Furchtbarkeit vor Augen führt. Diese Bro¬
schüre wird verlegt von der „Einheitsfront",
dem Organ des Volsbundes gegen den Bol¬
schewismus. Der Verfasser, Hauptmann
Franz Cleinow, wendet sich entgegen dem für
unser innerpolitisches Leben so verhängnis¬
vollen Grundsatz: „I^xtra trsvtionem nulla
sxss salutis" mit dem Titel: „Rettet Europa!
Erlebnisse im sterbenden Rußland" an „Bürger
und Arbeiter aller Parteien".
Erst zaghaft bricht sich die Einsicht in den
bürgerlichen Parteien Bahn, daß der Krieg,
welcher das innerste Leben aller Mitkämpfer
in einer bisher ungeahnten Weise aufgewühlt
hat, eine Arbeiterschaft heranerzogen hat,
welche unvergleichlich mehr als vor dem
Kriege über die Probleme des staatlichen
Lebens nachdenkt. Nur wenn das Bürgertum
mit dieser Arbeiterschaft zusammen an der
Lösung der gewaltigen Aufgaben mitarbeitet,
nur dann kann die innere Geschlossenheit
wieder erreicht werden, welche allein Deutsch¬
land vor dem Untergange bewahren kann.
Reißen wir die Binde von den Augen: Wir
wandeln am Abgrund! Alles Debattieren, ob
die Form des russischen Bolschewismus schon
in Deutschlands Gauen sich auswirkt oder
nicht, es ist gegenstandslos: der Bolschewis¬
mus im russischen Urzustande hat sein mord-
beladenes Haupt bereits im Nuhrgcbiet und
im Erzgebirge erhoben, getreu dem russischen
Vorbild. Wie dieses aussieht, das zeigt uns
die Cleinowsche Schrift.
Der erste Teil der Schrift, welcher uns
die persönlichen Erlebnisse des Verfasser«
übermittelt, ist um so wichtiger, als die
Knebelung der bolschewistischen Presse nur
solche Nachrichten in das Ausland passieren
läßt, welche im Sinne der Propaganda
wirken, die als erste Großmacht des heutigen
Nußland für die Idee der Weltrevolution im
bolschewistischen Sinne die gleiche Rolle spielt,
wie Northcüffe für den Entente-Imperialis¬
mus. Wer selbst jahrelang im fremden
Lande das schwere Los eines Gefangenen er¬
trug, kann eS in tiefster Seele nachfühlen,
was hier in so selbstverständlicher Form ohne
jede Sentimentalität berichtet wird. Es ist
schwer wiederzugeben, man muß es lesen, wie
Cleinow als wehrloses Opfer in den mörde¬
rischen Händen der Tschcka-Henker nach grä߬
licher Abschlachtung von Frauen und Kindern
vor seinen eigenen Augen jenen letzten Gang
antrat, von dem ihn nur ein Zufall rettete.
sarkastisch bemerkt der Verfasser zu dieser
radikalen Mordpolitik: „Sie wollen zunächst
Ruhe um jeden Preis, und das haben sie
erreicht." (S. 12.) -
Der wirtschaftliche Teil bringt den Kern-
Punkt in der Beurteilung der gesamten russisch¬
revolutionären Erscheinung. 80 Prozent der
Bevölkerung sind Bauern, welche sich durch
Eigenproduktion am Leben erhalten und ihre
sonstigen Gebrauchsgegenstände auf dem Wege
des Tauschverkehrs mit ihren Produkten er¬
werben. Lediglich auf diese Weise ist das
Durchhalten der bolschewistischen Herrschaft
bis heute zu verstehen. Der Todeskampf der
restlichen 20 Prozent städtischer Einwohner
entzieht sich der allgemeinen Beurteilung.
Was aus dieser Tatsache jene Richtung zu
lernen hat, welche auf den von Nahrungs¬
mitteln entblößten deutschen Industriestaat
das russische Vorbild übertragen will, in
kritikloser Photographie des russischen Phä¬
nomens wie schon 1906 bei der ersten russi¬
schen Revolution, dürfte sonnenklar erscheinen.
Was Cleinow serner über Bewährung
oder vielmehr völlige Zerstörung der russischen
Industrie durch die neuen „erleuchteten" Me¬
thoden zu sagen hat, ist wertvolles Tatsachen¬
material, über das wohl auch unser Neichs-
wirtschaftsrat bei der Wesensgleichheit der
Probleme nicht ohne weiteres zur Tages¬
ordnung übergehen darf. Dem hier erst an
dritter Stelle behandelten Transportwesen
gebührte Wohl die erste Stelle in dieser Ab¬
handlung, da die Zerrüttung der Verkehrs¬
mittel den Hauptgrund für den katastrophalen
wirtschaftlichen Zusammenbruch des Landes
bildet. Aus der Abhandlung über Landwirt¬
schaft ist besonders hervorzuheben, daß das
Märchen von russischen Getreidcüberschüsfen
für Westeuropa als solches gekennzeichnet wird.
Besonders beachtenswert ist weiterhin das
Urteil dieses langjährigen Kenners der russi¬
schen und slawischen Volksseele über die Dauer
der bolschewistischen Herrschaft: Entgegen
übereilten Folgerunge», welche unsere Presse
aus Alarmnachrichten über Leninsche Schwäche¬
anfälle zu ziehen geneigt ist, steht der Ver¬
fasser auf dem Standpunkt, daß mit einer
noch mehrjährigen Periode des Bolschewismus
in Rußland zu rechnen sei. So beachtens¬
wert die Ausführungen über Stellung der
russischen Oligarchen zur Kriegsidee ist —
„sie brauchen den Krieg zu ihrem Bestehen"
(Seite 36) —, so vermissen wir doch an
dieser Stelle eine kurze kritische Skizze über
die Frage, ob der Bolschewismus national
oder international orientiert sei, weil sich
hieraus wichtige Weiterungen ergeben. Wir
erachten die internationale Färbung für ein
propagandistisches Mäntelchen.
Unter den Folgerungen, welche Cleinow
aus seinem umfangreichen Material zieht, ist
bemerkenswert, daß er versucht, den Weg zur
Rettung anzugeben. Wenn er sich zu diesen?
Zweck an die Bürger und Arbeiter ganz
Europas wendet, so stimmen wir ihm mit
dem Hinweise zu, daß die bolschewistischen
Ideen bereits in der ganzen Welt umher¬
gehen. Der Verfasser entwickelt unbewußt
die Ncmmcmnsche Idee weiter, wenn er die
Rettung in dem Gedanken des wirtschaftlich
vereinigten Europa sieht. In diesem Zu¬
sammenhang erinnern wir uns, daß auch in
Deutschland erst die wirtschaftliche Einheit
dem Reiche die Widerstandskraft gegen zer¬
setzende Einflüsse gab. Aber wir dürfen nicht
vergessen, daß die Cleinowsche Idee die Soli¬
darität des europäischen Arbeiter- und Bürger¬
tums voraussetzt Das Machwerk der „Big
Four" hängt trotz Kehnes J'accuse noch
immer als Damoklesschwert über jeder inter¬
nationalen Einigung.
Was wir dennoch für möglich halten, das
ist die Herstellung der Einheitsfront in
Teutschland, in welcher Arbeiter und Bürger
Schulter an Schulter gegen den Bolschewis¬
mus im Urzustande kämpfen. Während der
Proletarier bisher sich stets durch die größere
Leidenschaftlichkeit und Energie auszeichnete,
mit der er den Kampf für die sozialen Ideen
führte, ist es von jeher der Fehler des Bürger¬
tums gewesen, in philiströser Bequemlichkeit
die Hände in den Schoß zu legen. Gibt nicht
auch das von Cleinvw erwähnte völlige Ver¬
sagen der russischen Intelligenz zu denken?
Das Gesunde aus der Ideenwelt des
Bolschewismus muß mit der Kraft, wie sie
neue Ideen fordern, mit geistigen Waffen
durchgesetzt werden. Schon Hegel sagte voraus¬
ahnend: „Wir leben in einer Zeit, in der
die Massen avancieren." Gerade deshalb
rufen wir der Masse der bürgerlich-proletari¬
schen Einheitsfront zu: Seid einig!
Bürger und Arbeiter, rettet Europa!
Rücksendung von Manuskripte» erfolgt nur gegen lieigefttgtes Rückporto.
Nachdruck sämtlicher Aufsätze ist nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlages gestattet.
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v«Der Deutsche Ostmarken - Berein
ist am 3. November 1394 auf Veranlassung des Fürsten Bismarck zur Kräftigung und Sammlung
des Deutschtums in der mit Polnischer Bevölkerung durchsetzten Ostmark gegründet worden. Er ist ein
großer nationaler Volksverein, der keiner Partei, keiner einzelnen Bevölkerungs-
klasse, keiner bestimmten Glaubensgemeinschaft dienstbar sein, sondern einzig und
allein die Gefahr des polnischen Ansturms von unseren» Volkstum abtuenden
will. Ihn bei der Errichtung dieser Ziele zu unterstützen, ist Pflicht jedes Deutschen.
Der Mindestjahresbeitrag beträgt 4 Mark. Anmeldungen zum Eintritt sind zu richten an die
Hauptgeschäftsstelle, Berlin W VS, Bayreuther Straße 13
8 L F-^-Z—.A-^An"?^», >(vsutsclier
llerausZsAedsn vom
«smburgisckkn Welt-Vlirtsrkstts KrcKiv
(^fut^lstklls ciss r-ismbui-Aiselisn Kolomslinstituts)
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»smdurg 2K, KotKenbsumcKsusses S unä äurek
veto I^IeiKners Verlsg ttsmburg. «ermannstrske 44>>>
private Unterrichtsanstalten zu Bückeburg.
- Unter staatlicher Aufsicht. —-
1. Vorbercttungsanstalt sür das Einjährigen-, Prima- und Abiturienten-Examen.
-) Sonderlehrgttnge sür die Vorbereitung von Kriegsteilnehmern auf die er¬
leichterte Kriegsreifeprüfung, b) Borbereitung auf alle Schulvrüfungcn
2. Höhere Handelsschule. Z. Handelsschule (beide mit fachwifsenschastlichc» und
vollswirtschast. Nebenkurse»). 4. Familieninternat nach modernen Erzieyungsgrund-
siitzen. — Beste und reichliche Verpflegung. — 1^-,öff,^,,i-
Prospekt und Auskunft durch den Direktor der Anstalten <^del^t,l->«
erteilen nuk o6er huett, uncl ver
on ater VorgSngen in 6er Volkswirt-
scksit, nomentlicn im Aktien-, DonK-
unci Kürsenv/eher interessiert ist.
vircl grüncilicn informiert liurck 6en
FF
iiritlscne ^eitscknlt iür VolKsvirtscKott
uncl für r'kühn-in'eher / rferousgegeden
von tZeorg vernnsrci / Der I^ome
6Sö riersusgebers bürgt für Unod-
nönglgkelt von ?insni!aliquem / k'rei»
viertelMnrlicK 20 >l«rk. Verlangen
5le sofort ?robenummer vom
^L1'M5 VLKZ-^Q
>V62harry vosberg:
TiliGilenspiegtl
Komödie in vier Auszügen.
M. 5.— geheftet.
Diese Prächtige Schöpfung
Vosbcrgs wurde seinerzeit von
hervorragenden deutschen Bühnen
mit großem Erfolg aufgeführt.
Friedcnsherstellnng:
gutes Papier, guter Druck!
K. F. Koester, Abteilung
Grenzboten, Leipzig «. Berlin.
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? vslireiiil lie? lielliZlliez Vlilliiii-tioii !
unter Mitarbeit von j
i Wilhelm Stein
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. Preis geheftet 10 M.,
gebunden 14.60 M. t
I Mllznschr hat uns Deutschen das I
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I fehlt. Dus Buch Dr.' RothS ji
j wird in bezug auf Polen, daS !
I gerade den minister von uns ver- si
i hältniSm!Wg fremd ist, diesem !
I mangelnden BcrstiindniS abhelfen, ^i
- ». f. Kosuler. wlsz. I.el?zi>
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MNSD NMM SLWSS
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Wer sich Über die Ausgaben des Deutschtums in den
Nachfolgestaaten der österreich-ungarischen Monarchie
Klarheit »erschaffen will, und die verwickelten StaatS-
und Wirtschaftsprobleme dieser Länder im Siidosten
des Deutschen Reiches sowie ihre bedeutenden Möglich¬
keiten fiir deutsche Kultur und Wirtschaft a» der Hand
von Aussigen erster Sachkenner kenne» lernen will,
der lese die „Deutsche Arbeit"
die einzige Zeitschrift, die sich die Vermittlung eiues
besseren gegenseitige» Verstiiudnisses zwischen dem
Deutschen Reiche und den Deutschen im Sudostsn zur
Souderaüfgave gemacht hat.
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Parteien stehend, feindlich jedem Schlagwort, nur
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ach den ein bißchen leicht hingeschriebenen Jndiskretiönchen der
Wirtschaftsphilosophie-Plaudertasche Rathenau lenken dreihundert
Männer die Finanzgeschicke Europas oder der Welt. Man sollte
Demokraten dergleichen nicht erzählen, sollte derartige Sätze, die
unterm Zepter Wilhelms II. als Pikanterien galten und
gemeint waren, aus den neuen Auflagen von Walter Rathenaus gestammelten
Werken streichen. Denn heute wirken sie ohne Not aufreizend und denunzieren
dem souveränen Volke, das sich wenigstens amtlich keine Autokraten mehr gefallen
lassen will, die noch immer nicht entthronten heimlichen Könige von 1920. Die
Enthüllung ist übrigens um so gefährlicher, als es sich gar nicht um dreihundert
Gewaltherrscher des Geldes, sondern höchstens um den dritten Teil handelt.
Walter Rathenau, der außerhalb des Ringes steht und deswegen wohl das
Geheimnis ausgeplaudert hay weiß sehr gut, wie bedroht Ochlokratien auf allzu
schmaler Basis sind.
Hundert bis dreihundert Mann, stärker ist die Kerntruppe einer modernen
Herrscherkaste nie. Ihre Macht liegt darin, daß sie ihre Ohnmacht verschleiert
und den schmählich am Bärbel geführten Nationen ein phantastisches Mit¬
bestimmungsrecht suggeriert. Gegen den einen Rothschild oder Morgan lehnten
sich die Massen vielleicht auf, nachdem sie die weit einflußloseren, weit ungefähr¬
licherer Zaren und Kaiser der Vergangenheit beseitigt haben/ hundert bis drei¬
hundert Tyrannen fürchtet man nicht. Volkstümliche, also abgrundtief irrige
Psychologie! Auf der Neigung des Demos, viel lieber dreihundert Rchabeams
als einen Salomo zu ertragen, ruht die Kraft unserer Finanzgewaltigen. Dem¬
selben populären Trugschluß verdanken wir auch den Parlamentartsmus.
Dank der leider zu spät und unterm Druck der Angst betätigten Großmut
des letzten Hohenzollern sind wir zur Zeit das am parlamentarischsten regierte
Volk des Erdballs. Die Revolution hat seine Gaben nur verwässert und entsaftet.
Was Wilhelm II. den Deutschen in Spa versprach, ist von den ErMern des
9. November nicht gehalten worden. Siebzig Millionen Menschen sollten hinfort,
so klang kaiserliche Willensmeinung, frei über ihr Schicksal verfügen können. Nichts
und niemand, besonders keine Maschinenabstimmung, sollte ihre Wünsche verfälschen
dürfen. „Das Volk regiert", so heißt es, selbstverständlich etwas blumiger und
vieldeutiger, in der Verfassung. Statt dessen regieren die Bosses. Regieren
unumschränkter und minder schamhaft denn vorher. Die Listenwahl, die Ein¬
führung der sogenannten Reichsliste, hat das Mitbestimmungsrecht des UrWählers
endgültig und gründlich erwürgt. Unterm alten Reichstagswahlrecht gab es
immer noch eine Möglichkeit, den Mann seines Vertrauens auf Herz und Nieren
zu prüfen) heute bestimmt das Zentralburcau in Bausch und Bogen die hundert
bis vierhundert Lieblinge der Nation. Sie müssen in Bausch und Bogen geschluckt
werden) du mußt ersticken oder verdauen. Entweder allen Namen der Liste
begeistert zujubeln, auch den gleichgültigsten und verhaßtesten, oder von der Partei
abfallen! Die andere Partei verlangt genau dasselbe, so daß für kritisch Gestimmte
kein Raum mehr im deutschen Parteileben ist. So wenig Raum wie im Reichstag
von 1920 für Eigengcartete und Nichtmaschinemnänncr. Auch die Reichsliste, die
an sich wundervolle Gelegenheit böte, erlesene, für den Pöbelwahlkampf zu feine
Geister in die Volksvertretung zu bringen, muß dazu dienen, den überflüssigsten
und unmöglichsten Parteizwerglein ein Mandat zu sichern. Hundert oder drei¬
hundert Leute bestimmen, wem unser Vertrauen gehört. Die sogenannten
Konferenzen der Partei- und Bezirksorganisationen, die Wählerversammlungen,
die Zettelwahl selbst, all in ihrer Heimlichkeit, sie sind unwesentlich. Es geschieht,
was die Maschine will. Hundert bis dreihundert Diktatoren befehligen un¬
umschränkt.
Also genau neunundneunzig bis zweihundertneunundneunzig zu viel.
Der Parlamentarismus, der immer eine schlechtgemalte Kulisse gewesen ist,
verliert jetzt den letzten Farbenglanz. Und seine berufensten — laßt uns
sagen, seine ausdauerndsten Apostel beginnen an ihm zu verzweifeln. Freiherr
v. Richthofcn, die Hoffnung der Demokratie, äußerte sich in einem streng
demokratischen Börsenblatt verstört dahin, daß bei der unpolitischen Charakter-
cmlagc unseres Volkes ein „diktatorisches Regierungsshstcm unleugbare Bordelle"
habe. Preußen hätte nie das Befreiungsjahr 1813 erlebt, wenn es 1809 einen
Parlamentarismus zu wählen gehabt hätte. Dies urkundlich RichlhosenZ Worte
sind. Und was sonst als der Schrei nach dem Diktator hallt aus.Kanzler
Fehrenbachs wehmutsvoller Antrittsrede: „Wenn irgendwo der bedeutende Mann
mit gewichtigen Arm und anerkannten Ansehen aus bewährter Vergangenheit
gefunden werden sollte — ich preise die Stunde glücklich, wo ich das mir an¬
vertraute Amt in seine Hände übergeben kann." Ich jauchze, wenn licht-
umschwommcn dein Purpurbanner blitzt, ob du mit deinem Kommen auch mich zu
Boden trittst.
Im Augenblick, wo die Räder der Maschine den kümmerlichen Rest der
Wähler- und Volksfreihett zerschrotet haben, wo der Sieg des Boß-Parlamentarismus
vollendet scheint, im selben Augenblick hebt die Parlamentsdämmerung an. Die
Maschinenmänner hätten gar nicht drei Wochen lang Hokuspokus mit der Schaffung
des neuen Kabinetts zu machen und der Nation unvorsichtig klar zu beweisen
brauchen, daß sie sich den Kuckuck um ihr Wahlvotum kümmern. Die Nation
weiß Bescheid. Und wenn sechzig Millionen (es sind immerhin zehn weniger
geworden, seit Wilhelms II. Pronunziamento aus Spa) erkannt haben, daß es mit
der Herrschaft der Dreihundert doch bloß Trugschluß und Trug ist, dann ent¬
schließen sie sich wahrscheinlich sehr bald wieder zu der einfacheren und billigeren
Methode und probieren es neuerdings, in gewandelter Form, mit dem Einen.
Die Reise nach Spa scheint eilte Roßkur für den deutschen Philister zu
werden. Bisher genügte es, den Wählern in Tuttlingen und Memmingen zu
imponieren, um Reichskanzler zu werden) es genügte — net wohr? — vom Fach
nichts zu verstehen, aber ein Demokrat zu sein, um beispielsweise Wehrminister zu
werden. Daß man in der großen Welt außer diesen Vorzügen auch selbst etwas
Welt besitzen muß, wer hätte diese reaktionäre Fachweisheit der Diplomatie noch
ernst genommen?
Von jenem Tag an, da Matthias Erzberger auf der Liste der zu den Waffen¬
stillstandsverhandlungen ausersehenen Männer den ersten Namen — einen diplo¬
matisch erfahrenen, sprachen- und weltkundigen Herrn — mit dicker Feder eigen¬
händig durchstrich und an die Stelle setzte:"
„1. Matthias Erzberger, Staatssekretär, Exzellenz
hat der deutsche Philister dem Ausland eine Auswahl von Vcrhandlnngsmännern
vorgesetzt, „Fleisch von seinem Fleijche", die man im Dialekt der Ausfuhrsachver¬
ständigen nur mit „Dumping" (Schleudern) bezeichnen kann. In dieser Stunde
sollen die bezüglichen Fehler des Buttenhäuser Pfuschers nicht erzählt werden. Sie
haben uns Unglaubliches gekostet. Wenn einmal die Tatsachen völlig bekannt werden,
dürften sich manche Haare sträuben. Sie werden an dem Tag bekanntgegeben,
wo dieser Gerichtsnotorische sich wieder in die Öffentlichkeit drängen sollte. Heute
fällt nicht er auf die deutschen Nerven, sondern ehrenwerte Stammtischpräsidcnten,
die das Vertrauen ihrer ehrenwerten Wähler mit vollkommenem Recht besitzen,
und die nur durch die rührende Selbstzufriedenheit des deutschen Michels dazu
verleitet werden konnten, auf dem Glatteis von Spa sich zu produzieren. Herr
Fehrenbach und Herr Geßler können kein Französisch oder Englisch sprechen. Bis-
marck, der die deutsche Würde sozusagen gegründet hat, sprach selbst als Sieger in
Versailles und als Makler in Berlin ein vollendetes Französisch. Deutsch ist nun
einmal leider keine Weltsprache und wird es im Augenblick unserer Niederlage
nicht werden können. Vor der Abreise nach Spa erhielt die deutsche Regierung
genügend Winke, doch sprach- und weltkundige Redner vorzuschicken.. „^'nAaee?
pas le moiicle avec votre litt^rawre Ällemancle; vous einhole? Wut le morale
par votre elociueirce cle I^eiclistaA. ami ri'est pss ein tout le I-ur^A^e etes Affaires
internationales." Nach zuverlässiger Nachricht ist schon am Sonnabend vor der
Abreise der deutschen Delegation 'im Namen Lloyd Georges dem Reichskanzler
mitgeteilt worden, daß die militärischen Fragen in erster Linie erörtert werden
sollten und daß es ratsam sei, die militärischen Sachverständigen gleich mitzubringen,
Fehrenbach wird diese Mitteilung, da sie in einer fremden Sprache gemacht wurde,
nicht verstanden, aber gutmütig genickt haben. So begannen die Mißverständnisse,
und nun rollte die Deputation des deutschen Kleinbürgers nach Spa, mit ihren
hübschen Neichstagsreden ganz fertig und schwarz auf weiß in der Tasche und den
nötigen Dolmetschern, die Englisch und Französisch kennen, aber auch nicht zu wissen
brauchen, wie Geschichtsleute verhandeln. Wäre die Reise nach München gegangen
oder nach Darmstadt, so hätte sie als genügend vorbereitet gelten können und Fehren¬
bach wäre bei den dortigen Staatsmännern mit dem „in seinem bekannten weiner¬
lichen, aber ehrlichen Brustton vorgebrachten Tiraden" eines kolossalen rednerischen
und diplomatischen Erfolges sicher gewesen. Warum hielt der Zug aber auch in
Spa? Ihm entstiegen im Glanz weltgeschichtlichen Könnens die guten Leute, die
jetzt wie begossene Pudel heimwärts ziehen. Federmann hat ja die Zeitungs¬
berichte gelesen und sich für Deutschland geschämt. Aber das Lächerliche tötet in
Deutschland so schnell nicht und darum stehe hier noch einmal, was die Presse aller
Schattierungen über den e, Juli melden mußte".
Lloyd George eröffnete die Debatte mit der Frage nach bestimmten Daten für
die Abliefern»« der Waffen. Gehler antwortete mit einer längeren Rede. Er schien
noch reisemüde zu sein und wirkte daher wenig überzeugend. Er sprach von den
Schwierigkeiten bei der Verminderung der Truppen, da sich die überzähligen Soldaten
nicht gutwillig heinischicken lassen würden. Er sprach von Gegenden, wo man die
bewaffneten Mannschaften noch brauche usw. Die verlangten Daten gab er aber nicht,
was Llohd George zu verstimmen schien. Geßlers Ausführungen enthielten eben
leine, wie man sagt, schlagenden Argumente. Den schlechten Eindruck der Rede
Geßlers suchtie Außenminister Simons durch seine Rede zu verbessern und
hatte dabei einigelt Erfolg. Dann wurde die Sache wieder schlechter
durch das Eingreifen des Reichskanzlers Fehrenbach. In einer vorher vorbereiteten
Rede, die wieder nicht in die Debatte paßte, weil es eher eine weitschweifige Reichs¬
tagsrede war, versuchte er, an die Gefühle der anderen zu appellieren, als er in einem
sentimentalen Ton äußerte, daß er als ehrlicher Mann sterben und unerfüllbare Ver¬
pflichtungen für Deutschland nicht übernehmen wolle. Wenn solche Argumente an
einem großen Platz vielleicht auch gewirkt Hütten, so verloren sie hier ihre Wirkung
durch die Tatsache, daß alles, Satz für Satz, in trockener Weise übersetzt werden
mußte. Infolgedessen wirkten die deutschen Auseinandersetzungen langweilig und er¬
müdend. Lloyd George tänzelte auch unseren Reichskanzler ganz gehörig ab, indem
er darauf hinwies, daß zur Konferenz Männer gekommen seien, die viel zu drin
hätten und nicht zwecklos ihre Zeit vergeuden könnten. Er verlangte von den
Deutschen, daß sie diesem Unistande Rechnung trügen. Die Deutschen mußten diese
Bemerkung sichtlich niedergeschlagen hinnehmen. Die Franzosen hatten der ganzen
Debatte schweigend zugehört. Es war zwischen Lloyd George und Millerand vorher
ausgemacht worden, daß Lloyd George den Deutschen allein zu Leibe gehen solle.
Ihm gegenüber fehlte es den Deutschen offenbar an der notwendigen Schlagfertigkeit.
Man fühlt, daß sie auf dem Terrain einer kurzfristigen Aussprache nicht' zu Haus
waren und besonders die Eigenheiten des Gegners nicht studiert hatten, um sofort
in der richtigen Weife auf seine Angriffe parieren zu können. Nach der aufgehobenen
Sitzung verließen unsere Delegierten in schlechter Laune den Saal. Fehrenbach
brummte unwillig, weil es regnete und sein Automobil nicht sofort zur Stelle war.
Die verbündeten Minister äußerten, daß die Sitzung für die Verbündeten gut ab¬
gelaufen sei und noch besser zu werden verspreche.
Heiligen Zorn faßt den Deutschen, der wohl weiß, daß wir noch Männer
haben, würdig und fähig, den gerissenen Demagogen von Seine und Themse gegen¬
überzutreten, sie rin deutschen Augen furchtlos und ruhig anzusehen und ihnen
höflich, klar und bestimmt auf ihr übermütiges Siegerprahlen die betreffende Ant¬
wort zu geben. Glücklicherweise waren in Spa auch einige der verachteten Fach¬
leute anwesend. Sie waren zunächst zum Schweigen da. Nachdem sich aber die
Beredsamkeit der Parlamentarier rasch totgelaufen hatte, kamen am nächsten Tag
die Fachleute mit lave? :in6 ki^uro», Simons und Seeckt, zu Worte, und die
blamierten Europäer aus Memmingen wurden vor weiteren Katastrophen behütet.
Einem Deutschen wird der deutsche Wähler niemals zugeben, daß er sich mit
Vorliebe die falschen Männer zum Regieren wählt. Vielleicht glaubt er es jetzt dem
Ausland. Und wenn er es jetzt noch nicht glaubt, dann werden wir eben noch mehr
Rückporto für als unbestellbar zurückgehende Dumpingsendungen bezahlen müssen.
Was du zu produzieren vermagst, lieber Wähler, ist bitte nur für den
inneren Konsum; da kann uns niemand hindern, uns daran den Magen zu ver¬
derben.
„Viele unter den Verbündeten wollten, daß man Deutschland Zugeständnisse
mache, um es zur Unterschrift zu bringen. Im Januar 1919 wollte man Deutsch¬
land die folgenden Friedensbedingungen auferlegen: Sofortige Zulassung Deutsch¬
lands zum Völkerbund) eine internationale Besetzung nur fiir die Dauer von
18 Monaten,' die Kohlengruben im Saargebiet sollten nicht in den Besitz Frank¬
reichs übergehen, auch die dortige Bevölkerung keinem besonderen Regime unter¬
worfen werden) Deutschland sollte nur 40 v. H. aller Schäden an Menschen und
Gütern bezahlen und nach dreißig Jahren frei von allen Lasten sein sowie das
Recht haben, die Hälfte der Entschädigungssumme in Papier zu begleichen/ Oster¬
reich sollte frei dariiber beschließen, ob es sich mit Deutschland vereinigen wolle."
Andr6 Tardieu, Herrn Clemenceaus eifriger Mitarbeiter, hat in seinen
offenherzigen Darlegungen nur verschwiegen, daß Lloyd George nach eben
gewonnenem KhakiwalMmpse vielleicht doch zäher für die geplanten Milderungen
eingetreten wäre, wenn nicht das aus Deutschland hertiberdröhnende „Unterschreiben!
Unterschreiben!" jede Vorsicht unnötig gemacht hätte. Deutschland war, das er¬
kannte der letzte Kindskopf in London und Paris, wirklich kein wildes Biese, das
man nicht all zu sehr in die Enge jagen, nicht all zu sehr zur Verzweiflung
treiben durste. Es hob die Pranke, aber nicht zum furchtbaren Hiebe, sondern
zum Unterschreiben.
Keine Ewigkeit in Spa bringt zurück, was unsere nagenden im Januar 1919
in der Sekunde ausgeschlagen haben.
Spleenige Engländer. Bon Zeit zu Zeit quittiert das englische Schatzamt
über freiwillige Zahlungen reicher Leute, die dem Staate ohne Not oder Gewissens¬
zwang Zuwendungen machen. Kürzlich gingen 200 000 Pfd. Sterling in Kriegs¬
anleihe, dann wieder 15 000 und 20 000 Pfd. ein. Großbritannien hat bisher,
als das Land des business as usu-U, in hohem Ansehen bei unseren Kriegs¬
und Umsturz-Profitlern gestanden. Zeigt es aber weiter so bedenkliche Spuren
von Geistesverwirrung und Entartung, dann wird der alte Respekt bald fort sein.
Gefühlsduselei in Geldsachen sind dem Kapitalsflüchter wie dem Steuerhinterzieher
gleich verächtlich. „Kennst du das Land, wo Sittlichkeit im Kreise froher
Menschen wohnt?"
Europäische Kultur? Europäische Politik?
ß-??S^
Uls im Herbst 1914 Deutschland und die Entente um die Seele
Italiens rangen, verstummten einer nach dem andern alle die Männer
der Politik und der Wirtschaft, die bisher ihr sonnenreiches Vater¬
land nach dem deutschen Norden orientiert hatten. Nur eine kleine
Gruppe von „Triplicistm" hielt dem versenken Deutschland bis zu¬
letzt die Treue, Denker und Gelehrte, Schüler und Freunde der deutschen Kultur.
Es war ein Häuflein von etwa 90 ersten Männern der Wissenschaft und der Feder,
die in ihrem im Winter 1914/15 gegründeten Blatt „Pro Italia nostra" die Neu¬
tralität Italiens (mehr konnten sie nicht fordern) verfochten. Die ententistische öffent¬
liche Meinung des Cafe Aragno gab dein Häuflein bald den Namen des „(üomitato
äsilv maries alvi mogli t,ec!oK<M", ein beißendes Scherzwort, das sich nur an¬
deutend übersehen läßt mit „Ausschuß der Pantoffelmännchen deutscher Ehefrauen".
In der Tat hatten sich nicht wenige dieser mittclmeerländischen Bewunderer deutscher
Wissenschaft auch nordische Gattinnen geholt. Aber der Spott traf vorbei. Der
feurige Literat Cabasino Renda, der sich für Deutschland duellierte, hatte eine
Tochter Hespcriens zur Frau; unvermählt war Cesare de Lotus, Professor an der
Universität Rom, der, als ihn schäumende Studenten vom Katheder reißen wollten,
mit beiden Füßen auf das Pult sprang und die Wahrheit über Deutschland um so
lauter in die Menge deklamierte; vor allem aber konnte nichts echter italienisch
sein, als die Führergestalt dieser tapferen Ehrenmänner, Benedetto Croce, der
Senator und anerkannte größte Mann des Geisteslebens im heutigen Negro.
Als Ende März 1915 in seinen, Patrizierpalast i» der Altstadt von Neapel
— während die Mittagsglut abgedämpft durch halbgeschlossene Fensterläden über
kühle Marmorfliesen und die zahllosen Pergamentrücken einer flüchtig geordneten
vielsprachigen Bibliothek strich — Benedetto Croce mir entgegentrat, der untersetzte
Mann mit dem unschön vierschrötiger Kopf, der eine Welt von Wissen und Können
in sich herumträgt, begann der große Hegelianer realistisch das Gespräch mit einer
Satire auf die Kulturhetze gegen Deutschland. „Ich habe meinen Freunden schon
im August 1914 vorausgesagt, daß nach allen historischen Gesetzen der Kriegs¬
psychose die Boches bald Kindern die Hände abhacken und Nonnen vergewaltigen
würden. Meine Erwartungen wurden übertroffen; heute sehe ich vergewaltigte
Mönche voraus."
Damals war ein anderer Professor, Studicngeirosse Croces, Ministerpräsident.
„Salcmdra ist dein Frieden gefährlich," meinte Croce, „er hat als Dozent kaum
einen Satz auszusprechen gewagt, der nicht in einem deutschen Buch stand. Er
wird in der Politik wenig Rückgrat gegen die Deutschenfcinde zeigen, während der
alte Giolitti, der nie in seinem Leben einen deutschen Buchstaben las, mit dem
Instinkt des wahren Staatsmanns die Notwendigkeit unseres Zusammengehens
mit Deutschland fühlt."
Giolitti und Croce sind die beiden anerkannten Führer Italiens, der eine
auf politischem, der andere auf geistigem Feld. Wir Deutsche entbehren heute des
Führers in beiden, und es ist fraglich, ob in unserer zerspaltenen Nation Naturen
wie jene zwei als Bannerträger anerkannt würden. Heute ist jedenfalls der 78jährige
Giolitti wieder Führer des Staats und er hat in sein Kabinett der Köpfe Croce als
Unterrichtsminister hereingenommen.
Aus französischer Quelle stammt nun folgende Meldung:
Der Unterrichtsminister Senator Croce rechtfertigte sich dem Bericht¬
erstatter der „Agence Havas" gegenüber in würdigster Weise gegen die franzö¬
sischen Vorwürfe einer angeblichen Germanophilie. Er habe dagegen protestiert,
daß die Politik in die Wissenschaft hineingetragen würde. Als Gelehrter
empfinde er es als lachhaft, Beteuerungen irgendwelcher Neigungen verkünden
zu müssen, und — sei es aus welchen Gründen immer — historische Fälschungen
zu begehen. In Fragen der Kultur fühle er sich weder als Franzose, noch
als Italiener, sondern in erster Linie als Europäer. Er meine, daß
die Welt vier Völkern ihre Kultur gleichmäßig ver¬
danke, nämlich Italien, Frankreich, England und
Deutschland. Croce schloß, indem er die Hoffnung ausdrückte, daß die
Zusammenarbeit dieser Staaten baldigst wieder hergestellt werde, da er an¬
nehme, daß auch die besten Vertreter Frankreichs ähnlich denken.
Der Philosoph, der immer geleugnet hat, Politiker zu sein, ist in die Politik
eingetreten, um dem Gedanken der europäischen Kulturgemeinschaft ein neues Zelt
auf Trümmerstätten zu errichten. Hierin sieht er die Aufgabe Italiens, das,
verarmt und militärisch wie jedesmal geschlagen, doch wiederum politisch siegreich
und mit erweiterten Grenzen aus dem Wcltbmnd hervorgeschritten ist. Hat Italien
den Willen und die Kraft, diesen Gedanken voranzutragen, oder ist er nur ein letzter
Seufzn aus dem Kreis jener Neunzig, ein Nachtrag zu dem längst erloschenen
Wochenblatt der „Pantoffelmännchen"?
Die Franzosen haben sich seit dem 13. Jahrhundert als das führende Kultur¬
volk betrachtet. Ihr Rittertum, ihre Universität Paris gab dem Abendland die
Normen, und die Art, wie schon die mittelalterlichen Deutschen von Frankreich An¬
regungen aufnahmen, bestätigte in den Franzosen das Gefühl der Vormacht. Die
eigentümliche Vertiefung, welche in Deutschland alle französischen Kulturkeimc
empfingen, entging den Franzosen um so leichter, als mit Ausnahme etwa der
Periode von 1830 bis 1870 stets nur der Deutsche das Französische, selten der
Franzose das Deutsche studiert hat. Der Franzose redet weit weniger von euro¬
päischer, als von lateinischer Kultur, wobei er im Gefühl der eigenen Führerschaft
die lateinischen Schwestern Italien und Spanien gelten läßt, aber das Germanische
wesentlich unter den jeweiligen Begriffen der Barbarei, der Invasion, der Ketzerei
aus der Kultur hinaussetzt, wie etwa wir es unserseits vielfach mit der ost¬
europäischen Kultur taten. Der tiefste Grund dieses französischen Hochmutes ist der
Instinkt eines politisierten Volkes, alles Nichtcigene an Wert herabzusetzen, durch
Ignorieren oder parteiisches Auffassen zu schwächen. Im Weltkrieg hat die
französische Intelligenz, da sie den Deutschen doch nicht mehr gut als Völker-
wanderungswildcn schildern konnte, den Begriff der „wissenschaftlichen Barbarei"
für uns geprägt. Der Boche mit Brillengläsern und Faunsohren, der Verwüstung,
Raub und Verbrechen aller Art nach abgefeimten gründlichen Methoden treibt,
---- ist das ein Mitglied der europäischen Kulturgemeinschaft? Es gibt eine
lateinische, und eine zwar etwas geschmacklose, aber aus vielen Gründen mit Respekt
zu nennende angelsächsische Kultur, außerdem in der Mitte Europas eine zu
züchtigende, zu erniedrigende, mit Ketten dauernd zu bewachende Verbrcchcrnation.
Die paar Franzosen der Clartögruppe, die im Deutschen den Menschen und Kultur-
gcnossen sehen »vollen, sind an der Seine nicht gesellschaftsfähig. Jede Anerkennung
deutscher Kultur durch angelsächsische oder italienische Politiker involviert eine un¬
zulässige Schwächung des Versailler Friedens und wird durch doppelte Verächtlich¬
machung und Boykott aller deutschen Gedanken wettgemacht.
Es ist falsch, diese hoffnungslose Ablehnung, wie sie aus den mündlichen und
schriftlichen Kundgebungen aller maßgebenden französischen Intellektuellen spricht,
nur für eine vorübergehende Flutwelle nach dem Seebeben des Weltkriegs zu
halten, Sie ist ein säkularer Strom französischer Gewöhnung, der heute freilich
einen tieferen und breiteren See des Hasses bildet als jemals. Aber der Strom, der
Jahrhunderte durchfloß, wird auch in ferner Zukunft nicht versiegen. Denn die.
eigene Kraft und der eigene Schwung französischen Wesens beruhte stets in einer
Autosuggestion der Selbstüberschätzung; der Franzose leistet sein Bestes nur für ein
völlig unvergleichliches Vaterland, und die dunkle Folie dazu gab und gibt der
Erbfeind, der einzige gefährliche Nachbar, gegen den stets alle Kräfte und Instinkte
bei Hoch und Nieder angeheizt werden müssen, der Deutsche,
Nicht so engherzig, aber im Besitz der Weltmacht noch kaltherziger, lehnt auch
der Engländer als politischer Typus heute die Kulturgemeinschaft mit dem Deutschen
ab. Gewiß ist vor dem Krieg der deutsche Professor, der deutsche Seeoffizier, der
deutsche Großkaufniann. der deutsche Theologe anerkannt worden, wobei freilich
immer die letzte Norm und das höchste „Lob" der fast verwunderte Ausspruch blieb:
«Von irr«) lito An on^IisK AMtlvm-in", wobei sehr viele Typen von dieser
Rezeption dauernd ausgeschlossen blieben. Auch die Gesamtkultur des „tatwrliMsl"
ist, solange wir politisch keine Wettbewerber waren, drüben geduldet worden. Erst
vor etwa dreißig Jahren setzte, wie sehr viel früher in Frankreich und aus den-
selben politischen Gründen, die .Kulturhetze gegen das Deutsche ein. Wir meinen
so gern, es komme den anderen auf die Wahrheit, die Wirklichkeit an, Volker, die
von der Politik leben und nicht durch Laboratorien, wie wir, sondern durch Macht
gloß geworden sind, kämpfen für ihre Macht mit allen Mitteln, Die Kultur eines
bekämpften Volkes ist ihnen selbstverständlich auch ein zu bekämpfender Feind, Nun
könnte man denken, da diese Verleumdungswellc in England erst jüngeren Ur¬
sprungs und der fürchterliche politische Zweck erreicht ist, wird sie rascher zurück¬
ebben. Gewiß, Obwohl z, A, die „Times" jeden Deutschen, der noch das Geld
aufdringe» kaun, um dies tägliche Bündel Lügenpapier zu kaufen, rasch davon
überzeugt, daß sich noch nichts gebessert hat, und was am 2, September 1870 ent¬
sprang, dann t8W anschwoll und 191-l kulminierte, auch heute noch strömt, nämlich
das Verächtlich- und Verdächtigmachen des Deutschen in jeder Spalte, in jedem
Belang, Aber dies Weiterciuhauen auf einen Getöteten könnte vielleicht nur Rück¬
sicht auf das wildgemachte Publikum, Rücksicht auf Frankreich usw. sein? Es
könnte einmal zu unseren Gunsten umschlagen? Kämpfe doch die liberale englische
Presse heute wieder unbefangener für ein objektives Verstehen Deutschlands.
Nun ja, man wird vielleicht einmal aufhören, uns zu verfolgen. Das heißt
aber noch lange nicht, daß man sich irgendwie rin uns solidarisch fühlen wird. Die
Angelsachsen werden niemals das Ideal einer europäischen Kulturgemeinschaft
anerkennen. Darüber sind sie längst hinausgewachsen. Christliches Mitleid der
Quäker eines reichen Landes für das herzbrechende Whitechapelverrotten Mittel¬
europas, für die verkrüppelten Gliedmaßen unserer an der „englischen" Krankheit
verhungerten Kinder dürfen wir als Almosen erwarten, sofern wir Bettler dein
wohlhabenden Sieger die Vlutgroschen unserer Kriegsentschädigung pünktlich
abliefen,, Merkantilistische Humanität eines unbekümmerten Welthcmdelsvvlks
dürfen wir erwarten, sofern der Handelsherr an jeder deutschen, Arbeitsstunde mühelos
unverdient. Aber europäische Solidarität gibt es für die weltumspannende und
exklusive angelsächsische Kulturfcunilie so wenig wie europäische Politik für
den Briten.
Nicht in Europa, sondern überall dort auf dem Globus, wo Wasser salzig
schmeckt, ist er daheim. Die europäischen Händel sind ihm wie asiatische Händel,
Er ist kein insularer Europäer mehr, wie damals, als der Jnselsachse Bonifatius
die deutschen Festlandsbrüder bekehrte oder die Enkel Wicliffcs in Wittenberg
studierten. Die angelsächsische Kultur ist in sich fertig und unnahbar. Sie hat sich
geistig das anstrengende und für praktisches Handeln verderbliche Grübeln, die
Tiefen und Zweifel abgeschafft und erntet die fertigen Erzeugnisse deutschen wissen¬
schaftlichen Bohrens, wie sie die Produkte aller Länder einheimst. Aus ver¬
hältnismäßig platten und einfachen Elementen der europäischen Kultur hat sie sich
einen Normaltypus gebildet, ähnlich wie der Römer aus den antiken Kulturen.
Gesellschaftlicher Schliff, häuslicher Komfort, praktische Weltkenntnis, gesunde
körperliche Entfaltung im Sport, wie sie ein Herrenvolk ausbildet, das von Zinsen
lebt und sich nicht mehr in Arbeit abrackert, ausgeglichene, nüchterne, gemeinplätzliche,
langweilig-gemütliche Gleichförmigkeit des Denkens lind Fühlens bei sicherem
nationalpolitischem Instinkt, dieser hervorragend zweckmäßige Normaltypus eines
Besitzervolkes mit ruhigen Nerven lehnt es ab, kompliziertere, unausgeglichenere
Kulturen zu verstehen, „H<z is no Ksntleman", mit diesem Urteil ist die Minder-
Wertigkeit und Gleichgültigkeit eitles fremden Kulturthpus erklärt und abgetan.
Man hat sich mit der unheimlichen Gewalt der deutschen Kultur beschäftigt, solange
deutsche Panzerschiffe, besser gebaut als britische, durch die Nordsee rauschten,
solange die deutsche Handelsbilanz als Summe einer überlegen, schürfenden Volks¬
intelligenz alljährlich neben der englischen in die Höhe stieg. Interesselos ist für
den Engländer alles, was politisch tot ist. Keine kulturelle Neugier wird ihn je
bestimmen, die Hand des Deutschen, zu ergreifen. Wenn heute die „Times" gegen
die Entsendung eines britischen Botschafters nach Berlin wettert, weil für die
Hunnen und Lusitaniamörder noch ein Konsul fast zu gut Ware, wenn in Fragen
der Abrüstung, der Wirtschaft und Finanz der tote deutsche Löwe immer noch wie
ein höchst lebendiger lind gefährlicher Schakal geschildert, jedes neue deutsche
Buch verächtlich besprochen wird, während ein schlechteres französisches höfliche
Komplimente erhält; wenn so durch tausend Zeichen der Verachtung und andauern¬
den Verleumdung das Deutsche im englischen Bereich niedergedrückt und ausgerottet
wird, weil es nun einmal unbeliebt und jetzt auch verachtet ist, so sucht man ver¬
gebens nach den vornehmen Zeichen, eines europäischen oder „Welt"-Gewissens,
das unsere Demokraten gerade von den Engländern mit großer Bestimmtheit er¬
warteten. Es gibt für die Engländer und Franzosen keine europäische Kultur,
weil es für sie keine europäische Politik gibt, Sie wollen nicht Europa, d, h, in
erster Linie Deutschland kräftigen, um daraus Zinsen zu ziehen, sondern sie nehmen
das Kapital, die wohlzubereitetcn Kolonien, die Schiffe, das Geld, Sie annektieren
oder bereiten Annexionen vor, die Engländer, die des deutschen Handels, die
Franzosen, die des Saargebiets und später des Rheinlandes, Das beschäftigt sie,
eine englische bzw, französische Politik des Wegnehmens, nicht eine solche des
europäischen Wiederaufbaues, Und da ihr Kulturgcsühl ein nationales ist, kein
weltbürgerliches, so stört es nicht im geringsten, sondern unterstützt nur eine solche
Politik.
Der weltbürgerliche Deutsche aber — ach! —, der wie Hans im Glück von
Monat zu Monat ärmer, von Monat zu Monat voll von einer neuen tröstlichen
Illusion ist, wartet auf Europa, hört die Vernunft in England und in Frankreich
wachsen, sendet aus seiner einsamen Arche Tauben und Tauben, gibt ihnen wo¬
möglich selbst den Ölzweig im Schnabel mit, und streckt immer neue Hände, umge-
schüttelt bleibende, ins Leere hinaus. Er merkt nicht einmal, wie sehr er sich dadurch
schadet, daß er, der Besiegte, immerzu erste Schritte und Schrittchen tut. Würde¬
lose, taktlose Kreise, die sich im Belügen anderer und ihrer selbst geübt haben,
verleiten ihn fortgesetzt zu diesen mißglückter Versuchen, welche Engländern und
Franzosen erst recht das Gefühl geben, daß der Boche nichts wert, keines aufkündigen
Wortes bedürftig, mit einem Wort kein Gentleman sei. Daß viele, daß die besten
Deutschen an diesem Wesen leiden, tiefer leiden als an der Niederlage und dein
Zusammenbruch, und sich um so stolzer in sich verschließen, entgeht uns nicht. Aber
im Vordergrund agieren die, welche immer zu Europa kommen wollen, weil Europa
nicht zu ihnen kommt.
Welche unglückliche Selvstüberschätzung: Deutschlands Los und Zukunft
beschäftigt wirklich die Welt heute nur in geringem Grade. Uns will es so scheinen,
als ob auch die anderen ohne Deutschland, ohne europäische Solidarität und inter¬
nationale Planwirtschaft nicht hochkommen können, und vielleicht haben wir recht.
Aber den anderen erscheint es eben bisher noch nicht so. Am unglücklichsten aber
wirkt es, wenn wir jetzt unsere Kultur den Fremden aufdrängen, wenn wir am
Köder einer europäischen Kultur eine europäische Politik Heranangeln möchten. Die
siegreichen Italiener dürfen von der europäischen Kuliur reden. Seien wir ihnen
dankbar dafür, aber machen wir uns nicht lächerlich und unsere Kultur zum Schnorrer,
indem wir sie unerbeten hinter den Siegern herschicken. Die große deutsche Sehn¬
sucht nach Europäertum wird weder morgen iwch übers Jahr erfüllt werden. Das
fortwährende Betonen europäischer Gemeinsamkeit stößt Engländer und Franzosen
nur ab.
Dies war kein ritterlicher Krieg, nach dem man sich die Hände schüttelt
und die Wunden verbindet, so wie es früher wohl geschah. Es war die Vernichtung
einer unbequemen Rasse, eines überfleißigen Kulturvolkes, und was von ihm noch
nicht vernichtet ist, unterliegt einem sogenannten Frieden, der ein fortgesetzter Krieg
mit anderen Mitteln, keine Gemeinschaftlichkeit zwischen Menschen ist. Selbst muß
sich dieses Volk helfen oder es hilft ihm nichts. Wenn es stirbt, dann ist auch seine
Kultur zu den Akten gelegt, so wie sie heute schon merklich gleichgültiger für die
Welt geworden ist. Gerne würde die Welt über Deutschland schweigen; das Igno¬
rieren fängt schon an, man hat sich viel zu viel mit uns beschäftigen müssen.
So wäre also nichts zu tun? Und ob!
Unser Körper in der Welt ist totkrank, zerschlagen. Der Geist muß ihn sich
neu bauen, oder er wird nicht neu erbaut werden. Unsere Kultur muß zurückbicgen
zu den Überlieferungen von vor hundert Jahren. Wir kommen nicht hoch durch
die Methoden der augenblicklichen Schieberzeit, aber auch nicht durch die der vor-
kriegsmäßigen spezialistischen, entpersönlichten Büffelei. Nur die Persönlichkeit,
die uns abhanden gekommen ist, wird, wenn wir sie in der Not wiedergewinnen,
auch den Körper des deutschen Volkes wieder erschaffen. Hoffnung auf deutschen
Wiederaufbau heißt heute: Ich glaube an die Wiedergeburt der deutschen Persön¬
lichkeit. Davon wäre ein andermal zu reden. Hier gilt es zu begreisen, daß nicht
europäische Kultur, sondern deutsche Kultur uns nottut und uns rettet. Deutsche
Kultur hat im Gegensatz zur englischen oder französischen schon immer das genügende
Maß von Weltbürgerlichem an sich, um unserer geschichtlich-geographischen Aufgabe
als Herz Europas, zusammen mit Italien, dem anderen Zentralland, gerecht zu
werden. Nur in Deutschland gibt es Weltliteratur und allumfassendes Europäer¬
tum. Aber nicht an Europa wird Deutschland, sondern an Deutschland wird Europa
genesen; vor allem aber wünschen wir Genesung Deutschland selbst.
„Selbst erschuf es seinen Wert", muß es noch einmal heißen. In der Ver¬
schalung des Bismarckschen Reichs war unsere alte deutsche Kultur trotz innerer
Verflachung ein mächtiges Weltwirken geworden. Jetzt wird sie wieder wie vor
hundert Jahren ein offen bloßliegendes Gewebe geistiger Fäden in einem armen,
machtlosen, rings ausgenützten und geschändeten Volk sein. Wenn sie wieder
schöpferisch, innerlich, tief, persönlich, charaktervoll werden kann, so reich und jung,
daß nicht nur die Führer des italienischen, sondern auch die des englischen und
französischen Geisteslebens an diesem Quell zu trinken begehren, dann wird die
Politik vielleicht da und dort ein wenig gezähmt durch Einschläge kulturellen Euro-
päertums. Aber auch nie sehr stark! Und wie weit ist selbst diese geringe Mög¬
lichkeit entsernt; die geistige Absonderung der Nationen ist heute trotz allem Verkehr
größer als vor einem Jahrhundert oder gar einem Jahrtausend, Wo sind die neuen
deutschen Geister, welche die Welt um sich versammeln, so wie Goethe und Hegel
aus einem möglichen Kcistis Croce einen treuen Iwspss machten. Solange nun in uns
selbst jener Wunderquell nicht strömt, seien wir zurückhaltend mit dem Aufbieten
unserer und mit dem Fordern einer europäischen Kultur und formen wir im stillen
ein-uns selbst,
Der Landwirt Fritz Meßkirch in Baden hat im Dorfblättchen diesen Aufruf
drucken lassen:
„Ich war höchst erstaunt, als ich in der Zeitung las, daß von nun an der
Milchpreis 1,50 ^5 für das Liter betragen soll. Denn ich war vollauf zufrieden
mit dem Erzeugerpreis von 1,20 ^5, und ich glaube, auch mit mir wohl viele
Landwirte. Ja, ich halte als Landwirt den Preis von 1,20 ^ schon für reichlich
hoch- Man denke doch daran, daß Milch ein unbedingt notwendiges Lebensmittel
ist. Wer hat die zahlreichen Kinder in den Städten? Es sind die ärmeren
Kreise. Wo sollen denn diese das Geld hernehmen bei diesen hohen Preisen?
Ich habe sechs Kinder und weiß, was ich täglich an Milch für die Familie ver¬
brauche. Denkt doch, Standesgenossen, an die vielen, vielen, die nur geringes
Einkommen haben! Wie muß es da den Eltern schwer ums Herz sein, wenn sie
ihren Kindern keine Milch geben können, weil das Einkommen solche Ausgaben
nicht erlaubt. Wie müssen unter diesem hohen Milchpreis die Kinder der Armen
und Ärmsten leiden, denen damit auch noch dieses so bitter notwendige Nährmittel
entzogen wird. Denkt auch an die alten Leute, die oft nur ein kärgliches Ein¬
kommen haben und die für ihre Gesundheit die tägliche Milch auch sehr nötig
haben.....
— Nehmt nicht mehr als 1,20 für das Liter Milch. Laßt euch nicht als
Preistreiber hinstellen. Denkt an die Not so vieler armer Familien! Zeigt euch
nicht herzlos und gebt durch einsichtiges Maßhalten auch den übrigen Ständen,
den Kaufleuten, Handwerkern usw,, ein Beispiel, wie man mit dem Preisabbau
beginnen soll."
Was kein Erneuerungsbund fertig bekommen wird, das wird glücken, wenn
die innere Erneuerung an den Quellen beginnt, die innere Erneuerung, welche
nichts weiter ist als die alte, leider ganz in Vergessenheit geratene Herzens¬
anständigkeit. Gewiß sind Galgen für die Waggonschieber von beträchtlichem
Nutzen, und gewiß ist die Verpestung unseres Volkes von oben, von den großen
Räubern ausgegangen (Tolstoi würde auch hier sagen: von den Dschingis Khans
mit Telegraph und Telephon, wobei er den Klubsessel nicht vergessen dürfte).
Aber der kleine Mann hat der Seuche allzu willig Haus und Tür und Fenster
geöffnet. Raffgieriger noch und unbarmherziger als der Große, bei dem es die
Masse bringen muß, pliindert er die in seine Klauen geratenen Verbraucher aus.
Läßt sich doch in Berlin von den Obstgroßhändlern nachweisen, daß er das Pfund
Kirschen zu 1,20 ^ geliefert erhält, während er 3 bis 4 und 5 ^ dafür fordert!
Er will mehr daran verdienen, als das Obst auf dem Baum, einschließlich
Pflückerlohn, Bahnversand, Gewinn des Großhändlers, wert ist und gekostet hat!
Wer schafft uns den Erneuerungsbund der Kleinen, den von unten kommenden
Widerstand gegen die ungehemmte Äuswucherung des hilflosen Käufers? Wer
weiß, so vorgehend, besseren Rat als eine stumpfe Regierung, deren Einsicht in''
der Aufforderung an die hungrigen Verbraucher gipfelt, grundsätzlich keine Über-
preise mehr zu zahlen, also freiwillig den füllen Tod durch gesteigerte Unter¬
ernährung zu erleiden? Sobald wir erst einmal diesen Führerund diese Volks¬
bewegung haben, wird es ein leichtes sein, das Galgevholz für die Großen zu
besorgen. Darf man hierbei doch auf besonders günstige Preisangebote von
Genf, den 1.7. Februar 1916.
Es ist nicht gerade der stärkste Augenblick seines voraussichtlich nur sehr kurzen
Ministcrdaseins, in dem Herr Bricmd sich nach Rom begeben hat. Es ist nicht an¬
zunehmen, daß Herr Tittoni, Italiens Botschafter in Paris, nicht darum gewußt
habe, daß es im Ministerium Briand knistert. Herr Tittoni ist zwar seiner politischen
Richtung nach konservativ und klerikal, was ihn aber als Italiener und Diplomaten,
der im Interesse seines Landes mit allen, im Notfall auch mit dem Teufel zu leben
weiß, selbstverständlich nicht hindern wird, zum Großorient Paris vertrauliche Be¬
ziehungen zu unterhalten. Diese Schwäche der inncrpolitischen Stellung des
Kabinetts Briand erklärt auch die nicht zu leugnende Kühle des Empfanges, den
Briand bei der italienischen Regierung gefunden hat und der auch durch die von einem
so gewiegten Regisseur, wie Herrn Bnrröre, inszenierten Straßenkundgebungen der
römischen Teppa nicht vergessen gemacht werden konnte. Die Farblosigkeit der
Trinksprüche, die bei diesem Anlaß zwischen den französischen und italienischen
Staatsmännern gewechselt worden sind, trägt dazu bei, den Eindruck des Mi߬
erfolges der Reise Briands noch klarer zu gestalten. Er hat das eigentliche Ziel
seiner Wünsche nicht erreicht, das dahin ging, Italien zu aktiven Eingreifen aus
einem auswärtigen Kriegsschauplatz an Seite des Vicrvcrbandes zu bestimmen.
In diesem Zusammenhange darf ich Euer Exzellenz gehorsamst melden, daß
nach den mir aus Wien zugehenden Nachrichten Österreich-Ungarn seine Kräfte mehr
und mehr auf den dort ungemein populären italienischen Krieg konzentriert. Die
wenig glückliche Aktivität, die die österreichisch-ungarischen Flieger derzeit in Ober-
Italien entwickeln und die bei der Erregbarkeit des italienischen Temperaments nur
eine Wirkung haben kann, nämlich die, die erschlafften Geister wieder aufzurütteln,
bietet für diese Ausfassung ein nicht zu verkennendes Anzeichen. Wie ein neutraler
Diplomat mir vor einigen Tagen sagte, wirken die Bomben, die auf Mailand und
nun inzwischen auch noch auf andere Städte abgeworfen wurden, wie die Kampfcr-
spritz«. Es soll ganz davon abgesehen werden, daß durch die verschiedenen, gewiß
nicht beabsichtigten, aber nichtsdestoweniger sehr bedauerlichen Beschädigungen, die
mehrere wertvolle Kirchen bereits wieder erlitten haben, der Papst in eine einiger¬
maßen peinliche Lage gerät und ganz naturgemäß in das Lager der Gegner getrieben
Ivird. Es wird österreichischerseits behauptet, man folge mit diesen Fliegerraids
lediglich den Direktiven Berlins, was ich aber für eine faule Ausrede halten möchte,
.Wir haben in Frankreich und England ganz andere Kriegsziele, als Ssterrcich-
Ungarn in Italie», und wenn wir daher in Frankreich und England mit Fliegcr-
erpeditionen aktiv vorgehen, so ist dies noch lange kein Grund, daß Ssterrcich-Ungarn
in Italien das gleiche tut, dem gegenüber es sich vercinbartcrmaßcn eigentlich auf
die Defensive zu beschränken hat. Je mehr .Österreich-Ungarn sich in Italien fest¬
hält, desto mehr Truppen wird es dorthin dirigieren müssen, die dann selbstverständ¬
lich unseren gemeinsamen Aktionen entzogen werden, Verschiedene Stimmen der
«irofzcn Eutentcpresse lassen denn auch erkennen, daß man im Lager des Vicr-
verbandes diesen Punkt auf der Seite der Aktiva verbunst.
Auch auf dem Gebiet der inneren Politik scheinen sich in Österreich-Ungarn
verschiedene Dinge vorzubereiten. Aus Grund von Mitteilungen einer Quelle, die
sich bisher noch immer als verlässig erwiesen hat, ist mit ziemlicher Bestimmtheit an¬
zunehmen, daß Prinz Hohenlohe, derzeit Minister des Innern, binnen kurzem den
Grasen Stürgkh ersetzen und alsdann mit der schönen Aufgabe betraut werden wird,
eine feit längerer Zeit in Ausarbeitung befindliche Verfassungsänderung in Voll¬
zug zu setzen. Es handelt sich hierbei um nichts weniger als um Abschaffung des
allgemeinen Wahlrechts, Reduktion der Zahl der Mandate und SuZpendierung des
Parlaments auf eine vorläufig noch nicht bestimmte Anzahl von Jahren. Man fühlt
sich in Österreich-Ungarn innerpolitisch sehr unsicher und glaubt auf dem Weg des
Staatsstreichs als etwas anderes können derartige Maßnahmen wohl nicht be¬
zeichnet werden — sich eine Art Galgenfrist zu sichern. Ob und inwieweit diese
Erwartungen sich erfüllen werden, wird die Zeit nach dem Kriege lehren.
Genf, den 24. Februar 191«.
Der französische Ministerpräsident hat weder in der Frage der Kriegs¬
erklärung Italiens an Deutschland noch hinsichtlich des Ausgleiches der zwischen
Italien und England bestehenden wirtschaftlichen Differenzen einen Erfolg zu
erzielen vermocht. Was das Verhältnis Italiens zu Deutschland betrifft, so
hält nach meinen Informationen aus Berner neutralen Diplomatenkreisen die
italienische Regierung daran fest, daß sie sich rücksichtlich der Frage, ob und wann
Italien an Deutschland den Krieg erklären will, vollste Entschlußfreiheit wcchreu
'Uüsse. Ich glaube mehr und mehr, daß die Herren Salandra und Sonnino die
Kriegserklärung an uns am liebsten ganz und jedenfalls solange als nur irgend
möglich zu vermeiden wünschen. Es liegen mir Meldungen vor, nach denen die
Einsicht, daß es Deutschland gegenüber am besten sei, den gegenwärtigen Zustand
zu belasse,:, in parlamentarischen Kreisen mehr und mehr Platz greift und daß
die Jnterveutisten, falls sie wirklich beim Zusammentritt die Kriegserklärung
ein Deutschland zur Diskussion stellen sollten, ein vorerst nur sehr schwaches Echo
finden werden.
Es ist mir gestern Gelegenheit geboten gewesen, neuerdings Briefe eines
österreichischen Staatsmannes zu lesen, in denen dieser as äato Wien, 19. Fe¬
bruar, seinem hier lebenden Freunde berichtet, daßdie Deutschen in Konstantinopel
und neuestens auch in Sofia immer weniger beliebt würden und daß man in
Wien ernstlich besorge, die Türkei, der der Fall Erzerum gewaltig in die Glieder
gefahren sei, werde trachten, auf dem Weg eines Separatfriedens mit einem
blauen Auge davonzukommen. Ich bin nicht in der Lage, die Nichtigkeit dieser
Mitteilung zu kontrollieren, glaube sie aber Euer Exzellenz im Hinblick auf die
hervorragende und maßgebende Stellung des Schreibers melden zu sollen.
Bern, den 8. März 191«.
Von einer politisch realisierbaren Friedensgeneigtheit maßgebender
Faktoren ist in keinem der Länder des Vierverbandes die Rede. Der in seinem
Ernst beachtenswerte Ton, auf den die letzten Kundgebungen leitender englischer
und russischer Staatsmänner gestimmt waren, kann dadurch, das; die deutsche
Presse diese Reden als Kapriolen behandelt, nicht an Bedeutung verlieren.
England ist vom Frieden weiter entfernt als je, dafür spricht gleichmüßig die
Haltung seines Parlaments wie seiner Presse und darüber lassen meine Berner
Nachrichten einen Zweifel nicht zu. Rußland ist ebenfalls überzeugt, seiue Lage
verbessern zu können, wenn es durchhält. Italien glaubt nach wie vor seinen
Interessen am besten zu dienen, wenn es unter möglichster Vermeidung von
eigenen Opfern für die Sache des Vierverbandes seinen Krieg gegen Österreich-
Ungarn weiterführt.
Frankreich steht, wie ich bereits früher berichtete, seit Anfang Januar im
Zeichen einer latenten Regierungskrisis. Die Stellung des Kabinetts Briand
hat sich durch den mehr und mehr offenkundig gewordenen Mißerfolg der Rom¬
reise des Ministerpräsidenten verschlechtert, und wenn das Ministerium nicht
heute schon gestürzt ist, so dankt es dies in erster Linie den Ereignissen vor Verdun,
die den Geist der nationalen Geschlossenheit in bewunderungswürdiger Weise
neu belebt haben.
Der Fall Verbums würde jedoch nicht genügen, um die militärische Wider¬
standskraft Frankreichs zu brechen. Frankreich wird sich nur uuter dem Druck
einer katastrophalen Niederlage, unter der Nachwirkung von Schlachten, die die
Vernichtung der französischen Armee bedeuten würden, zumFrieden entschließen.
Eine derartige Initiative Frankreichs wird sich jedoch nach der Überzeugung
meiner Berner Freunde nie in der Linie eines Separatfriedens bewegen, sondern
höchstens in der Richtung der Herbeiführung eines gemeinsamen Schrittes der
Verbündeten einsetzen. Ich warne eindringlich vor einer Überschätzung der
Wirkung, die der etwaige Verlust Verbums auf die französische Mentalität
äußern würde. Deutschland muß sich hüten, in der Einnahme von Verdun mehr
als einen bedeutungsvollen Schritt auf dem Weg zum Sieg zu erblicken. Sollte
man an einen solchen Erfolg dagegen Friedenshoffnungen knüpfen, so würde
dies nach meinen Informationen noch verfrüht sein.
Bern, den M März 1!>16,
Die Erklärungen, die Herr Asquith im englischen Unterhause über die Auf¬
gaben der demnächst in Paris zusammentretender wirtschaftspolitischen Konferenz
des Vierverbandes abgegeben hat, haben erkennen lassen, daß das Projekt einer
den Krieg überdauernden wirtschaftspolitischen Koalition der Signatarmächte des
Londoner Abkommens mehr und mehr greifbare Gestalt annehme. Die Aufnahme,
die sein Gedanke in den wirtschaftlich potentem Ländern des Vierverbandes gefunden
hat, — Rußland scheidet, da fast in allem und jedem, was auf dem Gebiete der
Technik belegen ist, vom Ausland abhängig, als ernst zu nehmender Faktor aus —
ist jedoch keine allzu enthusiastische gewesen. Man ist sich offenbar in Frankreich wie
in Italien gleicherweise darüber klar, daß England eine nach dem Krieg sich zu-
sninmenschließende wirtschaftliche Koalition ebenso ausschließlich für seine eigenen
Ziele und zu seinem eigenen Vorteil nutzbar machen würde, wie es dies jetzt
während des Weltkrieges hinsichtlich der militärischen Kräfte seiner Verbündeten
tut. Bei Italien kommt als besonders ins Gewicht fallender Faktor die mehr als
gereizte Stimmung in Betracht, die in den Börsen-, Handels- und Jndusttiekreisen
des Landes England gegenüber herrscht und die nicht ohne eine gewisse Berechtigung
sein dürfte. Die wirtschaftliche Beengtheit Italiens nimmt, das läßt übrigens auch
die Presse und das lassen die Kammerverhandlungen der abgelaufenen Woche ersehen,
in starkem Maße zu. Die Kohle insbesondere ist nicht nur unerschwinglich, sondern
sie wird nach und nach tatsächlich unersättlich. Man schiebt in den hierdurch
betroffenen Kreisen Italiens alle Schuld auf England und es begreift sich unter
diesen Umstünden, daß Herr Salcmdrci überzeugt sein konnte, in Übereinstimmung
mit sämtlichen maßgebenden Faktoren des italienischen Wirtschaftslebens und des
Parlaments zu handeln, wenn er die, Einladung zur Pariser Wirtschaftskonferenz
nur unter der ausdrücklichen Voraussetzung annahm, daß den dort zu fassenden
Beschlüssen unter keinen Umständen ein bindender Charakter zukommen dürfe,
sondern daß die gepflogenen Erörterungen ausschließlich vorbereitender Natur sein
sollten. Auch in Frankreich, wo man aus anderen Gründen England gegenüber
verstimmt sein zu dürfen sich berechtigt glaubt, steht man dem englischen Projekt einer
wirtschaftlichen Koalition skeptisch gegenüber. Man hätte dort am liebsten von
vornherein „nein" gesagt und hat sich eigentlich nur der öffentlichen Meinung
zuliebe entschlossen, an der Besprechung der englischen Vorschläge teilzunehmen.
Man ist, wie ich höre, in Frankreich, bei aller Vündnisfreundschaft, die man für
England hegt, in oamor-r eariwtis eigentlich nicht darüber unzufrieden, daß die
neue deutsche I1-Bootwaffe mit den, Märchen von der unbestrittenen Seeherrschaft
Englands aufgeräumt hat. Man denkt außerdem in Frankreich viel zu kühl und zu
geschäftlich nüchtern, um sich nicht zu sagen, daß es nach dem Kriege unmöglich sein
werde, die wirtschaftlichen Interessen aller Teilnehmer des Vierverbandes auf eine
gemeinsame Wurzel zu bringen, die so stark wäre, daß das aus ihr erstehende Gewächs
alle wirtschaftlichen Sonderintercssen der einzelnen Nationen überwuchern und
ersticken könnte. In Rom wie in Paris ist man gleichmäßig davon überzeugt, daß
jedes mit England Verbündete Land gut daran tun wird, sich nicht allzu früh von
der City die Wege vorschreiben zu lassen, auf denen es eine möglichst weitgehende
Sicherung seines eigenen wirtschaftlichen Vorteils anstreben soll. Mit der Idee
des Herrn Asguith, daß alle Regierungen des Vierverbandes, jetzt, wo das Feuer
der Begeisterung sozusagen noch lodert, sich in Unterordnung unter die Motive des
englischen Geschäftshungers für die Zukunft nach dein Krieg auf wirtschasts-
Politischem Gebiet festlegen sollen, scheint es somit vorerst nichts zu sein.
Bern, den 13. April 1916.
Sollte Verdun wirklich fallen, so kann dies dem Ministerium die Existenz
kosten, ohne daß Aussicht bestünde, daß ein ruhigeren Erwägungen zugänglicheres
Kabinett an seine Stelle tritt. Diese Informationen stimmen auch mit den
Andeutungen überein, die der französische Botschafter in Bern dieser Tage
einem mir befreundeten neutralen Diplomaten gegenüber gemacht hat und die
dahin gingen, daß der Krieg mindestens noch bis zum Herbst 1917 dauern werde.
Dieser Auffassung begegnet man auch überall da in der Schweiz, wo man
sich mit der letzten Rede des Herrn Reichskanzlers beschäftigt. Die Kommentare
gehen in ihrer Gesamtrichtung dahin, daß sie stark und wirkungsvoll gewesen
sei. Da aber ein äußerlich in die Erscheinung tretender großer Erfolg, der diese
Schwenkung zur Stärke erklären würde, nicht vorliege, müsse man die Beweg¬
gründe, die den Kanzler zur Aufgabe der in seiner letzten Rede zum Ausdruck
gekommenen Friedensgeneigtheit bestimmt haben, in der innerpolitischen Lage
des Reiches suchen. Der Kanzler habe, so fahren diese Kommentare fort^ diesmal
so stark gesprochen, weil er dem Druck der Konservativen gegenüber, die seine
Haltung seit längerer Zeit bemängelten, eine entschiedene Note anzuschlagen
wünschte. Ich glaube, ohne mir persönlich ein Urteil erlauben zu wollen, diese
Kommentare Euerer Exzellenz melden zu sollen, da sie mir von verlässiger Seite
zugegangen sind und einen Rückschluß darauf gestatten, wie die Haltung des
Herrn Reichskanzlers bei den Kabinetten des Vierverbandes beurteilt wird.
Italien will, wie ich sicher höre, sich in seiner Entschließung darüber, ob es an
Deutschland den Krieg erklären soll, freie Hand behalten. Es wünschte in dieser
Freiheit seiner Entschließung daher auch nicht durch die Unterzeichnung des
Londoner Abkommens beschränkt zu werden. Italien will, darüber kann ein
Zweifel nicht bestehen, die Kriegserklärung an Deutschland vermeiden, solange
es nur irgend geht. Wenn es Italien gelang, Frankreich den gewiß berechtigten
Wunsch nach Hilfeleistung in den Tagen des Ringens um Verdun abzuschlagen,
so wird es diesen seinen ablehnenden Standpunkt auch weiterhin behaupten
können.
Nicht ohne Interesse für Euer Exzellenz ist, was ich über die Romreise
Asquiths, über die eine Reihe übertriebener und gänzlich unzutreffender Nach¬
richten verbreitet worden sind, zu melden habe. Der englische Premier hat den
Besuch im Vatikan überhaupt nicht sehr wichtig genommen. Das Gespräch, das
er mit Benedikt XV. führte, betraf Belgien. Herr Asquith gab dem Entschluß
der englischen Negierung Ausdruck, unter keinen Umstünden einem Frieden
beizustimmen, der nicht die volle staatsrechtliche Netablierung Belgiens mit sich
bringen würde.
Was das Urteil anlangt, das man sich in maßgebenden italienischen Re¬
gierungskreisen über die wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit Österreich-Ungarns
gebildet hat, so ist, wie ich vorwegnehmen darf, das Bild weniger düster als an¬
zunehmen war. Man muß offenbar genau unterscheiden zwischen den pessi¬
mistisch gehaltenen Stimmungsberichten, die die italienische Presse zwecks Hoch¬
haltung der öffentlichen Meinung im Lande von Zeit zu Zeit über die wirt¬
schaftlichen Verhältnisse der Donaumonarchie verbreitet und zwischen den fach¬
männisch abgewogenen, nüchternen Urteilen, die man „sntrs nous" äußert.
Man gewinnt den Eindruck, daß die durch den glücklichen serbischen Feldzug
bewirkte Erschließung des Weges nach dem Orient sich für Österreich-Ungarn
sehr nützlich und vorteilhaft erweist.
Die Stimmung der leitenden Kreise in Österreich-Ungarn selbst ist in wirt¬
schaftlicher Hinsicht dagegen offenbar etwas pessimistisch. Es ist mir in der aller¬
letzten Zeit neuerdings wieder Gelegenheit gegeben gewesen, in streng ver¬
traulicher Weise Kenntnis von Briefen hervorragender österreichischer Parlamen¬
tarier zu erhalten, die durchwegs auf die Note ernster Besorgnis gestimmt waren.
Daß Österreich-Ungarn einen weiteren dritten Winterfeldzug führen kann, wird
in diesen immerhin beachtenswerten Äußerungen ernster Politiker bezweifelt.
Auch scheint, daß Österreich-Ungarn mit seinen Reserven an Menschenmaterial
allmählich ins Gedränge kommt, doch wird dieser Punkt von den in Betracht
kommenden Politikern für weniger wichtig erachtet, da Deutschland noch nicht
über eine Reihe von Jahrgängen disponiert habe und daher — man denkt
hiebei an den Aufruf der Jahresklassen 46, 47, 48, 49 — über ganz bedeutende
Rücklage:: verfüge.
Zum Schluß erlaube ich mir, Euer Exzellenz auf die Rede aufmerksam zu
machen, die der Führer der vorerst noch kleinen katholischen Gruppe im italieni¬
schen Parlament, Meta, über den Krieg gehalten hat. Sie läßt keinen Zweifel
darüber zu, daß die katholischen Elemente Italiens ganz uneingeschränkt im
Interessenkreis des Königreiches aufzugehen und eine patriotische Gesinnung
zu bekunden beginnen, die an Starke hinter der der anderen politischen Parteien
und Gruppen des Landes kaum zurücksteht. Dies vergegenwärtigt sich allem
Anschein nach Benedikt XV., wenn er in verständnisvoller Würdigung des
italienischen Nationalgefühls vor allem sich mit Italien ins reine zu setzen
sucht. Es fällt ihm dies um so leichter, als er sich ganz als Italiener fühlt und
nach dem Krieg mit Italien, seinem Vaterlande, dessen Dynastie eine Reihe
seiner Vorfahren bis herab zu seinem Bruder mit Auszeichnung als Soldaten
gedient haben, in guten Beziehungen zu leben wünscht.
Bern, den 25, April 1916.
Nach einer als glaubwürdig seit längerer Zeit bewährten, hochstehenden Wiener
Quelle sind die Österreicher darüber verstimmt, daß Baron Bünau in Berlin beim
Herrn Reichskanzler eine Teilnahme deutscher Streitkräfte an der von Hötzendorff
geplanten, ans bekannten und bereits gemeldeten Gründen verschobenen großen
Offensive gegen Italien nicht durchzusetzen vermocht hat. Nach diesen Informationen
war es hauptsächlich General von Falkenhayn, der sich der österreichischen Anregung
auf das kategorischste widersetzte, und zwar aus zwei Gründen: einmal aus mili¬
tärischen, da der deutsche Generalstab voraussieht, daß eine Offensive am Jsonzo
sich zu einem eventuell sehr großen und viele Opfer erfordernden Unternehmen aus¬
wach sen kann, und zweitens aus politischen, weil General Falkenhayn es für über¬
flüssig erachtet und wohl mit vollem Recht, daß es überhaupt keinen europäischen
Großstaat mehr gibt, mit dem wir im Zeitpunkte des Eintritts in etwaige Friedens¬
verhandlungen nicht im Kriege lägen. Es scheint ja auf der anderen Seite allerdings
richtig, daß weder die Türkei noch Österreich-Ungarn sich noch auf eine sehr lange
Dauer in der Lage sehen werden, den Kampf mitzumachen, und daß Österreich
wohl uoch an? leichtesten bei der Stange gehalten werden kann, wenn es den in den
gesamten Ländern der Doppelmonarchie populären Krieg gegen Italien aufbaut.
Nach der gleichen Quelle wird sowohl in hiesigen diplomatischen Kreisen
Beruf, wie in den am Zustandekommen eines Friedens interessierten Kreisen
Hollands zur Zeit mit Interesse ein Schritt erörtert, den wir via Wien neuerdings
in England im Sinne einer Annäherung unternommen haben sollen. Die Nachricht
war von hier aus vorerst noch nicht zu kontrollieren, scheint mir aber mit Rücksicht
auf die Persönlichkeit meines Gewährsmannes und dessen motorischer Vertrautheit
mit den Vorgängen am Ballplatz immerhin beachtenswert. Sollte sie richtig sein,
so wäre sie angesichts der Nachrichten, die uns aus den Ländern des Vierverbandes
zugegangen sind und übereinstimmend dahin lauten, daß insbesondere in den
leitenden Kreisen Frankreichs eine Friedensgcncigtheit irgendwelcher Art nicht be¬
steht, sehr zu bedauern. Die Stimmung speziell in Frankreich hat sich nach In¬
formationen in der allerletzten Zeit sehr gehoben. Meine Gewährsmänner führen
hierfür sechs Gründe an. Der erste ist der starke französische Widerstand und die
langsamen und kleinen Erfolge vor Verdun, die Einnahme von Trapezunt im Zu¬
sammenhang mit Gerüchten von einem Separatfrieden der Türkei, die sichere Er¬
wartung des Bruchs zwischen Amerika und Deutschland, die aktive Teilnahme
Rußlands an der französischen Front, die auf Italien rllckwirkcn müsse, das voll¬
ständige Stocken der militärischen Operationen der Zcntralmächte in Mazedonien
und Albanien, das Ausbleiben der seit langem erwarteten österreichischen Offensive
gegen Italien, sowie endlich der Tod des Feldmarschalls von der Goltz, der nach
der dortigen Ansicht allein noch die Türkei in der militärischen Gefolgschaft der
Zcntralmächte erhalten habe. Der Ton, auf den auch die ernsteren französischen
Blätter gerade in der letzten Zeit gestimmt waren, steht abzüglich der notwendigen
Tara an Autosuggestion mit diesen Mitteilungen so ziemlich in Einklang. Solange
aber in Frankreich eine derartige Stimmung des Durchhaltcns herrscht, ist mit
einem Abflauen des englischen Kampfwillens nicht zu rechnen. Fühler in England
könnten daher, falls sie wirklich neuerdings wieder gemacht worden sein sollten,
unsere Position für etwaige Friedensverhandlungen nur verschlechtern.
Luzern, den 16, Mai 1916.
Der besonderen Aufmerksamkeit Euerer Exzellenz möchte ich die Anlage
empfehlen, die die Anschauungen behandelt, die über die Minima, pavi-z in England
bestehen. Sie führt die Staatsmänner auf, die die englischen Gewährsleute von Z.
übereinstimmend, von einer persönlichen Teilnahme an den Friedensverhandlungen
ausgeschlossen wissen möchten. Es sind dies auf englischer Seite Asquith und Grey,
auf deutscher Herr von Vethmann-Hollweg und Herr von Jagow. Ich bin übrigens
wiederholt bei neutralen Diplomaten, insbesondere bei Monsignore Marchctti der
Auffassung begegnet, daß sämtliche kriegführende Staaten bei Auswahl ihrer
Friedcnsunterhändler darauf Bedacht nehmen sollten, daß lediglich Persönlichkeiten
genommen werden, die auf dem Gange der Juli- und Augustereignisse des Jahres
1914 keinen maßgebenden Einfluß geübt haben. Ob und inwieweit dieses Postulat
seinerzeit verwirklicht werden wird und überhaupt verwirklicht werden kann, bleibt
abzuwarten. Wie mein Freund in diesem Zusammenhange bemerkte, ist die Stellung
des Herrn Asquith derart erschüttert, daß er es kaum bis zum Abschluß der Feind¬
seligkeiten aushalten wird und Herr Gres unterläßt nicht, von Zeit zu Zeit sein
Augenleiden zu akzentuieren, in dem an sich begreiflichen Wunsch, sich gegebenenfalls
einen guten Abgang zu sichern. Sehr starkes Gewicht dagege scheint England auf
vie Wiederherstellung Belgiens und zwar in seinem vollen Umfange zu legen. Der
Nachdruck, mit dem Monsignore Marchetti die Unverzichtbarkeit dieser englischen
Forderung unterstrich, legt die Annahme nahe, daß er diese seine Information in
erster Linie aus den englischen Kreisen Beruf bezogen hat, die der Gesandt¬
schaft nahestehen. Darüber, daß Benedikt XV. sich mit dem vollen Gewicht seiner
Autorität für Belgien einsetzen wird, kann ein Zweifel nicht bestehen. Das Cha¬
rakteristische dieser Mitteilungen liegt daran, daß sie auf englischer Seite eine gewisse
Geneigtheit verzeichnen, überhaupt über den Frieden zu reden, was, soweit Herr Z.
in Frage steht, heute zum erstenmal der Fall ist. Die Herren Asauith und Grey,
die noch vor einem Jahre von einer unbegrenzten Dauer des Krieges sprachen, sind
bescheidener gewesen und nehmen vorläufig den Spätherbst 1S16 als Zeitpunkt des
Beginns der Friedensverhandlungen in Aussicht. Die Stimmung in England ist
im Abflauen begriffen, wobei wir uns allerdings einer Täuschung darüber, daß
bei uns in breiteren Schichten der Bevölkerung die Unzufriedenheit zunimmt,
ebensowenig hingeben als glauben dürfen, diese Verhältnisse seien unseren Gegnern
nicht bekannt.
In Bern scheinen sich die Gerüchte von einem im Herbst kommenden Frieden,
d. h. zunächst Waffenstillstand, zu verdichten. Doch vermißt man mit Bedauern
die Meldung, daß die Missionen der Entente zu dieser Stimmung auch nur an¬
nähernd die auf sie treffende Quote beitragen.
le politische Bedeutung der Tiroler Frage wurde der deutschen
Öffentlichkeit nähergebracht durch die Stellungnahme des früheren
Reichsministcrs des Äußeren, Herrn Köster, die dieser in der groß-
deutschen tirolischen Tageszeitung „Alpenland" zur Verwertung
2 bekannt gab. Zahlreiche große deutsche Blätter haben die Äuße¬
rungen des Leiters der deutschen Außenpolitik wiedergegeben und Deutsch¬
österreich, vor allem natürlich Tirol, hat ein freudiges Echo für sie gebildet.
Der Neichsminister betonte, daß die besondere Lage Tirols, durch das die
Zwei direktesten Blutadern der Interessengemeinschaft zwischen Deutschland und
Italien führen, dieses an sich kleine, arme und nur aus seiner tragischen Geschichte
von Treue und Heimatlicbe bekannte Land „automatisch in den Vordergrund der
außenpolitischen Fragen" schiebt.
Daran ist nicht zu zweifeln. Der Wall von Haß, den Versailles und als
Ergänzung hierzu Se. Germain und das Deutsche Reich gebaut haben und dessen
Durchbrechung die allernächste Aufgabe deutscher Wirtschaftspolitik sein muß, weist
eine dünne Stelle auf. Gerade die Verbindung nach dem Süden, deren historische
Festigkeit nur durch den Krieg vorübergehend abgerissen wurde, den Deutschland
um Österreichs Willen gegen Italien führen mußte, ist am leichtesten wieder anzu¬
knüpfen. Sympathien zeigen sich in Italien bereits allerwegen; nicht nur in der
Regierung in Rom, sondern auch in den breiten Schichten der Bevölkerung, die die
ersten deutschen Reisenden mit ganz besonderer Aufmerksamkeit und Zuvorkommen¬
heit behandeln. In keinem Lande versteht es die Staatsregierung so
gut wie in Italien, sich jene Stimmung in der Bevölkerung zu schaffen, die sie
für ihre großen Pläne braucht. Die Kriegserklärung an Osterreich ist dafür
ein deutlicher Beweis. Will daher die italienische Negierung tatsächlich eine
Atmosphäre erzeugen, die einer Politik günstig ist, deren Ziel die Wiederannäherung
an Deutschland, ja, schließlich und endlich die Wiederherstellung jener wirklich
freundschaftlichen Beziehungen ist, die früher zwischen den beiden Staaten be¬
ständen, so hat sie zweifellos bereits sehr gut vorgearbeitet. Es wird Riedl oder
Giolitti, es ist ganz gegenstandslos, wie der führende Staatsmann heißt, wenn er
nur nicht „Kricgshetzcr" war, ein Leichtes sein, sich jene Presse und jene Straße
zu bereiten, die im entscheidenden Moment das Echo für eine große außenpolitische
Handlung zu bilden haben.
Diese Handlung ist jene, die gleichzeitig den Schwerpunkt der Tiroler Frage dar¬
stellt, sie ist die R ü et g ab e D e u t s es - S ü d t i r o I s, des Landes vom Brenner
bis Salurn, an das deutsche Volk als Preis für die wiedererlangte
wirtschaftliche und politische Freundschaft des Deut¬
schen Reiches. Das Vertrauen auf die Kraft und Macht des Reiches ist in
Tirol so felsenfest, die Überzeugung, daß das Reich auch heute, auch nach Versailles,
noch soviel innere und äußere Kraft hat, um als Gebender auch fordern und Be¬
dingungen stellen zu können so allgemein, daß es eine schwere Erschütterung des
groszdeutschen Gedankens bedeuten würde, wenn das Volk von Tirol, wenn diese
harten, stillen und zähen Bauern, Bürger und Arbeiter eine Enttäuschung
erlitten. Und sie ist wahrhaftig nicht notwendig.
Es schien anfangs nicht leicht, daß die großdeutsche Idee gerade in Tirol
bald und fest Fuß fasse. Die Überlieferung einer vielhundertjährigen Geschichte,
die sprichwörtlich gewordene Treue zum Herrscherhaus, die Abneigung gegen das,
was sich in Osterreich „Altdeutsch" nannte und mit der „Los-von-Rom"-Bewegung
enge verknüpft war, — alle diese Momente zeigten nach der Novemberrevolution
anscheinend ein günstiges Arbeitsfeld für jene, die einer Wiedererrichtung des alten
Habsburgerreiches den Boden bereiten wollten. Die körperliche und geistige Er¬
schöpfung des Landes nach dem Kriege konnte eine rasche Erholung finden und
damit wohl auch — nach der Ansicht der Anhänger der früheren Zeit — eine
Rückkehr der dynastischen und staatlichen Gefühle erwartet werden. Dies war ein
großer Irrtum. Zunächst zeigte sich in dem tatsächlich immer etwas selbsthcrrisch
gewesenen Volke ein Hang zur Selbständigkeit, der sich in einer Weise offenbarte,
die weit über alles politisch und wirtschaftlich Mögliche hinausging. Die früher
schon geringe Sympathie für die Wiener Zentralstellen wandte sich zur völligen
Abneigung, als das einzige wirklich mit Wien verbindende, mehr gefühlsmäßig als
staatsrechtlich zu wertende Gemeinsame, der Kaiser, wegfiel. Manchen mag es
gewundert haben, daß gerade bei den „kaisertreuen" Tirolern, deren Truppen als
„Kaiserjäger" und „Kaiscrschützcn" in ganz besonderem Maße Träger des
monarchischen Gedankens des ganzen Volkes zu sein schienen, diese Absage an den
Kaiser so rasch und so gründlich erfolgte. Wer aber die Psyche des Volkes kennt,
den wird der äußere Vorgang weniger überrascht haben. Das enge Band, das
Zwischen Tirol und dem Kaiserhaus bestand, war an zwei Namen geknüpft, die dem
ganzen Volke wirklich teuer waren: Kaiser Franz I., unter dem Andreas Hofer den
.Heldenkampf des Volkes im Jahre 1809 führte, und Kaiser Franz Josef I. Für
den alten Kaiser herrschte wirklich Verehrung, Anhänglichkeit und Liebe im ganzen
Volke. Kaiser Karl hatte es nicht verstanden, sie sich zu erwerben und das, was
das Volk in der kurzen Zeit seiner Regierung von ihm zu hören bekam, war nicht
geeignet, ihm die Herzen eines so schwer zu gewinnenden Volkes, wie es die Tiroler
sind, zuzuführen. Er war dem Volke fremd, als er zur Herrschaft kam, und fuhr
als Fremder durch Innsbruck in die Schweiz.
Noch etwas entzog dem letzten Kaiser von Österreich die Anhänglichkeit der
Tiroler: Mit seinem Namen war der V arin se S ü d - T i r o is, die Zerreißung
des Landes verbunden, seiner Politik mußte das Volk die Schuld beimessen, daß
es zum politischen und wirtschaftlichen Tode verurteilt scheint. Wer mit dem Unglück
des Landes belastet erscheint, der kann niemals Kaiser von Osterreich und als solcher
Lnndcsfürst von Tirol sein: das eigene kleine, arme, schöne und von jedem Tiroler
so heißgeliebte Heimatland steht über allem!
Und dies ist der Kern der Tiroler Frage im Nahmen des großdeutschen Pro¬
grammes. Nach Wochen und Monaten des inneren Ringens und Schwankens
Zwischen den Anhängern der habsburgischen Richtung, der Selbständigkeitsvertreter
und der Großdcutschcn hat sich die Erkenntnis Bahn gebrochen, daß nur ein Zu¬
sammenschluß Tirols mit dem Deutschen Reiche sichere Gewähr für die Rückgewinnung
Süd-Tirols bis Saturn und damit Wiederherstellung der Landcseinhcit biete.
Heute glaubt man bis in die entferntesten Täter und bis an den Rand der Gletscher
daran, daß nur das Deutsche Reich imstande ist, uns Süd-Tirol wiederzugeben.
Daraus ist auch die einmütige Zustimmung des ganzen Landes zu allen Anschluß-
crklärungen des Landtages, einzelner Gemeinden und Körperschaften abzuleiten.
Die wirtschaftliche Not ist nicht die Triebfeder des Anschlußwillens, der nationale
Gedanke allein hätte bei einem Volke, das das Deutschsein als eine Selbstver¬
ständlichkeit voraussetzt, nicht jene Wcrbekraft, wie vielleicht in anderen Teilen
unseres Volkskörpers: die liesinnerste bange Sorge um die Heimat als solche ist
der Leitgedanke für den Anschlußwillen. Das wissen die Feinde des Deutschtums
sehr genau. Daher arbeiten habsburgische und mit ihnen französische Agenten neuer¬
dings mit besonderem Eifer daran, dem Tiroler Volk begreiflich zu machen, daß es
auf andere Weise seine Einheit wieder erlangen könne, als durch das gemeinsame
deutsche Vaterland. Deshalb wurde von diesen Kreisen die Unterredung, die Neichs-
minister Köster dem Berliner Vertreter des Innsbrucker „Alpenland" gewährte,
sofort dahin zergliedert, ob sie über Süd-Tirol etwas enthalte, und als dies nicht
der Fall war, als Interesselosigkeit des Deutschen Reiches an Tirols Hcrzensfrcigc
gedeutet. Deshalb verlangen die Freunde des großdeutschen Gedankens in Tirol,
daß die Neichsregicrung bei ihren Verhandlungen mit Italien, sobald sie gebend
ist, die Rückgabe Süd-Tirols als Gegenwert fordere, Italien ist mit dem Raub
des Gebietes von Deutsch-Süd-Tirol, den es auf Anraten einzelner Chauvinisten
verübte, nicht glücklich und wird froh sein, ihn auf anständige Weise, d. h. gegen
entsprechende Kompensationen wieder herauszugeben. Diese Kompensationen darf
im großdeutschen Sinne nur das Deutsche Reich geben, niemals aber
Frankreich, sonst fehlt dem Reiche die verläßliche, sichere Brücke, die
von der deutschen zur italienischen Kultur führt, und feindlicher Einfluß schafft
weiter einen Fremdkörper zwischen dem deutschen Volke und dem italienischen und
verhindert durch ein neues Osterreich die dauernde friedliche und freundschaftliche
Nachbarschaft der beiden Nationen.
Hier handelt es sich um ein Politikum allerersten Ranges, um eine deutsche
Kulturfrage und um das diplomatische Geschick. Großdeutschland muß Tirol um¬
fassen — aber Tirols Grenze muß Saturn und darf nicht der Brenner sein. Und
daß sich das Reich bemüht, tatsächlich diesen Erfolg gegenüber der italienischen
Chauvinistenpartei zu erringen, daß Tirol erkennt und erfährt, wie richtig und
klug sein Vertrauen auf des Reiches Hilfe war, daß aber andererseits dem deutschen
Volkskörper ein wertvoller und gesunder Teil neu angefügt werde, das ist der Kern¬
punkt der Tiroler Frage.
le Betrachtung der russischen Religiosität hat über das objektive,
geistcsgeschichtliche Interesse hinaus eine unmittelbare Bedeutung für
uns: einerlei, ob wir ihre Inhalte bejahend annehmen können oder
verwerfen müssen, — da sich in ihren Trägern in nahezu vollkommener
Ungcbrochenheit und Unabgelenktheit entfaltet hat, so gestattet sie, ja
verpflichteNie andere, den Gewohnheiten und Forderungen des alltäglichen Lebens
angeglichene Formen der Frömmigkeit, sich vor ihr zu rechtfertigen, der eigenen
Lauheit und Bequemlichkeit angesichts ihres unbeugsamen, eifernden Bemühens
um das Eine, das not tut, inne zu werden. Denn was wird in der Gegen¬
wart bei uns nicht alles als Religion bezeichnet! Da religiöse Sehn¬
sucht bei vielen Tausenden deutlich ist, so versäumt kaum eine Macht des
politischen, sozialen, kulturellen Lebens an die Religiosität derer, die sie an sich
ziehen will, zu appellieren. Nirgends so sehr vielleicht wie in der gegenwärtigen
Kunst wird mit dem Begriff der Religion Unfug getrieben. Da die innerste Trieb¬
kraft der wenigen schöpferischen Geister in ihr zweifellos eine religiöse ist, — aber
davon spricht man nicht, Dante, Rembrandt und Bach haben die religiösen Ursprünge
ihres Kunstschaffens nicht beschwatzt — so nimmt sich nun das Heer der Nachläufer,
Snobs und Konjunkturausnutzer das Recht, alle Unklarheit und Faulheit, alles
Riedel'omnem und Steckenbleiben, jede Verirrung und Schändlichkeit als aus der
Tiefe religiösen Empfindens entsprungen zu verteidigen.
Auf diesem Blatte steht auch die religiöse Beurteilung des gegenwärtigen
Sozialismus. Die ganz Feinen haben herausgebracht, daß der Sozialismus, wie er
vor unser aller Augen ist, der bis vor kurzem seine erbitterte Feindschaft gegen
Religion und Christentum mit der (widerlich formulierten) Parole, Religion sei
Privatsache, zu verharmlosen suchte, — das; dieser selbe Sozialismus selber Religion
sei. Mag man nun immerhin in den ursprünglichen Konzeptionen von Marx
Elemente finden, die an eigentümliche Spannungsverhültnisse und Inhalte der
jüdischen Religiosität erinnern, die aber sicherlich durch Hegelsche Logik und die
Gedanken des französischen Anarchosozialismus völlig überdeckt sind, so steht doch
ohne allen Zweifel und ohne alle Diskussion dies fest, daß der Sozialismus von
bellte, der Sozialismus der Parteien und Gewerkschaften, mag er regieren oder in
der Opposition stehen, mit Religion so wenig zu tun«hat wie mit irgendeiner anderen
Form des Geistes. So steht fest, daß die „Gläubigen" dieses Sozialismus dem
unhciligsten aller Phantome anhängen, daß diejenigen, die dieses Phantom mit dem
geistigen Gehalt der Tolstoischen Lehren oder den religiösen Impulsen der Vauern-
und Hussitenkriege oder gar des Urchristentums, in unerhörter Verfälschung seines
geschichtlichen Bildes, zu speisen trachten, gerade an dem Geiste sich versündigen, dessen
unverrückbares und fortwirkendes Dasein ihre Existenz, ihr Tun schlechthin aufhebt
und vor allen kommenden Geschlechtern richtet.
Aus zwei Hauptantrieben ist das weithin bemerkbare Interesse für die russische
Religiosität in Deutschland zu erklären: einmal aus der gewaltigen Wirkung, den
die Persönlichkeiten und das Werk der großen russischen Dichter des letzten Jahr¬
hunderts in Deutschland hervorgerufen haben, — eine Wirkung, die fortwährend,
besonders in der jungen Generation, zunimmt und deren tiefste Ursache einstimmig
in der religiösen, das ganze Leben und Schaffen bestimmenden Grundhaltung dieser
Männer erkannt wird. Ferner in der nachgerade zum Gemeinplatz gewordenen
religiösen Bestimmtheit des russischen Bolschewismus. Von dieser letzteren soll hier
nicht die Rede sein? eindeutige Bekundungen liegen von ihr, soweit ersichtlich, nicht
vor, vielmehr scheinen die geistigen Grundlagen des Bolschewismus eher eine
Negation als eine Erneuerung der russischen Frömmigkeit zu bedeuten; und jedenfalls
wird hier genau wie bei uns zwischen der schlechthin unreligiösen, skeptisch-nihilisti¬
schen Gesinnung der Führer und der irregeleiteten Sehnsucht der Geführten zu
scheiden sein.
Eine Grundlage für die Beurteilung dieses Sachverhalts ist nur in der erst¬
genannten Richtung zu gewinnen. Die Frömmigkeit der großen russischen Dichter
muß in ihrer Eigenart und ihrer geschichtlichen Stellung verstanden werden, ehe die
späteren Gestaltungen betrachtet werden können. Jene Dichter gewähren uns einen
unmittelbaren Einblick in den Aufbau religiöser Persönlichkeiten, die dank den
besonderen Bedingungen der russischen Geistesgeschichte in einem ganz anderen Sinne
dem Ganzen des Volkes, mit seinen Leiden und Sehnsüchten, eingegliedert bleiben,
als das im Westen irgend möglich ist. Die die Schlichtheit des religiösen Erlebens
mit hellseherischer Erfassung der unabsehbaren Kompliziertheit des seelischen Lebens
zusammenschließen, und denen zum Ausdruck des Erlebten eine künstlerische Meister¬
schaft zu Gebote steht, die die russische über alle anderen Literaturen des 19, Jahr¬
hunderts hinaushebt.
Und dennoch findet man bei denen, die am stärksten von dem Werke Gogols
oder Dostojewskis ergriffen sind, und gerade bei ihnen, eine vollkommene Unfähigkeit,
ihre Ergriffenheit zu begründen und anderen verständlich zu machen, Sie ver¬
mögen nur zu sagen, daß der gewonnene Eindruck in die tiefsten Tiefen ihrer Er-
lebnissähigkeit hineinreiche, sie mit Bildern und stärksten Gefühlen gänzlich erfülle,
— daß er aber jeder begrifflichen Wiedergabe Spotte. Die Abgeschlossenheit und innere
Erfülltheit der Toten Seelen oder der Brüder Knmmasow sei eine so vollständige,
daß man keine Einzelheiten aus ihnen lösen und sie mit unseren Worten aus-
sprechen könne. Und dazu komme die völlige Andersheit und Fremdheit des
russischen Geistes dem unseren gegenüber, die besonders alle die vielen behindere,
die von ihm mächtig angezogen werden, aber nicht in Rußland gelebt haben, noch
der russischen Sprache mächtig sind.
So müssen wir nach Führern suchen, nach Menschen, die Russen geblieben sind
und doch unsere Sprache zu reden verstehen. Die anderen, die Westler geworden
sind, können uns nicht helfen: Turgenjews franzoselnde Eitelkeit, Solowjews ver¬
stiegene Metaphhsik belasten uns, anstatt uns zu fördern. Uns liegt zunächst daran,
in das religiöse Wesen Nikolai Gogols Einsicht zu gewinnen; denn er hat eine
neue Epoche der russischen Literatur heraufgeführt, wie Dostojewski durch die
bekannten Worte bezeugt, die er im Hinblick auf Gogols größte Novelle sagte: „Wir
alle kommen aus dem Mantel'," Als berufener Führer bietet sich uns Dmitri
Mereschkowski, dessen zu wenig beachtetes Buch „Gogol, sein Werk, sein Leben
und seine Religion" bereits vor neun Jahren in deutscher Sprache erschien (bei
Georg Müller, München und Leipzig).
Mereschkowski gibt weder Biographie noch literarische Darstellung, es liegt ihm
lediglich daran, aus dem Ganzen des Gogolschen Schaffens die eine eindeutige
Tendenz, die dies ganze Schaffen durchdringt, herauszustellen. Und diese Tendenz
ist eine religiöse, und zwar zunächst in einem wesentlich negativen, kämpferischen
Sinne: das heißt, Gogols Wille ist es nicht so sehr, die Heiligkeit und Liebe Gottes
zu bekunden, als vielmehr den Kampf gegen das Widergöttliche, gegen den Teufel
und alle Gestalten, die er annimmt, zu führen. Und das besondere, ganz eigen¬
tümliche Kampfmittel, das Gogol gegen den Teufel anwendet, ist das Lachen.
„Mein ganzes Streben geht dahin, daß jedermann, der meine Werke gelesen hat,
nach Herzenslust über den Teufel lachen kann." Wo findet man den Teufel, welche
Masken muß man abreißen, um ihn zu finden? Er erscheint nicht mehr in der unver¬
kennbaren, furchtbaren Gestalt, in der er den Anachoreten der früheren Christenheit
erschien, — und doch ist er überall. Denn er ist nichts anderes als die „unsterbliche
ewig menschliche Gemeinheit und Plattheit", das ewig Mittelmäßige und Durch¬
schnittliche, der Laue und Opportunist, — oder, um ihn in der Gestalt zu
nennen, die er unter uns am liebsten annimmt: der „Taktiker". Der Taktiker, das
ist derjenige, der das Leben in Politik verwandelt, in eine Politik, die nicht
schöpferisch, sondern mächlerisch ist, — der weder Stolz noch Demut kennt, sondern
nur Schikane oder Unterwürfigkeit, der nicht der Ewigkeit dient, sondern dem Tage,
der alle Welt überlistet und sich selbst betrügt, der überall am Werke und
doch nirgends zu stellen, ist. Dieser Teufel ist nicht schrecklich, sondern ganz
gewöhnlich, er ist nicht wild und heftig, sondern stellt sich auf den
Boden der nüchternen Tatsachen. Dabei ist er phantastisch und gefühlvoll oder,
genauer gesagt, in seinem Vorstellen, Denken und Handeln verlogen, verlogen bis
in die letzte Geste und in das flüchtigste Wort. Und in dieser Verlogenheit offenbart
sich die ganze Nichtigkeit, die dämonische Leere und Fürchterlichkeit seines Daseins,
— wer ihn sieht, und mit der künstlerischen Sehschärfe Gogols sieht, der müßte
erstarren, besäße er nicht, als ein Geschenk Gottes, das befreiende Lachen.
Man versteht nun die beiden Pole, zwischen denen die Welten der beiden
Hauptwerke Gogols, des Revisors und der Toten Seelen, sich bewegen. Die in
ihrem Mittelpunkte stehenden beiden Hauptpersonen sind niemand sonst als der
Teufel selbst, der die Welt Gottes durch seine Mittelmäßigkeit und seine Verlogenheit
zerstören will. Und das eine Ziel, zu dem er die Welt hinführt, ist das maßlose,
lähmende Grauen, das wir in unglaublicher Höchststeigerung in der pantomimischen
Schlußszene des Revisors erleben, — das andere ist das große Gelächter, in dem
beide Werke untergehen, und das Gogol ein andermal und unter anderem Betracht
„das große Gelächter des russischen Gewissens über den russischen Staat" genannt
hat. Mit diesem Lachen kämpft Gogol gegen den Teufel, — sein Kampf ist noch der
unsere, dieselben Dämonen, die er zum erstenmal offenbar gemacht hat, und gegen
die dann Dostojewski sein Leben lang kämpfte, bedrohen uns noch in jeder Stunde;
aber wir dürfen sie nicht mehr auslachen, wir müssen andere Waffen suchen, —
und auch diese neue Waffen finden wir bei Gogol.
In Gogols weiterem Schaffen tritt ein positives religiöses Streben immer
stärker hervor. Sein äußerer Ausdruck ist der „Briefwechsel mit den Freunden".
Meisterhaft versteht es Mereschkowski, dem tiefes Nacherleben des Religiösen und
Menschlichen, scharssinnige ästhetische Auffassung und Kritik und ein literarischer
Ausdruck von seltener, suggestiver Kraft eigen sind, den Kampf um dies Buch zu
schildern, in dessen Verlauf alle anderen den Dichter aufgaben, bis er sich selber
aufgab. In ihm wiederholte sich in der Tiefe seines Wesens der Zwiespalt zwischen
Geist und Fleisch, zwischen einem Christentum des Weltverzichtes, der Askese und
kirchlichen Gebundenheit und einem „Heidentum" der naiven, vollen Weltfreude,
der Hingabe an alle Fülle und Buntheit des Lebens, ohne Beschränkung und
Verzicht, jedem Verlangen und Sehnen nachgebend, einem Heidentum, wie es den
Dichter besonders in der Zeit seines römischen Aufenthalts beherrschte. Sein Leben
verzehrte sich in diesem Zwiespalt. Die Bindung an seinen Beichtvater, einen
strengen Vertreter griechisch-orthodoxer Wcltflüchtigkcit, half ihm nicht, sondern
trieb ihn bis zur Selbstzerstörung in freiwilligem Hungertod und geistiger Um¬
nachtung; und noch in dem letzten Schrei des Sterbenden: „Eine Leiter! bring
schneller eine Leiter her!" hallt dieser Kampf wider, — aber Mereschkowski kann auf
eine Stelle des Briefwechsels verweisen, in der der Kampf ausgefochten und die
Überwindung nahegcrückt ist: „Gott weiß es, vielleicht wird schon um dieses einzigen
Wunsches willen eine Leiter vom Himmel herabfallen und sich uns eine Hand ent¬
gegenstrecken, die uns hilft auf ihr emporzuklimmen."
Denn in der Leidenschaft und den Qualen dieses Kampfes gibt es einige Aus¬
blicke, die uns weiter helfen und uns vor dem Untergang, dem der Dichter nicht
entging, bewahren. Ein solcher Ausblick ist der Gedanke einer neuen russischen
Kritik (S. 138), die nichts gemein hat mit der westeuropäischen Kritik, sondern
„ein ewiges und universales religiöses Bewußtsein, einen notwendigen Übergang von
der dichterischen Kontemplation zu einer religiösen Handlung, von Wort zu Tat
darstellt". Und dazu tritt der Gedanke einer neuen Kirche, die die Form für das
neue Christentum, in dem Geist und Fleisch eins sind, schaffen soll. „Diese Kirche
bietet Raum nicht nur dem Herzen und der Seele des Menschen, sondern auch
seiner Vernunft in ihren höchsten und stärksten Äußerungen. Sie ist der Weg und
das Mittel, um alle Kräfte und Regungen des Menschen zu einer einzigen har¬
monischen Hymne zu vereinigen." Wer erwartet diese Verkündung aus dem
Munde eines Russen!
Hier weicht der Krampf und die Verzweiflung, die Schatten der Schuld und
Hoffnungslosigkeit werden von der Gnade des kommenden Reiches überstrahlt, und
die angstvollen Gebete und Schreie weichen der demütigen Mahnung, die des
Dichters letztes Wort an die Seinen und an uns ist, die sein Leben und sein
Lebenswerk zusammenfaßt und uns zu Verwaltern seines Erbes beruft: „Seid keine
toten, sondern lebendige Seelen. Es gibt keine andere Türe als die, die uns
Christus gezeigt hat."
I is in der Deutschland vernichtenden Welttragödie des Krieges der
Vorhang hinter dem ersten Akt „Tsingtcm" fiel, ahnten die wenigsten
daheim, um was es mit diesem Kleinod deutscher Kolonisation im
! fernen Osten ging, Es war ja nicht nur dieses kleine Jnselchen
in dem Meer deutscher Interessen in Ostasien, dieses Musterlager
^1 deutscher Kultur, deutscher Industrie, deutscher Volkswirtschaft, das
man uns raubte. Tsingtau war auf dem Wege, ein Ausstrahlungspunkt aller
unserer wirtschaftlichen Beziehungen mit dem ostasiatischen Koloß zu werden.
Und wenn deutsche Handelskreise in China, oft nicht ohne Unterstützung kurz¬
sichtiger Reichsvertreter, hie und da sich geflissentlich dieser Erkenntnis verschlossen,
so hatte ein gutes Teil Schuld daran der historische E.ntwicklungsfaden des nach
Übersee strebenden Deutschland. Viel auch trug zu dieser beklagenswerten Kurz¬
sichtigkeit die dem Deutschen eigene Eigenbrödelei und die Scheelsucht bei, mit
der jeder nur sein kleines Eigeninteresse sah, ohne das Ganze ins Auge zu fassen.
Es hat deutsche Kaufleute in Schanghai gegeben, die noch nicht lange vor
dem Weltkriege emphatisch den Gedanken vertraten: „Was soll uns die deutsche
Kriegsflagge hier im Osten, wo doch alles englisch orientiert ist? Wir haben
unter englischem Handelsprotektorat bessere Geschäfte gemacht als jetzt unter eng¬
lischem Mißtrauen. Bleibt uns mit euren Gernegroßideen vom Leibe!" Das
war noch damals so, als der erste Iltis am Schankung-Vorgebirge scheiterte. Es
kam noch 1910, wenn auch leiser und verblaßter, zum Ausdruck, als schon ein
stattliches Kreuzergeschwader die Parität deutscher mit den englischen Interessen
in den chinesischen Gewässern versinnbildlichte.
Deutschland hatte sich im Kiautschou-Vertrag 1898 erhebliche Gerechtsame
gesichert. Außer dem Schutzgebiet von über 500 Quadratkilometer Bodenfläche
war ihm als deutsches Hoheitsgebist die Bahnlinie nach Tsinanfu, der Hauptstadt
Schantungs, nebst einem einige 20 Kilometer breiten Streifen rechts und links
der Bahnlinie zugebilligt worden. Die Bergbaugerechtsame innerhalb dieser Zone
gingen auf Deutschland über. Außerdem hatten sich die Chinesen verpflichtet,
zwei Bahnlinien, deren Trasher noch näher zu bestimmen blieben, zur weiteren
Erschließung Schantungs zu bauen.
Der Vertrag, der weit davon entfernt war, imperialistischen Eroberungs¬
zielen des Deutschen Reiches zu dienen, vielmehr lediglich ein abgerundetes
Wirtschaftsprogramm enthielt, um China kulturell und handelspolitisch näher zu
kommen durch die Eingangspforte Tsingtau, wurde nicht nur von den Chinesen,
sondern vor allem auch von den anderen fremden Mächten mit äußerstem Mi߬
trauen aufgenommen. Man hatte plötzlich allenthalben vergessen, daß es England
in Hongkong, Frankreich mit seinen südchinesischen Besitzungen ebenso, wenn nicht
noch viel prononzierter, nach der imperialistischen Seite hin, gemacht hatte.
Erst das erste Jahrzehnt dieses Jahrhunderts sollte zeigen, wie ehrlich es
Deutschland, im Gegensatz zu anderen fremden Mächten, mit China meinte. Der
territoriale Einbruch Rußlands in China, die Besitzergreifung der Mandschurei
und Koreas durch Japan sind noch zu lebhaft in aller Erinnerung, als daß es
weiterer Erörterungen darüber bedürfte. Was sich der öffentlichen Kenntnis ent¬
zieht, ist die Haltung Deutschlands während dieser tollwütigen Jagd um chinesischen
Besitz. Hätte das Deutsche Reich mit seinem Tsingtau-Unternehmen andere als
kulturelle und kommerzielle Ziele verfolgt, so hätte es während dieses ersten
Dezenniums reichlich Gelegenheit gehabt, sich die Einflußsphäre Schankung nach
dem Muster Japans in der Mandschurei zu sichern. Lockend trat der Versucher
oft heran. Die Aufteilung des Himmlischen Reiches in Interessensphären wurde
von Japan und England wiederholt ernstlich diskutiert. Immer stand Deutsch¬
land unverrückbar fest auf seinem Standpunkt Seite an Seite mit Amerika. Die
Politik der offenen Tür war und blieb seine Devise bis zum Weltkrieg. Sie wäre
als klare Richtlinie trotz aller sonst so verschwommenen deutschen Politik im fernen
Osten auch weiter beibehalten worden, denn Deutschland hatte das größte Inter¬
esse an einem integrer China. Und ließ sich diese Politik der offenen Tür nicht
ausgezeichnet vereinigen mit einer wirtschaftlichen Erschließung Schantungs, bei
der deutscher Unternehmungsgeist und deutsches Kapital den arbeitsamen, genüg¬
samen Chinesen den Elan geben sollte in einer abgesehen von den unterirdischen
Schätzen armen Provinz?
Nun, der Weltkrieg hat wie durch alle deutschen Interessen im Auslande auch
hier einen dicken Strich gemacht. Heute stehen wir vor der Liquidation dieses
kostbarsten Restes unserer wirtschaftlichen Zukunftspläne in China. Japan hat
sich nach dem Versailler Vertrag bereit erklärt, unter Anrechnung auf seine Kriegskosten
den deutschen Privatbesitz in Schankung vollwertig abzulösen. Und es verlohnt
sich, einen Blick zu werfen auf das, was wir hingeben müssen an realen Gegen-
wartswerten und zukünftigen Entwicklungsmöglichkeiten.
Die über 400 Kilometer lange Schcmtungbahn nach Tsinanfu war ur-
sprünglich mit, wenn ich nicht irre, 54 Millionen Mark Aktienkapital gebaut
worden. Ihre Trasse verläuft durch den koste- und erzreichsten Teil der Provinz.
Entgegen der noch heute nicht ganz überwundenen Annahme der Japaner hat
sich das Deutsche Reich mit keinem Pfennig an dem Bahnbau wie an allen
wirtschaftlichen Unternehmungen in Schankung beteiligt. Japan erlebte in diesem
Punkte die erste große Enttäuschung seines Tsingtcmabenteuers. Weil es selbst
alle seine großen Kolonialunternehmungen staatlich unterstützt, um ihnen in Zeiten
wirtschaftlicher Depression neuen Odem einflößen zu können und fremdländische
Konkurrenz nach Möglichkeit durch Unterbieten auszuschalten, nahm es gutgläubig
und als selbstverständlich ein ähnliches Verfahren auch bei Deutschland an. Dem
glücklichen Umstand aber, daß alle deutschen Unternehmungen in Schankung
reiner Privatbesitz sind, ist die volle Ablösung der Werte zu danken, zu der sich
Japan heute bereit findet.
Mit der Fertigstellung der Eisenbahn war auch die Schankung-Bergbau-
gesellschaft mit nicht ganz 10 Millionen Mark Aktienkapital ins Leben gerufen
worden. Im Verwaltungspersonal in Berlin mit der Eisenbahngesellschaft liiert,
bildete sie doch zunächst ein selbständiges Unternehmen, das leider infolge mancher
Mißgriffe in der bergwerklichen Erschließung lange Zeit zum Siechtum verurteilt
blieb. Den Kohle- und Eisenerzreichtum der Provinz hatte schon der Geograph
Richthofen in seinem meisterlichen Werke in ausführlichen Darlegungen geschildert
und die Hauptorte in genialer Intuition bezeichnet. Da es sich nach Fertig¬
stellung der Bahn zunächst aber um schnelle Schaffung von Einnahmequellen
handelte, so kam vorderhand nur Kohle für den Abbau in Frage. Und hier
hatte man in der Wahl des Feldes, das man zuerst abhauen wollte, fehlgegriffen.
Die Kohlefelder von Fangtse erschienen auf den eisten Blick zwar vielversprechend,
erwiesen sich aber bei weiterem Abbau als eitel Blendwerk. Das Gestein zeigte starke
eruptive Versetzungen, die Kohle war minderwertig und so gasig, daß häufiger
schlagende Wetter den Betrieb gefährdeten. Erst nachdem man hier in Fangtse
sehr kostspielige Förderanlagen und Wohnstätten für das Personal geschaffen
hatte, sah man den Irrtum ein, und es ist vor allem dem überaus tüchtigen
Bergwerksdirektor Brücher zu verdanken gewesen, daß man spät, wenn auch
nicht zu spät, die weitere Erschließung Fangtses ganz aufgab.
Nach Überwindung zäher Widerstände drang Brücher mit seinem Vorschlag
schließlich durch, die Hungschan-Felder im Poschangebiet auszubeuten. Brücher' hatte hier durch Bohrungen die außerordentliche Reichhaltigkeit und Güte des
Kohlevorkommens schon frühzeitig festgestellt und seine Gesellschaft immer wieder,
wenn auch lange Zeit vergeblich, darauf hingewiesen, daß Fangtse ein tot¬
geborenes Kind sei, und daß die Morgenröte des Unternehmens hier in Hung-
schan läge, das schleunigst erschlossen werden müßte.
Aber noch ein anderer Umstand führte zu dem langen Darben der Berg¬
baugesellschaft. Die Fangtsekohle war durch ihre Langflammigkeit als Schiffs¬
kohle und damit für den Export und für unsere Kriegsschiffe nicht nur ungeeignet;
sie war auch zu teuer. Und diese unverhältnismäßig hohen Kosten wurden trotz
der sehr geringen chinesischen Arbeitslöhne in erster Linie durch den 180 Kilo¬
meter langen Eisenbahntransport nach dem Hafen Tsingtau erzeugt. Eisenbahn-
und Bergbaugesellschaft arbeiteten in diesem Punkte nicht in gemeinsamem
Interesse, wie es die Entwicklung so junger, mit einem noch sehr unsicheren
Absatzmarkt rechnender Unternehmen erforderte. Beide Gesellschaften hatten das
natürliche Bestreben, schnell das Vertrauen ihrer Aktionäre und der Börse zu ge¬
winnen. Dabei war aber die Bergbaugesellschaft völlig in den Händen der
Eisenbahn mit ihren Kilometertarifen, gewissermaßen das Ausbeutungsobjekt und
der Sklave. Wollte sie ihre Kohle nicht nur zu Schleuderpreisen und in unzu¬
reichenden Umfang als Hausbrandkohle an Ort und Stelle absetzen, sondern
auch exportieren, so mußte sie den ihr auferlegten Bahntarif zahlen. Dieser war
aber verhältnismäßig hoch. Beide Unternehmungen tränkten jahrelang an einer
falschen Organisation und dem Mangel an weitsichtiger, auf die Zukunft be¬
rechneter Arbeit. Ich will damit keine Vorwürfe erheben. Uns mangelte die Er¬
fahrung und vor allem das Vertrauen des deutschen Großkapitals in koloniale Unter¬
nehmungen. Die Eisenbahn hatte ja zu Anfang auch schwer zu kämpfen, um
sich durchzusetzen. Die Provinz Schankung war arm in landbaulicher Hinsicht.
Große Gütertransporte kamen vor der erst um 1909/10 voll einsetzenden Er-
schließung nicht in Frage. 50 Prozent aller bewegten Werte entfielen auf Kohlen.
Die Tarifpolitik der Eisenbahn war also verständlich, wenn auch kurzsichtig.
Erst mit dem Aufschließen und vollkommenen Ausbau von Hungschan, mit
der Einsicht, was man hier an wertvollsten Kohlenschätzen für alle Zwecke, den
Export, die Verkokung, den Hausbrand, besaß, änderte sich die Wirtschaftspolitik
beider Gesellschaften. Schließlich wurde auch der letzte Hemmungsrest einer ge¬
sunden Entwicklung im Jahre 1914 durch Fusion beider Gesellschaften in eine
gemeinsame Eisenbahn- und Bergbaugesellschaft beseitigt. Die Aktien der Berg-
baugesellschaft gingen zu 60 Prozent ihres Wertes in die Hände des gemeinsamen
Unternehmens über. Die Eisenbahngesellschaft hatte sich zu diesem Zeitpunkt zu
imposanter Größe und Wirtschaftskraft entwickelt. Das neue Unternehmen wurde
mit einigen 60 Millionen Mark Aktienkapital fundiert.
Den eigentlichen Anstoß zu dieser Verschmelzung gab aber nicht, oder nicht
in erster Linie, das schwache Rückgrat der Bergbaugesellschaft. Werte von unschätz¬
barer Größe lagen aus deutschem Gebiet in den Eisenerzfeldcrn bei Tschantien
und Tschinlingtschen brach, der Erschließung harrend. Das 300 Kilometer von
Tsingtau entfernte, 6 Kilometer nördlich der Schantungbahn gelegene Gebiet um¬
faßt drei Gebirgszüge in einheitlichem Erzvorkommen, den Fenghuangschan
nordöstlich, den Tieschan als Mittelgruppe und den Sypauschan westlich. Ein¬
gehende Untersuchungen hatten schon seit Jahren auf den riesigen, ohne nenn¬
bare Gestehungskosten realisierbaren Wert dieser Eisenerzlager hingewiesen, aber
die Eisenbahn- und vor allem die Bergbaugesellschaft fühlten sich noch nicht stark
genug, um an einen rationellen Abbau im großen zu gehen. Wie sollten die
Erze verwertet werden? Am bequemsten und risikolos war offenbar ihre Ausfuhr
an das eisenerzhungrige Japan. Dahingehende Versuche im kleinen sind ohne
nennbaren Erfolg gemacht worden. Auch die Einfuhr der Erze nach Deutschland
ist in den letzten Jahren vor der Fusion ernstlich diskutiert worden, sie scheiterte
an den zu hohen Frachtraten. Es blieb schließlich nichts anderes übrig, als an
eine Verhüllung an Ort und Stelle zu denken. Und in der Tat waren die Vor¬
bedingungen hierfür so günstig wie überhaupt nur denkbar. Da lagen die Kohlen
des Hungschangebietes dicht neben den Erzen, kaum 30 Kilometer von ihnen ent¬
fernt, beide Rohstoffe unmittelbar an der Bahn. Wo in der ganzen Welt traf
man ähnlich günstige Verhältnisse an? Die Frage war nur: Würde ein Hütten¬
werk, etwa bet Tschinlingtschen, auf die Dauer genügendes und brauchbares Roh-
Material finden, und würden es die Chinesen überhaupt gestatten? Gewiß hatten
wir nach dem Kiautschouvertrag das Recht, auf unserem Grund und Boden zu
tun und zu lassen, was wir wollten. Aber inbezug auf die Errichtung eines
Hüttenwerkes war die Auslegung zweifelhaft, und die Chinesen wiesen denn auch
bei allen darauf hinzielenden Sondierungen das Ansinnen, ein deutsches Hütten¬
werk im Schantunghinterland zu errichten, kurzweg ab. Damit schien der Eisen¬
bahn- und Vergbaugesellschaft die Gesamtfrage erledigt. Die Idee, den gordischen
Knoten zu durchhauen durch den Bau eines Eisenwerkes im, deutschen Schutz¬
gebiet, kam ihr zunächst zu phantastisch vor, um sie ernstlich in Erwägung zu
ziehen. Wie sollte sich bei dem unsicheren Absatzmarkt ein Eisenwerk rentieren,
das inbezug auf Heranschaffung seines Rohmaterials auf einen Bahnstrang von
300 Kilometer Länge angewiesen war?
Dem Reichsmarineamt ist es zu danken, daß die sachliche Durchprüfung
dieser Frage im Interesse der deutschen Volkswirtschaft trotz dos Widerstandes
gewisser Industrieen und des Großkapitals im Winter 1913/14 durchgesetzt
wurde. Der Generaldirektor der Dillinger Hüttenwerke, Herr Weinlig, erhielt
von der Bergbaugesellschaft den Auftrag, die Frage an Ort und Stelle zu
studieren und ein Gutachten einzureichen. Im Frühjahr 1914 lag das gesammelte
Material vor, Herr Weinlig befürwortete emphatisch den Bau eines Eisenwerks
im Schutzgebiet. Nun konnten sich die beiden interessierten Gesellschaften nicht
mehr sträuben. Eine Verschmelzung zur Sanierung der Bergbaugesellschaft fand
statt, und das neue Unternehmen bewilligte 10 Millionen Mark Aktienkapital für
den sofort in Angriff zu nehmenden Bau eines Eisenwerks in Tscmgkou, 18 Kilo¬
meter von Tsingtau entfernt. Alle Maschinen, Hochöfen usw. wurden sofort in
Auftrag gegeben, die ersten Spatenstiche tat man im Mai, — da kam der Krieg.
(Ein zweiter Artikel folgt.)
Grausame Komödie in endloser Wiederholung. Mußten die Engländer und
Franzosen ihr viviäs se) impviÄ erst ihrerseits auf uns anwenden, sie könnten es
niemals so gut, wie wir selbst uns die Spaltung und ihnen die Herrschaft besorgen.
Seltsam, daß der Feind bei der Kohlenfrage nicht nachgegeben hat.
Diesmal sah es doch wirklich so aus, als ob ganz Deutschland in der Weigerung
sich einig wäre.
Sah so aus, das ist es eben. Es sah zu sehr aus. Die Komödie war zu oft
schon abgespielt: Weigerungsschwur, Nütliattrappe daheim, Stirnrunzeln des
Feindes, Auseinanderfallen und eifriges Sichbefehden der Deutschen, schließliche
Neuvereinigung in Unterwerfung und Unterschreiben.
' Die Entente weiß doch, wie es in Deutschland aussieht, hat nicht umsonst in
den Unabhängigen ihre Partei, Agenten, Ephialtesse in hellen Haufen.
Hand aufs Herz, trauten wir selber denn überhaupt, als die Spaaer Szene
uns plötzlich Parlamentsbosse, Stinnes und Arbeiterführer in Einheitsfassade
bengalisch beleuchtete? War es nicht zu schön, um wahr zu sein?
Die Entente hätte diesmal bestimmt keinen Einmarsch ins Ruhrgebiet gewagt,
wenn wir wirklich ehrlich und einmütig zur Weigerung entschlossen waren. Wäre
der deutsche Arbeiter ein Mann, so hätte er den Franzoseneinmarsch mit dem
Generalstreik beantwortet und die Internationale aufgerufen, wie gegen Ungarn.
Aber da Hu6 in Spaa nur etwas in den Bart murmelte (auch er hat die Arbeiter
nur hinter sich, wenn er hinter den Unabhängigen herläuft), da Fons erklärt, daß
der deutsche Arbeiter sich kuscht, daß er zum Sklaven geschaffen ist, so brauchte
man höchstens Lebensmittelzüge mitbringen, Futter, Köder, und der Ruhrkuli
arbeitete auch unter der Negerpeitsche, wie die Saar arbeitet, wie Diedenhofen
sich kuscht.
Nur weil die Entente wußte, daß der Einmarsch unsere Einheitsfassade um¬
würfe, hat sie die Drohung mit dem Einmarsch riskiert. Sie hat uns nicht ernst
genommen, obwohl wir durch den Streik gerade in diesem Fall eine Waffe besessen
hätten (stehe Kapp-Pulses, aber der ging nur gegen Deutsche), eine Waffe, um
einmal dem Feind unseren Willen zu zeigen, ja ihm unseren Willen endlich einmal
aufzuzwingen.
Aber der deutsche Arbeiter zwingt nur deutschen Kapitalisten seinen Willen
auf, ruiniert sie und damit sich selbst, befördert hingegen die maßlosen Kohlen¬
förderungen der Feinde und ruiniert damit abermals sich selbst.
Die deutschen Arbeitervertreter, als sie in Verdacht gerieten, rin Stinnes
eines Sinnes zu sein, rückten gleich heftig ab, dementierten, reisten von Spaa
weg. Betonten,, daß sie der Entente mehr geben wollten als die deutschen
Kapitalisten.
Schon wird auch Demokratie und Zentrum schwach, nun die Sozialdemokratie
abschwenkt. Die französische Presse beschimpft Stinnes, weil er in der Kohlenfrage
nicht nur Rückgrat, sondern auch Macht besitzt. Das sollte ganz Deutschland Ver¬
anlassung geben, gerade diesen Mann in dieser Frage zu halten. Das Gegenteil
ist der Fall: Stinnes' innenpolitische Gegner freuen sich geradezu, am „Matin"
einen Bundesgenossen zu finden. Die „Frankfurter Zeitung" betont, wie un¬
geeignet Stinnes wäre, er besäße nicht das Vertrauen des Auslandes und unsere
Diplomatie operierte nicht so geschickt, wie in der Entwaffnungsfrage. Das heißt:
ihr sollt nachgeben. Solche Zeichen beobachtet die Entente (sie hat es kaum mehr
nötig), läßt Fons über die Bühne stampfen, die Deutschen 24 Stunden in der Ecke
stehen, und schon wird deren Hals lang und länger, ihr Gesang bang und bänger,
und bald läuft Professor Bonn, der Eifrige, der Ölige, der überall dabei gewesen
sein muß, wo es deutsche Unterwerfungen gilt, vermittelt, arrangiert und____
Wenn man eine solche Widerstandskomödie macht, wie wir in Spaa, in
Versailles und wo sonst noch vorher und nachher, dann muß man es auch wirklich
auf Biegen und Brechen ankommen lassen. Ist man nicht vorher schon zum Brechen¬
lassen fest entschlossen, dann wird man eben gebogen.
Da der deutsche Charakter jetzt ein so vielmal gebogener ist, so haben wir in
der ganzen Welt den Ruf der Unehrlichkeit erhalten. Unsere Komödien sind von
schlechtem Geschmack, und unser Sträuben wird nicht ernster genommen wie das
eines Kindes, bevor es die Medizin schluckt.
Weshalb aber lassen die sozialdemokratisierten Arbeiter immer als erste die
gemeinsame Sache fallen? Weil sie keine Gemeinsamkeit irgendwelcher Art mit
dem Bürgertum haben wollen, denn das schwächt die monomane Energie des Klassen¬
kampfes. Ferner, weil sie national instinktlos die Schande nicht spüren, und statt
die inneren Händel hinter geschlossener Außenfront auszufechten, stets mit Hilfe des
Ausländers gern dem deutschen „Gegner", dem „inneren Feind", eins ans Betr
geben, einerlei, ob sie selbst auch darum hinken müssen. Mit der Einmarschdrohung
zwingt uus der Feind nacheinander alles ab. Und zuguderletzt wird er doch ein¬
marschieren. Denn nicht bis zur Erfüllung des Versailler Vertrags, sondern dauernd
sollen wir ihm Zinsen.
Weshalb aber lernt der Deutsche nie aus der grausamen Erfahrung seiner
Geschichte von gestern, vorgestern usw.? Weil ja die Presse so ohne nationale
Disziplin ist, daß die wirklichen Vorgänge, ihre Ursachen und Wirkungen garnicht
bekannt und begriffen werden. Einzelne lernen, predigen, leiden, schämen sich,
begreifen das furchtbare Los, in dieser Zeit in diesem Volk geboren zu sein, und
fühlen das nächste kommende Unheil voraus wie ein rheumatisches Bein das Wetter.
Was hilfts? Bald kommt die nächste RePetition der Komödie. Zunächst Anforderung
der Entente. Darauf: nicht etwa langsame, eindringliche Vorbereitung der ganzen
Volkspsyche auf ein einheitliches Ziel des Widerstandes, sondern zerstreutes Weiter¬
leben in innerem Hadern, optimistisches Nichtkennen des Auslandes, Falschtaxieren
der englischen Interessen, kurz: Kaninchen, ehe Boa Constrictor ansetzt. Dann,
Auge in Auge mit ihr flüchtiges, temperamentloses Entrüstungs- und Einigkeits¬
theater. Man wirft sich in die Brust: Diesmal wird bestimmt nicht bedingungslos
unterschrieben. Auf die taktischen Kunstgriffe des Verhandlungsgegners ist man
niemals vorbereitet,' so sieht man diese guten Leute mit den gewandtesten Politikern
der Entente zusammentreffen, die die Unsrigen selbst bei gleichen Machtverhältnissen
in die Tasche stecken würden. Die Rechte geht mit dem Herzen in den Einigkeits-
schwur hinein, hofft auf Wiedergeburt des Nationalwillens, die Mitte tut es anstands¬
halber (man war auch patriotisch und hat gezeigt, daß man nur gezwungen nachgibt),
die Linke macht taktisch mit, um Macht zu gewinnen und im entscheidenden
Augenblick der Nation in den Rücken zu fallen. Einzelne glauben sogar, unsere
Komödie würde in den Feinden Vernunft erwecken und Bewunderung, statt Ver¬
achtung und Peitschenhiebe. Keiner aber sieht, daß wirklicher, einiger Wider¬
standswille Macht gewesen wäre. Weil der konditionale, umfallende Scheinwille
W nichts führte, glaubt man den Beweis in Händen zu haben, daß „nichts"
helfen konnte als Unterwerfung.
Diesmal also hat man noch einmal nachgegeben, „weil wider Erwarten
nichts anderes übrig blieb. Bis zum nächstenmal wird England aber vernünftig
werden und den Franzosen schon das Handwerk legen." Man sieht die englische
Politik grotesk verzerrt nicht von England, sondern von Berlin aus, als ob sich
alles um uns drehte, wie etwa Pergamon oder Alesia die römische Politik nicht
von Rom, sondern von dort aus ansahen: die Römer müßten doch eigentlich,
werden doch wohl . . .
Aber England hat doch früher mit uns Verständigung gesucht? Jawohl,
solange wir eine Macht waren. Heute könnten wir eine Macht nur wieder
werden durch nationalen Gesamtwillen, da der andere Weg, die Maschinengewehre,
uns nicht mehr zu Gebote steht. Da wir aber diese Macht nicht zu entwickeln
verstehen, nimmt England an uns nur das Interesse, unsere Aktiva, Arbeit,
Erfindungsgabe, alte Anlagen zu schröpfen, den uninteressanter Nest von uns
aber der einzigen Festlandsgroßmacht Frankreich zu überlassen. Gegen diese uns
zu schützen, läge nur dann ein Anlaß vor, wenn Frankreich den Engländern
wieder gefährlich, mindestens unbequem werden könnte. Das dürfte aber niemals
eintreten. So macht man uns den Franzosen zum Geschenk, immer etwas
zögernd, lediglich um von den Franzosen Gegendienste zu erlangen. Was während
dieser Zögerungen das corpus vile Deutschland fühlt und dabei hofft, wähnt,
jubelt — das gute England, es will uns nicht wirklich übel! —, ist keines Nach¬
denkens wert zwischen den einzigen aktiven Subjekten bei diesem Handel,
Engländern und Franzosen.
Nur eigene Einigkeit und ein passiver Resistenzwille, der den andern
Ungelegenheiten bereiten könnte, würde uns wieder Macht geben. Erst aber muß
augenscheinlich der sozialdemokratisierte deutsche Arbeiter, der dem Feind aus der
Hand frißt, sich ganz ruiniert haben, ehe der Einheitswille dämmern kann.
Schrecklich, aber es ist so.
Nun, mancher sieht doch heute schon klar?
Gewiß, aber seit langem muß in Deutschland immer politische Vernunft
von einzelnen der Menge geradezu aufgezwungen werden. Von selbst wird sie
nie gelebt. Und aufzwingen kann der innen wie außen ohnmächtige Staat heute
den Massen nur — was die Entente befiehlt, also das Gegenteil von dem, was
er befehlen müßte.
Deutsche Staatsmänner, die eine solche Nation in kritischen Augenblicken
nach außen zu vertreten haben, eine Nation ohne Zuverlässigkeit des Willens,
ohne Einheit, feige, immer den Verräter nah zur Hand, ist aufs tiefste zu
beklagen. Wir wissen manchen Unterhändler, der an sich klar und entschlossen
handeln könnte, aber im entscheidenden Augenblick, wo er sich ganz auf Einigkeit
verlassen mußte, fiel ihm ein Teil der Nation in den Rücken. Ekel vor dem eigenen
Volk erfüllt diese Männer. Was gibt es sür einen Staatsmann Furchtbareres
Die Ratlose». Der trotzige Sigambrer aus der Tartarei, Lenin, beginnt
zu verbrennen, was er angebetet hat, betet das Verbrannte an und fragt blut¬
wenig danach, ob sich seine Getreuesten, die deutschen Unabhängigen und kommu¬
nistischen Linkshänder, alle Finger dabei verbrennen. „Jede Verwaltungsarbeit
erfordert Spezialeigenschasten. Man kann Revolutionär und Redner ersten Ranges
sein, aber ein ganz nichtsnutziger Verwalter . . . Rußland ist ruiniert, der Ruin
erreicht einen solchen Grad, — Kälte, Hunger und allgemeine Not — daß es so
nicht weiter gehen kann." Folglich muß der Rätegedanke aus der Verwaltung
beseitigt und die Diktatur eingeführt werden. Der Rätegedanke ist es ja gewesen,
der das Land zugrunde gerichtet hat. Wie Lenin den Gläubigen die höchst
persönliche Autokratie, die er aufzurichten gedenkt, schmackhaft zu machen versucht,
das liest sich ungemein ergötzlich. „Was hat denn die Frage des kollektiven oder
persönlichen Regiments mit der Klassenfrage zu tun? . . . Gibt uns die englische
Bourgeoisie nicht Beispiele eines Maximums persönlicher Diktatur unter voller
Beibehaltung der Macht in den Händen der eigenen Klasse? . . . Wenn ihr an
das englische Beispiel denkt, dann wird euch die Frage der persönlichen Verbindung
besser als durch noch so viele abstrakte Resolutionen und voreingenommene Theorien
verständlich werden."
Ob der dritte allrussische Kongreß der Wassertransportarbeiter, denen Lenin
diese neue Philosophie vortrug, lange an der zähen Speise gekaut hat, ist ein all¬
russisches Geheimnis geblieben) die Herren, die bei uns noch immer mit stolzem
Feuerblick in Lenins abgetragenen Kleidern herumlaufen, schweigen sich darüber
aus. Als sie die November-Revolution machten, ist ihnen als einziger keim-
krästiger Gedanke der eingefallen, daß es bequem sei, den Affen der russischen
Umwälzer zu spielen. Sie waren zu ungebildet, um zu wissen, daß die gesunden
Grundlagen der Räteidee bei konservativen Volkswirten, den Nodbertus und
Hermann Wagener, zu finden sind, bei Volkswirten allerdings, die nicht ab¬
schreiben und übernehmen und deshalb von den fixen Popularisatoren der National¬
ökonomie nur sehr selten abgeschrieben worden sind. Das geistig erbarmungslos
ausgelaugte und unfruchtbar gewordene Deutschland der wilhelminischen Epoche
hat sich, um seinem, Gott weiß wie, zustande gekommenen Ruf als Volk der
Dichter und Denker wenigstens einigermaßen gerecht zu werden, verzweifelt auf
den bolschewistischen Rätegedanken geworfen. Im November und Dezember 1918
wandelte sich jede Berufsschicht, jeder Verein in einen Rat um, allen voran selbst¬
verständlich die Künstler und Literaten, als die haltlosesten in haltloser Zeit.
Und nun stößt der Russe, der Patentinhaber, den ganzen Kram mit einem ver¬
ächtlichen Fußtritt beiseite.
Noch steht dahin, was die Däumig und Cohen-Reuß auf dem nächsten
deutschen Räte-Kongreß, dem ratlosem Zentralrat, mit sakraler Entflammtheit weis¬
sagen werden. Ihr revolutionärer Instinkt treibt sie schon deshalb vom alten
Parlamentarismus fort, weil er die Massen ekelt oder langweilt, reicht aber
nicht aus, um sie den neuen Weg finden zu lassen. Nase und Auge dieser alt¬
gewordenen Spürhunde taugen längst nicht mehr. Und so bekläffen sie denn,
verwirrte Automaten, die Kammer der Arbeit, die sich das Reich soeben geschaffen
hat. Nicht in vollendeter Glätte, denn nicht wie eine Spielerei, geschmtzt aus
Korken, ist dies Hans des Wiederaufbaues entstanden. Bittere Jahre — dafür
sorgt wohl schon der Parteiklüngel — werden vertropfen, ehe der alte Rodbertus-
Gedanke brauchbare Gestalt angenommen haben und die Vertretung der deutschen
Arbeit da sitzen wird, wo jetzt die Fraktionsbonzen und ihre Steifleinenen sitzen.
Dennoch gehört ihr die Zukunft, auch in Deutschland. Schon weil die Kammer der
Arbeit eine zu einleuchtende Sache ist, um nicht auch dem Auslande zu gefallen.
Hat sie sich aber dort erst einmal durchgesetzt (z- B bei den Neuseeländern,
den Patagoniern, den^ Japanern, den Engländern oder gar den Russen), dann
vergeht kein Monat, und sie erscheint unter den begehrtesten Einfuhrartikeln.
Hinter ihr vielleicht das ständische Wahlrecht. Es kommt nur darauf an, daß Lenin
auch in dieser Beziehung von den Nodbertus-Jagetzow und Hermann Wagener lernt.
Jüngst war ich im Reichstag. Nicht auf der Tribüne, von wo aus die
Saalarchitektur, Holz, Leder und Oberlicht alles Menschliche korrigiert und
stilisiert. Auch nicht in der Wandelhalle, darin der Wandler von römischer Thermen-
größe umflutet um Haupteslänge wächst und als ästhetischer Naumgewinnler ein¬
herschwimmt. Sondern richtig drinnen in der menschlichen Masse. Es war gerade
Hammelsprung. Unter der Ja-Tür drängten sich die Unabhängigen um die Provwz-
theaterdirektorengesto.le Ledebours. Himmel, wie war es nur möglich, in unsrem
guten Vaterland soviel grämliche Gesichter auf einen Raum zusammenzubringen?
Welch Auspuff aller schlechten Humore: Sollte der alte Tirpitz recht haben, wen»
er unsern Niedergang vom allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrecht herschreibt?
Welche Götzen hat sich das souveräne arme törichte Volk da aufgestellt: kaum
eine Stirn mit freier, ausgeglichener, beherrschter Männlichkeit ist darunter. Eitles
Halbwissen, fanatische Leidenschaft, kleinbürgerlich verstocktes Philistertum, ein
Weltbild, urteilslos und kindhaft geschaut, ein Wollen aus Neid und unvergorenem
Streben gemischt, in 80 Abwandlungen, als wäre Lionardos Skizzenbuch ver¬
zwickter Charaktere auf einen Satz ins Leben gesprungen, als wäre aus jeweils
60 000 Deutschen gerade immer der eine Thersites ausgelesen. Kein einziges
harmonisches Gesicht, das man einem römisches Senator, einem englischen M. P.
gegenüberstellen dürfte zum Wettstreit der Persönlichkeit. Hart geworden in kraus
verkrümmender Arbeit sehen sie freilich aus, und viele schlecht genährt. Die Leiden
der Masse kennen sie, auch deren seelische Unrast in den wurzellosen, kulturlosen
Großstadtkasernen. Kein Auge blickt ruhig und gütig, die Leiden mit Vernunft
meisternd und das Ganze zum Guten lenkend, sondern stechend, verbittert, um¬
getrieben von ein Paar armen Demagogengedauken. Armut und Arbeit war das
Los der deutschen Massen seit dem dreißigjährigen Krieg. Da war keine Zeit,
Gentlemen von unten herauszubilden. Auch ein Plebejer wie Llohd George hat
seinen Körper in Golf und Cricket gezähmt und geadelt, seinen Geist im vorurteils¬
freien Umgang mit der alten Herrenschicht objektiviert. Diese deutschen Tribunen
sind auf dem Nasen ebenso undenkbar wie im offenen Zwiegespräch mit Gebildeteren.
Denn über sie kam Karl Marx. Willensstraff, schlagfertig, lmßvoll sind sie, aber
dumpf und verbissen/ unfrei die Stirnen durch innere, nicht äußere Fesseln.
Die scharfen Stimmen der Zietz, der Zetkin, leidenschaftsverwitterter
Xantippen in Hängeklcidchen, füllen den Raum wie beizender Tabak. Während
drüben in der behaglich halbdunklen Ecke des Zentrums, auf zwei Ledersesseln,
kunstrecht aneinandergerückt, ein oberbayrischer Gemeindehäuptling in Waden¬
strümpfen sich schnarchend und politisch leidenschaftslos von der langen Reise
ausruht. (Kein Mißtrauen zwischen uns, aber wirst du nicht, endlich erwachend,
aus Ärger über die Berliner Preise in einen Heimtraum verfallend Großbayern
von Preußen lösen und irgendwie mit dem Balkan, mit Frankreich oder England
verbünden wollen?) Wo sucht man denn eigentlich hier einen Politiker, der
schlechthin deutsch ist? Möglich im Restaurant. Dort finde ich den gewaltigen
Legler, einen mürrisch, aber kühlgebieterisch blickenden Volksmann, vor einer Flasche
Wein, wie er den Mobilmachungsplan für ein paar Millionen marxistisch ein¬
geschulter, immer noch und ewig gegen den Staat organisierter Handarbeiter
überdenkt. Sein Haar ist weiß, doch noch nicht alterslicht.
Heiliges England, Mutter des Parlaments, du hast gesiegt, indem du hinter¬
listig uns den parlamentarischen Gedanken verkauftest ohne den parlamentarischen
Menschen, ohne den Gentleman aus dem Volke. Man muß das deutsche Volk
bei der Arbeit aufsuchen, will man es lieben und achten. Warum aber, arbeitendes
deutsches Volk, liebes deutsches Volk, haft du diese ausgelost, eine Versammlung
von Königen zu bilden? Lebt nicht in jeder grauen Straße, jeder Fabrik ein
ehrwürdiger, weiser, gütiger Veteran der Arbeit, durch das Leben gebildet, uns
allen, wenn hervorgezogen, hilfreich, durch schlichte Vornehmheit und Instinkt für
das Wahre? Warum wählt ihr den nie, warum muß es stets ein akkumuliertes
Giftschränkchcn sein?
Zu Boston, wo man den Washingtoner Parlamentarier als Schieber mi߬
achtet, saß ein englischer Lord in einer Gesellschaft. „Was sind Sie?" fragte ihn
seine Tischdame, die noch nie aus Amerika hinausgekommen war. „Reinber ot'
?arliament." „O0I1, . . . anat people -ists z?on lor nimmer . . .?!" war die
vorwurfsvolle Antwort, und ihr Stuhl rückte weiter nach rechts.
Welch ein Mißverständnis! Immerhin sind die amerikanischen Parlamentarier
smarte Geschäftsleute, und umgekehrt darf es sich ein reiches Bostongirl leisten,
naiv zu sein.
Noch im Dreißigjährigen Krieg gab es kaum eine Gasterei Hochmögcnder,
bei der man sich nicht überaß und übertrank. Als dagegen im März 1740
Friedrich Wilhelms I. Mundkoch seinem todkranken Herrn eine Schnepfe briet,
aß der König sie zwar mit Genuß, zwang aber am nächsten Tag, als er bei der
eigenhändigen Revision der Küchenrechnung auf den Posten stieß, den Koch, „das
schlechte Zeug, das zuviel Geld kostet," aus eigner Tasche zu bezahlen. Und noch
Anfang April entwarf der sterbende König eine neue Tafelordnung für sein Haus.
Nur die Königin dürfe von Silber essen, die andern haben zinnerne Teller zu
haben. Des Mittags dürfen auf die königliche Tafel kommen „eine gute Suppe,
zwei andere notabene wohlfeile Essen, zwei Braten, wovon nur der eine an¬
geschnitten werden darf, und etwas Gebackenes."
Roßbach, Tauroggen, Düppel und alle andern Tage der Erlösung nieder¬
gedrückten deutschen Volksgeistes sind bezahlt worden aus der preußischen Spar¬
büchse. Allerdings haben die Seydlitz, Uorck und Moltke auch mit der eigenen
Person bezahlt und vor ihren Taten keine Privatverträge mit dem Staat ab¬
geschlossen. Hätte der König zum Gewinnen von Roßbach Herrn Ulrich Rauscher
oder Herrn Mayer in Paris engagieren müssen, so hätte sein Vater zeitlebens
auch auf das Gebackene verzichten müssen.
Wenn einmal der königliche Mann ersteht (er braucht keine Majestät, sondern
kann sogar ein Advokatensohn sein wie Napoleon), der die Advokaten zum Teufel
jagt und aus den Volkstribunen Staatsräte und sonstige Kapaunen macht, dann
wird man die Physikschulbücher, aus denen zur Zeit alles Monarchistische entfernt
wird, wieder umarbeiten und z. B. im Kapitel Optik einfügen:
„Kommissionen haben immer das Nachsehen? Voraussicht übt nur
der Diktator."
Ähnliches meint wohl die Rheinische A.-G. für Braunkohlenbergbau, wenn
sie in ihrem Jahresbericht über die an sich so wohltätige, nötige, uneigennützige,
nur leider immer hinter den Ereignissen heranrückende Zwangswirtschaft schreibt:
„Die Organisationen der Zwangswirtschaft bauen ihre Entschließungen auf
geschehene Ereignisse auf und sind ihrem Wesen nach nicht imstande, mit Voraus¬
sicht die deutsche Gesamtwirtschaft zu ihrem Vorteil zu beeinflussen und sicher nicht
einer Gesundung entgegenzuführen."
Kommissionen lassen die Verantwortung verdunsten und die Initiative ver¬
säuern. Nur der Unternehmer, der das Risiko hat, entwickelt den Instinkt für
das Kommende und die Entschlußkraft dahin. Ebenso der wirkliche Staatsmann,
der einzeln handelt. Diktatur allein macht es freilich auch nicht. Das hat Emma
Goldmann, die liebliche aus allen ihren Vaterländern ausgewiesene Anarchistin,
schließlich in Moskau bei Lenin gelernt. Sie schreibt: „In den vier Monaten,
die ich hier verbrachte, habe ich erkannt, daß nichts Gesundes daran ist. Jede
Art der Negierung ist schlecht (Emma!), aber bei der Wahl zwischen dem
Staatssozialismus oder Staatskapitalismus — man nenne es, wie man will —
und dem individuellen Kapitalismus ziehe ich doch den letzteren vor."
Herr Marschall Brussilow, wann schassen Sie die Advokaten-Diktatoren?
Der Schutzengel der deutschen Zwietracht behüte uns vor einem Diktator,
der kein Staatsmann, sondern ein gewalttätiger Jdeologe ist! Lieber bleiben wir
da doch beim bisherigen System der Ratsherren, die jeden Monat in der Sitzung
feststellen, welchen Fehler sie im vorigen Mond gemacht haben. Man steigt die
Natstreppe hinunter, fühlt, daß man nur Abendessen und Bettruhe braucht, um
morgen ganz von selbst um einen Tag klüger zu sein. O Gott, wenn man statt
Ratsherr Tatsherr wäre, was hätte man da Gelegenheiten, sich zu blamieren.
Am Ende ginge sogar dabei der Schlaf verloren, ohne den nicht einmal Napoleon
Napoleon wäre, und den selbst die eigentümlicheForm des Wachschlafs, die man
Da die Beamtenschaft sämtlicher Finanzämter bedeutend vermehrt worden ist,
— annähernd so stark wie die der Post und Eisenbahn — haben auch sie unter
zermalmenden Leistungsrückgang zu klagen. Man hätte annehmen sollen, daß
durch den Ausfall der Einkommensteuer-Veranlagung für 1920 zahlreiche hoffnungs¬
volle Bureaukräfte, zumal in den städtischen Steuerämtern, frei und von der
staatlichen Behörde zur Hilfe herangezogen worden seien — denn warum sollen
sich in der Not nicht alle Volksgenossen unterstützen? Statt dessen erfahren wir,
daß mit Erträgen aus den seit langen Monaten" angenommenen Erzbergersteuern
noch nicht zu rechnen ist. Der fromme Bürger hatte sich schon wiederholt, halb
ängstlich, halb dankbar aufatmend, den Kopf darüber zerbrochen, weshalb ihm
denn keine Zahlungsaufforderungen ins Haus wehten. Nun teilt ihm der Herr
Minister mit, daß die rasche Häufung und die wachsende Kompliziertheit der neuen
Steuergesetze die Verzögerung verschuldet hätten. Es sind eben so ungeheuer viele
und so ungeheuer verwickelte neue Abgaben geschaffen worden, daß das verzweifelte
Bureau lieber überhaupt schon gar.keine mehr einzieht. Ein Standpunkt, der jeden!
mit Arbeit Überlasteten zu empfehlen ist und der erfrischende Ähnlichkeit mit der
beliebten Einrichtung hat, das ganze Aktenarchiv in Brand zu stecken, sobald die
Akten dem Referenten über den Kopf wachsen. Herr Erzberger ist, vielleicht nicht
zuletzt seiner Steuerproduktivität wegen, Deutschlands bestgehaßter Mann.
Freilich ist diese Produktivität auch sein höchstes und unbestreitbares Verdienst.
Kein anderer als er hätte das Werk zu Ende führen können. Hätte er freilich
geahnt, daß heute aus den Steuern, die er vor Jahresfrist mit saurem Schweiß
und Halloh gewalttätig durchdrückte, noch keinerlei Ertrag zu verzeichnen ist,
daß vielmehr die Notenpresse täglich geruhsam weiter 26 Millionen Mark Papier¬
geld herstellt (genau so viel etwa, wie täglich an fälligen Steuern versteckt und
verschleppt wird), dann hätte der Mann aus Biberach sich viel Ärger und
Feindschaft sparen können. Dann säße er noch heut im Amte.
„Wer verteuert das Brot?" so fragt der Nassauische Landverband und
berichtet über die abenteuerliche Erhöhung der Dreschkosten:
„Der Verband der Nassauischen Dreschmaschinenbesitzer fordert in diesem
Jahre für das Ausdreschen des Getreides bei neunstündiger Arbeitszeit einen
Stundenlohn Kor 84 Mark (im Borjahre 15 Mary. Dabei werden von den
Dreschmaschinenbesitzern nur drei Mann gestellt, so daß der Bauer noch elf Mann
selbst einstellen muß. Verköstigung hat der Landwirt zu übernehmen. Die Zeit,
in der die Dreschmaschine von einem Gehöft in das andere gebracht wird, gilt
als Arbeitszeit und ist dementsprechend zu bezahlen. Danach ergeben sich für den
Bauer folgende Dreschkosten für einen Tag:
Die Gesamtkosten für einen Tag zu dreschen stellen sich demnach auf über
2000 Mk. Im Durchschnitt werden in einer Stunde 10—12 Zentner Getreide
ausgedroschen. Danach kostet das Ausdreschen eines Zentners Brodgetreide allein
20 Mk. Da die Mindestpreise für Brodgetreide von der Regierung auf 45 Mk.
bezw. auf 50 Mk. für den Zentner festgesetzt sind, bekommt der Bauer nach Abzug
des Dreschlohns nur noch 25 bezw. 30 Mk. für den Zentner."
Die nassauischen Dreschmaschinenbesitzer werden ohne Zweifel nachweisen
können, daß die Maschinenfabriken täglich unleidlichere Preise für Reparaturen
fordern. Im übrigen zeigt ja die vom Landverband ausgemachte Rechnung, daß
am hohem Gesamtdruschpreis vornehmlich die Kohlengrubenbesitzer, die Bindegarn¬
lieferanten und die Arbeiter mit ihren Lohnansprüchen schuld sind. Kohlengruben¬
besitzern, Bindegarnlieferanten und Arbeitern wird es leicht fallen, für ihre
wilde Forderung die unerschwingliche'Lebensmittelpreise verantwortlich zu machen.
„Wer verteuert das Brot?" Die Frage ist zum deutschen Gesellschaftsspiel geworden,
nur daß die deutsche Gesellschaft dabei in Schutt und Trümmer fällt.
Zwei arbeitslose Berliner Stadtverordnete beziehen sowohl Arbeitslosenunter¬
stützung als auch Tagegelder vom Magistrat. Bei der Straßenreinigung werden
3!'. Abteilungen mit dem Papiersammeln auf den Straßen beschäftigt, der Erlös
daraus beträgt jährlich 120—140 000 Mk. Diese Summe verteilen, mit Billigung
des Betriebsrates, die Aufseher und Arbeiter unter sich und stecken sie neben ihrem
Lohn ein. Hunderte von städtischen Arbeitern, die beim Kapp-Zuge nicht gestreikt
haben und deshalb ausgesperrt, milder gesagt, beurlaubt worden sind, erhalten
— nicht aus Anordnung des ausgeschalteten Magistrats, sondern im Auftrag der
betriebsrätlichen „Hängekommission" — ihren vollen Arbeitslohn weiter und gehen
in Berlin spazieren.
„Ich hoffe, daß die Anwesenden, die doch alle wissen, was Betriebsleitung
ist, in einer großen Mehrheit begreifen werden, daß wir ernste Geschäftsleute
werden müssen, die die Räte ausschalten und ohne sie walten". Der Redner
wurde von den Berliner Betriebsratsparteien im Noten Hause nicht nieder¬
geschrien. Das macht, weil er in Moskau sprach- Sein Name ist Lenin.
Inmitten alles Weltunterganggrauens feiern wir doch einen stolzen Triumph,'
ein Sieg ist uns nach selbstverschuldeter Niederlage in den Schoß gefallen.
„Nachdem durch die Preußische Landesversammlung im Osten und Westen noch
mehrere umfangreiche Gebiete mit den Dauerwäldern des Zweckverbandes in das
neue Berlin einbezogen worden sind, ist das Gebiet der Einheitsgemeinde auf
nicht weniger als 877,66 Geviertkilometer angewachsen. Damit ist die neue
Reichshauptstadt noch größer geworden als Groß-Neuyork mit seinen 840 Geviert¬
kilometern und übertrifft bei weitem die Verwaltungsbezirke London mit 303, Wien mit
275 und Paris mit 480 Geviertkilometern.^ Das liebe alte Spiel aus den achtziger
und neunziger Jahren, wo die Berliner Presse jedes frische Tausend Zugezogener
mit Trompetenstößen als neue Quader zu des Reiches Herrlichkeit begrüßte,
wird fortgespielt. Bevölkerungszuwachs und Gebietszuwachs sind, besonders für
das Schicksal Berlins, gewiß verschiedene Dinge — aber ist denen, die darob
jubilieren, nie der Gedanke gekommen, daß an unserem Unglück vornehmlich die
wasserköpfige Ausdehnung der deutschen Großstädte, die dadurch bedingte Verödung
des flachen Landes und Aussaugung der kleinen Städte schuld gewesen ist? Wenn
wir jetzt keine wirklichen Volksreserven mehr haben, wie nach 1648 und 1806,
verdanken wir es nicht dem mit der Peitsche vorwärtsgetriebenen, auf viel zu
schmaler Grundlage gezüchteten Qberindustrialismus und seiner Begleiterscheinung,
der Entwurzelung unseres einst so bodenständigen Volkes? Welch ein seltsamer
Trost in Tränen, daß Berlin auf 877,66 Geviertkilometer weit mehr Jammer und
Elend beherbergen kann als Groß-Neuyork, London, Wien und Paris!
Die deutsche
Filmindustrie hat durch den Krieg einen
ungeahnten Aufschwung genommen. Es ist
ihr nicht nur gelungen, in weitem Maße
ausländische Stücke von den deutschen Licht¬
spielbühnen zu verdrängen, sondern weit
darüber hinaus hat der deutsche Filu seinen
Weg in das Ausland gefunden. Mehr und
mehr hat man auch bei uns die Abneigung
gegen das Kino überwinden gelernt, seitdem
der Filu Beziehungen zur modernen Kunst
angeknüpft hat, die unbedingt Aufmerksamkeit
erfordern.
Was bietet uns aber speziell der deutsche
Filu? Es ist heilte, da wir im Begriff
stehen, — und es teilweise schon zur Tat¬
sache geworden ist — als ernsthafte Bewerber
auf den internationalen Lichtspielbühnen zu
erscheinen, von doppeltem Wert, uns den
"Inhalt besonders der großen Filmwerke aus
der letzten Zeit anzusehen. Bedeutendes ist
da geleistet worden auf dem Gebiete des
historischen Schauspiels. Mit einer Summe
von Energie, Intelligenz und künstlerischer
sowie technischer Arbeit sind Leistungen erzielt
worden, die tatsächlich Werke von Wert ge¬
schaffen haben. Dagegen läßt sich nichts ent¬
wenden. Bedauerlich im höchsten Grade vom
deutschen Standpunkt ist aber, daß der so¬
genannte „deutsche" Filu, und hier wiederum
der historische, mit besonderer Vorliebe Wege
geht, die sich inhaltlich und auch dem äußeren
Gewände nach immer mehr vom Deutschtum
und deutscher Art entfernen.
Nach den großen Erfolgen, die man mit
einem der ersten historischen Filmdramen
großen Stils, der „Madame Dübarry" erzielt
hat, will man jetzt auf dein erfolgreich be-
schrittenen Wege weiter fortgehen und Plant
die Herstellung der Schauspiele „Katharina
die Große", „König Lustik" (Jerome Napoleon),
„Die Schuld der Lavinia Morland" (nach
einem amerikanischen Stücke), „Anna Boleyn"
(spielt in Alt-England); hat bereits Ent¬
würfe gemacht zu einem „Medea-Filu", der
in Italien spielen soll, ebenso zu einem
„Sumurun-Filu" im fernsten Orient und zu
einem „Goten-Filu" in einem Phantasieghctto,
Schon die Namen verraten, daß die großen
Filmwerke, die berufen sein sollen, auf ihrem
Gebiet für deutsches Können und den deutschen
Namen zu werben, alle nur erdenklichen Erd¬
teile und Nationen streifen und behandeln,
aber mit einer fast gewissenhaften Peinlichkeit
vermeiden, irgend einen Stoff aus der
deutschen Geschichte zu bringen — oder wenn
es sich um einen solchen wirklich einmal
handelt, wie im König Jerome — dann wird
eines der traurigsten Kapitel der deutschen
Vergangenheit angeschnitten. Gewiß gibt es
noch Ausnahmen, aber wer einigermaßen
aufmerksam die Entwicklung des deutschen
Films in den letzten Monaten verfolgt hat,
wird feststellen müssen, daß die Tendenz
unzweifelhaft dahin geht, sich immer mehr
von allein deutschen Stoss zu entfernen.
Die Stätten, an denen die Filme auf¬
genommen werden, z, B. das Gebiet der „Asa"
bei Tempelhof, sind Plätze intensivster Arbeit
und hohen Könnens, Eine Welt für sich ist
dort entstanden. Aber: man baut eine ganze
orientalische Stadt auf. In „waschecht nach¬
gebildeten Tudorstil" wird die rechte Szenerie
des ,,meri')- viel HiiAisnct" mit dem Inneren
der Westminster-Abtei und naturgetreuen
Straßen und Gassen Alt-Englands entworfen!
Aus' gewissenhaften Studien und freier
Architcktenphantasic steigen imposante Bilder,
archaische Bauten aus hellenischer Urzeit auf!
Dazu gehört ein gut Stück technischer und
künstlerischer Reife, um solche Probleme be¬
friedigend lösen zu können.
Ist es denn aber nötig, wirklich so weit
zu gehen und in allen Erdteilen und bei allen
Nationen Anleihen zu machen? bietet nicht
die, deutsche Geschichte Stoff genug und sind
Deutschlands Berge, Städte und Wälder nicht
ausreichend, um einen deutschen historischen
Filu schassen zu können? ES bleibt auf
anderen Gebieten immer noch Platz genug,
um Verbindung mit der Welt aufrechtzuerhalten
und aus andere Weise dem Volke Kenntnis
über cmßerdeutschc Verhältnisse — der Historie
und der Gegenwart — zu geben! Wir brauchen
deshalb nicht im einseitigen Dünkel uns ab¬
zuschließen.
Aber wir haben heute so bitter nötig, unser
Ansehen als Volk in der Welt wieder her¬
zustellen. Mittel dazu sind uns herzlich wenig
in die Hand gegeben. Eines der wirksamsten
ist aber ohne Zweifel im Filu gelegen. Wir
haben ja im Krieg am eigenen Leibe verspürt,
zu welch einem gefährlichen Kampfmittel er
in geschickter Hand werden kann. Die Entente
hat sich seiner im Kriege und schon vorher
meisterhaft zum Schaden Deutschlands bedient.
DerdcutscheFilin kann heute mit daran arbeiten,
unseren guten Ruf wieder herzustellen, oder
wenigstens im lebenden Bild beweisen, daß
Deutschland keineswegs das Volt der Hunnen
und Barbaren ist; daß seine Geschichte und
seine Landschaft mit allen fremden Ländern
einen Vergleich aushalten kann. Nie und
nimmer ist aber der jetzt beschrittene Weg der
richtige. Mit Anleihen aus fremder Ver¬
gangenheit, mit Bildern für historische Dar¬
stellungen — wenn auch nur nachgeahmten —
aus fremden Ländern, die dann als deutsches
Erzeugnis hinausgehen, kann man wohl
Zeugnis ablegen von technischem und künstle¬
rischem Augenblickskönnen, nicht jedoch von
einer ruhmreichen, eigenartigen und bewunde-
rungswürdigen Vergangenheit und Geschichte.
Ein Philosophenkongreß in unserer unruhigen
und gar nicht Philosophisch aufgelegten Zeit:
das will etwas heißen. Der ebenfalls für
die Pfingstwoche in Halle anberaumte Neu¬
philologentag ward auf denHerbst verschoben;
die Kantgesellschaft hielt durch — allerdings
mit Zusammenziehung der geplanten vier
Tage auf zwei.
Der eigentlichen Tagung ging die soge¬
nannte Als Ob-Konferenz voraus: Freunde
der „Philosophie des Als Ob" hatten be¬
sondere Einladungen ergehen lassen, um
über ihre Probleme zu verhandeln. „Nicht
um sich huldigen zu lassen, sondern um zu
lernen", war Professor Baihinger, der greise
Schöpfer des Fiktionalismus, wie man diese
Richtung auch nennt, selbst erschienen und
eröffnete die Konferenz. Im Mittelpunkte
des Interesses stand die philosophische Er¬
örterung der Relativitätstheorie. Über ihr
waltete ein Unstern: Einstein selbst, der
sein Erscheinen zugesagt hatte, sowie der
Referent des Themas waren verhindert, so
daß nur der Korreferent und die Diskussion
blieb. Es war Professor Kraus von der
Prager deutschen Universität. Er sprach aus¬
gezeichnet über „Fiktion und Hypothese in
der Einsteinschen Relativitätstheorie". Die
vielberufene und zum Stein des Anstoßes
gewordene „Relativität der Gleichzeitigkeit"
und mit ihr alle übrigen Paradoxen der
Einsteinschen Lehre, deutete er als bloße
Fiktionen, bloße Annahmen in scharfem
Gegensatze zu Lehrsätzen und Hypothesen.
Es war eigenartig, zu sehen, wie die doch aus
Positivistischen Gedankengängen erwachsene
Philosophie des Als Ob hier dem Rationa¬
lismus und Idealismus dienstbar gemacht
wurde.
Professor Julius Schulz' glänzend dis¬
ponierter und dargebotener Vortrag über
„die Fiktion vom Universum als Maschine"
brachte Leibnizens „Prästabilierte Harmonie"
— aber, wohlgemerkt, nur als Fiktion! —
wieder zu Ehren, als einzige Möglichkeit,
das Universum begrifflich und rechnerisch zu
verstehen. Lehrreich waren Professor Kowa-
lewskis Ausführungen über „pädagogische
Fiktionen". Der Lehrer bedient sich ihrer
beim Bemessen von Durchschnittsleistungen,
bei der Zensurbeurteilung. Er gebraucht
illustrative Fiktionen für die Veranschaulichung
abstrakter Gedanken, ja seine ganze Ein¬
stellung ist fiktiv: er versetzt sich auf den
Standpunkt des Schülers: er fragt, als ob
er die Antwort nicht wisse. Denn jede
pädagogische Tendenz enthält zu ihrer Durch¬
führung einen logischen Fehler, der durch
einen anderen Fehler ausgeglichen werden muß
(Vaihingers Prinzip der doppelten Fehler).
Müller-Freienfels entwickelte in temperament¬
voller Rede die „Fiktionen in der Geschichts¬
wissenschaft", Dr. Knopf faßte die pictum.
strikteren Thesen der Psychoanalyse als heu¬
ristisch wertvolle Hilfssätze.
Die Haupttagung am Sonntag, dem
30. Mai, brachte die geschäftliche Sitzung:
Entlastungen, Wahlen, zumal neuer Ehren¬
mitglieder und die große Programmrede
Professor NatorPS: „Die Fortbildung des
kritischen Idealismus, Rückblick und Vorblick".
Es war das Fazit eines langen Lebens im
Dienste der Gedanken Platons und Kants.
Sein Korreferent Professor Liebert verstand
es, mit glänzender Beredsamkeit die Zukunfts¬
aufgaben des Neukantianismus noch deutlicher
zu umreißen, den kritischen Idealismus sogar,
mit Einsteins Begriffen in Einklang zu setzen
und allen Skeptizismus abzuwehren. Die
Freiheit als Eigengesetzlichkeit der schöpfe-
riichen Vernunft, die kritische Metaphysik als
Ziel philosophischer Bemühung: freilich, zu
diesen Idealen durfte der Redner auch weit
über den Umkreis der Marvurger Schule
hinaus auf begeisterte Zustimmung rechnen.
Die stärksten Eindrücke nahmen alle Teil¬
nehmer indes aus den Verhandlungen zum
gymnasialen Philosophieunterricht mit nach
Hause. Was ihnen Geheimer Studienrat
Goldbeck, der bekannte Berliner Schulmann,
bot, war ein nachhaltiges Erlebnis. Er wie
sein Korreferent Prtvatdozent Wichmann aus
Halle stimmten in der Forderung nach Philo¬
sophischer Durchdringung und Vertiefung der
gymnasialen Einzelfächer ohne Einführung
der Philosophie als besonderen Lehrfachs
überein. Von dem Skeptizismus Professor
Frischeisen-Köhlers angesichts der Prinzipiellen
Umkehrbarkeit der Philosophie bis zu den
Drängern auf Erweiterung der Lehrpläne
zugunsten der Philosophie ergab sich eine
reiche Abstufung der Meinungen unter den
anwesenden Philosophen und Erziehern. Aber
das Richtige hatte Direktor Goldbeck ge¬
troffen: die Jugend, viel verkannt und ge¬
schmäht, besitzt den Willen zum Wesentlichen,
den philosophischen Trieb nach einem Total¬
leben und nach einem umfassenden Welt¬
bild. Nicht neue Fächer — eine neue Schule
muß kommen. Und die Philosophen müssen
kommen, die das in Gedanken fassen können,
wonach die Seele unserer Jugend hungert.
Ju
seinen politischen Betrachtungen in der Kevue
6es 6eux monäes hat Poincare geschrieben:
„Es ist schmerzlich, zu sehen, daß einige von
politischen Leidenschaften verblendete Franzosen
zu gleicher Zeit wie Deutschland an der Ent¬
stellung der Geschichte mitarbeiten und daß
sogar in Paris kühne Entstellungen über die
nahen oder fernen Ursprünge des Krieges
gedruckt werden. Was mich betrifft, der ich
mich seit 30 Jahren mit der Politik meines
Landes beschäftige, so habe ich niemals einen
Präsidenten der Republik, einen Kabinettschef
oder irgend einen Minister gekannt, der ver¬
blendet genug gewesen wäre, einen bewaffneten
Konflikt zwischen Deutschland und uns zu
wünschen und der die Ncvanchcidee ausge¬
sprochen oder auch nur erwogen hätte."
Das Svzialistenblatt „Le Populaire" vom
18. April bemerkt dazu, daß niemand der¬
gleichen behauptet habe. Niemand habe gesagt,
daß Frankreich allein den Krieg gewollt habe.
Was aber gewiß sei, sei dieses, daß in
Frankreich, Deutschland und England eine
mächtige Kriegspartei bestanden hätte, die in
erster Linie für die Vorbereitung und Ent¬
fesselung des Konflikts verantwortlich sei. An
dieser Auffassung müsse man festhalten. Das
Blatt führt dann fort: „Unsere Nationalisten
jedoch wurden von PoincarS, dessen Wahl
zum Präsidenten der Republik sie gesichert
hatten, mit Wohlwollen angehört. Wie
kommt es denn, um uns auf die persönliche
Verantwortlichkeit PoincareS zu beschränken,
daß gelegentlich Pvincarvs Wahl zum Prä¬
sidenten so gut unterrichtete, aber so ver¬
schieden orientierte Politiker wie JauröS und
Ribot ausriefen: Poincarö ist der Krieg!
Warum hat Octave Mirbcau in Cheverchemon
zu Georges Pioch geäußert, Poincare führt
uns zum Krieg? Warum hat der Vetter
Poincarüs, der Mathematiker Henri Poincare,
Eduard Schneider erklärt, daß der Krieg, da
sein Vetter zur Macht gekommen sei, fast
gewiß sei? Warum entstand seit der Rück¬
kehr Poincares ins Ministerium des Äußern
und besonders seit seinem Besuch beim Zaren,
der als erster seine Truppen 1814 mobilisierte,
das Gesetz über die dreijährige Dienstzeit und
die Welle des Nationalismus (Pensionen,
Theaterstücke, chauvinistische Lieder usw.)"
Auch habe der persönliche Freund und
frühere Sekretär Poincnr<-s, Maurice Colrat,
in der Wochenschrift „Opinion" vom
14. Dezember selber zugegeben, daß Poin-
carS die Revanchepolitik durchgesetzt habe.
Bei dieser Gelegenheit sei nochmals mit allem
Nachdruck auf die schone Sammlung der von
Berus. Schwertfeger herausgegebenen belgischen
Gesandtschaftsberichte hingewiesen. Den beiden
ersten hier angezeigten Bänden (Grenzboten 1919
Heft 11/12) sind jetzt zwei weitere: „Böhmische
Krise, Agadir, Albanien" und „Kriegshetzereien
und Kriegsrüstungen 191S—1914", sowie ein
Ergänzungsband zur Entstehungsgeschichte des
Zweibunds „Nevancheidee und PanslawismuS"
erschienen(Reimer.Hobbing Verlag,Berlin 1919).
Die große Bedeutung dieser Veröffentlichung
beruht auf zwei Umständen: einmal bildet sie
eins der vornehmlichsten Entlastungsdokument,
gegenüber den Vorwürfen von Deutschlands
Verantwortlichkeit am Kriege. Wir sind zwar
aus innerpolitischen Gründen der Kriegsschuld'
diskussion (mit Recht) reichlich müde geworden,
aber im Gespräch mit Ausländern wird dies
Thema noch auf Jahre hinaus Anlaß zu
Debatten bieten und da ist es nötig, daß
auch der deutsche Privatmann sein geistiges
Rüstzeug blank und bereit hält. Es ist wahr-
haftig nicht gleichgültig, daß Ende Juni ein
Zirkular einer im ganzen alles andere als
deutschfreundlichen Negierung Rußlands an-
laßlose aber gewaltige Rüstungen und Frank¬
reichs Unfähigkeit, die Lasten der dreijährigen
Dienstzeit länger als zwei Jahre zu tragen
verzeichnet, und betont, daß Deutschland nicht
das geringste Interesse am Losschlagen hat
und von sich aus getrost einer friedlichen
Entwicklung vertrauen könne, und daß es noch
am 3. Juli 1914 wörtlich heißt: „Niemand
zweifelt an dein noch immer friedlich gerichteten
Sinn des Kaisers Wilhelm, aber wie lange wird
man noch angesichts des drohenden Vorgehens
Frankreichs und Rußlands und der Folgen,
'die es auf die chauvinistischen und militäri¬
schen Geister des Reiches ausübt, auf diese
Gesinnung zählen dürfen?" Dann aber bildet
die Sammlung für alle, denen an scharfer
und lebendiger Erfassung der Probleme der
europäischen Politik gelegen ist, eine ganz
vorzügliche Einführung und Gelegenheit, sich
durch eigene geistige Arbeit zum Verständnis
außenpolitischer Fragen zu bilden. Raume-'
lich der fünfte Band, der bis 1836 zurückgeht,
bietet in dieser Hinsicht eine zugleich lehrreiche
und fessclndcLektüre. Ein Namen- und Sach¬
register ivird die Brauchbarkeit der Bände
Hans Delbriick, Geschichte der Kriegskunst
im Rahmen der politischen Geschichte.
Vierter Teil. Neuzeit. Berlin 1920,
Verlag von Georg Stille.
Dem im Jahre 1907 erschienenen dritten
Teil des bedeutsamen Werkes ist damit ein
letzter Band gefolgt, mit dem der Forscher
nach seiner Erläuterung im Vorwort nicht
abschließt, sondern abbricht, indem er seine
Studien nicht über Napoleon den Ersten
und dessen Zeitgenossen 'hinausführt. Man
hat also nicht mehr neue Erkenntnisse auf
diesem seinem besonderen Forschungsgebiete
von ihm zu erwarten noch mit einer Weiter¬
entwicklung seiner Anschauungen zu rechnen.
Die Kritik wird vielmehr das vorliegende
Fertige zur Grundlage ihrer Wertungen
nehmen müssen. Delbrück erwähnt selbst,
daß seine Auffassung nicht in allen Punkten
sich durchzusetzen vermocht habe. JnSbeson-
, dere gilt dies von der durch ihn erstrebten
allgemeinen Einführung des Begriffs einer
Ermattungsstrategie, welche sich an die Be¬
trachtung der Kriegsführung König Friedrichs
des Großen knüpft. Die Erinnerung an
den einst jahrelang geführten Strategie-
Streit durchzieht daher als wesentlicher In¬
halt viele Kapitel dieses vierten Teiles der
Geschichte der Kriegskunst. Auf den Versuch
einer neuen Widerlegung der Delbrückschen
Auffassung muß, wenigstens im Rahmen
dieser Anzeige, verzichtet werden; doch ver¬
mögen für den Fachmann die Ansichten des
Historikers, der seinerseits glaubt, eine Lücke
in dem kriegsphilosophischen Gebäude Karl
von Clausewitz' ausgefüllt zu haben, auch
heute noch nicht überzeugend zu wirken. Im
übrigen hat der Verfasser bei der Bearbei¬
tung dieses Bandes, die sich auf zahlreiche
Borarbeiten seiner Schüler, namentlich auch
Martin Hobohms, stützt, von gleicher Breite
und tiefgründiger Ausführlichkeit der früheren
Teile abgesehen. Fast feuilletonistisch lesen
sich die ersten drei Bücher, die das Kriegs¬
wesen der Renaissance, das Zeitalter der
Religionskriege und die Epoche der stehenden
Heere behandeln, soweit eS sich um die Ge¬
schichte der Bewaffnung und der taktischen
Formen handelt. Aber es ist ja auch dies
ein Vorzug, wenn der Leser mit Leichtigkeit
zu den Früchten der Arbeit hingeführt wird,
ohne dem Gelehrten auf allen dornigen
Wegen mühsamer Forschung folgen zu müssen.
Die Entwicklung der stehenden Heere wird
uns an zwei Beispielen geschildert, die als
typisch ausgewählt sind, an Frankreich und
Preußen. Die Herausarbeitung der Unter¬
schiede ist lesenswert; allerdings wird man
eher Delbrücks Auffassung von der welt¬
geschichtlichen Auffassung der Prügelstrafe
zustimmen können — zu der ihn vielleicht
Jakob Burckhardts bekannte Bemerkung über
den Wert einer mit Psychologischem Geiste
geschriebenen Geschichte des Prügelns ange¬
regt hat, — als seiner zum Teil auf anek¬
dotisches Material aufgebauten Beurteilung
des Geistes und der Bildung des preußischen
Offiziers bis in die zweite Hälfte des neun¬
zehnten Jahrhunderts hinein. Bei der von
ihm selbst erlebten Szene dürfte der da¬
malige Prinzengouverneur das Opfer einer
Jronisierung gewesen sein. Man hat im
großen und ganzen den Eindruck eines
Alterswerkes sowie des nachlassenden Inter¬
esses am Eindringen in den der Vergangen¬
heit angehörenden Stoff. Darauf deutet
auch die verhältnismäßig kurze Behandlung,
welche der Epoche der Bolksheere und der
gewaltigen Erscheinung Napoleons des Ersten
zuteil geworden ist. Auf die Skizzierung
einzelner Schlachten aus dessen Feldherrn¬
laufbahn hat Delbrück beispielsweise ganz
verzichtet: vielmehr beherrscht auch da der
Gegensatz zwischen einer Niederwerfungs-
strategie und einer Ermattungsstrategie an¬
statt des Gegenständlichen die Darstellung.
Ein künftiger Geschichtsschreiber der Kriegs¬
kunst wird daher bei der Epoche der stehen¬
den Heere von neuem einsetzen müssen.
Rücksendung von Manuskripten erfolgt nur gegen beigefügtes Rückporto.
Nachdruck sämtlicher Aufsätze ist nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlages gestattet.
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Vorbereitung auk alle Klassen 6er verscbiesenen Schulsysteme
(I_smscnulung). Insbesonclers Vorbereitung fut 6le Linjänrigen-,
?rima- un<Z Reifeprüfung.or. WcdselK.
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Soeben erschien:
Nritik des Weltkrieges
Das Erbe MoltKes und Schliessers im großen Kriege
Von einem Generalstäbler
Mit 12 Karten. Preis: in Halbleinen geb. 30 Mark.
Generalfeldmarschall von Mackenfen: ... Das inhaltvolle Werk hat
mich vom Anfang bis zum Ende in hohem Grade gefesselt ....
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aller bisherigen Veröffentlichungen ....
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ausschauender, großzügiger Blick und vorzügliche klare Wiedergabe ....
General von Lettow-VorverK: .... sehr gut und wertvoll ....
Geschichtsforscher Friedrich M. Kircheifen: ... das beste, was über
die Marneschlacht gesagt wurde ....
Militärisches Echo: .... Ein tiefgründiges, aufsehenerregendes Buch ....
Deutsches Offizierblatt: .... Zweifellos gehört das Werk mit zu dem Bemerkens¬
werteste!, auf militärisch-kritischem Gebiet und verdient regste Beachtung in allen Kreisen . . . .
Weser-Zeitung: .... scharf, aber sachgemäß, ein außerordentlich interessantes
Werk, nicht nur für den Offizier, sondern vor allen« auch für den Laien.
R. ^. Roehler, Verlag, Leipzig.
klenner seinen Nnmorz,
Liebhaber echter tteimatknnst,
Sprachforscher nun viatektsreunüe,
vortrsgenue, besonüerz aber Zachsen
beziehen äaz seit Ishrsehnten beliebte uncl rühmlichst bekannte Werk von Wagner
llohannes Kenaw8l:
WMc aus M ZcverlaMtz
Neue gebunclene Amgsbe in 10 schmiegsamen eleganten vänüchen
?reiz M. 100,-, hierzu Z0"/o neur.^uschlag
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wird in bezug auf Polen, das
gerade den meisten vo» uns ver¬
hältnismäßig fremd ist, diesem
mangelnden Verständnis abhelfen.
>l. f. liietiler. Mg. leidig
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br. IN. 6.— und 20 U Sortinlenterzuschlag
D Der Verfasser ist als Wirklicher Legationsrat im Auswärtigen Amt Generalreferent für Z
D Wirtschaftspolitik und daher Sachkenner der deutschen wirtschaftlichen Schwierigkeiten und der D
- Verhältnisse in den Entcutelttndern, D
D Kann sich Deutschland aus eigener Kraft wieder wirtschaftlich aufrichte»? Z
D Diese für unser ganzes kulturelles Leben entscheidende Frage wird in nüchtern objektiver Weise Z
- durch statistische Unterlage,, zugleich mit der wirtschaftlichen Lage der Ententeländer behandelt. Z
Z Es ergibt sich ein deutliches Bild des Unterschieds der deutschen Kohlen-, Getreide- und Erz' Z
- Produktion zwischen einst und jetzt, deren Folgen für unsere Zahlungsbilanz entscheidend sind. Z
D Deutschlands Not wird weiter zunehmen, bis allen europäischen Völkern klar wird, daß Europa -
I ein Gesamtorganismus ist, der das Schicksal aller seiner Glieder unlösbar miteinander verkettet. Z
D Der Verfasser ist nicht Pessimist! ß
- Das Wichtige an seiner Schrift ist, daß er die großen Grundlinien aufzeigt, um Praktisch S
eine Internationalisierung der Wirtschaft aufzurichten. -
(Mnzgen Miederi^hS Verlttg in <Menn
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Hervorragende Neuerscheinung:
Die Entartung der Revolution
Neue Aufsätze von Hans von sertig
preis 6Gegen jedes Ausnahmegericht
Der falsche politische Verbrecher
Ausweg der RevolutionDie Spur der Revolution
Gefahren der Dauerrevolution
Naturgeschichte des Schiebers
Die Blockade der Intelligenz
Zur Psychologie des Pogroms
(Ordnung und «Ordnung
Neunter November
Revolution und Recht
Das not. Strafrecht u.d. veraltete RevolutionärRevolution als Erzieher
Rächende Umkehr
Erst das Leben, dann die Tebensform
Preußen sein oder die Nacht. Worte beim
Ausmarsch
Die Tveltkriegsrevolution
Vorträge von Dr. E. Stabeler
preis 1,2 gebunden 1.8.75
Die Ursachen der russischen Märzrevolution l95?
Der Bolschewismus und seine Überwindung
Bolschewismus und Wirtschaftsleben
Der kommende Krieg — Bolschewistische
Weltrevolutionspläne
Ist Spartakus besiegt?Weltkrieg—Welttragödie—weltbolschewisinus
Die Revolution und das alte Parteiwesen
Der einzige weg zum Weltfrieden
Mein Aktionsprogramm
Anarchischer Zusammenbruch oder solidarischer
Wiederaufbau
«. L. No»si»v / Vevlag / Leipzig
in to. Juli veröffentlichte ich unter der Überschrift „Spa als Beginn
einer Geschichtsepoche" in der „Deutschen, Allgemeinen Zettung"
Ausführungen, die ich in etwas erweiterter Form wiedergebe.
„Wenn man sich durch Einzelheiten den Blick nicht verwirren
läßt, so galt es, in Spa die Entscheidung zwischen zwei Möglichkeiten
zu treffen: entweder ein genieinsamer Wiederaufbau Europas nach einem gemein¬
schaftlichen rationellen Plan, wobei Deutschland das Höchstmaß der mit seiner
Freiheit und einem bescheidenen eigenen Wiederaufbau vereinbarten Lasten trüget
oder ein möglichstes Schadloshalten der Sieger auf Grund eines zu zerstörenden, zu
zertrümmernden und vom Sieger lediglich nach dessen unmittelbarsten Vorteilen
unfrei zu verwaltenden Deutschlands.
Die erstere Möglichkeit wurde verfochten von den Deutschen, von der englischen
Gruppe um Kehnes, einigen Neutralen und Italienern und vereinzelten wirtschaft¬
lichen Sachverständigen auch in Frankreich. Den letzteren Plan durfte man ver¬
muten bei der französischen Regierung und der Mehrheit des französischen Volkes,
das sich hinsichtlich Deutschlands von der Politik seiner Marschälle kaum unter¬
scheidet. Unentschieden konnte die Stellung des maßgebendsten Mannes, Lloyd
George, scheinen, wenn es auch bedenklich war, daß den Deutschen vor Spa
nicht die leiseste Ermutigung von dieser Seite zuging, daß die abreisende Delegation
sich vielmehr im ganzen wie vor den Untersuchungsrichter geladen vorkam.
Die Konferenz von Spa hat nun einige allzu derbe Unausführbarkeiten des
Friedensvertrages gemildert, im Interesse mehr der Sieger selbst als des Besiegten.
Die monatliche Kohlenmenge wurde von den 3,4 Millionen Tonnen des Friedens¬
vertrages (und den 2,4 Millionen Tonnen der bisherigen Reduktion des Vertrages)
auf zunächst zwei Millionen herabgesetzt. Die Frist für die Entwaffnung wurde
um einige Monate verlängert. Andere Zugeständnisse, wie die ziemlich unbestimmte
Gewährleistung oberschlesischer Kohlenzufuhren oder die Erhöhung des Kohlen¬
preises, illusorisch in einem Zeitpunkt, da die Festlegung unserer Kriegsschuld noch
im Belieben der Sieger steht, verdienen kaum als Zugeständnisse bezeichnet zu
werden.
Diesen Milderungen gegenüber hat das Protokoll von Spa neues Recht im
Vergleich zum Protokoll von Versailles geschaffen, das als entscheidende Verschärfung
unserer Unterlegenheit bezeichnet werden muß. Spa bedeutet den Beginn der
praktischen Fremdherrschaft. In Versailles hatten wir den Krieg erst
theoretisch verloren. In Spa sind alle die Organe und Rechtstitel geschaffen
worden, welche im Augenblick erforderlich sind, um das deutsche Volk in aus¬
ländische Zwangsvcrwaltung zu nehmen. Sie soll uns nicht zum
Besten des deutschen Volkes, sondern zu seinem Schlechtesten, und ausschließlich im
Interesse fremden Raubbaues exploitieren.
Neben die bereits vorhandenen, aber in ihren Vollmachten verstärkten Ent-
wasfnungskommissionen tritt jetzt eine Kohlenkommission, die es in der Hand hat,
deutsche Industrien stillzulegen, deutsche Landesteile und Privnthaushaltungen
nach Belieben erfrieren zu lassen. Die verheerende Bestimmung, daß der Feind
die Qualitäten der ihm auszuliefernden Kohlen bestimmen darf, bedeutet eine
weitere, in den Folgen nicht zu übersehende Abwürgung für deutsche Industrien
und Lebensbelange, außerdem eine elastische Ausdehnung der uns abzuschröpfenden
Brenmvertmenge. Frankreich dürfte immer so viel Kohle fordern, daß die Aus¬
hungerung Deutschlands fortgeht. Man kann die französische und italienische
Begierde nach deutscher Kohle durchaus verstehen, aber die außerordentliche Lage,
daß Deutschland seine wichtigsten Bodenschätze in Zukunft so wenig frei sein eigen
nennt wie seine Finanzen, bedeutet für uns nichts anderes, als daß das nationale
Existenzminimum dauernd durch die Begehrlichkeit anderer Völker in seinem
Innersten bedroht ist. I. M. Keynes, dessen Voraussagen bisher stets durch die
Erfahrung bestätigt worden sind, sagte 1919: „Wenn die europäische Kohlen¬
verteilung zu einem Handgemenge werden soll, in dem Frankreich zuerst, dann
Italien befriedigt wird und jeder andere zusieht, wo er bleibt, dann ist die Zukunft
der europäischen Industrie düster, und dann sind die Aussichten der Revolution
sehr gut."
Das Entscheidende aber ist, daß England seinen bisherigen ganzen bis halben
Einspruch gegen die Besetzung des Ruhrgebiets zurückgezogen hat, und daß diese
jetzt nur noch eine Frage der Zeit zu sein scheint. Die öffentliche Meinung der
Ententeländer wird schon auf diese kommende Tatsache eingestellt, und man versucht
auch die so leicht zu düpierende deutsche Öffentlichkeit auf dieses unvermeidliche
Faktum vorzubereiten, damit sie sich daran gewöhne, und es dann, wenn eintritt
und den letzten Schein deutscher Selbständigkeit begräbt, ebenso stumpf hin¬
genommen werde wie so vieles, was vorherging. Die Lcbensmittelkommission der
Entente, die jetzt ins Ruhrgcbiet abgeht, soll die Arbeiter daran gewöhnen, ihr
Brot von den Franzosen zu empfangen, und im Einverständnis mit gewissen An¬
gehörigen der unabhängigen Partei die Besetzung, d. h. die Annexion des Ruhr¬
gebiets vorbereiten.
Das zentrale Nervensystem der deutschen Wirtschaft ist mit diesen Be¬
stimmungen schon jetzt in fremde Obhut genommen. Es fehlt nur noch die ävtt«
ottomAn« Mdlique. Diese sollen wir wohl in Genf bekommen.
Vergeblich hat man voriges Jahr die deutschen Unterzeichner von Versailles
beschworen: lest in den Geschichtsbüchern die Methoden französischer Annexions¬
politik. Man hackt uns die Gliedmaßen stückweise ab, die Besetzung des Ruhr¬
gebiets wird doch kommen, die Aufspaltung Deuschlands wird fortgesetzt.
Wer so warnte, galt als Phantast. Man schloß ja zu Versailles einen Vertrag.
Dies Papier gewährleistete die Grenzen des „freien" Deutschlands, und über den
Zwangsmaßnahmen bei Nichterfüllung des („bestimmt revidierten!") unerfüllbaren
Vertrags ließen ja damals (1919) die Feinde ein zweideutiges Dämmerlicht.
Hätten die Unterzeichner in Versailles den doch so banalen, so üblichen Gang
französischer Ausdehnungspolitik vorhergesehen, sie hätten gewiß nicht unterschrieben.
Damals glaubte man aber noch an das Bremsen durch England und Amerika.
Der glänzende, volle Sieg französischer Methoden und des französischen Zerstücke-
lungs- und Fremdhcrrschaftsplanes in Spa zeigt, daß auch England sich am Fest¬
land interessiert hat, wie Amerika. Es zieht gerade genug für sich aus Deutschland
heraus und überläßt die verächtlichen Reste dein französischen Sadismus.
Es gibt jetzt zweierlei Toren in Deutschland. Die einen glauben bestimmt,
daß sich England übers Jahr für uns nichr interessieren und „vernünftig" werden,
sogar vielleicht die Franzosen noch vernünftig machen wird. Die anderen reiben
sich strahlend die Hände, wenn der französische Botschafter in Berlin, „Spezialist
für Eingeborenenbehandlung", ein gelegentliches Wort über „gemeinsamen Wieder¬
aufbau" fallen läßt. Anglophilie und Frankophilie ertragen jeden Rippenstoß
und blühen nach jeder schlechten Erfahrung, wie in Spa, nur desto liebevoller wieder
auf. Es ist keinesfalls der Weg, um für Deutschland etwas zu erreichen, wenn man
jede neue Daumenschraube teils nach fünf Minuten schon vergißt und natürlich
findet, teils überhaupt in einen freundlichen Händedruck vor sich selber umlügt.
Und über all dein errichtet nun Spa für jeden deutschen Esser, Steuerzahler,
Kohlenarbeiter oder Staatsmann die große unausweichliche, allgegenwärtige
materielle wie geistige Bevormundung. Mit den altbewährten drei Mitteln der
Fremdherrschaft, Gewaltdrohung, Rechtsverdrehung und separatistischen Liebesgaben
wird der Deutsche dazu gebracht, zu arbeiten, zu zahlen und zu frqnden, damit sich
der französische Herr nach den Opfern und Wunden des Krieges erholen und aus¬
ruhen kann. Jeder Zoll, jede Tonne Kohle, jede moralische Demütigung schwächt
uns, stärkt Frankreich, und so stellt sich im Laufe der Jahre das Kräfteverhältnis
ein, das die heute noch künstliche französische Fremdherrschaft zu einer natürlichen
und bleibenden umwandeln soll. Dann wird die französische Nation ihr 1813 und
1870 herb unterbrochenes säkulares Ziel erreicht, ihr inneres Gleichgewicht wieder¬
hergestellt haben. Was Deutsche dabei fühlen, ist höchstens eine Steigerung der
französischen Siegerfreude, im übrigen einerlei. So sieht wahrheitsgemäß der in
Spa festgelegte Plan „internationalen Wiederaufbaus" aus.
Was ist in unserer Lage zu tun? Überhaupt noch etwas? Die Rettung
aus dem Osten, nach welcher manche ausschauen, erscheint nebelhaft; unser schlimmster
Gegner ist immer noch die alte deutsche Jllusionsfähigkeit und Uneinigkeit der Auf¬
fassung wie der Simmung. Zu tun ist: dieWa h r h elem erkennen. Aus
ihr bildet sich jetzt von selbst die gemeinsame, einheitliche Volksüberzeugung. Wenn
jeder erst die bisher noch so vorsichtig verschleierte Fremdgewalt am eigenen Leibe
spürt, haben Tatsachen das erzeugt, was durch Predigen nie erreicht wird: das
gemeinsame Fühlen, Leiden, Wollen der Nation, Was daraus
kommt, wissen wir nicht. Immerhin kann eine in sich einige Nation auch ohne
Maschinengewehre noch immer mehr erreichen, als eine uneinige im Besitz von
Maschinengewehren.
Wir werden versuchen, die neuen Auflagen zu erfüllen. Der Kohlenarbeiter,
der jetzt Oberschichten verfahren wird, nicht um die deutsche Volkswirtschaft zu
stärken, sondern um uns für Frankreich zu schwächen, fühlt nun das fremde Gebot.
Der Bureauarbeiter fühlt es, der auf Nahrungszulagen verzichten muß, damit jene
Überschichtenfahrer dieselben erhalten. Der Aktionär spürt sie, dessen Werk an
Kohle darbt, während Frankreich bald mit deutscher Kohle Ausfuhrhandel treiben
kann. Der Preuße spürt sie, dem Rheinland und Süddeutschland hinweggeschmeichelt
werden können, wenn der Schlüssel zur deutschen Wirtschaft in Feindeshand ist. Der
Rheinländer, der Süddeutsche aber spürt sie schon heute in Gestalt der Besetzung.
Die Franzosen hatten bisher einen Limes durch Deutschland gezogen. Den
konnten sie mit Truppen halten. Jetzt nehmen sie allmählich doch ganz Deutsch¬
land in Besitz, in modernerer Form, wirksamer als Drusus und Napoleon der Erste.
Daran aber werden sie scheitern. Niemals hat das deutsche Volk als Ganzes Fremd¬
herrschaft ertragen, wenn es als Ganzes sie zu fühlen bekam. Dann stellt sich
langsam aber sicher der ganze Volkswille auf Wiederbefreiung ein, für die es auch
moderne Formen geben dürfte, selbst wenn kein Gewehr mehr im Lande ist. Wir
werden keinen Gedanken, kein Geld, keine Kultur mehr übrig behalten für irgend¬
welche andere Zwecke. Es wird düster werden, wir fangen ganz von unten an, wenn
wir erst einmal ganz drunten sind. Aber dann fangen wir wieder an.
Wir haben zu wenig aus der französischen Geschichte gelernt und sind deshalb
mit unserem Waffenstillstand und Friedensschluß so hereingefallen. Aber auch die
Franzosen haben zu wenig aus der Geschichte gelernt. Sonst würden sie nicht in
Spa die Verwaltung Deutschlands an sich gerissen haben. Ein ungeheurer, unüber¬
sehbarer Umschmelzungsprozeß steht dem deutschen Volk an Leib und Seele bevor.
Das Drama, das 1914 begann, ist noch in den Anfängen.
Der Franzose ist im Begriff, sich wieder zum Erbfeind jedes Deutschen zu
machen. Als im November 1918 Deutschland die Waffen niederlegte oder nieder¬
warf, dachte noch kein Staatsmann der Entente an den Versuch vernichtender wirt¬
schaftlicher oder zertrümmernder politischer Siegesausnutzung. Der Respekt vor dem
Volk von Tannenberg oder Skagerrak war noch zu gewaltig. Heute wird das deutsche
Volk von den Feinden, insbesondere von den Franzosen unterschätzt, wie es 1916
vielleicht noch überschätzt wurde. Man nimmt an, daß auch heute noch Deutschland
sich in seine Bestandteile auflösen und der Deutsche unter fremder Führung wieder
seine alten sklavischen Tugenden entfalten werde. Aber Deutschland verblüfft jeden
Fremden immer aufs neue sowohl durch seine Fähigkeit zur Selbstzerstörung, wie
auch zur Wiederaufrichtung. So viele Versuchs der Verkrüppelung auch an uns
verübt werden, dennoch dürfte sich die Entwicklung wieder nach der aufsteigenden
Richtung bewegen; und es gibt keine militärischen, diplomatischen oder wirtschaft»
liehen Künste für die Franzosen, um dies zu verhindern.
An der heutigen Station unseres Leidensweges aber muß man derdeutschen
Publizistik zurufen: Ziel und Zweck unseres Wirkens sei jetzt, Wesen und
Entwicklung der Fremdherrschaft zu beobachten, klar und nüchtern herauszustellen.
Wir haben Parteigegensätze, und sie werden bleiben. Aber sie müssen jetzt alle auf
gemeinsamen Grund der Fremdherrschaft stehen. Es gilt nach der großen Wendung
von Spa, die Öffentlichkeit auf das Kommende vorzubereiten. Vielleicht wird es
gerade dadurch vermieden, durch offene BeHandlungsweise noch abgewendet. Wenn
nicht, dann werden doch die Parteigcgensätze überbrückt und die Kräfte der Nation
ökonomisch zusamengefaßt, als wenn wir so tun, als ob wir noch Parteikämpfe inner¬
halb eines Staates mit Selbstbestimmung ausfechten dürfen.
Auch muß jetzt schon davon gesprochen werden, bevor die nächsten Etappen
sich verwirklicht haben werden. Denn unter den vielen Paragraphen des Friedens^
Vertrags, die nacheinander aus der Verschleierung hervortreten werden, befindet
sich auch das Verbot der nationalen Propaganda. Es wird vielleicht der Tag
kommen, wo es dem Deutschen verboten sein wird, das Wort Fremdherrschaft noch
auszusprechen.
Zum Schluß noch eine Einzelheit von grundlegender Wichtigkeit. Frankreich
glaubte sich in Spa das Recht erworben zu haben, unser wirtschaftliches Herz, das
Nuhrgebiet, zu nehmen, wenn irgendwann in den nächsten Monaten zwei oder drei
Gewehre mehr in Deutschland vorhanden sind, als uns erlaubt wurde. Dieser
Gewehre werden zweifellos im richtigen Augenblick zu viel da sein. Nun haben wir
uns in Spa das Recht gewahrt, einen solchen Einmarsch, den der Friedensvertrag
nicht vorsieht, als feindlichen Akt aufzufassen.
Wir dürften schon heute keinen Zweifel darüber lassen, daß wir den Einmarsch
einer Kriegserklärung gleich erachten. Das würde den Einmarsch vielleicht nicht
hindern. Aber wenn wir ihn mit einem bloßen lahmen Protest hinnehmen winden,
ohne die diplomatischen Beziehungen abzubrechen, dann hieße das: wir fühlen uns
bereits als rechtloses Vasallenvolk und haben uns darin ergeben. Brechen wir die
Beziehungen ab, so erklären wir offen: wir sind annektiert, zu verlieren haben wir
dabei materiell nun nichts mehr, aber wir sind mit Gewalt überzogen, und der
Feind muß dann auch die Konsequenzen hinnehmen, uns offen mit Gewalt zu
regieren. Das ist für ihn viel unbequemer als die sklavische Anpassung Deutschlands
an seinen Rechtsstandpunkt. Wenn etwas heute noch die Franzosen bedenklich stimmen
kann, ihren Kurs von Spa fortzusetzen, so wäre es die klare Erkenntnis davon, daß
sie dann die Formen einer Gewaltpoliik annehmen und das Advokatische abstreifen
müssen, was innerdeutsch und international für sie unübersehbare Folgen hat. Vor¬
aussetzung aber für diesen wie für jeden anderen Erfolg letzter deutscher Willens¬
regungen und Freiheitskundgebungen ist völlige Einigkeit der Nation."
In den Tagen, da dieser Artikel erschien, mußte man wahrnehmen, daß die
öffentliche Meinung Deutschlands unsicher geworden war. Einerseits herrschte die
Überzeugung von der Unerfüllbarst des Spaer Diktates vor, andererseits bemühte
man sich doch begreiflicherweise, Mittel und Wege für eine Erfüllung zu finden.
Die öffentliche Meinung Deutschlands zeigte sich in entscheidender Stunde wieder
einmal zu schwach und zersplittert. Das Bild, das die „Grenzboten" Ur. 28/29
(Grausame Komödie in endloser Wiederholung) entworfen hatten, traf zu, und
auch jetzt, da uns das Messer an die Kehle angesetzt ist, erschöpft sich die deutsche
öffentliche Meinung statt in geschlossener Abwehr in gegenseitigen unfruchtbaren
Plänkeleien. Auch hatten die wirtschaftlichen Sachverständigen ihre Tatsachenkenntnis,
aus der unsere Lage in erschütternder Deutlichkeit hervorgeht, nicht in genügenden?
Umfang zur Kenntnis der weiteren Öffentlichkeit gebracht.
In dieser Sachlage entschloß sich die Schriftleitung der „Grenzboten"
in Verabredung mit dem Herausgeber der „Europäischen Staats- und Wirt¬
schaftszeitung" Herrn Dr. Steinitzer, dem Chefredakteur der „Deutschen All¬
gemeinen Zeitung" Herrn Dr. Kaufmann und dem Berliner Vertreter der
„Kölnischen Zeitung" Herrn Dr. Wiens eine Aussprache zwischen den wirtschaft¬
lichen Sachverständigen und führenden, Vertretern der öffentlichen Meinung in die
Wege zu leiten. Diese Aussprache hat am 23. Juli stattgefunden; ihre Ergebnisse
werden in dem Augenblick, da diese Zeilen geschrieben werden, durch die Presse
schon der Allgemeinheit zugegangen sein. Ein ausführliches Referat der Aus¬
führungen des Herrn Stinnes wird in den „Grenzboten" und der „Europäischen
Staats- und Wirtschaftszeitung" erscheinen.
Die Ausführungen der Herren Stinnes, Vogler und v. Siemers bewegten
die Versammlung durch die greifbare Deutlichkeit, mit der sie die wirtschaftliche
Zerrüttung des ganzen deutschen Volkes infolge des Kohlenentzuges darstellten.
Wir Deutsche neigen zu einem illusionären Optimismus. Wir haben in jedem
Monat eine neue Illusion. Die Illusion des Monats Juli kann man vielleicht mit
dem Wort „Braunkohle" bezeichnen. Wir versuchen uns einzubilden, daß die
erwürgte deutsche Volkswirtschaft durch eine gesteigerte Verwertung der Braunkohle
abzuwenden wäre. Diese Illusion wird wohl schon im nächsten Monat geschwunden
sein, aber dann haben wir vielleicht schon eine neue und merken wie Hans im Glück
gar nicht, wie wir von Monat zu Monat tiefer sinken. Wie die Nation von diesem
Übel genesen und vom Engländer die Verbindung eines rücksichtslosen Pessimismus
der Erkenntnis mit ebenso rücksichtslosem Optimismus der Tat lernen wird, ist nicht
abzusehen. Sie müßte mehr als bisher auf die Stimme ihrer eigentlichen Führer,
in diesem Falle der Führer des Wirtschaftslebens, hören. Die Männer, denen wir
an dem Abend zuhören durften, sind Optimisten der Tat in einem seltenen Sinne,
ihre Erkenntnis von der tief pessimistischen Lage unseres Vaterlandes birgt darum
Nicht die Gefahr einer qutetistischen Erschlaffung oder untätigen Verzweiflungs¬
stimmung.
Der Nation sind zur Zeit die unmittelbaren Wege zur Macht versperrt.
Gelangt sie aber zur Einheit der Erkenntnis, so wird auch die
Einheit des Handelns nicht ausbleiben, die allein uns noch helfen kann und nichts
sonst auf der Welt.
lie Premierminister Englands und Frankreichs haben sich vor ihren
Parlamenten der Erfolge gerühmt, die sie in Spa erzielt haben. Der
deutsche Außenminister hat mit der berechnenden.Ruhe und Ab-
gewogenheit, die sein Wesen kennzeichnet, geäußert, daß Spa für
> Deutschland keinen Erfolg bedeute. Ein neutraler Beobachte^ der
die Kräfteverhältnisse der gegnerischen Parteien unvoreingenommen prüft, wird
hierzu manches zu bemerken haben.
Die Lage Deutschlands auf der Konferenz war die vollkommener Verein¬
samung. Besiegt, im Innen zerwühlt, erschien es allein vor einer geschlossenen
Phalanx von Gegnern, deren erbittertster, Frankreich, den Ton angab und der
ganzen Technik der Verhandlungen das Gepräge abstoßender Schroffheit zu geben
versuchte. Wie nie noch ein besiegtes Volk in der Weltgeschichte, so stand Deutsch¬
land vor seinen Siegern. Wehrlos, ohne materielle eigene Quellen, ohne Hilfs¬
möglichkeit von außen. Der Boden, auf dem es die Verhandlungen zu führen, seine
Rechte zu vertreten, um seine Existenz zu kämpfen hatte, war durch die Schranken
eines Friedeninstrumentes eingeengt, wie die Geschichte eines von ähnlicher Härte
und ähnlichem Raffinement bisher noch nicht gesehen hatte. Gestützt auf diese
Kodifikation brutalen Willens, schienen die Sieger alles verlangen und jede Ein¬
wendung mit drohender Gebärde zurückweisen zu können. Hierzu kam, daß die
Stellung Deutschlands gerade im Hinblick auf einzelne Bestimmungen des Friedens¬
vertrages von Versailles eine formell ziemlich schwache war, da gewichtige Ver¬
pflichtungen, wie die der Reduktion der Heeresstärke aus 100 000 Mann, nicht ein¬
gehalten worden waren. Sicher nicht mals. linke, wie die Gegenseite behauptete,
sondern in der Erwartung, daß die Unmöglichkeit dieser Stipulation beim ersten
freien Meinungsaustausch, der sich mit den früheren Gegnern am gemeinsamen
Verhandlungstisch eröffnete, klargestellt werden könne. Immerhin war Deutsch¬
land in der Erfüllung dieser Leistung im Verzug und hatte die Folgen dieses Ver¬
zuges zu gewärtigen.
In dieser Atmosphäre von Haß und Vernichtungswillen, von Abneigung
und Mißtrauen hat Deutschland sich mit Anstand behauptet und manches beachtens¬
werte Ergebnis erzielt. Daß es seine Verhandlungen mit Anstand geführt und
seine Stellung, seiner furchtbaren Lage ungeachtet, mit Würde vertreten hat, war
her stärkste und unmittelbarste Eindruck, den alle nichtdeutschen Teilnehmer ge¬
wannen und dem in engerem Kreise selbst die französischen und englischen Staats¬
männer Ausdruck gaben. In diesen: Wiedergewinn an Prestige, dessen sich Deutsch¬
land noch nicht klar bewußt scheint, liegt ein starkes Saldo moralischer Natur, das
Deutschland für sich verbunden kann. Daß es ein Mann des alten Systems war, der
dem Ansehen seines zerschmetterten Landes zu einer, wenn auch vorerst gedämpften,
aber immerhin schon leise erkennbaren Anerkennung verhalf, ist an sich eine
häusliche Angelegenheit Deutschlands. Diese Tatsache wird aber auch von der Außen¬
welt und von den Gegnern Deutschlands nicht ohne Interesse registriert und ist Gegen-
stand vielfachen Meinungsaustausches unter den Staatsmännern der Entente gewesen.
Fast ein Jahr lang hat man das deutsche Volk in dem Wahn gelassen, Deutschland
würde dadurch, daß es sozialistische Minister mit der Führung seiner Auslandsgeschäfte
betraut und jeden Mann der alten Schule sorgsam von diesen Geschäften fernhält,
das Vertrauen des Auslandes gewinnen. Wie schlecht diese Methode auf eben dieses
Ausland wirkte, und wie wenig insbesondere die Versuche der früheren deutschen
Regierung geschätzt wurden, durch Berufung von Parlamentariern auf Auslands¬
posten dein neuen Deutschland Freunde zu gewinnen, davon hat man sich in Deutsch¬
land wohl schwerlich eine richtige Vorstellung gemacht. Die Konferenz von Spa hat
in dieser Hinsicht neue Aspekte eröffnet. Dies fühlt man auch, wie wir Neutralen
wohl bemerken, in Deutschland. Aus der allgemeinen Anerkennung, die dem ruhigen,
würdigen und klugen Auftreten von Dr. Simons, von der öffentlichen Meinung
Deutschlands, ohne Unterschied der Parteirichtung gezollt wird, und die ihre Stütze
sogar in Äußerungen gegnerischer Staatsmänner findet, klingt die unbewußte
Genugtuung heraus, die das deutsche Volk darüber empfindet, seine Angelegen¬
heiten in den Händen eines ernsten und erfahrenen Fachmannes zu wissen. Für
den jungen deutschen Parlamentarismus bedeuten diese spontanen Äußerungen
des Volksempfindens nicht gerade eine Ermunterung. Die Kluft, die hinsichtlich der
Führung der Staatsgeschäfte zwischen der Auffassung des Volks und jener des
Parlaments besteht, tritt hier für den Außenstehenden klar zutage. Deutschland
fühlt, daß die Volksredner und Wichtigtuer, die den Gang der Parlamentsgeschäfte
bestimmen und des Beifalles der ihnen ergebenen Koalitionspresse unter allen
Umständen sicher sind, in dem Augenblick versagen, in dem ihre Leistungen am
nüchternen Auslandsmaßstabe gemessen werden müssen. Dr. Simons, dem sich die
einmütige Zustimmung der Nation zuwendet, ist das gerade Gegenteil eines parla¬
mentarischen Ministers. Er hat sein ganzes Leben der inneren Politik und ihren
Parteikämpfen ferngestanden. Für seine ganze dienstliche und politische Betätigung
ist nie eine parteipolitische Erwägung, sondern lediglich der Staatsgedanke ma߬
gebend gewesen. Die Verhandlungen in Spa haben die starke Überlegenheit er¬
wiesen, die ein derart in langer Lebensarbeit auf das Staatsinteresse eingestellter
Geist über die Meister der Redekunst besitzt, mit denen er sich in die Geschäfte teilen
muß. Diese Verhandlungen haben erwiesen, daß der allzu rasch gewordene deutsche
Parlamentarismus aus Eigenen: noch nicht die Kräfte finden kann, deren die
Nation in schweren Augenblicken bedarf. Der Kanzler Fehrenbach, eine Art Nein¬
kultur des deutschen Reichstages, verschwand völlig, spurlos und bedeutungslos
hinter Simons, dem Mann, der dem Reichstag noch vor wenigen Wochen völlig
unbekannt war. Für den neutralen Beobachter liegt hier ein beachtenswertes
Symptom vor. Das deutsche Volk ist im Kriege besiegt, das Arbeits- und Ver¬
waltungssystem aber, unter dem es vor den: Kriege gelebt hatte, war tüchtig und
gediegen. Im gegenwärtigen Außenminister hat Deutschland wieder einen typischen
Vertreter dieses alten Verwaltungssystems kennen gelernt. Dieser Typ gäbe auch
gewisse Bürgschaften für die Zukunftsentwicklung Deutschlands, wenn das deutsche
Volk sich an ihn halten wollte. Die Lage des Deutschen Reiches ist eine zu beengte,
sein Schicksal ist ein zu tragisches, als daß es sich erlauben dürfte, seine sämtlichen
Geschäfte durch Dilettanten des Reichstages besorgen zu lassen. Solange das
Niveau des deutschen Parlamentes sich nicht dem anderer Großstaaten nähert, wird
der deutsche Reichstag gut tun, sich mit einigen parlamentarischen Vertrauens¬
männern im Kabinett zu begnügen und die Führung der Staatsgeschäfte denen
zu überlassen, die sie verstehen.
Greift in Deutschland diese Erkenntnis Platz, so würde die Konferenz von Spa
eine Entwicklungsmöglichkeit bedeuten, die dem Prestige Deutschlands als Nation
zugute käme. Die Deutschen haben in Spa — darüber wird auf diesen Blättern an
anderer Stelle eingehend gesprochen — manch Positives erreicht. (Sie mögen sich,
soweit sie sich von der Geschäftsführung unbefriedigt fühlen, mit den Italienern
trösten, deren Vertreter in abgelegner Weite vom Konferenzort hausten, und die
ihre Vereinsamung in vertrauter Aussprache ungescheut beklagten. Wenn schon
ein Alliierter, der anerkannt gern Opfer für die Ententesache gebracht hat, so wenig
zuvorkommend behandelt wurde, kann man sich über manche Härten der deutschen
Aufcnthaltsbedingungen weniger wundern.) Die Frist zur Herabsetzung der
deutschen Heeresmacht ist verlängert, die Menge der von Deutschland nach den
allerdings unsinnigen Bestimmungen des Versailler Friedens zu liefernden Kohlen
ist herabgesetzt, die Lieferung von Lebensmitteln zur Steigerung der Arbeitsmög-
lichkeitcn ist zugesichert, für die Verhandlungen über die finanziellen Wiedergut¬
machungen ist der Boden bereitet worden. Gewiß sind mit diesen Zugeständnissen
der Entente harte und demütigende Auflagen verbunden worden. Rafft sich aber
Deutschland wieder zum Geist nüchterner Arbeitsamkeit und methodischer Geschäfts¬
führung auf, dem es seinen wundervollen wirtschaftlichen Aufstieg vor dem Krieg
verdankte, dann wird es auch imstande sein, den Voraussetzungen den Boden zu ent¬
ziehen, unter denen diese Auflagen, insbesondere die Besetzung des Ruhrgebictes,
in Kraft treten. Daß im deutschen Volk für diesen Geist von ehedem Sinn und
Verständnis besteht, hat die Geschlossenheit gezeigt, mit der es sich hinter den
ernsten und erfahrenen Mann gestellt hat, der in der Person des Dr. Simons seine
Interessen in Spa vertreten hat. Es ist zu wünschen, daß dieses Verständnis auch
im deutschen Parlament Platz greift. Dem deutschen Reichstag tut Selbsterkenntnis
und Selbstbescheidung dringend not, nach alle dem, was die Männer seiner Wahl
von Erzberger bis Adolf Köster an Dilettantismus auf dem Gebiet der äußeren
Politik geleistet und am deutschen Volk verbrochen haben. Jeder Hinweis darauf,
daß in den anderen parlamentmisch regierten Ländern ausschließlich Parlamentarier
die Regierung führen, würde beweisen, daß es an den Anfängen dieser Selbst¬
erkenntnis noch fehlt. England, Frankreich und Italien blicken auf eine alte
parlamentarische Tradition zurück und verfügen über eine ganze Generation in der
Führung öffentlicher Geschäfte gereifter und hochwertiger Parlamentarier. Von
der Erreichung eines solchen Beharrungszustandes ist Deutschland noch weit entfernt.
Es wäre mit der methodischen Art der Deutschen und mit ihrer Neigung für Ernst
und Sachlichkeit schwer zu vereinbaren, wenn sie dabei beharren wollten, die
Führung ihrer Regierungsgeschäfte und die Vertretung ihrer Lebensfragen
Männern anzuvertrauen, denen es an der Mehrzahl der hierfür nötigen Voraus¬
setzungen mangelt. In diesem Sinne kann Spa ein Gegenstand der Selbst¬
belehrung für Volk und Parlament in Deutschland werden.
L^W!
W^to^N^^lus dem Altertum ist uns die Vorstellung überliefert, daß Europa
kein selbständiger Erdteil sei. Wir haben vergessen, daß die Grenze
zwischen Europa und Asien nur willkürlich gezogen ist, daß Europa
und Asien eins sind, daß Asien die Wiege der Völker ist, die, nach
iWesten drängend, Europa besiedelten. Vor dem Kriege schien
uns das eigentliche Europa an den Westgrenzen Rußlands zu enden. Dort
schon schied sich die Gemeinschaft der Kultur, der Wirtschaft und der Zivilisation
der West- und mitteleuropäischen Völker von den gewaltigen asiatischen Länder¬
und Völkermassen, über die wir wohl mehr oder weniger genau unterrichtet
waren, die uns aber doch fern erschienen, trotz vieler geschichtlicher, wirtschaft¬
licher und politischer Verknüpfungen, fern wie eine andere Welt. Und die
asiatischen Völker erkannten die kulturelle, geistige und wirtschaftliche Vor¬
herrschaft der westlich der russischen Grenzen die europäischen Vorländer Asiens
bewohnenden Völker an und mußten sich vielfach, willig oder widerstrebend,
ihrem politischen und wirtschaftlichen Imperialismus beugen.
Im Weltkriege zerfleischten sich die europäischen Nationen. Und der
Nimbus der Überlegenheit der europäischen Kultur und Zivilisation ging unter
in den Kämpfen des Weltkrieges, vor denen, die ihn aus der Ferne betrachteten,
vor denen, die aus Vorder- und Hinterindien als englische und französische
Hilfstruppen in dem ihnen unverständlichen Kampf gegen Mitteleuropa ihr
Leben einsetzten, vor denen, die aus den weiten Landstrichen Sibiriens und
Transkaspiens unter dem Befehl des Zaren gegen Deutschland und Österreich-
Ungarn heranfluteten, vor denen, die den Mitteleuropäer geächtet sahen von
Franzosen und Engländern in allen Teilen Asiens, wo man bis dahin die
Europäer, trotz allem, als etwas Einheitliches, als Vertreter höheren Menschen¬
tums zu betrachten gewohnt war. Und überallhin drang die Propaganda gegen
Deutschland, die blutige, verleumderische Hetze, der Schrei vom verletzten
Völkerrecht, von der Freiheit und vom Selbstbestimmungsrecht der Völker.
Und in Rußland erhob sich in grauenhafter Reaktion gegen die ungesunde,
kranke Zarenherrschaft der Kommunismus mit neuen Lehren, die Befreiung
von überlieferter Unfreiheit und altem Joch verhießen. Den Kapitalismus im
eigenen Volke und dann in der ganzen Welt zu überwinden, war das Ziel der
neuen Lehre.
Der Kapitalismus aber ist der Vater des Imperialismus unserer Zeit.
Und so wandte sich der Bolschewismus nicht allein gegen die durch den Kapita¬
lismus bedingte gesellschaftliche Gestaltung der zivilisierten Völker, mehr und
mehr wurde er, von den Siegern im Weltkriege bekämpft, zum Todfeinde des
von diesen vertretenen Imperialismus, zum Bundesgenossen aller asiatischen
Völker, die unter dem imperialistischen Joch europäischer Staaten seufzten.
Unterschiede des Glaubens und der Nationalität traten zurück gegenüber
der neuen Lehre, die sich an die breiten Massen aller Länder gleichmüßig wendet.
Und wo wie im Islam das kommunistische Evangelium als Grundlage einer
neuen Gesellschaftsordnung keinen Boden findet, da wirkt es nicht weniger
stark in seinem Streben nach Befreiung der Völker vom europäisch-imperialisti¬
schen Joch. Das zaristische Rußland wollte sich einst in seinem Drang zum Meer
Indien, Persien und die Türkei unterwerfen, das kommunistische Rußland nimmt
die überlieferte Feindschaft gegen England wieder auf, sucht aber in diesem
Gedanken und mit diesem Ziel den Weg zum Meer im Zusammenschluß mit den
Völkern des asiatischen Festlandes und strebt einen asiatischen Imperialismus
an, der sich unmittelbar gegen den englischen Imperialismus richtet, der im
Gedanken der Weltrevolution Europa mit Asien vereinen, es in einem neuen
großen asiatischen Gedanken aufgehen lassen will.
So wird aus dem Russentum, das Europa und Asien verbindet, beiderseits
des Ural seinen starken Einfluß ausübt, ein neuer weltgeschichtlicher Gedanke
geboren. Der Krieg, der mit dem Frieden von Versailles und den zugehörenden
Friedensschlüssen seinen vorläufigen Abschluß fand, erscheint als ein Vorspiel
einer gewaltigen Menschheitsbewegung, in der, ähnlich wie in den Zeiten der
Völkerwanderung, neue Kräfte aus den weiten Landmassen Asiens hervor¬
brechen, die europäischen Mächte, insbesondere Englands asiatisches Imperium
schwer bedrohend. Asien bäumt sich auf gegen die Vorherrschaft seiner kleinen
Halbinsel Europa. Und das Wort vom Selbstbestimmungsrecht der Völker,
von den Siegern nur dort angewandt, wo es galt, politischen Einfluß zu er¬
werben und den Besiegten ohne Rücksicht auf historische und wirtschaftliche
Zusammenhänge zu verstümmeln oder zu vernichten, wurde nun zum einigenden
Programm, das die asiatischen Völker mehr und mehr unter sich und mit Moskau
verknüpfte.
So finden wir in der vom Bolschewismus verheißenen Erlösung der breiten
Massen von den Mühen ihres Daseins, in dem Kampf gegen die Vorherrschaft
europäischer Mächte über Asien und im Streben nach Selbstbestimmung der
Völker die Gedanken, mit denen die Unterschiede sich früher bekämpfender Na¬
tionalitäten und Religionen überwunden werden. Und die Politik der Sieger
im Weltkriege, vor allem Englands, tut das ihre, um diese Einheitlichkeit zu
fördern und die Kräfte in Asien, die sich früher die Wage hielten, zu einen.
Einst fürchteten die Türken den Russen, es bestand Feindschaft zwischen Türken
und Bulgaren, Türken und Arabern, Türken und Persern. Englands Herrschaft
in Indien fand ihre stärkste Stütze in der Uneinigkeit der indischen Völker. Früher
konnte britische Politik einen Staat gegen den anderen ausspielen. Jetzt sind
sie alle vereint, weil sie alle von der Politik der siegreichen Westmächte bedroht
sind.
Von den islamischen Völkern wird Englands Politik als treulos erkannt
und als schwerste Verletzung der heiligsten Gefühle der islamischen Welt
empfunden. Den indischen Mohammedanern wurde im Anfang des Krieges
durch Lord Hardinge, den damaligen Vizekönig, feierlich versichert, daß der
Krieg gegen die Türken nur das Ziel habe, die Stellung des türkischen Sultans
und sein erhabenes Amt als Kauf zu stützen und zu stärken, durch Befreiung
der Türken vom Joch der Jungtürken. Der Krieg richte sich auch nicht gegen
das türkische Volk und die heiligen Stätten des Islam. Noch aM S. Januar 1918
erklärte Lloyd George, daß England die Türkei nicht bekriege, um sie ihrer
Hauptstadt, Kleinasiens oder Thraziens zu berauben. So blieben die indischen
Mohammedaner England treu und leisteten ihm im Weltkriege die größten
Dienste. England aber arbeitete entgegen allen Versprechungen während des
Krieges an der inneren Zersetzung der Türkei, um dann, nachdem die Entscheidung
gefallen war, in dem am 11. Mai 1920 der türkischen Regierung übergebenen
Friedensverträge den alten türkischen Staat zu zerschlagen und einen nur dem
Namen nach selbständigen, in Wirklichkeit unter Vormundschaft stehenden
Torso bestehen zu lassen.
Starke Erregung durchzittert die islamische Welt. In Indien hat der
Wortbruch Englands heftige Erbitterung bei den mohammedanischen Indern
aller Sekten ausgelöst. Die Hindus schließen sich ihnen an. Ende Mürz 1920
hat eine indische Kalifatsdelegation bei Lloyd George gefordert, daß der Kauf
seiner weltlichen Macht nicht entkleidet werden dürfe, daß er Schirmherr der
heiligen Stätten bleiben müsse, ob sie nun wie Mekka und Medina an den von
Englands Gnaden geschaffenen König Hussein von Hedschas überwiesen, oder
wie Jerusalem und die in Mesopotamien gelegenen heiligen Stätten unter
englisches Protektorat gestellt sind.
Die arabischen Stämme, denen englische Propaganda seit Jahren Be¬
freiung von der türkischen Herrschaft verheißen hatte, sind nicht gewillt, sich an
Stelle des erhofften großarabischen Staatswesens in Mesopotamien und Syrien
englischem oder französischem Einfluß zu unterwerfen.
Ein Abkommen, das England am 9. August 1919 mit der schwachen Re¬
gierung in Teheran schloß, sollte aus Persien ein zweites Aegypten machen.
Unter Kutschuk Khan erhoben sich aber im Bündnis mit dem Bolschewismus
die kriegerischen Stämme Nordwestpersiens gegen England und die von England
abhängigen persischen Kreise.
So bebt es in der ganzen islamischen Welt, gard es in Indien und Aegypten,
flammt in Kleinasien unter Mustafa Kemal Pascha offener Krieg gegen Eng¬
länder und Franzosen und die im englischen Sold kümpfenden Griechen auf.
Und gleichzeitig verknüpft sich in Indien, den indischen Raubstaaten, Persien,
der Türkei die bolschewistische Agitation, die Politik Tschitscherins mit der Be¬
wegung im Islam.
England hat die Gefahr erkannt, die ihm aus dein Zusammenarbeiten
des Bolschewismus und des Islam in einer asiatisch-imperialistischen Idee
erwächst. Darauf vertrauend, daß es der islamischen Bewegung Herr werden
wird, sucht es den Bolschewismus von ihr zu trennen. Und so strebte es zunächst
danach, den Bolschewismus mit Gewalt zu stürzen und das russische Reich
dem System der europäischen Demokratien einzuordnen. Es unterstützte die
gegenrevolutionären russischen Generale, suchte selbst durch Truppenlandungen
in Archangelsk und Odessa einzugreifen und hat vou dem Vorstoß der Polen
gegen Sowjetrußland im April 1920 wohl den Zusammenbruch der bolsche¬
wistischen Herrschaft erhofft. Der Erfolg blieb aus. Die Angriffe von außen
stärkten die militärischen Kräfte der russischen Revolution, die sich nicht allein
behauptete, souderu siegreich alle ihre Geguer niederschlug, zuletzt in dem
größten Kriege, den sie bisher zu führen hatte, den russischen Nationalfeind,
den Staat, der Deutschland für immer von Rußland trennen sollte, die Polen.
Und so beginnt Englands Politik, in der Erkenntnis, daß das neu erstehende
Rußland mit Waffengewalt nicht niederzuwerfen ist, schon seit Monaten um¬
zuschwenken und versucht, wirtschaftliche Beziehungen zu Nußland anzuknüpfen,
dnrch sie die von Asien drohende Gefahr zu bannen. Und sie schlägt Rußland
jüngst Waffenstillstand und Frieden vor und fordert von ihm das Ende des
Krieges gegen Polen.
Die Sowjetregierung fordert ihrerseits vor allem Anerkennung durch die
westeuropäischen Großmächte. Gleichzeitig aber verhehlt sie nicht, daß sie wirt¬
schaftliche Zusammenarbeit mit anderen Industriestaaten dringend braucht.
Denn der Bolschewismus hat Rußlands Wirtschaft, seine Industrie, sein Trans-
portwesen schwer geschädigt. Aus eigener Kraft kann der Wiederaufbau nicht
erfolgen. Fremde Hilfe ist nicht zu entbehren. Aber die Sowjetregierung weih
auch, daß Europa den Wiederaufbau Rußlands dringend braucht, weil es auf
die Dauer die russischen Rohstoffe, das russische Getreide nicht entbehren kann.
Und so tritt auch auf wirtschaftlichem Gebiet Sowjetrußland den Westmächtcn
mit großartigem Selbstbewußtsein als gleichberechtigte Macht gegenüber.
Im Dunkel der Zukunft ruht die weitere Entwickelung des hier umrissenen
asiatischen Problems. Auch im fernen OJen tauchen im japanischen kapita¬
listischen Imperialismus neue Probleme auf, die China und Rußland berühren
und der Lösung in näherer oder ferner Zukunft harren. In Deutschland aber
beginnt mau zu fühlen, daß das asiatische Menschheitsproblem auch uns mit¬
reißen wird, daß hier auch für unsere Zukunft bestimmende Entscheidungen
heranreifen.
Die zahllosen Fäden, die uns mit der Weltwirtschaft verbanden, sind
zerrissen. Auf eigenen Schiffen führten wir bis zum Kriege unserer Industrie
Rohstoffe zu, verteilten wir unsere Fabrikate über die Welt. Unsere Schiffe
sind uns genommen, zahlreiche Rohstoffe, die früher nur oder vorzugsweise
in Deutschland verarbeitet und durch deutschen Fleiß der Weltwirtschaft dienstbar
gemacht wurden, finden jetzt Weiterverarbeitung an anderer Stelle. Unser
gewaltiger Handel ist in vielen Ländern der Erde ausgeschaltet. Wir müssen
neue Wege, neue Rohstoffgebiete, neue Absatzmärkte suchen. Und da liegt im
Osten Rußland, das gewaltige Asien, der Kräfte harrend, die ihm neues Leben
geben sollen. Ein Engländer, I. M. Keynes, weist darauf hin, daß Rußlands
Wiederaufbau Deutschlands Zukunftsaufgabe ist, wenn er in seinem Buch
„l'lie economie conseyuences ok tke peaco" sagt: „Ich sehe kein Mittel, die
Verluste der russischen Produktion wieder gutzumachen außer durch deutschen
Unternehmungsgeist und deutsche Organisation. Es ist aus geographischen und
manchen anderen Gründen unmöglich, daß Engländer, Franzosen und Ameri¬
kaner das unternehmen."
Mit unserer wirtschaftlichen Zukunft also sind wir tief verstrickt in das
asiatische Problem. Und da alle Politik ein Ausfluß der Lebensäußerungen und
Lebensnotwendigkeiten eines Volkes ist, so muß sich auch unsere Politik nach
außen und innen mit ihm auseinandersetzen und verknüpfen.
Von Osten her rücken die bolschewistischen Armeen näher und näher unseren
Grenzen zu. Auch ein Waffenstillstand mit Polen ist vielleicht kein endgültiger
Abschluß. Wohl siud die Russen schwach gegenüber den Millionenheeren des
Weltkrieges, gegenüber den Rüstungen der Mächte, die im Westen Deutschland
mit Einmarsch in deutsches Land, ins Ruhrgebiet bedrohen. Kaum mehr als
400 000 Mann mögen die bolschewistischen Truppen zählen. Auch unsere eigene
Rüstung ist schwach; sie verringert sich unter fremdem Druck von Tag zu Tag
und damit schwindet immer mehr die Möglichkeit wirksamen Schutzes unserer
Grenzen. Es ist die große Aufgabe unserer Politik, Deutschland in das asiatische
Problem hineinzuführen und die friedliche Politik Rußland gegenüber fort¬
zusetzen. Rußland muß wissen, daß Deutschland mit ihm friedlich zusammen¬
arbeiten will im gegenseitigen Austausch geistiger und materieller Güter. Wir
sind neutral in den Kämpfen zwischen Rußland und seinen Gegnern und fordern
dafür, daß Rußland die Grenze des deutschen Volkstums achtet, auch über die
jetzigen Grenzen Deutschlands hinaus. Den Friedensvertrag von Versailles
werden wir nach bester Kraft erfüllen und uns durch unsere Arbeit Vertrauen
erwerben in der ganzen Welt. Aber niemals wird sich ein Deutscher dazu bereit
finden, Rußlands Feinden mittelbar oder unmittelbar zu helfen, solange Rußland
unsere Grenzen achtet.
Uns liegt die große Aufgabe ob, die Lösung des asiatisch-europäischen
Problems zu finden, soweit es im Gegensatz zwischen extremen Kapitalismus
und seiner Verneinung, dem Bolschewismus liegt. Verfallen wir selbst dem uns
wesensfremden Bolschewismus in irgend einer Form, entwickeln wir nicht aus
uns selbst und in unserem Volke die Lösung der großen Frage der verantwort¬
lichen, freudigen Teilnahme aller Schichten des Volkes und jedes einzelnen am
wirtschaftlichen und öffentlichen Leben, so ist unsere Zukunft dahin, so gehen
wir unter in einer Bewegung, die uus tötet und verschlingt, weil sie unserer
Wesensart nicht entspricht. Die religiöse Auffassung des Russentums läßt den
einzelnen in der Allheit aufgehen, germanischer Glaube erblickt in der Erlösung
des einzelnen, des Individuums den Weg zur religiösen Erlösung der Gesamtheit.
Hier liegen die tiefsten Wurzeln der grundlegenden Unterschiede des russischen
Bolschewismus gegenüber der germanischen Auffassung des Sozialismus.
Beide Völker müssen den Weg gehen, der ihrer Eigenart entspricht. Die Frage,
ob wir an unserer Eigenart festhalten und auf ihr weiterbauen oder ob wir von
dem russischen Jdeenkreis überwunden werden, entscheidet über die Zukunft
des Deutschen schlechthin, entscheidet darüber, ob wir dem asiatischen Problem
gegenüber handelnd und schaffend uns behaupten oder leidend von ihm ver¬
schlungen werden. Sie entscheidet darüber, ob Deutsche und Slaven sich fördernd
und gegenseitig ergänzend an der Zukunft bauen oder ob das Deutsche im
Slaventum untergeht. In den innersten, den religiösen Kräften, im Behaupten
der Eigenart und im Weiterbau auf ihr ist das Schicksal der Völker beschlossen.
Luzern, den 30. Juni 1916.
Was die politische Gesamtanlage anlangt, so sieht Graf L,, den ich im Auftrag
Eurer Exzellenz besuchte, mit schwerer Sorge in die Zukunft. Er ist auf Grund
der ihm von England zugehenden Nachrichten überzeugt, daß England noch einen
weiteren Winter 1916/17 kämpfen will und befürchtet, daß es der englischen
Diplomatie gelingen wird, die Verbündeten bei der Stange zu halten, ganz besonders
nachdem ihnen der Gang der Operationen in der Bukowina und der Rückzug der
Österreicher aus Oberitalien neuen Mut und neue Zuversicht eingeflößt hätten.
Hierzu komme noch, daß, soweit er die Sache überschauen könne, die Ernte in
Deutschland nicht so günstig auszufallen scheine als ursprünglich angenommen und-
bedauerlicherweise in der Öffentlichkeit (Presse) für notwendig erklärt worden sei.
Ich gewann den Eindruck, daß Graf L, sich darüber wundert, daß die Zensur,
die bei uns doch musterhaft arbeite, der Erörterung der Ernährungsfragen so
weiten Spielraum gewähre, während doch gerade diese Dinge von der Presse
und den Agenten des Vierverbandes auf das sorgsamste verfolgt würden. Außerdem
scheint Graf L., der in Österreich-Ungarn selbstverständlich sehr viele Attaches
besitzt und über die dortigen Verhältnisse genau unterrichtet ist, zu befürchten, das;
die Donaumonarchie auf die Dauer mit dem Menschenmaterial nicht nach¬
halten kann.
Luzern, den 17. Juli 1916.
Sowohl aus Genf wie aus Bern sind mir über die von den Russen gegen
Galizien vorbereitete, neue und gewaltige Offensive Informationen zugegangen,
die dadurch, daß sie, obwohl aus so diametral verschiedenen Quellen stammend,
dasselbe besagen, selbstverständlich an Bedeutung gewinnen.
Wenn die österreichische Heeresleitung nicht bereits einmal gegenüber
dem ersten Stoß Brussilows versagt hätte, könnte es überflüssig erscheinen, auf
derartige Meldungen besonders hinzuweisen. Angesichts der alles Glaubliche
übersteigenden Bummelei jedoch, die anfangs Juli an der österreichischen Ost¬
front herrschte und die die Armee Brussilow sich mit dem von uns bitter emp¬
fundenen Erfolge zunutze machte, scheint es veranlaßt, nichts außer acht zu
lassen, was zu einem Druck auf die Österreicher verwandt werden kann. Wie ich
gestern gehört habe, waren die Verhältnisse in den von Brussilow eingestoßenen
Abschnitten der österreichischen Front sehr idyllische. Es steht fest, daß öster¬
reichische und russische Offiziere hinter der Front gemeinsame Jagden ritten,
sowie daß der inzwischen allerdings ziemlich unsanft vom Kommando entfernte
Erzherzog Josef Ferdinand an dem Tag, an dem die russische Offensive einsetzte,
irgendwo dem Weidwerk nachging. Die Sorge, mit der mein Genfer Gewährs¬
mann unter diesen Umständen den kommenden Ereignissen in Galizien ent¬
gegensieht, begreift sich ebenso, wie die dringliche Form, in die er seine War¬
nungen kleidete.
Sehr besorgt fand ich ihn auch hinsichtlich Englands. Nach seinen Infor¬
mationen ist die englische Regierung entschlossen, alles zu tun, was in ihren
Kräften steht, um die Verbündeten mindestens bis Herbst 1917 bei der Stange
zu halten. Daß es Joffre gelang, die englische Heeresleitung jetzt schon zu einem,
von General Douglas-High als verfrüht erklärten Losschlagen zu bestimmen,
sei ein Faktor, der Herrn Asquith einigermaßen die Rechnung verdorben zu
haben scheint.
Luzern, den 13. August 1916.
England ist — damit stimmen alle glaubwürdigen Berichte überein mehr
als je entschlossen, durchzuhalten. Wie ich höre, wird es in diesem seinem Entschluß
nicht zuletzt durch die Berichte bestärkt, die der derzeitige amerikanische Botschafter
in Berlin, Gerard, über die Stimmung in Deutschland und über das Mißvergnügen
der Bevölkerung über die Ernährungsfragen nach London gelangen läßt. Herr
Gerard unterhält eine Reihe von Agenten in den größeren Städten Deutschlands,
die über alles, was sie auf Grund der Äußerungen der Lokalpresse und geschickter
Benützung anderer Jnsormatiorlsquellen über die Stimmung in Deutschland in Er¬
fahrung bringen können, an ihn berichten. Die Schlüsse, die Herr Gerard aus diesen
Berichten zieht, machen in England starken Eindruck. Es ist im nationalen Interesse
zu bedauern, daß speziell unsere bayerische Presse den Agenten des Hera Gerard
reichliches Material für ihre Berichte zu liefern scheint. Ein ähnlicher Apparat
fungiert in Ssterreich-Ungarn, für das jedoch in England, wie ich nicht unterlassen
möchte besonders zu unterstreichen, in steigendem Maße nachsichtige Sympathien
sich geltend machen.
Ich gestatte mir, Euer Exzellenz gesondert und streng vertraulich über die
Unterredungen zu berichten, die ich mit einem neutralen Diplomaten, sowie mit
einem nicht in Bern beglaubigten Herrn des österreichischen Auslandsdienstes gehabt
habe, und in denen eine ähnliche Auffassung zutage tritt. Den Äußerungen der
erstgenannten Persönlichkeit war zu entnehmen, daß man in den wenigen uns freund¬
lich gesinnten neutralen Ländern um den Ausgang des Kampfes für uns besorgt zu
werden beginnt. Wie mein Gewährsmann sich äußerte, ist man in den ihm zu¬
gänglichen politischen Kreisen darüber erstaunt, daß Deutschland in Sachen der
italienischen Offensive den Österreichern derart freie Hand gelassen habe. Wie bitter
sich dies räche, das bewiesen die Fortschritte der Russen an der österreichischen Ost¬
front, gar nicht zu reden davon, daß die Italiener ihrerseits ebenfalls neuestens
starke Erfolge erzielten. Man sei sich im neutralen Ausland über die Gründe dieser
unserer Nachgiebigkeit gegenüber Wien nicht ganz klar, halte sie aber für in ihren
Folgen für die gemeinsame Sache der Zentralmächte verhängnisvoll. Besonders
besorgt sprach sich mein Gewährsmann rücksichtlich Englands aus, wo die Ent¬
schlossenheit zum Durchhalten mehr und mehr zunehme. Wir hätten uns gegenüber
keineni Lande so schwer getäuscht, wie gegenüber England, dessen finanzieller Zu¬
sammenbruch voni damaligen Staatssekretär des Reichsschatzamts vor einem Jahr
als für den Sommer 1916 sicher zu erwarten angekündigt worden sei, während
England <Ze kaoto bis heute noch nicht einmal eine innere Anleihe aufgelegt habe.
In ähnlichen Gedankengängen bewegten sich die Äußerungen des oben er¬
wähnten österreichischen Herrn, der, wie ich wiederholt konstatieren konnte, sich
in der Schweiz in geheimer Mission befindet und über italienische und französische An¬
gelegenheiten sehr gut orientiert ist. Er äußerte sich sehr pessimistisch über den
Stand der Dinge an den beiden Fronten Österreich-Ungarns, wobei ich mir er¬
lauben möchte hervorzuheben, daß es sich um einen Mann von gereiftem Urteil und
von energischem Charakter handelt. Man danke in allen einsichtigen österreichischen
Kreisen Gott dafür, daß Generalfeldmarschall von Hindenburg nunmehr in die
Erscheinung trete und bedaure nur, daß diese Maßnahme, gleich wie jene der Zu¬
teilung des Generals von Seeckt an den österreichischen Thronfolger, nicht schon vor
einem Jahre erfolgt sei. Man setze alle Hoffnung auf Hindenburg und Seeckt und sei
überzeugt, daß beide aus der derzeitigen verfahrenen Situation alles herausholen
würden, was aus ihr zu machen sei.
^ Die, gemeinsame Linie der mir seit meiner Rückkehr gewordenen Informationen
geht dahin, daß man sich allerseits bei der Entente mit dem Gedanken an den dritten
Winterfeldzug abzufinden beginnt. Darüber die Nation hinwegtäuschen zu wollen,
wäre ein Verbrechen.
Bern, den 7. September 1916.
Ich habe Gelegenheit gehabt, in den letzten Tagen einen Euer Exzellenz be¬
kannten hohen österreichischen Geistlichen, sowie Monsignore S. zu sehen. Der
erstere war ernst und sprach sich vertraulich wegen Österreich-Ungarn besorgt aus. Er
ließ mir in der ihm eigenen zurückhaltender Art durchblicken, daß nach seinen In¬
formationen — und er hat sich bisher immer richtig informiert erwiesen — Rußland
dasjenige Glied des Vierverbandes sei, das, wenn wir es geschickt anfingen, am
ehesten, und zwar noch vor Eintritt des Winters zu einem Separatfrieden zu haben
sei. Auffallend ist, daß Mons. M., den ich neulich traf, sich in ähnlichem Sinne,
und zwar konkreter dahin aussprach, daß mit Stürmer etwas zu machen sei, wenn
Rußland Aussicht haben würde, unter Wahrung seiner militärischen Ehre aus dem
Kampfe auszuscheiden. E r berief sich als Quelle auf einen distinguierten Russen,
der ein Gegner Stürmers sei und die Möglichkeit eines russischen Separatfriedens
als die wenig erfreuliche Folge des Abganges des Herrn Sassonow bezeichnet habe.
So sehr im allgemeinen Mons. M. gegenüber eine gewisse Skepsis am Platze ist, so
gewinnt diese Äußerung doch dadurch an Bedeutung, daß sie sich inhaltlich jener des
genannten geistlichen Würdenträgers deckt, der bisher noch nie auch nur andeutungs¬
weise über derartige Dinge eine Meinung abgegeben hat, wenn er nicht, wie sich
später herausstellte, sichere Grundlagen für seine Behauptung hatte. Wenn Euer
Exzellenz sich erinnern wollen, werden Hochdieselben feststellen können, daß sowohl
seine Äußerungen über die Dauer des Krieges und über die Aussichtslosigkeit aller
auf Herbeiführung eines Separatfriedens gerichteten Bemühungen, als seine kon¬
kreten Mitteilungen über die Bedeutung und die Wucht der Aktion Brussilow durch
den Gang der Ereignisse ihre Bestätigung gefunden haben. Es ist unter diesen
Umständen der Schluß erlaubt, daß die Quellen, auf die er seine Überzeugung stützt,
wir könnten mit Rußland zu einer gesonderten Verständigung kommen, ernst zu
nehmen sind. Er steht, trotz seiner Zurückhaltung, eine Menge von Leuten und
hat erst jüngst wieder Gelegenheit gehabt, sich über die Stimmung in England auf
Grund von Berichten zu informieren, die ihm von dort zugingen. Der Eindruck,
den mein Gewährsmann aus diesen Mitteilungen gewann, war ein für die Sache
des Friedens ungünstiger. Die führenden Kreise Englands glauben, Deutschland
müsse, und sei es auch erst im Jahre 1918, klein beigeben und billigen die Zähigkeit,
mit der die Negierung diesen die Nation beherrschenden Gedanken in die Tat um¬
zusetzen bemüht ist. England ist, darüber kann ein Zweifel nicht bestehen, derzeit
einem Löwen zu vergleichen, der sich anfangs langsam und zögernd erhoben hat, der
aber jetzt, nachdem er einmal in Bewegung ist, seine Kräfte zu einer gewaltigen An¬
strengung straffe. Er ist über das, was er aus England hörte, sehr bekümmert, da
es ihn in der Befürchtung bestärkt, daß der Krieg sich noch bedenklich in die Länge
ziehen werde.
Wie sein bei ihm lebender Kollege, der mit ihm in einem anscheinend mehr
und mehr vertrauensvollen Verhältnis steht, mir mitteilte, sieht mein Gewährsmann
für die Zukunft Europas düster. Ihm liegen die Hauptschwierigkeiten auf dem
Gebiet der innerpolitischen Entwicklung und er befürchtet, daß im Falle eines uns
ungünstigen Ausganges des Krieges Deutschland schwere innere Unruhen nicht er¬
spart bleiben werden.
er Theaterdirektor will ein gutes Geschäft machen, das Publikum
will sich im Theater gut unterhalten — an diesen beiden Tatsächlich-
keitcn kommt kein Gerechter vorbei. Daß gelegentlich auch vortreff¬
liche Stücke volle Häuser erzielen und daß manchmal sogar eine
wirkliche Dichtung die Kasse gefüllt hat, rettet uns, über Theater-
direktor und Publikum hinaus, die hohe Kunst. Dabei soll beiden keineswegs die
Empfänglichkeit, selbst die Liebe für das Drama großen Stils bestritten werden.
Kommt doch der Theaterdirektor zumeist aus den Gefilden der himmlischen Göttin,
hat ihr in seiner Jugend Roscntagen vielleicht begeistert gehuldigt, hat, soweit
Mcnschenwitz es vermag, an Ideale geglaubt, und wird es sich auch im sehr gesetzten
Mannesalter noch sehr ernstlich verbitten, mit gewöhnlichen Banknotenerraffern in
einem Atemzuge genannt zu werden. Ebensowenig lehnt der normale Theater¬
besucher eine Poetenschöpfung grundsätzlich und boshaft ab. Gewiß, er bevorzugt
die Hopps-Operetten, die Possen mit dürftigen, unaufdringlich geistlosen Kuplet-
'verser und entsprechend strammen Mädchenbeincn, aber wenn ihm eine fesselnde
Handlung begegnet, lehnt er sie nicht schon deshalb ab, weil ein Begnadeter sie
ersonnen hat. Dieselbe Aufnahmefähigkeit lind teilnahmsvolle Freude, die er ins
Kino mitbringt — man ist von vornherein bereit, sich für sein einmal hingegebenes
Geld zu ergötzen und gibt nicht leicht zu, es an einen langweiligen Quark fort¬
geworfen zu haben —, dieselbe Aufnahmefähigkeit zeigt er auch im Theater. Ver¬
ständige Kritik kann ihn im redlichen Wollen bestärken und eine lange Wegstrecke
leiten. Wie sie andererseits den Theaterdirektor zu beeinflussen vermag. Wenigstens
die Herren der alten Schule lassen zuweilen an ihr Gewissen rühren, hören es dann
und wann gern, wenn sie literarischen Ehrgeizes bezichtigt werden, und nehmen, bei
sonst erbaulichen Geschäftsgang, diesem Lob zuliebe auch wohl eine Opferlast auf
sich. Von solchen, allerdings altfränkischen Wallungen bleiben grundsätzlich nur die
Kulissenschieber der neuesten Neuzeit verschont, die statt mit Stiefeln und Schmalz
zufällig mit Theateraufführungen handeln. Da sie Nichts zu verlieren und alles zu
gewinnen haben, sind sie sogar zynischer als ausgediente Literaten und ehemalige
blutige Kritiker, die das letzte bißchen künstlerische Anstandsgefühl über Bord
werfen, sobald der Dämon Zufall sie einmal zur Führung einer Bühne beruft.
Unermüdliche kritische Arbeit, an großen Blättern ausgeübt, und so klug aus¬
geübt, daß sie der. billettbezahlenden Masse glatt eingeht, ist imstande, sogar für echte
Kunst Stimmung zu machen und die widerstrebenden Theatergänger vorübergehend
in ihren Bann zu zwingen, Wenn es Brahm gelang, Ibsen in Mode zu bringen,
so verdankt er und die deutsche Gemeinschaft dies hauptsächlich der unermüdlichen
Werbetätigkeit brahmbefreundeter Rezensenten, die jahrelang nicht locker ließen,
Herr und Frau Omnes sperrten sich zuerst verzweifelt gegen das bittere Futter, lasen
aber die geschickt an gar nicht vorhandene Ltteraturinstinkte appellierenden
Feuilletons so oft, daß sie schließlich ihrer Neugier folgten. Ibsen gehörte zur
Bildung, nachdem sein Name unterm Strich zehntausendmal genannt worden war.
Da in den meisten seiner Dramen genug vorgeht und die Sardoutechnik mit allerlei
verzwickten Fragestellungen, bitterbösen („unanständigen") Anklagereden versöhnte,
kam eigentliche Langeweile beim Parkettspießer nicht aus, Oder er wagte es doch
nicht, sie und damit sich zu verraten. Über Ibsen — ich spreche hier weniger
literaturgeschichtlich als kulturgeschichtlich — ist dann auch Hauptmann, Strindberg,
Wedekind der Weg zum früheren oder späteren Erfolg gebahnt worden. Ihre Ge¬
sellschafts- und Sittenkritik allein, diese just im „goldenen" Zeitalter
unbequeme Mahnerin, hätte ihnen nun und nimmer die Bühne erschlossen, keine
Hunderterserie ermöglicht. Auch sie siegten in der Hauptsache dank ihren kritischen
Pionieren, wurden mit Gewalt, gegen sehr zähen Widerstand, durchgesetzt, obgleich
zugegeben werden soll, daß die kulturelle Verfallsepoche von 1890 bis 191-1 oppositio¬
neller Standartenträger ihrer Art bedürfte und ihnen eine rasch wachsende Schar
von Anhängern schuf.
Aber alle diese Dichter und Schriftsteller, so heftig sie an den Zäunen des
Herkömmlichen rüttelten und die urewtg scheinenden Theatergesetze erschüttern
wollten, gaben dem Reiche zwischen Pappendeckel und Leinewand doch zuguderletzt
stets, was sein war. Gerhardt Hauptmanns größter Publikumserfolg ist sein größter
Kitsch, die „Versunkene Glocke". Entfernte er sich zu weit von der nun einmal ab¬
gesteckten Straße, so verließen sie ihn; jedes Wagnis mußte er mit einem heulenden
Durchfall bezahlen. Das Rollen der Begebenheiten, in eindringlicher Steigerung
dargestellt, die üblichen Bühnenüberraschungen und Pointen trösteten dagegen das
Volk über den Naturalismus, Symbolismus usw. der Sprache. Es blieb dem
Theater treu, weil das Theater sich im Grunde, trotz aller Neuerungsvorstöße, selber
treu blieb. Erst der vollkommene Umsturz aller Tradition, rücksichtslose Ex¬
perimentierwut und damit verbundene Verachtung sämtlicher lieben Publikums-
gewohnheitm und -Neigungen führten die Berliner Bühnenkrise herauf.
Sie darf wahrhaftig nicht aus den veränderten sozialen Bedingungen, der
Friedensmißstimmung, der Unbehaglichkeit und Unruhe unserer Zeit erklärt werden.
Gerade Revolutionen und schwere staatliche Erschütterungen überhaupt haben von
jeher die Theater gefüllt. Mit Vorliebe, fast mit fieberischer Gier sieht des Abends
ein festliches Haus voll geputzter, scheinbar müßiggehender, unbeschwertem Genuß
fröhnender Menschen, wer tagsüber niemandem trauen möchte, tagsüber von Stunde
zu Stunde den Zusammenbruch, die Panik erwartet. Daß alle Nachtlokale, Bars,
Kabarette überfüllt sind, ist ein sozusagen natürlicher Ausfluß dieses krankhaften
Amüsementstriebcs der Herde. Weshalb sollte sie an den Theatern vorübergehen?
Sie geht nur vorüber, weil die Theater sie zurückstoßen. Weil die Bühnenleiter
selber alles daransetzen, ihre Häuser der Menschheit zu verekeln. Wohl schrecken die
ins Abenteuerliche gestiegenen Eintrittspreise der Schieberjahre den Mittelstand, den
rasch völlig verarmenden, aus den Tempeln der goldenen Thalia fort, und er kann
jetzt, wo es wieder halbe Preise, Gutscheine und Freikarten mit Steuer gibt, nicht
zurückkehren. Immerhin bleiben noch Schwärme von außerordentlich gut Ver¬
dienenden, bleiben die hochbezahlten Arbeiter, die sich, teils dieserhalb, teils außer¬
dem, sehr wohl die Freude eines Theaterbesuchs gönnen dürften, und auch gönnen,
würden. Wenn sie nicht heillose Angst vor den, Literaturklaps hätten, der die
Bühnen verheert und die Theaterabende zu Folterstunden macht.
Von den Berliner Theaterleitern hat Reinhardt, der immer intelligent, nur
oft allzu gerissen beratene, wohl am besten abgeschnitten. Sein großes Experiment,
das Große Schauspielhaus, ist mindestens eine Sensation gewesen, und es war eine
billige Sensation. Der erwähnte gebildete Mittelstand, dem alle anderen Theater
viel zu teuer waren, abonnierte mit Lust, auf Gedeih und Verderb, die wohlfeilen
Plätze im Zirkus Schumann. Fragt sich nur, wie lange dieser Zustrom anhalten
wird. Denn daß die Riesenaufführungen im Riesenraum eine Qual sind, die sich
immer schwerer ertragen läßt, darüber find sich die doch wenigstens mit der ersten
Mimengarnitur, mit Reinhardts großen Kanonen bedachten Premierenbesucher klar.
Man muß mit Stielaugen sehen, mit Ohrtrompeten hören, um Szene und Schau¬
spieler entdecken, die Donnerstimmen der einzelnen Sprecher ausenumderhalten zu
können. Weit entfernt davon, den Zuschauer fester mit der Dichtung zu verbinden,
ihn gewissermaßen als Chor zu benutzen, trennt ihn die Manege von ihr. Denn
sie zerreißt jede holde Täuschung. Grotesk mutete es an, als Reinhardt, der die
Gefahr sehr bald erkannt hat, im Hamlet moderne Kostüme tragen ließ, Feldgrau-
gcwänder, um so Zuschauer und Mitwirkende anzunähern. Doch die Antimaskerade
ward schlimmster MaZkenulk und wirkte nur noch illusionstötender. Von der völlig
mißratenen Eröffnungsvorstellung abgesehen, der Schwarz in Schwarz gehaltenen
Oedipustragödie, die nur Wiederholtes wiederholte, ergaben Gerhardt Hauptmanns
„Weißer Heiland", Romain Nollands „Danton" und „Julius Cäsar" anscheinend
endgültig, daß das Große Schauspielhaus nur den Zweck hat, stürmisch bewegte
Massenszenen zu zeigen und zum Mitspielen ohne Gage aufzufordern. Wenn nach
den beiden ersten Dantonakten, die ein tödlich sicher wirkendes, aber furchtbar ein¬
zunehmendes Schlafmittel sind, das Volk von Paris sich plötzlich mitten aus dem
Zuschauerraum in die Arena ergoß, schreiend, händefuchtelnd, stampfend, so daß
die aufgeschreckten Abonnenten an einen noch nie dagewesen gut vorbereiteten
Theaterskandal glaubten, so war das der Gipfel aller im Theater der Fünftausend
möglichen Regiegaben. Sie sind in ihrer Art bewundernswert, aber mit der Kunst
haben sie nichts mehr zu tun. Besonders nicht mit der Kunst, Um derentwillen wir
Reinhardt früher einmal sehr geschätzt haben. Das Große Schauspielhaus kann
sich als Theater nicht halten; es ist die Auflösung des Theaters, das sich innerlich
zersetzt, von außen her, mit wilden — es sei gern zugegeben, aus den vorhandenen
Möglichkeiten alles Mögliche herauspressenden äußeren Mitteln. Hier lauert im
Hintergrunde der Reformzirkus oder, was mir ungleich mehr leid täte, das Kino.
Im übrigen hat Reinhardt im Deutschen Theater durch eine erlauchte Stella-
aufführung noch einmal allen Glanz seiner stolzen Vergangenheit, ja reineren Glanz,
erstrahlen lassen. Er ist, weiß Gott, trotz allem der Mann, der unserer Bühne die
ersehnte Blütezeit bescheren könnte, wenn ihm die Dramatiker zuwüchsen, die nun
einmal zu solcher Blütezeit gehören. Aber wo sind sie? Wo sind auch nur die
Kleinen von den Meinen, die Vorläufer, die dem Volke geben, was des Volkes
ist, und das Firnelicht wenigstens ahnen lassen? Weshalb kommen sie an den
Mächtigen nicht heran? Er begnügte sich im vergangenen Winter Mit zwei national¬
jüdischen Schauspielen, der „Sendung Scmaels" von Stefan Zweig und der uiv
gleich gefeilteren, teilweis in sehr bildkräftigen Versen geschriebenen Erzväter?
dichtung „Jakobs Traum" von Beer-Hofmann.
Bei Reinhardt gab es, wenn auch Gott und Teufel zwischendurch mystisch
getragene Reden hielten, mancherlei Erregendes zu sehen, so daß sich der Gast die
Arabesken und flatterigen UnVerständlichkeiten gefallen ließ. Von den Werken da¬
gegen, die die Tribüne, ein kulissenloses Theaterchen im Charlottenburger Westen,
den anfänglich Gläubigen darreichte, ist kaum eine Erinnerung haften geblieben.
Höchstens Tollers „Wandlung", das derb hingestrichene Kriegs- und Revolutions¬
martyrium, hebt sich aus der Reihe anspruchsvoller Dilettantereien heraus. Die
jungen Herren, die für diese Poesien verantwortlich zeichnen, dichten Programme.
Sie wollen eine deutsche (oder Welt-) Kunst genau nach den Essaiekstasen der darauf
eingestellten Zeitschriften haben — nur daß es das Wollen hier nicht macht, wo kein
Richard Wagner hinter der Sache steht. So verlief sich die Gemeinde bald, und
das Haus wechselte mehrmals seine Besitzer. Bis Robert-Kovacs mit den Scham¬
höschen kam. Für die Entfernung des Publikums aus den Theatern sorgte auf
seine Art auch der neue Leiter des Schauspielhauses, Jeßner, der Wilhelm Tell
auf einer ungeheuren Treppe spielen ließ und durch diesen glänzenden Einfall
wütende Lärmauftritte hervorrief. An den Erstlingsgaben der von ihm komman¬
dierten dramatischen Dichtung versündigte er sich minder grell; den Ton, der die
alten Freunde des Kunsttempels am Gendarmenmarkt anlockt, traf er aber bislang
nicht. Mit Gedröhn siel gleich anfangs die gut gemeinte, doch kindisch gebaute
Antikapitalistenschnurre eines Außenseiters durch; dem Fritzenstück Boettichcrs war
etwas mehr Glück beschieden — warum wagt kein Berliner Theater sich an Vurtes
Kalt-Tragödie heran, die Reinhardt doch vor drei Jahren angenommen hat? Auch
mit dem Maskenschnitzer von Crommelynck verriet Jeßner keine glückliche Hand.
Die brave Absicht allein macht es nicht. Für die Hausleerung im streng modernen
Sinne sorgten, soweit sie nicht schon leere Häuser vorfanden, Georg Kaiser mit
seinem „Hölle Wog Erde" im Lessingtheater, dieser denn doch zu kaltschnäuzigen,
zu auffällig gemachten Konstruktion, während Sternheims „1913" die an die „Büchse
der Pandora" und ihre mephitischen Düfte gewöhnten Kostgänger des Kleinen Schau¬
spielhauses stete. Die Schippel und Maske in ewigen, immer verdünnteren Auf¬
güssen sind darum so unerträglich, weil schon die erste Pressung Maschinmextrakt,
kein echter Fruchtsaft Ist.
Es führt zu nichts, die unübersehliche Gespensterreihe mehr oder minder deut¬
lich abgelehnter Winterstücke möglichst vollständig zu machen. Von Lautensacks
„Pfarrhauskomödie" abgesehen, die bet der Erstaufführung wohliges Grunzen der
Schieberherren, Kichern und Pruschen der Schieberdamen erweckte, bet der zehnten
oder zwölften Wiederholung zu Skandalen führte und dann sehr oft gegeben werden
mußte, hatten nur noch Sudermanns „Raschhoffs" Glück. Will sagen Premteren-
glück. Bei der szenischen Gewandtheit der Herren Roller-schaler, die das Wert
managten, kann man ja nie klar unterscheiden, was am Jubel der Geladenen halb¬
echt und was ganz unecht ist. Von den übrigen Neuheiten zu sprechen, wäre Ver¬
legenheit, und die meisten Neueinstudierungen schössen gleichfalls am Ziel vorbei.
Hatten sie schon literarisches Interesse. — manchmal sogar sehr hohes, wie die
packende Wozzek-Aufführung des Lessingtheaters —, so blieb das Publikumsinteresse
aus, und Quälereien nach Art von „Frau Warrens Gewerbe" vermochten es
überhaupt keinem Teil rechtzumachen. Gegen Ende der Spielzeit erlosch dann mich
fast allenthalben selbst das kümmerliche Restchen von Teilnahme.
Die Berliner Theater stehen beinahe durchweg vor sehr ernsten Prüfungen.
In ihrer jetzigen Lage sind sie der Lustbarkeitssteuer schon darum nicht gewachsen,
weil diese Steuer am falschen Objekt arbeitet. Lustbarkeiten kann man ihre Dar¬
bietungen nicht mehr nennen. Wird das Steuer nicht entschlossen herumgerissen,
dann kann der erbarmungslose Plan der Asa, alle Berliner Bühnenhäuser in Kinos
zu verwandeln, vielleicht bald aus einem Menschenfressermärchen zu grauser Wirk¬
lichk
Ein Zwanzigjähriger hat auf Hindenburg, in dessen Wohnung er sich ein¬
geschlichen hatte, geschossen.
Durch die Schändung der Bismarckgruft, des Charlottenburger Mausoleums
und der Grabstätte Schillers und Goethes in Weimar ist den großen Toten
Deutschlands dieselbe volkstümliche Ehrung widerfahren wie dem großen Lebenden,
dem unsterblichen Sieger von Tannenberg.
Während all dieser Handlungen fortgeschrittener Aufklärung wälzt sich ein
Staat Europas in den Krämpfen wüstester und dunkelster Reaktion. Bezeichnender¬
weise das gewaltsam aus den Segnungen der Räteregierung herausgerissene
Ungarn. „Die Nationalversammlung hat als eine der Strafsanktionen auch die
Prügelstrafe angenommen. Die Strafe kann auf zehn bis fünfundzwanzig Stock¬
streiche lauten."
Sie wird, was der Ordnung wegen nicht verschwiegen werde, nur Preis¬
treibern und Schiebern gegenüber angewandt. Prügelstrafe für Gruftschänder
und browningbewaffnete Einbrecher — so rückständig und verroht ist nicht einmal
Weiß-Ungarn, als daß es diese Menschheitsschmach zu verüben wagt.
Am 10. Juli meldeten deutsche Blätter, auf Grund urkundlicher Pariser
Drahtungen, daß Tags vorher zwischen Mitgliedern der alliierten und der deutschen
Delegation Händedrücke gewechselt worden seien. Nach Schluß der Sitzung habe
Lloyd George noch einige Worte mit Dr. Simons gesprochen (nach Schluß der
Sitzung, bitte!) und Delacroix sich mit Fehrenbach unterhalten.
Außerdem erfuhren wir, Lloyd George habe schon vorher einmal den deutschen
Außenminister eines kurzen Kopfnickens gewürdigt und Herrn HuL gesagt, seine
Rede sei gut gewesen. Er selbst mache einen sehr guten Eindruck auf Lloyd George.
Herr Huc hat diese überheblicher Ungezogenheiten, diese herablassende Be¬
gönnerei nicht abgelehnt, der Außenminister sich das kurze Kopfnicken gefallen
lassen) der Händedruck und die paar Worte in der Teestunde sind historisch ge¬
worden. Vielleicht ersetzen sie in den Schullesebüchern, die Konrad Haenisch soeben
neu bearbeiten läßt, demnächst die Hohenzollerngeschichte.
Bei dieser Gelegenheit müßten auch gleich einige alberne militaristische Ge¬
dichte Kleists, Ernst Moritz Arndts, Theodor Körners usw. ausgemerzt werden,
die beträchtlich von deutschem Stolz schwafeln. Dafür wäre dann das bekannte
Wort Seumes einzufügen und auf die Tatsache hinzuweisen, daß deutsche Kellner
und Bediente vor dem Kriege in England sehr beliebt gewesen sind. Nur wegen
ihrer Billigkeit, natürlich.
Von sechzig Siedlungshäusern, die die Stadt Wilmersdorf für Wohnungs¬
lose, Kriegsbeschädigte und Minderbemittelte erbauen ließ und von denen jedes
durchschnittlich 65 000 Mark städtischen Zuschuß erforderte, sind neun an sozial¬
demokratische Stadtverordnete und Mitglieder des Magistrats vergeben worden.
„Etwas muß er sein eigen nennen, oder der Mensch wird rauben und
brennen." Wilmersdorf, das trotz seiner bürgerlichen Gemeinderatsmehrheit die
rote Futterkrippenwirtschaft ergebungsvoll allaient, glaubt offenbar die sozialistischen
Führer dadurch von der Partei abspenstig machen zu können, daß es sie zu
bourgeoisen Hauseigentümern erhebt. Diese soziale Versöhnungspolitik hat leider
einen Haken: den, daran sich das steuerzahlende Bürgertum aufhängen kann, wenn die
fahrlässige und schimpfliche Verschleuderung von allgemeinen Mitteln an rote
Beutepolitiker nun feigerweise auch von den nichtsozialistischen Stadtverwaltungen
betrieben wird.
Die ganze Seitenbreite des „Vorwärts" war mit diesem Aufruf bedruckt.
Gespenster mit Massendemonstrationen zu beschwören, ist selbst den abergläubischsten
Exorzisten nicht eingefallen,' wie man der Arbeitslosigkeit, einer schweren wirtschaft¬
lichen Krankheit, durch Volksversammlungen abhelfen zu können hofft, ist magisches
Geheimnis der Funktionäre. Schade um die sinnlos verläpperten Stunden
Tausender, ein Jammer um den Volksbetrug, der auf die nie alle Werdenden
berechnet ist und späteren Juvenalen einen Maßstab bieten wird für den gerade
in sozialistischen Liederbüchern bekämpften Unverstand der Massen, „den Feind,
den wir am meisten hassen". Die Arbeitslosigkeit vor Demonstrationsversammlungen
zu besprechen, ist gerade so weise wie das früher beliebte Besprechen anderer
Krankheiten — nur daß man derlei Besprechungen früher weisen alten Damen
überließ und nicht etwa Frau Luise Zietz bemühte.
„Wir denken", so schrieb vor sechs Wochen anläßlich der Schweizerreise unter¬
ernährter Berliner Kinder die Rote Fahne, „an Rußland, wo trotz der Not den
Kindern ein Paradies errichtet ist. Vielleicht ist es das Größte, was die
Bolschewiki geschaffen, das, was sie allein unvergänglich werden läßt in der
Geschichte, daß sie für die Kinder sorgen. In Rußland, wo die Erwachsenen
ein Vieles an Entbehrungen tragen, spüren die Kinder nichts von Hunger
und Not. Den proletarischen Eltern hat man die Erziehung abgenommen? die
Kommune ist an ihre Stelle getreten, und in großen Kindergärten wird den
Kleinen alle nur erdenkliche Sorgfalt und Liebe angetan. Die Schule
in Rußland ist etwas Lebendiges geworden."
Ungefähr gleichzeitig stellte die „Prawda" („Wahrheit") die phantasievollen
Mcrschwänglichkeiten des Rote Fahnen-Dichters dahin richtig, daß sich „bei der
Untersuchung der Anfangs- und Mittelschulen in Moskau diese in einem Zu¬
stand vollkommener Desorganisation befunden hätten. Die Schulen würden
in Wirklichkeit nur vom vierten Teil der Schüler besucht. Die Ernährung
der Schüler sei höchst mangelhaft. Die Speiseanstalten, die angeblich
angegliedert sind, existierten in Wirklichkeit fast gar nicht Ebenso
Mulay Hassan
l.'Ane delxv. Von reichsdeutscher Seite
schreibt man uns aus Brüssel folgende Be-
trachtungen: Nur unter Deutschen ist es
denkbar, daß ein Teil der Nation zu einer
selbständigen kleinen Großmacht wird, welche
ihre Politik hauptsächlich darauf einstellt, den
größeren Teil der Nation als Schergen
knechten zu helfen. Holland und die flämische
Mehrheit Belgiens sind Teile der deutschen
Nation. Es ist freilich nicht Schuld dieser
Teile allein, sondern Schuld der ganzen
Nation, daß sie zu eigenen Staaten und auf
Kosten Gesamtdeutschlands zu glücklichen,
reichen und selbstbewußten neuen Nationen
geworden sind. Deutschland hat im 16. Jahr¬
hundert den Freiheitskampf seiner holländischen
Söhne nicht unterstützt. Es hat die südlichen
katholischen Niederlande im Joch der Spanier
gelassen. So entstand Holland als Staat
und Belgien als partikuläres Gebilde. An
den Mündungen großer Ströme und an den
günstigsten Meeresküsten der deutschen Nation
gelegen, blühten sie auf Kosten des ab¬
gedrängten Hinterlandes auf. Vor dem Welt¬
krieg haben lange Fricdensjährzehnte Holland
und Belgien wirtschaftlich wieder an den
weiteren Kreis der deutschen Nation heran¬
geführt. Während des Krieges haben wir
bei den tapferen Führern der flämischen Be¬
wegung «und die Möglichkeit einer Wieder¬
vereinigung der deutschen Nation kennen
gelernt, obwohl die Gesamtheit des deutschen
Volkes für einen solchen großdeutschen Ge¬
danken noch gar nicht reif war. Nun ist das
alles verschüttet. Nicht Flamen, auch nicht
die Wallonen, sondern das französierte
Brüssel, der Franskillon, d. h. der nieder¬
deutsche, der seine Seele an das Franzosentum
verkauft hat und nun als Renegat ein
wütender Französling geworden ist, beherrscht
die belgische Politik. Er ist der treueste
Gehilfe der französischen Revanche geworden.
Er, nicht der Wallone oder der Flame, hat
Eupen und Malmedh vom deutschen Körper
abgerissen, ein zwar kleiner, aber doch der
schamloseste aller Gebietsverluste, die uns zu¬
gefügt worden sind. Der erst 1330 ver-
selbständigte„belgischeTeil"Altdeutschlands, der
zwischen Niederdeutschtum und Wallonentum
die nur beim Kapitalisten und politischen
Streber vorhandene „belgische Seele" bis
1914 so mühsam mit der Laterne suchen
mußte, will, von der Entente verhätschelt,
reicher und mächtiger werden als die
60 Millionen Hungerleider im deutschen
Binnenlande.
In Spaa hat kein Staat die französische
Politik so bedingungslos gestützt wie Belgien.
Eupen und Malmedh sind hauptsächlich des¬
halb annektiert worden, um Machtpolitik zu
treiben, die Forts von Lüttich vorzutreiben
und Köln von belgischen Boden aus beschießen
zu können. Am 6. Juli hat vor dem Schwur¬
gericht der Prozeß gegen die Universitäts¬
professoren begonnen, die sich der flämischen
Universität in Gent zur Verfügung gestellt
hatten. Diese Universität wird heute nur
„l'Universite von Bissing" genannt. Der
Deutschenhaß steht in Brüssel in vollster Blüte.
Unser überstürzter Abzug aus dem Lande im
November 1918 ließ eine große Anzahl von
Schriftstücken zurück, die, wie z. B. die
List der belgischen Zeichner unserer Kriegs¬
anleihen, nun die Grundlage zu Strafprozessen
bilden. Träger der antideutschen Stimmung
sind besonders die Kreise, die während der
deutschen Okkupation materielle Verluste hatten,
z. B. die durch Einrichtung deutscher Gerichte
beschäftigungslos gewordenen Advokaten. Sie
werden heute mit der Verwaltung sequestrierten
deutschen Eigentums entschädigt. Auch in
Antwerpen nähren die Fransquillons den
Deutschenhaß; selbst durch Plakate und Um¬
züge, so verblendet das auch ist. Nie wieder
soll sich die deutsche Wirtschaft an ihrem na¬
türlichen Fußpunkt Antwerpen neu erheben
dürfen. Aber wie denkt man sich eigentlich
eine dauernde Blüte Belgiens, wenn in
Deutschland graues Elend und Armut herrschen?
Noch schlägt das Herz Flanderns kräftiger
als die „belgische Seele" der Fransquillons.
MitderHartnäckigkeit, die den flämischen Stamm
auszeichnet, wird an dem Lebensrecht der nieder¬
deutschen Rasse festgehalten und Flandern
rüstete sich, das Goldene Sporenfest, das Ge¬
denkfest niederdeutscher Unbeugsamkeit gegen
das Franzosentum, am 11. Juli besonders
demonstrativ zu feiern. Die Fransquillons
verboten dies Jahr das Fest und befahlen
dafür Teilnahme am — französischen National¬
fest vom 14. Juli. Dabei sollte das für
Belgien heute so unsinnige und gefährliche
Militärbündnis mit Frankreich gefeiert wer¬
den. Aber die Manier folgten der Losung
Kamill Huysmans: „Und dennoch werden wir
das Sporenfest feiern." 20 000 Vlamen
durchzogen unter dem lange vergeblichen
Widerstand der Polizei Antwerpen, und ein
paar Stunden lang wehte die flandrische
Löwenfahne vom höchsten Turm. Da ließ
Belgien auf Flandern schießen. Hermann
van den Neeck, ein zwanzigjähriger Student,
fiel als Blutzeuge für Flandern. Er wird
nicht der letzte sein. Nehmen wir seinen
Namen als Wahrzeichen: Hermann vom
Reiche! Denn Flandern lebt, und von Ypern
bis Maaseyck „schreit das unschuldige Blut
um Rache"; das Deutschtum fordert seine
Befreiung vom Zwitterwesen der Kins dsIZs.
Ach, an wieviel inneren Schranken krankt
die deutsche Nation! Wir können noch keine
„Geschichte der Nation" abschließen, wie eben
die Franzosen unter Hanotaux' Leitung. Wir
sind immer noch das UrVolk Europas, das
sich glaubt leisten zu dürfen, vielerlei politische
Sondcrbildungen aufrechtzuerhalten.
Der Deutsche kann nicht leben, ohne sich
fortgesetzt selbst die schwersten Wunden zu
schlagen. Aber seine Lebenskraft war so groß,
daß sie dies immer wieder überwand. Auch
heute bedürfen wir des Glaubens, und gerade
heute in der tiefsten Erniedrigung der deutschen
Nation, des Glaubens an den Tag der
Wiedervereinigung unserer niederdeutschen
Brüder mit dem Mutterstamm.
Die Zukunft des deutsch-französischen
Zwischenreiches, Großlotharingiens, bestehend
aus Holland, Belgien, Luxemburg, Elsaß-
Lothringen und der Schweiz, ist das Baro¬
meter der deutschen wie der französichen Ge¬
schichte. Seit einem Jahrtausend wechselt das
Schicksal hin und her. Die germanische
Siedelung bis nach Flandern hin gibt an
sich dem Deutschtum geographisch, wirtschafts¬
politisch und strategisch die Führung in Eu¬
ropa, wenn dieses Gebiet geschlossen Zusammen¬
halt. Aber seit dem späteren Mittelalter hat
Frankreich dank der traurigen Zerfahrenheit
der Deutschen als politischer Menschen Stück
um Stück vom Zwischenreich absprengen
können. Das Bismarcksche Werk hatte die
Vormacht Deutschlands wiederhergestellt. El¬
saß und Lothringen waren staatlich, Luxem¬
burg wirtschaftlich-strategisch angegliedert wor¬
den. Holland und Belgien mußten auf na¬
türlichem Weg, ebenso wie die Schweiz mehr
und mehr zu einem Deutschland hingravitieren,
welches der Schwerpunkt Europas wurde.
Aber dies Bismarcksche Reich war nicht das
Werk der deutschen Nation; das zeigte sich
deutlich, indem sie es abermals zerfallen ließ.
Heute nun hat das „selbständige" Deutschtum
Belgiens, Luxemburgs und der Schweiz frei¬
willig oder gezwungen sein Gesicht nach
Westen gedreht, und Elsaß und Lothringen
sind ein zweites Mal unmittelbares Bearbeitungs¬
feld der Französierung geworden. Abermals
hat überall an diesen Grenzen das Deutsch¬
tum politisch ausgespielt, hat sein Mutterland
und hat sich selber verloren. Es steht auf
sich selbst und kämpft einsam hier wie dort,
politisch unorgänisirt, eingeschüchtert, von allen
Erfolgshungrigen und Charakterschwachen ver¬
lassen. Wird Germania germinans, das sich
immerwährend fruchtbar erneuernde Deutsch¬
tum aus Straßburg und Gent, Luxemburg
und Zürich neue Wunder der Erhaltung
deutscher Art uns schenken? Oder durch end¬
lichen Untergang auch uns im abgeschnittenen,
ausgehungerten, tränenreichen Mutter- und
Waisenland das Todesurteil freier Volksart
ankünden? Wir wollen helfen, daß das Erste
geschehe, indem wir im Mutterland Kräfte ent¬
falten, die anziehen und festhalten. Und in
Brüssel wollen wir nicht französisch parlieren,
sondem vlämisch sprechen oder deutsch, obwohl
man bei letzterem mancherlei Püffe gewärtigen
muß. Wenn man uns aber auch den Mut
nehmen könnte, was hätten wir dann zu ver¬
lieren, und wodurch soll das Deutschtum
wieder zu Ehren kommen, wenn nicht durch
Mut?
„DaS kommende Europa". Von Franz
Cleinow. Verlag Elsner, Berlin 8 42.
Die Weltkriegsrevolution, in deren Stürmen
wir leben, mahnt uns eindringlich, das Ge¬
schehene verantwortungsvoll zu durchdenken,
Neue Ideen zur Gestaltung einer besseren
Zukunft zu formen und in die Tat umzu¬
setzen, um für unsere Nachkommen die Grund-
lag« eines gesicherten und lebenswerteren
Daseins zu schaffen.
An ideologischen Kurpfuschern, die in
glücklicher Unkenntnis der Zusammenhänge
mit Palliativmitteln der Un- und Halb¬
bildung das bestehende Chaos kurieren wollen,
sind wir reich. Arm aber sind wir an
großen Ärzten, welche nicht an den Erschei-
nungsformen der Weltkrankheit herumdoktern,
sondern ihre Ursachen wissenschaftlich er¬
forschen und sie praktisch zu heilen versuchen.
Der Verfasser der vorliegenden Schrift
versucht, das kranke, sterbende Europa nach
der zweiten Methode zu retten. Als Aus¬
gangspunkt seiner Untersuchung nimmt Clcinow
den Endgedanken seiner ersten Schrift („Rettet
Europa!", siehe die „Grenzboten" Ur. 27).
Seine Gedankengänge sind, in großen
Linien wiedergegeben, folgende: Der Bolsche¬
wismus steht an Europas Grenzen. Europa,
anstatt der roten Sturmflut gegenüber einen
festen Damm aufzubauen, ist schutzlos, weil
in sich zerfallen. Daher ist der Zusammen¬
schluß dieses Erdteils Gebot der Stunde.
Dieser kann aber zunächst nur ein loser,
wirtschaftlicher sein. Der erste Schritt hier¬
zu ist nicht etwa ein utopischer Völker¬
bund, sondern die Aufhebung der inner-
europäischen Zollgrenzen. Hierdurch entzieht
man zugleich dem Krieg seine biologischen
Gründe. C. vergleicht dann eingehend Europa
wirtschaftlich, politisch und sozial in seiner
jetzigen Gestaltung mit jenem Ideal des
geeinten Europas. Als Ergebnis des Ver»
glcichs zwischen dem in seinen letzten Zuckungen
liegenden greisenhafter Europa der Gegen¬
wart wird als sieghafter Rivale das „kommende
Europa" aus der Taufe gehoben. Freilich
lebt es zunächst noch im schönen Reiche der
Gedanken und ist ein Sorgens- und Schmerzens¬
kind. Der Verfasser sieht klar die entsetzliche
Gefahr, das, „die Geißel des Hungers und
die Furie des Brudermordes" — wie er den
Bolschewismus anschaulich personifiziert —
das zarte Gebilde des neuen Europas mit
mordgeübter, sicherer Hand erdrosseln könnte.
Es ist ohne weiteres klar, daß die
Meinungen über die Rettung des jetzigen Eu¬
ropa auseinandergehen. Man denke nur an
das Kriegsprogramm der „Mittcleuropäcr"!
Daher ist es schwer, restlos alle Cleinowschen
Schlußforderungen zu unterschreiben. Dies
gilt u. a. von seiner These, daß sich in ab-
sehbarer Zeit das nationale Empfinden von
einem Kollektivgefühl zum Privatcrleben ent¬
wickeln würde. Wen jedoch echte Sehn¬
sucht nach Erlösung aus „dem großen Narren¬
haus Europa" treibt, der liest die geistreichen
Ausführungen mit atemloser Spannung.
Der Grundgedanke der Schrift: Der Wirt-
schaftliche Zusammenschluß Europas als Ret¬
tung vor den „Segnungen" des östlichen
„Wunderlandes", verdient zum Schluß noch
einmal besonders unterstrichen zu werden.
Spa - enttäuscht suchen weite Kreis« in
völliger Verkennung der Zusammenhänge den
Anschluß an Moskau. Sie nennen dies
„aktive Politik". Diese Kreise haben heute
noch nicht eingesehen, daß es die verhängnis¬
volle Folge der deutschen Kriegs - Diplomatie
ist, welche die Fackel der Revolution in Ru߬
land entzündet hat, daß wir jetzt vor dem
Bolschewismus zu zittern haben. Nach Cleinow
hat uns dies den Wohl verständlichen Haß
von 99 v. H. Russen zugezogen. Dieser
Haß wird ein ewiger, unauslöschbarer werden,
wenn wir jetzt noch die Hand dazu bieten,
das Schreckensregiment in Rußland zu ver¬
längern durch Stärkung des Bolschewismus.
Jene deutschen Ost-Illusionisten übersehen
ferner die für sie nicht unwesentliche Tatsache,
daß sie nur nach Rußland die Bruderhand
auszustrecken brauchen, um die ersten zu sein,
über deren Leichen der Tod als furchtbarer
Rächer hinwegschreiten wird. Mögen sich
diese Selbstmordpolitiker in letzter Stunde
gewarnt fühlen und einsehen, daß ihre Me¬
thode uns den Weg nach Osten für alle Zu¬
kunft versperrt
Rücksendung von Manuskripten erfolgt nur gegen beigefügtes Rückporto.
Nachdruck sämtlicher Aufsätze ist nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlages gestattet
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Christentum und SozittttsINNs
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an der Universität in Freiburg i. Br. 6» (VIII und 112 S.) M. 7.50 (und Zuschlage)
Eine kritische Auseinandersetzung mit Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes" und
„Preußentum und Sozialismus". Aus dem Inhalt: Sozialismus als abendländische Erscheinung-
Darstellung der Spenglerschen Thesen. Zur Kritik des „Willens zur Macht" als Sozialismus. Marx
und Spengler. Das Christentum als geistig-sittliche Gestalt des Abendlandes. Der preußisch-sozialtstische
Zwangsstaat. Zerstörung oder Erneuerung?
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le alte Streitfrage, ob Männer die Geschichte machen oder die Ge¬
schichte eines Volkes durch seine innere Entwicklung bestimmt ist,
wird nie ganz gelöst werden, da Volk und Männer von einander ab¬
hängige Funktionen sind. Die Nachkommen aber werden Motive und
Handlungen einzelner Männer und deren Wirkung klarer und kon¬
kreter erkennen als die innere Entwicklung einer Nation. Damm nimmt die Ge¬
schichtsschreibung im allgemeinen die Handlungen der einzelnen Männer als Richt¬
linien ihrer Darstellung und ergänzt sie durch Ausblicke auf die Entwicklung der
Nationen. Bei der starken Wechselbeziehung zwischen Männern und Volksmassen
ist jedenfalls das eine sicher: Ein Volk geht dem Untergang entgegen, wenn es sich
nicht zur Geschlossenheit nach außen erheben und die innere Zerklüftung des Volks-
tums überwinden kann. Nie war Rom größer als im Augenblick des Empfangs,
den der Senat dem gegen seinen (des Senats) Willen gewählten Feldherrn
Terentius Varro nach der Schlacht von Carnac bereitete.
Bei der Politik, die ein Staat dem anderen gegenüber zu befolgen hat, handelt
es sich einmal um die allgemeine Richtlinie, welche für die gegebene Epoche
am zweckmäßigsten erscheint, und dann um die Handhabung derselben für den akuten
Fall. Erstere, die Richtlinie, kann auf längere Erwägung zahlreicher Köpfe ge¬
gründet sein, jedenfalls wirkt in unserer Zeit Stimmung und Auffassung des ganzen
Volkes erheblich auf sie ein, während die Verantwortung für die Handhabung fast
stets auf einzelne Männer fällt.
Der Verlauf des Weltkrieges hat nun vielen Deutschen die Augen darüber
geöffnet, daß in den letzten Jahren vor dem Krieg die Richtlinie unserer Politik
nach Osten falsch, oder für die gefährliche Lage, in der Deutschland sich damals
befand, mindestens unzureichend war.' Um das kurz anzudeuten: Die Gefahrgröße,
welche Deutschland durch die Russen möglicherweise erwachsen konnte, wurde zu
hoch bewertet und nicht genügend berücksichtigt, daß der Expansionsdrang dieses
Volles, solange es ein festes Staatsgebilde darstellte, nach den südlichen Wassern
und nicht nach Deutschland ging.
Heute ist daher die Fuge auf die Tagesordnung gerückt, ob wir an der
Richtlinie, die Bismarck bis zu seinem Tode gegenüber Rußland, und zwar vielfach
im Widerspruch zu der Stimmung in den liberalen Parteien innegehalten hat,
zurückkehren sollen, oder ob wir, wie es ein hervorragender Gelehrter von demo¬
kratischer Gesinnung während des Krieges ausdrückte, uns an „die westliche Kultur
(England) anlehnen müssen". Bei den Erörterungen über diese schwierige Frage
wird man zunächst jedes Sentiment avzllstreifen haben, und früherer eigener
Stellungnahme keine weiterdauernde Kraft einräumen dürfen, denn die heutige
politische Lage und die Machtfaktoren haben durch den Krieg eine gewaltige Ände¬
rung erfahren. Schließlich darf man nicht vergessen, daß der Erfolg und die Hand¬
habung jeder Richtlinie bei einem durch einen Mehrheitsbeschluß regierten Staat
noch erschwert wird durch den Mangel an Stetigkeit, der dieser Staatsform natur¬
gemäß anhaften muß, sofern nicht ein sehr geschlossener außenpolitischer Instinkt
alle Volksklassen und bannt alle wechselnden Mehrheiten gleichförmig durchdringt.
Ein Arbeiten „auf lange Sicht" ist aber für eine außenpolitische Richtlinie Grund¬
bedingung; auch dürfen innerpolitische Parteiinteressen auf sie keinen Einfluß ge¬
winnen.
Es ist nur menschlich, daß alle diejenigen, die vor dem Kriege und während
des Krieges an einen Erfolg ihres Werdens um Englands Gunst geglaubt und
dementsprechend gehandelt haben, den Ausgang des Krieges zu begründen suchen
mit der Behauptung, sie wären mit ihrem Werben nur nicht genügend durch¬
gedrungen, sonst würden sie Erfolg gehabt haben. Richtig hierbei mag sein, daß
wir weder das eine noch das andere mit rücksichtsloser Konsequenz durchgeführt
haben, und daß dieses Schwanken uns schließlich zwischen die beiden Stühle
gesetzt hat.
In den von mir niedergesehriebenen „Erinnerungen" habe ich selbst keinen
Zweifel darüber gelassen, daß bei den großen Interessengegensätzen wir meiner An¬
sicht nach richtig gehandelt hätten, uns damit abzufinden, England als einen Tod¬
feind des Deutschen Reichs und Volkes anzusehen, ein Standpunkt, der die
weitere Ansicht, jeden Konflikt mit England — wenn irgend möglich — zu ver¬
meiden, keineswegs ausschließt und der logisch zu der Notwendigkeit führen mußte,
jeden vitalen Differenzpunkt mit Rußland zu beseitigen, auch wenn Opfer unserer¬
seits dabei nicht vermeidbar waren.
Über diese Frage habe ich kürzlich mit einem Welt- und geschciftserfahrcnen
Hamburger Herrn von mariner vaterländischer Gesinnung einen Meinungsaustausch
gehabt. In diesem gibt derselbe zwar die Möglichkeit zu, der von mir vertretene
und und Schaffung der Flotte auch vom Staate teilweise eingeschlagene Weg hätte
zum Erfolge führen können, der Weg zur Verständigung mit England wäre ihm
aber doch als der sicherere erschienen. Da der betreffende Herr mit seinen Ansichten
auch an die Öffentlichkeit getreten ist, und die große Richtlinie unserer Politik vor
dem Kriege unter freilich sehr veränderten Verhältnissen auch nach dem Kriege noch
Bedeutung besitzt, bin ich von Freunden gebeten worden, meine nachfolgend gegebene
Antwort weiteren Kreisen zugänglich zu machen. Ich schrieb in den letzten Tagen
des März d, I.-.
„Gerade weil wir beide auf Grund unseres Berufslebens die Frage von einer
verschiedenen Perspektive aus beurteilen, im übrigen aber das an sich Richtige suchen,
hat dieser Meinungsaustausch doch vielleicht einigen Nutzen. Für mich ist er jeden¬
falls sehr lehrreich gewesen. Daß die Geschichte und die Entstehung des englischen
Imperiums für meine Auffassung spricht, wird kaum bestritten werden können und
es kann eigentlich nur die Frage aufgeworfen werden, ob bei den Verhältnissen,
wie sie um die Wende des Jahrhunderts sich herausgebildet hatten, es möglich war,
uns mit England lediglich auf gemeinsamer geschäftlicher Basis zu arrangieren, oder
ob es für dieses auch von mir gleichzeitig angestrebte Ziel notwendig war, das
geschäftliche Verhandeln durch den Besitz eigener, auch gegen England effektiver
Macht zu erleichtern. Sie haben das erstere für möglich gehalten, während ich
der Ansicht bin, daß dieser Weg bestenfalls nur zu einer societa« 1«<minÄ hätte
führen können. Sie haben die Auffassung, das hätte uns genügen können, und
nach dem Verlauf des Krieges werden gewiß viele Deutsche die billige Bemerkung
hinzufügen, eine foci^s lecmins, wäre der heutigen Lage Deutschlands doch sehr
vorzuziehen. Was den ersten Punkt betrifft, so war und bin ich noch heut der
Ansicht, daß es die Pflicht einer so großen Kulturnation wie Deutschland war,
den Versuch zu machen, sich frei und unabhängig neben der angelsächsischen Welt
zu behaupten. Dos aber konnte in einem Abhängigkeitsverhältnis zu England nie
erreicht werden; nur wenn der Versuch geglückt wäre, hätte das Deutschtum die
Möglichkeit gewonnen, seine höchsten Kulturaufgaben zu erfüllen. Wir konnten
aber auch, selbst wenn wir uns Hingaben, das von Ihnen gedachte Freundschafts¬
verhältnis mit England meines Erachtens nie erreichen. Vor vielen Jahren, als
die Erinnerung an Waterloo bei uns noch nicht ganz ausgelöscht und der Konflikt
mit England noch nicht akut war, hat ein kluger Holländer mir einmal eingehend
auseinandergesetzt, daß England ,der Feind' für Deutschland werden würde und
nichts uns davor bewahren könne. Sie, die Holländer, hätten Veranlassung gehabt,
diese Frage zu studieren. Der Mann hat recht gehabt. Vielleicht war ihm der
Ausspruch des englischen Admirals Mon! in Erinnerung geblieben. Als vor dem
zweiten der drei Handelskriege, die England mit Holland führte, über den Kriegs¬
grund, den man anführen wollte, debattiert wurde, rief dieser Admiral den
schwankenden Herren zu: ,Was kommt es auf diesen oder jenen Kriegsgrund an;
was wir brauchen, ist ein Stück mehr von dem Handel, den die Holländer jetzt
haben/ Sir E. Grey hat dasselbe Ziel 1914 init weniger derber Offenheit erreicht.
England hat seit der Königin Elisabeth nur Handels- und Wirtschaftskriege geführt,
ob es die spanischen Silbcrgaleeren, der holländische Traffic oder die französischen
Kolonien waren. Die wirtschaftliche und damit schließlich auch die politische .Be¬
herrschung' des europäischen Kontinents war das klare, nie aus dem Auge gelassene
Ziel aller englischen Staatsmänner, ja des ganzen englischen Volkes. Im vorigen
Jahrhundert hatte es dieses durch die Schlacht bei Trafalgar, den Sturz Napoleons
und durch den Wiener Kongreß gewonnen. Um die Wende des jetzigen war sein
Mergewicht wirtschaftlich in Zweifel gestellt. Es ist bei dieser Frage zu bedenken,
daß England gewissermaßen der Stapelplatz von Europa in dieser Zeit gewesen war,
während nach seiner geographischen Lage, unterstützt durch unsere fünf ins Land
gehenden Flüsse, Deutschland für den Kontinent der natürliche wirtschaftliche Haupt¬
stapelplatz für Europa hätte sein müssen, nicht die vorgelagerte Insel England.
Nicht Cuxhaven, sondern Hamburg, nicht die Tschusaninseln (wie manche früher
glaubten), sondern Schanghai war der Geschäftsplatz. Ebenso würde es mit der
Zeit nicht Zansibar, sondern Daressalam für Ostafrika geworden sein. Dieses
Naturgesetz wirkte zusammen mit anderen Faktoren unaufhaltsam und mußte Eng¬
land zurückdrängen. Das Gefühl dieses wirtschaftlichen Rückganges durchdrang
alle Schichten seiner Bevölkerung. Ohne Kampf, sobald er aussichtsvoll sich zeigte,
wollte man nicht auf eine Gleichstellung mit uns herabsteigen. Keine koloniale
oder wirtschaftliche Vereinbarung konnte diese Bewegung abwenden. Das ist auch
der eigentliche Grund, weshalb Englands Staatsleute auf ein billiges Flotten¬
agreement in den Jahren vor dem Kriege nienials in Wirklichkeit eingehen wollten.
Wenn Sie sagen, daß England sich durch das Entstehen unserer Flotte bedroht
fühlen konnte, da die See seine Größe ausmacht, so setzt diese Ansicht doch voraus,
daß man den Monopolgedanken Englands auf die See tatsächlich anerkennt, während
die See doch allen Völkern in gleichem Maße gehört. Im übrigen berücksichtigen
Sie wohl doch den Umstand nicht genügend, daß einem industriellen Deutschland
gegenüber die englische Flotte doch ebenso bedrohlich oder vielmehr noch bedrohlicher
war, da ohne deutsche Flotte England jeden Augenblick die Möglichkeit sich bot,
Deutschland ohne jede Gefahr die Gurgel abzuschnüren. Nur die guten Deutschen
können glauben, England würde in solcher Lage Deutschland den Strick um den
Hals nicht je nach Bedürfnis lose oder fest angezogen haben. Auch der von manchen
gehegte Gedanke, eine Freundschaft unsererseits mit England würde uns den
Frieden mit Rußland gesichert haben, erscheint mir nicht richtig. Ist denn ganz ver¬
gessen, in welche unwürdige Lage Preußen herabgedrttckt wurde, als es — übrigens
auf dringenden Rat Bismarcks während des Krimkrteges Englands Drängen,
am Kriege gegen Nußland teilzunehmen, nicht nachgab? Nicht die Freundschaft
zu England, sondern die zu Rußland war das Kriterium der Politik Bismarcks.
Die Leiter unserer auswärtigen Politik scheinen sich in den Jahren vor dem
Kriegsausbruch in dem Glauben befunden zu haben, das Bismarcksche Prinzip
weiterzuführen, welches darin bestand, die Erhaltung Österreichs als eine Lebens¬
notwendigkeit des deutschen Volkes aufzufassen und nötigenfalls mit Waffengewalt
zu verteidigen. Ihr Trugschluß lag darin, daß sie die Bedrohung Österreichs mit
dem Wunsche Rußlands, die Dardanellenfrage in seinem Sinne zu lösen, ver¬
quickten, als ob auch die russische Herrschaft über die Dardanellen eine Lebensfrage
für Osterreich gewesen wäre. Bismarck selbst hat in seinem RückVersicherungsvertrag
das Schicksal Konstantinopels als eine für Deutschland nicht vitale Angelegenheit
bezeichnet, für die es nicht wert wäre, die Knochen eines pommerschen Grenadiers
zu opfern. Das war aber das eigentliche Ziel Rußlands. Da wir nun in Kon¬
stantinopel eine antirussische Politik trieben, so wühlte Rußland nicht das Schwarze
Meer als Weg dorthin, sondern den Weg über Serbien, und das um so lieber, als
bei dem Wasserweg kitzlige Berührungen mit England entstehen mußten, was für
uns günstig gewesen wäre. Jetzt sitzt England auf der Hagia Sophia, weil Deutsche
und Russen gleich dumm waren.
England ist auch diesmal zu seinem Erfolg gekommen durch die schier un¬
glaubliche Torheit und Eifersucht der europäischen Völker und durch den breiten
Wassergraben, den England vor seinem Piratennest besitzt. Vielleicht erkennen die
Völker des europäischen Kontinents nach diesem Kriege, wie ihre Interessen den«!
Englands entgegengesetzt und in gewissem Grade unter sich solidarisch sind, und
schließen sich zusammen.
Sogar in Frankreich treten Anzeichen für diese Erkenntnis stellenweise zutage.
Der ,Temps' beklagte im März 1920, daß unser Festlandseuropa, das vor dem
5Kieg über mehr als die Hälfte der großen Kriegsschiffe der Welt verfügte, heute
nur noch ein Fünftel besitzt, und damit das Gleichgewicht zur See von den euro¬
päischen Gewässern in den Stillen Ozean hinübergerückt sei. Durch den Kriegs¬
ausgang ist nicht nur Deutschland niedergebrochen, sondern ganz Europa.
Die Faktoren, welche den Gegensatz zwischen Europa und England unüber¬
brückbar machten, klar zu erkennen, war vor 20 bis 30 Jahren die besondere Auf¬
gabe Deutschlands und seiner Staatsmänner, weil wir die unmittelbar Bedrohten
waren. Wir mußten unsere Politik auf die drohende Gewitterwolke einstellen und
mußten zur Unterstützung einer solchen Politik eigene Macht auf dem Wasser ge¬
winnen. Wir haben nur das letztere getan, und zwar von 1909 bis 1914 unter
schwerster Hemmung durch Bethmann und Wermuth. Das erstere, die unserer Lage
Lage entsprechende Politik, wurde falsch gerichtet und schließlich eine vielleicht ver¬
meidbare, in jedem Falle eine vorzeitige Explosion möglich gemacht. Sie meinen
nun, wir hätten, da Englands Macht gegen uns doch zu stark blieb, uns mit Eng¬
land zusammentun sollen in einer Art Junior-Parincrship und die Baltenlcindcr
befreien sollen, während ich den Satz für richtiger halte: ,Wer sich mit England
verbündet, stirbt daran/ Die Chamberlainschen Anerbieten könnten eine Berech-
tigung für den von Ihnen als richtig bezeichneten Weg geben. Fürst Bülow
bestreitet aber auf das energischste, daß Salisbury, der damals entscheidend war,
ernsthaft mit dem Gedanken eines Bündnisses umging. Ich kenne die Vorgänge
zu wenig, um das beurteilen zu können, und die diplomatischen Enthüllungen des
Politikasters Eckardstein sind mir nicht maßgebend. Aber wenn wir durch An¬
nahme des damaligen Bündnisgedankens auch wirklich zu einem Erfolg hätten
kommen können, ein solcher konnte nur kurzlebig sein. Der aus Sentimcntsgründen
zwischen Deutschland und Frankreich bestehende Gegensatz, zu dem dann noch der
zu Rußland in. E. vermeidbare hinzukam, wäre von England stets gegen
uns ausgenutzt worden, denn der grundsätzliche Interessengegensatz zwischen uns
und England hätte nicht beseitigt werden können, er wäre früher oder später doch
von neuem durchschlagend geworden. Dieser Weg hatte nur Zweck, wenn wir Zeit
gewinnen wollten, wenn unsere Erstarkung auf dem Wasser dadurch erleichtert und
unsere Allianzkrast gesteigert worden wäre. Wäre die Entwicklung unserer See¬
macht dagegen unterbunden worden, so wären wir immer mehr zu einem wirtschaft¬
lichen Koloß auf tönernen Füßen geworden und hätten unsere Eigenschaft als Aus-
bcutungsobjekt, gewissermaßen als Sparbüchse für England, nur vermehrt. Trotz¬
dem würde ich einen solchen Versuch wahrscheinlich nicht ohne weiteres abgelehnt
haben, wenn er an mich herangetreten wäre, natürlich mit den erforderlichen
Kautelen. An der Gesamtlage Deutschlands hätte er nichts geändert. Unsere
Industrie und damit unser Aktivhandel waren in einem riesigen Aufschwung, den
wir nicht abstoppen konnten und schon allein aus Machtgründcn nicht einschränken
durften, denn bei den modernen Verhältnissen waren wir ohne Industrie keine
Macht. Nur durch die Industrie haben wir den Weltkrieg so lange ausgehalten.
Wir konnten diese Entwicklung auch nicht aufhalten, denn wir standen vor der
einfachen Frage, ob wir Menschen exportieren wollten oder Warm, Gerade Bts-
inarck hat sich darüber und demgemäß über die Unmöglichkeit, Englands Liebe zu
gewinnen, unzweideutig ausgesprochen. Er war der Zeitlage und seiner Staats-
kunst entsprechend 1897 noch der Ansicht, daß der RückVersicherungsvertrag für aus¬
reichende Sicherung gegen England genügt hätte. Wenn sein Leben und Wirken
in die Zeit hineingereicht hätte, in der die transatlantischen Staaten und Interessen
es für Deutschland notwendig machten, auch politisch in Kontinenten zu denken und
ein Beschränken auf den europäischen Kontinentsgedanken unmöglich wurde, so
würde gerade er mit seinem Wirklichkeitssinn nicht zweifelhaft gewesen sein, daß
bei einer Wcltpolitik, in die wir hineingerieten, «kochten wir wollen oder nicht, auch
eine Weltmacht erforderlich war. Vismarck war viel zu sehr Realpolitiker, um die
Bedeutung der Macht als wesentlichen Inhalt eines Staates im Leben der
Völker zu unterschätzen. Weltmacht in diesem Sinne kann aber nur Seemacht geben,
weil sie überall direkt wirken kann, während die Landmacht unmittelbar nur an den
Landgrenzen wirkt, darüber hinaus aber nur indirekt Wirkung ausstrahlt. Ihre
Auffassung über die Hauptorienticrung unserer Politik wird nun weiter begründet
durch den Gedanken, daß unser agrarisches Fundament für einen Industriestaat
nicht stark genug gewesen ist und wir erst dieses Fundament schaffen mußten, ehe
wir weiter gingen. Sie weisen auf Dr. Schiele hin. Daß dies an sich wünschenswert
war, ist nicht zu bezweifeln, aber es war meines Erachtens undurchführbar. Ein
stärkeres Betreiben der inneren Kolonisation hätte vielleicht etwas helfen können.
Genügt hätte das wohl auch nicht, und das Entscheidende bezüglich der Nahrungs¬
mittelversorgung in einem Konflikt lag für uns, wie die Verhältnisse tatsächlich
waren, in einem friedlichen Verhältnis zu Rußland. Wenn man Ihrem Gedanken
an eine Verständigung mit England und als unausbleibliche Folge davon einer
agressiven Politik gegen Rußland nachgeht und einmal in der Theorie den vollen
Erfolg derselben annehmen will, also die Eingliederung der Baltenländer in irgend¬
einer Form als Kolonialland für uns, so wäre doch ausschlaggebend geblieben die
nicht haltbare geographische Lage eines derartigen .Kolonialgebietes, welches als
ein relativ dünner Landstreifen das 80-Millionen-Volk der Russen von der Ostsee
abgesperrt haben würde. Das hätte auf die Dauer nie gut gehen können und sicher
dem Wunsche Englands gemäß uns in einen Kampf mit den Russen auf Tod und
Leben dauernd festgelegt. Ich würde deshalb diesen Weg nicht gegangen sein.
Dagegen wäre folgende Entwicklung denkbar.
Petersburg in seinem Eise war für Rußland, wenn nom es in seiner Ge¬
samtheit betrachtet, ein künstlich geschaffener Zentralpunkt. Der natürliche wirt¬
schaftliche Schwerpunkt Rußlands liegt im Süden, und der Drang der Russen nach
dorthin ist ein berechtigter. Dieser Drang lebte, nachdem die Expansion nach Port
Arthur durch Japan und England aufgehalten worden war, um so stärker nach
dem Jahre 1905 wieder auf. Diesen Drang durften wir nicht hindern, sondern
hätten ihm mindestens wohlwollend neutral gegenüberstehen müssen. Der Kernpunkt
des Bismarckschen RückVersicherungsvertrages lag ja in der geheimen Schlußklausel
über Konstantinopel. Er mußte den Wunsch Rußlands erzeugen, bet seinem Gang
nach Konstantinopel Deutschland in wohlwollender Neutralität zu erhalten. Er
sicherte uns ferner die politische Leitung von Qsterreich-Argau, und ich möchte
glauben, daß, wenn die Russen in Konstantinopel eingerückt wären, auch die Ziegen-
Hirten auf dem Balkon aus Angst vor dem großen Bruder uns um den Hals gefallen
wären. Als wir aber den Engländern die Verteidigung von Konstantinopel ab¬
nahmen, lenkten wir den nationalen Haß der Russen ^ gegen uns. Der Russe sagte
sich: der Weg nach Konstantinopel geht nunmehr über Berlin. Ich möchte dabei
bemerken, daß wir auch wirtschaftlich betrachtet kein wesentliches Interesse an der
Linie Berlin—Konstantinopel—Bagdad hatten. Der Orientexpreß war kein solches,
und der wirtschaftliche Weg lag auf dem Wasser. Das Getreide von Odessa ging
nicht die Donau hinauf nach Mannheini, sondern durch die Straße von Gibraltar,
den englischen .Kanal und über Antwerpen. Ich habe vor dein Kriege von klugen
Russen mir sagen lassen, daß lediglich diese unsere Orientpolitik uns Rußland zum
Feinde machte. Ein direktes und starkes politisches Friedens- und Jnteressen-
moment zwischen beiden Völkern lag außerdem in Polen. Nur aus diesem Grunde
hat Friedrich der Große sich der Teilung Polens aktiv angeschlossen. Er hatte seit
Kunersdorf und Zorndorf einen großen Respekt vor der russischen Massenkraft.
Bismarck hatte diesen welthistorischen Faktor voll in sich aufgenommen. Es war
dein Enkel des früheren Bethmann vorbehalten, das Werk Friedrichs des Großen
und Bismarcks auch in dieser Beziehung zu vernichten. Wenn die Politik Deutsch¬
lands den von mir als richtig angesehenen Weg gegangen wäre und die welt¬
geschichtliche Entwicklung den Schwerpunkt Rußlands dauernd nach Süden gelegt
hätte, so würden die Baltenlünder für Rußland erheblich an Bedeutung verloren
haben. Dann hätte vielleicht einmal der Zeitpunkt eintreten können, in welchem
das agrarische Defizit Deutschlands sich hätte aufheben lassen, aber erst dann, wenn
der Stier uns nicht mehr mit den Hörnern gegenüberstand. Ob es dann notwendig
und richtig gewesen wäre, den Gedanken eines östlichen Koloniallandes aufzu¬
nehmen, will ich hier unerörtert lassen. Im Falle einer wohlwollenden Haltung
Deutschlands bei einem Vorgehen Rußlands nach südlichem Ausgang wäre die
Stimmung bei den ,wahren' Russen auch weniger feindselig gegen die deutsche,:
Volkssplitter im eigenen Lande geworden und wäre das Deutschtum in Rußland
leichter zu erhalten gewesen, was für Deutschland und meines Erachtens in noch
höherem Grade für Rußland selbst von größter Bedeutung gewesen wäre. Der
Russe braucht die Ergänzung durch das Deutschtum. Hochstehende Russen hatten
das voll eingesehen. Lesen Sie in den Ferien hierüber einmal den klassischen
Roman ,Oblomow' von Gontscharoff. Der durch unsere politischen Irrtümer ent¬
standene Haß der Russen gegen uns hat das Einsehen freilich überflutet.
Der Kaiser hat sich redlich bemüht, auf dynastischem Wege ein gutes Verhältnis
zum Zaren herzustellen. Dieser Weg war unzureichend. Entscheidend blieben die
großen Interessen, und diese haben wir in der letzten Vergangenheit nicht mehr klar
erkannt.
Die für die Zukunft außenpolitisch für Deutschland zweckmäßigen Richt¬
linien zu finden, ist bei dem ungeheuren Wirrwarr, der über die ganze Welt sich er¬
gossen hat, jetzt ungeheuer schwierig. Ich möchte in dieser Beziehung mit meiner
Meinung um so mehr zurückhalten, als mir amtliche Information nicht mehr zur
Verfügung steht. Ich will mich daher auf wenige Gedanken beschränken.
Unser Volk ist sittlich schwer krank. Der rücksichtslose Egoismus des Augen¬
blicksvorteils hat zur Zeit den Staatsgedanken völlig zurückgedrängt. Die reine
Demokratie ist am wenigsten imstande, Ordnung und .freie Bahn dem Tüchtigen'
zu schaffen. Die Herrschaft der Masse ohne starke Gegengewichte muß jedem Volk
den Niedergang bringen. In Weimar sind solche Gegengewichte für die neue Ver¬
fassung fast restlos beseitigt worden. Die Mehrzahl unseres Volkes versteht heute
nicht mehr, daß Pflichten höher stehen als Rechte, daß das Wohl des Ganzen auch
im letzten Ende das Wohl des einzelnen umschließt, daß wirkliche Freiheit nicht
ohne Ordnung existieren kann, daß allgemeine Gleichmachung für den Organismus
eines Staates eine Utopie ist, und der Versuch hierzu jede persönliche Triebkraft
und damit die Gesamtleistung unterbindet. Wir treiben auf diesem Wege noch
weiter dem Niedergang entgegen. Können wir uns nicht aus diesem Zustand be¬
freien, so haben wir keine Aussicht auf ein Wiederhochkommen. In Rußland wird
der Bolschewismus früher oder später unterliegen; die natürlichen Bodenschätze
machen es diesem Volk dann wieder möglich hochzukommen. In Deutschland liegt
es anders. Raum und natürlicher Reichtum fehlen uns, wir waren und sind ein
Arbeitsvolk und lebten von der Arbeit. Um diese hochwertig zu machen, muß das
Geistige an der Spitze stehen. Der Kopf muß die Faust leiten, nicht umgekehrt. In
Frage stand und steht jetzt nur, ob wir für uns und unsere Kinder arbeiten, oder als
Lohnsklaven für andere Völker. Die Durchseuchung unseres Volkes mit bolsche¬
wistischen Ideen ist sehr weit vorgeschritten. Die Organisation dieser Bewegung
ist außerordentlich entwickelt. Aus einer größeren Zahl von Städten und Bezirken
kommt die Nachricht von Einsetzung der Räterepublik. Der bedauerliche Märzputsch
in Berlin mag die Eiterbeule in unrichtiger Weise aufgestochen haben. Vorhanden
war sie in gefährlichster Weise. Unsere Wehrmacht, welche allein uns dagegen
schützen kann, ist von der Regierung Ebert systematisch vernichtet worden aus Furcht
vor Rückkehr des alten Reiches. Das durch den Krieg schon um die Hälfte bis Drei¬
viertel seines besten Bestandes reduzierte Offizierkorps wurde unwürdig und schlecht
behandelt, die frühere rein monarchische Basis durch nichts annähernd Gleichwertiges
und Ideales ersetzt. Die Regierung Scheidemann-Erzberger gab das Ehrgefühl
der alten Armee preis, kurz, sie zerstörte die reale Macht, auf der ihre eigene
Stellung in Deutschland beruhte. So ist die ungeheure Gefahr des Sieges der
Bolschewisten herangereift. Auch in der großen französischen Revolution unter¬
lagen die Girondisten. Tritt dieser Fall auch bei uns ein, so wird der Rest von
Lebensfähigkeit, den Deutschland noch besitzt, vernichtet werden und die Möglichkeit
eines Wiederaufbaues, wenn dieser Sturm vorübergebraust und die Episode des
Bolschewismus beendet ist, für Deutschland wegen der mangelnden Natur¬
bedingungen in einer Weise beschränkt sein, die sich mit der russischen Zukunft nicht
vergleichen lassen.
Indessen so sehr daher unsere wichtigste Aufgabe heute in der inneren Ge¬
sundung liegt, um das einzige fast, das uns geblieben ist, zum Tragen zu bringen,
die Arbeit nämlich, so wird der Erfolg derselben, und zwar in einem mit der Zeit
steigenden Maße doch wesentlich bedingt bleiben durch die außenpolitische Richtung,
die wir verfolgen, und da erscheint mir nicht zweifelhaft, daß, nachdem uns die
offene Tür nach dem Atlantik auf lange Zeit verschlossen ist, wir vor allem uns
bestreben müssen, mit den europäischen Nachbarvölkern in ein gutes wirtschaftliches
Verhältnis zu kommen, deren Interesse meines Erachtens in derselben. Richtung
geht. Diese Wechselbeziehungen der europäischen Kontinentalvölker und die wirt¬
schaftliche Bedeutung Deutschlands in deifelben sind von dem Engländer Keynes
gelegentlich seiner Beteiligung an den Versailler Friedensverhandlungen auch voll
erkannt. Es ist möglich, aber keineswegs sicher, daß die Engländer bis zu gewissem
Grade, d. h. insoweit sie glauben, uns als Arbeitsvolk und als Lohnsklaven aus¬
nützen zu können, ein Wiederaufleben Deutschlands dulden würden. Robert Cecil
hat in seiner letzten Rede über den Völkerbund etwas Ähnliches ausgedrückt mit dem
bezeichnenden Zusätze, daß England dabei nur aufpassen müßte, beizeiten zuzu¬
greifen, wenn dieses Wiederaufleben zu kräftig vor sich ginge. Er spricht dabei
sicher in der Auffassung des ganzen englischen Volkes. Unser Interesse ist daher
gegeben. Wenn wir nun einmal gezwungen sind, auf lange Zeit als Lohnsklaven
für andere Völker zu arbeiten, so müssen wir auss äußerste uns bemühen, dies
nicht für England zu tun. Momentane kleinere Vorteile wiegen diesen Grundsatz
nicht auf. Der Gegensatz zu England bleibt meiner Auffassung nach deshalb auch
für die Zukunft unüberbrückbar. Das schließt selbstverständlich nicht aus, daß es
Lagen gibt, in denen es richtig sein würde, in i t England zu gehen. Das Thema
der außereuropäischen Weltfragen, für welche es zur Zeit nur drei Großmächte,
England, die United States und Japan, gibt, lasse ich hierbei unberücksichtigt. Ich
spreche nur von der Hauptrichtlinie unserer europäischen Politik. Voraussetzung
für dieselbe ist der, vielleicht etwas optimistische, Glaube, daß unser Volk, wenn
ihm einmal die Binde von den Augen fallen sollte, die Zuversicht zu sich selbst
wiederfindet, und wenn es den harten Willen damit verknüpft, wieder hochzukommen.
Das kann es nur im Gegensatz zu England und mit dem Programm der Solidarität
der Interessen der Völker des europäischen Kontinents. Zu den transatlantischen
Völkern werden wir dabei nicht in einen Gegensatz treten, selbst nicht zu Amerika,
trotz dessen Kriegsbeteiligung gegen uns. Wesen und Auffassung des amerikanischen
Volkes darf nicht gleichgestellt werden mit der verflossenen Politik des Präsidenten
Wilson. Die Vereinigten Staaten und die anderen überseeischen Völker haben kein
Interesse daran, England von neuem zum Stapelplatz ihrer Rohstoffe werden zu
lassen; sie werden, soweit sie nicht unter politischem Zwang stehen, geneigt sein,
direkt mit uns zu verkehren. Auf eine Konjekturalpolitik, wie das im einzelnen und
den Umständen gemäß auszuführen sei, möchte ich mich nicht einlassen, da mir die
wirtschaftlichen Unterlagen hierfür nicht zu Gebote stehen.
Die Hauptrichtlinie unserer Außenpolitik scheint mir aus obigen Gründen
daher auch durch den Kriegsausgang nicht geändert zu sein. Die Erkenntnis für
diese Richtung hat für uns Deutsche deshalb ein sehr aktuelles Interesse, weil trotz
aller Erfahrungen während des Krieges bei uns auch die vortrefflichsten Leute immer
wieder bereit sind, sich von den Engländern an der Nase herumführen zu lassen,
sobald diese mit schönen Worten oder kleinen Gunstbezeigungen an uns herantreten.
Sie sehen nicht, daß England auch jetzt auf allen Gebieten unseren Haß gegen
Frankreich schürt, während es selbst mit seiner wohlwollenden Puritanermaske sich
im Hintergrund hält, nach derselben Methode, mit der es während des Krieges in
Griechenland gearbeitet hat. Unsere braven Michel sehen nicht, daß es vor allem
England darauf ankommt, eine starke wirtschaftliche Wiederbelebung Deutschlands
niederzuhalten, daß der Bolschewismus in Indien ihm sehr unangenehm, in Deutsch¬
land aber ziemlich gleichgültig ist. Solche Leute würden es womöglich für einen Erfolg
gegenüber den Franzosen halten, wenn die Engländer beispielsweise die Polizei im
Ruhrgebiet übernahmen. Die Raffiniertheit, mit der in dieser Richtung der Versailler
Friedensschluß von England inspiriert worden ist, die Wegnahme unserer Kolomen
und unserer Handelsflotte, die Jnbeschlagnahme von Danzig und Memel, und die
dadurch versperrte Verbindung mit dem russischen Handel, hat uns noch immer nicht
die Augen geöffnet. Die Engländer verstecken sich wieder einmal geschickt hinter den
Frarizosen, deren Unrecht an uns die deutsche Volksstimmung gegen den alten Erb¬
feind schürt, wobei ihr kein genügender Raum bleibt, sich mit Englands in der Form
weniger rohen, aber im Wesen gefährlicheren Feindseligkeit zu beschäftigen. Es ist
meine feste Überzeugung, daß wir und der Kontinent von Europa, der ja mit uns
niedergebrochen ist, nur gesunden können, wenn wir die kalte egoistische Psyche
Englands erkennen und demgemäß handeln. Ich habe versucht, in dieser Richtung
durch meine -Erinnerungen' zu wirken. Nicht in der pathologischen Gesinnungsart
Frankreichs, sondern in der Weltpolitik Englands liegt der eigentliche Todeskeim für
Europa. Die Frage ist gestellt, ob die europäischen Staaten reif sind, Provinzen des
britischen Weltreichs zu werden.
General v. Caprivi, der vom Scheitel bis zur Sohle Preuße und Soldat war
und auch nur Soldat sein wollte, sagte mir in einem Gespräch, das ich mit ihm
über den Versailler Frieden von 1871 und einen solchen mit Frankreich nach einem
künftigen Kriege hatte: ,Wir dürfen Frankreich nicht vernichten? es muß voll
bestehen bleiben. Europa kann Frankreich und seine Kultur nicht entbehren/ Man
stelle sich einen englischen Staatsmann oder hohen Soldaten bei privater Beant¬
wortung einer ähnlichen Frage vor, und man wird den weltenweiten Unterschied
der Denkweise und Psyche zwischen uns und den Briten verstehen, der wie ich
stets bedauert habe, unüberbrückbar war und in Zukunft, soweit wir sie ahnen
können, auch bleiben wird."
MIs ist darüber geklagt worden, daß der deutsche Student gegenwärtig
I der Gefahr ausgesetzt sei, durch die Bildung studentischer Gruppen
von seiten der verschiedenen politischen Parteien einseitig in deren
Fahrwasser 'zu geraten. Die Gefahr darf nicht verkannt werden.
^Ebensowenig freilich die Tatsache, daß sie zu nennen schon den
Vorwurf politischer Unreife in sich schließt. Sagen wir milder: nicht den Vor¬
wurf der Unreife, sondern die Notwendigkeit einer Einführung.
Unter den heutigen Studenten ist jene breite Schicht nicht zu unterschätzen,
die den Krieg lange und ernst mitgemacht hat und in dieser Zeit eine mensch¬
liche Reife erfuhr, wie sie gleich lange Studienzeit schwerlich erzeugt haben dürfte.
Der Eifer des Nachholend begreifliche wirtschaftliche Sorgen, ebenso oft aber
auch eine fast krankhafte Verschlossenheit nach schwerem Erleben halten viele von
diesen, und nicht die schlechtesten, zurzeit von der Politik eher zurück. Schon
aber wächst neben ihnen ein jüngeres Geschlecht heran, dem das ernstere Er¬
lebnis der Umsturz war und das unter seinem Eindruck für sich und seinen Stand
neue Wege finden zu können oder zu wissen meint. Die Voraussetzung ist viel¬
fach irrig; denn Lernenwollen, und sei es in noch so geschlossenem Gefüge, gibt
nimmer den Rahmen eines Standes. Das schließt indes nicht aus, daß auch
der in beruflicher Bildung nicht Fertige ein ganzer und reifer Mensch sein kann,
sähig zur Einstellung auf den Stand, dem er zustrebt, und zur vollen Erfassung
staatsbürgerlicher Pflichten.
Was sich der auf eigenen Füßen stehende und in einen Stand herein¬
gewachsene Bürger auf mannigfachen, an Zahl immer zunehmenden Wegen für
Wissen und Bildung erwirbt, ist niemals vorauszusehen und kann in glücklichster
Weise für politische Betätigung Klassenunterschiede ausgleichen. Zwischen der
studierenden Jugend aber und allen gleichaltrigen nicht Studierenden werden
Unterschiede bestehen bleiben, über die keine Demokratie hinwegzu¬
helfen vermag. Wer sich für seinen Beruf noch im beginnenden Mannesalter
auf die lockende und verpflichtende Lernzeit eines Universitätsstudiums einstellt,
sieht heute jedenfalls noch die für ihn kommende Aufgabe als Staatsbürger als
umfangreicher und ihrer Natur nach mehr wie einen Lernstoff an, als der in
gleichem Alter schon in voller Fahrt befindliche, wenn auch noch nicht auf dem
Höhepunkt seiner beruflichen Leistung angekommene Arbeiter. Und dieser Unter¬
schied ist letzten Endes doch begründet in einem Unterschied der Reife. Man kann
das ohne Tadel und Kränkung sagen, denn jenes Zurückbleiben dessen, der länger
unfertig bleibt, weil er seine Aufgabe sich komplizierter ansetzt, ist kein Verschulden
und auch kein unbedingter Nachteil. Ist es doch fast kein physiologischer
Unterschied. Will man verkennen, daß selbst ohne Ansehen des Herkommens
der, der länger und im ununterbrochenen Anschluß an die Knabenzeit auf der
Schulbank saß, den reifenden Anstoß zum selbständigen Auftreten und zur staats¬
bürgerlichen Verantwortlichkeit noch nicht im gleichen Alter empfangen haben
kann, wie der andere?
Die Geschichte der deutschen Parteien vor und nach 1918 hat die unver-
meidliche Folge hieraus gezeitigt, daß Jugendorganisationen unter den auf der
arbeitenden Klasse fußender Parteien immer den sich an Akademiker wendenden
voran sein mußten. Ebenso folgerichtig hat die stärkere Politisierung der jüngsten
Zeit es mit sich gebracht, daß zuerst wiederum von sozialistischer und nachfolgend
von bürgerlicher Seite versucht worden ist. jüngere Rekrutenklassen für die Partei¬
kämpfe mobil zu machen. Freilich hat das übergreifen parteipolitischer Bestrebungen
auf die Schulen aller Art zugleich auch den verständlichen Hintergrund, daß der
gewaltigere Schritt der Zeit in mancher Beziehung Jugend aller Klassen früher
hat reifen lassen. Ob das eine bleibende Verschiebung bedeutet für den Or-
ganismus der Jugend von heute und morgen, ist eine Frage für sich. Unabhängig
davon kann aber heute schon vorausgesagt werden, daß jener politische Alters¬
unterschied wohl immer wiederkehren wird, so lange sich Hand- und Kopfarbeit
auf verschiedene Organe der Gesellschaft verteilen
Das ist der letzte Anlaß, der parteipolitische Bestrebungen auf den Hoch-
schulen mit Besorgnis als unfruchtbar und als ein Unrecht der Parteien an der
Jugend des Volkes anzusehen zwingt. Man spricht idealen Sinn der
studierenden Jugend. Züchtet man nicht oft einen unfteiheitlichen und unkritischen
Geist? Jugendliche Empfänglichkeit hat das Vorrecht, gerade bei dem Fehlen
mancher harten Wirklichkeit Gedanken und Gestalten anzuhängen, die zu den Tagen
und Menschen von heute passen wie eine Kirchturmspitze auf den Erdboden.
Zeit und Entwicklung werden dafür sorgen, daß die Vernunft entweder die
Unnatur dieses Bauwerks erkennt oder zum mindesten nachträglich den Unterbau
errichtet. Wer aber in kaltem Eigennutz durch parteipolitische Bande eine wahr¬
haft ideale Gemeinschaft der frei aus einer Tür getretenen und auf eigenen Weg
sich Vorbereitenden sprengt, der nimmt ihren Angehörigen das Gut und Vorrecht
des Werdens und der Entwicklung, des Erfassens und Sich-Entscheidens.
Nicht zu verkennen ist freilich, daß es eine gemeinsame nützliche Tätigkei
für alle Parteien an dem Studententum gäbe, gemeinsam um ihres Gegenstandes
willen: das ist das Hinlenken aus die als überparteilich zu fordernde Außen¬
politik oder besser auf ihre Vorstufe: das Auftreten mit der rechten Würde vor
dem Ausland. Leider will auch das gelernt sein—, nimmt aber an Wert zu,
je mehr das Studententum oder die deutsche Hochschule als Körperschaft ohne Partei¬
zersplitterung auftritt. Um dieser Wertschätzung willen liegt ein greifbares Stück
der Hochschulreform-Möglichkeit in der Tat auf dem öfter besprochenen Gebiet
der Auslandskunde, sofern es nicht bloß in Vorlesungsüberschrift und Anpassung
alten Stoffes betrieben wird. Je mehr sich zeigt, daß die Allgemeinheit bei uns
Außenpolitik erst lernen muß, um so selbstverständlicher wird auch die Aufnahme
ihrer Grundlagen in den Bildungsstoff des Studenten und des gebildeten Staats¬
bürgers.
Eine Frage freilich ist die, ob und wie die Hochschule gerade heute in der
Lage ist, dem Drang nach gründlicher und gerechter Erfassung der Bildung für
den in Staat und Zeit sich einreihenden Mann entgegenzukommen. Und wenn heute
der Student berufen wird oder sich berufen glaubt, an einer Hochschulreform mit¬
zuarbeiten, so spielen Forderungen in dieser Richtung eine begreifliche Rolle.
Schwerlich werden allerdings neue, im Thema (oder wenigstens dem klingenden
Titel) zeitgemäße Vorlesungen solchem Bedürfnis gerecht. Was da fehlt und
helfen kann, ist nicht die billige Schaffung von Disziplinen und papiernen Hilfs¬
mitteln; denn die Entwicklung des Lehrbetriebes wird unter gesunden Verhält¬
nissen immer mit dem Geist der Zeiten und der jüngeren Lehrkräfte gehen. In
einem parteilosen Gemeinschaftsgeist, im gleichen Bedürfnis des Sich-Ansehens,
des Sich-Rüstens für das Kommende, für das Heraustreten in freiem Wollen und
freier Wahl ruhen die besten Kräfte für Reform. Das Verhältnis zwischen Lehrer
und Lernenden, das Wesen des Führens und Sichführenlassens ist heute ein
anderes als vor dem Kriege. Eine Täuschung wird es meist sein, die Änderung
auf die Revolution zurückzuführen, wie es mancher sich einbildet. Es nutz an¬
erkannt werden, daß aus welchem inneren Grunde auch immer die Führerrolle,
die der Hochschullehrer sich heute so gut wie einmal vor Jahrzehnten wieder an¬
eignen kann, anderes von ihm verlangt als tiefste Gelehrsamkeit, nämlich ein
dem Professor alten Stiles fremdes Matz von kameradschaftlichen Empfinden, ein
selbstverständliches, nie als Herablassung oder Last sich gehendes Zusammenleben,
wie das freilich der Natur der Arbeit entsprechend ein Fremderes mehr für die
Geisteswissenschaftler sein muß, während, gewiß vielen von diesen unbekannt,
solcher Geist in anderen Fächern längst zu Hause war. Stärker und bewußter
als bisher werden nun allgemein Lehrer und Lernende, werden die von ein-
ander so verschiedenen Altersklassen derer, die draußen waren, und derer, die
nachkommen, ein einigendes Band zu finden suchen, nicht in dem Traume
eines ein paar Jahre sie fassenden Standes, sondern in dem einzigen
unverfälschten Gefühl für das, was die akademische Jugend nach innen und nach
außen vertreten kann. Dies eine wird nicht nur zu jeder gesunden politischen
Partei, sondern auch zur Jugend aller Klassen und Parteien die Brücke schlagen:
die Nation.
infolge des Friedensvertrages von Versailles sind mehrere Millionen
! unserer Volks- und Staatsgenossen ein unseren Grenzen im Westen,
Norden und Osten unter fremde Herrschaft gekommen. Hier hat der
I neue Geist, der angeblich rin dem Völkerbund in die Welt gekommen
ist, und der künftig die Beziehungen von Volk zu Volk freundlich
gestalten soll," die beste Gelegenheit, sich wirksam zu zeigen. Sein erstes Anliegen
muß es gewiß sein, die nationalen Minoritäten in einem fremden Staat vor der
leisesten Kränkung und Vergewaltigung zu schützen.
Wie steht es damit in Wirklichkeit? Ist dieser neue Geist auch den deutschen
Minoritäten zugute gekommen? Prüfen wir daraufhin den Friedensvertrag von
Versailles, der nun für die Zukunft die rechtliche Basis für diese deutschen Minori¬
täten nicht weniger als für uns selbst ist. Welche Schutzbestimmungen enthält er?
1. Gleich die Artikel über Elsaß-Lothringen, das nicht erst mit dem
Friedensschluß, sondern schon mit dem Waffenstillstand vom 11. Roveinber wis
an unter die französische Staatshoheit getreten ist, und zwar ohne Volksabstimmung,
enthalten nichts derartiges, aber auch leine Silbe (Artikel 51—7!)). Vielmehr
beruhen sie von A bis Z auf der Fiktion, daß die deutschen Elsässer und die deutschen
Lothringer (die Deutschen sind bekanntlich an 90 Prozent der Bevölkerung) wegen,
ihrer französischen Staatszugehörigkeit „Franzosen", und nur die aus dem Reich ein-
gewanderten Deutschen und deren Nachkommen „Deutsche" seien. So wird auf die
einfachste Weise das Nationalitätenproblem aus der Welt geschafft. Das deutsch¬
sprachige Schulwesen wird aufschoben, die deutschen Knaben und Mädchen müssen
französische Schulen besuchen. Und auch sonst betreibt französische Intoleranz
systematisch die Verwelschung der Bevölkerung, so daß sich selbst aus den Reihen der
Elsässer Widerspruch regt. Bestimmungen über den Minderheitsschutz werden dabei
nicht verletzt; denn für Elsaß-Lothringen gibt es keine.
2. Das Saarbecken ist kein Ausland. Aber der eigentümliche Zwitter¬
zustand, in dem es sich 15 Jahre befinden und dem dann eine Volksabstimmung folgen
soll, welche die Möglichkeit eines Anschlusses an Frankreich mindestens ins Auge faßt,
nötigt dazu, auch dies Gebiet in den Bereich der Besprechung zu ziehen. Inner¬
halb des Saarbeckens gibt es nicht bloß eine deutsche Majorität, sondern die ganze
Bevölkerung ist deutsch; bei einem Anschluß an Frankreich aber würde sie sofort
— wie die Deutschen Elsaß-Lothringens — in Minoritätsstellung geraten. Unter
diesem Gesichtspunkt muß nun die einschlägigen Bestimmungen (Artikel 45—50
nebst Anlage § 1—40) lesen, dann erkennt man sogleich, welche Maßnahmen uns
Auge gefaßt sind, um für die Zeit der fremden Verwaltung die deutsche Bevölkerung
<n ihren deutschen Interessen zu „schützen".
Die Hauptsache am Saarbecken sind die Kohlengruben, an denen Frankreich
das vollständige und unbeschränkte Eigentum erhält. Die Bevölkerung ist, da sie
deutsch ist, eine unbequeme Zugabe.
Aber muß sie immer geschlossen deutsch bleiben? Läßt sich nicht ein gemischt¬
sprachiges Gebiet schaffen, bis in 15 Jahren die Abstimmung stattfindet? Daher wird
denn (Anlage s 12) bestimmt, daß die Einführung und Verwendung fremder
Arbeitskräfte in den Gruben des Saarbcckens oder in deren Nebeimnlagen in keiner
Weise behindert werden darf; auch können die Arbeiter und Beamten französischer
Staatsangehörigkeit den französischen Gewerkschaften angehören. Sind erst
französische Arbeiter und Beamte im Lande, so muß natürlich anch dafür gesorgt
werden, daß für sie und ihre Kinder technische Schulen und Volksschulen mit
französischer Sprache und nach französischem Lehrplan vorhanden sind. Den
Schulen werden sich „Krankenhäuser, Apotheken, Arbeiterhäuser und Gärten und
andere Wohlfahrts- und Unterstützungseinrichtungen" anschließen (s 14). Wollen
Deutsche diese französischen Einrichtungen benutzen, so wird man das nicht ungern
sehen; im Gegenteil, man wird sie als Propagandaanstalten benutzen.
Ja, man gestattet sogar gnädigst, daß die Bewohner des Saarbeckens, die
sämtlich deutsche Reichsangehörige sind, wenn sie wollen, eine andere, das heißt:
die französische Staatsangehörigkeit erwerben (§ 27). Sind sie erst französische
Staatsangehörige, nun, dann sind sie eben „Franzosen" und müssen als solche
behandelt werden. Daß der Regierungskommission — z. B in der Ab- und Ein-
Satzung von Beamten — Zwangs- und Lockmittel zu Gebote stehen, bedarf nicht
erst der Erwähnung.
Auf diesem Wege kann beides erreicht werden: daß Franzosen in größerer
Zahl ins Land kommen, und daß Deutsche ins französische Lager hinübergezogen
werden. Das Resultat wird ein gemischtsprachiges Land sein. Und um dieses
Zieles willen trifft der Friedensvertrag fürsorglich Schutzbestimmungen für eine
französische Minorität, die noch gar nicht da ist!
Und der Tendenz dieser Friedensbestimmungen entspricht durchaus die Praxis
der Franzosen, die ja schon über Jahr und Tag sich hat-entfalten können. Dort ist
bereits eine außerordentlich gewandte französische Sprach- und Kulturpropaganda
am Werke (vgl. den Aufsatz ton Paul Wentzkc, Französische Werbung am Rhein,
„Deutsche Politik", Heft 23 vom 4. Juni 1920). Sprachlehrer und Volksbildungs¬
mittel aller Art begleiten den französischen Vormarsch. Unmittelbar nach dem Vor¬
rücken der fremden Truppen im Saargebict entstanden dort überall Sprachkurse, um
den Verkehr zwischen den beiden Bevölkcrungsschichten zu „erleichtern" und an¬
genehm zu gestalten. Als dann der eigentlichen Armee ein Troß von Frauen und
Kindern folgte, da wurde es Pflicht der Behörden, auch für Belehrung und Unter¬
haltung dieser Vorkämpfer Frankreichs zu sorgen und französische Schulen ein¬
zurichten.
Und was tun wir dagegen? — Nichts! Deutsche Kreise aber, insbesondere
des kleinen Mittelstandes, senden gern und willig ihre Kinder in diese Schulen der
„Doppelkultur" hinein!
3. Die Bevölkerung von Eupen und Malmedy, die an Belgien fällt,
ist den neuen Herren schutzlos preisgegeben. Nur die Farce einer Abstimmung
ist ihr bewilligt (Artikel 34): „Während der ersten 6 Monate nach dein Inkrafttreten
des Friedensvertrages werden in Eupen und Malmedy durch die belgischen Be¬
hörden Listen ausgelegt. Die Bewohner dieser Gebiete haben das Recht, darin
schriftlich ihren Wunsch auszusprechen, daß diese Gebiete ganz oder teilweise unter
deutscher Staatshoheit bleiben."
Also nach der Besetzung durch Belgien dürfen die Deutschen, die es wollen,
ihren Namen in eine Liste eintragen (nur zwei Listen haben die Belgier für das
ganze Gebiet ausgelegt!) und den platonischen Wunsch aussprechen, daß sie lieber
bei Deutschland blieben. Die belgische Regierung lernt auf diese Weise gleich die
Namen derjenigen kennen, die sie sich als Kandidaten für die nächste Ausweisung
merken kann. Als Ziel wird kenntlich: sich möglichst der treudeutschen Bevölkerung
zu entledigen.
Daß bei dieser Rechtslage' — denn die Bestimmungen des Friedensvertrages
sind ja geltendes „Recht" — die verschiedenen Noten der deutschen Regierung,
welche eine „wirklich freie Abstimmung" fordern, von vornherein zur Erfolg¬
losigkeit verurteilt waren, liegt auf der Hand. Die deutsche Minorität in Belgien
wird der belgischen Negierung schutzlos ausgeliefert sein.
4. Für Nord - Schleswig , wo jetzt deutsche Gemeinden unter deutsche
Herrschaft kommen, steht, scheint es, die Sache etwas günstiger. Schutzbestimmungen
enthält zwar auch hier der Friedensvertrag nicht, aber er läßt doch wenigstens die
Möglichkeit offen, daß künftig welche getroffen werden. „Durch besondere
Abmachungen", heißt es am Schluß von Artikel 114, „werden alle anderen
Fragen geregelt, welche aus der vollständigen oder teilweisen Rückgabe der Gebiete
erwachsen, die Dänemark auf Grund des Vertrages vom 30. Oktober 1364 ab¬
treten mußte."
Als aber die deutsche Regierung an die dänische herantrat, um nun besondere
Abmachungen über den Schutz der deutschen Minorität zu treffen, lehnte die dänische
Regierung es ab, auch nur in Verhandlungen darüber einzutreten!
5. Besondere Beachtung verdienen die Verhältnisse in dein neugeborenen
Freistaat Danzig, der, Sosen er Seestaat ist, unter englischer, sofern er Land¬
staat ist, unter polnischer Suprematie steht. Er verfügt über eine erdrückende
deutsche Mehrheit (von 98 Prozent), ist also so gut wie ganz deutsch. Trotzdem
ist eine höchst merkwürdige Bestimmung über die NaWnalitätenverhältnisse getroffen,
die der größten Aufmerksamkeit wert ist.
Es genügt nämlich noch nicht, daß der neuen Republik Polen als Staat ein
weitgehender Einfluß eingeräumt wird, der in Wirklichkeit den Freistaat Danzig
seiner staatlichen Selbständigkeit beraubt (Artikel 104), es genügt noch nicht, daß
das Eigentum des Deutschen Reiches und Preußens, das logischerweise in den
Besitz des Freistaates Danzig übergehen müßte, von der Entente an den polnischen
Staat übertragen werden kann (Artikel 107); es wird auch dem Polentum als
Volkstum ein Vorrang vor den Deutschen eingeräumt. Es soll nämlich zwischen
Polen und Danzig ein Abkommen getroffen werden, in dem dafür gesorgt wird,
„daß in der freien Stadt Danzig kein benachteiligender Unterschied zum Schaden
polnischer Staatsangehöriger und anderer Personen polnischer Abstammung oder
Sprache gemacht wird". Daß polnisch sprechenden Staatsbürgern Danzigs die
Gleichberechtigung zugesichert wird, wäre noch zu begreifen, daß aber Staatsbürgern
Polens, welche die Danziger Staatsangehörigkeit nicht einmal besitzen, auch Gleich¬
berechtigung gewährt werden soll, bloß weil sie polnischen Blutes sind, setzt allem
die Krone auf. Es bedeutet im Sinne der Entente die grundsätzliche Bevorzugung
des polnischen Volkstums in einem deutschen Staat.
Wieder — wie bei dem Saarbecken — zeigt sich, daß im Friedensvertmg
von einem Schutz der Minorität nur die Rede ist, wenn sie nichtdeutsch ist und
wenn sie sich zur Schwächung einer deutschen Majorität verwenden läßt.
6. Über das Memeler Gebiet ist noch nichts bestimmt; Deutschland hat
nur die Blankoverpflichtung übernommen, „die Bestimmungen anzuerkennen, welche
die alliierten und assoziierten Hauptmächte in bezug auf diese Gebiete treffen
werden". Bisher ist also nichts zum Schutz der dortigen Deutschen geschehen, ob
es in Zukunft geschehen wird, hängt ganz von dem guten Willen der Entente ab.
Und wie es damit steht, haben wir bisher zur Genüge kennengelernt.
7. Bei Polen, dem wir uns jetzt zuwenden, kann zum ersten Male von
positiven Bestimmungen über Minoritätenschutz die Rede sein. Die Abstimmungs¬
gebiete können dabei für unsere Zwecke füglich außer acht gelassen werden; denn
sollte etwas davon noch nachträglich an Polen fallen, so würden dafür offenbar die¬
selben Bestimmungen gelten wie für die Polen sogleich zugesprochenen Gebiete.
Zunächst entdecken wir eine Bestimmung, welche offenkundig die Schwächung
des deutschen Elements bezweckt, daß nämlich nur die bereits vor dem 1. Januar 1908
dort ansässigen Reichsdeutschen ohne weiteres die polnische Staatsangehörigkeit er¬
werben, die später Gekommenen aber abgeschoben werden können. . Auf diese Weise
soll nicht bloß die Zahl der Deutschen verringert, es soll vor allem deutsches Land
in polnische Hand gebracht werden.
Endlich aber finden wir wirklich die bisher immer vergebens gesuchte Be¬
stimmung. Artikel 93 Abschnitt 1 lautet: „Polen nimmt unter Zustimmung, daß
die alliierten und assoziierten Hauptmächte dies in einem mit ihm zu schließenden
Vertrage aufnehmen, die Bestimmungen an, welche diese Mächte für notwendig er¬
achten, um in Polen die Interessen der nationalen, sprachlichen und religiösen
Minderheiten zu schützen."
Der Minoritätenschutz ist also nicht in den Friedensvertrag selbst aufgenommen,
den Deutschland unterzeichnet hat, sondern er ist einem Vertrage zwischen Polen
und den Ententemächten vorbehalten, bei dem Deutschland, obwohl es sich um seine
bisherigen Bürger handelt, nicht ein Sterbenswörtchen mitzureden hat. Der Zweck
ist deutlich: ihm soll die Möglichkeit genommen werden, sich im Falle der Vertrags¬
verletzung an Polen selbst zu wenden und von ihm Abhilfe zu fordern; ihm bliebe
allenfalls der umständliche und ziemlich aussichtslose Völkerbundsweg.
Dieser Vertrag nun „zwischen den alliierten und assoziierten Hauptmächten
und Polen" ist tatsächlich bereits zustandegekommen und veröffentlicht. Er räumt
immerhin der deutschen Sprache und der deutschen Elementarschule (nicht der
höheren Schule) gewisse, recht dürftige Rechte ein. Aber wie dürstig sie auch sein
mögen, es sind Rechte!
Bezeichnend ist aber, daß den Juden in Polen mehr Rechte zugestanden
werden als den Deutschen. Fast kommt man auf den Gedanken, daß die Deutschen
ihre geringen Rechte dem Umstände zu verdanken haben, daß es in Polen auch
jüdische, ukrainische, weißrussische und vielleicht litauische Minoritäten geben wird.
Für die Einzelheiten verweise ich auf die Schrift des Berliner Juristen Prof.
Dr. Erich Kaufmann, Die Rechtsverhältnisse der an Polen abgetretenen Ost¬
mark (Berlin, Verlag der Grenzboten, 1919), welche die Vertragsbestimmungen im
Wortlaut bringt und besonders auf Seite 20 bis 30 eine eingehende Erläuterung
derselben gibt. Es ist die erste Schrift dieser Art. Und es wäre nur zu wünschen,
daß die Rechtsverhältnisse aller übrigen abgetretenen Gebiete in derselben Weise von
kundiger Hand behandelt würden. Denn mögen die Zustände noch so unbefriedigend,
mag die Rechtsbasis noch so schwankend sein, das erste, was das bodenständige
deutsche Element überall tun muß, ist, daß es sich ganz genau über die „Rechts¬
verhältnisse orientiert, unter denen es künftig zu leben hat. Nur auf diese Weise
gewinnt es einen sicheren Ausgangspunkt für seine Arbeit.
8. Bei der Tschechoslovakei, an die wir das Leobschützer Gebiet ver¬
loren haben, steht die Sache ähnlich wie bei Polen. Sie hat einen Vertrag mit den
Ententemächten über den Schutz der Interessen der nationalen, sprachlichen und
religiösen Minderheiten geschlossen. Dem kommt um so größere Bedeutung zu, als
er auch für die 3^ Millionen Deutsche gilt, welche die Tschechoslovakei von Österreich
und von Ungarn übernommen hat. Über den Inhalt dieses Vertrages fällt die
„Deutsche Arbeit", die im 2. Novemberheft 1919 die Hauptbestimmungen mitteilt/)
das Urteil, daß durch ihn den Tschechen nicht nur ihre Vormachtstellung, sondern
schrankenlose Herrschaft völkerrechtlich verbürgt wird. /
So sieht es einstweilen mit dem Minoritätenschutz aus: bei sechs von den ab¬
getretenen Gebieten fehlt jeder Schutz, in den beiden anderen ist er unzureichend.
Was folgt aus alledem?
Täuschen wir uns doch keinen Augenblick darüber: die Deutschen dieser acht
Gebiete sind vom Körper des Volkes und Reiches getrennt, weil man die einzelne
Rute leichter zerbrechen kann als das ganze Bündel.
Die Deutschen dieser abgesprengten Grenzlande sind alle bedroht und schwere
Kämpfe stehen ihnen bevor, meist haben sie schon begonnen.
Es liegt auf der Hand, wie sehr ihnen die Abwehr dadurch erschwert wird, daß
jede Gruppe isoliert ist und nur für sich arbeitet, wie sehr sie erleichtert werden würde,
falls sie nach einheitlichen Gesichtspunkten erfolgen könnte. Es müßte also eine
Stelle geschaffen werden, die von Berufs wegen alle Fragen zu bearbeiten hätte,
welche den Minoritätenschutz bei den Grenzdeutschen betreffen. Zu ihren Aus¬
gaben gehört es zunächst einmal, die reichsdeutsche Öffentlichkeit über alle Fälle, in
denen Grenzdeutsche vergewaltigt werden, zu informieren; die meisten Reichs¬
deutschen wissen noch nicht einmal, was auf dein Spiele steht, und stehen in sträf¬
licher Gleichgültigkeit beiseite.
Wie diese Stelle am besten zu schaffen sei, ob vom Staat aus oder —
vielleicht besser — unabhängig vom Staat, braucht hier nicht erörtert zu werden.
Jetzt gilt es, die Notwendigkeit einer solchen Stelle anzuerkennen. Das weitere
wird sich finden.
leit der Mitte des 19. Jahrhunderts — veranlaßt durch den
Ibeginnenden Jndustrialisierungsprozeß — entwickelte sich eine
»machtvoll einsetzende Arbeiterbewegung, die zunächst ihr Gepräge
»durch den Marxismus bekam. Karl Marx drückte dem werdenden
1 Proletariat drei scharf geschliffene Waffen in die Hand. Die
erste Waffe war die des Materialismus. Sie war dazu bestimmt, die Massen
aus der Atmosphäre der christlichen Weltanschauung zu lösen. Die zweite Waffe
war die des Klassenkampfes; sie hatte die Aufgabe, den rücksichtslosesten Kampf
für die Erringung der Diktatur des Proletariats zu führen. Die dritte Waffe
endlich war die der internationalen Gesinnung, die dazu bestimmt war, die
nationale Gesinnung zu bekämpfen und dem internationalen Geist die Bahn zu
brechen. Ferdinand Lassalle brachte zunächst mit Erfolg die antinationale Note
in der deutschen Arbeiterbewegung zur Geltung. Er steckte der deutschen Arbeiter¬
schaft ein internationales Ziel. Es war die Erringung des gleichen, geheimen
und direkten Wahlrechts; denn, heißt es in seinem berühmt gewordenen Ant¬
wortschreiben: „Das ist das Ziel, das ihr erringen müßt; ein anderes gibt
es nicht!" ' - ^
Nachdem auch in Preußen die Koalitionsfreiheit gegeben war, machten
sich seit Ende der 60er Jahre die gewerkschaftlichen Bestrebungen in der deutschen
Arbeiterschaft immer stärker bemerkbar. Die beiden ältesten Gewerkschafts¬
richtungen entstanden im September 1868. Es ist die „Freie oder sozial¬
demokratische und die Hirsch-Dunkersche Organisation". Nach der Vereinigung
der beiden feindlichen Flügel — der Lassallianer und der Marxisten im Jahre
1875 — tritt nun von Jahrfünft zu Jahrfünft immer wuchtiger die sozial¬
demokratische Arbeiterbewegung in die Erscheinung. Vergebens suchte das
Sozialistengesetz zwischen 1878 und 1890 diese Bewegung mit den Macht¬
mitteln des Staates zu bekämpfen. Es gelang wohl, die Organisationsform
zu zerbrechen, aber unter dem Einfluß des Sozialistengesetzes entwickelte sich
der Marxistische Geist in der deutschen Arbeiterschaft in Reinkultur, den später
Bebel schlagwortartig in dem Satz zusammenfaßte: „Wir erstreben auf reli¬
giösem Gebiet den Atheismus, auf sozialem den Kommunismus und auf natio¬
nalem die soziale Republik." Auf politischem Gebiet tritt die sozialdemokratische
Arbeiterbewegung bei jeder Reichstagswahl im Blick auf ihre wachsende Stimmen¬
zahl und im Blick auf ihren Einfluß im Parlament immer deutlicher in die
Erscheinung. Die gewerkschaftliche Bewegung, die ganz mit marxistischen
Geiste getauft war und im sozialdemokratischen Fahrwasser segelte, wuchs in der
Vorkriegszeit ins riesenhafte. Von den reichlich 200 000 Mitgliedern, die die
sozialdemokratische Gewerkschaftsbewegung im Jahre 1890 zählte, waren bis
zum Jahre 1913 zweieinhalb Millionen geworden. In dieser Gewerkschafts¬
bewegung wurde besonders der Klassenkampfgeist gepflegt, der in den zahl¬
reichen Streiks —7 nach Umbreit's Darstellung sind zwischen 1890 und 1913
mehr als 33 000 Lohnkämpfe durchgefochten worden — seinen Ausdruck fand.
Daneben entwickelte sich in außerordentlich starkem Maße auch noch die sozial¬
demokratische Genossenschaftsbewegung. Hinter diesen Riesenzahlen der sozial¬
demokratischen Arbeiterbewegung blieb die Hirsch-Dunkersche vollkommen
zurück. Ihr Ideal war nicht der Klassenkampf, sondern sie betonte die Harmonie
zwischen Arbeit und Kapital. Den größten Wert legte diese Bewegung auf eine
gute Finanzgebarung und erfolgreiches Unterstützungswesen. Aber sie blieb
ein Zwerg mit ihren 100 000 Mitgliedern, gemessen an den Riesenzahlen der
sozialdemokratischen Bewegung.
Der Umstand, daß die sozialdemokratische Arbeiterbewegung in ihrer
dreifachen Ausstrahlung — politische, gewerkschaftliche und genossenschaftliche
Form — das Monopol in der deutschen Arbeiterwelt sich dauernd durch Terror
und religiöse und politische Unduldsamkeit gegen die Arbeitermassen sichern
konnte, die auf christlichem und nationalem Boden standen, gab die Veran¬
lassung zu Organisationsbestrebungen auf christlich-nationaler Linie. Als Vor¬
läufer dieser Bestrebungen sind die christlich-sozialen Arbeitervereine des
Westens, die der Kulturkampfbewegung zum Opfer fielen und die in den 80er
Jahren sich entwickelnden konfessionellen Arbeitervereine anzusehen. 1894
organisierten sich die christlich gesinnten Werkarbeiter des Ruhrbezirkes. Ihnen
folgten die Textilarbeiter am Niederrhein und die Eisenbahner in Süddeutsch¬
land. 1899 fand der erste christliche Gewerkschaftskongreß in Mainz statt, der den
Grundcharakter der christlichen Arbeiterbewegung festlegte: konfessionell-
paritätisch, politisch-neutral, sozial-klassenversöhnend und den Streik als letztes
Mittel, wenn alle Verhandlungsmöglichkeiten erschöpft sind, als wirtschaftliche
Waffe zu Erringung gewerkschaftlicher Ziele. Die christliche Gewerkschafts¬
bewegung hat in den Jahrzehnten vor dem Kriege zu ihrer Existenzberechtigung
einen furchtbar harten Kampf gegen das Arbeitnehmertum, das die Bewegung
energischer als die Sozialdemokratie bekämpfte, und gegen die soziale Richtung,
die sie nicht anerkennen wollte, führen müssen. Aber im härtesten Kampf er¬
starkte die Bewegung. 1903 tagte in Frankfurt am Main der erste christlich¬
nationale Arbeiterkongreß, der zum ersten Male die christlichen Gewerkschaften,
die konfessionellen Arbeiter- und andere Gesinnungsvereine unter dem Namen
„Christlichnationale Arbeiterbewegung" vereinigte. Eine halbe Million Arbeit¬
nehmer waren auf diesem ersten Kongreß vertreten. 1907 fand in Berlin der
zweite christlich-nationale Arbeiter-Kongreß statt, der bereits eine Million
Mitglieder zählte. 1913 tagte der dritte christlich-nationale Arbeiter-Kongreß
in Berlin, der 1 200 000 Mitglieder vereinigte und endlich 1917 im Oktober
der christlich-nationale Kriegs-Kongreß, ebenfalls in Berlin. 750 000 Mit¬
glieder der christlich-nationalen Arbeiterbewegung standen damals unter den
Fahnen und 75 000 hatten aus ihren Reihen bereits den Heldentod fürs Vater¬
land erlitten. 1500 000 waren auf dem Kriegs-Kongreß durch 400 Ab¬
geordnete vertreten. So waren bis zum Kriegsausbruch in der deutschen
Arbeiterbewegung drei große Richtungen — die sozialdemokratische, die Hirsch-
Dunkersche und die christlich-nationale, vorhanden. Die anderen Arbeiter-
Organisationen, wie die wirtschaftlich-friedlichen, die polnischen und die Loka-
listen, kamen für den großen gewerkschaftlichen Kampf nicht in Betracht. In
dieser Lage kam der Weltkrieg und in seinem Gefolge die Revolution, die neue
politische Verhältnisse schufen. Nach der Revolution gruppierten sich die ge¬
werkschaftlichen Verbände von neuem. Zunächst wurde im November 1918
die industrielle Arbeitsgemeinschaft zwischen den Arbeitnehmer- und Arbeit¬
geber-Verbänden gegründet. Von den Arbeiter-Organisationen wurden die
sozialdemokratische, die Hirsch-Dunkerschen und die christlichen Gewerkschaften
als gleichberechtigt anerkannt. Später gruppierten sich die Gewerkschaften
aller Richtungen in neuer Form. Die freien oder sozialdemokratischen Gewerk¬
schaften schlössen sich in der Form des allgemeinen deutschen Arbeiterbundes,
der heute mehr als 7 Millionen Mitglieder zählt, zusammen. Die christlichen
Gewerkschaften organisierten sich im deutschen Gewerkschaftsbunde, der gegen¬
wärtig 21/2 Millionen Mitglieder zählt, und die Hirsch-Dunkerschen Gewerkschaften
gaben sich in Verbindung mit anderen Organisationsformen den Namen
Deutscher Gewerkschaftsring, der gegenwärtig etwa ^/z Million Mitglieder
umfaßt. Die christliche Gewerkschaftsbewegung, also der heutige deutsche Ge¬
werkschaftsbund und die konfessionellen Arbeiter-Vereine, zählen in der Form
der christlich-nationalen Arbeiter-Bewegung 4 Millionen Mitglieder. Wenn
nicht alle Zeichen trügen, dann wird der Endkampf auf dem Gebiete der Arbeiter-
Bewegung zwischen der sozialdemokratischen und der christlichen Arbeiterbe¬
bewegung ausgefochten werden. In der Gegenwart sind 10 Millionen Arbeiter
vom Organisationsgedanken erfaßt. Und der Augenblick scheint nicht mehr
fern zu sein, wo röstlos die deutsche Arbeiterschaft in irgend einerForm organisiert
ist. Es kann keine Frage sein, daß auch in der organisierten Arbeiterschaft die¬
jenige Richtung früher oder später doch die Oberhand bekommen wird, die ihre
ganze gewerkschaftliche Organisationsarbeit in bewußter Weise einstellt auf
die Linie der nationalen, der sozialen und der christlichen Gesinnung. Es wird
noch harte Kämpfe geben, ehe dieser Grundcharakter der Zeit sich im gewerk¬
schaftlichen Leben durchgesetzt haben wird. Aber die Eierschalen des überlebten
Marxistischen Geistes werden doch abgestoßen werden müssen, wenn die orga¬
nisierte Arbeiterschaft der gesunde Träger des politischen und des wirtschaftlichen
Lebens im neuen Deutschland werden will.
Luzern, den 19. September 1916.
Ich fahre heute zu meinem vatikanischen Gewährsmann, um ihn vertraulich
über die Anhaltspunkte zu befragen, die er für die von ihm bei meinem letzten Besuch
geäußerte Anschauung hat, daß wir mit Rußland etwas machen könnten. Es
schwirren in dieser Hinsicht derzeit verschiedene Gerüchte durch die Schweiz, wobei
nur zu wünschen ist, daß wir nicht wieder als derjenige dastehen, der mit dem Hut
in der Hand wartet, ob ihn nicht ein Wagen mitnimmt. Sollten sich wirkliche greif¬
bare Anmüpfungspunkte ergeben, so ist unser erstes und stärkstes Interesse, das
zum Ausdruck kommt, daß die Russen uns aufgesucht haben.
Ich habe in Zürich, wohin ich zu diesem Zweck eigens fuhr, Herrn Adolf
Müller aus München gesehen, dessen ruhige und besonnene Art ihn denn auch in
besonderem Maße geeignet erscheinen läßt, mit maßgebenden Neutralen zu ver¬
handeln. Ich fand ihn diesmal sehr ernst gestimmt, woraus zu schließen gestattet ist,
daß sein Schweizer Gewährsmann, der Deutschland aufrichtig freundlich gesinnt ist,
unsere Lage mit Sorge betrachtet. Davon, daß Rußland zu haben wäre, ist diesem
Herrn etwas Greifbares nicht bekannt. Rücksichtlich Frankreichs hat auch Herr
Müller, der sich lange Zeit etwas von diesem Lande erwartete, derzeit jede Hoff¬
nung aufgegeben. So müssen sich, aller Enttäuschungen ungeachtet, die Augen
derer, die nach Frieden ausschauen, immer wieder nach Rußland richten, wobei wir,
sollen wir nicht für Osterreich zum Schluß verbluten, irgend jemand zum Begleichen
der Zeche heranziehen müssen.
Zürich, den 15. Oktober 1916.
Ich erlaube mir den Abdruck meines Berichtes an----beizulegen mit
der nur für Euer Exzellenz bestimmten vertraulichen. Bemerkung, daß Graf L.,
der den Frieden aufrichtig wünscht, sehr unter dem ungünstigen Eindruck der
über unsere Fühler in Rußland verbreiteten Zeitungsnachrichten stand. Es ist
das reine Verhängnis, daß, sooft wir etwas Derartiges unternehmen, die Sache
in die Presse kommt. Der Hauptübeltäter ist diesmal die^) Zeitung „Neue
Zürcher Nachrichten", die vor einiger Zeit mit geheimnisvollen Andeutungen
davon sprachen, daß zwischen Nußland und Deutschland etwas vorgehe. Selbst¬
verständlich haben die Russen, als die Sache weiter um sich griff,sofort dementiert,
und wir mußten wohl oder übel in der „Kölnischen Zeitung" nachfolgen. Ich
sah, daß Graf L. über die Ungeschicklichkeit unserer Preßgebarung sich seine
ganz bestimmte Meinung gebildet hat, wenn er sie allerdings entsprechend seiner
gemessenen und abgewogenen Art für sich behält.
Zürich, den 23. Oktober 1916,
Ich hatte letzter Tage Gelegenheit, einen hier lebenden, mir bestens bekannten
Freund des Schweizer Generalstabschefs Sprecher von Berneck zu treffen. Mein
Gewährsmann hat den Generalstabschef in den letzten Wochen wiederholt gesehen.
Er ist Deutscher, sein Zeugnis über Sprecher ist verlässig. Oberst Sprecher hat
diesem Herrn gegenüber seine Ansicht vertraulich dahin ausgesprochen, daß er unsere
Lage militärisch für gut halte, daß er dagegen in Sorge sei, ob wir die Sache wirt¬
schaftlich bis zu dem von der Entente vorläufig in Aussicht genommenen Termin
aushalten. Welchen Termin Sprecher meint, vermochte mein Gewährsmann mit
Sicherheit nicht zu ermitteln; er hatte den Eindruck, daß der Generalstabschef eher
mit 1918 als mit 1917 rechnet.
Zürich, den 28. Oktober 1916.
Bedeutungsvoll ist die Hieher gelangte Meldung über die Absicht des
Herrn Briand, demnächst, wohl in erster Linie zum Zweck der Hochhaltung der
Stimmung im Lande, eine Wahlrechtsreform auf breitester Grundlage anzu¬
kündigen, die von dem Gedanken beherrscht ist, die ungeheuerlichen Lücken, die
der Krieg in die Wählermassen vorzugsweise des Radikalismus gerissen hat, aus¬
zufüllen, und zwar unter Heranziehung aller irgendwie stimmfähigen
Elemente. Es ist dies eine Sache, die in Preußen zu denken geben könnte.
Exzellenz M., der sich gegenwärtig hier zwecks Besprechungen aufhält, hat mir
auseinandergesetzt, daß angesichts der großen neuen Opfer, die die Nation in
nicht ferner Zeit mit der Erhöhung der Jahresgrenze von 45 auf SO Jahre und
mit der zwangsweisen Beschäftigung der verwendbaren Frauen in der Er¬
zeugung von Munition und sonstigem Kriegsbedarf auf sich nehmen müsse,
die Reichsleitung auf Preußen im Sinne einer Demokratisierung des Wahlrechts
einwirken müsse, widrigenfalls die Arbeiter, soweit sie politisch und wirtschaftlich
organisiert seien, nicht mehr zu halten seien. Merkwürdigerweise hat Prälat
Sk. gestern bei mir denselben Faden gesponnen und gesagt, daß eine Änderung
des,preußischen Wahlrechts einer der wichtigsten Faktoren für eine Beschleunigung
des Friedens sein würde, da, wie er auf Grund der von ihm gewonnenen Ein¬
drücke behaupten zu können glaubt, gegen das ausschließlich von der preußischen
Reaktion geleitete Deutschland auch nach dem Kriege allenthalben in Europa
das größte Mißtrauen bestehen werde.
Hinsichtlich der Friedensfrage war Exz. M. auf Grund seiner Berner Ein¬
drücke sehr trübe gestimmt. Die Aussichten seien schlechter als je, wenn auch
nicht zu leugnen sei, daß sowohl in England als in Frankreich die Kriegsmüdigkeit
zunehme. Wer aber nicht kriegsmüde sei, das seien die Regierenden, und auf
deren Zähigkeit komme es allein an, solange die Zensur bestünde. .
Bern, den 19. November 1916.
Ein englischer Politiker, der sich seit einigen Tagen hier aufhält, hat meinem
neutralen Kollegen X. gegenüber die Frage einer Verschärfung des I7-Bootkrieges
in interessanter Weise ungefähr folgendermaßen behandelt:
Der Engländer — wir fühlen uns in allen Fragen, die unsere Seegeltung
betreffen, als kompakte Masse — steht einer Verschärfung des deutschen Untersee¬
bootkrieges wesentlich anders gegenüber als einer etwaigen Ausdehnung seines
geographischen Aktionsradius. Soweit sich eine derartige Verschärfung insbesondere
gegen die englische Küste und gegen die Sicherheit des militärischen Transport¬
weges nach Frankreich richten sollte, würde England sie als unmittelbare Bedrohung
seines Lebensnervs betrachten und demgemäß die Waffen nicht eher niederlegen,
als nicht seine traditionelle maritime Überlegenheit auch auf dem hier in Betracht
kommenden technischen Sondergebiet wiederhergestellt ist. Die letzte Rede von
Asguith hat gezeigt, wie schlecht Winston Churchill bei Beginn des Krieges prophezeit
hatte, als er von einer unmittelbar bevorstehenden Zertrümmerung der deutschen
Flotte sprach. Schon diese Enttäuschung empfindet man in England schwer. Darüber
hinaus jedoch in ihrer insularen Sicherheit sich ernsthaft bedroht zu sehen, ertrüge
die Nation nicht. Es wäre jedoch verfehlt zu glauben, daß Großbritannien etwa den
Mut verlieren würde. Ich und mit mir meine politischen freunde sind für einen
anständigen Frieden, wir sind aber auch der Meinung, daß eine derartige Auf-
peitschung des englischen Nationalgefühls, wie eine Verschärfung des deutschen
Unterseebootkrieges in der eingangs erwähnten Richtung sie zur sicheren Folge haben
würde, jede Aussicht auf Frieden auf unbestimmte Dauer vereiteln würde. Dieser
unser Standpunkt ist lediglich psychologisch zu verstehen und in kurzen Worten
dahin zu erläutern, daß das Gefühl, Großbritannien könne von Deutschland auf
dein Meer bezwungen und in seinen insularen Privilegien ernsthaft bedroht werden,
auch den letzten Engländer auf den Plan rufen und selbst schon erschlaffte Kräfte
der Nation zu neuem Leben und zu neuem Widerstand aufrütteln würde.
Derselbe Gedankengang macht es begreiflich, daß die Luftangriffe, die die
Deutschen auf englisches Gebiet unternehmen, eher geeignet sind, die Bevölkerung
der in Betracht kommenden Provinzen mürbe zu machen. Der Luftkrieg ist eine
Erscheinung der allerneuesten Zeit, er ist ohne Traditionen, die Gegner stehen sich
unter gleichen Bedingungen gegenüber. Die Schädigungen, die England durch
die Raids von Zeppelinen und Fliegerabteilungen erleidet, erzeugen selbstverständlich
alles eher als Liebe zu Deutschland, aber sie rühren nicht an den englischen
Nationalstolz, der sich durch jede verunglückte englische Aktion zur See und ganz
besonders im Kanal in seinem innersten Kern verletzt fühlt. Die Bevölkerung, nicht
an letzter Stelle jene von London, leidet unter den Luftaktionen der Deutschen
schwer, betrachtet sie so ziemlich als die unangenehmste Beigabe des ihm ohnehin
unbequemen Kriegszustandes, sie beurteilt aber die Erfolge oder Mißerfolge des
Luftkrieges nicht vom point et'nonnöur, wie dies beispielsweise ganz England
einmütig gegenüber dem Angriff getan hat, den die Deutschen im Kanal gegen
Folkestone mit verblüffender Kühnheit unternommen haben.
Ich glaube meine und meiner politischen Freunde Ansicht dahin zusammen¬
fassen zu können, daß Deutschland durch eine etwaige weitere technische Verschärfung
seines Unterseebootkrieges in der Richtung gegen unsere Küsten und gegen die Sicher¬
heit des Kanals zwar vielleicht der Welt gegenüber auf einige Zeit zeigen kann, daß
sich das Verhältnis unserer maritimen Potenz verschoben hat. Ebenso sicher aber
ist, daß England auch kein Opfer scheuen und den Kampf nicht eher aufgeben wird,
als bis es der Welt gezeigt hat, daß diese Verschiebung im Verhältnis der See-
geltung der beiden Länder eine lediglich vorübergehende war.
Luzern, den 28. November 1916.
In Berlin scheint man für die nächste Zeit an eine an die Neutralen zu
richtende Kundgebung im Sinne des Friedens zu denken, da Exzellenz von Mühl¬
berg, wie ich vertraulich zu berichten mir erlauben möchte, um Vorlage des Ent¬
wurfs einer Art Manifest oder Note ersucht worden und gestern telegraphisch moniert
worden ist. Herr von Mühlberg hat das Elaborat, das sehr schön redigiert und
weitschauend angelegt ist, mit einer Verwahrung vorgelegt, die dahin ging, daß
er die Verwendung des Entwurfs im gegenwärtigen Moment für inopportun halte
und keine Verantwortung dafür übernehmen wolle,.
Bern, den 29. Dezember 1916.
(Telegramm.) Ich stehe unter dem Eindruck, daß ein positives Ergebnis
der derzeitigen Friedensaktionen äußerst unwahrscheinlich ist, und zwar auf
Grund eingehender Rücksprache mit Mons. Marchetti und meinem neutralen
Freunde S., die übereinstimmend sich dahin äußerten, daß die Stimmung in
Frankreich zwar zweifellos für Ermöglichung eines raschen und ehrenvollen
Friedens sei, daß die Regierung aber derartige Stimmungen nicht aufkommen
lassen werde. Die führenden Elemente der Friedensbewegung in Frankreich
stünden den Maßnahmen der Regierung wehrlos gegenüber, da sie durch die
theatralisch inszenierte, diplomatisch jedoch nicht vorbereitete Friedensaktion
Berlins und Wiens (vom 12. Dezember 1916) vollkommen überrascht worden
seien. Dasselbe trifft für die Friedensströmungen in den übrigen Entente¬
ländern zu. Was die maßgebenden Kreise in Paris betreffe, so seien sie über¬
zeugt, daß der Schritt der Zentralmächte durch Notwendigkeiten innerpolitischer
und wirtschaftlicher Natur diktiert worden sei. Man glaube insbesondere sicher
zu wissen, daß Österreich-Ungarn nicht in der Lage sei, durchzuhalten. Man
rechne ferner auf die im stillen sich vorbereitenden österreichisch-deutschen Zer¬
würfnisse, nicht zuletzt im Hinblick auf die nächste Umgebung Kaiser
Karls, wobei die Herzogin von Parma im Vordergrund stehe. Diese Argu¬
mente würden von der Mehrheit des Parlaments für durchschlagend erachtet.
Die pathetische Note des Beschlusses des französischen Senats habe das Ver¬
trauen der Verbündeten auf die Widerstandskraft Frankreichs neu belebt. Die
maßgebenden parlamentarischen Kreise von Paris hielten das Scheitern der
Aktion sowohl der Zentralmächte als der Neutralen für sicher, eine Wieder¬
aufnahme derartiger Demarchen vor militärischer Entscheidung 1917 nicht wohl
für möglich. Mein Freund hat sich hinsichtlich der Stellung Englands in ähnlichem
Sinne geäußert. Nach seinen Darlegungen fühle sich Lloyd George nicht hin¬
reichend sicher. Er könne ein Einlenken nicht riskieren, ehe England nicht zu der
von ihm in Aussicht gestellten äußersten Anstrengung ausgeholt habe. Die
englische Admiralität rechne zwar jetzt schon mit einer Verschärfung des deutschen
Unterseebootkrieges. Sie sei wegen seiner eventuellen Rückschläge auf den
Handel und die Lebensmittelzufuhr Englands, sowie auf die Sicherheit der
militärischen Transportwege nach Frankreich besorgt. England werde dieses
Risiko jedoch auf sich nehmen. Es werde auf dem Festlande um so größere An¬
strengungen machen und alle Kräfte einsetzen, um ein Gelingen der kombinierten
englisch-französischen Frühjahrsaktion 1917 zu sichern. Der letzte Erfolg Nivelles
vor Verdun habe in starkem Maße dazu beigetragen, die Zuversicht der Ver¬
bündeten auf den Erfolg der beabsichtigten Aktionen zu erhöhen.
er ist musikalisch? Die Beantwortung dieser Frage hat schon
viel Kopfzerbrechen verursacht, und Billroth, der berühmte
Arzt und zugleich verständnisvolle Freund von I. Brahms und
Ed. Hanslick, hat ihr eine besondere psycho-physiologische Studie
gewidmet (Wer ist musikalisch, nachgelassene Schrift von
Theodor Billroth, herausgeg. von Ed. Hanslick, Berlin, 189S). Freilich sind,
w interessante Einzelheiten er auch bietet, seine Ergebnisse wenig befriedigend
und nicht scharf umrissen, und daran hätte sich vermutlich nichts geändert, auch
wenn er nicht angesichts des nahen Todes gezwungen gewesen wäre, einen Teil
seiner Gedanken nur zu skizzieren. Immerhin kann uns die Schrift zum
Anknüpfungspunkt unserer Betrachtungen dienen.
Mit vollstem Recht hebt Billroth hervor, daß, da die Musik, wie sie sich
in unserem Kulturkreis ausgebildet hat, aus verschiedenartigen Elementen
besteht, erst das Zusammentreffen der Veranlagung für diese verschiedenen
Elemente den musikalischen Menschen ausmacht, daß also die musikalische Be¬
gabung mehrere Teilbegabungen in sich schließt. Wem z. B. der Sinn selbst
für die einfachsten Rhythmen fehlt — und es gibt, wie Billroth gezeigt hat,
mehr solcher stiefmütterlich bedachtenJndividuen, als man in derRegel glaubt —,
der ist unmusikalisch, auch wenn er Tonhöhenabstufungen noch so scharf unter¬
scheiden könnte. Andererseits ist aber auch der unmusikalisch, der Melodien
bloß an ihrem Rhythmus wiedererkennt, also wohl Sinn für Rhythmus, jedoch
durchaus kein Bewußtsein vom Unterschied zwischen hohen und tiefen Tönen
besitzt; auch für das Vorkommen dieser seltsamen Veranlagung führt unsere
Schrift Beispiele an. Zum Sinn für Rhythmus, d. h. in unserem Fall zu dem
Vermögen, Gehörseindrücke nach Maßgabe ihrer verschiedenen Dauer und
ihrer verschiedenen Betonungsverhältnisse einander über-, unter- und beizu¬
ordnen, und zu dem Vermögen der Tonhöhenunterscheidung muß sich noch die
Fähigkeit gesellen, die Töne auch nach ihren verschiedenen Verwandtschafts¬
graben aufeinander zu beziehen, die sich beim Zusammenklang als Konsonanzen
und Dissonanzen und beim sukzessiven Erklingen in ähnlicher, aber etwas modifi¬
zierter Weise zu erkennen geben. Nur wer die Töne als in allen diesen sich
kombinierenden Richtungen aufeinander bezogen zu erfassen vermag, wozu
als Elemente von sekundärer Bedeutung noch die verschiedenen Stärkegrade,
soweit sie nicht schon im Rhythmus enthalten sind, und die verschiedenen Klang¬
farben hinzutreten, nur der nimmt musikalisch-sinnvolle oder, wie man auch
mit Recht sagt, musikalisch-logische Ganze in sich auf, nur der ist musikalisch.
Es ist klar, daß die musikalische Veranlagung in den mannigfaltigsten
Abstufungen vorhanden sein kann, angefangen von der auf die Erfassung des
Einfachsten beschränkten Fähigkeit bis zum Verständnis zur Wiedergabe und
schließlich zur schöpferischen Hervorbringung der kompliziertesten Gebilde, und
auf allen diesen Stufen können dann wieder die Tonwerke, welche der einzelne
bevorzugt, also am besten versteht, hinsichtlich ihres künstlerischen Wertes den
verschiedensten Rang einnehmen. Hier sollen nun nicht die Abstufungen der
musikalischen Veranlagung näher betrachtet werden; vielmehr wollen wir nur
das wirkliche Musikverständnis gegen eine weit verbreitete Art eines nur schein¬
baren, nur vermeintlichen Verständnisses abgrenzen, gegen eine Täuschung,
welche zahlreiche und darunter hochgebildete Menschen veranlaßt, auch die
kompliziertesten Tonwerke anzuhören, eventuell sogar wiederzugeben, ohne
daß sie imstande sind, sie so zu genießen, wie es die Beschaffenheit der betreffenden
Werke und die Absicht des Komponisten fordert. Weil sie dabei dennoch einen
Genuß haben, verfallen sie der Täuschung, wahres Musikverständnis zu besitzen.
Aber es ist eben, wie gesagt und wie sich noch näher zeigen wird, nicht der rechte
Genuß, und von den Gefahren, die er in sich birgt, werden wir gleichfalls noch
hören.
Von einer Melodie sagen wir, sie sei heiter, lustig, übermütig oder ernst,
traurig, schwermütig usw. Niemand nimmt an solchen Redewendungen Anstoß,,
obgleich schon eine einfache Überlegung zeigt, daß sich diese Attribute streng¬
genommen nicht der Melodie als solcher, sondern nur einem Menschen, also
höchstens mir, der ich sie höre, beilegen lassen. Und doch müssen sie andererseits
in der Melodie liegen; denn ich kann beurteilen, daß eine Melodie z. B. heiter
ist, auch wenn ich mich selbst durchaus nicht in heiterer Stimmung befinde;
ja, infolge des Widerspruchs zwischen meiner Stimmung und jener der Melodie
kann ich mich durch dieselbe verletzt oder abgestoßen fühlen. Das Rätsel lost sich
dahin, daß die Heiterkeit für meinen Eindruck, für diesen aber zwingend, tat¬
sächlich in der Melodie liegt, in Wahrheit jedoch durch diese in mir erzeugt und
von mir aus, soweit es sich um meinen Eindruck handelt, auf sie übertragen
wird, so daß sie mir nun als Eigenschaft der Melodie entgegentritt. Auch die
Heiterkeit einer Melodie, die ich konstatiere, ohne mich selbst heiter zu fühlen,
kann doch nur durch die Wirkung der Melodie in mir selbst zustande gekommen
sein; sie hat dann eben nicht mein ganzes Wesen, sondern nur einen Teil des¬
selben ergriffen, der dem Ganzen, also meiner Grundstimmung, als etwas
Gesondertes gegenübersteht, überall demnach, wo für meinen zwingenden
Eindruck eine Melodie heiter, traurig usw. ist, kurz, wo sie Eigenschaften besitzt,
die sich im Grunde nur vom Menschen aussagen lassen, da habe ich diese Eigen¬
schaften, wie sich die moderne Psychologie ausdrückt, in die Melodie eingefühlt.
Offenbar ist nun Musikverständnis nur bei demjenigen vorhanden, dem
aus der Melodie solche Eigenschaften entgegenleuchten, dem sie etwas sagt,
für den sie einen Sinn hat, mit einem Wort, für den sie ein beseeltes Objekt ist.
Die höchste Stufe des Verständnisses ist erreicht, wenn das ganze Musikstück,
und zwar auch das komplizierteste, in dieserWeise, also als beseelte Einheit erfaßt
wird. Jedes Tonwerk verlangt einen bestimmten Grad des Verständnisses.
Wird ihm dieser nicht entgegengebracht, werden z. B. nur einzelne Melodien
als solche erfaßt, während uns die Verbindungsglieder nichts sagen und uns
also auch das Ganze als Ganzes nichts sagen kann, so wird es nicht in der rechten,
d. h. in der von ihm selbst intendierten Art genossen. Wie man die Widersprüche
im Charakter eines Menschen nur auf Grund eines genauen Verständnisses des
Betreffenden erkennt, so befähigt uns auch nur das wahre Musikverständnis,
also die Einfühlung, zu der Feststellung, ob ein Tonwerk nicht etwa Eigen¬
schaften besitzt, die seine Erfassung als beseelte Einheit erschweren oder unmöglich
machen, und ob das seelische Leben, das in ihm liegt, ein wertvolles, den gegen¬
über einem Kunstwerk zu erhebenden Forderungen angemessenes ist.
Es fragt sich nun, wie es die Musik vermag, Stimmungen in uns hervor¬
zurufen, welche in sie eingefühlt werden können. Sie vermag es mittelst ihrer
eingangs aufgezählten Elemente. Diese alle erwecken in uns einzeln und erst
recht in ihren unendlich mannigfaltigen gegenseitigen Steigerungen, Ergän¬
zungen und Durchkreuzungen bestimmt geartete seelische Betätigungen, die zu
Stimmungen, d. h. zu mehr oder weniger umfassenden Seelenzuständen und,
sofern die durch das Musikstück ausgelöste Betätigung trotz aller Mannigfaltigkeit
und allen Wechsels in ihrer Gesamtheit eine einheitliche ist, zu einem einheit¬
lichen Gesamtseelenzustand, eben zu der Grundstimmung des Musikstückes
führen. Jeder Musikalische kennt aus Erfahrung den Unterschied zwischen der
Wirkung eines Adagio und eines Presto, eines einschläfernden und eines fort¬
reißenden Rhythmus, eines tiefen und eines hohen Tones, eines Fortissimo und
eines Pianissimo, eines Flöten- und eines Trompetenklanges, einer sinnlosen
Tonfolge und des Bezogenseins der Töne auf einen Mittelpunkt, in der Regel
auf den Grundton der Tonart, eines weiten Intervalles, z. B. eines Dezimen¬
sprunges, und des Fortschreitens in Halb tonstufen, einer Konsonanz und einer
Dissonanz, und zwar dies nicht nur im Zusammenklang, sondern auch in, der
Sukzession, z. B. eines Schrittes in die große Terz und eines solchen in die
große Septime. Das nähere Wesen dieser Wirkungen und die seelischen Gesetz¬
mäßigkeiten, auf denen sie beruhen, sind zum Teil aufgehellt; aber sehr vieles
bleibt noch zu tun übrig. Hier genügt es uns, die stimmungerzeugende Macht
der Musik wenigstens andeutungsweise begreiflich gemacht zu haben.
Die durch das Tonwerk in uns erzeugten Stimmungen werden in dasselbe
eingefühlt, gehen für unseren Eindruck von ihm aus, soweit wir die Töne nach
ihren rhythmischen, melodischen, harmonischen, dynamischen und klang¬
charakteristischen Beziehungen vermöge unserer eigenen zusammenfassenden
Tätigkeit zu Einheiten und diese endlich zur obersten Einheit des ganzen Werkes
zusammenschließen; denn, wie Th. Lipps, der gründlichste Erforscher des
Phänomens der Einfühlung, gezeigt hat, kommt dasselbe nur dann zustande,
wenn wir zwar einerseits durch das Objekt bestimmt werden, wir also z. B.
eine bestimmte Tonfolge hören, welche, falls sie für uns überhaupt zur Melodie
wird, nur diese bestimmte und keine andere Melodie werden kann, wenn wir
aber andererseits gleichzeitig das Objekt durch unsere zusammenfassende Tätigkeit
erst schaffen, indem z. B. für uns keine Melodie vorhanden ist, solange wir die
Töne nicht zusammenschließen. Tun wir dies nicht, sei es, weil es uns objektiv
unmöglich gemacht wird, indem etwa die Töne einander zu langsam oder zu
rasch folgen, sei es, weil es uns subjektiv unmöglich ist, indem wir z. B. zu er¬
müdet sind, um, wie man sagt, der Musik zu folgen, d. h. um die Tätigkeit des
Zusammenfassens zu vollziehen, während wir doch die Töne mit dem Ohr auf¬
nehmen, so bleibt die Einfühlung und damit das wirkliche Verständnis aus.
Das Ausbleiben der Einfühlung nicht auf Grundlage einer zeitweiligen
subjektiven Störung, sondern einer Veranlagung oder, besser gesagt, eines
Mangels in der musikalischen Begabung ist es nun, worauf das nur scheinbare
Musikverständnis beruht, von dem oben die Rede war, und wodurch eine ganze
Klasse von Hörern, ein Typus der Musikaufnehmenden, charakterisiert wird.
Während sich der wirklich Unmusikalische gegen die Wahrnehmungen
auf dem Gebiet, auf das sich seine Unfähigkeit erstreckt, entweder gleichgültig
verhält oder mit Unlust auf sie reagiert, übt die Musik auf unseren Typus starke,
lustvolle Wirkungen aus; aber die Zusammenfassung, die Verdinglichung,
die Objektivierung, wie man mit Recht sagen kann, fehlt: Der Wechsel der Be¬
tonungsgrade und der Tondauer führt nicht zur Bildung von Gruppen mit
Über- und Unterordnung ihrer Elemente, also auch nicht zu Abschnitten,
Perioden usw.; die Töne werden nicht auf einen Mittelpunkt bezogen. Die
Erfassung einer Melodie, eines musikalisch-logischen Fortgangs ist also sowohl
von rhythmischer als auch von tonaler Seite her ausgeschlossen und damit natür¬
lich auch die Erfassung einer thematischen oder motivischen Weiterfühung,
kurz, einer Entwicklung. Dem mit wirklichem Musikverständnis Begabten ist
diese Art des Musikaufnehmens in der Regel nicht durchaus fremd. Wer nicht
eine ausnahmsweise hohe Auffassungsfähigkeit besitzt, wird beim erstmaligen
Anhören eines komplizierten Werkes, besonders wenn es in einem ihm un¬
gewohnten oder unbekannten Stil gehalten ist, häufig Nur in einzelnen Stellen,
etwa in den Hauptgedanken, sinnvolle Einheiten erblicken; alles übrige wird
ihm mehr oder weniger wie ein Tonchaos der geschilderten Art erscheinen. Er
ist sich dann aber wohl bewußt, das Werk nur sehr teilweise verstanden zu haben,
und wird sich bemühen, durch nähere Beschäftigung mit demselben zu vollem
Verständnis zu gelangen. Anderseits treten bei dem, der nur über das scheinbare
Verständnis verfügt und der, solange er sich selbst überlassen bleibt, keine Ahnung
davon hat, daß es noch ein andersartiges Verstehen gibt, die Wirkungen der
Musik nicht immer in den oben dargestellten Extremen auf. Viele werden
Melodien von verhältnismäßiger Einfachheit und von der Art, die ihnen von
Kindheit an geläufig ist, also etwa die Volksmusik ihres Landes, als Melodien
erfassen und genießen, während dieses wirkliche Verstehen verwickelteren und
größer angelegten Musikstücken gegenüber entweder völlig versagt oder sich auf
einzelne Stellen beschränkt, so daß das Ganze oder doch ein beträchtlicher Teil-
desselben nur scheinbar verstanden wird.
Die Stimmungen, welche die Musik in dem Hörer der in Rede stehenden
Klasse hervorruft, können selbstverständlich, auch abgesehen von den von
Individuum zu Individuum obwaltenden Unterschieden, mit denjenigen des
wirklich musikalischen, also auch mit denjenigen, welche im Komponisten lebendig
waren, nicht identisch sein; denn jede Gruppierung, jede Gliederung, jedes
Jnbeziehungsetzen ergibt neue Stimmungsnuancen; in den Stimmungen
unseres Hörers muß also größere Unbestimmtheit, größere Verschwommenheit
herrschen.
Noch wichtiger ist es vielleicht, daß sie für seinen Eindruck in der Regel
gleichsam in der Luft stehen, nicht an die Musik, also überhaupt nicht an ein
Objekt als ihren Ausgangspunkt und Träger gebunden sind. Sie sind ihm
gegeben, ohne daß ihm, immer für seinen Eindruck, für sein unmittelbares
Erleben, nicht etwa für sein Wissen, ihr Ursprungsort mitgegeben wäre. Je
energischer der wirklich Musikalische seine Aufmerksamkeit auf die Musik kon¬
zentriert, um so deutlicher offenbart sich ihm ihr seelischer Gehalt. Umgekehrt
muß für den nur mit Scheinverständnis Begabten die Musik um so sinnloser,
leerer werden, je mehr er ihr seine Aufmerksamkeit zuwendet; denn die Stim¬
mungen liegen ja für ihn nicht in ihr, sondern werden nur durch sie in ihm erzeugt.
Er wird sie daher um so intensiver erleben und genießen, je mehr er sich ihnen,
d. h. seinem eigenen inneren Zustand während des Musikhörens.zuwendet.
Jetzt stehen sie für ihn nicht mehr in der Luft, sondern sie sind in ihm und werden
als seine Zustände genossen. Versucht dagegen der wirklich Musikverständige
einmal eine solche Hinwendung zu seinen Stimmungen, so bemerkt er deutlich
eine unangenehme Ablenkung vom Wesentlichen, ein Heraustreten aus dem
ästhetischen Genuß, d. h. aus dem völligen Aufgehen in dem Leben des Kunst¬
werkes, ein Zurückgeworfenwerden auf das eigene Ich mit allen seinen Wirk¬
lichkeitsbeziehungen.
Nichtsdestoweniger schätzt auch er das Verhalten und Genießen seines
Antipoden, aber nicht dem musikalischen Kunstwerk, sondern anderen klanglichen
Erscheinungen gegenüber. Das Geläute unserer Kirchenglocken z. B. ist seiner
Natur nach nicht Musik und soll es nicht sein, sondern es zielt darauf ab, uns in
gewisse Stimmungen zu versetzen, die aber nicht eingefühlt werden; denn seine
rhythmische und klangliche Unbestimmtheit macht eine Zusammenfassung,
also die Einfühlung nahezu unmöglich. Je mehr wir unsere Aufmerksamkeit
dem Geläute selbst zuwenden, um so sinnärmer erscheint es uns; ja, es kann
uns geradezu mißtönend oder lächerlich vorkommen. Beachten wir dagegen
in erster Linie die durch dasselbe in uns hervorgerufenen Stimmungen, so
fühlen wir uns ausgeweidet, gehoben, beglückt. Wer dieser Genuß ist von
anderer Art als der ästhetische, der Kunstgenuß; denn wir genießen hier nicht
den im Objekt liegenden, sondern den in uns liegenden Gehalt. Wie auf uns
das Glockengeläute, so wirken auf den Süditaliener und den Schotten die
wenigen, unendlich oft wiederholten Phrasen der Sackpfeife oder auf manche
Orientalen ihre kurzen, oft stundenlang hintereinander gesungenen Melodien.
Für den, welcher beim Musikhören seine Stimmungen als seine eigenen
genießt, müssen die aus ihnen auftauchenden Vorstellungen, Phantasiebilder
und Gedankengänge besondere Bedeutung gewinnen. Mit dem Tonwerk stehen
sie nur insofern in Zusammenhang, als sie den durch dasselbe erzeugten Stim¬
mungen, aus welchen sie ja hervorgehen, gemäß sind. Aber innerhalb dieser
Grenzen ist die größte Mannigfaltigkeit möglich. Da sie also nach ihrer Zahl,
nach der Intensität ihres Auftretens und nach ihrer näheren Beschaffenheit
nicht vom Musikstück selbst, sondern nur von der zufälligen Veranlagung und
den zufälligen Erfahrungen des Hörers bestimmt werden, sind sie doch nur
subjektive, für die Wirkung des Kunstwerkes belanglose Erscheinungen. Je
mehr man sich in die Musik selbst vertieft, um so klarer wird man sich dieser
Belanglosigkeit bewußt, falls überhaupt noch subjektive Phantasmen auftauchen;
denn sie werden naturgemäß um so seltener, je ausschließlicher man von dem
Tonwerk und damit von seinem durch es selbst bestimmten Gehalt erfüllt ist ^
Dem nur scheinbar Verstehenden dagegen müssen die subjektiven Phantasmen
als etwas Wesentliches, nämlich als etwas seinen Stimmungen Zugehörendes
erscheinen, sind sie ihm doch in der gleichen, der Objektivität ermangelnden Weise
gegeben wie diese selbst; daher die Vorliebe eines großen Teiles des Publikums
für sogenannte poetische oder philosophische Ausdeutung reiner Instrumental¬
musik und für solche Jnstrumentalwerke, welche nach der Behauptung ihrer
Autoren poetische oder philosophische Gedanken aussprechen, Naturvorgänge
malen usw. In solchen Fällen werden die Vorstellungen, Bilder und Gedanken
zwar mehr oder weniger fest bestimmt, aber nicht durch das Kunstwerk selbst,
sondern von außen her; sie hören also nicht auf, subjektive, willkürliche und
daher belanglose Zutaten zu sein.
So liegt denn in dem scheinbaren Musikverständnis die Gefahr, daß es
kunstwidrigen Richtungen leicht zu zeitweiliger Herrschaft verhilft. Aber auch
für den Hörer selbst schließt es Gefahren in sich. Mit der zusammenfassenden
Tätigkeit, welche die musikalischen Einheiten erst schafft und zugleich beseelt,
kommt gerade die aktive Seite des Musikaufnehmens in Wegfall, was übrig
bleibt, ist ein bloßes Übersichergehenlassen der Tonfluten. Diese Passivität,
dieses Aufnehmen ohne eigene Mitarbeit, noch dazu verbunden mit der uns
bereits bekannten Unbestimmtheit der erzeugten Stimmungen, ist, wenn nicht
ganz vorübergehend genossen, entschieden schädlich und führt zu seelischer Ver¬
weichlichung.
Dazu kommt noch etwas anderes: Da die Stimmungen nebst den aus
ihnen erwachsenden - Phantasmen nicht an Objekten haften, vielmehr um so
deutlicher werden, je mehr man sich ihnen, d. h. den eigenen Gemütszuständen
zuwendet, und da diese, wenn sie nicht in einem Objekt zu liegen scheinen, einen
Teil der Wirklichkeit bilden, so ist man naturgemäß geneigt, sie in Wirklichkeits¬
zusammenhänge hineinzustellen, aus ihnen heraus zu wünschen, ja zu wollen
und zu handeln, während sie in Wahrheit doch nicht als die wesentliche Be¬
schaffenheit des betreffenden Menschen, sondern nur als eine durch ein Musik¬
stück erzeugte zufällige Beschaffenheit gelten können. Denken wir beispielsweise
an eine sinnliche, wollüstige Musik. Für den mit wahrem Verständnis Aus¬
gerüsteten liegt dieser Affekt in ihr selbst, und er wird daher kaum in die Lage
kommen, ihn zur Wirklichkeit, etwa zu seinen eigenen Wünschen, in Beziehung
zu setzen. Dagegen findet der Hörer des anderen Typus den Affekt in sich selbst
vor, und auftauchende Bilder und Gedanken werden ihn verstärken. Während
der wahrhaft Verstehende eine sehnsuchtsvolle, süß schmachtende Musik hört,
wird in jenem das Sehnen und Schmachten zu seinem eigenen Zustand. Wünsche
werden in ihm rege, und vielleicht kommt er dazu, unter der unmittelbaren
oder dauernden Wirkung solcher Musik nach dem Prinzip zu handeln: „Erlaubt
ist, was gefällt," während ihm eine solche Handlungsweise nach seinem innersten,
eigentlichen Wollen ferngelegen hatte. Auf diese Art der Gefahr hat mit größter
Entschiedenheit Leo Tolstoj hingewiesen, vor allem in der „Kreutzersonate".
Nur wußte er nicht, daß er dem nur mit scheinbarem Musikverständnis begabten
Typus angehörte, und machte daher die Musik als solche für die verderblichen
Wirkungen verantwortlich, die er zweifellos an sich selbst erlebt hatte. Für seinen
Typus hat er nur zu sehr Recht.
Der, welchem ein geringes Matz des wirklichen Musikverständnisses ver¬
liehen ist, vermag dasselbe durch zweckentsprechende Schulung seiner Auffassungs¬
fähigkeit wesentlich zu erhöhen. Aber jeder, der sich mit Musik beschäftigt, sollte
um semel- und um anderer willen ernstlich prüfen, wie es um diese seine Auf-
kassungsfähigkeit bestellt ist, und von allerMusik, die ihm nicht wie eine Persönlich¬
feit gegenübertritt, die nicht als ein beseeltes Wesen in verständlicher Sprache zu
ihm redet, sollte er sich hörend und ausübend fernhalten.
Bon Spa bis Warschau. Über die Konferenz von Spa sind Ströme von
Tinte verschrieben worden. Gebräche hat sie in der Hauptsache: der Wiedergut¬
machung und der Festsetzung der deutschen Entschädigungssumme, nichts,
in der Entwaffnungsfrage ein Diktat, in der Kohlenfrage neue Stimulationen,
die man, da sie eine Art Kompromiß darstellen, weder in Deutschland noch in
Frankreich ohne schwerwiegende Bedenken aufgenommen hat. Es ist mir jedoch
unverständlich, wie man deutscherseits mehr erwarten konnte. Es rächt sich jetzt
eben, daß man den Versailler Vertrag unterschrieben hat. Auch die verhärtetsten
Ideologen müssen anfangen einzusehen, daß Unterschriften, wenn sie überhaupt
irgendeinen Sinn haben sollen, rechtsverbindlich sind, auch wenn! sie unter
einem Protest abgegeben sind, dessen Wirksamkeit sogleich durch tatsächliche
Leistung der Unterschrift wieder aufgehoben wird. Eine Unterschrift, bei der
man gleichzeitig betont, daß sie eigentlich nicht gilt oder nicht gelten kann, ist
eine Sinnlosigkeit. Das deutsche Volk, das als Gesamtheit damals noch nicht
erkannt hatte, daß man mit dergleichen Sinnlosigkeiten keine' Politik machen
kann, ohne sich in die schwersten Ungelegenheiten zu verstricken, muß eben jetzt
die Folgen dieser Unreife tragen. Politische Fehler sind nicht wie Fehler in der
Schule, wo man ein Examen zweimal machen kann, politische Fehler binden
die Zukunft, und das deutsche Volk hat es eben heute und noch auf Generationen
hinaus zu büßen, daß es in jenen Junitagen eine Haltung einzunehmen für
gut befand, welche die von ihm gewählte Regierung zwang, aus (wahrscheinlich
berechtigter) Scheu vor Schlimmerem: Zerfall der deutschen Einheit und gänz¬
licher Anarchie im Inneren, den Vertrag wider besseres Wissen zu unterschreiben,
Man muß sich in Deutschland endlich einmal darüber klar werden, daß politische
Handlungen nicht einfach dadurch aus der Welt geschafft werden, daß man
beteuert: so haben wir das ja nicht gemeint.
Die Lage ist nun die, daß dieser Vertrag sich bei der Ausführung als un¬
erfüllbar erweist. Aber unerfüllbar ist ein dehnbarer Begriff. Deutschland
behauptet: die Ausführung bedeutet den Untergang. Die Franzosen: dann
geht unter. Die Deutschen: Seht ihr nicht ein, daß ihr dann mit untergeht?
Die Franzosen: Nein, das sehen wir nicht ein. Fangt nur erst einmal an, das
weitere wird sich zeigen. An diesem Punkt greift England, das die Vorteile
aus Krieg, Waffenstillstands- und Friedensvertrag bereits zum größten Teil
eingeheimst hat und, da es innere und äußere Ruhe braucht, durch das Hin und
Her übe? den Rhein unruhig zu werden beginnt, ein und lädt die Streitenden
zu einer Besprechung.
Diese Besprechung war von Anfang an belastet: einmal durch schwere
Fehler der Methode, sodann durch die von feiten der Regierung geflissentlich
genährte Annahme, daß zwischen den Gegnern Parität bestehe. Es ist ein Wider¬
sinn, von Parität zu sprechen, wenn einer der Kontrahenten einseitig Macht¬
mittel zur Durchsetzung seiner Forderungen zur Verfügung hat. In solchem
Falle kann es sich nie um gütlichen Vergleich in grundsätzlichen Fragen, sondern
höchstens um eine Einigung über die Modalitäten handeln. Es war also nicht nur
ungeschickt, von einer bevorstehenden „Revision des Friedensvertrages" zu
sprechen — schon das bloße Wort macht die Franzosen, deren ganzes Zukunfts¬
programm auf der Erfüllung des Vertrages beruht, nervös, und es sind wahr¬
lich nicht unsere Freunde, die im Ausland dies Wort ausgesprochen haben —
es war auch töricht, dergleichen zu erwarten. Schwerer wiegen jedoch die Fehler
der Methode. Der kleinste Gesangverein setzt, ehe er eine Versammlung ein¬
beruft, eine Tagesordnung fest. In Spa, wo die mannigfachsten und schwierigsten
Fragen zur Diskussion gestellt wurden, ist das nicht geschehen. Ungeheure
Komplexe sind behandelt worden wie in der alten Logikschule, nach 1, 2, 3 hat
man Dinge in Ausschüssen und Sondersitzungen behandelt, die organisch zu¬
sammengehören. Am bedenklichsten aber ist der quasi öffentliche Charakter,
den man den Verhandlungen zu geben für gut befunden hat. Auch den von
keinerlei Praxis berührten Idealisten wird es hoffentlich diesmal klar geworden
sein, daß die Forderung nach Abschaffung der Geheimdiplomatie Unsinn ist
und nicht nur in ihrer Ausführung den Gang von politischen Verhandlungen
erschwert, sondern auch in sich illusorisch ist. Einen Punkt, den wichtigsten, hat
bereits Poincars berührt, der im Hinblick auf die Konferenz in der „Ksvuo
ass Äöux moriäes" vom 13. Juli schrieb: „Die alte, heute so viel geschmähte
Diplomatie hatte immerhin ihre Vorzüge und Verdienste. Sie verhinderte
z. B., daß Politiker, die außer, wie billig, ihrem Renommee, auch noch den ihnen
von seiten ihrer parlamentarischen Rivalen erwachsenden Schwierigkeiten
Rechnung zu tragen genötigt sind, miteinander in direkte Berührung kamen."
Es ist eben nicht möglich zu verhandeln, wenn überall von allen Leuten, die
anderer Meinung sind, maßgeblich oder irgendwie beeinflussend, dazwischen
geschrien werden kann. Nicht einmal eine Skatpartie kann unter solchen Um¬
ständen zu Ende gespielt werden. Alles Regieren, jedes verantwortliche Führen
von Verhandlungen beruht auf einem Vertrauensverhältnis zwischen den
Regierenden, Verhandelnden und ihrem Volke, und wenn man kein Vertrauen
in ihre Fähigkeiten haben will, soll man sie eben nicht schicken. Schickt man sie
aber, sosoll man auch konsequent sein und ihnen das Vertrauen so lange bewahren,
bissie wiederkommen, die Ergebnisse vorlegen und sich verantworten können. Oder
hat es einen Sinn, daß Leute, die vor der Tür warten dürfen, oder andere, die
weit weg Telegramme der ersteren lesen, ohne Kenntnis der Gesamtlage und der
der Konferenz vorausgegangenen Verhandlungen fich mit Kritik und guten Rat¬
schlägen, aber ohne jede Verantwortung in die Sache einmischen? Das Publikum
möge gefälligst seinen Sensationsnachrichtenhunger, bis Ergebnisse vorliegen,
mit Mordprozessen befriedigen, um fo mehr als die ganze sogenannte Öffentlich¬
keit der Verhandlungen nichts als Spiegelfechterei ist. Meint irgend jemand, er
bekäme anderes als zurechtgemachte Nachrichten zu hören? Angenommen,
es wäre einem deutschen Vertreter gelungen, einen wichtigen Erfolg davonzu¬
tragen, meint jemand, er sei so idiotisch, dies in alle Welt hinauszuposaunen?
Etwa: ich habe Millerand heute das und das abgelistet; damit sogleich in Paris
Anstalten getroffen werden, Millerand zu stürzen und er schon am nächsten
Tage umschwenkt? Oder: es ist mir heute gelungen, Lloyd George hineinzu- '
legen; damit Lloyd George sich das nächste Mal besser vorsieht? StinnesRede,
die trotz des Anfangs keine Rede, sondern eine Vorlesung war, und die kein
Journalist wirklich gehört hat, soll einen guten Eindruck gemacht haben, und
wird von den einen gelobt, von den anderen getadelt. Aber wer von uns, die
nicht dabei waren, kann sich nur auf Grund der zu politischen Zwecken zurecht¬
gemachten Berichte ein Bild von der Wirkung machen, wer diese Rede kritisieren,
ohne mindestens zu wissen, was Stinnes in Paris, was er mit Millerand in Brüssel
gesprochen hat? .Man hat dem Minister Simons vorgeworfen, Stinnes des¬
avouiert zu habend Wer kann beurteilen, ob ein anscheinendes Desavouement
nicht notwendig war, um gewisse Empfindlichkeiten zu beruhigen? Huc soll
einen Erfolg errungen haben, wer kann wissen, ob Lloyd Georges Freundlichkeit
nicht einen Versuch darstellte, diesen Vertreter des Proletariats, der in Ver¬
bindung mit den von Lloyd George gefurchtsten englischen Arbeitern steht,
auszuhorchen oder irgendwie für seine Ziele zu gewinnen? Man hat Fehrenbach
wegen seines Weimerns angegriffen, aber es gibt Leute, die meinen, die religiöse
Note habe auf die Engländer Eindruck machen müssen. Auch ich traue Fehrenbach
keine Heldentaten zu und setze in seine Rednergabe das größte Mißtrauen,
aber ich hätte mich gehütet, ihm, nachdem er einmal durch den Willen des Volkes
ausgesandt worden war, in einer so schwierigen Situation in den Rücken zu
fallen.
Ob also die deutsche Abordnung in Spa klug oder unklug, energisch oder
schlapp (Energie kann auch ohne Auftrumpfen bewiesen werden) weggegangen
ist, ob sie mehr hätte erreichen können, muß, solange nicht alle Vorgänge, so¬
lange nicht auch die vorhergegangenen Wirtschaftsverhandlungen in Paris
und andere Vorgänge, genau bekannt sind, dahingestellt bleiben. Von vorn¬
herein war sie in einer schwierigen Lage. Zunächst ist es auch für die intelligenteste
und zäheste Arbeitskraft unmöglich, sich in der kurzen Spanne Zeit, die zwischen
Kabinettsbildung und Konferenz lag, mit Vorgängen bekanntzumachen, die
überaus kompliziert sind, auch für den Kenntnisreichsten in vielen Punkten der
Rücksprache bedürfen, und die in hohem Maße grade die Beherrschung von
Einzelheiten erfordern. Sodann sollte sie Vorschlüge machen, die der Natur
der Sache nach, vor Erledigung der Abstimmung, namentlich in Oberschlesien,
vor Klarstellung der Ernährungs- und Rohstoffwirtschaft, und bevor man nicht
weiß, welche inner- und außerpolitischen Folgen der russische Vormarsch haben
wird, gar nicht gemacht werden können. Eine summarische Behandlung der
großen Fragen, wie die Entente sie verlangte, ist eben gar nicht möglich. Es er¬
wies sich alsbald, daß sich an der politischen Situation seit Versailles im Grunde
nicht viel geändert hat. Damals hieß es Diktat und Annahme ohne Verhand¬
lungen, gleichviel ob möglich oder nicht. Heute heißt es: Vertragserfüllung ist
selbstverständlich, äußert euch über das Wie. Füllt das Wie nicht so aus, wie wir
wünschen, so tritt Zwang ein. Es war vorauszusehen, daß die Ergebnisse so
arrangiert werdeu mußten, daß Millerand zu Hause sagen konnte: am Friedens-
vsrtrag ist nichts geändert worden, zur Erfüllung sind die Deutschen angehalten
worden und das Damoklesschwert der Besetzung des Ruhrgebiets schwebt über
ihnen, und Lloyd George, den u. a. auch der Ausfall der deutschen Wahlen
stutzig gemacht hat: England hat sich in allen Dingen, besonders auch in
der Entwafsnungsfrage, als loyaler Bundesgenosse erwiesen und Vorsorge
getroffen, daß die Deutschen sich nicht zu schnell wieder aufrichten. War dies
erreicht, so konnte man es den deutschen Staatsmännern getrost überlassen,
aus dem Übrigen sich nach Belieben auch ihren Teil diplomatischer Erfolge
auszulösen.
Die sind, ohne Vorwurf sei's gesagt, gering genug. Ob die Regelung
der Entwaffnungsfrage möglich ist, muß dahingestellt bleiben. Es hat keinen
Zweck, über den Mangel an Einsicht bei der Entente zu lamentieren, dieser
Mangel besteht und man muß mit ihm rechnen. Die einzige Möglichkeit, daß
Ruhe im Lande bleibt, besteht in der höchstwahrscheinlich ungerechtfertigten
Hoffnung, daß die Extremisten einsehen, daß jede Aktion augenblicklich Gegen¬
aktion, d. h. den Bürgerkrieg herbeiführt, der uns politisch weit mehr schwächen
dürfte als irgendeine Entwaffnung oder Abrüstung. Wenn jetzt öffentlich zur
Einbehaltung von Waffen aufgefordert wird, ist das, so berechtigt die Gesichts¬
punkte im einzelnen sein mögen, ein Unfug, der die außenpolitische Stellung
der Regierung ebenso erschwert wie die Denunziationen der Unabhängigen, aber
auch die äußerste Linke mag es sich gesagt sein lassen, daß selbst wenn sie am Ruder
wäre, Machtmittel der Entente gegen sie angewandt werden würden, bis sie sich
zur Erfüllung des Vertrages bequemte.
Was die Kohlenfrage betrifft, muß man hoffen, daß nicht mehr unter¬
schrieben wurde als erfüllbar ist, sonst haben wir in spätestens sechs Monaten
die gleiche Situation. Immerhin ist leichter gesagt: besetzt das Ruhrgebiet, als
getan, es ist nicht gut abzusehen, was eine feindliche Besetzung des Ruhrgebiets
uns für Bordelle schaffen sollte. Sie wäre der Entente unangenehm, sie würde
ihr vielleicht (vielleicht, denn rein logisch ist nicht abzusehen, weshalb sozialistische
Arbeiter, die in der Theorie die Berechtigung von Nationalismus und Rassen¬
stolz leugnen, für hohe Löhne oder gegen Einräumung politischer Vorteile nicht
auch unter Bewachung von Schwarzen für die Entente arbeiten) kein Mehr
an Kohlen bringen, aber für Deutschland wären die unmittelbaren Nachteile
doch unzweifelhaft sehr viel größer, und die Zukunft ist in solchen Dingen dunkel.
Wen es tröstet, der mag mit dem „Vorwärts" an das „Rechtsgefühl der Welt, an
das Gewissen Europas" appellieren, politisch Denkende werden sich darauf
gefaßt machen müssen, daß das Gezänk um den Friedensvertrag weitergeht.
Im Osten ist die polnische Front zerbrochen und sind die preußischen
Abstimmungsgebiete für Deutschland gewonnen. Die Polen behaupten aller¬
dings, die Abstimmung sei ungültig, nicht nur Blätter wie der „Dziennik Byd-
goski" sprechen von Abstimmungskomödie, nicht nur das polnische Pressebureau
in Paris, das fortwährend Nachrichten von deutschen militärischen Maßnahmen
in Ostpreußen und Litauen lanziert, behauptet, die polnische Regierung habe
die Abstimmung „ignoriert" und die Polen hätten nicht abgestimmt, auch der
Pariser Vertreter der Warschauer Regierung, Graf Zamoyski, macht (in einem
Interview des „Temps" vom 8.) öffentlich gegen Deutschland scharf und be¬
müht sich nach Kräften, die Atmosphäre von Spa zu vergiften. „Ohnmächtig",
so heißt es beispielsweise, „den Versailler Vertrag im Westen zu erschüttern,
müht sich Deutschland, die Alliierten von der Notwendigkeit, seine wirtschaftliche
Kraft auf Kosten Polens wieder aufzurichten, zu überzeugen." Vielleicht —
jedenfalls muß das ein deutsches Ziel sein — werden die Abstimmungsergebnisse
die Entente viel mehr von der Notwendigkeit überzeugen, jetzt auch über die
bereits unter Vergewaltigung von außen abgetretenen Gebiete abstimmen zu
lassen, um so mehr als eine gerechte Behandlung der Deutschen in Polen nach
den bisher gemachten Erfahrungen doch nicht zu erwarten ist. Jedenfalls ist
Deutschland nicht gesonnen, sich, noch dazu von einem Staat, der soeben, in
Sachen der russisch-polnischen Friedensverhandlungen, seine Souveränität
in die Hände der Entente gelegt hat, vor aller Welt Schmähungen sagen zu
lassen. Die polnische Negierung, die bisher nur verstanden hat, ihren Staat
zu allen Nachbarstaaten in die schärfsten Gegensätze zu bringen, die somit als ein
Störenfried des osteuropäischen Friedens angesprochen werden muß, hat es
wahrlich nicht nötig, durch weitere Provokationen neuen Völkerhah herauf¬
zubeschwören. Gerade der Verlauf des Krieges mit Sowjetrußland könnte ihr
beweisen, daß sie nicht antibolschewistische Barone oder Generäle, sondern die
gesund empfindenden Kräfte des Volkes zu fürchten hat, das im deutschen Osten
politische Probleme am eigenen Leibe zu verspüren gewohnt und noch nicht in
der Ideologie proletarischen Großstadtbreis versunken ist.
Die inzwischen erfolgte Neutralitätserklärung Deutschlands wird man
billigen müssen und man darf wohl die Erwartung aussprechen, daß die in
Auslandzeitungen (z.B. „Journal" vom 29.) immer wieder auftauchenden Nach¬
richten über Verhandlungen gewisser deutscher Persönlichkeiten mit Engländern
zwecks Niederwerfung des Bolschewismus einmal energisch dementiert oder,
falls das nicht möglich, einstweilen eingestellt werden. Ein aktiv und im Ein¬
vernehmen mit der Entente gegen Sowjetruhland geführter Krieg könnte uns
teuer zu stehen kommen und würde uns im Westen doch keinen Gewinn ein¬
bringen. Über Polen aber könnte sich Deutschland, wenn es nötig werden
s
Man spiegle sich nicht vor, dies deutsche Volk, das offenbar nicht imstande
ist, sich selbst durch seine Gewählten vernünftig zu regieren, werde noch recht¬
zeitig, wie politisch begabte Völker, sich der Notwendigkeit, einer Diktatur
fügen. Nein, die Massen sind einerseits zu blind und durch die Parteipresse von
der Erkenntnis der Wirklichkeit zu weit entfernt, andererseits zu unbotmäßig und
verschroben geworden, um einen Deutschen als Diktator zu ertragen. Eine starke
Monarchie mit einem starken Heer und Beamtentum, mit den Überlieferungen von
Roßbach bis sedem, konnte dies Volk im Zaum halten. Heute könnte es nur ...
der Engländer oder Franzose. Aber wohlweise lassen diese uns einen Schein und
Nest von Freiheit. Sie wissen, wie das viviäe se iiupera für sie arbeitet. Sie
kennen die Psychologie der Vasallenstaaten und Tributärvölker und schicken uns,
mit denen die Welt nicht mehr auf gleichem Fuß verkehrt, als Botschafter Sach¬
verständige für Eingebvrenenbehandlung. Auch wir behalten unseren Bey, unseren
Khedive in Gestalt des „freien" Parlamentarismus. Einen Deutschen aber, der
Deutschland wieder zusammenreißen und ordentlich machen könnte, würden General¬
streik und Verleumdung zu Hause noch früher erledigen, als das Katzenhaargericht
der englischen Meuchelmörder einen so gefährlichen Mann ereilen könnte.
Müde und matt fragen unsere pazifistischen Idealisten: wo bleibt denn der '
Völkerbund?
Bei den welken Erinnerungsblättern deutscher Toren aus dem November 1918
ruht er.
Wo bleibt das Recht? flüstert es noch hier und dort.
Es bleibt, wo es immer gewesen ist: nämlich außerhalb der Politik, in der
die Macht das Wort führt.
Warum ist Wilson, warum Amerika so verstummt?
Weil ihr geschichtlicher Zweck, die deutschen Demokraten auf den Leim zu
locken, erfüllt und damit ihre Mission in Europa erledigt ist.
Professor Quitte, der Völkerbundsapostel und Wilsonprophet, der uner¬
schrockene Rufer gegen die Altdeutschen, die in Vlamland, Holland und Schweiz
deutsche Volksart gefunden und in Bismarcks Denkart unseren einzigen Schuh vor
Sklaverei gesehen hatten, Quitte, der unermüdliche Bekcimpfer des Siegeswillens
und -glaubens im deutschen Volk bis 1918, er steht heute auf dem Goetheplatz in
Frankfurt und ruft zwei Dutzend versammelte Mitglieder der demokratischen Ver¬
einigung — eine „Menschenmenge" sagt vorsichtig die „Frankfurter Zeitung" —
zum Einspruch auf gegen die Entreißung Eupens und Malmedys; er legt
flammenden Protest gegen diese Vergewaltigung ein. Bei wem? Beim Völkerbund.
Noch immer flammt Quitte. Er flammt jetzt nicht mehr gegen die Alt¬
deutschen. Er kann einem leid tun. Seine Flamme züngelt auf einmal gegen
außen. Nämlich seit unsere feste Burg verbrannt ist und es in ihr nichts Brenn¬
bares mehr gibt. Quitte züngelt aus einem verlöschenden Aschenhaufen. Gerade
so hatten es die Altdeutschen vorausgesagt."
„Deutschland ist tot, es lebe der Völkerbund.
Nein, Quitte, der Völkerbund ist tot; es lebe Deutschland.
Seit den neunziger Jahren war der stille, zähe Kampf des deutschen
Handlungsreisender mit dem britischen Agenten, der Ware macle in (Zermsriv
wir der englischen Ware, in jedem Winkel der Erde ausgefochten, der eigentliche
Ursprung englisch-deutscher Feindschaft. Von allen Wurzeln des Weltkrieges
vielleicht die mächtigste.
Aber der Deutsche, der sich unter sich über alles streitet, stritt auch hierüber.
Manche bezweifelten die Tiefe und die UnVersöhnlichkeit des englischen Handels-
neids. Weil auch Bethmann Hollweg zweifelte, setzte er die deutsche Schlachtflotte
nicht im rechten Augenblick ein und verzögerte den rechten Augenblick und die
rechte Kraft zum Ubootskrieg.
Daß einem geschlagenen und ruinierten Deutschland wenigstens der Handels¬
neid des weltmächtigen England nicht mehr drohe, wurde von vielen gehofft,
als eine der wenigen guten Seiten unserer entsetzlichen Lage. Wie abscheulich
wäre es von dem, der den Krieg und die Welt gewonnen hat, wenn er jetzt dem
um alles gebrachten Bettlervolk Mitteleuropas die bescheidenen Ansätze eines
Wiederaufkommens mißgönnen wollte! So rechnete diesmal deutsche Sentimentalität.
"
Die „Frankfurter Zeitung, die jedenfalls keine Gegnerin deutsch-englischer
Verständigung ist, aber sich neuerdings Wohl mit Recht gegen würde- und zweck¬
lose Anbiederungsversuche unsererseits wendet, druckt nun in ihrer Nummer vom
JZ. Juli folgendes neue englische Plakat ab:
R.ememder!
Lver^ t^ermem emplo^ecj achus s öritisli worker latis. Tver^ Osrmsn srticls
solet MLÄNL s KritisN srticle unsolcj.LritisK Empire I^nion: Z46 Lti-em6, l.nacion WL 2,
Zu deutsch: „Vergeht es nie! Jeder beschäftigte Deutsche bedeutet einen
müßigen Briten. Jeder verkaufte deutsche Artikel bedeutet einen unverkauften
britischen Artikel."
Dieses Plakat hängt zu Massen in belgischen Städten. Auch unseren Brüdern,
den Vlamen, wird also in der englischen Weltsprache begreiflich gemacht:
1. Volkswirtschaftlicher Lehrsatz: Die Weltvölker gedeihen nicht miteinander
und aneinander, indem jedes arbeitet, erzeugt und des andern Kunde wird)
sondern er oder ich. Einer muß hin sein, damit der andere leben kann.
2. Politische Nutzanwendung: Völker der Erde, ächtet den erbarmungs¬
würdig Besiegten erbarmungslos, auf daß er Brot und Dasein verliert, damit
der englische Kommis ohne diese lästige Konkurrenz eines wirklichen Arbeitsvolks
angestellt (emplo^e6) sein kann, ohne den lieben Müßiggang (iclleness) aufzu¬
geben. Dem Weltherrn das Weltmonopol! Er will sich nicht durch einen voll¬
beschäftigten Deutschen Kriegsentschädigung zahlen lassen, sondern sich unmittelbar
Den überwaldeten Weg am Flusse entlang schiebt sich lustwandelnd das
sonntagsfrohe Volk. Man hat jetzt ja, dank dem Achtstundenwerk, schließlich auch
in der Woche Zeit zu Ausflügen, aber es schmeckt dann nicht so wie am Tag
des Herrn! Uralte Gepflogenheiten sitzen zu fest im Blute) die gediegenste Auf¬
klärung, die verbreitetste Zehngebote-Literatur kommen selbst im "Sozialstaat nur
langsam dagegen an. Opalener märkischer Himmel, wie ein blauer Traum die
Havel mit ihrem Kiefernkranz — auch wen die jrienen Beeme sonst nichts
angehen, schlürft rein triebmäßig das Glück dieser Leuchtestunde. Da rauscht und
braust es aus rasch heranstürzenden Staubwolken von vorn und hinten. Autos!
Das freie Volk springt, mit verzweifeltem Ruck die Kinderwagen packend, rechts
und links in den Chausseegraben, in den Schlamm des verschilften Flußranves
und macht den Ungeheuern Platz. Staub und böse Benzoldämpfe bleiben lange
in der heißen Sommerluft stehen. Ehe sie sich verzogen haben und der Golo-
saphir der Landschaft wieder auffunkelt, rattern und tuten neue Krafter herbei,
und wieder rettet die souveräne Welt sich und ihre Kinderwagen mühsam vor den
Gewaltigen. So genießt sie bis zum Ziele in schönem Gemisch die Wunder der
Schöpfung und der modernen Technik.
Nur dann und wann einmal, unsicher dabei und merkbar geniert, wagt ein
ganz Zielbewußter leise vor sich hinzufluchen.
Das Auto ist eine ganz undemokratische Erfindung. Zumal jetzt, wo die
sieben- bis neunfache Taxe herrscht und Brennstoff nur den Leuten mit glänzenden
Verbindungen zufließt. Keiner von den Tausend, die statt der erhofften Wald-
und Wasserlust giftige Abdämpfe zu schlucken bekommen, darf daran denken,
jemals selbst in solch einer Prachtkarosse des Weges zu sulzen. Leichter erwerben
napoleonische Grenadiere den Marschallstab, den nach des Kaisers Rattenfänger¬
wort jeder von ihnen im Tornister trug, als diese tüchtigen Bürger der freien
Republik zu einem Fünfzigpferdigen gelangen können. Sie wissen daneben, daß
in den lackglänzenden Säufern, vor denen sie wie freisinnige Jndier vorm
Dschaganath flüchten, heute kein ministrabler Genosse, kein vergötterter Volks¬
staatsmann und dergleichen sitzt. (Wenigstens ist es amtlich für unzulässig erklärt
worden, private Lustfahrten in Staatsautos zu unternehmen. Dafür bekommt
nicht jeder dieser Herren einen teuren Wagen zur Verfügung gestellt, während in
des altfränkischen Bismarck Zeit das ganze Auswärtige Amt sich mit einem
einzigen ärmlichen Einspänner begnügen mußte.) Das Aufscheuchen der geduldigen
Hammelherde am Havelborde besorgen heut ausschließlich frisch begüterte
Gesellschaftsspitzen, gegen die alle Zeitungen tagtäglich erbittert schreiben und die
in ihrer Abwesenheit stets mit dem Ekelnamen des Schiebers belegt werden.
Doch der Umstand, daß sie eben im Auto daherspritzen, feit sie. Das Auto adelt
ohne weiteres jeden, der darin sitzt, es macht vornehm, und der wahren Vornehm¬
heit beugt sich im Jahre 182V so gut wie anno 1910 unterm fluchbeladenen und
verrotteten alten Regiment in ehrlichem Respekt die Menge.
Weshalb schart sich noch immer, obgleich der Anblick jedem Säugling als
gewöhnlich und „Auto" so ungefähr der erste wonnesame, traute Mutterland des
Einjährigen ist, weshalb schart sich noch immer das Straßenpublikum andächtig
um jeden Kraftwagen, der durchaus nach 300 000 oder 250 000 ^ aussieht? Er
muß einem Reichen gehören, und Reichtum ist Aristokratie) vorm echten Aristo¬
kraten aber fühlt sich der entschlossenste Bolschewist unsagbar klein. Nur das
durchbohrende Gefühl seines Nichts ist es, das ihn mitunter zu wutschnaubenden
Gewalttaten Peitsche) wäre er von seiner Gleichwertigkeit innerlich überzeugt, dann
lächelte er, wo er jetzt mordet. Unglückliche Liebe, unbeachtete Verehrung schlägt
gern vorübergehend in tödlichen Haß um. Manche großstädtische Blätter leben
nur davon, daß sie für fünfzehn Pfennig ihren gierigen Lesern lakaienhafte
Schilderungen von Autorennen und Festlichkeiten im Autoklub vorsetzen. Der
Leser, der pünktlich alle Zahlabende der U. S. P. D. besucht und auf jeden Fall
fortgeschritten radikal denkt, erschauert vor Lust, wenn ihm von der Aut-volSe
erzählt wird und wenn er wenigstens im Geiste (sozusagen) in ihrer erlauchten
Mitte weilen darf. An sich geht ihn das Ganze nichts an, denn er hat nie Aus¬
sicht, an den fernen Gestaden zu landen. Und ist doch abgrundtief verliebt in sie
und sichert, wenn er von ihnen hört. Wie das schlichte Weib sichert, wenn es in
volkstümlichen Zeitungen die bildgeschmückten Mvdcberichte liest und sinnend bei
20 000Kostümen verweilt.
Die deutsche Politik ist noch weit zurück. Unsere Politiker haben noch
immer nicht begriffen, was wahre Demokratie bedeutet. Weshalb gibt es in
England seit den Tagen der Eisenfeilen keine Revolution mehr? Weshalb teilen
sich dort heute noch ein paar adlige Familien in die Herrschaft und können außer
ihrer eigenen Nation die ganze Welt glauben machen, daß Großbritannien aller
Freiheit, aller Volkswohlfahrt Hort und Erfüllung sei? (Trotz Irland und
Whitechapcl.) Weil die M. P. ihre Karte bei jedem treuen Wähler abgeben,
weit die Herzoginnen im Wahlkmnpfe die niedere Hütte des schlichten Bürgers
aussuchen, weil der feine Boß oder Parteiführer im Kreis alljährlich einmal
jeden erprobten Abstimmer mitsamt seinem Eheweibe zu einer sommerlichen
Mrcten part^y und einem winterlichen Empfang einlädt. Wird es so behandelt
dann zeigt das Volk sich recht, auch in Fahrten und Nöten. ,
Hierzulande hat man es zurückgestoßen und seine redlichen Instinkte mi߬
achtet. Dabei beweist das Verhältnis der unerschütterlich demokratischen Welle
zum Auto, wie leicht sie noch heute vornehm gelenkt werden kann, wie sehnsüchtig
sie dem vornehmen Lenker entgegenseufzt.
Andernfalls gäbe es ja auch längst schon ein Autogesetz, das zwar, echt
demokratisch, jedermann uneingeschränkte Freiheit des Autofahrens verbürgt und
gewährleistet, aber nur solche Kraftwagen zuläßt, die den Auspuff nicht hinten,
Es liegen drei Schriften vor, von denen zwei
ausschließlich, die dritte in einer eingehenden
Einzelabhandlung die Auseinandersetzung mit
Spengler in Prinzipieller Weise zu fördern
unternehmen. Es scheint, als ob Spenglers
Schriften, über ihre eigene Wirkung hinaus,
vor allem mittelbar dadurch wirken werden,
daß sie geistige Arbeiter auf all den Gebieten,
denen Spenglers Interesse zugewandt ist, auf
denen er neue Wege zu zeigen fucht, zu einer
Besinnung darauf veranlaßt, welche Wege
bisher gegangen wurden, was auf ihnen
erreicht wurde, ob sie noch weiter gangbar
sind oder verlassen werden müssen. Ist doch
Spengler davon überzeugt, daß seine neue
Lehre für eine Vielzahl von Formen des
des geistigen Schaffens die „kopernikanische
Wendung" bedeute. Und seine Lehre ist
allerdings von solcher Kraft und Eindringlich¬
keit, daß sich niemand, der verantwortliche
geistige Arbeit leistet, der Auseinandersetzung
mit ihr entziehen darf.
Brief's Abhandlung steht nach Umfang
und Wert vielleicht an erster Stelle unter
den bisher über Spengler veröffentlichten,
referierenden und kritischen Äußerungen. Ihre
besondere Bedeutung liegt einmal darin, daß
sie beide Schriften Spenglers, den „Unter¬
gang des Abendlandes" zugleich mit „Preußsn-
tum und Sozialismus" in ihrer Zusammen¬
gehörigkeit und der Art, wie sie sich gegenseitig
beleuchten, beurteilt. Dann aber darin,
daß sie nicht bei allgemeinen Betrachtungen
stehen bleibt, sondern von einem scharf
definierten, wissenschaftlichen Standort aus
eine grundsätzliche und erschöpfende Kritik
sowohl der sachlichen als der methodischen
Gesichtspunkte gibt, die in der Perspektive
ihres Standortes liegen. Und zwar ist es
die christliche Gesellschaftslehre, deren
gebnissc und Methoden den Maßstab für
Spenglers Aufstellungen erbringen. Wie
fruchtbar dieser Ausgangspunkt ist, wird
deutlich, wenn man bedenkt, daß für Spengler
der Sozialismus, Wie er ihn faßt, der In¬
begriff des abendländischen Zeitalters ist:
„Der faustische Mensch des Zivilisations¬
stadiums. . . ist Sozialist; daS ist die Form
seiner geistigen Existenz/' Dieser Gedanke
bestimmt seine ganzen Analysen der unter¬
gehenden abendländischen Kultur sowie
seine politische Ideologie in „Preußentum
und Sozialismus", die Von Briefs zum
ersten Male vollkommen deutlich als solche, als
ein Wunschbild ohne historische Entsprechung,
erwiesen worden ist. Daher hat die Soziologie
das entscheidende Wort zur Beurteilung der
Spcnglerschen Konstruktionen. Die doppelte
Aufgabe, die der Verfasser sich stellt, einmal
die Analyse des Spenglerschen Denkens und
der aus ihm erwachsenen Idee des Sozialismus,
sodann die Analyse des geschichtlichen
Sozialismus wird mit hervorragender Gründ¬
lichkeit und Präzision gelöst. Dafür mögen
einige zusammenfassende Formulierungen als
Zeugnis dienen: Über Spenglers geistige
Herkunft: „Nachklänge von Klassizismus und
Romantik, in Verbindung mit stärksten Ein¬
schlagen naturwissenschaftlichen Denkens und
rein diesseitiger moderner Lebensphilosophie
schießen geistig in eine Synthese zusammen,
deren Kennzeichen absolute Diesseitigkeit,
Sinn- und Zielverneinung des Lebens,
Naturalismus der Kulturbetrachtung, Dog¬
matismus der Geschichtsbetrachtung, Relativis¬
mus aller Äußerungen in Geist, Sittlichkeit
und Kultur darstellen" (S. 44.) Zur Analyse
des deutschen Sozialismus: „Ein plötzlich
hervorbrechender, hochgeschraubter, arbeits¬
intensivster Kapitalismus im Verein mit
gewaltigen Bevölkerungs- und Berufsum-
schichtungcn stößt zusammen mit rückständigen
politischen Lebensformen, mit bedenklicher
Sozialmoral von oben bei stärkstem Gemein¬
schaftsverlangen der unteren Volksschichten,
mit starker Neigung zu rücksichtsloser Interessen-
Wahrung in den wirtschaftlich leitenden
Schichten, und in die Gunst dieser Vor¬
bedingungen schlägt die Flamme des moralisch
und intcrefscnmäßig den Massen gleich
entgegenkommenden Marxismus." (S. 69. f.)
Die letzten Sätze nehmen Bezug auf den
höchst bemerkenswerten und wertvollen Nach¬
weis (S. 47 bis S3), in wie großem Umfang
Spenglers Gedanken von F. Tönnies'
klassischem Werke „Gemeinschaft und Gesell¬
schaft" abhängig sind. Diese Abhängigkeit ist
so unmittelbar einsichtig, daß man kaum ver¬
steht, weswegen sie nicht schon längst und
überall erkannt worden ist. Zugleich aber
erhellt daraus die ungeheure Einseitigkeit der
Spenglerschen Gleichsetzung von Abendlands
Zivilisation— Sozialismus, welche die Korrelat¬
erscheinung dieses Sozialismus (der der
Tvnniesschen „Gesellschaft" entspricht), nämlich
den extremen Individualismus, gänzlich ver¬
nachlässigt.
Wenn von Briefs' Kritik an Spenglers
SozialiSmusidce gesagt werden kann, daß sie
uno ausgesprochen werden mußte, um jene
Idee aufzuheben, so gilt dasselbe, nur in viel
höherem Maße und im Hinblick auf das Ganze
der Spenglerschen Geschichtsbetrachtung, von
dem Schlußteile der Schrift, der in sorgfältiger
induktiver Beweisführung zeigt, daß Spengler
das wichtigste Moment der abendländischen
Geschichte völlig übersehen bzw. verkannt hat:
den Geist des Christentums. Dieser Geist
ist es, der die Struktur des abendländischen
Bewußtseins bestimmt und somit alle Aus¬
wirkungen dieses Bewußtseins, die ethischen
und sozialen in erster Linie, trägt. Wer diesen
Geist nicht kennt oder nicht kennen will, der
stellt sich, wie der Verfasser mit unnachsicht-
licher Schärfe ausführt, „jenseits des wirk¬
lichen Abendlandes". Wer ihn aber kennt,
das heißt, wer sich als Christ bekennt, dem
kann das Schreckbild vom Untergang des
Abendlandes nichts anhaben, der kennt Wege
und Ziele der Erneuerung des Abendlandes.
Die Schrift von Scholz, deren erste
Hälste eine gut disponierte Zusammenfassung
der Spenglerschen Gedanken ist, bringt in der
zweiten Hälste allgemeine kulturphilosophische
Erwägungen und gelangt zur Anerkennung
einzelner, zur bedingten oder unbedingten Ab¬
lehnung anderer von diesen Gedanken. Im
ersten Teil ist die Reproduktion deS Speng¬
lerschen Zeitbegriffs (der den Ergebnissen
Minkowskis und Einsteins gegenüber unhalt¬
bar ist — es nimmt Wunder, wie wenig
Rücksicht Spengler auf die Resultate der
speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie
nimmt) und die Abgrenzung seines Homologie-
begriffes gegen den Begriff einer nur assoziativ
vermittelten, nicht wesensmäßig zugeordneten
Analogie bedeutungsvoll. (Daß Spengler
eine wissenschaftliche Bestimmung des Homo¬
logiebegriffes gelungen wäre, wird dennoch
bezweifelt werden müssen.) Die kritischen
Ausführungen des zweiten Teiles sind weniger
grundsätzlich-sachlich, als vielmehr ack doiniinzm
gerichtet. So sind sie, trotz ethischer Kraft,
nicht so zwingend wie etwa die wissenschaft¬
lichen Gedankengänge in der Schrift von
Briefs. Allerdings scheint der Verfasser den
Wert spezialwissenschaftlicher Auseinander¬
setzung nicht allzu hoch zu bemessen, wenn er
folgendes Urteil über das von Spengler ver¬
arbeitete Wissen abgibt: „Das sind nicht die
Kenntnisse eines Gelehrten, der den Wert des
Wissens nach der Anstrengung schätzt, die
nötig ist, um in seinen Besitz zu gelangen.
Es sind vielmehr die Kenntnisse eines
Philosophen, den das Wißbare nur so weit
interessiert, als es mit dein Wissenswürdigen
zusammenfällt. > ." (S. 24.) Es dürfte
wenige Fachgelehrte geben, die dieser Wert-
hcrabminderung der Wissenschaft, wenige
Philosophen, die dieser Isolierung der
Philosophie von der Arbeit der lebendigen
Forschung zustimmen können.
und fordert, aus einem Willen zur schöpferischen
Gemeinschaft, zu demütiger Arbeit, zu christ¬
lichem Leben ein Neues: „die Auferstehung
der Wahrheit".
Der reiche Gehalt an weltpolitischen sowie
sozial- und kulturpolitischen Gedanken, der
in den Aufsätzen des Rosenstockschen Buches,
gestützt auf lebendigste Anschauung der Zeit
und ihrer historischen Herkunft, gebunden
durch eine große Kraft synthetischen Denkens,
ausgebreitet ist, wird demnächst an dieser
Stelle im Zusammenhange mit einer Reihe
sehr beachtenswerter Schriften, den „Büchern
vom Kreuzweg", zu denen das vorliegende
Werk zählt, gewürdigt werden. Für den
politischen Weitblick des Verfassers zeugt es,
daß er die Politisch aufklärende und aktivie¬
rende Arbeit Dr. Eduard Stadtlers
würdigt, — eine Arbeit, die trotz ihrer unauf¬
haltsamen Ausbreitung, trotz des Erfolges, den
der Aufruf zu überparteilichem, nationalem
.Zusammenschluß, zu weltpolitischer Besinnung
und Aktivität, in unserer Gegenwart finden muß,
dennoch vielfach inVetrachtungen über die gegen¬
wärtige politische Situation noch nicht an den
ihr gebührenden Platz gerückt wird. Die
Bedenken, welche Rosenstock in seinem Aufsatz
„Bolschewismus und Christentum" (S. ISO ff.),
der sich ganz mit Stadtlers Tätigkeit beschäftigt,
darum erhebt, weil ihm die negativen, anti¬
bolschewistischen Tendenzen zu einseitig betont
erscheinen, werden wesenlos/ wenn man die
Berichte, die Stabeler über seine Tätigkeit
und sein Aktionsprogramm in seinen
letzten Schriften erstattet hat, und seine
laufenden politischen Aufsätze im „Gewissen"
vergleicht: wie es sein Verdienst bleibt, di-
Tatsache und katastrophale Gefahr des
Weltbolschewismus vor aller Augen
gestellt zu haben, so findet er andernteils die
Mittel zur Abwehr des Bolschewismus
gerade in den geistigen und seelischen Kräften
des Deutschtunis, und niemand sieht so klar
wie er, daß der mächtigste Hebel der Er¬
neuerung und des Wiederaufbaus gerade
der ist, in dem Rosenstock das einzige Heil sieht
— das Heil auch aller nihilistischen Zersetzung
und aller UntcrgangSschwärmerei gegenüber —:
der christliche Geist desdeutschen
Volkes.
Europa, — und ihm gegenüber erwartet er
Ein Fachpsychologe zergliedert den größten
Mann der vaterländischen Geschichte. Im
ersten Augenblick widerstrebt ein künstlerisch
schamhaftes Gefühl dein Beginnen. Bald
aber gewahrt man, daß echte Seelcnttmst und
ein erfreulicher Instinkt für deutsche Mannes¬
größe am Werke sind und Vismarck hier
Vismarck bleibt, nicht verzerrt wird wie bei so
manchen zudringlichen Essaisten der letzten Zeit.
lind nun lesen wir „neuen" Vismarck
selber. Leider entspricht der Wert der Ver¬
öffentlichung nicht dem kostbaren Inhalt. Es
ist nicht recht zu verstehen, weshalb sich Herr
Naschdau dieser vcrlcgcrischen Spekulation
zur Verfügung gestellt hat. Die Ausgabe ist
unvollständig und ohne ausreichenden
Kommentar. Ein berufener Herausgeber, der
wirklich über das gesamte Material verfügt,
dürfte in absehbarer Zeit die wissenschaftlich
allein zureichende Veröffentlichung der Peters¬
burger Berichte bringen. Wer über genügende
Spezialkenntnissc der Jahre 18!>9—18<>2
verfügt, wird freilich auch schon aus diesen:
unerfreulichen Bruchstück Schätze heben.
Bismarck, in der Vollkraft des Lebens, noch
unberühmt, aber sozusagen auf dein Sprung
zum Erfolg. Allerdings kein Bismarck, der
den Zauber seiner Persönlichkeit ungezwungen
ausstrahlt, sondern der Diplomat, der sich
beherrscht, seine Kraft und Kunst der Menschen¬
kenntnis und Menschenbehandlung in wohl-
abgewogene Berichte hineinlegt, die selber ein
Die Schrift bietet eine kurzgefaßte Techno¬
logie des deutschen auswärtigen Dienstes.
Sie behandelt dessen innere und äußere
Organisation, die Grundbegriffe des politischen
und diplomatischen Dienstes, die Formen des
Schriftverkehrs, die Beteiligung des Staats¬
oberhauptes und den Kurierdienst. Indem
uns so die Arbeit eilten Blick hinter die
Kulissen dieser wichtigen Zentralbehörde er¬
möglicht, leistet sie der breiten Öffentlichkeit/
an die sie sich wendet, in der Tat einen
wichtigen Dienst für das Verständnis des
diplomatischen Betriebes.
Der rührige Nationalökonom, der an der
Universität Münster tätig ist, entwickelt in
dieser kleinen Schrift seine beachtlicher Ge¬
danken über eine Reform der Vorbildung des
staatswissenschaftlicher Nachwuchses.
Das Verdienst, das sich der rührige
Jenenser Verleger um die Erschließung wert¬
vollster Kulturgüter für die deutsche Öffent¬
lichkeit erworben hat, ist so unbestreitbar, der
ernste kulturelle Wille darin so unverkennbar,
daß es manchen reizen mag, sich ein Bild
davon zu machen, wie sich die Welt dieser
Kulturgehalte im »wpfe des Organisators
widerspiegelt. Diederichs hat im vorliegenden
Werk eine Reihe von Aufsätzen gesammelt,
die seit 1914 in der von ihm herausgegebenen
„Tat" erschienen sind. Diese Auffatzreihc ist
darüber hinaus eine Art Chronik der kultur¬
politischen Zeitprobleme, die damit gleichzeitig
aus zeitgeschichtliches Interesse Anspruch er¬
heben darf.
Diese Sammlung des politischen Testa¬
ments der Hohenzollern wirkt in unserer Zeit,
wo der monarchische Gedanke von ressentiment-
geladencn Literaten und haßerfüllten Demagogen
von der radikalen Linken bis weit ins
„bürgerliche" Lager in den Schmutz gezogen
wird, wie das Vermächtnis einer großen
lcistungsreichen und würdigen Epoche der
deutschen Geschichte. Die Sammlung reicht
von der Hosordnung Joachims II. von Branden¬
burg bis zum Ende des 18. Jahrhunderts.
Deutlicher als Apologien jeder Art sprechen
diese Originaldokumente für die Tiefe des
Verantwortlichkcitsgefühls und die Weite des
Blicks, mit denen das unvergleichlich begabte
Herrschergeschlecht in wenigen Jahrhunderten
unter den denkbar ungünstigsten Bedingungen
ein Staatsgebilde geschaffen hat, dessen Vor¬
bildlichkeit Europa am unverkennbarsten in
seiner Furcht und seinein .Haß anerkannt hat.
Albert von Hofmann »nacht in diesem
Buche den interessanten Versuch, die deutsche
Geschichte aus den topographischen Verhält¬
nissen der Landschaft zu erklären. Er gelangt
dabei zu dem Begriffe der historischen, besser
vielleicht geschichtsbsdingenden Landschaft. Die
chronologische Stosfanordnung wird auf¬
gegeben und durch eine topographische er¬
setzt.' Neben der politischen, insbesondere
kriegsgeschichtlichcn findet laues die kunst¬
historische Entwicklung breiteste Berücksichti¬
gung. Die Methode wird nicht beanspruchen,
die übliche chronologische Gcschichtsbchandlung
zu verdrängen und zu ersetzen. Als an¬
regende Ergänzung ist der geistreiche Versuch
entschieden zu begrüßen, der zur Erweckung
historischen Heimatsinnes und zur Vertiefung
geographischer Kenntnisse von unbestreitbarem
Wert ist.
Diese bereits vor dein Krieg entstandene
Schrift verfolgt die Entwicklung der öffent¬
lichen Kunstpflege durch das höfische, bürger¬
liche und kommunale Stadium. Sodann
werden die psychologischen Wege heraus-
gefordert, auf denen die verschiedenen Be¬
völkerungsschichten den Weg zum künstlerischen
Erlebnis finden. Nicht sowohl zu neuen Ziel¬
setzungen, als zur Klärung der kommunal¬
politischen Kulturfragen erweist sich die
soziologische Methode dabei als fruchtbares
Erkenntnismittel.
Die engen Beziehungen der Universität
Dorpat zum reichsdeutschen Geistesleben sind
allbekannt. Um so verdienstlicher ist der
Versuch, die Mittlerstelle dieses vorgeschobenen
Postens deutscher Wissenschaft darzustellen.
Was dem Verfasser dieser kleinen Schrift
überzeugend gelingt.
In der überaus verdienstlichen Sammlung
Thule, die uns das mythische Erbe des Nordens
erschließt, erscheint in diesem Barth der
mythologisch wichtigste Teil der älteren Edda.
Das Verständnis wird durch Anmerkungen
und Einleitungen zu den einzelnen Stücken
erleichtert, die aus der Feder des sachkundigen
Herausgebers stammen.
Allwaltender Eros als metaphysische Ur-
substanz des Lebens ist der Gegenstand dieses
stillen und feinen Büchleins. Studien nennt
es sich und ist doch eine Art metaphysischen
Gedichts in Prosa, Versuch, an vielen einzelnen
Punkten einen zarten Schleier zu lüften, blitz¬
artig Sichten zu öffnen auf diesen Urgrund,
der alles Leben hält und trägt. Es ist eine
Schrift, die von der Seele kündet und die
selber seelenhaft ist. Deshalb wird man sich
nicht mit ihr auseinandersetzen wollen, sondern
hinhorchen müssen, ob sie einem etwas zu
sagen hat. Und sie hat etwas zu sagen.
Das Buch des berühmten indischen Dichters'lebt in einem interessanten Gegensatz zu dein des
deutschen Professors. Dort ist das Problem des
?lief verschlingenden Nationalismus in einem feinen
östlichen Intellekt gespiegelt und als feindselige
Listige Macht zergliedert; hier dagegen mit geschicht¬
licher Methode, aber ohne fernsichtigen Standort
entwickelt. Beide Bücher sind Erzeugnisse ver¬
schiedener Weltanschauungen und ergänzen sich da¬
durch, wie sich das Schicksal Deutschlands und
Indiens in Zukunft unter dem Zeichen des Welt-
beherrschenden angelsächsischen Rationalismus sinniger
Kls bisher berühren und ergänzen dürfte.
Es niedren sich die Versuche, die Politik
biologisch aufzufassen. Noch keine Ruhepunkte an
diesem wissenschaftlich zukunftsreichen Wege, aber
fesselnde, geistreiche Versuche liegen in den Abhand¬
lungen Merahs und Uexkülls vor.
Kein originelles Werk, aber eine ganz an¬
sprechende kurz gefaßte Zusammentragung der be¬
kannten Motive.
Die Ostmark, ein ausgezeichnetes von Liebe
und feinem Verständnis getragenes Sammelwerk,
das heute in den Händen jeder echt deutschen
Familie gerade auch westlich von der Elbe sein
müßte. In noch höherem Maße gilt dies von der
Classenschen Schrift, die für das ganze deutsche
Volk geschrieben ist und ihren Zweck vortrefflich
erfüllt.
Rücksendung von Manuskripten erfolgt nur gegen beigefügtes Rückporto.
Nachdruck sämtlicher Aufsätze ist nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlages gestattet
Der dem heutigen Heft beiliegende Prospekt von I. F. Lehmanns Verlag, München, sei unsern,
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Wer sich Über die Ausgaben des Deutschtums in den
Nachfolgestaaten der österreich-ungarischen Monarchie
Klarheit verschaffen will, und die verwickelten Staats¬
und Wirtschaftsprobleme dieser Länder im Südosten
des Deutschen Reiches sowie ihre bedeutenden Möglich¬
keiten für deutsche Kultur und Wirtschaft an der Hand
von Aufsätzen erster Sachkenner kennen lernen will,
der lese die „Deutsche Arbeit"
die einzige Zeitschrift, die sich die Vermittlung eines
besseren gegenseitigen Verständnisses zwischen dem
Deutschen Reich- und den D-ntschen im Slldosteu zur
Sondernufgabc gemacht hat.
Es ist eine Tatsache, da» gerade von den klugen Menschen, die viel zu sagen hätten,
die meisten schlechte Redner sind. DaS ist der Grund, warum vielfach der Unsinn siegt.
Jeder Gebildete, der durch seine Geist-sgabeu berufen wäre, zu führen oder wenigstens
anzuraten, sollte anch seinen Standpunkt gegen alle Einwände schlagfertig behaupten können.
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> tDer Deutsche Ostmarken-Verein
ist am 3. November 18S4 auf Veranlassung des Fürsten Bismarck zur Kräftigung und Sammlung
des Deutschtums in der mit Polnischer Bevölkerung durchsetzten Ostmark gegründet worden. Er ist ein
großer nationaler Bolksverein, der keiner Partei, keiner einzelnen Bevölkerungs¬
klasse, keiner bestimmten Glaubensgemeinschaft dienstbar sein, sondern einzig und
allein die Gefahr des polnischen Ansturms von unserem Volkstum abwenden
will. Ihn bei der Errichtung dieser Ziele zu unterstützen, ist Pflicht jedes Deutschen.
Der Mindestjahresbeitrag beträgt 4 Mark. Anmeldungen zum Eintritt sind zu richten an die
Hauptgeschäftsstelle, Berlin W 62, Bayreuther Straße es
8 8 "V^-T—8—"T"??'S'.8 8 8 -"T--T'!
eutschland liegt noch immer zwischen England und Frankreich
einerseits und Rußland andererseits, nicht nur geographisch, sondern
auch politisch. Hinzu hat sich im Südosten die Tschecho-Slowakei
gesellt. Sobald wir die Augen nach rechts richten, wird man links
grimmig, und sobald wir nach links schielen, droht man von rechts.
Es ist eine üble Lage, und doch möchten wir so gern aus dem politischen Chaos,
das sich beginnt über Europa auszubreiten, einen Borten, eine Möglichkeit für
unsern Wiederaufbau, unsere innere Erstarkung finden.
Man sieht das Heil von Osten kommen und vergißt, daß unser Heil über¬
haupt noch nicht gekommen ist. Schillsche Stimmungen sind schön und erhebend,
aber wir brauchen jetzt keine Schills, sondern Gneisenaus, und auch ein Feuerkopf
wie Blücher hat von 1806 bis 1813 gewartet. Viele im heutigen Deutschland
aber, die Zeit und Möglichkeit der Geduld hätten, wollen keine Geduld anerkennen
und wollen die Jahre 1806 bis 1813 im Fluge überspringen. Selbst für den,
der auf dem Standpunkt steht, daß uns einmal das Heil von Osten kommt und
daß wir uns einmal mit dem Osten verbünden müssen, gibt es nichts Törichteres,
als jetzt sich mit den Russen zu verbinden oder gar ihnen Söldnerdienste zu leisten.
Noch rascher und grauenhafter würde die Enttäuschung für diese Ostler sein, als
sie es im letzten Jahrzehnt für die Westler gewesen. Die Rolle Wilsons hat jetzt
Lenin übernommen. Er würde uns, sobald wir auf seinen Leim gekrochen sind,.
zu seinem Schlachtopfer und Deutschland zum Schlachtfelds machen, auf dem die
Entente billige Siege gegen den Bolschewismus erringen könnte. Wenn wir uns
mit den Russen jetzt schon verbünden, machen wir denselben Fehler, den das alte
Deutschland gemacht hat, als es sich in den schwächsten Staaten seine Verbündeten
suchte. Aber was ist nun zu tun? so fragt man. Zwei Möglichkeiten sind gegeben:
Einmal, daß die Entente uns auffordert, Landsknechtdienste für sie zu leisten,
wie es Simons genannt und abgelehnt hat. Wenn nicht die Entente, sondern Eng¬
land uns zum Söldner haben wollte, und uns nicht bloß mit eitlen Versprechungen
oder so billigen Zusagen, wie der Aufnahme in den Völkerbund, sondern mit
sicheren Zugeständnissen, etwa der Herstellung unserer alten Ostgrenze, besolden
wollte, dann hätte es Sinn, Landsknecht für England zu sein, denn dann würde
außerdem noch der Gegensatz zwischen England und Frankreich schroff zum Aus¬
druck kommen, was uns auch unsere Stellung im Westen erleichtern würde. Churchill
hat sich in dieser Richtung geäußert, aber er ist von der Presse abgelehnt worden,
was freilich nicht besagt, daß die Engländer nicht an eine solche Möglichkeit denken
und sie im Auge behalten. Das wird davon abhängen, wie stark sie die Gefahr des
Bolschewismus für Asien, insonderheit für Indien, einschätzen. In ihrem eigenen
Land getrauen sie sich, und zwar mit gutem Grunde, zunächst noch auf Jahr und
Tag mit ihm fertig zu werden, und zwar um so mehr, wenn Deutschland die Probe
auf das Exempel machen sollte, daß der Bolschewismus in einem industrialisierten
Lande eine Narretei ist. Zunächst ist diese Möglichkeit, daß England uns gegen an¬
gemessene Besoldung als Landsknecht werben will, nicht gegeben. Wir haben heute
noch keinen Gebrauchswert für es, sondern nur einen Tauschwert in seinem Geschäft
mit Frankreich um die Machtverteilung in Asien. England braucht nicht mehr,
wenigstens auf absehbare Zeit nicht, seine alte Politik, Gegner der stärksten
Kontinentalmacht zu sein, zu treiben, denn auch diese stärkste Kontinentalmacht,
Frankreich, ist kein gefährlicher Gegner für England mehr und wird es um so weniger
sein, je mehr es sich in Deutschland festbeißt.
Die zweite Möglichkeit ist die eines Bundes mit Sowjetrußland. Das hätte
nur dann Sinn, wenn entweder die bolschewistische Macht in Rußland auf sicherer
Grundlage beruhte, und verhandlungswillig und bereit wäre, oder aber, wenn die
Weltrevolution wirklich etwas Unabänderliches und ganz Europa rasch« über¬
wältigendes wäre, und wenn wir so oder so durch das Fegefeuer der Weltrevolution
hindurch müßten. Für das eine wie für das andere fehlt heute und für absehbare
Zeit der zureichende Grund. Der Bolschewismus lebt nicht aus eigener Stärke,
sondern aus der Schwäche seiner Gegenmächte im Innern Rußlands und im Krieg
mit Polen. Mit beidem würden wir eine schwere Enttäuschung erleben und wären
die Hereingefallenen.
Es bleibt für uns nur die dritte Möglichkeit der Neutralität, mit der Aus¬
sicht freilich auf Vergewaltigung durch die Entente, die uns als Aufmarschgebiet
benutzen möchte.
So hart uns diese Vergewaltigung wirtschaftlich träfe und eine so bittere
Demütigung sie für uns wäre, fo könnten wir und müßten wir daraus politisch
Kapital schlagen. Wir dürften nur nicht über die Vergewaltigung winseln und uns
einfach fügen, sondern müßten uns mit Händen und Füßen dagegen wehren.
Militärisch können wir nichts machen, aber unsere Arbeiter sollten dann einmal
zeigen, daß sie nicht bloß wegen der Übernahme der Steuern streiken können, sondern
auch aus Gründen der auswärtigen Politik und der Behauptung staatlicher Selb¬
ständigkeit.
Unsere Linksradikalen behandeln immer noch aus den mannigfachsten, zum
Teil sehr durchsichtigen Gründen, die Regierungen wie die kapitalistischen Mächte
der Entente sehr schonsam, und so wenig sie aus deutschen Interessen bereit sind,
sich gegen die Entente zur Wehr zu setzen, so werden sie es um Sowjetrußlands willen
tun. Rußlands Feind ist unser Feind, so sagen sie, und was sie für Deutschland
bisher nicht konnten, können sie vielleicht über Nußland lernen, staatliches Selbst-
gefühl, und dann werden die englischen und französischen Arbeiter, die sehr gelassen
und ungerührt die Vergewaltigung der deutschen Arbeiter durch die Urteilssprüche
von Versailles und Spa hingenommen haben, zum Widerstand aufgerüttelt werden,
wenn es sich um Sowjetrußland handelt. Politisch könnte also die Vergewaltigung
unserer Neutralität uns nützen; ob wir es benutzen werden, ist freilich eine andere
Sache. Ein anderes freilich ist, ob die Entente nicht Polen militärisch seinem
Schicksal überläßt und sich auf die Mittel der Blockade beschränken muß, weil sie
nicht mehr genügend Soldaten für diesen Krieg, der kein Spaziergang sein wird,
finden werden. In diesem Fall würde sie unsere Neutralität militärisch in Ruhe
lassen, uns dagegen zur Teilnahme an der Blockade zwingen oder in die Blockade
einbeziehen wollen. Dann laufen wir Gefahr, daß die Rote Armee, um Nahrung
zu finden, aus Abenteuerlust oder Ruhmsucht, und daß die Bolschewisten, um den
Brand der Weltrevolution weiterzutragen, in Deutschland einfallen, und daß unsere
Linksradikalen und unsere Nationalbolschewisten die Stunde des Losschlagens ge¬
kommen glauben. Es wäre dies die vierte und die scheußlichste Möglichkeit, die aus,
der jetzigen Lage sich ergibt, in der wir überhaupt keine politischen Ziele verfolgen
können, sondern den Brand im eigenen Hause bekämpfen und löschen müssen.
><>«^> »Z^v.ber den berufsständischen Gedanken herrschen vielfach unklare Auf¬
fassungen. In ihnen mischen sich unrichtige Vorstellungen vom Mittel--
älterlichen Zunftwesen mit ebenso mißverstandenen Anschauungen
vom Wesen der russischen Sowjets, die sich beide auf das heutige
Deutschland nicht übertragen lassen. Das Zunftwesen, in der mittel¬
alterlichen Stadtwirtschaft sehr wohl am Platze, mußte schon verschwinden, als die
Stadtwirtschaft in die Staatswirtschaft überging. Seine Wiederauferstehung im
Zeitalter der Weltwirtschaft, die einen sehr viel weiteren Gesichtskreis aller leitenden
Stellen erfordert, ist potiers undenkbar. Daß andererseits das Sowjetexperiment
für uns nicht nachahmenswert ist, liegt bei dem völligen Verfall der russischen Wirt¬
schaft klar zutage.
Zu welchen Formen sich der berufsständische Gedanke bei uns weiterentwickeln
wird, ist zur Zeit noch nicht abzusehen. Fest steht bisher nur, daß er zusehends an
Boden gewinnt, wenn er auch absichtlich von vielen mißverstanden und mißdeutet
wird, deren Vorteil mit der parlamentarischen Staatsform unlöslich verknüpft ist.
In seiner jetzigen Entstehung und Gestalt ist der berufsständische Gedanke nichts
weiter als eine Reaktion gegenüber dem Parlamentarismus. Sicherlich wird er
diesen nur allmählich ablösen können, denn eine Jahrhunderte alte Entwicklung
wird nicht plötzlich abgebrochen.
Wer sich in das Wesen des Parlamentarismus zu vertiefen sucht, wird zu der
Überzeugung gelangen, daß seine Hauptaufgabe, die er auf dem europäischen Festland
durch den Anstoß der französischen Revolution erhielt, gelöst ist: die Herbeiführung
der Gleichheit aller vor dem Gesetze, Diese zu erreichen war zweifellos eine alle
Staatsbürger gleichmäßig umfassende Instanz das richtige Mittel. Es erwies sich
indessen, daß diese fiktive Gleichheit vor dem Gesetz der praktischen wirtschaftlichen
Entwicklung gegenüber versagte und dem einzelnen nichts half. Die an diese Er¬
kenntnis anknüpfende kommunistische Bewegung handelte daher nur folgerichtig,
wenn sie die parlamentarische Demokratie als ein ungeeignetes Mittel zur wirt¬
schaftlichen Gleichstellung aller Staatsbürger bezeichnete, wobei dahingestellt bleiben
kann, ob diese Gleichheit überhaupt jemals zu verwirklichen ist.
In der weiteren historischen Entwicklung hat sich der Parlamentarismus
— sehr zu seinem eigenen Schaden — nicht mehr auf diese Hauptaufgabe, die aus
dem Gebiet der Gesetzgebung lag, beschränkt, sondern sich auch der Regierung und Ver¬
waltung bemächtigt. Hierbei mußte er entweder, wie in England, zum Deckmantel
einer in der Regel vom Reichtum getragenen Minderheitsherrschaft werden, oder
seine mangelnde Eignung für die Lösung von Regierungs- und Verwaltungs¬
aufgaben offenbaren. Letzteres wurde in Deutschland und vielen anderen Staaten
des europäischen Festlandes um so deutlicher erkennbar, je inniger die Volkswirtschaft
mit der Wirtschaft der ganzen Welt in Verstrickung geriet. Zur sachlichen Be¬
urteilung so komplizierter Wirtschaftsverhältnisse waren die mit dem Austrag
sozialer Gegensätze und Parteilichkeiten überreich beschäftigten Parlamente schon
ihrer Zusammensetzung nach weder berufen, noch befähigt. In Deutschland erleben
wir nun das interessante Schauspiel, daß sonst einander heftig widerstreitende
politische Anschauungen den Parlamentarismus gleich scharf verurteilen, weil er nur
im Wege von Kompromissen votieren kann, was für den revolutionären Radikalis¬
mus ebenso unerträglich ist, wie für jeden praktischen Wiederaufbau. Nur die
parlamentarische Mitte, die beim Zustandekommen der Kompromisse den Ausschlag
gibt, sieht noch heute im Parlamentarismus den einzigen Weg zum Heil.
Dieser Wiederaufbau kann bei dem Versagen der hierfür zuständigen gesetz¬
lichen Faktoren nur aus der Wirtschaft selbst von innen heraus erfolgen, wenn die
Vcrussstände diese Arbeit in eigene Hand nehmen. Man geht daher gewiß nicht
fehl, wenn man den Grundzug des berufsständischen Gedankens in der heutigen
Terminologie als „Selbstbestimmung der Berufsstände" bezeichnet. Voraussetzung
für diese Begriffsbildung war zunächst das Aufkommen eines lebendigen Berufs¬
standesbewußtseins, das durch den wirtschaftlichen Aufschwung in der Vorkriegszeit
seinen Anstoß erhielt und sich im gewerkschaftlichen Zusammenschluß der Facharbeiter,
in der Schaffung von Landwirtschafts-, Handels- und Handwerkskammern u. a. in.
äußerte. Etwas grundsätzlich Neues vermochten alle diese Schöpfungen nur insoweit
zu bieten, als sie sich von dem Bestreben leiten ließen, nur der Weiterentwicklung
der produktiven Kräfte zu dienen und damit zu Sachverständigenkollegien zu werden.
Wollten sie lediglich zu einer neuen Form parlamentarischer Auseinandersetzung
werden, so wären sie verfehlt gewesen, denn das sachliche Gutachten kann seiner
Natur nach nicht vor dem Kompromiß der Parteien Halt machen.
Wir stellen hiermit zwei Gedankenreihen nebeneinander: die parlamentarisch¬
horizontale und die berufsständisch-vertikale, und konstatieren die Unterschiede ihres
Wesens.
Die parlamentarische Gedankenreihe gruppiert auch das Gebiet der Wirtschaft
nach ihrem abstrakten Vorbild, einem Parlament, in dem in der Regel zwei große
Parteien (z. B. Whigs und Tories, Republikaner und Demokraten) einander
gegenüberstehen Und durch Rede Und Gegenrede einen Ausgleich ihrer Interessen
herbeizuführen bestrebt sind. Nach diesem Vorbild entstanden der klassenweise Zu¬
sammenschluß von Arbeitnehmern und Arbeitgebern, in weiterer Folge die Tarif¬
bewegung und paritätische Arbeitsgemeinschaften. Friedrich Naumann prägte hierzu
das Wort von der konstitutionellen Fabrik. Gewisse Vorzüge dieses Systems sind
unbestreitbar, wie die Erzielung einer formalen Gleichberechtigung innerhalb der
einzelnen Arbeiterkategorien, die eine Preisunterbietung der von ihnen geleisteten
Arbeit verhinderte. Hiermit erschöpft sich im allgemeinen aber auch der Wert des
Systems, welches Wege zur Verbesserung des Produktionsprozesses und zur Hebung
der Wirtschaft fast nirgends Zu zeigen gewußt hat und damit schließlich auch für
den Arbeitnehmer versagt. Denn wenn die Konjunktur so schlecht wird, daß die
gleichmäßige Entlohnung aller das Existenzminimum des einzelnen nicht mehr
verbürgt, geht auch hier die Macht der Verhältnisse vor Recht, wenn nicht gar die
gleichmäßige Behandlung der Arbeiterschaft in völliger Betriebseinstellung ihren
Ausdruck finden muß. Wie der Parlamentarismus im großen sich zur Lösung
wirtschaftlicher Aufgaben als untauglich erwiesen hat, so auch im kleinen. Er ist
letzten Endes unproduktiv.
Anders die berufsständische Gedankenreihe, die von der Wirtschaft selbst aus¬
geht. Sie sieht davon ab, nach parlamentarischem Vorbilde unabhängig vom Pro¬
duktionsprozeß für alle Beteiligten erst gleiches Recht zu schaffen, sondern will
vielmehr die Rechte nach der Produktionsleistung abstufen. Das ist an sich schon
eine grundsätzliche Absage an jeden Versuch kapitalistischer Ausbeutung, die nicht
nur durch erfahrungsgemäß leicht zu umgehende Gesetze, sondern durch die Organi¬
sation des Produktionsprozesses selbst von Grund aus verhindert werden soll. Eine
gerechte Anerkennung auch der geringsten körperlichen Leistung wird auf diese Weise
Zweifellos besser gewährleistet. Die Arbeitsleistung bestimmt nun über das ihrem
wahren Werte entsprechende Maß politischer Rechte. Das Vertrauen der Arbeit
selbst wählt die Meister und die Meister treten zusammen und entscheiden. Wie
das im einzelnen möglich und durchführbar ist, darüber sind von vielen Seiten die
weitest durchdachten Vorschläge gemacht worden. Je weniger in ihnen die berufs¬
ständische, vertikale Gedankenreihe durch parlamentarische Horizontalschichtungen
unterbrochen wird, desto sachlicher werden die berufsständischen Körperschaften
urteilen, desto wertvoller werden sie sein.
Der Artikel 165 der Reichsverfassung und der auf ihm aufgebaute vorläufige
Reichsivirtschaftsrat sind der bislang kümmerliche Niederschlag des berufsständischen
Gedankens im amtlichen Deutschland. Die in der Zusammensetzung des letzteren
grundsätzlich durchgeführte Parität läßt deutlich erkennen, wie der berufsständische
Gedanke sich nur mühsam und allmählich neben und durch den parlamentarischen Ge¬
danken zu eignem Leben durchringen kann. Schwere Widerstände sind dabei zu
überwinden. Neben kleinlichen Schikanen, wie bei der Raumfrage für den vor¬
bereitenden Reichswirtschaftsrat, wird als gewichtigstes Argument gegen die praktische
Durchführbarkeit einer berufsständischen Kammer ihre Unfähigkeit zur Behandlung
reinpolitischer und kultureller Fragen zu beweisen versucht. Diese Beweisführung
geht indessen fehl. Kein ernst denkender Vorkämpfer der Kammer der Arbeit will
bestreiten, daß diese neben und zum Schutze ihrer Arbeit anderer staatlicher Faktoren
gar nicht entbehren kann. Hinter solchen Einwänden verbirgt sich daher nur die
Befürchtung, daß das Aufgabengebiet des politischen Parlaments durch Heraus¬
nahme der Wirtschaftsfragen so zusammenschrumpfen wird, daß schließlich an seinen
Ersatz auf anderem Wege gedacht werden könnte. Hinc illas laerima-v!
Innerhalb der Berufsstände selbst macht sich der Widerstand gegen den berufs-
stendischen Gedanken naturgemäß überall dort geltend, wo eine auf der parlamen¬
tarischen Gedankenreihe fußende Organisation vorliegt, wie fast überall in der In¬
dustrie. Hier gruppieren sich die Produktionsfaktoren in die beiden Lager der
Arbeitgeber und Arbeitnehmer; sie haben tatsächlich zur Zeit fast gleichen Einfluß,
womit das industrielle System der Arbeitsgemeinschaften dem Normalparlament ver¬
gleichbar wird. Wesentlich anders liegen die Verhältnisse in der Landwirtschaft.
Der Versuch, sie nach dem Vorbilde der Industrie lediglich in die zwei Gruppen der
Arbeitgeber und Arbeitnehmer einzuteilen, bedeutet eine gewaltsame Verzerrung der
Wirklichkeit. Die bei weitem größte und wichtigste Gruppe sind die im eigenen
Familienbetrieb wirtschaftenden Bauern, die weder Arbeitgeber- noch Arbeitnehmer¬
interessen haben. Für die gesetzliche Behandlung der Landwirtschaft müßte daher
mindestens die Zweiteilung durch eine Dreiteilung in Großbetriebe (bzw. Arbeit¬
geber), bäuerlicher Mittelstand und Arbeitnehmer ersetzt werden, ein Grundsatz,
nach dem bereits alle neueren Entwürfe über landwirtschaftliche Fachvertretungen
verfahren. Daß aber eine Dreiteilung dem Zustandekommen von brauchbaren Kom¬
promissen und daher dem Parlamentarismus überhaupt abträglich ist, beweist die
Geschichte, nicht zuletzt die des deutschen Reichstages und der Regierungsbildung
von 1V20, mit der sich das parlamentarische System erneut selbst abgeführt hat.
Eine parlamentarische Organisation innerhalb des dreigeteilten landwirtschaftlichen
Berufsstandes ist vollends undenkbar. Sie würde die Interessen der Großbetriebe
gegen die der Klein- und Mittelbetriebe auszuspielen versuchen. Aber diese Inter¬
essen sind an sich nicht gegensätzlich. Im allgemeinen ist der größere Betrieb mehr
auf die Getreideerzeugung, der kleinere mehr auf die Viehwirtschaft eingestellt und
beide ergänzen einander wie im organischen Körper Zellen von verschiedener Größe,
Struktur und Bestimmung. Auch die Gegensätzlichkeit zwischen Kapital und Lohn¬
arbeit ist in der Landwirtschaft geringer und kann — aller Tarifhändel ungeachtet
eine allgemeine Übernahme des parlamentarischen Systems nicht rechtfertigen. Die
Gemeinsamkeit aller produktiven Kräfte, und der Interessen von groß und klein,
von Arbeitgebern und Arbeitnehmern hat bis in unsere Zeit hinein den Klassen¬
kampf vom Lande ferngehalten. Wenn er jetzt ausbricht und schwere Opfer fordert,
so ist er von der Stadt aufs Land hinausgetragen worden. Das kann für die
Landwirtschaft nur ein Grund sein, den parlamentarischen Gedanken, soweit er
überhaupt entbehrlich ist, zu verwerfen. Die Reichsarbeitsgemeinschaft landwirt¬
schaftlicher Arbeitgeber und Arbeitnehmer hat diesen Standpunkt selbst insofern
anerkannt, als sie sich für den Gesamtkomplex landwirtschaftlicher Berufsfragen nicht
zuständig erklärte und ihre Tätigkeit auf Tariffragen beschränkte.
Aus der innigen Verknüpfung aller produktiven Faktoren der Landwirtschaft
geht hervor, daß sie berufen und befähigt ist, bei der Abwandlung der parlamen¬
tarischen in die berufsständische Gedankenreihe eine führende Rolle zu spielen.
Befähigt auch insofern, als der Landwirtsbcruf, seiner großen Vielseitigkeit
ungeachtet, einheitlicher und weniger in Einzelberufe untergeteilt ist, als In-
dustrie und Handwerk. Hierzu kommt, daß er durch den Kampf gegen die Zwangs¬
wirtschaft einen Anstoß zu innerer Festigung und zur Vereinheitlichung der Beruss-
vertretung erhielt, wie er wirksamer kaun: gedacht werden kann. Mit der Be¬
hauptung, daß die deutsche Landwirtschaft bereits (oder noch?) berufsständisch
organisiert ist, ist daher kaum zuviel gesagt. Das Bestreben, die Organisation selbst
immer mehr auf parteipolitisch neutralen Boden zu stellen und ihr so den Charakter
einer alle Berufsklassen umfassenden Gewerkschaft zu verleihen, liegt ebenso in der
berufsständischen Gedankenreihe, wie die > allseits geforderte Einführung eines
allgemeinen landwirtschaftlichen Lehrzwanges und die Anerkennung des Grund¬
satzes, daß Landarbeit gelernte Arbeit ist. Je mehr dieser Grundsatz sich durchsetzt,
desto näher wird man dem Ziele kommen, daß der Landwirtsberuf durch seine
Meistsr vertreten wird.
Auf dem Wege zu diesem Ziele hat sich die Landwirtschaft begreiflicherweise
erbitterte Feindschaft zugezogen. „Agrarisch", „altdeutsch" und „konservativ" wurden
in einen Topf geworkcn und mit dem Schmutzkübel der Verleumdung übergössen.
Die Folge hiervon war ständige Vergewaltigung der Landwirtschaft durch die
Nationalversammlung, die sich bei ihrem Verfassungswerk gegen ein Aufkommen des
berufsständischen Gedankens hartnäckig gewehrt hat. Solche Widerstände wollen in
unermüdlicher langjähriger Arbeit gebrochen werden und sind, wie von jedem anderen
Parlament, zweifellos auch von: Reichstag zu erwarten. Das wirksamste Gegen¬
mittel kann daher wohl nur darin gesehen werden, den Reichstag schon in seiner
Zusammensetzung bcrufsständisch zu beeinflussen. Hierauf hatten in Sonderheit
wirtschaftspolitische Organisationen der deutschen Landwirtschaft ihre Wahlarbeit in
der Art eingestellt, daß sie unter der Landbevölkerung für ihre „eigenen", d. i.
berufsständischen Listen warben, die sie „Landlisten" oder „Listen der vereinigten
Landwirte" nannten. Dieses Verfahren hat, wo es zur Anwendung gelangte, durch¬
schlagenden Erfolg gezeitigt und beweist damit in der Wählerschaft u. a. auch eine
gewisse Parteimüdigkeit, die durchaus geeignet ist, dem berufsständischen Gedanken
Schrittmacherdienste zu leisten. Wo dieses Verfahren indessen aus Mangel an
Mitteln oder an Zeit zu seiner organisatorischen Vorbereitung nicht angewandt
werden konnte, trafen die landwirtschaftlichen Körperschaften mit den bürgerlichen
Parteien das Abkommen, daß die Parteien als Gegenwert für die ihnen geleistete
Wahlhilfe auf ihren Listen Landwirten aussichtsreiche Kandidaturen einräumten.
Der Gesamterfolg aller dieser Bestrebungen waren 65 Landwirtsmandate zum
Reichstag gegen 35 in der Nationalversammlung. Dem Vernehmen nach besteht die
Absicht, diese 65 Landwirte in einem Aktionsausschuß zusammenzufassen und für
sie im Reichstage eine „Vcmernkanzlei" einzurichten. Auf diese Weise würde ihnen
auch außerhalb der Parteikonferenzen Gelegenheit zur Aussprache über Berufs¬
fragen gegeben sein, die eine Stärkung des Zusammengehörigkeitsgefühles erhoffen
läßt und auch die in der Opposition stehenden Landwirtschaftsabgeordneten an der
Agrargesetzgebung praktisch beteiligt. Hiermit wäre schon im Reichstag, der
künftigen Mutter der „Kammer der Arbeit", der Keim zu einer berufsständischen
Gruppe gelegt, und es steht zu erwarten, daß die Landwirtschaft bei den Wahlen
zu den Landesparlamenten diesem Vorbilde folgen wird. Sie geht damit den ver¬
fassungsmäßigen Weg einer vertikal gerichteten berufsständischen Durchdringung
unserer bisherigen parlamentarischen Horizontalsch-ichtung.
kund die auswärtige Politik folgt gewissen allgemeinen, wissen¬
schaftlich erforschbaren Grundsätzen. Der Staat ist in seinen
«Entschließungen so wenig frei wie der Einzelmensch; nationale,
«wirtschaftliche, geographische und strategische Rücksichten weisen
>ihm meist mehr oder weniger deutlich den Weg seiner auswärtigen
Politik. An die erste Stelle gerückt ist durch den Weltkrieg und die Friedens¬
schlüsse die ethnographische Frage. Nach der Idee der Entente stauten sollte der
europäische Frieden aufgebaut werden auf dem Nationalitätenprinzip. Bei der
nationalen Zerrissenheit Mittel- und Osteuropas und der Bedeutung, die gerade
hier die wirtschaftlichen Bande zwischen den einzelnen Ländern haben, kann an
der Richtigkeit und Durchführbarkeit dieser Idee gezweifelt werden. Die in den
Pariser Friedensschlüssen umgebildeten und neugeschaffenen Staaten sind
sämtlich wirtschaftliche Krüppel, die zu einem wirtschaftlichen Eigenleben noch
viel weniger befähigt sind als die größeren Staatsgebilde der Vorkriegszeit.
Die Entwicklung geht seit langem auf eine Vergrößerung der zu klein gewordenen
Wirtschaftseinheiten. Die Zollunionen in Italien, Deutschland, Kanada, Austra¬
lien und Südafrika kennzeichnen zuletzt den Weg dieser Entwicklung. Die Zwerg¬
gebilde der Friedensschlüsse stellen demgegenüber jedenfalls einen Rückschritt
dar. Und dies, ohne daß das so laut verkündete Ziel des streng nationalen
Aufbaus Europas auch nur annähernd erreicht wäre. Man kann ohne Über¬
treibung sagen, daß die neue staatliche Einteilung Europas viel größere nationale
Vergewaltigungen enthält als die alte. Für den Frieden Europas ergeben diese
nationalen und wirtschaftlichen Mängel die denkbar schlechtesten Aussichten.
Zu einem Gefahrpunkt erster Ordnung droht der polnische Staat
zu werden, der jedweder Geschlossenheit auf nationalem, wirtschaftlichem und
geographischem Gebiet entbehrt. Bekanntlich sehen die Ententestaaten gerade
in seiner Wiedererrichtung die Wiedergutmachung eines jahrhundertealten
Unrechts. Dabei übersehen sie allerdings mit Absicht, daß das alte Polen nichts
weniger als ein Nationalstaat, sondern ein reiner Territorialstaat war, in dem
eine polnische Minderheit über eine fremdsprachige Mehrheit eine nicht nur in
nationaler Beziehung anfechtbare Gewaltherrschaft ausübte. Im neuen Polen
wird es anscheinend nicht viel anders werden. Die Statistik gibt uns davon
folgendes Bild'):
Vom national-polnischen Standpunkt am günstigsten steht Kongreßpolen,
da, wo von etwa 12 Millionen Einwohner etwas über 9 Millionen Polen sind.
Immerhin finden sich auch hier Minderheiten von über l ^ Million Juden,
V- Million Deutsche, -4 Million Russen und Ukrainer, 55 Million Litauer.
Bekannt ist, daß die Juden in manchen Städten weit über die Hälfte der Be-
völkerung ausmachen, während das flache Land im allgemeinen ziemlich rein
polnische Bevölkerung zeigt. Warschau zählt bei etwa 1 Million Gesamt¬
bevölkerung über 320 000 Juden und 80 000 sonstige Fremdsprachige. In der
zweitgrößten polnischen Stadt Lodz, das nicht ganz 600 000 Einwohner zählt,
bilden Deutsche und Juden die Mehrheit. Im ganzen liegen die Verhältnisse
jedoch so, daß die Polen in allen Teilen des Landes, von dem Nordteil von Su-
walki und den an den Bug grenzenden südöstlichen Landstrichen ab¬
gesehen, eine zwischen 60 und 80 v. H. schwankende Mehrheit bilden (im
Gouvernement Kleine sogar 88 v. H.). Die Minderheiten schwanken danach
zwischen V? und der Bevölkerung; insgesamt machen sie nicht ganz ?4 der
Bevölkerung aus.
Wesentlich ungünstiger für die Polen liegen die Verhältnisse bereits in
Galizien, das bei etwa 8 Millionen Gesamtbevölkerung nur Millionen
Polen, über 3 Millionen Ruthenen, fast 1 Million Juden und 100 000 Deutsche
zählt. Wirklich polnisch ist hier nur Westgalizien bis zum San, wo über 90 v. H.
der Bevölkerung dem polnischen Sprachstamm angehören. Der größere ost-
galizische Teil weist unter seinen 3 ^ Millionen Einwohnern jedoch nur etwa
2 Millionen Polen auf. Lemberg und einige andere Städte sind polnische
Sprachinseln im ruthenischen Gebiet, wo das polnische Element überall in
der Minderheit ist.
Schwerer lassen sich die Zahlen für die preußischen Teilgebiete feststellen.
Wenn wir die Ergebnisse der Volkszählung von 1910 zugrunde legen, so ergibt
sich für den abgetretenen Teil des Regierungsbezirks Posen ein Zahlenverhältnis
von etwa 850 000 Polen zu 318 000 Deutschen, für den abgetretenen Teil von
Bromberg 360 000 Polen zu 343 000 Deutschen, im Regierungsbezirk
Marienwerder 360 000 Polen zu 393 000 Deutschen und in den Teilen des
ehemaligen Regierungsbezirks Danzig 193 000 Polen zu 126 000 Deutschen,
wenn wir zugunsten der Polen ihnen die Kassuben, welche sprachlich eigentlich
den Wenden näher stehen, zurechnen. Von den abgetretenen Gebieten hatten
fast rein deutschen Charakter namentlich die Städte Bromberg mit nur 18,9 v. H.
Polnischer Bevölkerung und Graudenz mit 13 v. H. Polen; auch die Landkreise
beider Städte hatten über 60 v. H. deutsche Bevölkerung. Deutsche Mehrheiten
hatten ferner namentlich noch die Städte Thorn und Kolmar. Von einer pol¬
nischen Mehrheit in Westpreußen konnte keine Rede sein, wie denn z. B. auch
Wilson in seinem Werke vom Staats anerkennt, daß sich Friedrich der Große
bei den im übrigen von Wilson verurteilten polnischen Teilungen nur „bereits
gänzlich germanisierte Gebiete" angeeignet hat. Wieweit sich die Verhältnisse
seitdem verschoben haben, ist zahlenmäßig nicht feststellbar. Zweifellos ist der
deutsche Bevölkerungsbestandteil, namentlich in den Städten, durch die Ab¬
wanderung Deutscher und die Zuwanderung von Polen prozentual bedeutend
schlechter gestellt worden; soweit er jedoch auf dem Lande bodenansässig ist,
dürfte die Abwanderung sich in geringeren Grenzen gehalten haben. Selbst bei
einem Abzug von etwa 200 000 Deutschen würde ihre Zahl in den preußischen
Teilgebieten immer noch an 1 Million betragen.
Noch ungünstiger wird das Ergebnis, wenn wir die weiteren Gebiete
hinzurechnen, die der polnische Imperialismus zweifellos begehrt. Da sind
zunächst die Abstimmungsgebiete. Westpreußen und Ostpreußen haben sich bereits
für Deutschland entschieden. Diese beiden Abstimmungsgebiete können daher
außer Betracht bleiben. Anders ist es in Oberschlesien. Da jedoch dort der
Abstimmungstermin noch in weiter Ferne liegt, die Abstimmung selbst auch nicht
allein von nationalen Gesichtspunkten beherrscht sein dürfte, so mag auch dieser
mögliche Gebietszuwachs für Polen außer Betracht bleiben, Auf jeden Fall
würde der Erwerb irgendwelchen deutschen Abstimmungsgebietes das Zahlen¬
verhältnis von Polen zu NichtPolen im polnischen Staat nur verschlechtern,
da in jedem einzelnen Fall auf dem fraglichen Gebiet mindestens 40 v. H. deutsche
Bevölkerung mit übernommen werden müßte. Dagegen wird Polen ziemlich
sicher auf die Angliederung eines Teiles von Osterreichisch-Schlesien rechnen
können. In der Bezirkshauptmannschaft Teschen stehen 233 850 Polen nur
115 604 Tschechen und 76 916 Deutsche gegenüber.
Aktuell ist zur Zeit die Frage, welche Gebiete im Osten noch zum pol¬
nischen Staate gehören werden. Das von manchen polnischen Imperialisten
verfolgte Ziel, die Grenze von 1772, was gleichbedeutend mit dem Erwerb
von Litauen, ganz Weißrußland, Kurland, Livland, Wolhynien, Podolien,
Podlesien und weiteren Teilen der Ukraine bis nach Kiew wäre, wird ja wohl
sicher nicht erreicht werden. Es würde den polnischen Volksstamm in eine
Minderheit von 35—40 v. H. gegenüber einer fremdsprachigen Mehrheit
bringen und wird nach offiziellen Ententeerklärungen auch dort nicht gebilligt.
Mit dem Erwerb gewisser Teile dieser Gebiete muß jedoch gerechnet
werden. Wo die endgültige Grenze gezogen wird, wird wohl erst der
Ausgang des augenblicklichen polnisch-russischen Krieges entscheiden. Daß
Polen mit dem Erwerb solcher Gebiete rechnet, folgt z. B. aus dem polnischen
Staatsangehörigkeitsgesetz vom 20. Januar 1920, das bereits von den ehemals
russischen Gebieten außerhalb von Kongreßpolen spricht, die zum polnischen
Staat kommen. In Betracht kommen zunächst Teile des Gouvernements
Grodno. Daß es ganz an Polen fällt, erscheint unwahrscheinlich, da damit dem
litauischen Staate ein großer Teil seines Gebietes und seiner Bevölkerung
genommen wäre. Der Prozentsatz polnischer Bevölkerung betrügt für das
ganze Gouvernement Grodno berechnet auch nur 16 v. H. von annähernd
2 Millionen Einwohnern, würde also dem polnischen Staate neben V» Million
Polen auch iVg Million NichtPolen bringen. In gewissen an Polen grenzenden
Kreisen ist der Prozentsatz der Polen jedoch größer, und diese werden schon
jetzt von den Polen als ihr Eigentum betrachtet. Entscheiden wird darüber
der russische Sieger mit oder ohne Einverständnis der Entente. Es sind dies die
Kreise von Bialystok, Bielsk und Sokolsk, wo das Zahlenverhältnis sich
folgendermaßen gestaltet:
Die Polen haben also in keinem Kreise die Mehrheit, trotzdem werden
sie ihnen von anderen Staaten kaum streitig gemacht werden, da sich die Minder¬
heit aus Weißrussen, Litauern und Juden zusammensetzt und kein Volksstamm
die absolute Mehrheit besitzt. Dagegen würden sie im Kreise von Grodno, wo
von 243 700 Einwohnern 38 261 oder 13,7 v. H. Polen sind, auf den entschiedenen
Widerstand der Litauer stoßen, die auf diese Stadt auf keinen Fall verzichten
wollen. Ebenso steht es im Gouvernement Wilna, wo von 2 Millionen Ein¬
wohnern zwar 500 000 Polen sind, auf das der litauische Staat jedoch auf
keinen Fall verzichten kann, ohne sich selbst aufzugeben. Auch weiter östlich
finden sich noch Polen, so im Gouvernement Mohilew an 60 000 und im
Gouvernement Witesbk über 150 000, jedoch ist der Prozentsatz so gering (2,7
und 8,6 v. H.), daß ernsthafte Ansprüche auf diese Gebiete kaum in Frage
kommen können.
Dagegen wird Polen solche voraussichtlich an seiner Südostgrenze er¬
heben und gegenüber der ohnmächtigen Ukraine wohl auch z. T. durchdrücken
können. Es handelt sich hier zunächst um Wolhynien, das bei etwa 4 Millionen
Einwohnern an 400 000 Polen zählt, weiter vielleicht noch um Podolien, wo
von 3,8 Millionen Einwohnern noch etwa 330 000 polnisch sein sollen. Weiter
östlich werden die Wünsche der Polen kaum gehen können. Das Gouvernement
Kiew zählt zwar über 140 000 Polen, doch macht dies nur 3 v. H. der Be¬
völkerung aus.
Fügen wir diese Zahlen den oben festgestellten Ergebnissen hinzu, so ergibt
sich in Prozenten:
Jeder Schritt weiter nach Osten muß die noch vorhandene polnische
Mehrheit unfehlbar in eine Minderheit verwandeln. Auch im national günstigsten
Falle wird der polnische Staat nicht '/g Polen unter seiner Bevölkerung zählen.
Nimmt man an, daß er etwa außer aus Kongreßpolen, Galizien und Deutsch¬
polen aus Teschen, Bialystok, Bielsk und Sololsr und Teilen von Wolhynien
bestehen wird, so wird die polnische Bevölkerung nur rund 60 v. H. ausmachen
und einer fremdsprachigen Minderheit von 40 v.- H. gegenüberstehen. Je
stärker der polnische Staat entsprechend dem Wunsche polnischer und franzö-
fischer Imperialisten in territorialer Beziehung wird, um so ungünstiger ge¬
stalten sich die nationalen Verhältnisse.
Ich weiß Nicht, ob diese Zahlen und ihre Bedeutung den Staatsmännern
der Entente wirklich voll zum Bewußtsein gekommen sind. Jedenfalls muß ein
solcher Staat, auf dessen Gebiet jeder der Nachbarn — Deutschland, Litauen,
Rußland, Ukraine — nach dem Kjellenschen Ausdruck eine „Hypothek" zu haben
glaubt, den größten außen- und innerpolitischen Schwierigkeiten entgegengehen.
Bern, den 2. Januar 1917
Ich habe Gelegenheit gehabt, mich über den Eindruck zu informieren, den
man in neutralen diplomatischen Kreisen von der Note der Entente hat. Es
scheint, daß das neutrale Ausland sich über die Vergeblichkeit des deutschen
Schrittes keine besonderen Illusionen gemacht hatte, daß man aber über die
Schroffheit des Tones der Note immerhin erstaunt ist. Man sieht mit begreif¬
licher Spannung der Antwort entgegen, die Wilson aus Paris erhalten werde.
Es fehlt selbstverständlich an jedem Anhaltspunkt dafür, wie sie gehalten sein
wird, doch wiegt die Befürchtung vor, daß sie, wenn auch in höflicher Form, eine
Ablehnung darstellen wird.
Ich bin in diesem Zusammenhang der Auffassung begegnet, daß Deutschland
mit Herrn v. Bethmann-Hollweg schwer zum Frieden gelangen wird, da seine
Stellung durch die Ereignisse der Tage vom 23. Juli bis etwa 5. August 1914
eine zu schwierige und belastete sei. Die brüske Art, mit der die Note der
Entente seine Äußerungen zur Verletzung der belgischen Neutralität und zur
Bedeutung internationaler Verträge (ebilkon as papier, Unterredung mit Goschen)
festnagle, lasse es als unwahrscheinlich erscheinen, daß Herr v. Bethmann-Hollweg
bei einer neuen Aktion mehr Glück haben werde. Die Staatsmänner Englands,
Rußlands, Italiens, Frankreichs und Österreich-Ungarns, die in den Tagen des
Ausbruchs des Krieges im Amt gestanden, seien sämtlich inzwischen durch neue
ersetzt worden, und die Beharrlichkeit, mit der der deutsche Kanzler, aller in seiner
Person liegenden Hindemisse ungeachtet, der Welt den Frieden geben zu können
glaube
Bern, den 3. Januar 1917
(Telegramm.) Ich erfahre verlässig: Nach dem ursprünglichen Entwurf
Briands sollten in die Note der Entente außer Belgien auch das serbische,
montenegrinische, polnische und rumänische Problem einbezogen werden. Da jedoch
Rußland außerdem die Erwähnung von Konstantinopel, und Italien jene der
„unerlösten Gebiete" beansprucht habe, wodurch die Note einen ihre Wirkung
gefährdenden Umfang erhalten hätte, ist man nach längerem Meinungsaustausch
dazu gekommen, lediglich Belgien, und zwar mit besonderer Betonung, zu benennen.
Hierfür ist in erster Linie der Wunsch Londons maßgebend gewesen, das erklärt
hat, auf feierlicher Erwähnung Belgiens bestehen zu müssen, nachdem England
ausschließlich wegen der Verletzung der belgischen Neutralität in den Konflikt
eingetreten sei. Hierzu trat weiter die Erwägung, daß man Deutschland mit der
Heraushebung Belgiens am ehesten die Türe für weitere Wiederanknüpfungen
verschließen werde, da die erst jüngst in Äußerungen deutscher Parlamentarier
über das belgische Problem zutage getretenen Meinungsverschiedenheiten es der
deutschen Regierung unmöglich machen würden, hinsichtlich Belgiens eine öffentliche
klare Antwort zu geben. Endlich war man überzeugt, daß eine Vorzugsbehand¬
lung Belgiens durch die Note auf die Neutralen eine günstige Wirkung äußern
werde. Wie mein Gewährsmann weiter bemerkt, seien auch hinsichtlich des Tones
der Note erhebliche Schwierigkeiten zu überwinden gewesen. Rußland habe eine
scharfe Polemik gegen den deutschen Kanzler verlangt, gegen den man in Peters¬
burg besonders gereizt sei, Italien seinerseits eine energische Betonung des uner¬
schütterlichen Durchhaltens bis zur Verwirklichung aller gemeinsamen Kriegsziele
gewünscht. Schließlich sei jedoch die von mehr nüchternen Gesichtspunkten diktierte
Redaktion Briands durchgedrungen.
Bern, den 8. Januar 1917.
Daß Rußland rücksichtlich der Redaktion der Ententeantwort für eine
schärfere Tonart war, ist mir inzwischen auch von anderer, neutraler Seite bestätigt
worden. Die Proklamation des Königreichs Polen hat in Rußland sehr böses
Blut gemacht und besonders den Zaren erbittert. Wenn man jetzt rückschauend
die Ereignisse würdigt, so kann man die Frage begreifen, die derzeit in Kreisen
der neutralen Diplomaten erörtert wird und die dahin geht, wie man in Wien
und Berlin habe daran denken können, daß Rußland, nachdem es von den
Zentralmächten am 5. November durch die Emanzipation Polens einen Rippen¬
stoß derbster Sorte erhalten hatte, im Rate der Entente sich anders als in
scharfer Opposition zu etwaigen Tendenzen der Nachgiebigkeit stellen werde.
Die Lage stellt sich an Hand der Kundgebungen der Staatsmänner und der
Presse der Entente im Zusammenhalt mit den Äußerungen neutraler Diplomaten
in Kürze dahin dar, daß in Frankreich ein geradezu diabolischer Haß, in England
unerschütterliche geschäftliche Ruhe und Berechnung und in Rußland persönliche
Erbitterung der maßgebenden Kreise die Entente zu neuer Stoßkraft zusammen¬
geschweißt haben und daß dieser Prozeß durch die Friedensaktion vom
12. Dezember 1916 in unerwarteter Weise gefördert worden ist.
Was allerdings Rußland anlangt, so bildet die Anlage eine erwünschte
Bestätigung anderweitiger, aus dem Auslande nach der Schweiz gelangender
Meldungen, nach denen die inneren Verhältnisse Rußlands sich tatsächlich sehr
zuspitzen, sodaß immerhin einige Aussicht besteht, daß die Wirkung der Kampfer¬
spritze, die die Zentralmächte mit ihrer unglückseligen polnischen Proklamation
vom 5. November Nußland gegeben haben, nicht allzu lange dauern wird.
Bern, den 13. Januar 1917.
Der österreichisch-ungarische Botschafter Fürst sah. steht sichtlich unter dem
Eindruck, daß die heute morgen veröffentlichte Antwortnote der Entente an Wilson
die Brücken für weitere Verhandlungen zwischen den beiden kriegführenden Mächte¬
gruppen abgebrochen hat. Er hatte bereits gestern sich Über die Grundlinien der
Note informieren können und beklagte die Publizität, die die ganze Friedens¬
aktion nunmehr erhalten habe und die einer den üblichen'Traditionen entsprechenden
diplomatischen Anknüpfung den Weg nicht gerade erleichtert habe. Ich hörte
weiter aus seinen Äußerungen eine gewisse Besorgnis über die scharfe Tonart
heraus, die die rechtsstehenden politischen Kreise in Deutschland neuerdings an¬
schlugen und die mehr oder minder auf Zunahme des Annexionismus in
Deutschland schließen ließe. Es ist dies eine Strömung, für die die maßgebenden
Kreise Wiens nicht sehr viel übrig haben, was mir auch wiederholte Äußerungen
von anderer österreichischer Seite bestätigt haben.
Auch hinsichtlich der polnischen Frage sprach sich der Botschafter sehr
sorgenvoll aus. Er hat sich seinerzeit in einem von ihm einverlangten Memorandum
gegen die Proklamation vom 5. November ausgesprochen und beruft sich nunmehr
darauf, daß die von den Militärs erhoffte Wirkung, nämlich die Gewinnung eines
starken freiwilligen Heeres, nicht errreicht worden sei.. Auf der anderen Seite
habe die Proklamation Rußland vollständig verprellt und Rußland sei nunmehr
innerhalb der Entente das tonangebende Element geworden, wenn es sich darum
handle, die Verbündeten bei der Stange zu halten.
Die gleiche Anschauung hat Graf L., dem ich heute einen längeren Besuch
abstattete. Er hat sich heute ausführlich über diesen Punkt ausgesprochen und das
Ergebnis aller ihm gewordenen Eindrücke und Informationen dahin zusammen¬
gefaßt, daß der Zar sich persönlich durch die polnische Sache engagiert fühle und
in einer geradezu rabiater Stimmung gegen Deutschland und Osterreich sei.
Zürich, den 19. Januar 1917
Wie ein roter Faden zieht sich durch die mir zugekommenen Informationen
über die Konferenz von Rom der Eindruck der Brutalität, den das Auftreten von
Herrn Lloyd George auf alle Teilnehmer an den Verhandlungen gemacht hat.
Llohd George scheute sich nicht, selbst Herrn Briand über den Mund zu fahren,
hat sich aber diesen eitlen Mann dadurch gänzlich attachiert, daß er ihm die
Redaktion der letzten großen Note der Entente an Wilson und ihre feierliche
Übermittlung an den amerikanischen Botschafter übertrug und dadurch sein
staatsmännisches Prestige in den Augen Frankreichs hob. Die Vorzugs¬
stellung, die Llohd George Herrn Briand einräumte, schmeichelt, wie mein
Gewährsmann betonte, dem französischen Nationalgefühl in außerordentlicher
Weise, und es sei ein Beweis der überlegenen staatsmännischen Klugheit des
leitenden englischen Staatsmannes, daß er, um Herrn Briand hinter den Kulissen
um so sicherer an die Leine zu bekommen, ihn in der Öffentlichkeit als den
xrimus inter xarss agieren ließe. Sonnino hat sich nach dem übereinstimmenden
Urteil aller im Lichte einer unbestreitbaren staatsmännischen Überlegenheit gezeigt,
da er mit ebenso ernsten wie nüchternen Worten für die Aufstellung des Minimums
eingetreten sei. Seine Stimme, und damit die der Vernunft, sei angesichts der
Gewalttätigkeit von Lloyd George nicht gehört worden. Lloyd George habe
erklärt, man müsse der deutschen Regierung gegenüber, die auf Frieden brenne,
durch die Antwort an Wilson nicht nur die Tür schließen, sondern auch das
Schlüsselloch verstopfen, da man von Berlin aus unfehlbar bei der kleinsten
Stelle einhaken würde, die als Möglichkeit einer Friedensanknüpfung gedeutet
werden könne.
Luzern, den 24. Januar 1917.
Wie Euer Exzellenz meinem Telegramm vom 22. d. M. bereits entnommen
haben, ist man in Kreisen der Entente felsenfest davon überzeugt, daß wir wirt¬
schaftlich nicht durchhalten können und daß die Ernährung der Bevölkerung bei
den Zentralmächten ab März, spätestens April unübersteiglichen Schwierigkeiten
begegnen werde. In Paris liegen als sicher erachtete Nachrichten vor, daß die
Lebensmittelversorgung Deutschlands im Frühjahr unübersteiglichen Schwierig¬
keiten begegnen werde, die durch zunehmendes Insistieren Österreichs um Getreide
und andere Nahrungsstoffe erheblich vermehrt würden. Österreichs Versorgung
werde besonders durch schroffen Egoismus Ungarns erschwert. Es sind, wie mein
mehrfach erwähnter neutraler Kollege mir eingehend auseinandersetzte, Convois
in Aussicht genommen, mächtige Flotten von Transportschiffen, die von der
amerikanischen und englischen Flotte eskortiert würden. Ob und inwieweit unsere
Unterseeboote imstande sind, den Kampf mit einer ganzen Flotte aufzunehmen,
die durch alle Mittel der Technik geschützt werden, ihren gesamten Beobachtungs¬
und AbWehrdienst konzentrieren und rücksichtslos ihr Ziel zu erreichen trachten
wird, kann vom Nichtfachmann nicht beurteilt werden. Wenn unsere Informationen
richtig sind, so würden das erste Angriffsobjekt unserer Unterseeboote die großen
Getreidetransporte sein, die sich derzeit auf dem Weg nach Gibraltar befinden
und für Italien bestimmt sind, dessen Getreidevorräte etwa Mitte Februar
erschöpft sein werden. Sicher ist, daß der Unterseebootkrieg die Versorgung der
Ententeländer außerordentlich erschweren und die Kriegsmüdigkeit der in Betracht
kommenden Bevölkerung erheblich steigern wird. Von ausschlaggebender Bedeutung
wird sein, wie die neutralen Staaten sich im Falle einer Kriegserklärung an uns
Verhalten.
Ganz besonders müssen wir alles vermeiden, was die an sich gute, aber
immerhin schon öfters gegen uns aufgeregte Stimmung der Schweiz unnütz
beschwören kann. Das Einfuhrverbot, das Deutschland dieser Tage mit unnötiger
Brutalität erlassen hat, ohne den Bundesrat auch nur in Kenntnis zu setzen, ist
nicht in der Linie einer solchen Politik. Wie der Abgeordnete Müller mir erzählte,
hat der Herr Reichskanzler ihm letzthin persönlich zugesichert, daß gegenüber der
Schweiz in Zukunft alle nur erdenkbaren Rücksichten geübt werden sollten. Wie
sich der neueste Schritt Deutschlands mit dieser Zusicherung vereinbaren läßt, ist
schwer einzusehen. Die Einheitlichkeit der Geschäftsführung in Berlin scheint
keine allzu große, wenn eine derartige, den Intentionen des Verantwortlicher
Leiters unserer Politik direkt widerstrebende Aktion gemacht werden kann. Wir
Werden viele Mühe haben, die Sache wieder einzulenken, nachdem sogar der
heutige „Bund" von „Schroffheit" des Vorgehens spricht. Wir haben nicht mehr
viele Freundschaften zu verlieren, und es ist unbegreiflich, wie man in diesen
Tagen eines vielleicht herannahenden großen Sturmes die Schweiz, die sich immer
außerordentlich anständig gegen uns benommen hat, verprellen kann. Diese
Methoden erzeugen gegen uns einen Haß im Auslande, von dem man sich zu
Hause keinen Begriff macht, den aber der deutsche Kaufmann und Ingenieur wird
büßen müssen, wenn er nach dem Krieg wieder seine Geschäftsbeziehungen an¬
knüpfen will und muß.
Zürich, den 2. Februar 1917.
Rücksichtlich des Unterseebootkrieges sind die Würfel nunmehr gefallen.
Ich habe im Bericht vom 19. November 1916 darauf hingewiesen, daß diese
deutsche Maßnahme zunächst lediglich die Wirkung haben wird, den Kampfgeist
in England zu höchster Entschlossenheit aufzupeitschen. Die kommenden Monate
werden lehren, ob diese Aufrüttelung der nationalen Instinkte des englischen
Volkes den Krieg in das Jahr 1918 hinaus verlängern wird, wie Kenner Eng¬
lands und der englischen Psyche annehmen, oder ob die Wirkungen unserer
Unterseebootaktion tatsächlich derartige sein werden, daß sie den Krieg ver¬
kürzen, wie man in Deutschland glaubt.
Luzern, den 10. Februar 1917
Aus Wien habe ich von vier voneinander völlig unabhängigen, im
allgemeinen aber ausgezeichnet unterrichteten Quellen gehört und durch die Mit¬
teilungen des Mons. G. bestätigt erhalten, daß das junge Kaiserpaar auf
Frieden brennt und daß dies der Entente nicht ganz unbekannt geblieben ist.
Wenn ich mir erlaubte, im Zusammenhang mit dieser rein politischen Frage die
hohe Frau zu erwähnen, so geschah dies, weil nach den übereinstimmenden
Äußerungen aller, die dem jungen Kaiser und seiner Gemahlin näherstehen, die
Kaiserin gerade in solchen Fragen einen starken Einfluß zu haben und außerdem
bestrebt scheint, ihn zu vermehren. Selbstverständlich soll mit dieser Meldung
kein Zweifel an der Loyalität der österreichisch-ungarischen Politik ausgesprochen
werden, aber es scheint mir immerhin veranlaßt, daß die deutsche Botschaft in
Wien sehr hellhörig bleibt und mit den geistlichen Elementen, die zur Einflu߬
sphäre der Kaiserin gehören, gute Verbindungen unterhält. Dies scheint nun
leider nicht der Fall zu sein, vielmehr hat der neue Botschafter, Graf Wedel,
bereits überall den Eindruck zu erwecken verstanden, daß er sich nicht nur als
Vertreter des deutschen Kaisers, sondern auch sehr als Protestant fühlt, eine Ein¬
führung, die in Wien nicht gerade eine sehr glückliche genannt werden kann. Daß
die ganze Botschaft in Wien mit protestantischen Herren besetzt ist, ist ferner auch
gerade kein Zeichen von Umsicht. Was bei englischen Diplomaten, die ihr
protestantisches Kirchentum nicht als Exportartikel betrachten, gänzlich gleichgültig
ist, sällt bei einer großen Zahl unserer Reichsdiplomaten sehr ins Gewicht. Es
ist dies ein Punkt, über den der in diesen Fragen an sich gänzlich oesinteressierte
Abgeordnete M. einmal eine ausführliche Borstellung nach Berlin hat gelangen
lassen. Ich glaube aber nicht, daß er damit einen großen Effekt erzielt hat.
Sicher ist aber, daß man noch nicht konfessionell engherzig zu sein braucht, wenn
man findet, daß für Wien, das Zentrum eines katholischen Staates, in dem die
Geistlichkeit einen gewissen Einfluß hat, eine ausgerechnet mit lauter Protestanten
besetzte Botschaft nicht gerade den wünschenswerten Zustund darstellt.
Lugano, den 17. Februar 1917.
Ich darf vertraulich melden, daß ich neulich Gelegenheit hatte, mich über
die in engstem Kreise ausgesprochene Hausmeinung eines angesehenen öster¬
reichisch-ungarischen Diplomaten zur Lage der Donaumonarchie zu informieren.
Die Anschauung dieses Herrn stellt die formelle Bekräftigung der uns auch
schon von anderer Seite zugegangenen Nachricht dar, daß das junge Kaiserpaar
den Frieden geradezu ersehnt und daß bis in diese allerhöchsten Sphären hinauf
der Gedanke mehr und mehr Platz greift: „Wir, Österreich-Ungarn, sind bereit,
Opfer zu bringen, um den Frieden zu ermöglichen: es müssen aber auch die
anderen, die Deutschen, Opfer bringen", wobei unverhohlen Elsaß-Lothringen
genannt wird.
Diese Stimmungsberichte mehren sich in zu auffälliger Weise, als daß
man achtlos an ihnen vorübergehen dürfte.
Die weitere Entwicklung unseres Verhältnisses zu Amerika wird in politi¬
schen und diplomatischen Kreisen von Bern, von wo ich komme, ziemlich pessimi¬
stisch beurteilt, wobei nicht verhehlt wird, daß unser verunglückter Versuch,
hintenherum wieder anzubandeln, nicht gerade den Anschein von Stärke er¬
weckt hat. Was helfen Deutschland alle Opfer, was alle Leistungen unserer
Armee, was alle Wundertäter unserer Marine, wenn unser politisches Prestige
derart verkrümelt wird. Daß der Gesandte der Eidgenossenschaft in Washington
auf eigene Faust den vsus <zx laaekina habe spielen und die Vermittlung zwischen
vor dem Kriege stehenden Großmächten habe in die Hand nehmen wollen, das
glaubt im Auslande, auf dessen Urteil in Prestigefragen es schließlich doch auch
ankommt, niemand und auch in Deutschland nur der durch weitere Nachrichten
nicht beschwerte Spießbürger.
Zürich, den 23. Februar 1917
Die Euer Exzellenz in meinem gehorsamsten Bericht vom 15. Januar 1917
unterbreitete Meldung, daß in politischen Kreisen Beruf das voraussichtliche
Ergebnis der englischen Anleihe auf 50 Milliarden Franken geschätzt wird, hat
durch das inzwischen bekanntgegebene Resultat der Anleihe ihre volle Bestätigung
gefunden. Diese an sich gewaltige Leistung hat jedoch in Paris immerhin eine
gewisse Enttäuschung hervorgerufen. Die bisherigen Äußerungen der Presse
lassen erkennen, daß man in den Kreisen der Hochfinanz mehr Neugeld und
Weniger Konversionstitel erwartet hatte. Immerhin bleibt bestehen, daß das
englische Volk binnen vier Wochen 50 Milliarden Franken aus den Taschen
gezogen hat, eine Tatsache, die der Prophetengabe deutscher Finanzautoritäten,
die im Jahre 1915 unwidersprochen für den Sommer 1916 den finanziellen und
wirtschaftlichen Zusammenbruch Englands proklamierten, ein nicht gerade glänzendes
Z
Luzern, den 20. März 1917
Ober die politische Gesamtlage ist in diesen Tagen sich überstürzender
Ereignisse nichts zu melden, was nicht aus den Mitteilungen der Presse ersichtlich
Wäre. Von Wichtigkeit ist lediglich, daß sich neuerlich jene Stimmen mehren, die
über eine zunehmende Kriegsmüdigkeit in Österreich-Ungarn zu berichten wissen.
Ich habe dieser Tage jemand gesehen, der kürzlich im Auftrag der deutschen
Heeresleitung in Innsbruck beim dortigen Oberkommando gewesen ist und bei
dieser Gelegenheit nicht nur Offiziere, sondern auch Parlamentarier gesehen hat.
Nach den Mitteilungen meines Gewährsmannes ist die Unlust am Kriege in
Österreich-Ungarn eine allgemeine, die Bereitwilligkeit, auch unter Preisgabe von
Territorium zu Ende zu kommen, eine zunehmende. Was ich Eurer Exzellenz in
dieser Hinsicht jüngst von der Stimmung in der Hofburg berichten durste, findet
durch die Mitteilungen meines Vertrauensmannes. auch hinsichtlich politischer und
parlamentarischer Kreise seine Bestätigung, wobei allerdings nicht übersehen werden
darf, daß die parlamentarischen Kreise sich auf vorläufig noch unbestimmbare Zeit
auf ausschließlich private und individuelle Meinungsäußerungen beschränkt sehen,
ein Zustand, mit dem Osterreich in der ganzen Welt allein steht. Die Dreistig¬
keit, die das ungarische Parlament von Zeit zu Zeit bekundet, vermag über diese
jammervollen Verhältnisse nicht hinwegzutäuschen.
! er Reichsnnnister für Ernährung und Landwirtschaft, Dr. Hermes,
^berichtete gelegentlich der Spaadebatte im Reichswirtschaftsrat,
Idaß augenblicklich in seinem Ministerium ein einheitlicher Plan
für die Ernährungswirtschaft des nächsten Jahres mit dem
besonderen Ziel eines klaren, konkreten Einfuhrprogramms aus¬
gearbeitet werde. Es wird sich also die öffentliche Diskusston noch recht aus¬
giebig mit dem Ernährungsproblem zu beschäftigen haben. Am 5. Juli hatte
bereits der Reichstag in der Debatte über die Brotversorgung im rheinisch¬
westfälischen Industriegebiet und die fortgesetzte Steigerung der Lebensmittelpreise
den einzelnen Parteien Gelegenheit geboten, das Ernährungsproblem von den
verschiedenartigen politischen Gesichtspunkten aus zu beleuchten. Ein gewisses
Streben nach sachlicher Behandlung war nicht zu verkennen. Diese wichtigste
Wirtschaftsfrage muß aus der Verflechtung in Parteiprogramme und partikularistische
Agitation herausgelöst werden. Es soll hier nicht der Versuch gemacht werden,
noch ein weiteres neues Agrarprogramm aufzustellen, sondern im Sinne der Aus¬
führungen des Staatsministers von Schorlemer, Präsidenten des Deutschen Land¬
wirtschaftsrats, die er am 24. Juli d. I. im Neichswirtschaftsrat gegeben hat,
die sachlichen Grundlagen des Ernährungsproblems darzustellen. Bei der Fülle
des Stoffs kann es sich naturgemäß nur um die Herausarbeitung der wichtigsten
Zusammenhänge handeln.
In Friedenszeiten konnte die deutsche Landwirtschaft aus eigenen Erzeugnissen
90 v. H. des Bedarfs an pflanzlichen Nahrungsstoffen decken. Deutschlands
Kartoffelproduktion war die größte von allen Ländern, und sein Zuckerrüben¬
anbau gestattete einen erheblichen Zuckerexport. Nur an Futtermitteln war ein
großer Fehlbedarf. Die Einfuhr betrug etwa eine Milliarde Mark. Ein Drittel
der Fleischerzeugung und die Hälfte der Milch stammte direkt oder indirekt, durch
Umsetzung von fett- und eiweißhaltigen Futtermitteln in inländische Fleisch- und
Milchprodukte, aus dem Ausland. Dazu kam die Einfuhr von Chilesalpeter und
Phosphorsäure. Im ganzen wurden nach Friedenswährung für zwei Milliarden
Mark Nährwerte bzw. Produktionsmittel zur Steigerung der landwirtschaftlichen
Erzeugung der deutschen Volkswirtschaft zugeführt.
Zur Vorbereitung der Verhandlungen in Spaa sind neue Zahlen zusammen¬
gestellt worden, die ein ungefähres Bild der augenblicklichen Ernährungslage geben
können. Die landwirtschaftlich nutzbare Fläche ist durch Abtretungen um 13,5 v. H.
vermindert. (Die abgetretenen Gebiete waren ausgesprochene Überschußgebiete,
lieferten etwa Vio des Bedarfs an Brodgetreide und deckten zum größten Teil
den süd- und westdeutschen Bedarf an Saatgut. Daneben lieferten sie noch
1917/18 über 100 000 Tonnen Zucker.)
Der Ertrag an Brodgetreide betrug im letzten Erntejahr 40 v. H., an
Kartoffeln 50 v. H., an Rohzucker 60 v. H. des Friedensstandes, wofür einer der
Gründe die geringe Zufuhr an Düngemitteln war. Nur 35 v. H. der friedens¬
üblichen Stickstoffmenge konnte dem Boden zugeführt werden. Infolge der
Abtretung von Erzgruben verloren wir 600 000 Tonnen Thomasphosphatmehl,
so daß im Jahre 1919 nur Vs des Friedensbedarfs an Phosphorsäure und nur
an Stickstoff vorhanden war. Die Einfuhr an Kraftfutter sank bis auf Vio
des Friedensbedarfs. Dieser Rückgang bedeutete vor allem einen Verlust von
etwa 15,4 Milliarden Liter Milch. Man hat in Friedenszeiten auf den Kopf
der Bevölkerung rund 2900 Kalorien gerechnet. Hiervon kann unter den augen¬
blicklichen Verhältnissen die deutsche Landwirtschaft hoch gerechnet 1650 Kalorien
liefern. Erforderlich war deshalb ein Zuschuß von 9 Millionen Tonnen Nahrungs¬
und Futtermitteln, zu deren Beschaffung das Reich von Juli 1919 bis Juni 1920
fast 10 Milliarden zuschießen mußte.
Staatsminister von Schorlemer hat in seiner bereits erwähnten Rede darauf
hingewiesen, daß selbst bei geordneten Verhältnissen die Ernährung des deutschen
Volkes in den nächsten Jahren nicht so schnell wieder gebessert werden kann, daß
berechtigte Klagen in dieser Beziehung nicht mehr erhoben werden könnten/ denn
die Lebensmittelversorgung Deutschlands ist kein inländisches, sondern ein europäisches
Problem. Wir haben in den Jahren 1905—10 durchschnittlich auf dem Weltmarkt
18 Millionen Tonnen Brodgetreide gehandelt, davon 17 Millionen Tonnen Weizen.
Davon sind unter anderem von Rußland 4-/2 Millionen Tonnen geliefert worden,
von Rumänien IV- Millionen, von Bulgarien Million. 34 v. H. des Welt¬
bedarfs stammte also aus Ländern, die augenblicklich infolge stark verminderten
Anbaus, was besonders Rußland angeht, als Überschußgebiete sehr viel weniger
^ Frage kommen. Wie aus den Allgemeinen Wochenberichten der Preisbericht¬
stelle des deutschen Landwirtschaftsrats hervorgeht, wird Nordamerika und Kanada,
ebenso Argentinien einen bedeutenden Weizenüberschuß liefern können. Wie weit
aber diese Überschüsse der europäischen Wirtschaft zugeführt werden, ist zum Teil
eine Verkehrsfrage. In dem besten nordamerikanischen Weizengebiet, in Kansas,
liegen noch heute die Ernteüberschüsse des vorigen Jahres, weil die verfahrene
Verkehrslage in den Vereinigten Staaten die Abfuhr nicht gestattete. Hinzu¬
kommen die ungeheuerlichen Schiffsfrachten, so daß das verarmte Europa nur zum
Teil in der Lage sein wird, sich diese Überschüsse zugute kommen zu lassen. Ganz
abgesehen davon, daß sich der Eigenbedarf Amerikas sehr steigert und man nach
früherem Muster in den Vereinigten Staaten vielleicht das Brodgetreide bei
ungünstiger Preislage lieber ans Vieh verfüttert.
Was nun Deutschland selbst betrifft, so stellt der letzte Saatenstandsbericht
für Roggen eine Normalernte, für Winterweizen und Wintergerste eine gute
Mittelernte in Aussicht. Dasselbe dürfte für die Kartoffeln gelten, deren Anbau¬
fläche außerdem gegenüber dem Vorjahre um 20 v. H. zugenommen hat. Es darf
nicht unerwähnt bleiben, daß ein bedeutender Sachverständiger, wie Dr. Stornier,
die Ernteaussichten erheblich schlechter einschätzt. („Deutsche Tageszeitung" Ur. 358.)
Die Lage der Viehversorgung war in einer gewissen Besserung begriffen,
die augenblicklich durch die von Süddeutschland ausgehende Maul- und Klauen¬
seuche stark gefährdet wird. Der Bestand an Schweinen dürfte rein zahlenmäßig
die Friedenshöhe erreicht haben, für Rinder gilt dies nur für einzelne süddeutsche
Gebiete und Oldenburg.
Ein sehr wesentlicher Mißstand ist die Lage der Zuckererzeugung. Wenn
auch die Anbaufläche gegenüber dem Borjahre um etwa 10 v. H. zugenommen
hat und die Ernteaussichten günstige sind, so geht leider Deutschland ohne Zucker¬
vorräte ins neue Wirtschaftsjahr, so daß auf einen erheblichen Ausfuhrüberschuß
nicht gehofft werden kann. (Wir führten vor dem Kriege etwa eine Million
Tonnen aus, was nach heutigem Werte etwa 18 Milliarden Mark betragen würde,
womit wir den gesamten Reichszuschuß für Getreideeinfuhr selbst bei den
ungünstigen Ernteverhältniffen hätten decken können.)
Im engsten Zusammenhang mit der Zuckerproduktion steht die Frage der
Futtermittel und des künstlichen Düngers. Eines greift in das andere über.
Wir haben keine ausreichende Viehversorgung, weil uns die Futtermittel fehlen,
wir haben keinen Anbau hochwertiger Futtermittel, weil der Dünger fehlt, und
können vor allem deshalb nicht Zuckerrüben anbauen, die auf ein und derselben
Anbaufläche einen hohen Exportwert liefern und gleichzeitig so viel Futterwert
erzeugen, als ob neben ihnen noch Futter oder Getreide angebaut wäre. Der
Ernährungsminister hat deshalb in der Spaadebatte die Einfuhr von Rohphos¬
phaten für die Düngung und Futtermittel als werbende Einfuhr neben die Einfuhr
Von reinen Lebensmitteln in den Vordergrund gerückt. Die Umwandlung von
verhältnismäßig billigeren Hilfsstoffen in hochwertige Nährwerte ist schon vor dem
Kriege eine der wesentlichsten Leistungen der deutschen Landwirtschaft gewesen-
Man hat berechnet, daß es bei „Aufrechterhaltung des Nahrungsstandes
vor dem Kriege und bei Fortdauer der bisherigen Bevölkerungsvermehrung mit Hilfe
der heute verfügbaren technischen Hilfsmittel ohne erhebliche Steigerung der
Kosten möglich sein würde, den gesamten Nahrungsmittelbedarf der deutschen
Bevölkerung im Lause der nächsten 20 Jahre im Inlande zu decken." (Gering.)
Die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion um jeden Preis gehörte
schon im März 1919 zu den Programmpunkten des preußischen Landwirtschafts¬
ministers und wurde auch in den Siedlungsdebatten immer wieder von allen
Seiten betont. Doch ist seit den Novembertagen 1918 in bezug auf die land¬
wirtschaftliche Produktion so viel gesündigt worden, dasz die sich aus der Kriegs¬
wirtschaft naturnotwendig ergebenden, unheilvollen Folgen noch für lange Zeit zu
spüren sein werden. Es soll hier nicht von neuem der fast nur politisch geführte
Kampf um die Zwangswirtschaft aufgerollt werden. Wir begnügen uns mit der
Feststellung tatsächlicher Ergebnisse und mit dem bereits im Gange befindlichen
Versuch zur Neuordnung der Ernährungswirtschaft. Wenn wir uns die anfangs
mitgeteilten Zahlen der geminderten landwirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ver¬
gegenwärtigen, so darf nicht vergessen werden, daß sie das Ergebnis einer gewalt¬
samen Einschnürung sind, und daß heute noch unsere Industrie nicht in der Lage
ist, den Einfuhrbedarf mit ihren Erzeugnissen zu decken, daß die werbende Einfuhr
von landwirtschaftlichen Produktionsmitteln auf Ausnahmemaßnahmen angewiesen
ist, wie sie nach den Erklärungen des Ernährungsministers nur auf den in Spaa
von der Entente versprochenen Krediten, auf den 5-Mark-Goldprämien, zum
kleinen Teil auch auf unserer eigenen Devise aufgebaut werden können.
Anders liegen die Verhältnisse in bezug auf die Produktionsmittel, soweit
die Landwirtschaft sie vom inländischen Markte beziehen kann. Die Preise für
Kali und Stickstoff sind so gestiegen und die Fracht auf weitere Entfernung ist
so teuer, daß zahlreiche landwirtschaftliche Betriebe, sogar die größeren, nicht
mehr in der Lage waren, den nötigen Kunstdünger zu beziehen. „Hundert
Doppelzentner 12prozentiger Kamil kosteten 1914 120 Mark, sie kosten augen¬
blicklich 720 Mark, das ist das 6fache des Friedenspreises. Die Fracht für diese
100 Doppelzentner in einer Entfernung von 700 bis 800 Kilometer betrug vor dem
Kriege 76,80 Mark, gegenwärtig 669,80 Mark, also ist die Fracht ungefähr so
hoch, wie der Preis des Produktes." (v. Schorlemer im Reichswirtschaftsrat.)
Der bayerische Abgeordnete Dr. Schlittenbauer berichtete im Landtage, daß ein
Waggon Stickstoff augenblicklich soviel kostet, wie im Frieden ein ganzer Bauern¬
hof mit 6 bis 7 Rindern. Er selbst habe einen Waggon zurückgehen lassen, weil
er für diesen Waggon die ganze Ernte an Weizen, Roggen, Gerste und Hafer
hätte hergeben müssen, um nur den Preis für den Kunstdünger herauszuschlagen.
Auf die Preissteigerung der übrigen Produktionsfaktoren, Saatgut, Futtermittel
Brennstoffe, Löhne, Gehälter und Gebäudeunterhaltung, Maschinen, Geräte usw.
kann hier nicht näher eingegangen werden. Allein in der Zeit vom 1. Januar
bis i. Juni 1920 stiegen die Produktionskosten um 69,24 v. H., und zwar haupt¬
sächlich vom 1. März bis 1. April durch die starke Erhöhung der Preise für
künstlichen Dünger und durch die gesteigerten Arbeitslöhne. Nachdem man in der
im Ernährungsministerium eingesetzten Jndexkommission auf Grund sorgfältiger
Berechnungen von Sachverständigen die Mehrkosten festgestellt hatte, wurden vom
Ernährungsminister die neuen Höchstpreise festgesetzt, die nunmehr der Landwirt¬
schaft die Möglichkeit geben sollten, für das kommende Erntejahr ihre Produktions¬
mittel zu ergänzen. Die Preisfestsetzung wird aber nur dann genügen können,
^cum von einer weiteren Lohnsteigerung und Heraufsetzung der Preise für die
inländischen Produktionsmittel abgesehen werden kann. Die Belieferungsmöglich-
keit mit Düngemitteln ist augenblicklich eine günstige, die Verkehrslage muß aber
sehr bald ausgenutzt werden. Die landwirtschaftlichen Organisationen bemühen
sich, ihre Mitglieder zur rechtzeitigen Bedarfsdeckung zu veranlassen. Eine
Herabsetzung der Preise des vom Reiche gelieferten Stickstoffes wäre außerdem
noch zu erwägen, zumal es bei gesteigerter Produktion gelingen könnte, einen
Teil nach dem Auslande zu günstigem Preise abzugeben und damit die Inlands¬
preise zu verbilligen.
Es ist von verschiedenen maßgebenden Stellen, nicht zuletzt von dem bayerischen
Bauernführer öl-. Heim, darauf hingewiesen worden, daß die Aufhebung der
Zwangswirtschaft nicht das Allheilmittel zur Besserung unserer Ernährungslage
sein kann. Der Präsident des Neichswirtschaftsrats, Edler von Braun, der selbst
zur Gruppe Landwirtschaft gehört, hat in einem in der „Deutschen Nation" ver¬
öffentlichten Aufsatze von den Trümmern der Zwangswirtschaft gesprochen, die in
ihrer jetzigen Zerfahrenheit nur noch Schaden stiftet und keinem Volksteil außer
dem Schiebertum nützt, aus der wir herausmüssen, aber nicht ins völlig freie
Spiel der Kräfte, das sich in einer unter den Daumenschrauben des Friedens von
Versailles ächzenden Volkswirtschaft nicht entfalten kann, sondern in eine Plan¬
wirtschaft, die freilich nicht der Kompliziertheit des Möllendorffschen Systems
«bedarf. Kein Zweig der Volkswirtschaft hat die in Ruinen liegende Wirtschafts¬
diktatur schwerer empfunden, als die Landwirtschaft. Trotzdem wird, wie
Okonomierat Keiser vom Preußischen Landesökonomiekollegium besonders betont,
im Interesse einer kontinuierlichen Volksernährung niemand einer plötzlichen Auf¬
hebung der Zwangswirtschaft zustimmen können. Hier sind Ubergangsmaßnahmen
erforderlich, und zwar in einer Form, wie sie schon längst von feiten der Land¬
wirtschaft vorgeschlagen worden sind und um deren versuchsweise Anbahnung sie
selbst sich ehrlich bemüht. Das System der direkten Lieferungsverträge, verbunden
mit einer beschränkten Umlagepflicht, war z. B. für die Kartoffellieserung vor¬
gesehen, doch haben sich hier in letzter Zeit unerwartete Schwierigkeiten von feiten
des deutschen Städtetages als Vertreters der Verbraucherschaft ergeben. Den
Kommunen war das finanzielle Risiko zu hoch und das Reich wird wiederum mit
einer gewissen Vorratswirtschaft eingreifen müssen. Die letzten Entscheidungen
stehen noch aus.
Im übrigen ergeben sich die nächsten Maßnahmen auf dem Gebiet der Er¬
nährungswirtschaft aus den kürzlich gefaßten Beschlüssen der deutschen Ernährungs¬
minister. Wir werden hinsichtlich des Brotgetreides die straffe Zwangswirtschaft
behalten, das Reich und auch die Länder werden so mit Vorräten ausgestattet
werden, daß sie nicht gerade immer bei ungünstiger Preislage als Käufer auf
dem Weltmarkt auftreten müssen. Die Zwangsbewirtschaftung für Fleisch wird
im Laufe des Herbstes aufgehoben werden. Schon heute sind Vorbereitungen dafür
im Gange, daß sich die Hauptverbraucher, also die größeren Städte und die länd¬
lichen Gemeinden der Jndustriebezirke, durch direkte Lieferungsverträge mit den
Produzentenorganisationen mit Schweinefleisch eindecken können. Eine Verbesserung
der Fleischversorgung wird allerdings für längere Zeit auf teuere Einfuhr von
Futtermitteln angewiesen sein. Es liegt im beiderseitigen Interesse, daß nicht daS
noch viel teurere Auslandsfleisch bezogen werden muß, sondern daß auch hier die
Landwirtschaft durch rechtzeitige Sicherstellung ihres Absatzes bei relativ günstigen
Preisaussichten den Anreiz erhält, die mit Hilfe ihrer großen Organisationen
beschafften, immer noch billigeren Futtermittel in hochwertige menschliche Nahrung
umzuwandeln.
Von einer Kritik des augenblicklichen Ernährungsplanes, soweit er von
seiten der Ernährungsminister aufgestellt ist, soll abgesehen werden, nur bedarf
es zum Schluß des Hinweises, daß wir schon einmal eine unglückliche Erfahrung
mit der willkürlichen Durchbrechung der Zwangswirtschaft gemacht haben, als
man den Hafer freigab und dann die durch Druschverbot und andere Regierungs¬
maßnahmen immer höher gesteigerten Haferpreise einenTeil derLandwirte veranlaßten,
den Hafer zu verkaufen und das in der Zwangsbewirtschaftung zurückgebliebene
Brodgetreide zu verfüttern. Nur bei Aufrechterhaltung wirklich lohnender Getreide-
Preise wird es in Zukunft möglich sein, nach Aufgabe der Fleischbewirtschaftung
die Einschränkung der Getreideanbaufläche zu gunsten eines übertriebenen Anbaues
von Kartoffeln und Futtermitteln zU verhindern. Dem Reichsernährungsminister
wird von seiten der Landwirtschaft bis jetzt großes Vertrauen entgegengebracht
und die führenden deutschen Landwirte haben heute im Reichswirtschaftsrat die
Möglichkeit, eine sachliche Behandlung ihrer Forderungen in enger Fühlungnahme
mit den übrigen Wirtschaftskreisen zu erreichen, so daß zu hoffen ist, daß die
offizielle deutsche Ernährungswirtschaft in Zukunft nicht wieder in die beliebte
Konsumentenpolitik zurückfällt, die sich ihre Maßnahmen von Drohungen und
Augenblicksforderungen einzelner Gruppen diktieren ließ.
Der wirtschaftliche Zusammenbruch Deutschlands. Am 23. Juli 1920 hat
auf Grund einer Anregung, die die Schriftleitung der „Grenzboten" in Verbindung
mit dem Herausgeber der „Europäischen Staats- und Wirtschaftszeitung, dem
Chefredakteur der „Deutschen Allgemeinen Zeitung" und dem Berliner Vertreter der
»Kölnischen Zeitung" gab, eine Aussprache zwischen den wirtschaftlichen Sach¬
verständigen und Vertretern der öffentlichen Meinung stattgefunden. Die Aus¬
führungen des Herrn Hugo Stinnes waren derartig bedeutsam, daß es, wie bereits in
Heft 30 angekündigt, nötig ist, sie im Zusammenhange wiederzugeben, da die Tages¬
presse naturgemäß nur Bruchstücke geben konnte.
Herr Hugo Stinnes führte aus:
^^.^.<
Die letzten Kohlenlieferungen an die Entente in den Monaten Mai-Inn be-
liefen sich auf etwa 44 000 Tonnen täglich. Die Förderung war im vorigen ^ahre
°is sich die Kohlmnot mit ganzer Schärfe fühlbar machte, im Ruhrrevier allmählich
durch den Zuzug von Bergleuten von 218 000 Tonnen auf 245 000 Tonnen ge¬
stiegen und wurde dann durch das Merschichtabkommen im Februar auf
285 000 Tonnen täglich gesteigert. Es gab auch kleine Rückschläge, so z B im
März. Das Abkommen von Spa kostet uns täglich 80 000 Tonnen, so daß das¬
jenige, was Deutschland für seinen eigenen Bedarf bleibt, etwa 205 000 Tonnen
beträgt, also rund 13 000 Tonnen niedriger ist als dasjenige, was uns im vorigen
^ahr« zur Verfügung stand. Damals, als wir 213 000 Tonnen verteilen konnten,
Zatten wir schon infolge des Kohlenmangels einschließlich der noch nicht Demobili-
stetten zwei Millionen Arbeitslose und wenn wir jetzt noch über 10 000 Tonnen
weniger verbrauchen können, so muß die Zahl der Arbeitslosen entsprechend steigen.
Dabei ist zu bedenken, daß wir im vorigen Jahre auch noch gewisse Warenreserven
hatten, fast keine Kohlen für die Seeschiffahrt brauchten; heute aber braucht letztere
ebenso wie die Textilindustrie dringend Kohlen, um allmählich wieder in Betrieb
zu kommen. Der Bedarf ist also gestiegen, das Angebot vermindert. Wenn ich an¬
nehme, daß eine Tonne Kohlen im neutralen Ausland etwa 1200 Wert hat, und
die aus ihr produzierte Ware durchschnittlich das Zweieinhalbfache, wenn ich also
annehme, daß durch den Ausfall von 900 000 Tonnen Kohlen ein Warenausfall von
3000 X 900 000 entsteht, so bedeutet das für uns einen monatlichen Waren¬
ausfall von 2,7 Milliarden, also ungefähr die Hälfte unserer gegenwärtigen Aus¬
fuhr, die sich, nachdem das Kohlenabkommen getroffen war, dank der Mehrförderung
seit Februar bis Mai d. I. auf 4,5 bis 5,5 Milliarden monatlich gestellt hat. Das,
was übrig bleibt, wird nicht im entferntesten ausreichen, um die fehlenden Lebens¬
mittel, Rohstoffe und sonstigen Unentbehrlichkeiten zu decken. Unserer Industrie
werden, da von der Jnlandsförderung von rund 10 bis 10,5 Millionen Tonnen für
gewisse Exporte, für Gasanstalten, Eisenbahnen, Elektrizitätswerke usw. über die
Hälfte abgeht, nur etwa 4,9 Millionen Tonnen zur Verfügung stehen, vielleicht
auch nur 3,9 Millionen Tonnen. Im vorigen Winter ist, nach den Ziffern von 1913
zu rechnen, infolge von Verkehrsstörungen die Belieferung und Versorgung der
deutschen Industrie mit Kohlen auf 54 Prozent zurückgegangen. Dieser Rückgang
wurde damals schon als eine Katastrophe sondergleichen empfunden, und diese Er¬
wägungen haben die Sachverständigen in Spa auch veranlaßt, nicht immer wieder
Nachgiebigkeit zu zeigen, sondern bis zuletzt hinsichtlich der Unterzeichnung des
Lieferungsvertrages die deutschen Interessen zu wahren.
Es darf nicht übersehen werden, daß auch die Versorgung Frankreichs und
Italiens mit Kohle sehr ernst, ja geradezu unhaltbar schlecht ist. Aber man muß
den großen Unterschied feststellen, daß bei uns die Mehrproduktion dazu dient, die
Kohlenförderung nicht bloß im Gang zu halten, sondern vor allen Dingen auch
weiter zu entwickeln, damit diese Zustände eine Verbesserung in Deutschland und
somit auch in Europa erfahren können. England hatte einen Ausfall an Export von
Kohlen von etwa 70 Millionen Tonnen. Dieser Ausfall beträgt sogar neuerdings
120 Millionen Tonnen. In Amerika herrscht ebenfalls eine so große Kohlennot,
daß in absehbarer Zeit mit einem Kohlenausfuhrverbot zu rechnen ist. Von Amerika
kann Europa daher keine Hilfe erwarten. Amerika befindet sich heute in einem Zu¬
stande größter Kohlen- und Transportkalamität, und die Verhältnisse auf dem ameri¬
kanischen Kohlenmarkt sind katastrophal geworden. Man braucht nur die Preise für
amerikanische Ausfuhrkohle zu betrachten, die auf 20 Dollar pro Tonne gestiegen
sind gegen 7 bis 8 Dollar vor etwa 3 bis 4 Monaten.
Nun hat es schließlich keinen Zweck, bei all diesen Fragen nach der Schuld
zu suchen. Das Kohlenabkommen ist geschlossen worden, und man wird sich vor
allem vor Augen halten müssen, was in der Kohlenfrage geschehen kann und soll,
um aus dieser Situation nach Möglichkeit anständig herauszukommen. Ich habe bis
zuletzt den Standpunkt vertreten, daß man nicht Zusagen machen sollte, die man
nicht halten kann. Es ist meines Erachtens kaum möglich, daß wir die Kohlen¬
lieferungen in der verlangten Form durchführen können, und ich glaube, daß im
November dieses Jahres unter weit schwierigeren Winterverhältnissen, die die Er¬
füllung der übernommenen Verpflichtungen erschweren, die Frage der Kohlen¬
lieferung und die des Einrückens ins Ruhrrevier akut werden wird. Für die deutsche
Volkswirtschaft ist das Kohlenabkommen unerträglich; die deutsche Kohlenindustrie
ist dabei erst in letzter Linie leidtragend. Es ist in Ententekreisen gesagt worden,
daß bei einer Besetzung des Ruhrreviers noch mehr als zwei Millionen Tonnen
Kohle für die Entente freigemacht werden könnten. Das dürfte allerdings transport¬
technisch unmöglich sein. Es ist schon in Spa bezweifelt worden, daß zwei Millionen
Tonnen überhaupt an die Entente abgeliefert werden könnten, daß aber gar eine
andere Ziffer in Frage käme, ist gänzlich ausgeschlossen. Viele Sachverständige,
auch Sachverständige des Kohlensyndikats, sind derselben Meinung.
Es gibt nur ein Mittel zur Verbesserung unserer Situation und das liegt in
einer regelmäßigen Überschichtarbeit und vor allen Dingen in der Steigerung der
Förderung und Erleichterung des Abtransports durch Verteilung der Überschichten
auf die einzelnen Tage; nicht minder aber auch in der Vermehrung der Bergarbeiter,
d. h. in der umfassenden Erstellung von neuen Wohnungen. Ich hatte schon im
vorigen Jahre vorgeschlagen, mit allen Kräften an die Siedelung in den Bergbau¬
bezirken für Steinkohle und Braunkohle heranzugehen. Im ganzen vorigen Jahre
ist nichts geschehen. Dann ist schließlich das Siedelungsgesetz herausgekommen.
Es sind auch Aufschläge auf die Kohlenpreise genommen worden, und zwar ent¬
sprechend der Preissteigerung aller anderen Waren. Trotz aller Warnungen hat
man aber die Aufschläge nur gering bemessen. Auf dem Gebiete des Siedelungs-
wesens muß das bisher Versäumte schnellstens gutgemacht werden. Man darf Wohl
annehmen, daß jetzt, wo es uns ans Leben geht, die vorhandenen Baustoffe aller
Art in wirkliche Bauten umgesetzt werden. An Stelle der geplanten 30 000 bis
40 000 Wohnungen für Bergarbeiter werden allerdings infolge dieser Versäumnis,
in Verbindung mit dem Mangel an Baumaterial, zunächst kaum 3000 bis 4000
Wohnungen fertig werden. Hier muß also der Hebel angesetzt werden.
In der Lebensmittelversorgung der Bergarbeiter sind große Fehler gemacht
worden. Vor allen Dingen muß durch reichliche Nahrung die Leistungsfähigkeit
jedes einzelnen gehoben werden. Der Bergmann lebt unter Tag meist nur von
Brot und Fett. Hat er dies nicht, so kann er nicht arbeiten- Auf diese Eigenart
muß man Rücksicht nehmen. Das ist aber lange nicht genügend geschehen. Im
Gegenteil hat man den Bergleuten ein Brot gegeben, das als Schweinefutter hätte
dienen können. Unter solchen Umständen wird man begreifen können, weshalb das
Mißtrauen der Bergleute so groß ist. Man kann es den Bergarbeitern wahrhaftig
nicht verdenken, daß sie jede Überarbeit von einer besseren Ernährung abhängig
machen. Eine wirkliche Abhilfe verspreche ich mir noch durch die Siedelung, die in
einem Ausmaß vorgenommen werden muß, daß 10 bis 12 Millionen Tonnen mehr
gefördert werden. Neben der Siedelungsfrage müssen wir uns auch intensiv Mit
dem Versuch befassen, die Steinkohlenwirtschaft zu entlasten, und Betriebe, in denen
dies technisch möglich ist, auf Braunkohlenheizung umzustellen.
Was die Belieferungsquote betrifft, so verlangt ein wirtschaftlich arbeitender
Industriebetrieb 100 Prozent Belieferung. Wird weniger geliefert, so verringern
sich die Einnahmen weit stärker als die Ausgaben, und es entsteht im steigenden
Maße eine Leerlaufsarbeit, die jede wirtschaftliche Betriebsführung unmöglich macht.
Man bedenke, SO Prozent Kohlen bedeuten nicht SO Prozent Produktion, sondern
weit weniger. Wir brauchen in Deutschland vor allem genügend Kohle, um im
Interesse Europas die Kohlenförderung zu heben. Eine Mehrlieferung von einer
Million an die Entente würde zwei Millionen mehr für uns erfordern, und eine
solche Mehrförderung setzt den Neubau von Wohnungen im jetzigen Wert von 6 Mil¬
liarden Mark voraus, eine ungeheure Aufgabe also, die sich mit dem Wiederaufbau
Frankreichs überschneidet. ^ , ^ ^ .
Das Ziel, das erreicht werden muß, ist die Versorgung der Industrie mit
WO Prozent. Ich glaube, daß dieses Ziel im wesentlichen erreicht werden wurde,
wenn neben der Mehrleistung an die Entente noch zwei Millionen Tonnen monatlich
sur die Industrie zur Verfügung stehen würden. Es ergibt sich etwa die Zahl: eine
Monatstonne mehr gleich einem Arbeitslosen weniger. ^ - --
«^^
Was die Braunkohle anbetrifft, deren Heizwert zu dem der Steinkohle sich
wie 1 4 verhält, so läßt sich die Braunkohlenforderung viel schneller steigern Ah
die Steinkohlenförderung Aber auch im Braunkohlenbergbau erfordert die Ent¬
wicklung eines Tagebaues mindestens zwei bis drei Jahre also eme Frist die uns
gegenwärtig nicht zur Verfügung steht. Das Braunkohlenbrikett ist heute schon viel¬
fach ein Ersatzmittel für die Steinkohle. Man wird unbedingt dazu übergehen
Müssen, zu untersuchen, ob und wie sich die wirtschaftliche Auswertung dieser Kohle
schnellstens verbessern läßt. Man wird diejenigen Betriebe die sich praktisch um¬
stellen lassen, zweifellos umstellen müssen. Den umgebauten Betrieben muß die
Sicherheit gegeben werden, daß auch in verkehrsstarken Zeiten die Rohbraunkohlen-
transporte nicht gesperrt werden. Auch ist es unbedingt erforderlich, daß die Elek¬
trizität und Gaswirtschaft Deutschlands nach wirtschaftlichen, technischen und ver¬
kehrspolitischen Gesichtspunkten in zweckentsprechender Weise geregelt werden. Ich
bin im übrigen damit einverstanden, daß auch der Verschiebung von Kohlen nach¬
gegangen wird, kann aber heute schon sagen, daß jedenfalls im Ruhrgebiet eine
irgendwie in Betracht kommende Verschiebung nicht stattfindet. Das gilt sowohl
für Braunkohle wie auch für Steinkohle. Schließlich möchte ich nochmals betonen,
daß Kohle und Arbeitskraft Werte sind, die allein es Deutschland ermöglichen
dürften, sich wieder zu erholen.
«^ Wie über die Befestigungen von Helgoland, die ein Wunderwerk der
Abwehrtechnik darstellen sollten, tatsächlich aber, nach den Berichten der Sach¬
verständigen, ihren Aufgaben nicht entfernt gewachsen waren, sind auch über die
Stärke der Feste Istein Wundermären verbreitet worden. „Ob sie sich länger als
48 Stunden . . . hätte halten können?" fragt jetzt in einem Berliner Blatt Oberst
Servaes, der letzte Artillerieoffizier vom Platz der Oberrheinbefestigungen. „War
sie doch nur der Rest einer einst gefaßten großzügigen Idee für die Verteidigung
des Oberrheins! Auf der Tüllinger Höhe gegenüber Hüningen, auf dem Isteiner
Klotz und auf dem Hochberge bei Mühlheim sollten starke Befestigungen errichtet
werden, die sich gegenseitig unterstützen sollten. Aus unangebrachter Sparsamkeit
war aber nur die Feste Istein gebaut worden, und zwar, wie sie in die Be-
festigungSkette gepaßt hätte, nach Osten fast ungeschützt, mit „offener Kehle". . .
Ein etwa bei Basel übergegangener Feind konnte Istein bequem im Rücken fassen."
Daß von Helgoland und Istein so abenteuerliche Sagen umliefen und von den
Spionen der Feinde treuherzig geglaubt wurden, ist an sich ein Vorteil sür uns
gewesen. Im Ernstfalle wäre es aber beiden Trutzburgen schlimm ergangen.
Die unangebrachte Sparsamkeit, die Servaes tadelt, hat uns den Krieg verlieren
lassen. Dank ihr fehlten uns an der Marne die entscheidenden drei Armeekorps, dank
ehr waren wir nicht imstande, den Österreichern von vornherein die erforderlichen
Korsettstangen zu liefern. Mit Recht weist der Österreicher Krauß darauf hin, daß
Deutschland mit Leichtigkeit bei Kriegsbeginn zwölf Armeekorps mehr hätte auf
die Beine bringen können/ unangebrachte Sparsamkeit verhinderte es. Unsere
Regierungen wagten es nicht, aus Furcht vor der demokratischen Presse, beim
Reichstag die pflichtgemäße Vorlage einzubringen. „Nur keine inneren Krisen!"
sagte Bülow. So verzichtete man, um in Frankfurt und Berlin eine gute Presse
zu haben, auf deutsche Lebensnotwendigkeiten. Damit dem „erdrückten Steuer¬
zahler" von 1910 jährlich hundert Millionen erspart blieben, begnügten sich die
Verantwortlicher unverantwortlicherweise mit unzulänglichen Bewilligungen. Jetzt
haben wir ebenso viele Milliarden aufzubringen, und in Schimpf und Schande,
als Tribut für die weit ausschauenden Gegner. Unsere feige Sparsamkeit von
damals ist wüsteste Verschwendung gewesen. Aber, und das ist ja schließlich die
Hauptsache, herrlich hat der Parlamentarismus triumphiert und dem militärischen
-Noloch den Fraß vorenthalten, so daß die Scharnhorstschen Gedanken und mit
ihnen das Reich verdorren mußte.
Mit 129 gegen 126 Stimmen hat das englische Oberhaus einen Beschlu߬
antrag des früheren Lordkanzlers Finlay angenommen, der das Vorgehen der
Negierung gegen General Dyer sehr unumwunden tadelte. General Dyer hatte im
April 1919 in Amritsar eine Versammlung oppositioneller Jndier mit Maschinen¬
gewehren umstellen und ziemlich bis auf den letzten Mann niederschießen lassen.
Auf Grund des Berichtes der Hunterkommission, die die Negierung zur Unter¬
suchung der Vorfälle eingesetzt hatte, war dann beschlossen worden, General Dyer
im indischen Dienste nicht weiter zu verwenden.
^. Dem klaren Mißtrauensvotum des Oberhauses vermochte das Unterhaus aus
hinlänglich einleuchtenden politischen Gründen nicht beizutreten. Immerhin fanden
«ich auch hier 129 Stimmen, die die Regierung tadelten; ihre starke Mehrheit schmolz
auf 230 zusammen. Nur der Umstand, daß Asquith mit seinen Getreuen und die
Arbeiterpartei für sie eintraten, rettete sie vor der Kabinettskrists und überklebte mit
fremden Hilfsmitteln den Riß in der Koalition.
General Dyer, der sich ungemein entschieden für britische Frauenehre und für
vie in Indien nun einmal bestehende Ordnung eingesetzt hat — durch die Gasse, in
°er eine Engländerin von indischer Hand ermordet worden war, mußten die Ein¬
geborenen mehrere Tage lang auf allen Vieren kriechen —, General Dyer hat das
Schicksal der Warren Hastings und Genossen geteilt. Regierung und Unterhaus
verurteilten ihn, um das Gesicht zu wahren und den lauschenden Völkern die Über¬
zeugung beizubringen, Großbritannien billige keine Grausamkeiten und Schurkereien,
die im Reichsinteresse begangen wurden. Tatsächlich aber und mit dem Herzen
tritt John Bull allemal hinter seine Pioniere. Auch für Dyer regnet es in England
Sympathieerklärungen, und ein General-Dher-Fonds ist gegründet worden. Der
General zählt offenbar zur Art jener handfesten Politiker, aus deren Mitte lange
vorm Kriege gelegentlich der Vorschlag gemacht wurde, eines schönen Premieren¬
abends alle Berliner Theater zu umstellen und keinen lebendig hinauszulassen. Deutsch¬
land habe dann endlich Ruhe. Die schlimmsten Zerstörer und Vernichter des öffent¬
lichen Geistes, nämlich die Journalisten und Literaten, seien erledigt. Was bei
uns nur als tolle Groteske aufflatterte, hat Dyer mit soldatischer Gradheit verwirk¬
licht. Und Sir Edward Carson, der Ulstermann, dankte ihm im Namen der Nation:
durch Dyers Eingreifen sei Indien vielleicht vor einem Aufstand bewahrt geblieben,
denn Amritsar sei der Vorläufer der Revolution gewesen.
Parlamentarismus ist eine ausgezeichnete Sache, wenn er den Nationalstolz
bis zur Gaurisankarhöhe aufpeitscht und die gewaltige Illusion vom auserwählten
Volke Gottes nährt, das auch mordend und brennend, plündernd und fechtend noch
Jehovahs himmlischem Willen tut. Und gerade dann tut. Der englische Parla¬
mentarismus erhält das Räuberreich in Ewigkeit, während er gleichzeitig, dank der
wundervollen Einrichtung des Spiels mit verteilten Rollen, sämtliche Banner der
Humanität aufreckt und das strenge britische Gerechtigkeitsgefühl bengalisch be¬
leuchtet. General Dyer auf Halbsold, aber die Toten von Amritsar munter sich
nicht mehr, denken an keine Verschwörung mehr.
Welche Gnade Zebaoths, daß wir vor einem solchen Parlamentarismus ver¬
schont geblieben sind und den richtigen, chemisch reinen besitzen, mit fünfzehn bis
zwanzig Parteien, die sich ernsthaft, bis aufs Blut, befehden, lieber das Vaterland
zugrunde gehen lassen als die Partei, und zu einem heuchlerischen, wenn auch recht
profitabler und das Reich unbezwinglich-herrlich machenden Komödienspiel nach
Londoner Muster nie zu haben wären!
Vom Pariser Kongreß der Chirurgen, der aus allen Teilen der Welt be¬
sucht war, sind die deutschen und österreichischen Chirurgen aus der Inter¬
nationalen chirurgischen Gesellschaft ausgeschlossen worden. Eine Tagesordnung
unterstrich besonders die „gemeine Handlungsweise", der sich die deutschen Chirurgen
während des Krieges schuldig gemacht haben sollen. Bei uns hat eine chirurgische
Oberinstanz den Beschluß und seine Begründung als „Infamie" bezeichnet.
Chirurgen sollten nicht mit dem Messer aufeinander losgehen, sondern einsichtsvoll
erkennen, daß der Pariser Beschluß nichts als die wissenschaftliche Ausstrahlung des
Völkerversöhnungs- und Völkerbundsgedankens ist, wie er sich Wilson darstellte und
wie unsere gesamte maßgebende Presse ihn bereits im Oktober 1918 mit Begeisterung
begrüßt hat. Im übrigen erscheint die beleidigende Schärfe der chirurgischen
deutschen Ausdrucksweise geeignet, dem A. A. neue internationale Schwierigkeiten
und Sorgen zu bereiten. Dabei hat es sich bis heute noch nicht über die schlechte
Kleidung und die Mütze beruhigen können, in der die Reichswehrtruppe der geentert
gewesenen Trikolore Reverenz erwies. Wie bei solcher Aufsässigkeit des deutschen
Volkes aller Schichten auswärtige Politik gemacht und in Genf weitere „enorme
aufbauende wirtschaftliche Arbeit" geleistet werden soll, wird nicht nur Herrn
D
Rücksendung von Manuskripten erfolgt nur gegen beigefügtes Rückporto.
Nachdruck sämtlicher Aussähe ist nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlages gestattet
«WlMlie!
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Verlag und Schristleitung des „Deutschen Jägers" schreiben einen photographischen Preis¬
wettbewerb für kynologische Bilder (Jagdhunde) aus.
preis 500 M., 2. preis 300 M., Z. preis 200 M.,
ferner 20 Trostpreise zu je 50 M.)
Preisrichter sind: Zretherr von Sesserer, München, Freiherr von perfall, Schloß Greifenverg
Ammersee, Apotheker Dungermann, München, und Verlag uns Schristleitung och „Deutschen
Lagers", München.
. Genaue Bedingungen gegen Einsendung von 30 Pf. in Briefmarken durch den Verlag
°es „Deutschen Jägers" München, Briennerstrciße 9.
5ltteH?He«5et0H!«5le AHTSstellung
Von HHNtdeit LTlleH5 Retssen
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Anfragen an die kynologische Schriftleitung des „Deutschen Jägers", München, Brtennerstr. 9.
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Xontraldur-an, IZ-ritu V? SS,
WilKelrnstr. 5Z.^SrARr^
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Soeben erschien im Rahmen der Sammlung „Grundbegriffe der Politik":
AH5t>eitSgen5einsetz«5se
von Otto Letbrock
- preis 7 Mark -
Die Rettung der deutschen Wirtschaft aus dem Zusammenbruch im November 1918
ist in erster Linie der Tatsache zu danken, daß in entscheidender Stunde die Arbeitgeber- und
Arbeitnehmerverbände den Mut zum Zusammenschluß in der sog. Arbeitsgemeinschaft fanden.
Der Verfasser, der an diesen Organisationsfragen praktisch mitarbeitet und über ein aus¬
gezeichnetes Material verfügt, unternimmt hier erstmals den Versuch, die Organisation der
Arbeitsgemeinschaften nach Ursprung, Zielrichtung und innerem Ausbau erschöpfend zu
behandeln. Bei der zentralen Bedeutung des Problems wird diese Schrift, die u. a. sämtliche
angeschlossenen Unterorganisationen namentlich aufführt, zu einem unentbehrlichen Rüstzeug
für jeden, der an den politischen und wirtschaftlichen Zeitfragen lebendigen Anteil nimmt.
45. F. Rsehler, Ve<?l<»s> Leipzig
«.ISSKILlN HIV S0
K Vooden nsck Lrsedsinsn virck in neu äurcdgesetisner unä erveitertsr ^.uklage susesgebsa
30. 'rauseock
Die VM^irtscdskt clef äeutsclieill ^ViLäeraukbaues
Lin ^ire8ckakt8- un6 I^su6s8kulturprc>Frsmm
Von Xammerpräsiclenr Dr. Xleekel^
6,60 NK. unä 20U l'euerun^uZLnlag.
Llnstlmmix urteilt alö xesitmte Presse: Von äem Ksrvorragsnäsn Organisator unä Virtsetiaktskscb'
usum ist soeben ein Luen srsenisnen, äas 6is ÖkksntlicnKsit suks stärkste bösen-iitigt. Ls libet'
blickt zum ersten /Kais 6as Qediet unseres virtsenaktlicnsn Vl7is^sraukbsus in seiner (ZsnziKeit un»
dringt 2um ersten Alais alle statistisenen vnterlsgen tur alle 2veigs äsr V^irtsebskt, Lin Luov,
6hö eins ^se ist unä tur unsers innere ??F»M,»M«j« über 6is virtsenaktlioksn polgsn 6«^
Politik ale MirKung K-rKen virä, vie Versailler Vertrages t'ur ale- anne>^
ass dsrübmte Lund 6es IZnglänäers t»W<Il>Te»» Politik unssrerdistisrigen Qegnertistls-
Soeben erschien:
Die Diktatur der sozialen Revolution
von
Dr. Go. Staötler
Preis geh. 13 — M.. geb. 20.— M.
Aus dem Versagen der Weltdemokratie, des Wilsonschen Völkerbundgedankens und der
Leninschen Innenpolitik entwickelt Dr. Stabeler sein Programm zur Rettung Deutschlands und
der Welt durch die Diktatur eines parteifreicn, starken Mannes, der mit einem großzügigen,
sozialistischen Reformprogramm die Anarchie rücksichtslos niederhalten muß.
M.. <^Z?. M^rr^sihr, VVrlrrN^^G^ipziN
I5»»I»MMl»».I» Es ist eine Tatsache, daß gerade von den klugen Menschen, die viel ,» sagen hatten,
um »vllvv^lllllkl die meisten schlechte Redner sind. Das ist der «rund, warum vielfach der Unsinn siegt,
All« »»«ittÜ^llUlli Jeder Gebildet«, der durch feine GeipeSgaben berufen wäre, ,« fuhren oder wenigst-"»
»»^^»» anzuraten, sollte auch seinen Standpunkt gegen alle Einwände schlagfertig behaupten können.
In der Redeschu le von M5is in^vZ!? wird nicht nur die reine Technik und Taktik der freien Rede gelehrt
und geübt, sondern die ganze Persönlichkeit wird für die Rede körperlich und geistig durchgebildet.
Die 5 Bücher in HUlle kosten zusammen -s^t; dazu 20"/„ Buchhändlerzuschlag. Bericht kost-illo«.
5^?2l?V»r.VVrr«ig M>urhenb»iH-M'rrds»r/
MWiVHmMler!
(l'Ke two wkite nations!)
Deutsch-englische Erinnerungen eines deutschen Seeoffiziers
Von Georg von Hase
Fregattenkapitän a. D.
Mit 23 Abbildungen auf Kunstdruck und 2 Gcfechtsskizzen
Preis gebunden 22.— Mark
Owei historische Zusammentreffen mit Teilen der englischen Kriegsflotte
^bilden den Inhalt diese« Buches, da« seinen Titel dem Trinkspruch«uns englischen Admirals verdankt. Die Begegnungen fanden unter ganzveränderten Umständen statt: 1314 zur Kieler Woche und 19Is vor dem
IMgcrrak, ES gibt zur Zeit noch keine Darstellung der Schlacht vor dem
^kagerrak, in der ein Mitkämpfer in führender Stellung die Schlacht frei von°en Fesseln der Zensur beschrieben und beurteilt hätte, DaS vorliegende
^und wird zu einem Heldcnsang deutsche» Mutes und deutscher Kraft,
K. F. Koetzler, Verlag, LeipzigDer Kronzeuge
der Marneschlacht 1914
Seneraloberlt
k^eilml' von Kauten
krinnenungen
an den
Marneteldsug
Mit dem Bildnis des Verfassers,
verschiedenen Karten und Gefechts-
skizzen und einer einleitenden histo¬
rischen Studie von
kmörick K. liircnelkn
Preis M, Is, — Geb. M. so. —
Generaloberst von Hausen war zu
Beginn des Krieges Führer der
s, Armee, die dem Gegner an der
Marne solche kraftvolle Schläge ver¬
setzte, das; Joffre und Fons jeden
Augenblick glaubten, das französische
Zentrum wurde durchbrochen werden.
«. F. «o-si-r, Verlag. S-ipzig
politiscno -_ ^ »»» »M»»W
»is^usssknuns nöt englsnil
v ^' ^' ^°dert rmpp o r>i-eis Z.4V ^art uncl 2o?i> leuerunss-usdilaA
Sie ^ Kur-en, xeoxrapniscn-Iiistoriscnen KetracKwne nacb> <Z»S es Keine ^el llncler
öder ^ „ ^ »"e«^l°«en »incl, wie OeutsclilancZ un6 Ünxlan-Z, Saron l.orS ?almerstov erkannte 6ich an,
^ Seutseb^ ,?? ' ^'"Sen ^Urst LismarcK un6 Ltiamberlain, — 2n ?ein6en xcvorclen sins die heiser l-llnSer 6urcu
Si. leitet ^^ttenbsu^ nickt 6»reit 6le klar6elsrivalitüt, ^um Leveise nierlür sima -alilreicne ^.nLernnxen von
°oV ^Nvick!.,. ^erhört.clikeiten diesseits uncl jenseits nich Kanals anxekllkrt, ?llr jeäen, 6er dieses Lucn liest, werä-n
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Ans diese Preise darf kein Sortimentsansschlag erhoben werden.
Der Verfasser, dessen Name auch in Deutschland bekannt ist, schildert mit großer Anschaulichkeit die ^
verwickelten Verhältnisse Österreich-Ungarns. Der Habsburgische Hausmachtgedanke, die Stellung der
Kaiser zum Staatsgedanken, die Persönlichkeit Franz Josephs, die Bedeutung des Adels, vor allein >
aber die Entwicklung des Deutschen Reiches zur Donaumonarchie werden von neuen wichtigen
Gesichtspunkten aus beleuchtet.
R. L. Roehler, Verlag, Leipzig!
(veutsclies
Volkswirt)iirßseKsttsMensK
Herausgegeben vom
»smburglscken V/ete-VfirtscKstts-HrcKIv
(^sntrsl8teils nich I-tsmbui'ßiselien Kolomslinstituts)
Von küorendsn lVlZnnsrn der Praxis anerkannt als
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V/eltwii-tsoiiaftlielis Üdsk-sieiiten
^an of^IanZs die Kostsnloss Z^ussndung von pr-obsnummsr>n und Prospekten
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Von ». ?G. H^i»nu,si,. Dbersetct von Legstions - Sekretär Dr. V. 0. von «Sillig
15. bebsndelt die WecbselwirKungen cwiscben England, Europa und ^.hier in
geschichtlich umfassender, volkstümlicher, suam vor Keiner XritiK des Engländers
und Europäers curücksebreckenden V^else. Lr xeigt auch, wie bei den Vor-
stöLen, die bald von asiatischer, bald europSiscber Leite gemscbt worden sind,
die R^eibs nunmehr wieder su ^hier ist, und — das ist für uns von nickt ge¬
ringer Bedeutung — dsiZ dieser neueste set?t einsetzende StolZ sich gegen
England richtet. Oas'WerK gibt mithin gerade inunserenlagen—wo sich dieSowsets
dieser Bewegung führend bemächtigt höher — den Lcblüssel tur das Ver¬
ständnis von uns öeutscben fernliegenden, aber besonders ?u beberziigenden tragen.
OasLucb eines englischen Socialisten, wie fürs deutscbeVolK geschrieben, eine?ibe1
tur ^jeden, der die Leciebungen der Brdteile Kennen lernen, umfassend politisch
denken, die Zeitereignisse in tieferen ^usammenbangen versieben lernen will.
Breis etwa so N., gebunden etwa 2Z ^l.
xor.»».en - -
le französische Republik feiert ihren funfzigsten Geburtstag. Die
Tochter Sedans, hat sie in achtundvierzigjähriger diplomatischer
Arbeit, militärischer Rüstung, politischer Vorbereitung und geistiger
Einschulung der Nation in Hoffnung, Haß und Opferkraft ihr
Dasein gerechtfertigt und geadelt. In den siebziger Jahren gab
man ihr, die, hinter der Hecke geboren, trübe Tatsachen und peinliche Erinnerungen
verkörperte, nur ein kurzes Leben/ später verunzierten periodische Ausschläge wie
der Panama- oder der Dreyfußhandel ihr niemals recht jugendliches Gesicht. Am
Ende der fünfzig Jahre aber sind die Grenzen von 1870 wieder erreicht und
überschritten. Ein fast unermeßliches Kolonialreich ist neu hinzugewonnen, dessen
schwarze Söhne heute für sich allein genügen würden, den I^unes Jayel-ii im
entwaffneten Deutschland zu besetzen. (Und dabei sind es erst neun Jahre her,
daß Kiderlen-Wächter im Reichstag das Vorhandensein einer schwarzen Armee
höhnisch bestritt.) Die Vorherrschaft im Festlande Europas ist mit dem Nieder¬
bruch Deutschlands, Österreichs und Rußlands einstweilen erreicht. Welch eine
Wendung! Das Problem ist nur, wie diese künstliche Verschiebung des Schwer¬
gewichts durch fortdauernde Niederhaltung des ganzen Nestes von Europa mit
Hilfe von Tanks und Maschinengewehren verewigt werden könne?
Abhängigkeit von England schreckt die siegreiche Nation so wenig, wie die
augenblickliche Verwüstung und Verarmung, mit deren standhaften Ertragen sie
den Erfolg bezahlt hat. Was England betrifft, so hat es seit Jahresfrist einen
Spezialisten für Asien, nicht für Europa, zum Außenminister, und ihr Gegensatz
gegen Nußland und Amerika in Außereuropa macht den Engländern die französische
Bundesgenossenschaft noch immer wertvoll. Deutschland kommt anderseits bei der
Schwäche der französischen Flotte und ihrer Ungefährlichkeit für England als
etwaige Spielfigur Englands gegen Frankreich so wenig in Betracht, daß Frank¬
reich in Europa, insbesondere in Mitteleuropa ziemlich freie Hand und genügende
Unterstützung durch England findet. So fürchtet Frankreich kein Herüberschwenken
Englands zu Deutschland oder Rußland,- was so aussieht und bei uns vorschnelle
Hoffnungen erregt, sind leise Umbildungsprozesse innerhalb der Entente cordiale,
nicht ihr Ende. Und anderseits fürchtet Frankreich auch nicht, neben den Welt¬
reichen der Angelsachsen zu verkümmern. Der englisch-amerikanische Gegensatz
einerseits, die Stärke Frankreichs anderseits geben ihm Aussicht, im Besitz der
Naturschätze des französischen Bodens und in Ausnutzung Deutschlands und Afrikas
sein Herrendasein neben den Angelsachsen zu behaupten.
Frankreich ist fest entschlossen, die deutsche Kohle, Arbeit und Erfindungs¬
gabe für sich nutzbar zu machen bis zum äußersten und letzten, bis zur Er¬
drosselung der deutschen Volkskraft, die an sich ebenso sehr Ziel der französischen
Politik ist, wie die Wiederaufrichtung des eigenen Wohlstandes, im Zweifelsfall
sogar das vornehmere Ziel, was man in Deutschland nur langsam und zögernd
begreift. Alle deutschen Vorschläge von festländischer Planwirtschaft und wenigstens
wirtschaftlicher Gleichberechtigung begegnen grober oder verhüllter Ablehnung,
weil in ihnen die naturgemäße Beendigung der französischen Fremd- und Zwangs¬
wirtschaft vermutet wird. Frankreich ist überzeugt, daß der Deutsche in dem
sogenannten Friedenszustand, der nach Clemenceaus Wort eine Fortsetzung des
Krieges mit anderen Mitteln ist, sich allmählich daran gewöhnen wird, der Hörige
der französischen Nation zu werden und zu bleiben. Um sein ärmliches Leben zu
fristen, wird der Deutsche, so hofft man, schließlich sich an alles gewöhnen, was
der Machthaber von ihm verlangt. Der Deutsche sprach zwar gern das Wort
von Clausewitz nach, daß der Krieg eine Fortsetzung der Politik mit anderen
Mitteln sei. Aber Deutschland hatte eigentlich weder vor dem Krieg noch während
desselben eine feste und klare Politik. Am entwaffneten Deutschland soll die
Politik nun vollends nicht nur der Möglichkeit des Krieges beraubt, sondern auch
auf innerdeutsche Streitigkeiten, ^usrelles sIIsiNÄnäes, beschränkt werden,
Bayern gegen Preußen, Freie Pfalz gegen Rheinstaat, Monarchisten gegen
Republikaner usw. Polen wird als Frankreich des Ostens die Deutschen und
Russen auseinanderhalten, deren drohende Vereinigung zu beiderseitigen Wieder¬
aufbau der einzige große Alpdruck der Franzosen ist. So führt die französische
Beherrschung Mitteleuropas notwendig auch auf die Überwachung Osteuropas
hinüber und die napoleonische Logik tritt wieder in Geltung. Da Frankreich alle
Hoffnungen und Pläne der letzten fünfzig Jahre verwirklicht sieht, und sich um¬
gekehrt alle politischen Absichten der Deutschen und der Russen als trügerisch
erwiesen haben, so sieht Frankreich in der folgerichtigen und rücksichtlosen Ver¬
folgung seines Siegerstandpunktes, aufgeblüht durch den Erfolg, heute geringere
Gefahren als in irgendwelcher Nachgiebigkeit und Versöhnlichkeit. Die größte Linie
der französischen Politik, die so gern mit den drei Namen Cäsar, Ludwig XIV.
und Napoleon I. verknüpft wird, ist wieder erreicht und die dritte Republik,
die dies errungen hat, feiert mit ruhigem Stolz die Wiederkehr des Tages von
Sedan, einzig bedacht auf neue Demütigungen des unersättlich gehaßten und be¬
argwöhnten Deutschlands. In Berlin läßt der französische Botschafter die
Trikolore Salutieren durch arme Reichswehrsoldaten, die nach dem Begräbnis der
preußischen und deutschen Banner ihr Leben einzig damit hinbringen dürfen,
Reichsexekutionen gegen Räterepubliken zu vollziehen.
,
Das zweite deutsche Kaiserreich, auch in Sedan geboren, zu Versailles aus
der Taufe gehoben, hat nicht einmal die zweihundert Jahre gelebt, die dem ersten
deutschen Kaisertum beschicken waren. Ein Interregnum ist eingetreten/ eine
Verlegenheitsrepublik, deren rosarote Erstlingseinbildungen heute schon verflogen
sind, steht da, auch sie das Kind eines verlorenen Krieges, wenn auch keiner ver¬
lorenen Schlacht. Sedantag ist kein Feiertag der neuen deutschen Republik.
Wären wir Franzosen, wir feierten gerade jetzt im Unglück den Sedantag alle
zusammen, so wie die Franzosen 48 Jahre hindurch dem Denkmal „ihrer" Stadt
Strasbourg gehuldigt haben. Wir aber sind das Volk ohne Nationalfeiertag,
das einzige der Welt! Es gibt aber da und dort im zerrissenen Vaterland
gar manchen, der am Sedantag einmal den Schleier lüftet, den wir im November
1918 über Bismarcks Bild hingen, weil die Scham, ihm in die Augen zu
sehen, zu wehe tat. Wir lüften den Schleier für einen Tag und halten Einkehr
mit den Besten unsres Volks, die 1870 und 1914 ihr Blut auf Frankreichs Boden
verströmen ließen. Wir suchen an diesem Tag der namenlosen Trauer die ferne
Hoffnung. Wie ist uns Sedan aus ruhmvoller, gesicherter Vergangenheit wieder
zur Gegenwart geworden, seit von den alten Mitkämpfern des Siebziger Krieges
Clemenceau über Hindenburg gesiegt, der Schatten Gambettas den Moltkes
geschlagen hat!
Die Schar derer, die den Sedantag im neuen Sinne feiern, wird von jetzt
ab wohl jedes Jahr größer werden in Deutschland. Die andern, die ihren
Frieden mit Frankreich geschlossen haben oder schließen wollen, werden aussterben,
weil Frankreich ihn nicht schließt. Sedan wird uns zu einem Tag der Zukunft,
ferner, sorgenverhüllter Zukunft. Aber nur die haben überhaupt eine Zukunft in
und für Deutschland, die in dem fast beispiellos jähen Niedergang unseres Schick¬
sals die Vergangenheit fest im Herzen tragen.
Von 1792 bis 1870 hat Frankreich, wenn immer möglich, eine geräuschvolle
Hegemoniepolitik getrieben, deren mit der Gegenwart verwandte Züge sind:
Militärgewalt und kriegerisches Prestige, Nheingrenzenstreben, Einbeziehen Belgiens,
Begünstigung Polens, Schüren der inneren Zwietracht in Deutschland und Italien,
und wenn möglich, Benutzen Englands gegen Mittel- und Osteuropa. Napeleon III.
war der Gefangene dieser Ideen. Aber gerade die gewalttätige und aufdringliche
Art, wie er die innere Schwäche der deutschen und der italienischen Nation als
Grundrecht der französischen Vormacht in Anspruch nahm, hat die Beseitigung der
nationalen Zerrissenheit in beiden mitteleuropäischen Völkern befördert. „Eins
muß man dem Kaiser lassen", sagte 1867 mit sarkastischen Lächeln Thiers, der
Führer der Opposition, zu Napoleons Minister Rouher, „er hat es verstanden,
Zwei große Minister zu machen." „Für mein Teil danke ich", erwiderte 'ge¬
schmeichelt Rouher. „Ich meine Herrn v. Bismarck und Graf Cavour", versetzte
Thiers. Sedan hat dann sowohl die von Napoleon verhinderte endgültige Einheit
Italiens wie die Einheit Deutschlands, bis auf Österreich, entschieden und es lag
der Natur der französischen Politik, daß diese Einigung ohne Krieg nicht zu
gewinnen war.
Nach dem Krieg nahm die französische Politik, die im Glück immer plump
und gewalttätig war, eine beinahe italienische Feinheit des Wartens und Sich-
schmiegens bei unverruckten Ziel an. Das Begründer des Kolonialreichs unter
Deutschlands Billigung war die erste Meisterleistung des damals noch vereinsamten
Frankreich der Bismarckschen Zeit. Bismarcks Entlassung ermöglichte dann das
zweite Meisterstück, die Heranholung der Russen zu einer vom russischen Standpunkt
aus unverständigen deutschfeindlichen Verbindung. Deutschlands wirtschaftlicher Auf¬
schwung ermöglichte zuletzt nach der Kapitulation von Faschoda die Begründung der
Entente cordiale, in welcher Delcasss das Holsteinsche Axiom von der Deutschland
schützenden Gegnerschaft Englands und Rußlands aufzuheben vermochte. Die
Russen blieben sogar bei der Stange, nachdem sie 1904/5 erfahren hatten, daß
ihnen einzig Deutschland in ihren schweren Tagen zur Seite stand, während
Frankreich den britischen Parteigänger Japan begünstigte. Die Fehler der
deutschen Politik im Kriege, ihre Wilsoneinbildungen und die Polenbefreiung (mit
der Rückwirkung auf die Sonderfriedensmöglichkeit mit dem Zaren) spielten dann
unerwartet das Spiel Frankreichs, ebenso wie das Kriegsglück im Jahre 1914.
Schließlich aber hat doch die französische Nation das Beste selbst zu ihrem Erfolg
getan durch ihr einmütiges Einsetzen aller Willenskräfte bis zur letzten Viertelstunde.
Bis hierher hat sie alles gut gemacht und uns belehrt, wie ungerechtfertigt
wir sie unterschätzt hatten. Vom Augenblick des Sieges an aber begann sich die
französische Politik wieder im Erfolg zu berauschen und alte Irrtümer zu wieder¬
holen. Wir hatten nach dreimaligem siegreichem Einzug in Paris binnen eines
Jahrhunderts die Franzosen unterschätzt) sie aber überschätzen sich jetzt wieder und
spielen, wie seit dem Vertrag von Verdun vor fast 1100 Jahren das alte Schaukel¬
spiel fort, indem sie ihre Nachbarn, die Geschichte und die Vernunft zu verge¬
waltigen suchen. Gewiß hat der Weltkrieg Frankreich fünfzigmal mehr Wunden
gebracht als der siebziger Krieg. Dafür sucht aber der Gewinner von 1918 den
Unterlegenen auch fünfzig und hundertmal mehr zu schädigen, als es der Sieger
von 1870 tat. Damit vermag uns Frankreich unsäglich zu peinigen. Aber es
geht eben doch nicht auf die Länge und führt von Konsequenz zu Konsequenz bis
an den Umschwung. Schon heute, in der anscheinend völligen Hoffnungslosigkeit
unsrer Lage, darf man die Vermutung aussprechen, daß die französische Politik
den Höhepunkt ihrer inneren Kraft und Solidität bereits überschritten hat und
Drachensaaten sät. Der Franzose wird uns noch oft an den Besitz der Waffen,
an seine Materialüberlegenheit und unsern Jammer roh und plump erinnern. Aber
wie er nur durch unsere Fehler, nicht durch eigene Kraft gesiegt hat, so werden wir
uns allmählich durch die Fehler wieder erheben, die ein siegreiches Frankreich
noch immer begangen hat.
Der Engländer wäre, wenn er wollte, vielleicht imstande, Deutschland zu einer
.Kolonie zu machen. Der Franzose, der Rheinbundstaaten schaffen, in Bayern
intrigieren, die Saarländer in Franzosen umfälschen will, den Leuten in Memel
und Oppeln ebenso wie am Rhein die schlechten Manieren seiner weißen und
schwarzen Soldateska vorführt, Frankfurt oder das Nuhrgebiet besetzt, im Elsaß die
deutschen Kriegergräber schändet, in Wiesbaden aus Straßenbahnschaffnern Märtyrer
für das Deutschtum macht, ausweist, gefangensetzt, lange Greuellisten mit Rechts¬
bruch und Gewalttat füllt, unwahrhaftig wie der Fuchs den Gänsen schmeichelt
— Glaskastendiplomatie, Zuckerbrod wie Peitsche allzu naiv anwendend —, der
besticht, Kreaturen wie Nippold befördert, Zeitungen, Bücher und „Deutschland,
Deutschland über alles" verbietet, er erreicht am Ende doch! nur, daß der ach so leicht
einzuschläfernde Deutsche, der so bequem abzufinden und! selbst mit der Knechtschaft
vielleicht zu versöhnen wäre, aufwacht, den Erbfeind wieder wie in früheren Jahr¬
hunderten spürt und diesen mit tausend Nadelstichen von einer Ecke Deutschlands
zur anderen herumarbeitenden Zwingherrn sich recht genau besieht, schließlich sogar
sich vielleicht Sedans erinnert und des schon so vergessenen Ruhms in den tausend
Schlachten des Weltkrieges, Freilich „väsrint, cluin uistuaiit", sagt Clcmenceau
mit Tiberius: auf den deutschen Haß hat sich der Franzose schon eingestellt, obwohl
er ihn selbst erzeugt hat. Darum soll das deutsche Volk ja so künstlich und verzwickt
gefesselt werden, wie Gulliver von den Liliputanern. Aber glaubt Frankreich wirk¬
lich, daß die an sich stärkere Volkskraft Deutschlands durch Knebelungen auf die
Dauer niedergehalten werden kann? Würde nicht bei der ursprünglichen Versöhnungs¬
neigung unsres Volkscharakters die entgegengesetzte Politik für Frankreich selbst
weit weniger gefährlich und dabei nutzbringender sein? Aber diese Überlegung hat
keinen Zweck, die Franzosen nehmen sie eben einfach nicht an. Und so sind sie auf
dem besten Wege, Deutschland abermals zusammenzuschmieden, je unausweichlicher
jedem Deutschen ihre Fremdherrschaft ins Gefühl zu treten beginnt.
Insbesondere wollen sich die Franzosen einige Menschenalter hindurch von uns
füttern lassen, wobei indes unser Land jedes Jahr ärmer, menschenleerer und kraft¬
loser werden, dennoch aber für den Unterhalt der französischen Nation in großem
Umfang auskommen soll. An sich ist gewiß, daß bei freiem Spiel der Kräfte die
Deutschen dank ihrer Organisation als unpolitisches Arbeitsvolk von allen kriegs-
geschädigten Nationen am raschesten wieder zu Wohlfahrt kommen würden, und es
wäre in dem Zeitalter neuer Wirtschaftsorganisation und Erfindungen, das uns
vermutlich bevorstünde, falls nicht die Franzosen Europa in kriegerischem Wirrwarr
hielten, an sich Wohl denkbar, daß wir die europäischen Nachbarnationen die Früchte
unseres Fleißes dauernd alternden ließen, nachdem unser Anlauf zur freien Welt¬
macht einmal unwiderbringlich gescheitert ist. Aber dann müßten wir wenigstens
eine freie europäische Macht sein. Der Absturz von den Zuständen, die uns noch vor
sechs Jahren selbstverständlich und scheinbar unerschütterlich umgaben, ist immer noch
unermeßlich, wenn wir jetzt etwa wie Italien oder Spanien leben und uns selbst
regieren dürften. Allerdings würde dann nicht nur uns selbst überlassen bleiben
müssen, in welcher Weise wir die Kriegsentschädigung aufbringen. Es würde uns
nicht nur eine Wehrmacht gestattet werden müssen, die wenigstens der Wehrmacht
Polens oder Belgiens gleichkommt. Sondern auch der Gedanke der Selbst¬
bestimmung, den Wilson doch für die Schleswiger, Ostpreußen und Oberschlesier ge¬
rettet hat, könnte dann den Elsässern, Westpreußen und Österreichern auch nicht vor¬
enthalten bleiben. Die Letzteren beiden würden sich mit dem Mutterland wieder ver¬
einen, die Elsässer würden die Fähigkeit der Deutschen als europäischen UrVolks zu
immer neuen Staatsabsplitterungen betätigen, indem sie einen eigenen Staat, wie
die Niederländer oder Schweizer bilden würden, wobei immerhin ihre Volksart vor
der Verwelschung geschützt bliebe. Schließlich würden auch Russen und Deutsche das
tun müssen, was in französischen Augen ihr höchstes Verbrechen ist, nämlich! sich zu
beiderseitigen Wiederaufbau wirtschaftsfriedlich zusammenfinden.
Das alles und noch einiges mehr aber glaubt Frankreich verhindern zu sollen,
eine undankbare Aufgabe, bei der es, wenn man nicht die Jahre, sondern die Jahr¬
zehnte zählt, irgendwann einmal unterliegen muß. Vor allem schon läßt sich die
Einpflanzung des französischen Parasiten in die deutsche Wirtschaft nicht durchführen,
wenn gleichzeitig diese Wirtschaft gewaltsam verkrüppelt wird. Lebende Körper nehmen
beim Stoffwechsel immer nur einen Teil der assimilierten Stoffe zum Aufbau der
eigenen Zellen ein, das übrige geht beim Stoffwechsel, im „Betriebe" darauf. Nur
wenn der Baustoffwechscl Überschüsse liefert, kann der Körper wachsen, hat er Unter¬
schüsse, so stirbt er ab. Das Ideal der Franzosen, ein riesig gesteigerter Betriebs-
stofswechsel Deutschlands unter Abführung aller Bauüberschüsse in den französischen
Körper, läßt sich nicht durchführen, weil dabei der arbeitende Körper selber stirbt.
Soll unser Betrieb sich steigern, so muß uns auch Wachstum gestattet werden, sonst
gibt es keine Überschüsse; und ein Volk, das in Aussterbeftimmung gedrängt wird, ist
kein Gedeihen fördernder Nachbar. Außerdem aber wird durch die französische Ost¬
politik Deutschland früher oder später wieder das Schlachtfeld Europas. Schließlich
wird nach dunklen Jahrzehnten voller Qual und Blut Europa wieder einmal wie
nach den Zeitaltern Richelieus, Ludwigs XIV. und Napoleons I. zu der Einsicht
kommen, daß alle Länder nur dann gedeihen können, wenn im Herzen Europas die
deutsche Nation frei und mächtig genug ist, um die Grenzen ihres Volkstums und
den Frieden nach Ost und West selbst zu schirmen. Das Verbrechen an Europa,
das die französische Revanchepolitik beging, als sie englischen Handelsneid und
russischen Ausdehnungsdrang als kriegslustiger Makler zur Einkreisung des deutschen
Kaiserreiches zusammenband, das Verbrechen an Europa, das nun die französische
Hegemoniesucht fortsetzt, indem sie ein Volk, das ihr zu groß ist, zur erbärmlichen
Sklaverei verurteilt und ein zweites Volk, das ihr wahrscheinlich nie wieder dienen
würde, nach Asien zurückdrängen will: dies führt mit Notwendigkeit zu Rückschlägen.
Die unfruchtbare, anachronistische Politik der Franzosen macht sie zu unnützen
Schädlingen Europas. Europa aber ist zwar arm und unglücklich, aber noch jung
und lebensfroh. Es will nicht dulden, daß die Franzosen, die, wenn es ihnen gut
geht, keiner leiden mag und die sich als Herren immer unerträglich mifführcn, in
ihrer doch recht begrenzten eigenen Leistungsfähigkeit mit Hilfe von Dynamik und '
Negern aus dem schönsten Erdteil eine Teufelsinsel machen. Wir lassen uns selbst in
unserer jetzigen Lage doch nicht zu Narren der Weltgeschichte machen. Freilich, die
Angelsachsen streichen, wie zur Zeit Ludwigs XIV., der Pompadour und Napoleons I.
die Gewinne ein, die ihnen die Unvernunft der französischen Festlandspolitik mühelos
zuspielt. Europa ist heute schon weit unbedeutender in der Welt geworden, als es
vor hundert Jahren war. Es wird nach dem kommenden Wirrwarr der neuesten fran¬
zösischen Hegcmonieperiode noch viel blutleerer dastehen. Die Summe der kulturellen
und geistigen Energien der Welt wird durch dieses unleidliche französische Zwischen¬
spiel furchtbar vermindert. Aber etwas bleibt übrig, eine in allem zwar geschwächte,
aber durch die Franzosenzeit und ihre Leiden innerlich wieder einmal umgeschmolzene
und so Gott will herrlich verjüngte deutsche Nation. Mit ihr läßt sich dann auch für
die Welt noch vieles machen. Heute denken wir aber weniger an die Pflichten
und Verheißungen der Weltkultur. Die Geschichte ist wieder politisch, hart und----
national geworden. Von Weimar und Potsdam, vom verödeten Kieler Hafen, aus
dem die Engländer eben die letzten Schwimmdocks wegschleppen, von, gemarterten
Danzig und dem sterbenden Wien, dem die Franzosen den Tod befohlen haben, weil
es nicht deutsch sein darf, was es doch ist, vom kleinen Sonnenwinkel unseres Volks
südwärts des Brenners und vom französisch zerregierten Memelland, wie von der
schicksalsgleichen, der Memel so verschwisterten Saar, vom unglücklichen Soltau und
von all jenen treuen Landschaften am Rhein, an der Wasserkante, an der Elbe oder
Donau, wo jetzt Tag für Tag eintönig die Sprengungen unserer deutschen Festungs¬
werke durch das waffenlose Land hindröhnen, Gleichgültige aufrüttelnd, wie dumpfes
Stöhnen des im Halbschlaf träumenden Volksgenius: „immer weiter hinunter, immer
tiefer ins Leid/' Von überall her wandert deutsches Gedenken heute auf das stille
Schlachtfeld von Sedan, wo die durch Ludwig XIV. und Napoleon I. gequälte und
erzogene Nation ein neues Zeitalter schuf. Kurz ist es gewesen, noch haben viele
Kämpfer von einst lebend mit uns die Last dieser Tage zu tragen, aber niemals
ist irgend etwas umsonst gewesen, was so wie Sedan aus der Gerechtigkeit der Ge¬
schichte und den wahren Eigenschaften einer Nation entsprang.
Schlechte politische Führung oben und mangelnder politischer Instinkt in
den Massen haben den ganzen Ertrag der deutschen Arbeit und Opfer im Welt¬
krieg zunichte gemacht, darüber hinaus auch das erfolgreiche Werk der Generationen
Bismarcks und Friedrichs des Großen zerstört. Deshalb ist der Deutsche heute
viel tiefer entmutigt, als an sich aus dem verlorenen Krieg und der Nieder¬
drückung unseres Lebens sich erklärt. Man späht nach Erleichterung und Rettung
aus, die von draußen kommen soll. Nach der Wilsonenttäuschung ist es bald die
Vernunft Llohd Georges, bald Giolitti, bald die französischen Sozialisten, bald
das russische Heer, von wo die Rettung kurzatmig erwartet wird. Unsere eigenen
Erfolge zwischen 1648 und 1870 und der französische Erfolg in unsern Tagen
aber lehren gleicherweise, daß das Rad der Geschichte sich nur dann umkehrt,
wenn eine Nation auf das Vorbereiten und Ergreifen eines solchen Glückswechsels
hin erzogen wird. Unsere nationale Erziehung leistet zur Zeit so ziemlich noch
das Gegenteil. Auf die Frage eines Franzosen im September 1870, gegen wen
eigentlich Deutschland kämpfe, antwortete Ranke: „Gegen Ludwig XIV." Die
Siege von 1813 und 1870 waren das Ergebnis unserer Mißhandlung durch
Frankreich und entsprechender Erziehung der Nation. Unsere Kinder können sich
wiederum ihres eigenen Schicksals nicht bewußt werden, ohne über Sedan und
Leipzig zurück zu den politischen Ahnen Clemcnceaus zu blicken. Dahin sind wir
gestürzt, die wir vor kurzem noch mit dem englischen Welthandel konkurrierten.
Wir müssen uns wieder an das Niveau französischer Politik und ihres boshaften
Größenwahns gewöhnen. Was aber geistige Vorbereitung einer Nation heißt,
dies eine können wir von den Franzosen nach Sedan lernen. Ein kleines Ereignis
aus dem Leben möge den Abstand zwischen französischer und deutscher Erziehungs¬
weise beleuchten.
Es war zur Zeit des frankorussischen Bündnisses, auf halber Zeitstrecke
zwischen Sedan und der Marne. In einem schweizer Dorfgasthaus traf eine
französische Familie ein. Die Eltern ignorierten die Anwesenheit der deutschen
Familie, an deren Tisch sie gesetzt wurden^ zwischen den Kindern aber entspannen
sich Unterhaltungen, begünstigt durch den Umstand, daß die 8- und 9 jährigen
kleinen Franzosen fließend deutsch sprachen, so daß sie im stundenlangen Gespräch
nur einen Schnitzer machten: sie gaben als Beruf des Vaters „Schreiber" an
Jgy
Während sie „Schriftsteller" meinten. Dieser Schriftsteller hatte die Jungens von
früh auf für nichts als die Revanche erzogen. „Wir sprechen deutsch, damit wir
es einmal im nächsten Krieg können", erklärte Gaston uns staunenden deutschen
Kindern, denen hier zum erstenmal im Leben Politik greifbar entgegentrat, denn
wir hatten beim Lesen der Geschichtsbücher oder beim Auffangen von Zeit¬
ereignissen nur das Malerische und menschlich Bewegte aufgenommen, und beim
Sprachenlernen wäre uns jede andere zukünftige Verwendung zu Arbeit oder
Genuß eher eingefallen, als die für einen Krieg. „Unser Großvater, der aus
dem Elsaß stammt, spricht mit uns nur deutsche wir werden beide Offiziere, und
den nächsten Krieg werden wir gewinnen, denn das letztemal haben wir verloren,
und es gibt ein französisches Sprichwort, das sagt ungefähr: heute mir, morgen
dir." Einer von uns wußte zu erwidern, daß doch 1813, 1815 und 1870 die
Würfel jedesmal gleich gefallen wären, aber darauf schwiegen die beiden glühenden
Patrioten weniger verlegen als zielbewußt. Heute ist der eine als Offizier in
Mainz tätig, während der andere in der Schlacht bei Mühlhausen gefallen ist.
Elsässisches Blut, durch französischen Nationalstolz destilliert.
Jeder unter uns sehe nach dem Seinen und gedenke der Vergangenheit und
Zukunft mit seinen Kindern. Keine Lage ist unter geschichtlichen Maßstäben
hoffnungslos, aber damit sich Wege zeigen, muß erst ein Wille da sein, und nur
ein einiger Nationalwille, nichts von außen Kommendes, legt das Fundament zu
besseren Zeiten.
„Man soll die Dinge weder bespötteln noch beweinen,
Spinoza. sondern zu verstehen suchen."
s ist zum Gemeinplatz geworden, die deutsche Diplomatie nach
Bismarcks Sturz habe versagt. Da ist es merkwürdig, daß es heute so
viele gute Diplomaten gibt, denn solche scheinen es doch zu sein,
die alle wissen, wie man es hätte besser machen sollen. Indessen der
Schein trügt; das Vesserwissen beruht auf Schlüssen aus dem
Späteren; die furchtbaren Erfahrungen des Weltkrieges wurden zu Lehrmeistern,
die den für Deutschlands Wohl verantwortlichen Staatsmännern noch nicht zur
Verfügung stehen konnten. Dem mag entgegengehalten werden: Den großen
Staatsmann kennzeichne doch eben die Fähigkeit, die Zukunft zu deuten, aber selbst
Bismarck hat einmal gesagt, es ließe sich nichts über höchstens drei Jahre voraus¬
sagen, und keinesfalls darf der Historiker diesen Maßstab für sein Urteil anwenden.
Er hat das Geschehen aus der Vergangenheit heraus zu begreifen und die Verant¬
wortung des Handelnden allein aus den Zeitumständen abzuleiten, unter denen er
lebte und wirkte. Die historische Arbeit darf jetzt beginnen, wo die Waffen nieder-M
gelegt sind; eine besonder«? Anregung bieten zwei jüngst erschienene Werke zur Ge¬
schichte von Deutschlands auswärtiger Politik, zumal aus den Jahren, in denen
der Knoten geschürzt wurde: Es sind die Mitteilungen Otto Hammanns über den
„neuen Kurs" und „die Vorgeschichte des Krieges", vor allem aber „die Erinne¬
rungen und Denkwürdigkeiten" des Freiherrn von Eckardstein. Beide Bücher
ergänzen sich in willkommener Weise: Hammann berichtet von der Zentralbehörde
Berlin aus, vom Auswärtigen Amte, indem er die Presseabteilung leitete, Eckard¬
stein weilte auf diplomatischem Posten und wurde zuletzt als Botschaftsrat um so
tiefer in die diplomatischen Geschäfte eingeweiht, als der vorgesetzte Botschafter Graf
Hatzfeld durch Krankheit immer wieder in der Geschäftsführung unterbrochen wurde.
stofflich berühren sich beide Werke in einem bedeutsamen Thema: In der Be¬
handlung des Verhältnisses Deutschlands zu England, d. h. in jenem politischen
Problem, dessen mangelnde Lösung zum Zusammenbruch Deutschlands beigetragen
hat. Diese Verursachung ist bereits vielen unter uns deutlich genug zum Bewußtsein
gekommen, wir wußten aber noch nicht viel von den Möglichkeiten, die auf dem Wege
lagen; unsere Gewährsmänner bringen uns in dieser Hinsicht Enthüllungen. Tiefen
Eindruck macht die Bekanntgabe, daß England uns mit Bündnisangeboten gegen¬
übergetreten ist, die einen anderen Charakter trugen als frühere flüchtige Angaben
es vermuten ließen: Das Bündniswerben erfolgte nicht einmal, im Vorübergehen,
nein, wiederholt und eindringlich, Deutschland war es, das aus den Verhandlungen
nichts werden ließ. Jedermann glaubt herauszufühlen: Hier entschied sich Deutsch¬
lands Schicksal; um so mehr drängt es den Historiker, zu prüfen, welche Erwägungen
die deutsche Regierung bestimmten. Eckardstein und Hammann geben beide ihr Urteil
ab: Eckardstein führt das -Verfehlen darauf zurück, daß man in Berlin überhaupt
nicht wußte, was man wollte, er verdammt die auswärtige Leitung, das Auswärtige
Amt, das „Zentralrindvieh", wie Fürst Münster es nannte, in Grund und Boden;
Hammann tritt für mildernde Umstände ein, kurzsichtig und unbedacht sei man
nicht verfahren. Der Historiker dankt für kostbaren Quellenstoff, aber verlangt die
Kritik nach seiner Art einstellen zu dürfen; er weiß, daß das letzte Wort auf lange
hinaus noch nicht gesprochen werden kann, will aber schon die bisherigen Kenntnisse
nützen, um eine Urteilsbildung vorzubereiten. Er sucht nach wissenschaftlichen Ma߬
stäben und findet sie, indem er das Einzelgeschehen einreiht in die weltpolitische
Entwicklung, diese aber von der Reichsgründung an vor seinen Augen vorüber¬
ziehen läßt.
So beginnen wir damit, die Grundzüge der Politik des gewaltigen Reichs¬
gründers uns in Erinnerung zu rufen. Sie sind uns vertraut und doch, seit
Deutschland Niederlage rückt alles in andere Beleuchtung. Zuversichtlich und froh
Meinem wir früher, die Reichsgründung habe uns einen Abschluß gebracht, nicht
Mir inner-, sondern auch äußerpolitisch; je kühner viele Deutsche sich in politischen
Kombinationen verloren, desto mehr wähnten sie, sich auf sicheren Grundlagen zu
befinden. Das Bewußtsein, das den Reichsgründer selbst nie verließ, verblaßte
Winitten einer jüngeren Generation: Daß die Sicherheit des Reiches nichts Fest¬
stehendes war, sondern ein Gut, daß alle Zeit argwöhnischer Sorge bedürfte. Bekannt
ist der Ausspruch des Fürsten Gortschcckow vom Alpdruck der Koalitionen, der
Bismarck quäle; gefahrvolle Koalitionen zu verhüten, um den Bestand des Reiches
und seine Grenzen zu schützen, das war Bismarcks Kernaufgabe. Die Maßnahmen,
die er traf, ich fasse sie kurz zusammen. Der Erwerb Elsaß-Lothringens belastete
das Reich von Anfang an mit der Feindschaft Frankreichs; von dort war Revanche
zu erwarten und in Rechnung zu stellen, daß jede neu gegen Deutschland sich
erhebende Gegnerschaft in Frankreich Stütze une Anhang finden würde. Um so mehr
mußte Bismarck daran gelegen sein, ein gutes Verhältnis zum östlichen Nachbar zu
schaffen, zu Rußland; eine ideale Lösung wäre die Aufrechterhaltung des Drei¬
kaiserverhältnisses gewesen, das 1372 Deutschland zusammenführte mit Rußland
und Osterreich. Es war indessen nur ein Augenblickserfolg; mit dem Ausdruck)
der Balkanwirren und des russisch-türkischen Krieges wurde Bismarck zur Option
zwischen Rußland und Osterreich genötigt; nie ist die Schwere der Verantwortung,
die auf den damaligen Entschlüssen lastete, deutlicher geworden als in unseren
Tagen. Bismarck suchte, solange wie möglich, der Entscheidung auszuweichen; an?
Ende fiel sie für Osterreich, und nun stand das Deutsche Reich so da: Zu der
dauernden Feindschaft im Westen war bedingte Gegnerschaft im Osten gekommen;
bedingt nicht zum mindesten durch die Gegensätzlichkeit der Orientinteressen Ru߬
lands und des neuen Bundesgenossen Deutschlands, Österreich-Ungarns. Von hier
an stand es fest: Deutschlands Zwangslage im Westen würde allezeit eine wertvolle
Karte auch in Rußlands diplomatischem Spiele abgeben. Angesichts dieser Sach¬
lage legte Bismarck in einer bedeutsamen Denkschrift eine Mahnung nieder, die dem
deutschen Volke in Fleisch und Blut überging; er lehrte, Deutschlands Wohl sei
mit dem Österreichs-Ungarns verkettet. „Das Deutsche Reich dürfe es nie darauf
ankommen lassen, auf dem europäischen Kontinent zwischen Rußland und Frank¬
reich neben dem niedergeworfenen und von Deutschland im Stich gelassenen Öster¬
reich-Ungarn isoliert zurückbleiben." Um so mehr suchte Bismarck sein 1879 mit
Osterreich geschlossenes Bündnis auszubauen und zu stärken. Hier tritt Deutschlands
Verhältnis zu England in unseren Gesichtskreis. Die ganze Darstellung des Frei¬
herrn von Eckardtstein durchzieht der Vorwurf, die deutsche Politik habe sich in Be¬
handlung des englischen Bündniswerbens in scharfen Widerspruch gestellt zu den
Traditionen der Bismarckschen Politik, die stets bedacht gewesen sei, ein Bündnis
mit England zustande zu bringen; wir wollen darauf achten, wie weit diese Be¬
hauptung zutrifft.
Es ist richtig, schon in Versailles stellte Bismarck gute Beziehungen zu England
als wünschenswert hin; ja er ließ den Wunsch nach einen» Bündnis durchblicken. Das
erfahren wir aus englischer Quelle. Der britische Botschafter in Berlin Lord Odo
Russell weiß davon zu berichten; England sollte eine Bürgschaft für Elsaß-Lothringen
übernehmen. Ob das aber so ernsthaft gemeint war? Ob nicht Bismarck sehr
wohl wußte, daß er in England keine Gegenliebe fand? Dieses Vorgehen war wohl
nur ein diplomatischer Trick, UM in Nußland Eindruck zu machen; die Russen
sollten nicht glauben, daß Deutschland nur auf sie angewiesen sei. Erst als die
Balkanwirren sich ankündigten und zumal nach vollzogener Option zwischen Osterreich
und Rußland empfand Bismarck tatsächlich das Bedürfnis, England näher zu sich
heranzuziehen; Versuche in dieser Richtung setzten im Jahre 1875 mit einer geheimen
Sendung Lothar Buchers nach London ein, über deren Verlauf zur Zeit noch nichts
bekannt worden ist. Zu einer wichtigen Aussprache kam es dann 1878 in Berlin auf
dem Kongreß zwischen Bismarck und Bcaconsficld; dabei war von einem deutsch-
englischen Sonderabkommen nicht die Rede; Wohl aber erläuterte Bismarck die Vor-
teile einer Vereinbarung mit Einbeziehung Österreichs; England durch seine Flotte,
Deutschland und Osterreich mit ihren Heeren, würden imstande sein, den Welt¬
frieden durch Jahrhunderte zu sichern. Lord Beaconsfield antwortete, daß er
dem Gedanken sympathisch gegenüberstände, er wolle alles, was in seinen Kräften
stände, tun, um ihn zu fördern; aber „bitte, erzählen sie Salisbury nichts davon,
denn wenn ich als Anhänger dieses Gedankens gelte, wird er sicher den entgegen¬
gesetzten Standpunkt einnehmen". Ein Vertragsentwurf wurde aufgestellt, der ein
mit mannigfachen Klauseln versehenes Defensivverhältnis in Aussicht nahm. Bevor
Beaconsfield jedoch an die Ausführung gehen konnte, gelang es dem Führer der
Opposition, die öffentliche Meinung gegen Österreich-Ungarn in der böhmischen Frage
so zu erregen, daß an ein Bündnis auf dieser Grundlage nicht mehr gedacht werden
konnte. Bald darauf unterlag Beaconsfield in den Wahlen und starb. Bismarck
ging nunmehr daran, das deutsch-österreichische Bündnis zum Dreibund zu er¬
weitern; das weitere Verhältnis zu England aber wurde von jener Wandlung der
Weltlage abhängig, von der die Geschichtsschreibung den Beginn des Zeitalters
des Imperialismus datiert, den Beginn des Wettstreites der Mächte um den noch
in der Welt verfügbaren Besitz, um die Betätigung als Weltmarkt.
Es wird einmal eine höchst dornenvolle Aufgabe werden, die Geschichte der
diplomatischen Verhandlungen von 1880 bis 189V zu schreiben; es sind die Jahre,
auf die Bismarck sich mit der Äußerung bezog, daß ein Voraussagen auf längere
Frist unmöglich sei; wenn er gleichwohl die Gesamtlage zu meistern verstand, so
ist seine staatsmännische Meisterschaft um so höher anzuschlagen. Heute zwar mehren
sich die Stimmen, die dieses ganze diplomatische Spiel geißeln, und wer wird dem
Begehr nach einer besseren Weltordnung widersprechen; jeder Einsichtige aber wird
anerkennen, daß die in der europäischen Staatengesellschaft überkommene Art des
Wettbewerbes allseitig innegehalten werden mußte. Wenn die Feinde behaupten/
Bismarck habe den Ton angegeben, so ist das eine der Unwahrheiten, die kein
Deutscher nachsprechen darf; richtig ist nur soviel, daß Bismarck angesichts der
Schwierigkeiten, mit denen Deutschland vor anderen zu ringen hatte, die diplomatische
Kunst zum höchsten Raffinement ausbildete und damit wohl dazu beitrug, dem ganzen
System das Grab zu graben. Wir gingen von den Schwierigkeiten aus, mit denen
das Deutsche Reich von Haus aus zu ringen hatte; Bismarck nahm es auf sich,
trotzdem den deutschen Besitzstand zu erweitern, indem er dem deutschen Volke zum
Erwerb von Kolonien verhalf. Widerspenstig stand England im Wege; Bismarck
nutzte dessen Bedrängnisse, um mit dem nötigen Druck die Einwilligung zu erhalten.
Immerhin, es hatte widerwillig nachgegeben, eine neue, dritte Gegensätzlichkeit konnte
sich von hier aus entwickeln; da setzte die große diplomatische Aktion des Meisters
ein. Er verwies auf eine Interessengemeinschaft; Ägypten sollte das Bindeglied
abgeben. Der Balkankrieg hatte nämlich den Zersetzungsprozeß des Osmanischcn
Reiches gefördert, dabei war Ägypten in die englische Einflußsphäre geraten und in
dieser sollte es verbleiben. Bitter grollten die Franzosen, weil sie Ägypten für sich
beanspruchten; Bismarck wünschte die Anbauer dieses Grolles und bestärkte des¬
halb die Engländer in der Besitznahme. Die Interessengemeinschaft stellte sich ihm
folglich dar als eine gewisse Abhängigkeit Englands von Deutschland, angesichts
der französischen Feindseligkeit, die sich England zugezogen hatte. Gleichzeitig aber
wachte er sich eine zunehmende Verschärfung des Gegensatzes zwischen England und
Rußland zu Nutze, zumal die Russen sich hierdurch veranlaßt sahen, Anknüpfung
in Berlin zu suchen. Es kam 1334 ein Vertrag, zwischen Deutschland, Österreich-
Ungarn und Nußland zustande, nach dessen Ablauf 1387 ein Rückversicherungs-
vertrag mit Nußland einseitig und geheim abgeschlossen wurde. Letzterer machte
sogar den Russen das Zugeständnis weiterer Ausdehnung. Widersprach solche Aus¬
dehnung nicht aber deutschen Interessen und denen des Dreibundes? Sie wider¬
sprach ihnen keineswegs in Mittelasien, an Indiens Grenzen, wo im Gegenteil die
Russen auf die Engländer stießen, aber sie war im nahen Orient bedenklich, auf der
Balkanhalbinsel, denn das deutsch-österreichische Bündnis bedürfte einer Flanken¬
deckung im Osten, und seitdem war der Bestand des Osmanischcn Reiches auch ein
deutsches Interesse geworden. Und das war nun der verschmitzteste Teil des Bis-
marckschen Werkes, wie er zugunsten der Türkei tätig wurde. Er griff auf England
zurück und betrieb ein Abkommen zwischen England, Osterreich und Italien zur
Aufrechterhaltung des Statusquo im nahen Orient. Mit diesem Abkommen rückte
England im Dezember 1889 näher an den Dreibund heran. Diese Vereinbarung
machte also das den Russen gebotene Zugeständnis dort, wo es störend war, unschäd¬
lich. Das große Sicherungssystem des Meisters blieb indessen noch unabgeschlossen,
solange kein festes Verhältnis zu einer der beiden Weltmächte Nußland oder England
gefunden war; nach welcher Seite hin hätte Bismcirck den Anschluß am liebsten
gesehen? Da bringt uns ein geheimes diplomatisches Schreiben Bismarcks, mit dem
Hammann uns beschenkt hat, bedeutsame Auskunft; es ist ein in seiner Art einziges
Werbeschreiben an den englischen Premier, an Lord Salisbury, in dem der Wunsch
nach allgemeinem Zusammengehen mit England durchscheint. Bismarck dachte indessen
auch hier nicht an ein deutsch-englisches Bündnis, sondern an ein Bündnis des
Dreibundes mit England.
Wir scheiden aus der Werkstatt des Meisters mit bewunderndem Staunen,
aber auch mit Beklemmung; wie sollte es werden, wenn die Fäden dieses Netzwerkes
dem Meister aus den Händen glitten? Die Tragweite des Sturzes Bismarcks
wurde nirgends rascher als in London begriffen; die dort einsetzende Initiative
fordert uns auf, nunmehr auch den englischen Standpunkt und die englischen Ma߬
nahmen kennenzulernen.
Im Ringen, das im Zeitalter des Imperialismus einsetzte, hatte England
den Deutschen Gewaltiges voraus: Es war ja bereits eine Weltmacht. Als solche
verfügte es über entsprechende Traditionen, über eine geschulte Diplomatie, über
erforderliche Druckmittel. Kein diplomatisches Geschick anderer Mächte konnte den
Vorsprung ausgleichen, den sein weltumspannender Besitz ihm verschaffte, mit den
Stützpunkten, den er bot, und den Kombinationen, die er ermöglichte. Infolgedessen
verfügte England über die besten Grundlagen für jegliches diplomatische Geschäft;
es konnte nach allen Seiten in Austausch gegenseitiger Vorteile treten. Die eng¬
lische Geschäftsregel lautete: Lenskits ins, dsnekits xou. Allerdings, wie alles
Gute in der Welt seine Schattenseiten hat, so hatte auch die englische Weltstellung
ihre Schwächen: Der Umfang des Besitzes vervielfältigte die Reibungsflächen. Den
Gefahren planmäßig zu begegnen, hatte die auswärtige Leitung Grundregeln aus¬
gebildet, die sich vererbend insgesamt in der Forderung der Sicherung des britischen
Besitzstandes gipfelten. Wenn gleichwohl die auswärtige Politik Englands von
1870 an in ein Stadium der Unsicherheit und des Schwankens eintrat, so lag es
daran, daß die Veränderungen in der Weltlage einschneidend genug warm, um
neue Vorkehrungen zu bedingen; insbesondere Deutschland griff in die Kreise der
englischen Diplomatie insofern störend ein, als es in der Mitte Europas eine starke
Militärmacht errichtete, während eine der englischen Grundregeln lautete: England
habe gegen jede Militärmacht auf der Hut zu sein, die von dort her eine Vorherr¬
schaft erlangen könnte. Darunter wurde verstanden, daß kein Bündnissystem zu
dulden war, daß Englands in Europa verankerte Weltstellung bedrohte; um keinen
Preis durfte Napoleons Versuch sich wiederholen, England vom Kontinent abzu¬
sperren. Wie sollte man sich da mit der Deutschen Reichsgründung abfinden? Die
Ansichten der politischen Parteien gingen scharf auseinander. Die Liberalen wollten
vorbeugen, und nahmen von Anfang an eine deutschfeindliche Haltung ein; es ver¬
dient gewußt zu werden, daß der englische Liberalismus von der Gründung des
Reiches an als erstrebenswert die politische Kombination ins Auge faßte, die uns
zum Verhängnis wurde: Ein Zusammengehen Englands mit Frankreich und Ru߬
land. Anders die Konservativen, die den Hauptgegner in Rußland sahen und es für
zweckmäßig hielten, Deutschland für eine Frontstellung gegen Rußland zu gewinnen;
sobald Deutschland sich im Gegensatz gegen Rußland befand, war ja auch die Ge¬
fahr einer deutschen Vormachtsstellung überwunden. Diesen Standpunkt hatte Lord
Beaconsfield eingenommen. Solche Erwägungen machen es begreiflich, worin
Bismarcks folgendes diplomatisches Spiel den Engländern mißfiel; das übelste war,
daß er die Führung an sich riß. Den Liberalen war diese Tatsache Anlaß genug,
an ihrem Vorhaben festzuhalten; hingegen meinten die Konservativen von 1885 an
unter der Leitung Lord Salisburys, daß nichts zur Entscheidung dränge; Deutsch¬
lands exponierte Lage erlaube ein ruhiges Abwarten. Diese Haltung des Abwartens
empfahl sich um so mehr, je deutlicher gegen Ende der achtziger Jahre die Bildung
einer anderen Mächtegruppe in Sicht trat; Rußland und Frankreich näherten sich,
um ein Gegengewicht gegen den Dreibund zu bilden. Hielt England sich zurück, so
konnte es zu rechter Zeit ein Zünglein an der Wage zwischen den beiden Mächte¬
gruppen bilden; mit dieser Aussicht vor Augen, ist das Wort von der glänzenden
Isolierung geprägt worden. Inzwischen war jede Festigung der Front gegen Ru߬
land auch ein englisches Interesse, daher dessen Vereitwilligkeit zur Anlehnung an
den Dreibund; eine festere Bindung aber lehnte Lord Salisbmh in seiner Antwort
auf Bismarcks Schreiben höflich ab. Bismarcks Sturz öffnete plötzlich neue Mög¬
lichkeiten; wie wenn es gelang, einen Keil zwischen Deutschland und Rußland zu
treiben? Das war der Hintergedanke bei jenen Verhandlungen, die im Sansibar¬
vertrag einmündeten, der uns bekanntlich Helgoland brachte. Es ist interessant, aus
'französischer Quelle zu hören, wie die englische Diplomatie gleichzeitig noch in
anderer Weise arbeitete; es sei hier vorausgeschickt, daß Reichskanzler von
Eaprivi den RückVersicherungsvertrag mit Rußland kündigte, womit er das letzte
Hemmnis für den Abschluß einer russisch-ftanzösischen Entente beseitigte. Hier
setzte der Prinz von Wales bei seinen häufigen Pariser Besuchen ein, um, wahrschein¬
lich von seinen russischen Verwandten unterrichtet, diesen Abschluß zu fördern. Es
geschah, um eine Annäherung Deutschlands an Rußland zu erschweren. So ist es
also mit der ursprünglichen Deutschfreundlichkeit des späteren König Eduard, welche
^ckardtstein aus persönlichem Verkehr mit dem hohen Herrn rühmt, nicht so weit
her; wohl aber bezeugen Eckardtsteins Erinnerungen von neuem die große Kunst der
Menschenbehandlung, über die dieser Fürst verfügte. Der englische Premier ver¬
suchte dann Deutschland ganz ins englische Fahrwasser zu ziehen; das mißglückte ihm.
Caprivi lavierte vorsichtig aus den englischen Gewässern wieder heraus. Insofern
war Bismarcks Besorgnis, er werde sich von England bestricken lassen, unbegründet;
dasür hat sie uns einen denkwürdigen Ausspruch des Meisters über die Behandlung
des englischen Problems eingebracht, einen Ausspruch auf Grund seiner letzten Er¬
fahrungen, der Eckardtstein entgangen ist. Er lautet: „England ist unser gefähr¬
lichster Gegner. Es hält sich für unbesiegbar und glaubt, Deutschlands Hilfe nicht
zu brauchen. Es hält uns noch nicht für ebenbürtig, und würde nur ein Bündnis
unter Bedingungen schließen, die wir nie annehmen können. Bei einem Bündnis,
das wir schließen, müssen wir den stärkeren Teil bilden." Bald hernach wechselte
das Bild; jetzt erst begann in der Geschichte der englischen Diplomatie das Kapitel,
in welches das Bündniswerbcn um Deutschland hineingehört.
Das Ereignis, aus dem alles weitere hervorging, war die Einbeziehung Ost¬
asiens in das Bereich der Weltpolitik; der Ausbruch des Krieges zwischen China
und Japan gab den Anlaß. Sobald das siegreiche Japan den Preis forderte, trat
die Wirkung hervor: Die Diplomatie der Großmächte kündigte ihre Stellungnahme
an. Infolgedessen wurde das vielmaschige Netz der diplomatischen Beziehungen
noch verwickelter; neue Aufgaben, .neue Gegensätze kündigten sich an. Unmittelbar
interessiert waren England und Rußland, ersteres bedacht, sich ein überkommenes
Interessengebiet zu wahren, letzteres angeregt, sich ein neues zu eröffnen. Für
England war der chinesische Markt von so großer Bedeutung, daß ihm Eingriffe,
die dem Handel die offene Tür schlössen, unerträglich dünkten; für Nußland kam
die Möglichkeit in Betracht, seinen Ausdehnungsdrang nach dem fernen Osten zu
richten, um dort das Gestade des Stillen Ozeans zu erreichen. Der Beginn eines
neuen Kurses der russischen Politik wurde durch den Thronwechsel begünstigt, der
1894 den Zaren Nikolaus auf den Thron brachte. Was bedeutete das für Deutsch¬
land? Den Entschluß zu einer neuen Orientierung, die den Maßstab für das
folgende Verhalten der deutschen Diplomatie bilden muß. Bismarck hatte aus¬
schließlich die Sicherung des Reiches in den Mittelpunkt gestellt; jetzt begann man
es für möglich zu halten, Mittel und Wege zu schaffen, um Deutschland einen Platz
an der Sonne zu bereiten. Der Druck des gefährlichsten Nachbarn, des russischen,
versprach in dem Maße nachzulassen, in dem Rußland im fernen Osten engagiert
wurde; daran galt es anzuknüpfen. Es galt, Rußland auf dem neuen Wege zu
fördern und festzuhalten; dann milderte sich auch der Druck vom Westen und Deutsch¬
land konnte endlich einmal frei aufatmen. Es war, als begänne eine neue Ära,
wenn der Kaiser programmatisch ankündigte: „Aus dem Deutschen Reich ist ein Welt¬
reich geworden. An Sie, meine Herren, tritt die ernste Pflicht heran, dies größere
Deutsche Reich auch fest an unser heimisches zu gliedern." Dazu bedürfte es einer
Wcltpolitik; auch hier gab der Kaiser die Richtlinien an gelegentlich einer Zu¬
sammenkunft mit dem Zaren: „In völliger Übereinstimmung — sagte er — mit
seinem geliebten Nachbarn und Vetter ginge sein Bestreben dahin, die gesamten
Völker des europäischen Weltteils zusammenzuführen, um sie auf der Grundlage
gemeinsamer Interessen zu sammeln zum Schutze unserer heiligsten Güter." Schutz
der heiligsten Güter, das war Schutz gegen die gelbe Gefahr, aber etwas anderes steckte
dahinter: Ein Programm deutscher Weltpoliti?, dem die gelbe Gefahr nutzbar ge-
macht werden sollte, und in den Keimen vielleicht schon die Idee eines Kontinental-
bundcs unter deutsch-russischer Führung. Das befreundete Rußland würde das
grollende Frankreich mit sich ziehen; die Franzosen, die sich über Rußlands
„Desertion nach Asien" beschwerten, würden dem Druck der Verhältnisse weichen
müssen. Eben dieses Programm aber hatte weltpolitisch die Wirkung: Es be¬
drohte das britische Reich bis in die Grundfesten.
Hier wird es augenscheinlich, was unsere deutsche Kriegsliteratur zumeist
nicht wahrhaben wollte: der deutsch-englische Gegensatz wurzelt in der Weltpolitik.
Die englische Diplomatie witterte: Hier ballten sich schwere Gewitterwolken zu¬
sammen, eine Kombination trat in Sicht, wie sie seit Napoleons Tagen nicht bedroh¬
licher gewesen; es galt Gegenminen zu legen. Jetzt war auch sür Lord Salisbury,
der eben wieder ans Ruder kam, die Zeit des Abwartens vorüber. Und das wurde
nun Englands Aufgabe: Das Vordringen Rußlands nach Ostasien aufzuhalten, um
es nach dem nahen Orient zurückzulenken; gelang dies, fo war die Gefahr beschworen.
Wie das erreichen? Lord Salisbury begann sein Spiel, indem er eine neue Karte
ausspielte: Er gab das osmanische Reich preis. Er hätte es nicht vermocht, ohne
Ägypten fest in Händen zu haben; jetzt nutzte er Englands dortige Position, zu
der Bismarck verholfen, weltpolitisch aus. Und so ereignete sich dieses: Als der
Kaiser im Sommer 1895 zur Negattawoche in Cowes eintraf, unterbreitete ihm
Salisbury in persönlicher Audienz den Vorschlag einer Teilung der Türkei zwischen
England, Deutschland und Österreich-Ungarn. Der Hintergedanke bei diesem
„genialen Plane", wie ihn Eckardtstein nennt, war, einen Krieg über die armenischen
Greuel zu entfesseln, die deutsch-russische Freundschaft ein für allemal zu sprengen,
den Russen so viel in Europa zu tun zu geben, daß sie an Ostasien nicht mehr
denken könnten. Der Kaiser lehnte schroff ab, ja die deutsche Regierung erwiderte
den Zug, indem sie England an empfindlichster Stelle zu treffen versuchte; es
geschah durch eine Parteinahme für die Buren-Transvaals. Der Kaiser schrieb an
den Zaren: „Komme, was da will, ich werde den Engländern niemals erlauben,
Transvaal zu unterdrücken." Aus dieser Stimmung erklärt sich das bekannte
„Krügertelegramm"; es war als Ankündigung einer internationalen diplomatischen
Aktion gegen England gedacht. Aber auch der deutsche Gegenzug blieb wirkungslos,
Zumal weil Rußland sich der in Berlin ins Auge gefaßten Aktion versagte. Immer¬
hin waren die Beziehungen zwischen England und Deutschland nie gespannter
gewesen, als in den Jahren 1895—97. Erst im Frühjahr 1893 änderte sich das
Bild; die englische Diplomatie zog plötzlich andere Seiten auf und begann mit
dem Bündniswerben in Berlin.
Unser Einblick in die Weltlage macht den Boden erkenntlich, in dem dieses
Werben wurzelte: England blieb einer drohenden politischen Kombination gegen¬
über, die es zu sprengen suchte. Ja seine Verlegenheiten mehrten sich: Der Buren¬
krieg begann sich anzukündigen und in einem anderen Teile Afrikas drohte ein Zu¬
sammenstoß mit den Franzosen. Sprengversuche wurden sowohl in Petersburg wie
in Berlin gemacht; ein Fehlschlag in Petersburg ging wohl bemerkt dem Angebot
voran, das im März 1898 dem deutschen Botschafter in London gemacht wurde.
Die englische Diplomatie arbeitete hierbei in der Weise, daß im Kabinett zwei
Gruppen sich schieden, von denen die eine, unter Führung des Kolonialministers
^osef Chamberlciin Fühlung mit Deutschland suchte, während die andere unter dem
Premier sich die anderen Möglichkeiten offen ließ. Chamberlain regte den Abschluß
eines deutsch-englischen Vertrages an, der ein enges Zusammengehen beider Mächte
in allen akuten Weltfragen zur Folge haben sollte. In erster Reihe kam für ihn
die chinesische Frage in Betracht, wo er zu gemeinsamer Frontstellung gegen Nußland'
einlud; als besondere Lockspeise für Deutschland bot er Marokko, auf das nur auch
schon wieder Frankreich begehrlich seine Augen geworfen hatte. <Sö war eme Nach¬
ahmung der Vismarckschen Methode: Wie dieser Ägypten zur Verfügung gestellt
hatte, um einen englisch-französischen Gegensatz zu schaffen, so sollte Marokko den
deutsch-französischen Gegensatz verschärfen; der Unterschied lag aber darin, daß
Marokko für Deutschland ein nicht zu verteidigender Außenposten bleiben mußte,
während Ägypten sich in das große indische Verteidigungssystem einfügte. Gras
Hatzfeld äußerte gegen Chamberlain das Bedenken, es sei für das parlamentarisch
regierte England schwer, genügende Bürgschaft für ein Bündnis zu bieten; er
dachte dabei an die deutsch-feindliche Haltung der englischen Liberalen, salls diese
wieder ans Ruder kämen. Chamberlain beschwichtigte: Das Parlament könnte zur
Genehmigung herangezogen werden; ein Ausweg, der auch nur wieder im eng¬
lischen Interesse lag, weil damit das Einvernehmen aller Welt verkündet und der
Abbruch der Brücken nach Rußland die Folge gewesen wäre. Was sagte man also
in Berlin? Die Aufnahme des Angebots erklärt sich daraus, daß in ihm das
Streben verborgen war, Deutschland aus einer zur Zeit günstigen Lage heraus¬
zudrängen. Bei jedem Bündnisangebot sprechen doch Zeitpunkt und Begleit¬
umstände mit; nichts war da, um eine Veränderung des Kurses zu rechtfertigen.
Es war auch kein Abkommen, wie Bismarck es geplant, hatte; die von England
angedeutete Grundlage verlegte offensichtlich den Schwerpunkt aus Europa hinaus,
wo sicherlich England der stärkere Teil war. Und auch so war es nicht, daß man
etwas Festes abzulehnen meinte, um sich dafür etwas Unsicheres zu wahren: Die
Gewähr, daß Nußland bei seiner ostasiatischen Politik verharrte und demgemäß auf
den Druck im nahen Osten verzichtete, war auch etwas Festes, und es läßt sich an¬
nehmen, daß diese Gewähr vom Zaren in Antwort auf jenes Schreiben des Kaisers
geleistet worden sein wird, in dem dieser vom englischen Angebot Mitteilung machte
und den Zaren dringlich aufforderte, ihm zu sagen, was er seinerseits zu bieten
habe. Somit kam die Aufgabe der deutschen Politik darauf hinaus, auszuweichen,
ohne abzulehnen; eine Beseitigung der akuten Spannung war ja auch im deutschen
Interesse gelegen. Hier setzte die diplomatische Leitung des Staatssekretärs von
Bülow ein, der entgegen der Annahme Eckardtsteins, doch auch wohl wußte, was er
wollte, nämlich ein Vorwärtsgehen auf dem eingeschlagenen Wege. Es sollte nur
behutsamer geschehen, denn das Leitmotiv des Staatsmannes, der das deutsche
Staatsschiff von da an in verantwortungsvollsten Jahren zu lenken unternahm,
war dieses: Deutschlands Anerkennung als Weltmacht im Frieden zu erreichen. Die
Erwägung stand dahinter, das Risiko eines Krieges sei zu groß, Deutschland habe
dabei wenig zu gewinnen und gar viel zu verlieren; so wie in Bismarcks Zeiten
würde es nie wieder gelingen den Krieg zu lokalisieren, weil keine der anderen Mächte
den Deutschen einen Machtzuwachs auf fremde Kosten gönnen würde. Das Gespenst
eines Weltkrieges schreckte und legte Zurückhaltung auf. Die Bündnispolitik Bülows
stand damit unmittelbar im Zusammenhange: an einen Ausbau des Bündnissystems,
wie Bismarck ihn bis zuletzt geplant hatte, ließ sich unter den veränderten Umständen
nicht mehr denken. Der Weg zu einem deutsch-russischen Bündnis war durch die
Kündigung des RückVersicherungsvertrages und die darauf folgende russisch-fran¬
zösische Entente versperrt; die Idee eines Kontinentalbundes aber barg in erhöhtem
Maße die Gefahr in sich, eine Gegenaktion Englands mit allen Druckmitteln englischer
Diplomatie auszulösen. Warum aber dann nicht ein Bündnis mit England suchen?
Weil es zur Genüge bereits ersichtlich geworden war, daß ein solches unter annehm¬
baren Bedingungen schwerlich zu haben war. Einen Anschluß Englands an den
Dreibund hatte ja Salisbury bereits abgelehnt und die Art und Weise, in der
er nachher Deutschland zur Teilung des osmanischen Reiches heranzuziehen gesucht
hatte, deutete darauf hin, daß Deutschland Verwendung finden sollte, um Rußland
zu schwächen, um in einen Krieg mit ihm hineingetrieben zu werden, in dessen
Verlauf es England jeder Zeit frei blieb, seinen Bundesgenossen in Stich zu lassen.
Deshalb empfahl sich jenes Vorgehen, das als Politik der freien Hand bezeichnet
worden ist, das Lavieren zwischen Rußland und England, bei dem nur dafür zu
sorgen war, daß sich die russische Ausdehnung nach Ostasien ungehemmt vollzog; dann
— so vertraute man — würde die Zeit für Deutschland arbeiten. „Wer zu warten
weiß, der erreicht alles", heißt es in einem Schreiben des Kaisers an den Zaren;
das klingt nach einem Bülowschen Wahlspruch. Die Wartezeit sollte genützt werden,
um das deutsche Gewicht durch maritime Rüstungen zu verstärken; im Verkehr mit
England ließ sie sich vorerst durch koloniale Geschäfte ausfüllen, womit Deutschland
seinen Besitzstand vermehrte und gleichzeitig Fühlung mit England aufrecht erhielt.
Der englische Vorstoß war mißlungen; es leuchtet ein, daß man ihn wieder¬
holen würde. Der Burenkrieg wurde zur Tatsache; die Engländer hatten jetzt eine
Einmischung der Großmächte zu besorgen. So gingen sie auf die kolonialen Ge¬
schäfte ein, obwohl innerlich widerstrebend. Das Abkommen mit Deutschland über
die portugiesischen Kolonien wurde sogleich durch ein geheimes mit Portugal er¬
gänzt, das die an Deutschland gemachten Zugeständnisse aufhob. Die Verhand¬
lungen über die Samoa-Jnseln führten erst nach schärfsten Reibungen ans Ziel.
Chamberlain war gleichwohl bemüht, die Fühlung in der Bündnisfrage aufrecht¬
zuerhalten; vielleicht gelang es doch noch, Deutschland zu gewinnen. Inmitten der
Smnoav erHandlungen setzte er die Erörterungen über ein Bündnis gesprächsweise
fort, und dann erfolgte von Berlin her ein Schritt, der eine Klärung in Aussicht
stellte. Nach Jahren der Entfremdung entschied sich der Kaiser zum ersten Male
wieder im November 1399 seiner Großmutter einen Besuch in England abzustatten,
in seiner Begleitung befand sich der Leiter des Auswärtigen Amtes v. Bülow. Der
Entschluß wurde von den Engländern um so höher gewürdigt, als der Beginn des
Burenkrieges Englands Ansehen empfindlich bloßgestellt und die deutsche öffentliche
Meinung mit Leidenschaftlichkeit Partei für die Buren genommen hatte. Bülow
hatte den Kaiser beraten, die Reise gleichwohl anzutreten, weil eine Gefahr darin
lag, daß England im Gefühl der Verlassenheit zu Zugeständnissen an die Entente
genötigt werden könnte. Auf diese Weise kam es zu mündlicher Aussprache zwischen
Bülow und Chamberlain. Salisbury entschuldigte sich mit schwerer Erkrankung
seiner Frau, die tatsächlich bald hernach starb; die Tragweite der Mitteilungen
Chamberlains wurde dann allerdings noch vor der Unterredung durch die An¬
kündigung begrenzt, Chamberlain würde nicht im Namen des Kabinetts sprechen,
sondern nur seine persönlichen Ansichten wiedergeben. Als solche legte Chamberlain
dar: ihm erscheine ein englisch-deutsches Bündnis mit Hinzuziehung der Ameri¬
kanischen Union wünschenswert. Bülows Bescheid lautete:. Auch er habe bereits
diese Kombination, die auch in den intellektuellen Kreisen Deutschlands Sympathien
fände, als erstrebenswert erwogen. Seine Bedingungen aber lauteten: das ganze
Kabinett müsse die Idee billigen, auch die Opposition müsse in gewissem Ein¬
vernehmen sein, die öffentliche Meinung in beiden Ländern müsse entsprechend
beeinflußt werden, vor allem aber:, das Bündnis dürfe keine Spitze gegen irgendeine
andere Macht richten. Auf die Erwähnung der öffentlichen Meinung fragte
Chamberlain erstaunt, ob es in Deutschland überhaupt eine gäbe, welche eine Macht
besitze; Bülow erwiderte, daß eine solche bestände, nur nicht so gut diszipliniert
wie in England. Die Staatsmänner schieden voneinander in verbindlichen Formen?
sachlich war die englische Regierung unterrichtet, daß die deutsche im Entschluß, sich
nicht gegen Rußland vorschieben zu lassen, fest blieb. Für Chamberlain war das
eine Enttäuschung, die aber insofern wettgemacht wurde, als Bülow kurz darauf
von Berlin her wissen ließ, Deutschland werde sich auch keiner Kombination an¬
schließen, welche ihre Spitze gegen England wenden würde; ein vertrauliches amt¬
liches Schreiben, das Eckardtstein veröffentlicht, lautete: „Die Negierung Seiner
Majestät werde sich, vorausgesetzt natürlich, daß die deutschen Interessen von eng¬
lischer Seite geschont würden, von jeder gegen England gerichteten kontinentalen
Gruppierung sowie von jeder Kollektivaktion, die England Verlegenheit bereiten
könnte, fernhalten." Demgemäß stieß tatsächlich eine Sondierung von Peters¬
burg und Paris her, ob Deutschland mit diesen Mächten genieinsame Schritte zur
Beendigung des Vurenkrieges zu tun geneigt sei, auf keine Vereitwilligkeit. Bei
diesem Stande der Dinge blieb es, bis im Jahre 1900 englischerseits eine unver¬
ständliche Provokation erfolgte: die Festnahme deutscher Postdampfer durch die
englische Flotte; Bülow antwortete darauf zur Beschwichtigung unserer aufs äußerste
erregten öffentlichen Meinung im Reichstag in einer so brüsten Rede, daß es schien,
als stände der Abbruch der diplomatischen Beziehungen vor der Tür. Bedarf es der
Erwähnung, daß Eckardtstein auch wieder die Schuld auf deutscher Seite sieht?
Die englisch-deutschen Bündnisverhandlungen traten in das letzte Stadium,
als der Burenkrieg zu Englands Gunsten zu Ende ging und im fernen Osten Kriegs¬
wolken sich zusammenballten. Es wurde immer deutlicher, daß Rußlands Vor¬
dringen wachsende Unruhe in Tokio hervorrief; die Möglichkeit einer kriegerischen
Verwicklung wurde größer. In England wirkte Deutschlands Abneigung, sich als
Schildknappe in englischen Diensten verwenden zu lassen, dahin, daß man einen
kriegerischen Konflikt zu verhüten wünschte; Lord Salisbury versuchte, ob sich nicht
ein Kompromiß finden ließ, der Englands Interessen in Ostasien einigermaßen
sicherte. Er machte den Vorschlag, den russisch-englischen Gegensatz durch eine
Teilung nach Interessensphären in China zu lösen, und fand insofern günstigen
Boden, als den Russen daran gelegen war, England und Deutschland auseinander¬
zuhalten. Am Ende überwog in Petersburg aber doch der Eroberungsdrang jede
Verständigungsmöglichkeit; der friedliebende Zar wurde durch die Großfürsten-
klique überstimmt. Unter diesen Umständen erfolgte das letzte Bündniswerben in
Berlin, weil die englische Diplomatie um die Vervollständigung ihrer diplomatischen
Rüstung besorgt war und sich deshalb endgültig vergewissern wollte, ob mit Deutsch¬
land in ihrem politischen System zu rechnen war oder nicht. So erklärt sich das
weitere Vorgehen Chamberlains, der gemeinsam mit dem Herzog von Devonshire
zur Stellungnahme drängte; am 16. Januar 1901 gaben beide Staatsmänner im
Schlosse des Herzogs in der Bibliothek nach dem Essen dem Botschaftsrat von Eckardt-
stein folgende Erklärung ab: „Die Zeit der glänzenden Isolierung ist für England
vorüber. England ist gewillt, sämtliche noch offenen Fragen in der Weltpolitik, vor
allem die chinesische und marokkanische, gemeinschaftlich mit der einen oder der
anderen zur Zeit bestehenden europäischen Völkergruppen zu lösen. Wohl werden
bereits innerhalb des englischen Kabinetts Stimmen laut, die einen Anschluß Eng¬
lands an den Zweibund (Frankreich und Rußland) befürworten. Wir aber gehören
zu denjenigen, welche einen Anschluß an Deutschland bzw. den Dreibund vorziehen
würden. Sollte sich aber herausstellen, daß ein Anschluß an Deutschland nicht
möglich ist, so würden auch wir ein Zusammengehen mit Frankreich und Rußland
selbst unter den schwersten Opfern, wie z. V. von Marokko und Persien, ins Auge
fassen." Chamberlain machte dann noch einige vertrauliche Vorschläge über die
Behandlung der einzelnen zu regelnden Fragen, insbesondere der marokkanischen.
Die Besprechungen hierüber erfuhren einen Aufschub durch den Tod der Königin
Viktoria; von Berlin kam Weisung, abzuwarten, bis die Engländer auf die
Bündnisfrage zurückkämen. Das taten sie nicht; sie versuchten vielmehr in anderer
Weise die deutsche Regierung zur Aussprache zu bringen. Am Abend des 17. März
wandte sich nach einem Diner der neue Staatssekretär Lord Lansdowne plötzlich an
Eckardtstein mit der Anfrage, ob er glaube, daß die deutsche Regierung sich eventuell
dazu verstehen würde, in Gemeinschaft mit England einen vielleicht bevorstehenden
japanisch-russischen Krieg zu lokalisieren. Eckardtstein war es, der jetzt entgegen
seiner Instruktion aus Sorge vor dem Intrigenspiel der russisch-französischen Diplo¬
matie die Bündnisfrage aufbrachte, indem er Lord Lansdowne — das sind Eckardt-
steins eigene Worte — einen kräftigen Wink gab: Deutschland würde eine solche
Zusage ohne weiteres geben können, falls ein Defensivbündnis bestände, das sich- auf
alle Möglichkeiten erstrecke. Lord Lansdowne nahm diesen Gedanken aus; ebenso
ging er auf Eckardtsteins weiteren Vorschlag ein, Japan zu diesem Bündnis hinzu¬
zuziehen. Was geschah jetzt in Berlin? Man ist sich bewußt gewesen, was auf dem
Spiele stand; der gegenwärtige Zeitpunkt — schrieb Holstein an Eckardtstein — ist
von entscheidender Bedeutung. „Beide, England wie Deutschland, stehen vor einer
Weichenstellung." War aber die Versuchung stärker geworden, den von England
gewiesenen Weg einzuschlagen? Was bot England in Wahrheit? Widersprach nicht
ein Zusammengehen mit England in Ostasien nach wie vor den Richtlinien deutscher
Weltpolitik? Und was leistete England für Deutschlands eigene Sicherheit? War
irgendeine der von Bülow an Chamberlain als Voraussetzung eines Bündnisses
Schellten Bedingungen erfüllt? Bülows Instruktionen liegen nicht vor, und Hol¬
stein übermittelte ganz gewiß nicht an Eckardtstein die letzten Hintergedanken der
deutschen Staatsmänner, sondern nur das, was ihm zweckmäßig erschien; infolge¬
dessen bleibt das Material zur Beurteilung dieses entscheidenden Abschnittes unvoll¬
ständig. Hier aber halte ich Bülows Auskunft in seinem Rechenschaftsbericht von
1913 für vollwertig: Er lehnte ab ,weil er sich nicht gegen Rußland vorschieben lassen
Zollte, und unser Überblick lehrte, welche Erwägungen dahinterstanden. Dis
Drohung Chamberlains, er werde andernfalls Anschluß an den Zweibund befür¬
worten, hielt man in der damaligen Zeitlage mit Recht für Bluff: eine englisch-
russische Verständigung dieser Art war solange ausgeschlossen, wie Rußland im
Vormarsch nach dem Stillen Ozean verharrte. Übrigens glaubte man auch gar nicht
recht an den Ernst des Verständigungswillens Englands, solange Lord Salisbury
am Ruder war; Holstein warnte: Man müsse sich abwartend verhalten, er sei sonst
imstande, auszuposaunen, daß wir eine Allianz gegen Rußland angeboten
haben. Ob dann die von Holstein angewiesenen Vündnisverhandlungen nichts als
ein Scheinmanöver waren? Dem steht Hammanns Auskunft gegenüber, Holstein habe
im Ernst auf eine Verständigung hinauskommen wollen. Und so mag es sein, daß Hol¬
stein suchte, indem er eine Grundlage vorschlug, die für Deutschland annehmbar war,
insofern sie Englands ostasiatischen Interessen und Deutschlands kontinentalen gleich¬
zeitig Rechnung trug. Er schlug vor, die Annäherung nicht als ein deutsch-englisches
Bündnis zu stempeln, sondern es doch noch einmal mit einer Angliederung Eng¬
lands an den Dreibund zu versuchen; um dies besonders zum Ausdruck zu
bringen, sollten die Verhandlungen über Wien geführt werden. Es war dies nicht,
wie Eckardtstein anzunehmen scheint, eine Geheimratslaune, sondern im Grunde
nichts als ein Zurückgreifen auf Vismarcks Richtlinien. Aber dieses Gegenangebot
war für England unannehmbar geworden, weil es doch inzwischen auf die Flanken¬
deckung des Dreibundes verzichtet hatte, ja sein Interesse darin sah, die Russen nach
dem nahen Orient zurückzulenken. Der Historiker gelangt hier zur Feststellung:
Die Unvereinbarkeit deutscher und englischer politischer Interessen drang in der
Gestalt auf die Oberfläche, daß Deutschlands kontinentale Sicherung Forderungen
bedingte, die mit Englands weltpolitischen Interessen in Gegensatz traten. Am
Ende kam es, wie es nicht anders kommen konnte; die Verhandlung^ verliefen im
Sande. Den Ausklang bildeten englische Indiskretionen, welche von London her
über Rom die Russen von Deutschlands Gegenangebot unterrichteten.
Hier endet die Geschichte der Bündnisverhandlungen, nicht aber die politische
Aktion, in deren Zusammenhang sie hineingehören. Wir erinnern uns, die Vor¬
aussetzungen deutscher Weltpolitik waren in Hinblick auf die weltpolitische Lage
durch Rußlands Vorstoß nach Ostasien gegeben, den Deutschland nicht anregte aber
förderte; dieser schuf eine deutsch-russische Interessengemeinschaft, die es Deutsch¬
land erlaubte, sich zwischen den Weltmächten hindurch den Weg in die Welt z"
bahnen. Die deutsche Politik sorgte, daß diese Gemeinschaft durch keine kriegerischen
Reizungen gestört würde; da war es für Deutschland ein Ereignis von erschütternder
Tragik, daß alsbald nach Erledigung des englischen Bündniswerbens der deutsch¬
russischen Freundschaft die Grundlage entzogen wurde. Es kam, um es ganz kurz
zusammenzufassen, so: Der russisch-japanische Krieg nahm einen ganz unerwarteten
Gang und endete mit Rußlands Niederlage. Die deutsche Diplomatie blieb nicht
müßig: Blllow riet zu rechtzeitigen Friedensschluß, um Rußlands Ansehen und
Kräfte möglichst zu bewahren; der Kaiser nutzte den Groll des Zaren gegen das
hinter Japan stehende England aus, um ein Bündnis anzutragen, mit dem der
von ihm wohl nie ganz aus den Augen verlorene Plan des Kontinentalbundes
sich verwirklichen sollte. Der Kaiser schrieb: „Der von Amerika flankierte Kontinental¬
bund ist das einzige Mittel, den Weg wirksam zu blockieren, der dahin führen würde,
daß die ganze Welt John Bulls Privatbesitz wird." Der Zar war zugänglich und
bei einer Zusammenkunft der Monarchen wurde ein Vertragsentwurf aufgestellt!
wie aber konnte Rußland den französischen Bundesgenossen auf einem Wege mit
sich ziehen, der nicht einmal ihm selbst ein erstrebenswertes Ziel vor Augen stellte?
Die Versperrung des Weges nach dem fernen Osten hatte vielmehr die Wirkung, den
russischen Ausdehnungsdrang nach dem nahen Osten zurückzulenken, wo die alten
Reibungsflächen zwischen Rußland und Deutschland sich alsbald geltend machen
mußten. Und hier stand England bereit, das weitere zu besorgen; eine russisch-
englische Verständigung — durch panslawistische Strömungen gefördert — trat in
den Bereich der Möglichkeit. Von da an war der deutschen Staatsleitung die
Freiheit, zwischen den Weltmächten hindurchzulavieren, genommen.
Meine Darlegungen führen auf keinen Urteilsspruch hinaus; sie zeigen eher,
welchen Weg die Forschung einmal wird einschlagen müssen, um zu einem solchen
zu gelangen. Deutlich ist bis auf weiteres so viel geworden: Die deutsche Be¬
handlung des englischen Bündniswerbens gewinnt im Zusammenhange der welt¬
politischen Lage eine andere Beleuchtung, als von einem räumlich und zeitlich
beschränkten Beobachtungsstandpunkte aus, wie ihn zumal Eckardtstein einnimmt.
Eckardtstein kannte die politischen Erwägungen und Aussichten nicht, mit denen die
deutsche Negierung rechnete, wie ihm andererseits auch die Hintergedanken der eng¬
lischen Staatsmänner verborgen blieben; alles, was die Engländer boten, erblickte
er in der Beleuchtung, in der sie wünschten, daß er es sehen möchte. Nirgends
lst ihm einmal der Gedanke gekommen, auch das englische Vorgehen zu kritisieren
und Mittel zur Prüfung zu bieten; die Forschung von heute, die sich zuletzt vor
die Frage gestellt sieht, ob Englands Vündniswerben vielleicht einen Abschluß
unter annehmbaren Bedingungen überhaupt nicht bezweckte, muß auf die Öffnung
englischer Archive warten, um die Erörterung des Themas fortzusetzen. Auch das
ergibt die geschichtliche Prüfung: Bismarcks Nachfolger haben sich in Behandlung
des englischen Problems nicht von Bismarcks Traditionen entfernt; wir erkannten
zuletzt noch in Holsteins Gegenvorschlag Bismarcks Richtlinien wieder; auf sie
ließen sich die Engländer nur nicht ein. Trotzdem bleibt es dabei: Die deutsche
Politik war verhängnisvoll; wo mag das Verhängnis wurzeln?
Der Historiker, der sich auf den Boden der Vülowschcn Politik stellt, der seine
sittlichen Grundgedanken, die unseren Gegnern gegenüber gar nicht scharf genug
hervorgehoben werden können, dankbar anerkennt > und auch darin den Gedanken¬
gängen des Fürsten folgt, daß er die den Kontinentalbundplan des Kaisers ablösende
Einkreisungspolitik Englands harmloser auffaßt, als die öffentliche Meinung es
gemeinhin getan hat, meint die Wurzel des Übels darin zu finden, daß das Pro¬
gramm deutscher Weltpolitik im Frieden einer konsequenten Durchführung ent¬
behrte. Ein einheitlicher Wille, eine feste, behutsame Hand mußten ununterbrochen
am Staatsruder walten; konnte diesen Anforderungen entsprochen werden? Die
historische Kritik kann in diesem Zusammenhange darüber nicht hinweg¬
kommen, daß Fürst Bülow inmitten der schwierigsten Weltlage entlassen wurde,
bevor ihm Gelegenheit gegeben war, seine Politik sich auswirken zu lassen. Eine
führende Rolle in der Weltpolitik war Deutschland entglitten, aber der Fürst hatte
die volle Zuversicht, ein Bürge für den Weltfrieden zu bleiben; es wurde ihm nicht
die Frist gegeben, diese Bürgschaft mit den Mitteln diplomatischer Kunst, über
die er in so hohem Maße verfügte, einzulösen.
Es sind vergangene Dinge, über die ich berichtet habe; nie werden ähnliche
Verhältnisse wiederkehren. Und doch scheint es mir, es sei kein rein akademisches
Interesse, das uns auf dieses Forschungsgebiet weist; es ist ein nationales Be¬
dürfnis, Klarheit über alles, was zu Deutschlands Unglück geführt hat, zu erhalten.
Klarheit und Wahrheit sollen Quellen der Kraft werden, politisches Urteil und
politische Reife erzeugen; möchten unter diesem Gesichtspunkte selbst Verfehlungen
und Fehlschläge eines abgelaufenen Zeitalters einem heranwachsenden Geschlecht
zum Segen gereichen.
Zürich, den 23. März 1917.
Euere Exzellenz dürfte es vielleicht interessieren, über die Eindrücke unter¬
richtet zu werden, die ich dieser Tage bei verschiedenen Unterredungen mit öster¬
reichisch-ungarischen Diplomaten gewonnen habe, die ich hier und in Bern sah
und die ihre Bestätigung durch die Mitteilungen fanden, die mir ein derzeit hier
welkender süddeutscher Politiker über den Meinungsaustausch gemacht hat, den er
mit dem neuen österreichisch-ungarischen Gesandten in Bern hatte.
Man ist demnach in Wien, und zwar an allerhöchster Stelle, außerordentlich
besorgt wegen der Rückwirkungen, die der weitere Verlauf der russischen Revolution
für die Entwicklung der Verhältnisse in Osterreich befürchten läßt. Was in erster
Linie auf die Hofburg konsternierend gewirkt hat, ist die Selbstverständlichkeit,
mit der sich die Ereignisse in Rußland vollzogen haben, und das klägliche Ver¬
sagen all der Elemente, die, wie Hof, Adel und Armee der Dynastie besonders
treu zur Seite stehen sollten. Die Monarchie schien in Rußland fester verankert,
als in irgend einem Lande und man erlebt nun das Schauspiel, daß die erzwungene
Abdankung des Zaren sich in den ruhigsten Formen und ohne besondere Gewalttätig¬
keiten vollzieht. Das scheint in Wien etwas nachdenklich zu stimmen, da man sich
dort darüber nicht im Zweifel ist, daß all die zentrifugalen Strömungen, die die
Existenz der Donaumonarchie bedrohen, durch die Ereignisse in Rußland neue
Belebung und Stärkung erfahren werden. Wenn die Äußerungen der zum Teil
offiziell, zum Teil inoffiziell in der Schweiz tätigen österreichischen Diplomaten,
die ich sah, in etwas die Stimmung in Wien richtig wiedergeben, so ist diese eine
mehr als ernste. - _
Luzern, den 3. April 1917
Es ist bedauerlicherweise nicht an dem, daß etwa lediglich die eine oder
andere deutsche Zeitung an das Märchen von einer demnächst in Italien aus¬
brechenden Revolution glaubt, sondern nach den im übrigen sehr interessanten
Mitteilungen eines dieser Tage in die Schweiz gekommenen ersten deutschen
Zeitungsmannes glaubt man sowohl im Reichstag, als, inoreÄibile üiew, auch in
der Wilhelmstraße an diese Dinge. Mein neutraler Gewährsmann hat sich mir
gegenüber beeilt, seine und seiner politischen Freunde, denen eine gewisse Kenntnis
des innerpolitischen Lebens Italiens nicht abzusprechen sein dürfte, Ansicht zu
diesen Berliner Meinungen auseinanderzusetzen. Er hat den Gedanken an eine
baldige Umsturzbewegung in Italien in das Reich der Fabel verwiesen und zwar
mit Argumenten, deren Sachlichkeit nur durch die Ruhe übertroffen wird, mit der
sie vorgebracht wurden. Es ist schwer zu begreifen, wie ein Politiker vom
Ansehen des Herrn Spahn vor dem Reichstag und vor Europa seine unverhohlene,
noch dazu durch keinerlei Tatsachen motivierte Freude darüber aussprechen kann,
daß Italien zur Republik wird. Man sollte glauben, die demokratische Flutwelle,
die seit Ausbruch des Krieges über Europa weggeht und die seit dem Ausbruch
der russischen Revolution besonders hoch brandet, würde es als wünschenswert
erscheinen lassen, die Zahl der Republiken nicht unnötig vermehrt zu sehen. Mein
Freund bemerkt sehr richtig, daß eine derartige Umwandlung der Staatsform
Italiens nur zur Folge haben würde, daß das an sich schon mit den innerpolitisch
rückständigsten Staaten Europas verbündete Deutschland mehr, als bereits bisher,
isoliert würde, und daß andererseits die Republik Italien mit der Republik
Frankreich zu unauflöslicher Gemeinschaft verbunden würde. Hierzu kommt noch
ein Moment, das für Herrn spähn und seine Inspiratoren von Bedeutung ist
und sein muß: die Stellung des Heiligen Stuhles. Wird Italien Republik, so
sind die Tage des Papstes in Rom gezählt. Man wird sagen, daß das Papsttum
mehrere Exile er- und überlebt habe und immer wieder im Triumph nach Rom
zurückgekehrt sei. Das ist richtig) die Verhältnisse liegen aber heutzutage, wo
Italien ein geschlossener Nationalstaat von den Alpen bis nach Sizilien ist, doch,
äußerlich wenigstens, wesentlich anders. Will der Papst wieder nach Rom
zurückkehren, so muß er mit Italien verhandeln, um überhaupt hereingelassen zu
werden, ein Umstand, der ihm die Rückkehr nicht gerade erleichtern wird.
Zürich, den 8. April 1917.
Die Osterwoche hat eine Reihe deutscher und österreichischer Politiker
nach der Schweiz geführt. Man war daher mehr als sonst in der Lage, sich auch
über die Stimmung im eigenen Lande zu informieren. Hinzu kommen die
Andrücke, die uns aus Schweizer Kreisen zugehen. Euere Exzellenz wollen
wir erlauben, das aus der Gesamtheit dieser Eindrücke gewonnene Bild in kurzen
Umrissen zu skizzieren.
Die Entente glaubt, daß sie sich größere militärische Anstrengungen sparen
kann und daß sie ihre Kriegsziele erreicht, lediglich, wenn sie unserem wirtschaft¬
lichen Absterben kalten Blutes zusieht. Es ist dies die Losung, die meinen
sicheren Nachrichten zufolge von England derzeit ausgegeben wird und für
deren Richtigkeit bedauerlicherweise manche der Nachrichten sprechen, die aus
Deutschland hierher gelangen. Daß in Deutschland — und mutatis inutemäig
^isst das gleiche für Osterreich zu — nicht alles in Ordnung ist, das festzustellen
Bedarf es keiner besonderen Spionage. Die Wirkungen, die die Ereignisse in
Petersburg auf die innerpolitische Entwicklung Deutschlands ausüben, spiegeln
^es klar in den Darlegungen der linksgerichteten deutschen Presse wider. Die
tiefgreifende Bewegung aber, die durch Deutschland in diesen Tagen geht,
findet in diesem Wellengekräusel der öffentlichen Meinung einen vorderhand
nur schwachen Ausdruck. Wenn die hierher gelangten Informationen den Tat¬
sachen entsprechen, so trägt sich die preußische Regierung mit der Absicht, das
Reichstagswahlrecht auf Preußen zu übertragen. Dies von der Angst der
Stunde diktierte Projekt wird sich kaum realisieren lassen, da die Stellung des
derzeitigen preußischen Ministerpräsidenten (Bethmann) bei den maßgebenden
Parteien Preußens nicht von der Stärke ist, die zur Durchführung einer derart
umstürzenden Reform Vorbedingung wäre. Auf der anderen Seite wird die
Partei der viereinhalb Millionen Reichstagswähler immer begehrlicher, wie hier
gefallene Äußerungen führender Männer dieser Partei zweifelsfrei erkennen
lassen. In diesen Kreisen kommt die Besorgnis, daß Deutschland aus dem
Berzweiflungskampf, zu dem es sich verurteilt sieht, nur schwer geschädigt
herauskommen wird, immer klarer zum Ausdruck. Es wäre übrigens verfehlt,
zu glauben, daß die Stimmung froher Zuversicht, die die deutsche Presse an¬
gesichts der Intervention Amerikas zur Schau trägt, der wirklichen Meinung
auch rechtsgerichteter Kreise entspricht. Über all diese Dinge sind, zwar nicht
6n äetkül, aber in großen Umrissen, unsere Gegner in bedauerlich genauer
Weise unterrichtet. Wir dürfen uns nicht verhehlen, daß die Zeit mit zielsicherer
Grausamkeit ihren Gang geht. Gelingt es Amerika, in völliger Übereinstimmung
mit den Plänen Englands, den Krieg auf das Jahr 1918 hinauszuziehen, so ist
die Rechnung unserer Feinde als richtig erwiesen. Darauf baut die Entente.
Sie erwarten die Entscheidung, nicht auf militärischem Gebiete, auf dem die
ernsteren ihrer Staatsmänner unsere bisherige Überlegenheit in paru-ra
caritatis anerkennen, wohl aber ist sie, mehr als früher, von der Richtigkeit
ihrer Theorie von der Zusrro et'usurcz überzeugt.
Ich habe mir bereits früher erlaubt, Euere Exzellenz darauf hinzuweisen,
daß in der Presse der Entente mehr und mehr die Tendenz dahin geht, unseren
Kaiser in Evidenz zu stellen und dem deutscheu Volk den Glauben beizubringen,
daß er und die in ihm verkörperte Politik der Eckstein auf dem Weg der Hindernisse
zum Frieden seien. Die inzwischen veröffentlichte Botschaft Wilsons schlägt
in dieselbe Kerbe. Wir dürfen die Wirkungsmöglichkeiten derartiger Kund¬
gebungen nicht unterschätzen. I'us, res g-Zitur, das werden sich mehr oder weniger
alle deutschen Bundesfürsten sagen müssen. Nicht, als ob unsere Dynastien nicht
genügend festgewurzelt wären im Volk, als daß sie nicht auch diese Strömungen
überdauern würden. Der Verlust an Prestige aber, den eine durch die Umstände
erzwungene Abdankung des deutschen Kaisers für den monarchischen Gedanken
im Gefolge haben Müßte, würde indirekt wohl von sämtlichen Fürstenhäusern
empfunden und in einer Art Solidarhaft getragen werden müssen.
Euere Exzellenz haben wiederholt sich dahin geäußert, meine Bericht¬
erstattung sei pessimistisch. Ich glaube aber andererseits in der Lage zu sein,
in einer Reihe von Fragen meine Berichte als durch die spätere Entwicklung
der Dinge bestätigt zu erweisen. Wenn ich mir daher erlaube, heute, unter dein
Eindruck der Äußerungen von Politikern, deren Urteil sich bisher als ponderiert
erwiesen hat, ein wenig hoffnungsreiches Bild zu entwerfen, so leitet mich
hierbei die Absicht, Euerer Exzellenz pflichtgemäß die Auffassung zu melden,
die sich dem nüchternen Beobachter hier, im neutralen Lande, aufdrängt.
Diese Auffassung geht, in einem knappen Satze, dahin, daß, wenn wir
nicht noch in diesem Jahre den Frieden bekommen können, Deutschland schweren
und in ihren weiteren Wirkungen garnicht übersehbaren Erschütterungen ent¬
gegengeht. Daß unsere derzeitige politische Leitung auch beim besten Willen
in der Lage ist, den Frieden herbeizuführen, ist zu bezweifeln.
Luzern, den 18. April 1917.
Den Äußerungen eines bekannten linksgerichteten Reichstagsabgeordneten,
der dieser Tage in der Schweiz gewesen ist, konnte entnommen^werden, daß es
sich bei der für Preußen angekündigten Wahlreform allem Anschein nach nicht
um ein Pluralwahlrecht, sondern um die Übertragung des Reichstagswahlrechts
auf Preußen unter noch festzulegenden Modalitäten handelt. Derselbe Politiker
hält den Übergang zum parlamentarischen System auch im Reich, ungeachtet
der hinlänglich bekannten verfassungsrechtlichen Schwierigkeiten, für notwendig
und wahrscheinlich. Seine Majestät der Kaiser, der sich hinsichtlich der Reform
in Preußen sehr large erweist, sei jedoch in diesem Punkte vorläufig intransigent.
Wenn der Krieg, wie es allen Anschein hat, für Deutschland nicht so endet, wie
die Nation annahm, dürfte der Standpunkt der Jntrcmsigenz wohl kaum mehr
haltbar sein.
Rücksichtlich des Unterseebootskrieges herrscht nach aus Bern an mich
gelangten Nachrichten in den Kreisen der Entente die Überzeugung, daß durch
den Eintritt Amerikas die Krisis für England überwunden sei. Der Verkehr
zwischen England und Frankreich wickle sich so glatt ab wie in Friedenszeiten,
eine ernsthafte Gefährdung der Ernährung der Bevölkerung komme nicht in
Betracht, wenn auch mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen sei. An¬
dererseits zirkulieren in den gleichen Kreisen immer bestimmter auftauchende
Meldungen von Unruhen und Hungerrevolten, mit denen Deutschland in den
Monaten Mai und Juni zu rechnen habe. Die aus Deutschland abgereisten
amerikanischen Diplomaten und Bürger, von denen ein großer Teil sich in der
Schweiz niedergelassen hat, tragen durch ihre Erzählungen hauptsächlich zur
Bildung dieser Gerüchte bei. In ähnlich ungünstigem Sinne wirken die Nach¬
richten, die durch die uuter gleichen Verhältnissen aus Österreich-Ungarn in die
Schweiz gelangten Amerikaner über die wirtschaftlichen Verhältnisse des ver¬
bündeten Kaiserreiches verbreitet werden. Sie werden durch Mitteilungen aus
Wien indirekt bestätigt, denen zufolge die Donaumonarchie nach Abzug des
Heeresbedarfs nur mehr für 70 Tage Getreide habe. Da die ersten Bodenfrüchte
in Südungarn, normale Witterungsverhältnisse vorausgesetzt, etwa in der
ersten Hälfte Juli zum Schnitt kommen, so ist für Österreich-Ungarn mit einer
kritischen Periode zu rechnen.
Es ist unter diesen Umständen zu verstehen, daß der Wunsch nach Frieden
sich in Österreich-Ungarn greifbarer und dringender kundgibt, als dies bisher
bei uns der Fall gewesen ist. Die Einberufung des Reichsrates, die vorläufig
für Mitte Mai in Aussicht genommen ist, hängt, wie die Wiener Presse unter
Billigung, wenn nicht vielleicht auf Anregung der Zensur hervorhebt, mit den
Friedensfragen zusammen. Man gibt sich in Wien gar keine Mühe, sein Friedens¬
bedürfnis zu verhehlen. Wenn diesem Verhalten positive Ergebnisse bereits
gepflogener Verhandlungen zugrunde liegen, ist es verständlich. Im anderen
Falle ist es unverständlich und kann unsere ohnehin nicht sehr starke Position
nur verschlechtern.
Luzern, den 23. April 1917
Im Vordergrund des Interesses steht hier in der Schweiz die großzügige Art,
in der Amerika, wie schon so manch andere Dinge, nun auch seine Intervention
anpackt. Ich hatte in den letzten Wochen wiederholt Gelegenheit, die Darlegungen
eines großen amerikanischen Geschäftsmannes, dessen Deutschfreundlichkeit nach ver¬
lässiger Auskunft über jedem Zweifel steht, über die Stimmung und Absichten
Amerikas zu hören. Seine Auffassung deckt sich vollkommen mit dem, was ich von
einer anderen, der amerikanischen Gesandtschaft Bern nahestehenden Seite, erfahre.
Der Mann steht zur Hochfinanz aller Ententeländer in geschäftlichen Beziehungen
und was er ausführt, erweckt den bedauerlichen Eindruck, daß man bei uns, wie
bisher so ziemlich jedes Land, auch Amerika wieder einmal gründlich unterschätzt
hat. Es sind nicht nur militärische Sorgen, sondern solche wirtschaftlicher Natur,
die die Intervention Amerikas uns allem Anschein nach bereiten wird. Abgesehen
von den bereits beschlagnahmten Schiffen, zu denen als Begleiterscheinung wohl
auch die gleichen Maßnahmen südamerikanischer Staaten zu rechnen sind, sind starke
Verluste deswegen zu befürchten, weil Amerika, falls der Krieg eine gewisse Zeit
noch dauern sollte und falls wir in wachsendem Maße amerikanische Schiffe zer¬
stören sollten, sich durch Beschlagnahme all der beträchtlichen Mengen von Rohstoffen
schadlos zu halten gedenkt, die die deutsche Industrie und der deutsche Großhandel
sich in der leider bereits öfters getäuschten Hoffnung eines baldigen Friedens¬
schlusses in Amerika gesichert hatten. Hinzu kommt, daß die Entente in ihren dem-
nächstigen wirtschaftlichen Abmachungen mit Amerika es als erste Bedingung zu
erklären beabsichtigt, daß Amerika sich verpflichte, nach dem Krieg zuerst an die
Länder der Entente und dann erst an die Zentralmächte und ihre Verbündeten
Rohstoffe zu liefern. Die Wirkungen dieser Maßnahme auf unser Wirtschaftsleben
und auf die Wiederaufnahme unserer industriellen Tätigkeit sind schwer abzusehen;
immerhin aber ist jetzt schon fraglich, ob sie das Plus an zerstörten Schiffen auf¬
wiegen, das wir bisher durch die Verschärfung des Unterseebootskrieges erzielen
haben können.
Bern, den 29. April 1917
Die nachgerade an Nervosität gemahnende Art, in der Österreich-Ungarn sein
Friedensbedürfnis der Welt kundgibt, macht auch in dem uns günstig gesinnten
neutralen Ausland einen schlechten Eindruck. Das Gelöbnis Kaiser Karls, im
Falle der Erreichung des Friedens eine Kirche zu bauen, wird von unseren Feinden
nicht vom religiösen, sondern ausschließlich vom politischen Standpunkt aus gewertet
und als Zeichen äußerster Schwäche gedeutet. Was man an amtlichen und nichtamt¬
lichen Kundgebungen in der österreichisch-ungarischen Presse zum gleichen Gegen¬
stand liest, ist nicht dazu angetan, unseren Gegnern einen besseren Begriff von der
Widerstandsfähigkeit unseres Verbündeten beizubringen. Die entgegenkommende
Weise, in der die „norddeutsche Allgemeine Zeitung" und die ihr nahestehenden
Blätter die bisher von keinerlei Erfolg begleiteten Schritte und Proklamationen
der deutschen' Sozialdemokratie begleiteten, kann diesen peinlichen Eindruck nur
verstärken. Wer ruhig und unbefangen die Dinge in Deutschland hier vom Aus¬
lande aus verfolgt, muß annehmen, daß man bei uns mehr und mehr bemüht ist,
unser Volk für die Idee eines faulen Friedens zu gewinnen, für dessen schmerzliche
Enttäuschungen es durch eine möglichst nach links gerichtete Politik der nächsten
Zukunft entschädigt werden soll. Unsere Feinde verfolgen diese Entwicklung mit
Aufmerksamkeit und ziehen aus ihr Schlüsse, die uns die Einleitung der Friedens¬
verhandlungen seinerzeit erschweren werden.
Genf, den 3. Mai 1917
Man hat in Paris allem Anschein nach eine gute Witterung gehabt, was von
dem Augenblick an nicht mehr wundernehmen konnte, in dem Herr Thomas, der der
rabikalsozialistischen Partei angehörige französische Munitionsminister, erst einmal
in Petersburg aufgetaucht war, der als Republikaner selbstverständlich ganz andere
Entrees bei seinen russischen politischen Freunden hat, als Herr Scheidemann, der
als sozialistischer Vertreter einer für die öffentliche Meinung der Entente als
reaktionär abgestempelten Monarchie den Abgesandten des Herrn Kerenski offenbar
kein rechtes Vertrauen einflößt. Hierin liegt zu einem guten Teil die Tragik
unserer Lage. Der durch diesen Krieg in ungeahnter Weise erstarkte demokratische
Gedanke hat von dem Tag an, an dem nun auch Amerika sich mit dem ganzen Gewicht
seines Ansehens und seiner Macht für ihn eingesetzt hat, die Welt mit verstärkter
Gewalt in seinen Bann geschlagen. Daß Deutschland, soll es nicht ein ewiger
Störenfried bleiben, demokratisiert, daß sein Staatsleben auf die Grundlage des
Parlamentarismus gestellt werden müsse, das ist ein Gedanke, der, wie ich Euerer
Exzellenz bereits in einem früheren Bericht andeuten durfte, von der Presse der
Entente mit Geschick und Nachdruck in die Köpfe gehämmert wird, derart, daß
nicht einmal unsere Sozialdemokraten, die an „exin^iiitiv" wahrhaftig alles
geleistet haben, was man von ihnen verlangen konnte, im Auslande mehr für voll¬
wertige Vertreter des freiheitlichen Gedankens genommen werden. Da auch die
Stockholmer Mission des Herrn Erzberger, all der Energie ungeachtet, mit der er
die Sache in Fluß gebracht hat, als vorläufig gescheitert gelten muß, scheint uns
der Weg zum Frieden mit Rußland wieder neuerdings auf längere Zeit versperrt.
In Wien fährt man nach wie vor fort, sich zum Frieden zu bekennen, was von
der Presse unserer Feinde mit begreiflicher Lieblosigkeit lediglich auf der Kontoseite
»Schwäche" verbunst wird. Graf P. hat über diesen Punkt in den letzten Tagen
eine Andeutung gemacht, die ich, um seine Position in Berlin nicht zu gefährden,
aus meiner Berichterstattung ausgeschieden habe.
Z«^
:K
WMiMlarallel dem im Friedensverträge von Versailles gekrönten Streben
der gesamten Entente, dem unterlegenen deutschen Volk ein Be¬
kenntnis seiner Kriegsschuld abzupressen: ein Bekenntnis, das zur
moralischen Rechtfertigung der diesem Volke auferlegten un¬
menschlichen Opfer und Lasten dienen sollte und dient, geht
das Streben des Ententesozialismus, auch der Sozialdemokratie ein Schuld¬
bekenntnis abzunötigen. Und zwar gleich ein doppeltes Schuldbekenntnis, ein
allgemeines deutsches, das die Verantwortlichkeit für den Krieg Deutschland zu¬
weist und ein spezielles sozialdemokratisches Schuldbekenntnis, das eine Mitschuld
der „kaiserlichen" Sozialdemokratie an dem Ausbruch und der Führung des Krieges
konstruiert. Die Gründe für das Verlangen des Ententesozialismus, innerhalb
dessen sich die Franzosen und Belgier durch besonders hartnäckiges Festhalten an
der doppelten Forderung hervortun, während die englischen Sozialisten der Schuld¬
frage ein geringeres Interesse entgegenbringen, sind durchsichtig genug: dem
deutschen Sozialismus, dem Sozialismus überhaupt sollte die Möglichkeit unter¬
bunden werden, um den den Mittelmächten auferlegten Gewaltfrieden, der doch
vor allem ein Verbrechen gegen die dem Sozialismus immanenten Grundsätze der
Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit vorstellt, zu bekämpfen. Wenn durch ein
Bekenntnis der deutschen Sozialdemokratie festgelegt ist, daß das deutsche Volk
den jahrelangen Krieg und damit auch die ganze Härte des Friedens¬
vertrages selbst verschuldet hat, und daß die deutsche Sozialdemokratie
daran mitschuldig ist, so ist jedes deutsche Streben nach einer Revision
des Friedensvertrages von vornherein lahmgelegt, einer Unterstützung dieses
Strebens durch den geeinigten Sozialismus, welchen die Entente wie nichts
anderes fürchtet, die Stoßkraft genommen. Indem also der französische und
belgische Sozialismus die deutsche Sozialdemokratie fortgesetzt zur Ablegung jenes
doppelten Schuldbekenntnisses drängte, besorgte er nur die Geschäfte des blut¬
rünstigen und rachedurstigen französischen und belgischen Chauvinismus. Natürlich
ist der Ententesozialismus klug genug, um seine Interessengemeinschaft mit dem
Chauvinismus und — Kapitalismus jener Länder hinter der heuchlerischen Phrase
zu verstecken, daß erst ein volles Schuldbekenntnis der deutschen Sozialdemokratie
die Atmosphäre reinigen, die Wiederaufnahme der deutschen Sozialisten in die
verstorbene und begrabene Internationale rechtfertigen und ein gemeinsames Vor¬
gehen des neugeeinigten Sozialismus im Sinne der Völkerversöhnung ermöglichen
könne. Auf eine solche Argumentation konnte aber -nur der verstiegene ideologische
Doktrinarismus der Unabhängigen Sozialdemokratie hereinfallen. Diese hat sich
in der Tat das Geschrei des Ententesozialismus nach dem doppelten Schuld¬
bekenntnis der deutschen Sozialdemokratie von vornherein zu eigen gemacht, ja
sie fordert das eigene Schuldbekenntnis ihrer Rivalen von der Mehrheits¬
sozialdemokratie womöglich mit noch größerem Ungestüm als selbst Franzosen und
Belgier. Die Unabhängige Sozialdemokratie ist ja auch parteipolitisch nur zu
sehr dabei interessiert,- denn wenn wirklich die Mehrheitssozialisten sich zu dem
Bekenntnis einer völlig fehlerhaften und schuldhaften Kriegspolitik verstünden, so
wären sie moralisch erledigt, und die Unabhängigen könnten bald allein herrschen
auf der weiten Flur des deutschen Sozialismus.
Der deutschen Mehrheitssozialdemokratie freilich mußte es nach ihrer ganzen
seit Kriegsausbruch eingenommenen Haltung furchtbar schwer fallen, in ein noch so
verklausuliertes Schuldbekenntnis zu willigen. Sie hat von Anfang an — zu
ihrem hohen Ruhme sei es gesagt — das stolze Wort wahr zu machen gesucht,
daß sie in der Stunde der Gefahr zu ihrem Volke stehe) und sie sollte hinterher
nun dieses Volk, sollte sich damit selbst preisgeben? In der Frage der Verantwortung
hat sich die Sozialdemokratie während des Krieges ja einer bestimmten Stellung¬
nahme enthalten) mit gutem Grunde wies sie immer wieder darauf hin, daß dieser
Frage ernstlich erst nach dem Kriege nähergetreten werden könne. Aber bis tief
in den Krieg neigten die maßgebenden Führer der Mehrheitssozialdemokratie doch
dazu, die Schuld nicht bei Deutschland, auch nicht im engeren Sinne des
„kaiserlichen Deutschlands" zu suchen. Es sei hier nur auf die große Rede ver¬
wiesen, die der nachmalige Neichsminister Eduard David am 6. Juni 1917 vor
dem holländisch-skandinavischen Friedenskomitee in Stockholm über das Thema:
„Wer trägt die Schuld am Kriege?" gehalten, und die der Vorstand der sozial-
demokratischen Partei als Broschüre herausgegeben und damit als parteioffiziös
anerkannt hat. Darin heißt es mit aller nur wünschenswerten Deutlichkeit:
„Wie ich die Schuld am Kriege nicht auf deutscher Seite sehen kann, sondern
genötigt bin, sie auf Grund des mir zugänglichen Materials den Staatsmännern
der feindlichen Mächte, den Betreibern der Einkreisungspolitik gegen Deutschland,
den Vertretern der Eroberungs- und Aufteilungspolitik gegen die Türkei und
Österreich-Ungarn zuzumessen, so muß ich denselben Männern die ebenso schwere
Schuld an der Verlängerung des Krieges aufbürden." Ausdrücklich hat sich
David in Stockholm noch zu dem Glauben bekannt, daß für Deutschland der
Weltkrieg ein Verteidigungskrieg und nur ein Verteidigungskrieg sei.
In der Festigkeit dieses Glaubens ist die deutsche Sozialdemokratie auch
durch die Denkschrift des Fürsten Lichnowsky, die kaum jemand schärfer gegeißelt
hat als Scheidemann, nicht ernstlich erschüttert worden. Noch nach dem Zu¬
sammenbruch der Mittelmächte, nach der Revolution, die jede Rücksicht auf das
//kaiserliche" Deutschland wegräumte, blieb die Mehrheitssozialdemokratie in der
Schuldfrage im Gegensatz zu den Unabhängigen, die von Stund an mit vollen
Backen in das Horn der deutschen Selbstbezichtigung stießen, auf dem durch
deutsche und eigene Selbstachtung gebotenen Standpunkt stehen. Die internationalen
sozialistischen Kongresse in Bern, Antwerpen, Luzern gaben den Führern der
Mehrheitssozialisten reiche und willkommene Gelegenheit, ihren Standpunkt zu
vertreten. Auf der Konferenz in Bern im Februar 1919, wo zum ersten Male
die Frage der Schuld und der Verantwortung am Kriege in aller Breite ver¬
handelt wurde, bekannte sich der nachmalige Reichskanzler Hermann Müller zu
der Auffassung: „Alle Regierungen sind verantwortlich am Kriege, besonders
auch an dessen Ausbruch". „Nicht nur die deutschen Militaristen, sondern die
Militaristen von ganz Europa tragen die Schuld am Kriege". Ja, Müller
betonte noch: „Der für den Krieg ausschlaggebende Faktor war die russische
Mobilmachung". Und er warf in diesem Zusammenhang die bedeutsame Frage
auf, ob wohl die französischen und englischen Diplomaten alles getan hätten, um
diese verhängnisvolle Mobilmachung zu verhindern! Von einem noch so entfernten
eigenen Schuldbekenntnis der Mehrheitssozialisten war in den mannhaften Worten
Hermann Müllers ebensowenig etwas zu spüren, wie in der Rede von Otto Wels,
der vielmehr der von den französischen Sozialisten versuchten „Rrandmarkung"
der deutschen Sozialdemokratie in schärfster Weise entgegentrat. Auch die von
den Mehrheitssozialisten in Bern eingebrachte Resolution lehnte jede Mitverant¬
wortung der deutschen Sozialdemokratie für den Ausbruch und die Führung des
Krieges rundweg ab. „Wir haben den Krieg nicht gewollt und nicht geführt".
Dieselbe Haltung hat die sozialdemokratische Partei gegenüber dem
Verlangen der Entente eingenommen, daß Deutschland seine Schuld und Ver¬
antwortung in dem Versailler Friedensverträge mit seiner Unterschrift anerkennen
solle. Als eine dem deutschen Volke zugemutete Ehrlosigkeit hat Scheidemann
dieses Verlangen als Ministerpräsident gebrandmarkt. Und Scheidemanns Nach¬
folger Bauer hat bei der schicksalsschweren Beratung des Friedensvertrages in
der Nationalversammlung am 22. Juni 1919, nicht zuletzt im Namen der Sozial¬
demokratie erklärt, daß Artikel 231 des Vertrages, durch den sich Deutschland als
alleinigen Urheber des Krieges bekennen sollte, nun und nimmer unterschrieben
werden könne.
Als die Unterschrift dann doch erzwungen wurde, und Hermann Müller
seinen Namen unter das Friedensinstrument setzte, hat das an der inneren
Selbstbehauptung der Sozialdemokratie nichts ändern können. Wenigstens war
Hie Haltung der Partei auf den sozialistischen Kongressen in Antwerpen und in
Luzern im Juli und August 1919 leine andere als in Bern. Mit Entrüstung hat
es Legten, der Vorsitzende des (alten) Internationalen Gewerkschaftsbundes, von
sich gewiesen, in Antwerpen die deutschen Arbeiter und die deutschen Gewerkschaften
für kriegsschuldig, oder auch nur für mitschuldig an den Maßregelungen und
Deportationen der belgischen Arbeiterschaft während der Kriegszeit zu erklären,'
sie seien ebensowenig kriegsschuldig wie die Arbeiter Englands, Frankreichs oder
irgend eines anderen Landes.
. Angesichts dieser klaren und festen Stellungnahme der deutschen Mehrheits¬
sozialdemokratie durfte erwartet werden, daß sie ihre volle Selbstbehauptung auch
gegenüber neuen Zumutungen aufrecht zu halten wissen würde, die für den Zu¬
sammentritt des jüngsten Genfer Internationalen Sozialistenkongresses vorher¬
zusehen waren. Mit Fug hätten ihre Delegierten diesmal eine neue Erörterung
der Schuldfrage, für die namentlich die Engländer jedes Interesse verloren hatten,
ablehnen können; und sie würden auch den französischen Sozialisten gegenüber damit
um so mehr durchgedrungen sein, als in Genf nur ein Grüppchen französischer
rationalistischer Sozialisten vertreten war, deren Anerkennung durch den Kongreß
zweifelhaft genug schien. Diesen Pseudosozialisten gegenüber, die in einer eigens
mitgebrachten Anklageschrift von der „niederträchtigen Politik" der deutschen Sozial-
demokraten zu reden wagten, wäre in jedem Fall die Wahrung des deutschen Stand-
Punktes doch wohl besonders angezeigt gewesen.
Aber es scheint, die deutsche Sozialdemokratie war des langen Haders um
Schuld und Verantwortung, der das endgültige und wirksame Jnslebentreten der
sozialistischen Internationale zu hemmen drohte, müde geworden, und wollte ihn
durch ein deutliches Entgegenkommen gegen die Forderung des doppelten Schuld¬
bekenntnisses aus der Welt schaffen. Zu diesem Zweck hat der Vorstand der sozial¬
demokratischen Partei dem Genfer Internationalen Sozialistenkongreß eine dem Ver¬
nehmen nach von Eduard David verfaßte Denkschrift „Zur Frage der Verantwortung
in: Weltkrieg" vorgelegt, die in der Tat, wenn nicht ein formelles Schuldbekenntnis
in doppelter Hinsicht, so doch nach beiden Richtungen eine Art Vekenntniscrscch vor¬
stellt. In bezug auf das deutsche Schuldbekenntnis ist der Unfall der Sozial¬
demokratie ein fast vollkommener. Den Weg dazu nutzten die Ergebnisse der deut¬
schen und österreichischen Kriegsdokumente ebnen, durch die die Ansicht der Sozial¬
demokratie über den ja auch früher nicht geleugneten deutschen Schulbänken wesent¬
lich verschärft ist. Nur nebenher wird in der Denkschrift noch auf die in Bern start
betonte Tatsache verwiesen, datz die Archive der Entente immer noch hermetisch
verschlossen sind. Aber obwohl die Sozialdemokratie auch jetzt davon durchdrungen
sein will, wie gefährlich Teilwahrheiten für das Ganze-der geschichtlichen Wahrheit
seien, nimmt sie keinen Anstand mehr, nunmehr die Schuld des kaiserlichen Deutsch¬
lands in einer Weise zu akzentuieren, die die Mitschuld der Entsntestaaten fast
völlig verschwinden läßt und somit der ausgleichenden historischen Gerechtigkeit
Gewalt arent. Der „ausschlaggebende Faktor" der russischen Gesamtmobilmachung,
in Bern von Hermann Müller so scharf herausgehoben, kommt in der Denkschrift als
unmittelbare Kriegsursache kaum noch in Betracht. Jetzt wird der unmittelbare
Kriegsanlaß „hauptsächlich, wenn auch nicht ausschließlich, in der mit Kopflosigkeit
gepaarten Gewissenlosigkeit der gestürzten deutschen und österreichischen Machthaber"
gesucht. Nach der heutigen Auffassung der deutschen Sozialdemokratie trüge der
Krieg auf deutscher Seite „die Kennzeichen eines verwerflichen Präventivkrieges,
der zwar nicht unmittelbar und auf alle Fälle gewollt, doch' in verbrecherisch leicht¬
fertiger Weise riskiert wurde". Den deutschen Machthabern wird im Hinblick auf
die anfängliche Ermutigung Österreichs zum Vorgehen gegen Serbien der Aotus
vvvnwalis unterstellt, die „böse Absicht, die den verbrecherischen Erfolg zwar nicht
unter allen Umständen anstrebt, ihn aber doch als mögliche Folge des Handelns
voraussieht, ohne ihn innerlich abzulehnen". Ob die gleiche Kennzeichnung des
üolus eventuglis und verbrecherischer Leichtfertigkeit nicht auch auf die englischen
und französischen Staatsmänner zutrifft, die durch ihre ermutigenden Mitteilungen
u«es Petersburg notorisch erst die russische Generalmobilmachung und in deren
Verfolg, wie man auf englischer Seite sehr wohl voraussah, die deutsche Kriegs¬
erklärung auslösten, diese von Hermann Müller in Bern sehr ernstlich gestellte Frage
bleibt jetzt in der Denkschrift unerörtert. Eine vom deutschen Standpunkt unwürdige
Parteilichkeit liegt weiter in dem allein der deutschen Staatskunst gemachten Vor¬
kurs, daß sie nicht die Gefahr des Weltkrieges zu bannen gesucht habe, indem sie die
bestehenden Bündnissysteme auflöste. Ja trifft denn dieser Vorwurf nicht in dein
Reichen Maße die Staatsmänner der Entente? Trifft er nicht in doppeltem und
dreifachem Maße die englischen Staatsmänner, die durch ihren späten Beitritt zum
französisch-russischen Bündnissystem die latente Kriegsgefahr erst akut gemacht
haben?!
Man sieht, es ist der sozialdemokratischen Partei nicht mehr wie einst darum
zu tun, die deutsche Sache, die nun einmal die Sache des deutschen Volles ist und
bleibt, soweit zu vertreten, als Wahrheit und Billigkeit erlauben und erfordern.
Nein, diese Sache wird den sozialistischen Brüdern von der Entente zuliebe nahezu
restlos preisgegeben. Sehr viel mehr bleibt es der sozialdemokratischen Partei
darum zu tun, die eigene Kriegspolitik vor dem Forum der Internationale zu
rechtfertigen. Freilich ganz um ein Schuldbekenntnis in aller Form kommt sie auch
hier nicht herum. „Es rast der See und will sein Opfer haben." So gesteht denn
die Sozialdemokratie, die früher fo kurz und bündig festgestellt hatte: wir haben
den Krieg nicht gewollt und nicht geführt, jetzt unumwunden ein: „Die Gefahr,
die in der Führung der auswärtigen Politik ohne Kontrolle des Reichstags und
damit auch der Sozialdemokratie lag, nicht rechtzeitig und energisch genug bekämpft
zu haben, ist die Schuld, zu der' wir uns vor aIlerWelt frei¬
mütig bekennen." Und abermals klagt sich die Sozialdemokratie der Schuld
an, der deutschen Revolution, die zum Unglück der Welt, ganz besonders auch des
deutschen Volkes um fünf Jahre zu spät gekommen sei, nicht schon früher den Weg ge¬
bahnt zu haben. Und zum Dritten gibt die Sozialdemokratie zu, daß ihr Verhalten
nährend des ganzen Krieges, innerlich gerechtfertigt, wie sie es glaubt, den cntenti-
stischen Sozialisten als Mitschuld und Beteiligung an den Greueln des kaiserlichen
Deutschlands erscheinen konnte, vielleicht erscheinen mußte.
Mit demselben Recht aber hätte die deutsche Sozialdemokratie, wenn sie sich
nichts vergeben wollte, auch die Völker der Entente anklagen müssen, daß sie eben¬
falls nicht die Führung der auswärtigen Politik, die dort nicht weniger als in
Deutschland ein mit sieben Siegeln verschlossenes Buch geblieben war, rechtzeitig und
energisch genug bekämpft haben. Mit demselben Recht wie das deutsche hätte sie das
russische Proletariat beschuldigen müssen, den Zarismus nicht schon mit Erfolg vor
'1914 gestürzt zu haben, was denn freilich jeden Weltkrieg unmöglich gemacht hätte.
Indem die deutsche Sozialdemokratie in der Denkschrift nur sich, immer nur
sich selbst, nicht aber ihre Bruderparteien in den Ententeländern anklagt, die der
gleichen Sünde bloß waren, fügt sie tatsächlich zu dem deutschen Schuldbekenntnis
das eigene hinzu. Mag sie für sich noch so sehr auf mildernde Umstände plädieren/
sie konnte vorhersehen, daß die Sozialisten der Ententestaatm in Genf aus der Denk¬
schrift einzig und allein das doppelte Schuldbekenntnis herauslesen und sie darauf vor
aller Welt festzunageln suchen würden.
Genau so ist es denn auch gekommen. Als die deutschen Delegierten, unter
ihnen Scheidemann und Müller, einst die Exponenten der nationalen und selbst¬
bewußten Tonart in der Partei, verspätet in Genf anlangten, hatte die Schuld¬
kommission des Kongresses bereits eine Resolution ausgearbeitet, die das ganze
doppelte Schuldbekenntnis der Sozialdemokratie fein säuberlich zusammenstellte und
dazu noch, einige verfängliche Äußerungen Dr. Brauns beifügte, des einzigen deut¬
schen Delegierten, der von Anfang an auf dem Posten gewesen war: so die Fest¬
stellung, daß es für die deutsche Sozialdemokratie keine elsaß-lothringische Frage
mehr gebe. Auch diese Feststellung kann nur den peinlichen Eindruck verstärken, daß
die Sozialdemokratie heute bereit ist, ihre eigene Haltung während des Krieges ZU
verleugnen. Im Kriege hat die Sozialdemokratie keinen Zweifel daran gelassen, daß
es just im umgekehrten Sinne keine elsaß-lothringische Frage für sie gebe. Es war
am 9. Dezember 1915, daß der Abgeordnete Landsberg im Reichstage mit Bezug auf
Elsaß-Lothringen die Erklärung abgab: „Wir — die Sozialdemokraten — aber
sagen: Wer das Messer erhebt, um Stücke vom Körper des deutschen Volkes zu
schneiden, der wird, mag er ansetzen wo er will, auf das in der Verteidigung einige
deutsche Volk treffen, das ihm das Messer aus der Hand schlagen wird." Man wird
gewiß mit der Sozialdemokratie nicht rechten wollen, daß sie das in diesen Worten
liegende Versprechen nicht eingelöst hat; aber war es wirklich nötig, in Genf die
Selbverleugnung bis zu der Vraunschen Erklärung zu treiben?
Mit Freuden darf konstatiert werden, daß in sozialdemokratischen Kreisen das
Gedächtnis an ihre bisherige deutsch- und selbstbewußte Haltung doch nicht ganz ge¬
schwunden ist. Weithin erregte das Bekanntwerden jenes Rcsolutionsentwurfs
Befremden innerhalb der Sozialdemokratie. Auch der Vorstand der sozialdemo¬
kratischen Reichstagsfraktion brachte in einem Telegramm an die deutschen Delegierten
Zum Genfer Kongreß zum Ausdruck, daß die Zustimmung unmöglich erscheine, da
die Archive anderer Länder nicht geöffnet seien und deshalb solches Urteil über
Schuldfragen ganz einseitig und ungerecht wäre. Es war also gerade das deutsche
Schuldbekenntnis, das der Fraktionsvorstand aus einem echt deutschen, aber auch echt
"ut gerecht sozialistischen Empfinden heraus als unmöglich ablehnte!
Unbegreiflicherweise haben es die deutschen Delegierten der Partei in Genf
nicht erreichen können, daß gerade die Sätze über die deutsche Schuldfrage irgendwie
abgeschwächt worden sind. Im Gegenteil ließen sie es zu, daß dieser Teil der Reso¬
lution noch verschärft wurde durch die Hinzufügung des Satzes- „Das republi¬
kanische Deutschland selbst fühlt sich verpflichtet zur Wiedergutmachung der Folgen
des Angriffes, die das kaiserliche Deutschland ausgelöst hat, nachdem es das noch am
Vorabend des Konfliktes mögliche Schiedsgericht abgelehnt hatte." Das ist ein über¬
aus gefährlicher Satz, durch dessen Gutheißung nun die Sozialdemokratie auch ihrer¬
seits dem berüchtigten ß 231 des Versailler Friedensvertrages zugestimmt hat. Konnte
und durfte ein Scheidemann, der im Frühsommer 1919 lieber auf seinen Reichs-
kanzlerpostcn verzichtete, als daß er dem unseligen Friedensverträge zustimmte, jetzt
nachträglich und ohne Not seine Hand hergeben, um eine der schlimmsten Be¬
stimmungen des Friedensvertrages zu sanktionieren?
'
Mit Stolz rühmt Scheidemannin seinen jüngsten Kasseler Auslassungen über
die zweite Internationale, daß die Sozialdemokratie in Genf sich geweigert habe, ein
eigenes Schuldbekenntnis abzulegen. Wirklich ist es den deutschen Delegierten, die
die Verschärfung des deutschen Schuldbekenntnisses zuließen, gelungen, eine Ab-
schwächung der Sätze der Resolution zu erreichen, die das subjektive Verschulden der
Sozialdemokraten herausstellten. Aber dieser Erfolg, wenn es ein Erfolg ist (denn es
bleibt das Schuldbekenntnis in der Denkschrift), macht es doppelt beschämend,
doppelt schmerzlich für alle diejenigen, die der Sozialdemokratie um ihrer narioimlen
Haltung willen seit dem Kriegsbeginn freudig die Hand zur Mitarbeit gereicht hatten
^- auch der Schreiber dieses rechnet sich dazu —, daß in der nationalen Schuldfrage
d'e Sozialdemokratie den Gang nach Canossa angetreten hat. Mochte es in der guten
Absicht geschehen, worauf wieder Scheidemann hinweist, die geschlossenen Kräfte
des internationalen Sozialismus für eine Revision des Versailler Friedensvertrages
frei zu machen. Aber ach, welche Kraft kann eine platonische Resolution über den
Friedensvertrag, für die doch nicht etwa wie in der Frage der östlichen Neutralität
die vollen Machtmittel des Proletariats eingesetzt werden, in einem Augenblick haben,
wo der geeinigte Sozialismus eine der weittragendsten, in ihren Konsequenzen die
dauernde Schuldknechtschaft der deutschen Arbeiterschaft festlegenden Bestimmungen
des Friedensvertrages gleichsam noch einmal unterstrichen hat! Nur zu sehr zu
fürchten ist, daß die Genfer Resolutionen von übler Vorbedeutung sein werden für
die Wiedergutmachungskonferenz, die in demselben Genf in Kürze zusammen¬
treten soll.
Eins aber ist gewiß: In der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie wird der
Gang nach Canossa, den sie mit der Genfer Resolution angetreten hat, kein Ruhmes¬
blatt sein.
lie Früchte gewaltiger, technisch vorzüglich durchgearbeiteter Probleme
Iber deutschen chemischen Industrie standen bei Beginn des Krieges,
Ibegünstigt von der Sonne einer 40jährigen Friedensära, in panse-
! voller Reise.
Durch zahlreiche, mühevolle, langwierige Einzelarbeiten war von
deutschen Chemikern das einstige Neuland der synthetischen Farbstofsherstellung
derart durchgeackert, daß die Anilinfarbe aus der deutschen Fabrik eine Machtstellung
auf dem Handelsmarkte der Welt darstellte; Hunderte von deutschen pharmazeutischen
Präparaten brachten Segen und Heilung in zwei ganze Welten. An Präparate,
wie Salvarsan, Aspirin, Antipyrin und unzählige andere sei hier nur erinnert.
Das gewaltige Problem der Stickstoffgewinnung aus Luft hatte die Periode der
üblichen technischen Kinderkrankheiten überstanden und war genügend vervoll¬
kommnet, um in den Großbetrieb übergeleitet zu werden. Eine große Anzahl
weiterer ähnlich erfolgreicher chemischer Errungenschaften waren erzielt.
Über diese äußerlich weithin sichtbaren Erfolge hinaus waren uns durch
Arbeiten großer Chemiker, wie Emil Fischers, Ehrlichs u. a. Testamente des Geistes
vermacht worden, die es uns, hätte nicht die Brandfackel des Weltkrieges die Chemie
auf andere Arbeitsgebiete verwiesen, ermöglicht hätten, zum Segen der Welt und
Nutzen unseres Vaterlandes in den folgenden fünf Jahren gewaltige Friedensarlmt
zu vollbringen.
Da kam der Weltkrieg. Das große Rädergetriebe der rein wissenschaftlichen
Forschung, die da um ihrer selbst willen ist und arbeitet, stand mit einem Nuck sti^-
Die Begeisterung zog die jungen Chemiker hinaus an die Front, die älteren wurde»
hierdurch ihrer Mitarbeiter beraubt, und an sie und die wenigen Zurückgebliebenen
trat die Aufgabe heran, eine Kriegschemie ins Leben zu rufen, deren letztes Ziel
und letzter Zweck es war, einzig der Verteidigung des Vaterlandes zu dienen.
Von diesem Gesichtswinkel aus wollen die technischen Erfolge beurteilt werden,
welche die Chemie des Weltkrieges ihr eigen nennt. Denn ex 905t, lediglich
gemessen nach dem Werte für eine chemische Technologie des Friedens, erwies sich
die Mehrheit dieser Arbeit als fruchtlos.
Unendlich viel Mühe, Zeit und Geld wurde verbraucht, um diese technischen
Kriegsnotwendigkeiten hinter der Front in Laboratorien und chemischen Betrieben
zu lösen und von all den vielen Arbeiten blieb außer dem Kriegszweck, eine? Be¬
reicherung an Erfahrung und einem gewissen ideellen Gewinn, für die Friedens¬
technik nichts. Man hatte während des Krieges bei mehr als einem Verfahren
gehofft, daß es über den Krieg hinaus von Bestand sein würde, hatte so manchem
Verfahren vorausgesagt, daß nunmehr die Abhängigkeit vom Auslande hinsichtlich
dieses oder jenes chemischen Erzeugnisses gebrochen sei. Ein Betrieb nach dem
anderen dieser Kriegsindustrien wurden mit Kriegsende stillgelegt, lautloser als er
aufgenommen wurde und dadurch, daß man auf den bleibenden Wert verschiedener
dieser Industrien Hoffnungen setzte, folgten, als sie unerfüllt blieben, Ent¬
täuschungen.
Tages- und Fachpresse haben an diesem Aschermittwoch vielfach Mitschuld,
sei es durch unberufene Vielschreiber, um der Sensation willen, sei es, daß man
durch derartige Nachrichten die Zuversicht des Volkes anspornen wollte.
Man erinnert sich der sensationellen Nachrichten über die Futterhefe, welche
dazu angetan sein sollte, unsere Futternot zu beheben, besonders auch berufen sein
sollte, für die fehr reichliche überseeische Einfuhr an Futtereiweiß Ersatz zu
schaffen. Das Verfahren war, fo hieß es, ja riesig einfach. Man brauchte nur die
Hefe in einer Nährlösung zu züchten, die vornehmlich Zucker und Ammoniak ent¬
hielt. Das Ammoniak gewinnt man aus dem Stickstoff der Luft, der Zucker war
reichlich vorhanden. Wie anders die praktische Durchführung! Zwar wurden große
Anlagen für die Erzeugung der Futterhefe errichtet, es wurden gewaltige Summen
dem Problem geopfert, viele Arbeitskräfte wurden für die Fabrikation gebunden,
aber mehr als eine Verordnung verfügte die Abschlachtung der Viehbestände infolge
Futtermittelmangels. Die Betriebe lagen aber nur zu bald wieder still.
Nicht weniger enthusiastisch wurde die „Fetthefe" begrüßt. Man hatte
gefunden, daß eine Heferasse im Innern ihrer Zellen kleine Öltröpfchen aufspeichere
und berichtete ernsthaft in Tages- und Fachpresse, daß es nun möglich wäre, mittels
dieser Hefe der Fettnot bis zu einem gewissen Grade zu steuem. Fachzeitschriften
brachten die mikroskopischen Abbildungen dieser Wunderhefe, ein Berliner Institut
beschäftigte sich mit der Ausarbeitung des Verfahrens dieses Fettspenders für die
Technik, heute aber müssen wir bekennen, daß man Zeit und Geld für dieses Problem
nutzlos opferte. Schon rein infolge der praktischen Unmöglichkeit der technischen
Durchführung fiel diese Kriegserfindung, und von beiden, der viel gerühmten Eiweiß-
und Feldhase, blieb praktisch nichts übrig.
Dann kam der synthetische Kautschuk. Mittels dessen vermochte man während
des Krieges bis zu einem gewissen Grade über den Kautschukmangel hinwegzuhelfen.
Es wurde für Kriegszwecke ein brauchbarer Hartkautschuk dargestellt und auch als
Weichkautschuk kam er in Anwendung, in zahnärztlicher Praxis, für dringend not¬
wendige hygienische Bedarfsartikel u. tgi. Aber mit dem Beginn des Friedens
fiel schon das Interesse an dem künstlichen Kautschuk. Seine Qualität läßt sich
mit jener des Naturgummis nicht vergleichen. Die Kämme aus künstlichem
Kautschuk verlieren bei starker Inanspruchnahme die Zähne, die Autoreifen aus
künstlichem Gummi leisten nicht die Anzahl Kilometer wie die aus dem Natur¬
produkt hergestellten. Jener Fabrikationsbetrieb in Elberfeld, welcher den synthetischen
Gummi während des Krieges erzeugte, liegt still. In Übersee aber herrscht an
Kautschuk ein gewaltiger Überfluß, so daß auch aus wirtschaftlichen Gründen an eine
Überführung dieser Kriegsdarstellung in die Friedenszeit nicht zu denken ist.
Hinzu kommt noch folgender Umstand: Einzelne dieser Kriegserfindungen
stellten im gewissen Sinne eine Vankerottwirtschaft in-it unseren Rohstoffen dar.
Man nimmt, um einen kostbaren Stoff darzustellen, stets einen anderen, ebenfalls
wertvollen Rohstoff, gleich dein Bankerotteur, der, um eine Schuld zu zahlen,
eine neue aufnimmt, gewissermaßen um ein Loch zu flicken, ein anderes ausreißt.
So wurden zur Darstellung des synthetischen Kautschuks Rohmaterialien benutzt,
wie Aceton, Spiritus (aus Kartoffeln), die an anderer Stelle dringend benötigt
wurden.
Zu der im Kriege betriebenen Erzeugung von Protoglyzerin, also eineni
künstlichen Glyzerin, wurde Zucker verwendet, an welchem wir ohnehin größten
Mangel litten. Der Zucker wurde gegoren, die Gärung aber so geleitet, daß möglichst
viel Glyzerin gebildet wurde. Auch dieser Betrieb wurde mit Kriegsende stillgelegt.
In gleicher Weise wie dieses Protoglyzerin hat das Schicksal den Glyzerinersatz
Glykol ereilt, der aus Alkohol erzeugt wurde. Die Anlage in Essen, welche das
Glykol erzeugte, liegt ebenfalls seit geraumen still.
Wohl hatte man es ferner im Kriege soweit gebracht, daß zum Bau einer
Lokomotive nur mehr l(>(>() Kilogramm Sparmetall verwandt werden mußten.
Aber die Ergebnisse der — notwendigen — Sparwirtschaft waren sehr schlecht, und
wenn man irgend kann, geht man zur alten Bauweise zurück. Insonderheit haben
die Feuerbuchsen aus weichem Schmiedeeisen sich nicht bewährt und der hohe
Neparaturstand unseres Eisenbahnmatcrials ist mit eine Folge unseres Kriegs-
maschincnbaues.
Ähnlich ging es bei der Darstellung von Lagermetallen. Man mußte während
des Krieges an Stelle von Kupfer und Zinnlegierungen Zink- und andere Legie¬
rungen herstellen und wühnte hierdurch unsere vorzüglichen alten Kupferzinn-
lcgierungen Messing, Bronze, Weißmetall usw. auch im Frieden ersetzen zu können.
Man vergißt hierbei, daß die Friedenslegierungen ihre Anwendungen nicht einer
Zufälligkeit oder Laune, sondern jahrelanger Erfahrung verdanken, und wenn man
sich dazu vergegenwärtigt, daß in Amerika eine Überproduktion an Kupfer herrscht,
läßt sich leicht voraussehen, welches Schicksal diesen Versuchen beschieden sein muß.
Viel machte auch die Erfindung der Gewinnung von Fettsäuren (Felder) aus
Teeren in den Kricgsjcchren von sich reden. Durch Einwirkung von Ozon, sogar
Luft, will man aus Teerfraktionen, Braunkohlenteerölen u. a. richtige Fettsäuren
gewinnen, deren Glyzerinreste zu Speisefetten und deren Alkalisalze zu Seifen ver¬
wandt werden sollen. Den Beweis einer wirtschaftlichen Durchführbarkeit blieb das
Verfahren bisher schuldig, und an Seifen und Speisefetten herrschte während der
fünf Kriegsjahre bitterster Mangel.
Man wähnte weiter, durch Gewinnung von Schwefelsäure aus Gips auch
hier eine gewisse Unabhängigkeit von ausländischer Schwefelzufuhr und Pyritzufuhc
(Kiese) zu erzielen; aber auch diese im Krieg aufgestellten Anlagen mußten bereits
wieder abgebrochen werden.
Die Gewinnung von Alkohol und Essigsäure aus Karbid scheint Erfolg zu
haben, der zwei weiteren Verfahren, der Zuckergewinnung aus Holz, sowie der
Gewinnung von künstlichen, Benzin aus Kohle bisher versagt geblieben ist. Die
letzten Worte über diese Verfahren, die zumeist der KriegHeit angehören, sind
vielleicht noch nicht gesprochen; jedenfalls haben die Kriegsjahre diese Verfahren
keineswegs zu technisch befriedigenden Stande geführt.
Andere Kriegserfindungen, wie die Aufschließung von Stroh und Holz als
Futtermittel erwiesen sich als völlig untauglich — trotz der großen Reklame, mit
welcher sie angekündigt wurden.
Die Aufgabe, der Verteidigung des Vaterlandes zu dienen, hat beispielsweise
das Problem der Nitrierung der Holzzellulose an Stelle der mangelnden Baumwolle,
wie manches andere Problem erfüllt, — aber eine Fortdauer in der Friedenszeit
war wenigen beschicken. Möglich ist, daß das eine oder andere der beschriebenen
Verfahren in einer ruhigeren Zeit der Friedensarbeit zur Weiterentwicklung und zum
praktischen Erfolge führt. Der Krieg hat ihn nicht gebracht.
So stehen wir heute an der Schwelle der chemischen Friedensarbeit im allge¬
meinen etwa da, wo wir zu Beginn des Krieges aufzuhören gezwungen waren.
Aber das Niveau unseres Könnens und unserer Leistungen auf dem Gebiete der
Chemie war zur Stunde des Kriegsbeginnes ein beträchtlich hohes, das Erbe aus
der Friedenszeit ein gewaltiges. Prophezeiungen auf dem Gebiete einer wissen¬
schaftlich-technischen Entwicklung sind ein mißlich Ding und sicher ist, daß die Be¬
dingungen, unter denen wir jetzt zu arbeiten gezwungen sind, außerordentlich bitter
und schwer sind. Hohe Löhne, verkürzte Arbeitszeit, Mangel an Kohle und Roh¬
stoffen und vor allem, was scharf betont werden muß, Mangel an Geld für Wissen¬
schaft und Forschung sind schwere Hemmschuhe für unsere technische Entwicklung.
Denn die Tatsache, daß man mit Versailles und Spa unsere Industrie wohl hemmen,
aber nicht nachahmen kann, scheint man in Frankreich zu vergessen.
Aber manche Verfahren aus der Kriegszeit sind nicht nur unerschüttert, sondern
sogar, gefestigt hervorgegangen, wie die Gewinnung des Stickstoffdüngers aus der
Luft. Bei Höchstleistung an Stickstoffdünger wird die Erzeugung Deutschlands
in Tonnen reinen Stickstoffs betragen: 300 000 Tonnnen nach dem Haber-Bosch¬
verfahren (synthetischen Luftstickstoff), 100 000 Tonnen nach dem Kalkstickstoffver-
fahrcn, 100 000 Tonnen aus Kokereien und Gasanstalten, also zusammen
300 000 Tonnen; hiervon ist die Produktion aus den Gebieten abzuziehen, die
mit der Abtretung deutschen Gebietes verloren gehen werden. — Das rasche Empor¬
blühen dieses technologischen Zweiges in Deutschland haben die Kriegsverhältnisse
offensichtlich begünstigt. Deutsche Farbstoffe sind heute nach dem Kriege begehrter
wie vorher und was an chemischen und pharmazeutischen Produkten vorhanden war,
wurde vom Auslande nach Beendigung des Kriegszustandes — nicht der Valuta
allein wegen — gierig aufgekauft. Das „Made in Germany" war für deutsche
chemische Spezialitäten noch stets das beste Warenzeichen, das vom Auslande gefälscht
werden wird, wie einst. Wenn heute mehr denn je auf die chemische Industrie
sich die Augen richten, in der Hoffnung, daß diese aus unserem Elend helfen soll,
so ist diese Hoffnung nicht ganz unberechtigt, vorausgesetzt drei Dinge: Kohle,
Rohstoffe und Arbeitswille. Denn, ebenfalls wieder als Erbe aus der Friedens-
zeit, wir haben voraus: den deutschen Chemiker, den man nicht nachmachen kann
wie ein Rezept oder eine Vorschrift, nicht kopieren kann wie eine chemische Apparatur,
die beide — Fabrikationseinrichtung und Fabrikationsgang — ohne den Fabri¬
kations leider wertlos sind.
Wenn man in «dieser Hinsicht die Aussichten der deutschen chemischen In¬
dustrie, ihre Stellung zum Ausland, nicht als aussichtslos bezeichnen kann, so sind
in anderer Richtung bezüglich ihrer inneren Entwicklung Momente aufgetreten, die
sicher bedenklich beachtenswert sind. Diese „innerpolitische Orientierung" in der
chemischen Welt, wenn man so sagen darf, hat sich gegenüber der Zeit vor dem
Kriege verändert. Wir hatten oben darauf hingewiesen, daß der Chemiker den
Fortschritt der Chemie bedingt. Aber die Kriegsverhältnisse brachten es mit sich,
daß das Studium der Chemie, welches die Grundlage für unseren Fortschritt bildete,,
in den letzten Jahren vielfach durchgepeitscht wurde. Durch „Zwischensemester"
wurden aus drei Jahren Studium zwei Jahre gemacht. Mit allerhand „Erleichte¬
rungen" erleichterte man das Können des Nachwuchses zum Schaden der
deutschen chemischen Industrie und auch zum Schaden der Betreffenden selbst.
Ein ungesunder Andrang zu diesem Studium, der deshalb zu allgemeinen Warnungen
veranlaßte, wird unter den Chemikern ein Proletariat schaffen, ungeeignet fürs
Ausland mangels Betriebsersahrungen; und wo dennoch wieder Abwanderung wirk¬
licher Fachleute ins Ausland stattfindet, geschieht dies zum Schaden der deutschen
Industrie. Denn darauf beruht ja zum großen Teil unser Fortschritt, daß wir den
anderen stets ein Stück voraus sind, dessen wir durch Abwanderung unserer Chemiker
ins Ausland verlustig gehen.
Weiter: Der durch die wirtschaftlichen Verhältnisse bedingte Zustand eines
Geldmangels für Wissenschaft und Forschung veranlaßte sogar Gelehrte ins Ausland
zu gehen. Die Valuta konnte der deutschen Chemie hier unberechenbaren Schaden
zufügen.
Aber auch für die Forschung selbst fehlen in neuerer Zeit die Mittel. Ein
blutleeres Wirtschaftsleben, Steuergesetzgebung, Versailles und Spa sind mit die
Ursachen, daß die chemische Großindustrie, die für Zwecke der Wissenschaft und
Forschung noch während des Krieges stets reichliche Mittel zur Verfügung hatte,
jetzt zurückhaltender geworden ist.
Lehrstühle, chemische Apparate, Literatur, das sind alles Dinge/ die viel Geld
kosten, und wenn wir die Aussichten der chemischen Industrie ruhig als derart be¬
zeichnen tonnen, daß sie das in sie gesetzte Vertrauen rechtfertigen wird, so bildet
die Voraussetzung dieser Annahme, daß die hier gestreiften Fragen der „internen
Entwicklung" zugunsten dieses Jndustriezweiges sich in früherer Weise weiter ent¬
wickeln.
Notwendig ist, daß wir über die gegenwärtige Periode eines blutlosen Wirt¬
schaftslebens hinwegkommen. Dann wird die deutsche Chemie an dem Wieder¬
aufbau zu ihrem Teile kräftig mitwirken, wird mithelfen, in das wirtschaftliche Chaos
Ordnung zu bringen, wie sie allein es verstanden hat, in das Chaos der Materie
System zu bringen, wird am so oft erwähnten Aufbau des Vaterlandes teilhaben,
wie sie es vermochte, durch synthetischen Aufbau chemischer Körper aus dem Wert¬
losen Dinge zu des Lebens Annehmlichkeit, zu Fortschritt und Kulwrentwicklung
zu schaffen. _ , , ^ ^ >.
in lyrischen Kunstwerk, im Gedicht, gibt sich das Eigcnwesen des
dichterisch schöpferischen Menschen am unvermitteltsten zu erkennen.
Denn es ist hinausgehoben über die Bewegtheit des Lebensstromes,
den das Epos zu gestalten sucht, wie über die Spannung des Dramas.
Es ruht in sich und reicht weit hinaus nach allen Seiten, als um¬
fassendstes Sprachkunstwerk. Dem Malerischen benachbart durch die Abstufung und
Harmonie der Farben, dem Musikalischen durch die Gliederung des Rhythmus, durch
Modulation und durch die Einheit der Melodie, — beiden, auch dadurch nahe, daß
°n ihm in viel höherem Maße als in den anderen Wortkünsten das Material der
Gestaltung zur sinnvollen Form wird. Denn das Wort gilt im Gedicht nicht als
^erständigungsmittel, sondern als eigene Gestalt, deren Sinn in ihr selber liegt,
nicht über sie hinausweist. So rundet sich das Gedicht zu einer Eigenwelt, die ihren
^gelten Mittelpunkt hat und ihren inneren Gesetzen gehorcht. Wie aber jedes
besondere und Einzelne, das in sich fest und lauter und eins ist, zugleich das um¬
fassende Allgemeine rein repräsentiert, so ist das Gedicht der getreue Spiegel seines
Schöpfers und über ihn hinaus der geistigen Welt, in der und aus der er lebt. So
^deutet uns die große lyrische Überlieferung eine kontinuierliche Folge von Stil-
^rrnen, deren jede eine persönliche und eine allgemeine geistige Welt ausdrückt 5
^ geht von Pindar und Vakchylides bis zur hellenistischen Elegie, von der christ-
'chen Hymnendichtung und der großen arabischen und persischen Lyrik des Mittel-
^ers zu den Troubadours und Minnesängern, zur Vita nuova und dem Canzoniere
Dantes, zu Shakespeares Sonetten und Michelangelos Rune, sie blüht im 19. Jahr¬
hundert bei Goethe und Hölderlin, bei den großen englischen Dichtern, bei
Baudelaire und Verlaine, in unseren Tagen bei George und Hoffmannsthal.
Ist diese große Tradition erschöpft oder vermag sie noch unter uns neue Formen
NUd neue Träger zu finden? Bei einem Überblick über die jüngste Lyrik, die ein
,?Ach Pathos der Menschlichkeit, den unmittelbaren, tönenden Ausdruck einer
^tegralen Geistigkeit sucht, und darum zunächst die konventionellen Gehalte und
^rnen der Überlieferung auflöst, würde man hier und da in der Tat ein Ende,
^Um. Niedergang anzunehmen bereit sein. Aber das hieße die schöpferische Leistung
^kennen, die überall aus der Negativität bloßer Empörung wider die Konvention
^vororicht, es hieße die reine, suchende Leidenschaft der jungen Dichter mit der
leblosen Programmatik einiger weniger Literaten verwechseln.
Heute ist von einem Versbuch zu sprechen, das nicht nur um seiner Eigenart,
°"dern auch um der besonderen Umstände willen, unter denen /es erschienen ist,
Merkenswert ist. Die „Gesänge" von Ernst Dro em (C. H. Becksche Verlags¬
buchhandlung, München 1920) sind mit einer Einführung von Oswald
^ Angler herausgegeben, — ja sie können geradezu als Belegstück gewisser Ge-
, S,ange des Untergangsbuches, die in dieser Einführung zusammengefaßt und
.^eitert werden, gelten. Spengler nimmt das Auftreten einer großen Lyrik am
s^arg am Ende der von ihm konstruierten Kulturepochen an, — da die abend-
Uoische Kultur zu Ende geht, so dekretiert er: „Die Geschichte der Lyrik ist für
s Su Ende. Es gibt keine Lyrik mehr." Was bleibt, was es noch gibt, das sind
„Nachzügler einer vollendeten Lyrik", die er nun allerdings meisterhaft zu charakteri¬
sieren versteht und als dessen Vertreter er Baudelaire, Verlaine, George und DroeM
anführt, obwohl seine Charakteristik ausschließlich auf den letztgenannten zutrifft-
Es lohnt nicht auszuführen, wie ungeheuerlich diese Zusammenstellung von Dichtern
ist, deren Gemeinsames ausschließlich ein äußerstes Stilgefühl ist, während die Stil¬
formen, in denen sie sich bewegen, bei jedem von ihnen vollkommen eigenartig und
nahezu unvergleichbar sind. Einige Sätze von Spengler können wir der Betrachtung
der Droemschen Verse voranstellen, da sie das Wesen derselben'auf das genaueste
kennzeichnen: „Hinter dieser Natur wie hinter einer Maske liegt eine zweite, in
welcher diese verirrte und verschlagene Seele über die Welt dieser Tage siegt. Jene
immer wieder erreichte, oft in ein Bild von wenigen Worten, oft in eine kurze und
leicht zu übersehende Wendung gefaßte Höhe der Entrücktheit ist es, in der zuletzt
alles Eigene sich löst ... und in der Unbewußtes sich mit Außerbewußtem völlig
vereint..."
Was sich uns hier darstellt, ist eine Dichtung der dem Ende nahen Dekadenz,
ja Droem ist geradezu der Dichter der Dekadenz, oder besser der besonderen,
typischen Ausprägung, die sie in Deutschland erfahren konnte. Es ist die Dekadenz
des deutschen Spießers, die nicht einmal mehr zum Schrei der Verzweiflung, Zuw
freiwilligen Ende lebendig genug ist, sondern sich in völliger Laschheit und
Trägheit und Verschlammtheit dem Nichts entgegenschwemmen läßt, versunken im
Dunst einer leblosen und gottlosen Mystik. Darum sind diese Verse kultur- und
zeitpsychologisch ungeheuer interessant, — nur nicht, wie Spengler meint, als Aus¬
druck der Zeit überhaupt, sondern als das Lallen einiger lebensunfähiger Zeit"
genossen, deren Grundstimmung Beschaulichkeit gegenüber der eigenen Verwesung ist-
Vor sechs Jahren starb, durch das Erlebnis des Krieges zerbrochen, lo
Garnisonsspital zu Krakau der Dichter Georg Trakl. Auch sein Werk spiegelt den
Verfall, das Vergehen und Verrinnen, den Herbst der Dinge und der Seele. Aber
mit welcher Inbrunst der Seele sind seine Verse erfüllt, welch letzter Adel der Form
umkleidet sie, wie sind sie durchleuchtet und durchglüht von der „heißen Flamme
des Geistes"! Eine seiner Dichtungen heißt „Offenbarung und Untergang"; noch^
der Dichter untergehen, die Offenbarung bleibt uns und vergeht nicht, die Offen"
barung einer reifen und erfüllten Jugend. Im Hinblick auf Trakls Dichtung gewinnt
das meist unnütze Schlagwort „expressionistisch" einen deutlichen Sinn: es geung
ihr, das Leben der Landschaft und das Leben der in derselben schauend verweilenden
Seele in eins zu setzen und für die so gewonnene Einheit naturhaften und geistig'
persönlichen Daseins eine lyrische Form zu finden, die der gewachsene Leib, nieh
ein erborgtes Gewand jenes Einheitserlebnisses ist. Unbeschreiblich ist die Süße »N^
Fülle seiner Melodie, der Glanz seiner Farben.
Droem hat weder Melodie noch Farbe. Seine Sprache ist, genau wie ti
Spenglers, das sang- und klangloseste Deutsch, das man sich denken kann, die Fa^
seiner Verse ist die der Nacht, nicht jener Nacht, „in deren Glut neue, wahre Ding^
erstrahlen", sondern der langweiligen, spießbürgerlichen Nacht, in der alle Ko^en
grau sind. Die gewollte, ja raffinierte Banalität seiner Strophen, die ZuchtlosiM
seiner Rhythmik, das Geleier seiner Reime ist unerträglich. Ein Gedicht ist von de
gleichen Monotonie wie das andere, und wenn man bloße Eintönigkeit Stil nenne
könnte, so wäre hier ein Stil erreicht. Ältere Formen, an die er anknüpft, sind scM
anzugeben: es ist etwas von Schwabinger Tradition darin, von Wilhelm Busch bis
zu den Gedichten des Simplizissimus aus seiner frechsten und verdorbensten Zeit,
daneben Anklänge an das Überbrettl, an Vierbaums und Wedekinds Chansons. Wenn
dieses Schwabing München oder gar Deutschland wäre, dann, aber erst dann wären
diese Gebilde kennzeichnend für die gegenwärtige deutsche Lyrik.
In dieser Sprache nun erscheinen die blassen Schatten einer Bilderwelt, die reich
wäre, wenn ihr nicht alles Blut und alle Kraft entzogen wäre. Visionen des Trinkers,
Landschaften, Kokotten, Betrachtung von Kunstwerken, Jahreszeiten, vergangene ge¬
schichtliche Welten geben diese Bilder her. Aber sie werden wesenlos, so wesenlos wie
die Persönlichkeit des Dichters, der sich in ihnen ohne Sammlung, ohne Demut, ohne
Scheu sucht und niemals findet. An mehreren Stellen des Buches stehen Gottes¬
lästerungen von grausiger Furchtbarkeit, — am furchtbarsten darum, weil selbst sie
ohne allen Trotz, in lässigen Hochmut hingesagt, hingeworfen werden. Die Gott¬
losigkeit ist in diesem Buche womöglich noch grauenvoller als in Spenglers Unter-
gangsbuch. Man wagt nicht, die Mächte der Finsternis, die hier am Werke sind, bei
ihrem wahren Namen zu nennen. Luther warf nach ihnen mit dem Tintenfaß.
I^on raAionÄin 6i lor, ma, zzuarcia e pÄSZa.
Alles, was wir hier vermissen, Reinheit und Kraft der Sprache, des dichterischen
Ethos, Verantwortungsbewußtsein der Zeit und der Geschichte gegenüber, das treffen
wir in einem Versbuche an, das zu gleicher Zeit erschienen ist. Rudolf
Borchardts „Jugendgedichte" (Ernst Rowohlt Verlag, Berlin 1920), vor
anderthalb bis zwei Jahrzehnten entstanden, vor zehn Jahren zum ersten Male für
einen engen Kreis von Freunden des Dichters gesammelt, werden uns neu geschenkt,
mit dem Versprechen, daß nun endlich das ganze Werk dieses überragenden Geistes
uns erschlossen werden soll. Bisher kannten wir nur verstreute und schwer zu¬
gängliche Stücke der umfassenden Bildungswelt, die er, erneuernd und neuschaffend,
sich erbaut hat. Im vergangenen Jahre erschienen im Hhperionverlage erneut das
„Gespräch über Formen", gefolgt von einer Übertragung von Platons Lysis, die
beide für die Bestimmung unseres Verhältnisses zur Antike, für die Beurteilung der
Altertumswissenschaft und eine neue Erfassung griechischen Geistes von größter Be¬
deutung sind, — und die „Rede über Hoffmannsthal", die eine grundlegende Kritik
der zeitgenössischen Dichtung und des sie tragenden Zeitgeistes zusammen mit einer
Würdigung Georges und Hoffmannsthals enthält, und zu der eine prachtvolle Be¬
leuchtung des Georgekreises (unter dem Titel „Intermezzo" in den Süddeutschen
Monatsheften von 1910) gehört, nach der man die trostlose neueste Auswahl aus
den „Blättern für die Kunst", die unlängst erschien, nicht mehr zu lesen braucht.
Im „Buch Joram" erneuerte Borchardt schöpferisch die Urform neudeutschcr Prosa,
die Sprache der lutherischen Bibel, und schuf zugleich eine Legende von urzeitlich-
zeitlosem Leiden in den Bildern der Legenden von Tobie und Hiob. In den
Heidelberger und Berliner Kriegsreden, wie vorher in den politischen Briefen aus
Italien (in den Süddeutschen Monatsheften von 1912), wurde eine Politik des
Geistes vertreten, wie sie seit Lagardes Tod in Deutschland kaum mehr vertreten ward.
Von dem umfassenden Qbersetzungswerk wurden mir nur eine Ode Pindars und
zwei Balladen von Swinburne, Zeugnisse vollkommener Meisterschaft, bekannt. Am
sehnlichsten erwarten wir von Borchardt den deutschen Dante, denn er ist der einzige,
der außer dem Danteschen Sprachgeiste (den bisher nur zwei Dichter, Rossetti in
England und George bei uns, erfaßt haben) auch das Dcmtesche Weltbild und seine
geistesgeschichtlichen Voraussetzungen sieht.
Diese drei Dinge: Stilbewußtsein, Traditionsbewußtsein, verantwortungs¬
bewußtes dichterisches Ethos bestimmen auch das Jugendwerk des Dichters, das
wir heute betrachten. Seine Sprache ist von vollem, dunklem Klang, tönend von
der Fülle der Gesichte und Bilder, an- und abschwellend von strahlender Freude zu
brennender Qual, von zartester Werbung zu schweren: Zom, eine Sprache aus
Marmor und Erz, lang nachhallend, feierlich, königlich. Und diese Sprache erschafft
aus sich neu die adligen Formen früherer lyrischer Kulturen: die sechs großen
Elegien erneuern die griechische distichische Elegie, die Terzine und die Stanze.
Dazu treten das Sonett, dessen Erstarrung seit Goethe nie so ins Leben gerufen
wurde, die Ballade (des alten romanischen Typus), die Scheine, die hier zum ersten¬
mal mit deutschem Sprachgeist erfüllt ist, der Vers der attischen Tragödie und ein
herrliches Tagelied, das zu den vollendetsten Stücken der ganzen Sammlung gehört.
Alle diese Gedichte und mit ihnen die in freier, nicht überlieferter Form geschaffenen
(welche Strenge in ihrer Gelöstheit wohnt, das ermesse man etwa an dem wunder¬
vollen „Traurigen Besuch") werden so stark vom Drängen der Leidenschaft, ge¬
bändigt durch die Zucht lauterster Form, getragen, daß ihre Wirkung Katharsis ist.
Reinigende Kraft geht von ihnen aus, am stärksten vielleicht da, wo sie selber, cyklisch
zusammengeschlossen, Stadien auf einem Wege der Läuterung durch Passion anzeigen,
wie in den beiden Cyklen „Autumnus" und „Lieder aus den drei Tagen".
Es wäre umsonst, viel zum Lobe dieser Dichtungen zu sagen. Sie bedeuten
in unserer Gegenwart, der eine Dichtung von strenger Form, von geistiger Einheit,
in der Ursprünglichkeit und Tradition verschmelzen, not tut, eine Tat von hervor¬
ragender Bedeutung, die uns nicht wieder aus dem Bewußtsein schwinden darf.
Hoffentlich ist es uns bald möglich, sie im Zusammenhang des Gesamtschaffens des
Dichters zu sehen.
Zum Schlüsse diene eines seiner Sonette als Zeugnis seiner Sprachgewalt
und der tiefen, ernst-freundlichen Weihe, in der die Bewegung des persönlichen
Lebens auf die Mitte gütig-vertrauter Mächte hingelenkt wird, das Sonett
„Hausgeist".
Frankreich und Rußland. Was in der ersten Augustwoche auch dem stärksten
Optimisten Anlaß zu Befürchtungen geben mußte, die Gefahr nämlich, daß Deutschland
was noch in den trotz Londoner Verhandlungen rasch wieder aufgeflammten Kampf
zwischen Entente und Sowjetrußland hineingezogen werden könnte, ist gerade noch
einmal an uns vorübergegangen, nicht etwa infolge unserer Neutralität, die die
ländliche Presse fortdauernd zu verdächtigen sucht (Matin vom 17. 8. behauptet
^V. mit der -größten Bestimmtheit, daß täglich deutsche Munitionszüge nach
^owjetrußland gehen), und ebenso wenig, weil übereifrige Eisenbahner ein paar
puppen- oder Materialtransporte aufhalten, sondern vor allem wohl, weil die
°vn Spa nach Warschau entsandten Führer der Ententemissionen an ihre Ne¬
uerungen Telegramme richteten, die mit voller Deutlichkeit erkennen ließen, daß
Militärische Hilfe zu spät kommen und nur neue Prestigeverluste bringen mußte.
halb Dutzend Divisionen hätte man zur Not schicken können und weder die
^eichswehr noch etwaige Arbeiterbataillone der Unabhängigen und Kommunisten,
^e am Beispiel des viel bewunderten Sowjetrußland immerhin lernen könnten,
^as ein schlagkräftiges Heer im Kampfe gegen den Ententekapitalismus wert ist,
^ren so wenig wie ein Generalstreik imstande gewesen, ihren Transport länger
^ zwei oder drei Tage zu hemmen. Aber ein halb Dutzend Divisionen genügten
^en nicht. Die militärische Lage hätte sich vielleicht wiederherstellen lassen, aber
settes militärisches Eingreifen in Polen bedeutete den offenen Krieg mit Sowjet-
Wand und zu diesem Kriege bedürfte es einer Armee, die man nicht mehr zur
^rfljgung hat und nicht schaffen kann. Was England noch an militärischen
Säften besitzt, reicht gerade aus, um Indien, Ägypten und Irland niederzuhalten
genügt nicht einmal, um neben Konstantinopel, wo eventuell bis auf weiteres
^ Griechen herhalten müssen, die wichtigste Eroberung Englands im Weltkrieg, Meho-
^tamien, zu sichern, das jetzt sogar Lord Nothermere bereits aufzugeben geraten hat.
^as Frankreich betrifft, so wäre auch dieses, selbst wenn es weniger Furcht vor
Wem deutschen Überfall auf die besetzten Gebiete hätte, nicht imstande, nennens-
. ^te Truppenmengen auf den östlichen Kriegsschauplatz zu werfen. Die Uber-
Msse der Orientarmee, die in Syrien freilich vorläufig einen durchschlagenden
y^olg davongetragen hat, werden dringend in Cilicien gebraucht, wo die Banden
. ^stafa Kemals die französischen Posten bis nahe an die Küste zurückgedrängt
^ben und Alexandrette bedrohen. Und an eine neue, wenn auch nur teilweise
^bilisierung zugunsten Polens ist in Frankreich so wenig wie in England zu denken,
selbst der schneidige „Gaulois" hielt es, sowie nur der erste Gedanke an
^bilisierung auftauchte, für geraten, mit Besorgnis auf die Gefahr einer „inneren
^se" hinzuweisen, ein Ausdruck, den ein besonneneres und gut orientiertes Blatt
^ Ere Nouvelle noch viel zu schwach fand. Denn soviel man auch drüben gegen
°n Bolschewismus wettert, im wesentlichen meint man damit doch den inneren
°lschewismus, und ein neuer, unübersehbarer Krieg um der russischen Milliarden-
Mld willen wäre auf keinen Fall Populär. Praktische Politiker haben denn auch
vorgeschlagen, sich für den politischen Mißerfolg im Osten an Deutschland
'^blos zu halten.
Die anscheinend ziemlich brüsk erfolgte Anerkennung der Regierung
Wrangels von feiten der französischen Regierung, die soviel Staub aufregte und
übrigens in der französischen Presse, auch abgesehen von der sozialistischen, nur
geteilten Beifall fand, ist unter diesen Umständen politisch von untergeordneter
Bedeutung und wenn Millerand wenige Tage später durch den „Matin" seine
Bereitschaft erklären ließ, unter gewissen Bedingungen: Polens Freiheit,
Anerkennung der Auslandsschulden, Beweis seitens der Sowjets, daß sie in Wahr¬
heit das russische Volk zu vertreten berufen sind, auch die Sowjetregierung anzu¬
erkennen, so bedeutet das in Wirklichkeit einen glatten Rückzug vor der englischen
Vermittlungspolitik, zu der sich der französische Ministerpräsident um so mehr
genötigt gesehen haben mag, als sich herausstellte, daß Frankreich tatsächlich isoliert
dastand und weder das befreundete und militärisch bereits verbündete Belgien,
noch die österreich-ungarischen Nachfolgerstaaten mitmachten. Der „Temps"
wiederholt denn auch einmal über das andere, daß an eine militärische Unter¬
stützung Wrangels kein Mensch jemals gedacht habe.
Zum Ersatz wird man sich an Deutschland halten. Man täusche sich nicht-
Frankreich setzt den Krieg gegen Deutschland unentwegt fort. Es mögen Kräfte auch
in Frankreich vorhanden sein, die einer wirtschaftlichen Annäherung, ja Zusammen¬
arbeit nicht abgeneigt sind. Aber neben ihnen stehen andere, die gerade jetzt nach¬
drücklich davor warnen, die Politik in erster Linie nach wirtschaftlichen Gesichts¬
punkten zu orientieren, und die Vorgänge im Saargebiet und die Art, wie die unge¬
schickte Verhaftung von Dr. Dorten in der französischen Presse kommentiert morde»
ist, lassen klar erkennen, daß Frankreich trotz Millerands offizieller Versicherung, die
in der Kammer eine recht kühle Aufnahme fand, seine separatistische Politik noch lange
nicht aufgegeben hat, Im Gegenteil, man kann behaupten, daß diese Politik mit
jedem Monat an Einheit und zielbewußter Festigkeit gewinnt. Die Dinge sind heute
schon sehr viel weiter gediehen als sie es z.B. zur Zeit der Besetzung Frankfurts waren,
wo man jenseits des Rheins glaubte, über dergleichen Absichten noch möglichst dicht
halten zu sollen. Jetzt beginnt man bereits die Karten aufzudecken. „Eclair" ovo
K. August spricht schon unumwunden davon, daß man die Deutschen mit französisch^
Hilfe wieder auf den alten Weg des Partikularismus, auf dem es Jahrhunderte des
Gedeihens erlebt habe, zurückbringen müsse. „Die letzten Wahlen haben bewiesen, daß
Deutschland nicht imstande ist, ein festes Regime zu bilden. Wir müssen also not¬
gedrungen einschreiten und von den Alliierten völlige Billigung unserer Aktion ver¬
langen." Auch Barros fordert im „Echo de Paris" eine Politik „an-s ^.IlsmaANös"
Noch deutlicher ist „Eclair" vom 11. August, wo es heißt: Frankreich muß England Z»
einem Abkommen auf folgender Grundlage bringen : Besetzung der Rheinlands, West¬
falens und zu größerer Sicherheit auch der Mainlinie, die Rheinländer müssen Selbst¬
verwaltung bekommen, Steuern undZölle im besetzten Gebiet werden zugunsten Frank¬
reichs erhoben. Frankreich muß eine aktive Politik in Deutschland betreiben, selbst
wenn diese zur Wiedereinsetzung der ehemaligen Herrscherhäuser mit Ausnahme der
Hohenzollern führt, denn eine Wiederherstellung des Föderalismus verbürgt den
Weltfrieden. Es handelt sich hierbei, wie ausdrücklich hervorgehoben sei, nicht M»
willkürliche Treibereien unverantwortlicher Skribenten, sondern um einen seit langen'
zähe und systematisch verfolgten Plan, von dem man nachweisen kann, daß er se>M
vor dem Waffenstillstand an maßgebenden Stellen erörtert worden ist. Aber M^-N
braucht nur die französische Presse sorgfältig und in voller Breite zu lesen, um er¬
kennen zu können, wie dieser Plan sich verwirklichen soll. Frankreich rechnet fest
darauf — der Leitartikel des „Temps" vom 4. August läßt das mit voller Deutlichkeit
^kennen — im November „automatisch" das Ruhrgebiet besetzen zu können. Im
besitz des Nuhrbeckens regelt es die Kohlenversorgung Süddeutschlands, vor allem
Bayerns. Um Bayern mehr Gegengewicht zu Preußen zu verleihen, ist man nicht
abgeneigt, die Bildung eines süddeutschen Bundes mit Osterreich und Ungarn zu
Ordern, allerdings nicht ohne Sorge zu tragen, daß auch hier eine föderalistische Form
unter allen Umständen gewahrt bleibt. Diese Form würde durch Wiederherstellung
der Monarchie gefördert werden. Bayern kann eventuell, d. h. falls es die nötigen
"Garantien" bietet, als Stütze der Monarchie seine Einwohnerwehren behalten,
Ungarn könnte den Erzyerzog Joseph (diesen lieber als einen englischen Kandidaten)
und Osterreich (um immerhin Rivalitäten zu schaffen) Karl wiederbekommen (der
durch fortgesetzte Veröffentlichungen der „Opinion" über die Separatfriedensverhcmd-
kungen von 1917 entlastet werden soll). Das ist der Plan. Es handelt sich dabei nicht
UM Phantasien, sondern um Politik, es kann bewiesen werden, daß diese Politik ziel¬
bewußt verfolgt wird und sowohl in Bayern wie in Ungarn wird man dafür gesorgt
haben, daß sie auch skeptischen und vorsichtigen Franzosen annehmbar erscheinen muß.
Die Franzosen verfolgen mit dieser Politik noch ein Nebenziel: nämlich die
Bildung einer neuen Front gegen den Bolschewismus. Der Clemenceausche Stachel¬
drahtzaun um Rußland herum ist brüchig geworden. Die englische Versöhnungs¬
politik gegenüber den Sowjets erscheint den Franzosen unsicher und unvorteilhaft, das
^Ugstgespenst einer russisch-deutschen Vereinigung rückt ihnen immer näher. Aber
deshalb die Front gleich an den Rhein verlegen? Richtiger scheint es, sie am Main,
an der Nordgrenze Süddeutschlands, an den Karpathen, am Pruth oder Dnjestr auf¬
zurichten. In Bayern kann der Bolschewismus heute als czuantlts nöss1iAKl>.liIs
betrachtet werden, das ausgehungerte Wien kann ein einziges entschlossenes Regiment
'U Ruhe halten und die Rivalitäten zwischen Ungarn und Rumänien sucht Frankreich
u«es Kräften auszugleichen. Damit ist eine Brücke bis zu Wrangel geschlagen, was
vom französischen Standpunkt um so mehr zu begrüßen wäre, als damit der Einfluß
der Engländer auf die Donau lahmgelegt werden könnte. Auch nach außereuropäischen
Bundesgenossen beginnt man sich bereits umzusehen und Amerika, dessen Note an
den italienischen Botschafter man mit allen Kräften auszuschlachten suchte, gegen
England auszuspielen. Sollten sich diese Tendenzen verstärken, wozu bei den starken
^glisch-amerikanischen Gegensätzen, der energischen Friedensaktion der englischen
Arbeiterschaft, die die Regierung bereits stark zu beunruhigen beginnt, den von jeher
bestehenden Sympathien des „Temps" für Amerika und der Verstimmung und teil¬
weise neuerdings ganz offen hervortretenden Feindschaft Frankreichs gegen England
"der doch gegen Lloyd George immerhin Möglichkeiten bestehen, so könnte über kurz
°der lang ein völliger Wechsel in der Weltkonstellation eintreten zwischen den Mächten
der alten Ordnung, zu denen Amerika unbedingt gerechnet werden muß, und dem
Bolschewismus, der sich über Polen hinausgreifend, Norddeutschlands bemächtigen
^ut dem sich, um Indien zu retten, England anschließen würde, weil es sich selbst
8egen einen inneren Bolschewismus, der seine imperialistische Tendenz erschüttern
Würde, durchaus mit Recht für immun hält. Die Abrechnung zwischen England
"ud Nußland würde dann verschoben werden, bis der Kampf zwischen England und
Amerika zum Austrag gekommen wäre.
Aber doch eben nur verschoben. So lange England Nußland im Baltikum und
in Konstantinopel wie in einer Zwickmühle gefangen hält, solange wird der Gegensah
bestehen bleiben. Gerade an diesem Punkte wird deutlich, daß die eigentliche Gefahr
für den Weltfrieden der englische Imperialismus bildet. Auf die Dauer ist es un¬
möglich, elementare Vorgänge wie die russische Expansion durch zivilisatorische wie
das englische Welthandelsreich aufzuhalten. Sperrt man, wie im Westen England,
im Osten Japan, diese Expansion vom Meere ab, so wird ihr natürlicher Druck sich
entweder nach Mittelasien richten oder über Polen hinweg auf das europäische Fest¬
land. Im ersten Falle verliert England Indien, im zweiten das europäische Hinter¬
land. Und es ist möglich, daß die begreifliche Unfähigkeit, zwischen diesen beide»
Möglichkeiten beizeiten eine Wahl zu treffen, der englischen Macht zum Verhängnis
wird. Einstweilen sticht man englischerseits zu einem Waffenstillstand zu kommen,
der insofern Aussichten auf Verwirklichung hat, als auch der russische Gegner eine
Atempause nötig hat. Man braucht die Erfolge der polnischen Gegenoffensive, die leicht
vorauszusehen waren, in der Bedeutung nicht zu überschätzen, aber den Frieden müssen
auch die Bolschewisten haben, nicht nur weil die Ukraine wieder unruhig ist und die
Tätigkeit Wrangels immerhin bedrohlich wird, sondern vor allem um die Ernte
rechtzeitig einbringen und verteilen und Vorsorge für den Winter treffen zu können-
Anderseits darf man, selbst wenn die militärischen Erfolge der Polen bedeutender
würden, damit rechnen, daß sowohl England wie Frankreich die Polen ^
weiteren Abenteuern nicht mehr anfeuern werden, und es ist daher keineswegs
ausgeschlossen, daß die Verhandlungen in Minsk nicht doch noch den Frieden
bringen werden. Die grundlegende Voraussetzung hierfür ist jedoch, daß ^e
Sowjetregierung zunächst ihren Gedanken an die Weltrevolution aufgibt.
damit würde sie, darauf haben die Amerikaner ganz richtig hingewiesen, überhaupt
wieder vertrauenswürdig und verhandlungsfähig.
Erst dann ließe sich auch über ein deutsch-russisches Bündnis ernsthaft
sprechen. Gegenwärtig können nur Phantasten in Deutschland ein solches befür¬
worten. Solange der Bolschewismus nicht entschlossen eine nationalrussische For»l
annimmt, kann von einem Zusammengehen zwischen Rußland und Deutschland
nicht gesprochen werden, denn im gleichen Augenblick hätte Deutschland als
Staat zu existieren aufgehört. Im gleichen Augenblick würden sich die
Feinde im Westen eines der Grundpfeiler der deutschen Wirtschaft, der Ruhr¬
kohle, bemächtigen, würde sich der Süden vom Norden lossagen. Und welche»
Zweck würde ein so geschwächtes Deutschland dann noch für Rußland haben? Die
Verlegenheiten eines großen bolschewistischen Blockes würden ins ungeheuerliche
steigen, Norddeutschlands Volkskraft sich in inneren Schwierigkeiten zerreiben und
alles, was etwa an Borteilen noch zu hundelt wäre, ausschließlich den Russen, nicht
aber den Deutschen, auch den deutschen Proletariern nicht, zugute kommen. Auch
vergesse man ja nicht, daß ein Bolschewistenkrieg am Rhein und Main beileibe
nicht dasselbe ist wie an der Weichsel oder am Don. Was hier der Krieg
zerstört, ist rasch wiederhergestellt, was er in Deutschland vernichtet, bedeute
Wüste auf Jahrzehnte. Und strategisch würden auf einmal die Westmächte alle
Vorteile der inneren Front haben. Ein Bündnis mit Rußland bleibt zu erwägen,
„Wenn ein grüner Junge sich an der französischen Trikolore vergreift, so
braucht man an sich das nicht tragisch zu nehmen. Man soll ihm die Jacke voll¬
hauen und ihn zu Muttern schicken."
So schrieb das „Berliner Tageblatt" über den Schlosserlehrling Krczminskt,
als zwar schon eine Belohnung von 10 000 auf des Furchtbaren Kopf ausgesetzt,
sein deutschnationaler Name und seine Mitgliedschaft zur U. S. P. aber noch nicht
bekannt war. Die Volksbewegung für die Einführung der Prügelstrafe macht ersicht¬
lich Fortschritte. Sollte man sie aber menschlicherweise nicht zunächst auf Noheits-
und Sittlichkeitsverbrecher, daneben auf Schieberei und Wucherei, beschränken? Das
„Berliner Tageblatt" geht im löblichen Eifer gleich zu weit und muß uns schaden
bei den Gutgesinnten. Jedenfalls hüten wir uns, ihm auf dem reaktionären Pfade
Zu folgen, und warnen Umlerner davor, die mittelalterlichen Anwandlungen des
Weltblattes vielleicht noch gar zu übertreiben. Mra Uosss loup obli^a.tur.
Der amtlichen Kunst des wilhelminischen Zeitalters ist nicht allzu viel
Gutes nachzusagen; fehlte ihr doch sogar der Instinkt für ihren eigenen Ge¬
schmack, so daß sie, Äußerlichkeiten noch äußerst übertreibend, sich dauernd selbst
karikierte. Wenn hier eine feste Hand durchgreift und grob dilettantischen Wust
beseitigt — wen sollt' es nicht freuen? Das mächtige Reich hat es zeitlebens zu
keiner anständigen Briefmarke bringen können, obgleich die Briefmarke eins der
wirksamsten Propagandamittel ist und auch zu denen spricht, die weder lange Ab¬
handlungen zu lesen noch Wanderkunstausstellungen zu besuchen Pflegen. Diese
Post-Germania, in Wahrheit eine für den Maskenball angezogene Oberbecnntens-
gattin, wußte niemandem etwas zu sagen; ihre flache, bureaugeborene Alltäglichkeit
gab von der hochentwickelten deutschen Handwerks- und Werkkunst nicht die leiseste
Vorstellung. Und weil sie einmal bestimmungsgemäß ins Ausland kam, schadete
sie mehr als Siegesallee und Lauff-Dramen, die erfreulicherweise im Lande blieben.
(Im selben Lande, das immerhin ehrenvoll bestanden hätte, wenn es seinem Wilden¬
bruch treu geblieben wäre.) Leider ist die Revolutionsbriefmarke noch ein betrüb¬
licherer Schrecken geworden. Das Entsetzen, das ihr folgte, hat dann zur Berufung
des Dr. Redslob auf den neu geschaffenen Posten eines Reichskunstwartcs geführt.
Daß sich die Zöpfe darob ärgerten, spricht für das Amt und für den Mann. Wir
müssen unbedingt über die im Instanzenweg geförderte und von nebenberuflichen
Schöngeistern beaufsichtigte Kunst hinaus; wir brauchen freie und entschlossene An¬
reger. Redslob hat, so scheint es, den erforderlichen Mut, die redliche Frische, das
Temperament. Mit solchen Eigenschaften begabt, darf er es sich getrost erlauben,
auch einmal danebenzugreifen und aus lauter Haß gegen den Kitschismus (der mit¬
unter heimliche Abhängigkeit von ihm verrät) zu lange Fortschrittsbeine zu markieren.
Redslob hat sich für einen neuen Reichsadler Schmidt-Rottluffscher Prägung
eingesetzt, ein verzwickt krummnasigcs, reichlich fettes und welliges Geschöpf, dessen
geöffnete Krallen vergebens auf größere Zahlung zu warten scheinen und aus dessen
Gefieder sich gewiß mühelos Federkiele für weitere Versailler und Spaer Unter¬
schriften fertigen lassen. Das Fabeltier ist, um ja nicht zoologisch gewertet zu werden,
auf den Einfall geraten, statt des gottgegebenen Schwanzes einen Flugzeugsterz
zu benutzen. Vor Schmidt-Rottluff schuldigen Respekt. Er ist ein Mann von vielen
Gnaden. Auch bei diesem Aar, wo er allerlei Modernes gedacht, die neue Form
gemeistert und dabei nicht völlig den Boden der Überlieferung verlassen hat. Etwas
viel auf einmal, nicht wahr? Denn das Bestreben, höchst zeitgemäß zu sein, die
heraldische Adlerbrut von 1871 bis 1914 zu erwürgen und dennoch im Vergangenen
zu wurzeln, kann zu keinem sehr guten Ende führen. Freund Pandur wird, besorge
ich fast, sich die tragische Komik dieser kunstvoll-künstlich gezeugten Kreatur nicht ent¬
gehen lassen. Und gerade das kränkt Nedslob. Der neue Papageirabe ist, so ruft er
verdrossen aus, keine Zielscheibe für die Bolzen selbstgefälliger Witze. Mir scheint
er tatsächlich auch geeigneter als Zielscheibe beim Vogelschuß — aber weshalb soll
jene Kritik, die den Spaß liebt, ausgerechnet dem eben ausgekrochenen Reichsadler¬
küken gegenüber unangebrachter sein als beispielsweise einem pedantisch ernsthaften?
Redslob wird sich, wie alle unsere Männer der Öffentlichkeit, an die Randglossen
der Schalle gewöhnen müssen. Diese Zeit schreit nach der Pritsche; die nächsten
Jahrzehnte gehören der Satire. Was besonders den ornithologischen Günstling
Redslobs anbelangt, so mag und muß er beweisen, daß er die Laugenbäder ebenso¬
gut verträgt wie sein Vorgänger, der stilisierte Reichsvogel des fluchbeladenen und
verrotteten Systems. Nur ist zu befürchten, daß ihm sein Beschützer durch den
unwirscher Ausfall gegen die Spötter das Leben nicht eben leicht gemacht, viel¬
mehr die Krähen erst zum Einhacken ermuntert hat.
Führerlos. In der Nummer 32 des
„Gewissen", der Wochenzeitschrift der „Jungen",
spricht Heinrich v. Gleichen über die ange¬
kündigte Hochschule der Politik (vgl. dazu
Martin spähn im 1. Heft der „Grenzboten"
des laufenden Jahrgangs). Er bezweifelt,
daß eine Hochschule für Politik, die im Geist
und nach den Anweisungen der heute Re¬
gierenden geleitet wird, ihrem Zweck der
Politischen Erziehung gerecht werden könne.
In diesem Zusammenhang kommt er zu einer
Schilderung persönlicher Erfahrungen, die
etwas Ergreifendes an sich hat. Wir möchten
sie unseren Lesern nicht vorenthalten und bei
dieser Gelegenheit wieder einmal auf das
reine und hohe Streben hinweisen, welches
die Mitarbeiter des „Gewissen" beseelt.
uns, hat Deutschland groß gemacht. Von
dem anderen verstehen wir nichts, und wir
sind nicht dafür verantwortlich."
Ich ging zu den leitenden Männern des
Staates, und sie sagten mir: „Wir sind an
die Beschlüsse der Kollegenkonserenzen ge¬
bunden. Wir sind an die Verfassung, Gesetze
und Verträge gebunden, wir haben unsere be¬
stimmten Vorgänge, und was darüber hinaus¬
geht, geht uns nichts an. Wir waren gestern
selbst noch unsere vortragenden Räte, und
Verantwortung heißt für uns Bindung durch
das Wort einer höheren Instanz."
Und ich ging zu den Führern des deutschen
Geisteslebens. Hier ist jeder auf sein per¬
sönliches Schaffen, auf eigenes Schöpfertum
gestellt. Wie wurde der Ruf des Volkes, der
Notruf der deutschen Schicksalsgemeinschaft
von ihnen aufgenommen: Mit welcher Selbst¬
quälerei, mit welcher Verwirrung des Gemüts
und des Geistes kämpfen die Männer der
Wissenschaft und der Kunst um die Politische
Problematik! Die meisten für sich, jeder für
Sonderideen, Sonderprogramme. Nur wenige
starke, instinktsichere Naturen blieben ruhig in
der Linie ihres Lebens. Aber: sie wahrten
Zurückhaltung und hielten sich fern von dem
hitzigen Streitplatz öffentlich organisierter Ver-
antwortungslosigkeit und tragen die!.Sorge
im Herzen.
Da kreuzte mein Weg, !der mich vielleicht
schon zu lange bei den Männern von gestern,
bei den Maßgeblichen, amtlich und beruflich
Festgelegten aufgehalten hatte, die Bewegung
der Jungen. Sie eint das Kriegserlebnis.
Ihr Denken zeigt Frische, Empfänglichkeit.
Ihr Wille zeigt die Erneuerung, die dem¬
jenigen Gewinn wurde, der mit innerster Er¬
schütterung die deutsche Not erlebte. Und
aus der Begegnung mit dem Jungen wurde
Gemeinschaft, und die Gemeinschaft führte
zur Arbeit, und diese Arbeit heißt Erziehung;
nicht zum Führer, denn Fllhrertum ist Schicksal,
aber Erziehung zum Politischen Beruf!"
„Mit den Millionen Deutschen ging ich in
den deutschen Krieg, wissend, daß der Führer
nicht da war. Und dann brachte mich Zufall
und Schicksal an die Stellen, wo die so¬
genannten „Führer" des deutschen Volkes
walteten. Wenige von ihnen blieben mir
Persönlich unbekannt. Überall sah und fühlte ich
denselben tragischen Zug innerer Zielschwäche
und Abhängigkeit. Alle waren sie im letzten
Sinne abhängig von den anderen: vom
Monarchen, von dem Vorgesetzten, von dem
Untergebenen, von der Partei, von dem Partei¬
gegner, von der Masse, vom Geschäft und
Interesse. Nirgends eine letzte, restlose Ver¬
antwortung dem deutschen Schicksal gegenüber.
Mein Erlebnis war die Erkenntnis des tragischen
Schicksals der politischen Führerlvsigkeit des
deutschen Volkes.
Ich ging zu den Wirtschaftsführern. Die
Nährerin 5es Volkes, die Wirtschaft, ist krank.
Ahr Schicksal entscheidet über die nächste Zu¬
kunft. Die besten Männer, deren Namen die
Öffentlichkeit an erster Stelle nennt, sagten
wir: „Wir wollen nichts von der Politik
wissen, wir wollen unser Werk. Das hat
Schriften zur inneren Politik. Nachdem
der Krieg vorübergehend die großen Welt-
Politischen Probleme in den Mittelpunkt des
Zeitinteresses gerückt hatte, ist längst der alte
Zustand wiedergekehrt: unser Volk hat, soweit
sich nicht überhaupt eine Abkehr von der
Politik bemerkbar macht, sich wieder den
inneren Fragen zugewandt, und der sichtende
Betrachter kommt nicht einmal aus diesem
eingeengten Gebiete zum befriedigenden Schluß,
daß wesentlich neue Ergebnisse gefördert
würden. Nur bei wenigen Außenseitern be¬
ginnt die Erkenntnis durchzuringen, daß ohne
eine grundstürzende Ncuausformung des poli¬
tischen Joeenbestandes an eine wahrhafte
Politische Erneuerung nicht zu denken ist.
Von zusammenfassenden Darstellungen hat
die 1919 in zweiter Auflage erschienene
Staatsbürgerkunde von Ernst Bern¬
heim '(bei Quelle u. Meyer, Leipzig) nur
noch historischen Wert. Sie ist verfassungs¬
geschichtlich aufgebaut, gelangt aber nicht mehr
zur Berücksichtigung der Revolution und ihrer
Folgen. Als Ergänzung empfiehlt sich die
klare und gut orientierende Schrift über Die
organisatorischen Grundgedanken der
neuen Reichsverfassung von Professor
Dr. Josef Lukas (I. C. B. Mohr, Tübingen
1920), die die bisherige und die neue Ver¬
fassung in ihren wichtigsten Punkten vergleicht.
Wesentlich weitere Aufgaben steckt sich die
„Politik" von Prof. Dr. Axel Frhrn.
v. Freytags-Loringhoven. Das Buch
will in den Gesamtbestand der Politischen
Gegenwartsfragen einführen, geht aber überall
auf die historischen und systematischen Grund¬
lagen zurück. Dabei prätendiere der Verfasser
keine überparteiliche „Objektivität", sondern
macht aus seiner entschieden nationalen und
monarchischen Grundgesinnung keinerlei Hehl.
In einem jeden parlamentarisch regierten
Lande treten die Parteien als hauptsächliche
politische Machtfaktoren in Erscheinung. Das
spiegelt sich naturgemäß auch im politischen
Schrifttum wider. Eine allgemein und
grundsätzlich gehaltene Einführung in das
Wesen und die Formgesetze der Parteien geben
I)r, S. v. Jezcwski: Was ist Politik?
(Pallas-Verlag, Jena 1920) und Dr. Ludwig
Sevin: Die Elemente der Partei¬
bildungen in Vergangenheit, Gegen¬
wart und Zukunft. Eine Neubegründung
des Konservativismus versucht der Süddeutsche
Adam Roter in seiner Schrift: Der deut¬
sche Konservativismus und die Re¬
volution (Fr. A. Perthes, Gotha 1920),
indem er sich scharf gegen Nationalismus und
Naturalismus wendet und eine Rückkehr zu
den christlichen Grundlagen anstrebt. Die
ziemlich unbedeutende Arbeit setzt die Linie
Constantin Frantz-Fr. W. Förster sort. Wir
können in diesem weichlichen pazifistischen
Westlertum keinen Neuansatz für einen fort¬
schrittlichen Konservativismus erblicken. Wesent¬
lich interessanter ist die gehaltvolle kleine
Schrift von Prof. Dr. Friedrich Brunstäd,
die die Staatsideen der politischen
Parteien (Vossische Buchhandlung, Berlin
1920) behandelt und den konservativen Staats¬
gedanken in unserer idealistischen philosophi¬
schen Überlieferung zu verankern sucht. Aus
historischen Reminiszenzen erklärt sich die be¬
fremdliche Sympathie des Verfassers für den
liberalen Gedanken, im übrigen ist die Be¬
gründung des Staates im tragisch-pessimisti¬
schen Dualismus äußerst anregend, die un¬
gewöhnlich gedrängte Arbeit kann zur Ver¬
tiefung der staatspolitischen Besinnung wesentlich
beitragen.
Einen wertvollen Beitrag zum geschicht¬
lichen Verständnis der Demokratie liefert
die bekannte Schrift des verstorbenen Heidel¬
berger Staatsrechtslehrers Georg Jellinek
über Die Erklärung der Menschen- und
Bürgerrechte, die in dritter Auflage, neu¬
bearbeitet durch den Sohn des Verfassers,
Prof. Dr. Walther Jellinek, erscheint (Duncker
u. Humblot, München und Leipzig 1919)-
Bei der Neubearbeitung ist der Nachlaß des
Verstorbenen zu Rate gezogen worden. Pros-
vr.HansKclsen handelt Vom Wesen und
Wert der Demokratie (I. C. B, Mohr,
Tübingen I92V). In scharfsinniger Analyse
zergliedert die Schrift die Wesenselemente
der Demokratie und weist insbesondere auch
auf die demokratischen Rudimente im Bolsche¬
wismus hin.
Die Weltanschauung des Zentrums
in ihren Grundlinien (Verlag von
Dunckeru. Humblot, München und Leipzig 1920)
behandelt auf Grund des Vorkriegsmaterials
eine auf genauem Quellenstudium fuszende
Arbeit von Dr. Max H. Meyer.
Programmatik und politische Praxis der
Partei werden gleichermaßen berücksichtigt.
Innerhalb der gegenwärtigen Zentrums-
bewcgung dürfen angesichts der Vorgänge der
jüngsten Zeit Veröffentlichungen auf ein
besonderes Interesse rechnen, die die politische
Stellungnahme der bayerischen Landesgruppe
beleuchten. Dr. Richard Ringelmann,
Die bayerische Volkspartei (München
1920) ist als Handbuch für die Wählerschaft
gedacht, vermittelt aber auch Außenstehenden
einen Einblick in das Gesamtprogramm der
Partei, die durch das Kabinett Kasr Bayerns
Politik maßgeblich bestimmt. Eine gute
Ergänzung dazu ist: Die Wirtschafts- und
Sozialpolitik der bayerischen Volks-
Partei im bayerischen Landtag 1919/20
(München 1920) aus der Feder des Landtags¬
abgeordneten Dr. Franz Xaver Zahn-
brccher. Die Arbeit enthält wertvolles zeit¬
geschichtliches Quellenmaterial in übersichtlicher
Darstellung.
Die Probleme des Sozialismus stehen,
begreiflicherweise weit über die Parteigrenzen
hinaus, im Mittelpunkt der allgemeinen
Erörterung. Eine wertvolle geschichtliche
Grundlegung geben Heinrich Dietzels
Beiträge zur Geschichte des Sozia-
lismus und Kommunismus, die Plenge
°is Band II seiner staatswissenschafilichen
Musterbücher (G. D. Baedeker, Essen 1920)
herausbringt. Das Buch ist aus früheren,
schwer zugänglichen Veröffentlichungen des
bekannten Gelehrten zusammengestellt und
reicht vom Altertum bis ins letzte Jahrhundert.
Eine kurz zusammengefaßte Darstellung der
Sozialen und wirtschaftspoli.lischen
Anschauungen in Deutschland (Quelle
"> Meyer, Leipzig 1919) bringt Professor
^r. P. Mombert als Band 155 von
"Wissenschaft und Bildung" heraus. Die gut
orientierende Schrift umfaßt den Zeitraum
b°>n Beginn des neunzehnten Jahrhunderts
b's zur Gegenwart. Ebenfalls von geschicht¬
lichem Interesse ist eine Schrift von Marx
und Engels, die unter dem Titel Karl
Marx oder Bakunin? Demokratie
oder Diktatur? (Volksverlag für Wirtschaft
und Verkehr, Stuttgart 1920) mit einem
Geleitwort von Wilhelm Blos erscheint.
Die Schrift enthält eine scharfe Absage an den
russischen Anarchismus jener Zeit. Eine
grundsätzliche Untersuchung der Politischen
Theorie des Marxismus ist Sozialismus
und Staat von Prof. I)r. Haus Kelsen
(C. L. Hirschfeld, Leipzig 1920). Die gründ¬
liche Arbeit deckt den Widerspruch zwischen
der wirtschaftspolitischen und der staats¬
politischen Einstellung des Marxismus auf
und schenkt auch den Fortsetzern von Karl Marx,
insbesondere dem russischen Neokommunismus
eingehende Beachtung. Die Erlösung vom
Klassenkampf (Grcthlein u. Co., Leipzig
und Zürich 1920) erhofft Jakob Schaffner
von der Bodenreform. Durch sie soll aus
der sozialistischen Klassenrevolution erst die
große nationale Revolution werden. Die
Broschüre, die zum Schluß sür „einen boden-
reformerischen Präsidenten" Stimmung zu
machen sucht, leidet an der üblichen mono¬
manischen Einstellung dieser Sekte auf ein
soziales Allheilmittel.
Einen wesentlich realeren Blick verraten
die Arbeiten, die aus der Hamburger
nationalen Handlungsgehilfenbewegung hervor¬
gegangen sind. Insbesondere sind Walther
Lambach und Paul Bröcker als Führer dieser
national-gewerkschaftlichen Bewegung der
Jungkaufmannschaft hervorgetreten. Wir ver¬
zeichnen von Walther Lambach die
Broschüre „Kapitalismus — Sozia¬
lismus, Zwangswirtschaft — freie
Wirtschaft" (Deutschnationale Verlags¬
anstalt Hamburg) und von Paul Bröcker:
„Die Arbeitnehmcrbewegung", „Wert¬
gutgedanken", „Der Wertgutgedanke
und die Gewerkschaften", „Was ist
Klassenkampf?" und „Klassenkampf
und Rassenkampf" (ebenda). In diesen
Schriften wird der interessante Versuch unter¬
nommen, dem Klafsenkampfgedanken dadurch
einen positiven und nationalen Sinn zu ver¬
leihen, daß ihm der Gedanke der Qualitäts¬
veredelung als Ziel gesteckt wird. Der
Materialismus von Karl Marx wird von^
innen her überwunden, indem nicht mehr in '
der möglichst breit bemessenen Muße, sondern
in der Arbeit selber der Sinn des werktätigen
Lebens gesucht wird. Die Schriften berühren sich
damit bis zu einem gewissen Grade mit einer
Arbeit von Dr. Bruno Rauecker über
„Versittlichung des Arbeitslebens"
(Verlag von Duncker u. Humblot, München
und Leipzig 1920). Auch hier wird die
Wiedererweckung der Berufsfreude und Arbeits¬
lust durch ein verständnisvolles Eingehen auf
die Arbciterpsyche und die geheime Sehnsucht
des Volkes angestrebt.
Einen kurzen Abrisz der Sozialpolitik
(Wissenschaft und Bildung, Band 1S8, Quelle
u. Meyer, Leipzig 1920) gibt der General¬
sekretär der Gesellschaft für soziale Reform
Dr. Ludwig Heyde. Die instruktive Arbeit
umgreift historisch und systematisch die ver¬
schiedenen Gebiete des Arbeiterschutzes. Syste¬
matisch enger, aber auf breitester statistischer
Grundlage behandelt Prof. Dr. Walter
Schiffs umfassendes Werk: Der Arbeiter¬
schutz der ganzen Welt (Archiv für Sozial¬
wissenschaft und Sozialpolitik, Ergänzungs-
,best XVI, I. C. B. Mohr, Tübingen) das
gleiche Problem. Die gründliche Arbeit dürfte
als Nachschlagewerk für den Sozialpolitikcr
künftighin unentbehrlich werden. Unter
Scheidung des internationalen und nationalen
Arbeiterschutzes werden alle Staaten der Welt
berücksichtigt, ein Anhang zieht das Material
bis Januar 1920 heran. Die Verhand¬
lungen des Vereins für Sozialpolitik
in Regensburg 1919 zu den Wirtschafts¬
beziehungen zwischen dem Deutschen Reich und
Deutsch-Österreich und zur Sozialisierungsfragc,
die auch einen Nachruf von Heinrich Herkner
aus Gustav Schmoller enthalten, erscheinen im
stenographischen Bericht (Verlag von Duncker
u. Humblot, München und Leipzig 1930).
An dein Kongresse haben eine Reihe führender
Sozialpolitiker teilgenommen, die dem Berichte
Beachtung sichern. Das Referat von Franz
Eulenburg über Arten und Stufen der
Sozialisierung erscheint (ebenda) als
Sonderdruck. Wiederaufbau und Sozial¬
versicherung (Verlag von Georg Stille,
Berlin 1920), von Dr. Paul Kaufmann,
dem Präsidenten des Reichsversicherungsamtes,
bringt von sachkundiger Seite Vorschläge zur
Änderung der Reichsversicherungsordnung.
Prof. Dr. Robert Liefmann behandelt in
einer kleinen Schrift Arbeitslöhne und
Unternehmergewinne nach dem Krieg
(Flugschriften zur Schaffung sozialen Rechtes,
Verlag I. Heß, Stuttgart 1919). Die
Untersuchung beschäftigt sich mit den Grenzen
des Arbeitslohnes und den Wirkungen
übermäßiger Lohnsteigerungcn auf die Volks¬
wirtschaft.
Fragen heraus der Politik neue Aufgaben zu¬
wachsen, die sie auch aus dem Parteipolitischen
Schematismus des leerlaufenden parla¬
mentarischen Systems erlösen können. Schlie߬
lich zielt eben doch alle innere Politik auf eine
Belebung schlummernder und erstarrter Volks¬
kräfte. Das ist "der gesunde Sinn von Sozial¬
politik, im Verständnis dafür berühren sich auch
die Rechte und dieLinke, die im Individualismus
der Mitte den gemeinsamen Gegner haben.
So zeigt es sich, daß aus den sozialen
Rücksendung von Manuskripten erfolgt nnr gegen beigefügtes Rückporto.
Nachdruck sämtlicher Aufsätze ist nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlages gestattet
WW
In IMIeillW MrllMe
Vorbereitung fut alle Klagen aer verscnieäenen Leunis^Steine
^M8ebulung). In8be8vn6er8 Vorbereitung auf ale LinjÄnriZen-,
prins- und KsiksprükunZ.Dr. Wcdselis»
sII0Il0IIOII0II0II0IIOI!0lI«OIIOIIMDemnächst erscheinen:
Das Probleme Japans
Politische Betrachtungen über Japan und seine Beziehungen zu anderen Völker»,
sowie über die Weltpolitik der Pacificliinder
Von einem eben. Gesandtschaftsrat im fernen Osten
Übersetzt von Prof. ^»1». 8»i»to»
Preis etwa 22 gebunden etwa'30^.
Der Macht- und Wirtschaftskanipf des japanischen und angelsächsischen Imperialismus
hat die Weltpolitik der letzten Jahrzehnte beherrscht und wird auch die Zukunft ge- g
statten. Wie der angelsächsische Kampf gegen Deutschland, so wird auch der gegen Japan
von innen her geführt. ES ist angelsächsische Methode, fremde Völker weltpolitisch zu Z
vernichten, indem man ihnen ihre geschulten Führer nimmt — sie demokratisiert!
Die Debttf^hen in Japcne Z^Von Professor Otto ««Zliuio«!«!
Preis gebunden etwa 25
In launiger, an persönlichem Erlebnis reicher Erzählung wird das Leben der Europäer in
Japan auf Grund der Betrachtungen, die der Verfasser in den Jahren 1687—1S92 gemacht
hat, geschildert. Der Lmuptteil des Buches wird eingerahmt von einem historischen Überblick
über die Deutschen im alten Japan und in der Übergangszeit und von einer Darstellung
deutscher Arbeit in Japan am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. —
Mit der Gründlichkeit des Forschers verbindet der Verfasser trotz
seines leichten Plaudertoncs den Weitblick des Diplomaten.
s^. M^orVhlsr, VsrlNZ, ^sipzizg
DlIO!IOII0IIOIIOII0IIOII0l!OIVI
Wah<, Albert. Vom Bismarck der 7»er Jahre. Geh. N'
I. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Verlag, Tübingen. ^'
WülMtM
v!lotosrllp!l!ze!le5 preiMMrelveil
Verlag und Schriftleituntj des „Deutschen Jägers" schreiben einen Photograpyischen Preis'
Wettbewerb für khnologische Bilder (Jagdhunde) aus.
preis SSS M., 2. preis ZSS M., Z. preis 2SS M.,
ferner 20 Trostpreise zu je so M.)
Preisrichter sind: Freiherr von Sesserer, München, Freiherr von perfall, Schluß Greifenberg
a. Ammersee, Apotheker Jungermann, München, und Verlag und Schriftleitung des „Deutsche"
?Sgers", München.
Genaue Bedingungen gegen Einsendung von 20 Pf. in Briefmarken durch den Verlag
des „Deutschen Jägers" München, Briennerstraße 9.
^--^
^«in.«A^
^»»»»«.//^^«MtrlMum!
Von Iloilo?irKoncIem üünilull bei
lZiclit, «neumstlsmu», Vieren-,
Llosen- oral Rsrnleillen, 8»>I-
brennen, VIabetes uso. Lrunnen-
scnrilten ciurck ni-^s ?«ein«8>-r
Xentralbursau, Lerlin V os,
^ilnelinstr. 5z.MZm»^
yPuHau«Go. Dädagogwm
Godesberg am Rhein und
Herchen an der Sieg.
-Progymnasium, Realgymnasium i> E.
und Oberrcalschule i. E,, bisher mit
Einiäl>r,-Berechtig,, jetzt i. Entwicklung
zur Vollanstalt,
»ötisi-s »ancIslsksc)IiI<lÄsss
ovo Schüler, 7S Lehrer und Erzieher
Internat in 22 Familienhäuscrn,
Der Dachstock des hier abgebildeten Schulhauses in Godesberg ist'am 3, Juli
^'VA Feuer zerstört worden, die NnterrichtSrnumc sind aber unversehrt
Mneben. Die Schülcrwohnungcn liegen auszerhalb diese« Gebäudes und
">»> nuveschiidigt. Der Unterricht beginnt deshalb nach deu etwas früher
>w Ferien Araber am 1, September, Anmeldungen neuer Schüler
»»5 r Eintritt am 14, September angenommen. Die Zweig-
""statt Herchen ist ungestört und beginnt den Unterricht am 14, September,
Weitere Auskunft erteilt der Direktor:
Prof. O. Kühne in Godesberg am Rhein.
V. »ör»ung--Ks Ansts»
cssseiWvIKeSmiLköKe
^rbereitunZ für alle LcKuI- un6 IVotexsming, desoriäsrs
niictiexaineii, — Prospekt 6urcK 6en virektoi- K. ?opt.^Ali
private Unterrichtsanstalten zu Bückeburg.
^---- Unter staatlicher Aufsicht. -
' A°rbercitungsanstalt sjtx das Einjiihrig-n-, Prima- und Abiturienten-Examen,
^ «onderlehrgiinge für die Vorbereitung von Kriegsteilnehmern auf die er«
S, --sichten- Kriegsretfepriifung, d) Vorbereitung auf alle Schulprüfungen
do,Mr- Handelsschule, s, Handelsschule (beide mit fachwissenschaftlichen und
!tite» Nebenkursen), 4, Familieninternat nach modernen Erziehungsgrund-
Pr°d,,. , - Best- und reichliche Verpflegung, - 7)» Nassau-°IP°le und Auskunft durch den Direktor der Anstalten ^r. ^cur/AUS.^ ^ ^1 ^^^^1 I^^I
Halle S.^NF'
>»ri>e,«it»», p-» «»«..
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Soeben ist erschienendas 1. bis 10. Tausend:
^ Ernst Schmidt
Die LviederetTtsVi^dedens Euvspas
^ br. M. 6.— und 20 U Sortimenterzuschlag
^ Der Verfasser ist als Wirklicher Legationsrat im Auswärtigen Amt Generalreferent für
Z Wirtschaftspolitik und daher Sachkenner der deutschen wirtschaftlichen Schwierigkeiten und der
^ Verhältnisse in den Ententeländern.
^ Kann sich Deutschland ans eigener Kraft wieder wirtschaftlich aufrichten?
^ Diese für unser ganzes kulturelles Leben entscheidende Frage wird in nüchtern objektiver Weise
Z pures statistische Unterlagen zugleich mit der wirtschaftlichen Lage der Ententeländer behandelt.
Z >-» ergibt sich ein deutliches Bild des Unterschieds der deutschen Kohlen-. Getreide« und Erz-
^ Aoduktion zwischen einst und jetzt, deren Folgen für unsere Zahlungsbilanz entscheidend sind.
Z ^eutschands Not wird weiter zunehmen, bis allen europäischen Völkern klar wird, daß Europa
^ um Gesamtorganismus ist, der das Schicksal aller seiner Glieder unlösbar miteinander verkettet.
^ Der Verfasser ist nicht Pessimist!
^ Das Wichtige an seiner Schrift ist, daß er die großen Grundlinien aufzeigt, um praktisch
eine Internationalisierung der Wirtschaft aufzurichten.
^ —--,—
(Augen MiederirhSl Ve-rlrtg in S^Vn«
^IMM........„lttIINNUttlttUIttttNttUI«IIIUIUUUUUUIN>NII>IIINIUINI>I>I>IIII>I>IIIII>INIIIIIINIIN>IIIIIIIN>IIIIIIIIIINIII>II>I>>IIII>IIIIII>»
NI!V!V!MZ!ZVVWAjlUSIWKNSZD-WgM
Soeven erschien:
Generalfeldmarschall Prinz Leopold von Bayern
Ein Lebensbild von Professor Dr. Wolde
Mit einem Bildnis des Prinzen, geheftet M. 18—, gebunden M. S6,—.
Fürstenausgabe auf erlesenen Papier in Liebhaberband in. eigenhändig. Unterschr. 25>v,— bis 300,— Mk>
Auf diese Preise darf kein Sortimentsanfschlag erhoben werden
Eine Würdigung dieses echt deutschen Fürsten und begeisterten Soldaten, mit dessen Nan>c
die Eroberung Warschaus und der Oberbefehl über die Ostfront verknüpft bleiben wird.
General Hoffmann, der ehemalige Chef des Generalstabes Oberost, veröffentlicht in diesem
Buche erstmalig ein klares Bild von dem Geist der Verhandlungen in Brest-Litowsk, das ebenfalls
für die Nachwelt festgehalten zu werden verdient.
Hindenburg nahm die Widmung des Buches an!
R. L. Roehler, Verlag, Leipzig
-vonLd.GtAdttsr
Einzelnummer 60 Pf., Vierteljahr!, (b. d. Post) M. 6.—, Jahresbezug (b. Verlag) M. SO.—
Verlag: Berlin V 9, Schellingstraße 13, Fernspr.: Lützow 5196.
Das „Gewissen", dessen Leserkreis im „Ring" zusammengeschlossen ist, erscheint
wöchentlich und gibt dem politischen Einheitswillen der Jungen entschiedenen Aus¬
druck. Es wendet sich gegen Korruption, Parteihader und Klassenkampf und versieht
eine aktivistische Politik des nationalen Aufbaus auf korporativer Grundlage.
Regierung. Von Hütten.Ans dem Inhalt der Ur. 33:
Zwei Jahre Amel-Bolschewist. Von ol-, Eduard Stabeler, —
Abbeförderung der Wicdergntmachmigskohle. Von Vr, Karl Jakobshagen. — Zur ErniihrlMS^
läge. Von Fritz Ehrenforth. — Bon der Liebe zur» Vaterland. Von Heinrich von Kiep''
Gin 4»r«»ktifetzeS ^«»ttbbtteH der bentsetze«» Polizei
Grotzstadtxolizei
Etwa H60 Seiten mit ZZo Abbildungen von
vjr. sur. Gustav Röscher, Polizeipräsident von Hamburg M)0—59;5
Preis broschiert M. in Leinen gebunden M. 22.so in tadelloser Friedensansstattung
Zu beziehen durch jede Buchhandlung
Otto Meitzners Verlag Hamburg, ^ermannstr. 44
ir Deutsche hatten als das Volk der Studentenmensuren eine
ritterliche Auffassung vom Krieg. Das alte Rittertum hatten
wir deshalb noch nicht überwunden, weil die Kriege und Siege
der preußischen Armee diese Kriegsweise scheinbar zum endgültigen
Erfolg geführt hatten. Der Zivilist und sein Eigentum werden
nicht berührt, Gefangene werden geschont und gut genährt, der besiegte Feind
darf wieder zu Kräften kommen. So hatte sich der große Friedrich behauptet,
der Befreiungskrieg nach französischer Unbill unser deutsches Leben wieder¬
hergestellt, die Zweikämpfe Moltkes mit Benedek und Bazaine die deutsche Groß-
und Weltmacht sichergestellt. Wenn wir rüsteten, um den uns umlagernden
Großmächten die Stange halten zu können, so dachten wir an eine strategische
Defensive, an welcher der russische Anprall zerschellte, an eine rasche Offensive
gegen die französische Armee, an eine Seeschlacht mit England und an einen
Frieden, der ein wirklicher Frieden war und das deutsche, englische, französische,
russische Volk leben und wieder gedeihen ließe. Blieben wir leben, und wie sollten
wir nach braven Durchhalten eines Krieges nicht kraft Friedensschluß am Leben
bleiben?, dann würden wir schon selbst für unser Gedeihen sorgen, so wie wir
niemals ein anderes Volk daran gehindert haben, nach eigner Kraft, ja auch mit
allbereiter Unterstützung durch deutsche Arbeit zu gedeihen.
Dies uns geläufige Bild von Krieg und Frieden haben wir heute mit dem
Glauben ans Christkind ins Gebiet kindlichen Wähnens verbannen müssen. Die
Feinde haben uns einen Krieg gelehrt, der nicht nach Regeln fragt, sondern alles
anwendet, was dem Ziel dient, die befeindete Rasse zu schwächen, auszurotten
und ihre Gedeihensmöglichkeit zu vertilgen, einen alttestamentlichen, antiken Krieg,
der über christliches Rittertum die Achseln zuckt. Vielleicht hatte der Russe, trotz
Mordbrennern und etwas brutalen Muschiks, noch die ähnlichste Vorstellung von
Krieg und Frieden wie wir. Der Engländer versteckte seine Grand Fleck vor
Scheer und impfte dagegen den deutschen Kindern die Tuberkulose und englische
Krankheit ein, vertrieb alle deutschen Arbeiter und Siedler in fremden Erdteilen
von Haus und Hof, ließ sie in Jnternierungslagern verrotten, macht deutsche
Seemannschaft und Industrie, soweit er kann, brotlos und verewigt in Gemein¬
schaft mit den Franzosen durch den Kohlenraub von Spaa nach Möglichkeit das
Elend, um die deutsche Bevölkerung (mit Ausnahme der Kohlenhörigen) zu zwingen,
daß sie auch künftig sich mit schlechtem Kriegsbrot von Kräften hungre. Was
der Franzose aber außerdem noch versucht an Verwelschung von Deutschen, Zer¬
reißung der deutschen Länderteile, Verführung und Vergewaltigung, Umfälschung
der geschichtlichen Entwicklung, Herabwürdigung unseres Namens, das wird man
wohl nachgerade in Berlin ebenso spüren wie bei uns in der Pfalz. Der Franzose
spricht es auch offen aus, daß der Frieden nichts ist als die Fortsetzung des Kriegs.
Im Krieg war er schwächer als wir, wurde gerettet durch andere, und durch
fremde Arme in den Sieg hineingesetzt. Jetzt soll der Frieden nachholen, was
der Krieg nicht vermochte: die deutsche Rasse zu verkleinern durch Tod von
Millionen, Fortpslanzungsüberdruß der übrigbleibenden Millionen, durch Zer¬
störung des Staatsgefüges und der Wehrbarkeit, durch Entmannung des National¬
sinnes und Entkräftung der Jugend. Das ist der Krieg, der weitergeht, denn
nur der ritterliche Krieg der Waffen, in dem der Deutsche der stärkste war, ging
im November 1918 zu Ende, und im selben Monat begann der alttestamentliche
Krieg der Vernichtung mit neuer Kraft und jubilierender Freude, weil Deutschland
ihm jetzt widerstandslos ausgeliefert war.
Widerstandslos? So scheint es. Aber die Feinde lehren uns, daß Krieg
auch mit anderen Waffen geführt wird als mit Stahl, Pulver und Todesmut.
Stahl und Pulver sind'uns genommen, die französische Armee, bis zu unsrem
Fall die zweite in der Welt, ist heute die erste und vermag vorläufig sogar
Polen gegen Rußland aufrechtzuerhalten, den Türken und Arabern wie den
Deutschen zu gebieten. Da ist für uns keine Hoffnung^ im Materialkrieg gibt es
kein Wunder. Aber der Krieg wird ja auch mit Gesinnung, mit Haß und mit
Willen geführt. Haben nicht die Ägypter eben über die Engländer einen ersten
Sieg errungen, dem weitere folgen werden? Sind die Inder, die Iren nicht auf
dem Marsch? Man zwingt uns, auf neue Mittel des Krieges zu sinnen, und ein
Sieger von der Grausamkeit der Briten und Franzosen gibt sich Blößen genug.
Wir brauchen nur den Opfermut des Krieges, zehntausendmal mehr Opfermut
als im Materialkrieg, und dann werden sich die neuen Wege finden. Die Ver¬
zweiflung, in welche der Vernichtungskrieg und der Bernichtungsfrieden uns jedes
Jahr tiefer stoßen, die Armut, Entehrung, Entbehrung, das Nichts, das wir sind
und sein sollen, gibt uns selber die Waffen, erzieht uns Friedliebendste zum Kampf
ums Dasein.
Seit kurzem fährt allwöchentlich von Saarbrücken, der künftig französischen
Stadt, über Mainz, das Hauptquartier Degouttes, ein Ententezug über das
englische Danzig zum französischen Memel. Er trägt nur Ententevolk und
Mittel zu unserer Knechtung. Aber als blinde Passagiere sausen vom deutschen
Saarbrücken und Mainz zum deutschen Danzig und Memel, von Grenze zu
Grenze die Boten quer durch das ganze deutsche Land und erzählen in Memel wie in
Saarbrücken: deutsch seid ihr, deutsch werdet ihr bleiben, deutsch werdet ihr
wieder sein. Die Zukunft ist dunkel und Furchtbares birgt ihr Schoß. Aber
Leben und Lebensgüter macht der Feind uns billig, teurer wird uns von Jahr
zu Jahr das Vaterland und seine Noi> seine Ehre, feine Wiedergeburt. Das
Feige stirbt weg an sich selbst. Es wird nicht mehr Hemmung sein, wenn der
waffenlose Krieg beginnt.
sooft Franzosen in Europa dominieren, wird des Durcheinanders kein
Ende, und am Engländer sterben die Völker, die sich ihm geistig unterwerfen. Ruinen
und Leichen! Aber wir schreiten durch diese zerstörte Welt weiter und aufwärts,
weil Deutschland, das noch nie Fremdherrschaft länger als ein paar Jahre ertrug,
auch diesmal im Begriff ist, vom erbarmungslosen Feind zu lernen, und duldend
ter wie ich in einem heftigen, durch persönliche Angriffe gewürzten
Wahlkampfe von seinen Gegnern als „Reisender für den Völker¬
bund" bezeichnet worden ist, braucht vielleicht nicht mehr zu erklären,
daß er es für verfrüht halten würde, wenn wir schon heute eine
Entscheidung über die Orientierung der deutschen auswärtigen
Politik treffen wollten. Zunächst müssen wir uns auf den Völkerbund einstellen
und abwarten, ob einer unserer bisherigen Feinde uns die Hand zu einer poli¬
tischen Annäherung bietet. Die Leiden der Welt sind so groß, daß sie nur auf
internationalem Wege und durch internationale Mittel geheilt werden können.
Einzelne Staaten erscheinen machtlos der heutigen Weltkatastrophe gegenüber. Es
ist die höchste Zeit, daß ein führender Staatsmann alle Nationen zum gemein¬
samen wirtschaftlichen Aufbau aufruft und dadurch einem wahren, reformierten
Völkerbunde das Leben gibt. Die Orientierung unserer Politik in der Richtung
auf den notwendig zu erstrebenden wahren Völkerbund schließt indessen nicht aus,
daß mir theoretisch die Möglichkeit und den Wert der verschiedenen anderen
Orientierungen erörtern.
Mit besonderem Nachdruck wird seitens der Bohnischen Zeitung eine bestimmte
Orientierung unserer auswärtigen Politik verlangt, und zwar nach Frankreich hin.
Dabei wird behauptet, daß eine Verständigung mit Frankreich schon in Versailles
und dann wiederholt bei späteren Gelegenheiten möglich gewesen sei. Eine solche
'Verständigung wäre gewiß außerordentlich erwünscht, doch sollte sie meines Tr¬
achtens nicht so propagiert werden, daß sie eine Spitze gegen England enthält.
Unsere Lage ist eine solche, daß wir uns unmöglich eine Politik erlauben können,
die eine Gegnerschaft gegen irgendeine der Großmächte involviert. Dadurch würden
wir nur wieder den altbekannten Vorwurf auf uns laden, daß wir die Mächte
untereinander verhetzen wollten, und würden wir ferner das Gegenteil des
gewünschten Resultates erreichen, indem wir die gegen uns gerichtete Allianz
befestigten. Was insbesondere die Versailler Vorgänge anlangt, so bin ich darüber
nur durch mündliche Mitteilungen unterrichtet, die mir der dortige Vertreter der
Vossischen Zeitung damals machte. Die Berichte der deutschen Friedensdelegation
ließen nicht darauf schließen, daß eine Gelegenheit zur Verständigung versäumt
worden sei. Im übrigen ist über die Versailler Verhandlungen bisher nur wenig
Authentisches bekannt geworden. Die einzige Ausnahme bildet das geniale Buch
von Keynes über die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages. Darin sagt
der Cambridger Professor im Gegensatz zur Auffassung zur Vossischen Zeitung:
„Ich bezweifle, ob irgend etwas, was die deutsche Delegation auf dieser Stufe
der Verhandlungen hätte vorbringen können, das Ergebnis wesentlich beeinflußt
hätte." Ich selbst befand mich damals nicht in einer politischen Stellung, sondern
hatte mich lediglich als Beamter zur Verfügung gestellt, um in Berlin die diplo¬
matisch-technische- Vorbereitung der Friedensverhandlungen zu leiten. Während
der Verhandlungen spielte ich gewissermaßen die Vermittlungsinstanz zwischen der
Delegation und dem ausschlaggebenden Reichskabinett. Dabei ist niemals die
Möglichkeit einer Verständigung mit Frankreich zur Sprache gekommen. Als die
Delegation nach Weimar zurückkehrte, endigte meine Tätigkeit, was mir sehr lieb
war, da ich, angesichts der inneren Lage Deutschlands, mich den letzten Schlu߬
folgerungen der Delegation nicht anschließen konnte. Meines Erachtens wäre eine
Ablehnung des Friedensvertrages nur möglich gewesen, wenn das deutsche Volk
von der Etsch bis an den Belt den einmütiger Willen gezeigt hätte, sich nötigen¬
falls dem Untergange zu weihen, wie einst König Teja und seine Volksgenossen
am Vesuv. Da aber eine solche heroische Gesinnung nicht mehr vorhanden und
damals auch nicht zu entzünden war, blieb nichts anderes übrig, als der Gewalt
zu weichen und den Vertrag zu unterschreiben, obgleich wir wußten, daß wir die
Bedingungen desselben niemals würden erfüllen können. Ich habe damals das
mir angebotene Portefeuille des Äußeren nicht deswegen abgelehnt, weil ich den
Friedensvertrag nicht unterschreiben wollte, sondern weil ich es nicht mit meiner
Auffassung von Parteidisziplin vereinigen konnte, ein Amt anzunehmen, nachdem
die demokratische Partei mit großer Mehrheit beschlossen hatte, aus der Regierung
auszutreten.
Wenn ich also auch nicht genau weiß, wie sich die von der Vossischen Zeitung
erwähnten Vorgänge in Versailles abgespielt haben, so möchte ich doch nach
meinen sonstigen Beobachtungen annehmen, daß es sich wie in anderen mir
bekannten Fällen um das Vorgehen einzelner französischer Herren handelte, die
es zwar sehr gut meinten, aber bei ihrer eigenen Regierung weder Einfluß noch
Rückhalt hatten. Wie dem auch sei, die Franzosen sind die Sieger und müssen
den ersten Schritt tun, der an sich durchaus wünschenswert wäre und ein großes
Glück für die ganze Welt bedeuten würde. Man stelle sich nur vor, wieviel die
Kultur und die Weltwirtschaft gewinnen würden, wenn der deutsch-französische
Gegensatz sich in eine gemeinsame Arbeit für die idealen und materiellen Güter
der Menschheit verwandeln sollte. Man denke sich eine nähere Verknüpfung des
rheinisch-westfälischen Industriegebietes mit dem nordfranzösisch-lothringischen Erz¬
uno Kohlengebiete, dem sich das belgische und luxemburgische Industriegebiet ganz
von selbst anschließen würde. Der Wiederaufbau Europas erhielte durch eine
solche Arbeitsgemeinschaft einen Anstoß von so großer Triebkraft, daß alle
anderen Hindernisse sich leicht überwinden ließen. Wenn die Franzosen ruhiger
Überlegung fähig wären, müßten sie einsehen, daß der einzige Weg aus den
Leiden der Gegenwart der ist, diese Leiden gemeinsam zu tragen. Leider scheint
aber Kehnes mit seiner Darstellung der französischen Politik recht zu behalten-
Er erklärt die Haltung Frankreichs durch die veraltete imperialistische Politik
Clemenceaus und durch die Furcht vor der Rache Deutschlands. Nachdem der
falsche Weg eines ungerechten Karthagofriedens einmal ergriffen worden sei, treibe
das schlechte Gewissen die Franzosen immer weiter auf der falschen Bahn. Sie
glaubten sich ausschließlich durch die Schwächung und Zerstückelung Deutschlands
vor dessen dereinstiger Rache schützen zu können.
Solange sich die Haltung Frankreichs uns gegenüber nicht völlig ändert,
solange der zur Zeit Stärkere noch soviel Furcht vor dem besiegten Nachbarn
zeigt, daß er den für ihn so einfachen ersten Schritt zur Verständigung nicht
wagt, muß eine französische Orientierung unserer Politik als eine Illusion
betrachtet werden. Wenn aber die Auffassung von Keynes sich als falsch erweisen
und in Frankreich eine Stimmung entstehen sollte, die uns eine annehmbare
wirtschaftliche Existenz auf nationaler Basis gönnte, so würde die deutsche
demokratische Republik nur zu froh sein, die Annäherung an Frankreich anzunehmen
zu suchen. Wir müßten jedoch unbedingt als Voraussetzung für eine solche An¬
näherung die Forderung aufstellen, daß Frankreich auch für uns das Recht der
Selbstbestimmung der Völker und ferner die historische Tatsache anerkennt, daß
das deutsche Volk, soweit die deutsche Zunge klingt, eine nationale Einheit ist,
die nur zeitweilig im Laufe der Geschichte durch dynastische Politik gelockert
Kurde. Vorläufig ist leider allerdings eher zu befürchten, daß die Stimmung
der Franzosen uns gegenüber sich noch mehr verschlechtern wird, wenn sie erst
werken, daß sie selbst durch Steuern ihre Kriegskosten aufbringen müssen, weil
wir infolge des Karthagofriedens zahlungsunfähig geworden sind.
Vor dem Weltkriege habe ich mich immer zur englischen Orientierung
bekannt. Mein Hauptmotiv für diese Anschauung lag in der Überzeugung, daß
die lebendigen Kräfte der Weltgeschichte in dem demokratischen Westen zu finden
seien. Der Ausgang des Krieges hat diese Auffassung bestätigt.
Ich hatte schon als Legationssekretär in Se. Petersburg die Überzeugung
gewonnen, daß das zaristische Rußland morsch sei, und entsinne mich lebhafter
Kontroversen über dieses Thema mit Landsleuten, die zur Krönung nach Moskau
gekommen und durch den asiatischen Prunk und Glanz geblendet waren. Wenn
Bismarck wirklich, wie seine gedankenlosen Nachbeter behaupten, eine einseitige
russische Orientierung gewünscht hätte, so würde er auf dem Berliner Kongresse
eine andere Haltung eingenommen, den bekannten Brief Lord Salisburh vom
Jahre 1887 nicht geschrieben, und weder das Bündnis mit Östereich-Ungarn
noch den Dreibund abgeschlossen haben. Tatsächlich hat uns Bismarck eine aus¬
wärtige Politik hinterlassen, die uns zwangsläufig auf die englische Orientierung
hinwies. Das hat Caprivi richtig erkannt und auf Grund dieser Einsicht
unsere Kolonial- und Flottenpolitik den guten Beziehungen mit England
untergeordnet. Gegen England konnten wir nun einmal, wie die Dinge lagen,
keine Weltpolitik treiben, und ohne Weltpolitik konnte das schnell wachsende
deutsche Volk nicht leben. Später wurde die nachbismarckische deutsche aus¬
wärtige Politik von dem leider falschen Axiom Holsteins beherrscht, daß der
Gegensatz zwischen England und Rußland unüberbrückbar sei, und der Dreibund
das Zünglein an der Wage zwischen diesen beiden feindlichen Mächten bilden
müsse. Allerdings wäre, rein theoretisch betrachtet, auch eine Weltpolitik gegen
England möglich gewesen, wenn wir einen europäischen Kontinentalbund hätten
bilden können. Ein solcher war aber unerreichbar, wegen der unversöhnlichen
Feindschaft Frankreichs gegen uns.
Trotzdem heute die Machtverhältnisse gänzlich verändert sind, dreht sich der
Streit der Meinungen auch jetzt um die gleichen Probleme. Das deutsche Volk
muß zu völliger politischer Bedeutungslosigkeit herabsinken, wenn es uns nicht
bald gelingt, in hinreichendem Maße Lebensmittel, Rohstoffe und Fabrikate
ein- und auszuführen. Wie wir dieses Problem ohne das Wohlwollen Englands
lösen sollen, ist mir unerfindlich. Es bleibt uns also nichts anderes übrig, als
unter weit ungünstigeren Umständen diejenige Politik zu führen, welche zu Caprivis
Zeiten mit viel mehr Aussicht auf Erfolg eingeleitet, aber leider mit dem Krüger¬
telegramm fallen gelassen wurde. Selbstverständlich sollen wir uns den Engländern
nicht aufdrängen. Das würde durchaus der zurückhaltender und würdevollen
Politik widersprechen, die ich für unbedingt erforderlich halte. Als Besiegte müssen
wir unsere Würde besonders peinlich wahren. Wir sollten aber den Engländern
gegenüber keine Empfindlichkeit zeigen. Von jeher neigte unsere öffentliche Meinung
zu dem politischen Fehler nachtragenden Grolls, ebenso wie der einzelne Deutsche
an einer übergroßen persönlichen Empfindlichkeit leidet. Solche Gefühle sind,
wie unser großer Bismarck so oft bstont hat, in der Politik nicht am Platze, weil
man niemals von einem fremden Staate etwas anderes erwarten darf, als daß
er nationale Politik treibt. Insbesondere hat England seit Hunderten von Jahren
konsequent die gleiche Politik betrieben. Jeder erfahrene Politiker wußte das/
und wenn wir trotzdem in unser Verhängnis gerannt sind, so haben wir dies
überwiegend eigenen Fehlern zu verdanken. Solche geschichtlichen Wahrheiten
müssen heute ohne Scheu ausgesprochen werden, auch wenn sie bitter schmecken,
weil es keinen anderen Weg gibt, um die gleichen Fehler in der Zukunft zu ver¬
meiden. Jetzt ist nach dem ganzen Verlaufe der englischen Geschichte zu erwarten,
daß die Briten dem besiegten und nicht mehr gefährlichen Gegner die Freundes¬
hand reichen werden, um ihn wieder aufzurichten und seine Dienste auf irgend¬
einem Gebiete im Interesse der englischen Politik zu verwenden. Wenn dieser
Fall eintreten sollte — aber nicht früher —, wird der Moment für uns gekommen
sein, uns für die englische Orientierung zu entscheiden und aus ihr möglichst
große Vorteile für den Wiederaufbau zu erzielen, ohne uns durch Anglopholne
behindern zu lassen.
Es könnte eingewendet werden, die Engländer hätten ebensowenig wie die
Franzosen Verständnis für die Tatsache, daß infolge der großen weltwirtschaft¬
lichen Zusammenhänge der Wiederaufbau der Welt ohne die Gesundung Deutsch¬
lands unmöglich ist, während andererseits der Ruin Deutschlands den wirt¬
schaftlichen Zusammenbruch ganz Europas nach sich ziehen muß. Gewiß wird
es noch längerer Zeit bedürfen, bis sich das englische Volk in seiner Mehrheit zu
dieser Überzeugung durchdringt. Die Nachwirkung der ungeheuren Kriegshetze,
die nur Abscheu vor dem deutschen Volke wecken wollte, ist noch zu stark Immer¬
hin ist es bemerkenswert, daß gerade ein Engländer ein solches Buch geschrieben
hat, wie das von Keynes. Große Organe der öffentlichen Meinung, wie der
„Manchester Guardian", die „Westminster Gazette" und die „Daily News" ver¬
treten den gleichen Standpunkt. Asquith hat sogar in einer Wahlrede, was be¬
sonders hervorzuheben ist, die Revision des Versailler Friedens verlangt, während
die Herren auf ,der Regierungsbank noch durch ihre Wahlversprechen nach der
anderen Richtung stark gehemmt sind. Wer das besetzte Rheinland kennt, weiß, wie viel
mehr Rücksicht die Engländer dort an den Tag legen wie die Franzosen. Es ist
also zum mindesten eine berechtigte Hoffnung vorhanden, daß die Briten bald im
eigenen Interesse zur Erkenntnis der Solidarität der europäischen Wirtschafts¬
gebiete gelangen werden, wenn sie auch vielleicht die von Keynes verlangte Gro߬
herzigkeit noch nicht an den Tag legen wollen. Möglicherweise wird ein Wandel
in der englischen Politik erst >dann eintreten, wenn Neuwahlen Männer an die
Regierung gebracht haben, die für den Versailler Frieden nicht verantwortlich sind.
Der Begriff der „Westlichen Orientierung" umfaßt auch die Vereinigten
Staaten von Amerika, obgleich mit ihnen ein politischer Anschluß niemals in Betracht
gekommen ist und auch jetzt nicht im Bereiche der Möglichkeit liegt. Die Amerikaner
haben nun einmal kein Interesse an der europäischen Politik und sind nur durch
eine für uns außerordentlich unglückliche Verkettung von Umständen bewogen worden,
in den Krieg einzutreten. Sehr szu unserem Nachteile zeigte sich diese Teilnahms-
losigkeit der Vereinigten Staaten auf der Versailler Konferenz. Das Interesse
der Amerikaner für Europa erstreckt sich nur auf wirtschaftliche Dinge und humanitäre
Ideen. Vollends ist man jetzt in den Vereinigten Staaten der europäischen Politik
durchaus müde. Wir sollten aber nicht aus den politischen Vorgängen in Amerika
den falschen Schluß ziehen, als ob dort die Totenglocken des Völkerbundes läuteten.
In den Vereinigten Staaten denkt man jetzt ausschließlich an die Präsidenten¬
wahl. Erst wenn diese vorüber ist, werden wir klar erkennen können, welchen
Kurs die amerikanische äußere Politik steuern wird. Mit Sicherheit werden
wir aber mit der alten Teilnahmslosigkeit gegenüber europäischen Dingen
rechnen können, was auch begreiflich erscheint nach den Enttäuschungen, die der
Krieg den Amerikanern gebracht hat. Sie glaubten als Kreuzfahrer auszuziehen,
um eine bessere Welt zu gründen, und lassen jetzt hinter sich ein völlig zerrüttetes
Europa zurück. Immerhin glaube ich, daß die Vereinigten Staaten mit gewissen
Einschränkungen einem wahren Völkerbund gegenüber schließlich eine freundliche
Haltung einnehmen werden, weil die öffentliche Meinung in Amerika den Idealen
der Bölkerbundsidee immer Sympathie entgegengebracht hat. Die Tatsache aber,
daß Wilson glauben konnte, die amerikanische öffentliche Meinung werde den
Versailler Frieden, den falschen Versailler Völkerbund und das Defensivbündnis
mit Frankreich billigen, bliebe ein vollkommenes psychologisches Rätsel, wenn nicht
ohnehin klar wäre, wie sehr er in Versailles dem Einflüsse der französischen
Umwelt unterlegen ist. Jedenfalls können wir bei der Frage unserer politischen
Orientierung Amerika ganz ausschalten. Doch sollten wir um so mehr danach
trachten, unsere wirtschaftlichen Beziehungen mit den Vereinigten Staaten so eng
wie möglich zu gestalten. Wenn wir aber in dieser Richtung Erfolge erzielen
wollen, wird sich unsere öffentliche Meinung mehr als bisher auf die amerikanische
Ideenwelt einstellen müssen.
Obgleich ich der einzige lebende Deutsche war, der Wilson persönlich gut
kannte, hat man mich nicht gefragt, bevor man sich im Herbst 1918 an ihn wandte.
Wenn man mich gefragt hätte, würde ich abgeraten haben, den Präsidenten an¬
zurufen, da ich nach Kenntnis seines Wesens überzeugt war, daß er uns niemals die
Ablehnung seines Vermittlungsangebots im Jahre 1916 verziehen hat. Wilson war,
wie sich Keynes milde ausdrückt, „für den Vorwurf der Deutschfreundlichkeit bis
zur Torheit empfänglich". Als mich Prinz Max von Baden im Oktober 1918 aus
Konstantinopel nach Berlin berief, um ihm bei den weiteren Verhandlungen behilflich
zu sein, war nichts anderes mehr zu tun, als der Versuch zu machen, Wilson bei der
Stange zu halten. Er erwies sich aber zu schwach und verlor dadurch den Ehren¬
platz in der Weltgeschichte, den er seit Jahren erstrebte. Infolge der Enttäuschung
über seinen Mißerfolg ist der Präsident dann körperlich und geistig niedergebrochen,
wenn man nicht zu seiner Entschuldigung annehmen will, daß er schon in Versailles
ein kranker Mann war. Widersinnig ist es aber anzunehmen, daß Wilson von
vornherein die Absicht hatte, in Versailles einen Karthagofrieden abzuschließen,
denn kein Staatsmann wird sich freiwillig um Ehre und Reputation bringen.
Ebenso widersinnig ist es zu behaupten, daß ich noch heute auf Wilson schwöre.
Seit dem 31. Januar 1917 habe ich nie mehr etwas von ihm erhofft. Ich wußte
genau, daß er unser damaliges Verhalten als einen Schlag ins Gesicht betrachtet
hatte. Allerdings hat die Anrufung Wilsons uns wohl nichts geschadet, denn
ohne dieselbe hätten wir auch keinen besseren Frieden erhalten. In moralischer
Beziehung stärkte sie eher unsere Stellung im Hinblick auf die Zukunft, denn
wie sogar der Engländer Kehnes schreibt: „Es gibt wenige geschichtliche Vorgänge,
welche die Nachwelt weniger Grund haben wird zu verzeihen. Ein Krieg, der
anscheinend angeblich zum Schutze der Heiligkeit der Verträge geführt, mit einem
offenen Bruch eines der denkbar heiligsten solcher Verträge durch die siegreichen
Vorkämpfer dieses Ideals endete."
Es geht auch nicht an, wie das bei uns oft geschieht, die Völkerbundsidee
dadurch diskreditieren zu wollen, daß man sie mit dem unpopulären Namen
Wilsons verquickt, oder sie lächerlich macht, indem man es so darstellt, als
glaubten die Anhänger dieser Idee, schon am nächsten Donnerstag den ewigen
Frieden stabilisieren zu können. Die Völkerbundsidee lebte schon lange vor
Wilson, und der ewige Friede ist ein Ideal, das wie alle anderen sittlichen und
religiösen Ideale auf Erden niemals realisiert werden dürfte. Trotzdem bleibt
das Streben nach dem Ideal doch immer der beste Inhalt des Menschen- und
Völkerlebens, und wir wollen vorläufig zufrieden sein, wenn ein verbesserter
Völkerbund aller Nationen eine Weltwirtschaft aufrichtet, das Selbstbestimmungs¬
recht der Völker als Gesetz statuiert und dadurch, sowie durch Einführung von
Schiedsgerichten und durch allgemeine Abrüstung die Zahl der Kriege auf ein
Minimum reduziert.
Wir wollen zu den Idealen der Zeit unseres klassischen Idealismus zurück¬
kehren, wo aus der schönsten Blüte unseres Geisteslebens das deutsche National¬
gefühl entstand, mit nationaler Würde aber gleichzeitig die Erkenntnis des
Weltbürgertums verbunden war.
Luzern, den 16. Mai 1917.
Persönlich bin ich auf Grund eines Meinungsaustausches, den ich letzter
Tage mit einem der amerikanischen Gesandtschaft Bern nahestehenden Diplo¬
maten hatte, der Anschauung, daß die Entente im Vertrauen auf die Unter¬
stützung Amerikas vorerst den Kampf fortsetzen wird. Man geht in Paris und
London von der Voraussetzung aus, daß Deutschland und Österreich-Ungarn
auch nach Abschluß eines Waffenstillstandes, ja selbst eines Separatfriedens mit
Rußland rieseln der Lage sein werden, ihre Ostfront zu degarnieren, da die
Verhältnisse in Rußland zu unsicher seien, um einen im Juni mit der Regierung ^
geschlossenen Waffenstillstand oder Frieden auch von Seite der vielleicht schon
im Juli erstehenden Regierung L Anerkennung zu gewährleisten.
Luzern, den 18. Mai 1917.
Ich habe anläßlich der Anwesenheit des Abgeordneten Müller Gelegenheit
gehabt, verschiedene der äußeren und äußersten Linken der internationalen
Sozialdemokratie nahestehende politische Persönlichkeiten kennen zu lernen-
Die Enttäuschung darüber, daß Deutschland sich nicht wenigstens Rußland
gegenüber auf den Boden der Scheidemannschen Formel gestellt hat, war
unverkennbar. Doch ist der Stand der Dinge in Rußland zur Zeit ein zu chaotischer,
als daß selbst in diesen mit russischen Verhältnissen wohlvertrauten Kreisen ein
einigermaßen sicheres Urteil darüber bestünde, wie sich Rußland eigentlich ver¬
halten werde. Was mit Sicherheit festzustellen war, ist, daß man jeden Tag mit
einer Überraschung nach der einen oder der anderen Seite rechnen kann.
Ich darf in diesem Zusammenhange bemerken, daß die ruhige und ab¬
gewogene Art, in der Herr Müller mit politischen Persönlichkeiten der Schweiz
verhandelt, auch diesmal wieder manche schwebende Angelegenheit in einem
Deutschland günstigen Sinne gefördert und manches Mißverständnis aufgeklärt
^t, das über unsere politischen Absichten im neutralen Ausland zu bestehen
scheint. Es wird wohl wenig deutsche Politiker geben, die ohne Lärm und Auf¬
sehen mit derartigem Erfolg in der Stille für die deutschen Interessen wirken,
wie dieser Mann.
Zürich, den 20. Mai 1917.
Ein hier welkender süddeutscher Politiker, der zum Berner Bundeshaus
gute Beziehungen unterhält, und in den letzten Tagen in Bern eine Reihe von
maßgebenden Persönlichkeiten gesehen hat, hat, wie ich Euer Exzellenz mit
der Bitte um strengvertrauliche Behandlung melden darf, mir gegenüber seine
Eindrücke in nachstehenden Darlegungen zusammengefaßt:
Die Kampfesstimmung in Frankreich ist ungebrochen. Hieran haben
weder die ungeheuerlichen Verluste der letzten Wochen, noch die zunehmenden
Schwierigkeiten der Verwundetenpflege etwas zu ändern vermocht. Eine von
der Schweiz und Spanien in behutsamer Form betätigte Fühlungnahme sei
glatt abgelehnt worden. Die politische Leitung liege derzeit in den Händen
Painlevss, der sich mit Petain gut versteht; Ribot beugt sich vor der Energie
beider. Sehr erheblich habe zur Hochhaltung der Kriegsstimmung in Frankreich
die Energie beigetragen, mit der Amerika ins Zeug gehe. Amerika komme
zunächst mit technischen Mitteln, Flugzeugen u. dergl. zu Hiffe; eine große
Zahl von Ingenieuren, Monteuren, Fliegern und Flugzeugen sei bereits unter¬
wegs. Die in Frankreich aus diesem Zuwachs neu zu formierenden Flug¬
geschwader würden ausschließlich zu „Verheerungszügen" durch Deutschland
verwendet werden. Man sei in Paris und London gleichmäßig überzeugt, daß
Amerika „aufs Ganze gehe"; die Stimmung in Amerika sei sehr hoch.
Die militärischen Reserven Frankreichs würden aller Voraussicht nach im
August zu Ende gehen; doch rechne man damit, daß bis dahin auch die deutschen
sich ihrem Ende näherten. Außerdem wird baldiges Erscheinen amerikanischer
Kontingente erwartet.
Die Ernteaussichten in Frankreich seien günstig, ernsthafte Versorgungs¬
schwierigkeiten bestünden nicht, lediglich die Brotfrage mache Sorgen, um so
mehr, als Lloyd George bei seiner letzten Anwesenheit in Paris in brüsker
Weise von Frankreich für die Zeit nach der Ernte Getreide gefordert habe.
Ein radike-sozialistischer französischer Politiker äußerte sich dahin, Frank¬
reich werde bis zum letzten Mann kämpfen, .es sei denn, Deutschland gebe
eine bündige antiannexionistische Erklärung ab, die zugleich hinsichtlich Elsaß''
Lothringens einen „bsau Zeste" darstelle. Niemand in Frankreich denke ernstlich
an eine Wiedereroberung von Elsaß-Lothringen, dagegen würde ein irgendwie
entgegenkommender Schritt Deutschlands die Situation wesentlich erleichtern-
Hauptmotiv, das Italien zum Durchhalten bestimme, sei die Furcht vor
dem Prädominieren des österreichischen Einflusses auf dem Balkan, weshalb
Italien, mit Ausnahme der gegen Griechenland gerichteten Tendenzen, die
Balkanpolitik der Entente akzeptiere. Wenn es möglich wäre, auf einem den
Vorwurf des Treubruches ausschließenden Wege ein russisch-italienisches Ab¬
kommen zu ermöglichen, bei dem die russischen und italienischen Balkaninteressen
in ehrlicher Weise gewahrt würden, würde Italien wohl der zweite Entente-
staat sein, der sich von der Kette lösen würde.
Die Bedrängung Englands durch den Unterseebootkrieg ist zweifellos sehr
stark. Die Furcht vor der Rationierung sei groß, besonders in den breiten Massen.
Stimmung in der Arbeiterschaft gegen den Krieg, der Widerstand gegen Lloyd
George im Wachsen. Die letzten Luftangriffe auf London hätten in diese Ent¬
wicklung wieder störend im Sinne einer Neüvelebung der Kampfstimmung ein¬
gegriffen. Es sei zu bezweifeln, ob der Druck durch den Unterseebootkrieg genüge,
um die englische Halsstarrigkeit zu beugen, um so mehr, als die Erfolge der
Mission Balfours in Amerika über jede Erwartung günstig seien. Amerika
habe Intervention in stärkster Form zugesagt und gleiche den Verlust aus, den
die Entente durch eventuelles Ausscheiden Rußlands erleide.
Man habe Rußland inEng'l.an^d fast aufgegeben, glaube aber,Deutschland
durch die Verhandlungen, die man seit mehreren Monaten mit Österreich-
Ungarn und der Türkei direkt führe, von der anderen Seite her zu schwächen.
Man habe in London davor gezittert, daß der deutsche Reichskanzler sich glatt
auf den Boden der österreichisch-ungarischen Erklärung gegenüber Rußland
stellen werde, da in diesem Falle das Zustandekommen des Friedens wohl nicht
mehr aufzuhalten gewesen sei.
Zürich, den 2. Juni 1917.
Die aus Amerika vorliegenden Nachrichten lassen keinen Zweifel darüber
zu, daß die Union sich zu einer Kraftanstrengung großen Stils vorbereitet und
daß eine geradezu fieberhafte Kriegsbegeisterung und Kriegstätigkeit herrscht.
Die technischen Hilfsmittel, die die Vereinigten Staaten der Entente zur Ver¬
fügung zu stellen beabsichtigen (Flugzeuge, Telegraphen- und Telephonein¬
richtungen, elektrische Installationen, Maschinengewehre, ferner Medikamente
und chemische Präparate) würden in allergrößten Maßstab geliefert werden,
wobei allerdings das Risiko in Rechnung gesetzt werden muß, das unser Unter-
seeböotskrieg für derartige Transporte bedeutet.
Bern, den 11. Juni 1917.
Die durch den I1-Bootkrieg für England und Frankreich geschaffene Lage
ist zweifellos eine drückende, man wird aber auch bei vorsichtigster Abwägung
aller pro und contra sich dem Eindruck nicht verschließen können, daß an eine
Aushungerung Englands und Frankreichs im Sinne eines Zwanges zur Waffen-
niederlegung nicht mehr zu denken ist und daß die Gefahr für beide Länder
mit jedem Monat der amerikanischen Intervention abnimmt. Wenn wir also
den Unterseebootskrieg tatsächlich als ultirua rstio in die Kriegsschlußrechnung
eingesetzt haben sollten, so sind wir einem Rechenfehler verfallen, der durch
die eben durch den Unterseebootskrieg veranlaßte amerikanische Intervention
nur vergrößert werden kann.
Aus Rußland hört man nichts Bestimmtes. Rußland wird für die Dauer
des Krieges das große Fragezeichen bleiben. Ein ernsthafter Vertragsgegner,
auf dessen Zusicherungen man sich verlassen könnte, ist es kaum, so daß es selbst
für den Fall des Entgegenkommens der augenblicklichen Petersburger Regierung
nicht möglich sein wird, unsere Ostfront zu degarnieren. Es ist dies der Faktor,
auf den sich die Erwartungen der Entente hinsichtlich Rußlands reduziert haben,
der aber für uns immer noch groß genug ist, um uns zur Vorsicht zu nötigen.
Die Aussichten auf einen baldigen Friedensschluß sind unter diesen Um¬
ständen zur Zeit nicht groß. Solange wir uns nicht entschließen können, ordnungs-
und übungsgemäß den Weg streng vertraulicher diplomatischer Verhandlungen
zu beschreiten und auf die bisher gebrauchten untauglichen Mittel des Ver¬
Handelns durch unverantwortliche Parlamentarier und Industrielle zu ver¬
zichten, wird es auch kaum anders werden. Unseren sämtlichen Unterhändlern
fehlt die verantwortliche Deckung durch die Zentralstelle, sie werden daher nicht
als ernst zu nehmende Verhandlungsgegner angesehen.
Bern, den 12. Juni 1917.
(Telegramm.) Sicherste Quelle meldet: Ribot hat in letzter Geheim¬
sitzung französischen Abgeordnetenkammer den zwischen Frankreich und Ru߬
land im Januar 1917 abgeschlossenen Geheimvertrag verlesen, durch den sich
das damalige Rußland Frankreich gegenüber zu voller diplomatischer Unter¬
stützung nachstehender Forderungen im Laufe der Friedensverhandlungen
verpflichtete:
Zürich, den 19. Juni 1917.
Wie ich Euer Exzellenz unter dem 16. Mai zu melden die Ehre gehabt
hatte, erschien auf Grund der mir von verlässiger amerikanischer Seite gewordenen
Aufklärung die mir aus Berlin übermittelte Nachricht, die russische Regierung
werde am 26. Mai einen Waffenstillstand abschließen, nicht glaublich. Ich hatte
damals es als meine persönliche Anschauung bezeichnet, daß die Entente im Ver¬
trauen auf die Unterstützung Amerikas den Kampf vorerst fortsetzen wird, da
man in Paris und London von der Anschauung ausgehe, daß die Zentral¬
mächte auch nach Abschluß eines Waffenstillstandes, ja selbst eines Separat¬
friedens mit Rußland nicht in der Lage sein werden, ihre Ostfront zu degarnieren,
da die Verhältnisse in Rußland zu unsicher seien, um sich auf mit einer dortigen
Regierung abgeschlossene Vereinbarungen verlassen zu können.
Der Waffenstillstand ist nicht abgeschlossen worden und es mehren sich im
Gegenteil die Anzeichen, daß die russische Armee sich neuerdings wieder im
Sattel zurechtzusetzen beginnt. Die Rachrichten, die über das Scheitern der
Mission des Schweizer Pazifisten und Sozialisten Grimm heute Hieher gelangt
sind, bestätigen diese Wahrnehmungen. Herr Grimm, der als enragierter Anti-
militarist nicht gerade zum Vertreter der deutschen Interessen prädestiniert
schien, hat mit seinen Vorschlägen in Petersburg kein Gehör gefunden. Er
Wende ungefähr um die Zeit, in der der Abschluß des Waffenstillstandes erfolgen
sollte (2ö. Mai), in Petersburg; in diese Tage fällt auch der verhängnisvolle
Telegrammwechsel, den die Schweizerische Gesandtschaft in Petersburg zwischen
ihm und dem Herrn Bundesrat Hoffmann vermittelte.
Für die Sache des Friedens ist dieser Vorfall nach zwei Richtungen hin
verhängnisvoll. Zunächst erscheint mit Sicherheit festgestellt, daß die Entente
den Frieden nicht will, ferner ist für die Entente kein Zweifel mehr darüber,
daß wir den Frieden dringend wünschen. Für unsere Position bei künftigen
Verhandlungen bedeutet dies eine nicht erwünschte Verschlechterung.
Die Enttäuschung, die uns die Mission Grimm bereitet hat, ist nicht die
erste dieser Art. Es kann angesichts des Ernstes der Lage nur immer wiederholt
werden, was ich mir nochmals anzudeuten erlaube: Solange wir uns nicht
entschließen können, ordnungs- und übungsgemäß den Weg streng vertraulicher
diplomatischer Verhandlungen zu beschreiten und auf die bisher von uns
gebrauchten untauglichen Mittel des VerHandelns durch unverantwort¬
liche Parlamentarier und Industrielle zu verzichten,' wird es kaum anders
werden. Unseren sämtlichen Unterhändlern fehlt die verantwortliche Deckung
durch die Zentralstelle; sie werden daher nicht als ernst zu nehmende Ver¬
handlungsgegner angesehen.
Daß der Entschluß, diesen neuen Weg zu beschreiten, schwerfallen mag,
ist begreiflich; die Kluft, die zwischen den bisher künstlich genährten Hoffnungen
der Nation und der nackten Wirklichkeit besteht, ist zu groß, als daß es leicht
fallen könnte, das Volk darüber aufzuklären. Man wird aber nicht darum herum¬
kommen und die Lage kann durch Zögern nur schlimmer werden.
....., den 28. Juni 1917.
Es scheint nach den mir zugegangenen Nachrichten, daß man in England
und Frankreich die kritische Zeit mit Mitte Juli für überwunden hält, da von
dort an die Wirkungen der Beteiligung der amerikanischen Flotte an den Abwehr-
Maßnahmen der Engländer und Franzosen für hinreichend stark erachtet werden,
um weitere Befürchtungen auszuschließen.
Es ist von hier aus selbstverständlich unmöglich, die Richtigkeit dieser
Auffassungen nachzuprüfen; doch stimmen sie im allgemeinen mit den zahl¬
reichen Mitteilungen, die ich von anderer, englischen und amerikanischen Kreisen
nahestehender Seite erhalte, überein. Soweit der Unterseebootskrieg als ultima
ratio der Bezwingung Englands und der Beschleunigung des Kriegsendes ge¬
dacht war, dürfte er, so lästig er unseren Feinden auch fällt, und so sehr er ihre
inneren Schwierigkeiten vermehrt, seinen eigentlichen Zweck bereits verfehlt
haben. Hieran vermag auch die Veröffentlichung des Gesamtresultats aller
seit Kriegsausbruch erfolgten Versenkungen nichts zu ändern, da es in erster
Linie darauf ankommt, ob die Kurve der Versenkungen sich auch im gegen¬
wärtigen Zeitpunkt auf ihrer Höhe erhält, oder ob sie weiterhin absteigt.
Im einzelnen kann ich das Gesamturteil meiner Gewährsleute, wie nach¬
gehend, zusammenfassen:
J6J
Die öffentliche Meinung in England und Frankreich hat, entsprechend
den Aufwärts- und Abwärtsbewegungen der Kurve der Versenkungen neutraler
und eigener Schiffe durch deutsche Unterseeboote, sei 1. Februar drei verschiedene
erlebt. Die erste war die jenes ausgesprochenen Optimismus der Entente¬
länder, der die Ankündigung des verschärften Unterseebootskrieges als einen
Bluff erklärte. Sie dauerte etwa bis Ende März. Die zweite umfaßt die Zeit
von Beginn April bis Mitte Mai. Sie war durch die pessimistische Note gekenn¬
zeichnet, die am stärksten in den Erklärungen von Lloyd George über die zu¬
nehmenden Versorgungsschwierigkeiten Englands zum Ausdruck kam. Die
dritte setzte etwa Mitte Mai ein und schließt mit der ersten Dekade des Juni ab.
Sie ist charakterisiert durch eine sichtliche Entspannung, soweit das psychologische
Moment in Frage steht und durch ein sichtliches Wiederaufleben der Über¬
zeugung, daß der deutsche Unterseebootskrieg, soweit er die Niederwerfung
Englands als ullius, i alle» der deutschen Kriegsführung darstellt, diesen seinen
Zweck nicht erreichen, sondern lediglich den Krieg verlängern wird.
Man ist in London und Paris angesichts des Rückganges, den die Wirksam¬
keit des deutschen Unterseebootskrieges seit Ende Mai erfahren hat, bereits
wieder zu einer optimistischen Beurteilung der Gesamtlage zurückgekehrt und
hält die Krisis, von der speziell England bedroht war, für überwunden, wenn die
Zahl der Versenkungen ab 10. Juni weiterhin auf der bisher zu beobachtenden
Linie verbleibt. Die Anschauung der maßgebenden Kreise Englands und Frank¬
reichs läßt sich in folgende drei Leitsätze zusammenfassen:
England wird, außer unter dem Zwang absoluter und äußerster Not¬
wendigkeit, unter keinen Umständen einen Frieden annehmen, der die An¬
erkennung einer Erschütterung seiner Seestellung in sich schließen würde.
England wird, selbst wenn es den Fall äußerster Notwendigkeit gegeben er¬
achten sollte, den Frieden auf dem Weg über Rußland herbeiführen, es aber
stritte vermeiden, von sich aus eine Initiative zu ergreifen, die mit einem Ein¬
geständnis seines Unterliegens gleichbedeutend wäre.
seite Kreise unseres Volkes — und gerade die besten — sind von
tiefem Pessimismus erfüllt und verzweifeln an der Möglichkeit eines
Wiederaufbaus. Ist das berechtigt? Gewiß, wenn man sich die
Lage der deutschen Volkswirtschaft in voller Deutlichkeit klarzu¬
machen versucht, was leider die wenigsten tun, scheint eine Lösung
fast unmöglich. Das Bild, das der Reichsfinanzminister vor kurzem über den
Reichshaushalt gegeben hat, spricht mit seinen harten Zahlen eine deutliche
Sprache, obwohl auch hier eine Verschleierung versucht wird, die dem Gesundungs¬
prozeß nur schädlich sein kann. Schon die Gruppierung der Ausgaben in ordent¬
liches und außerordentliches Budget dient mehr dem Zweck der Ermöglichung
eines Gleichgewichts als einer systematischen Trennung der Ausgaben in dauernde
und einmalige. Aber selbst beim ordentlichen Budget ist der Ausgleich nur
dadurch erzielt, daß Steuererträge eingesetzt wurden, die auch dann sicher nicht
eingegangen wären, wenn nicht neben der Steuerflucht der Kriegsgewinnler auch
noch durch die Steuersabotage der Arbeiter beim Lohnabzug jede Aussicht
geschwunden wäre, auf dem Weg der direkten Besteuerung Erfolge zu erzielen.
Es fehlt also nicht nur für die Ausgaben des außerordentlichen Etats mit 25 bis
28 Milliarden Mark jede Deckung, sondern es ist auch nicht damit zu rechnen, daß
der Bedarf des ordentlichen Budgets von 28 Milliarden Mark durch Einnahmen
voll gedeckt werde. Dazu kommt das ständige Anwachsen der schwebenden
Schuld, die jetzt schon 124 Milliarden beträgt, neben 91 Milliarden
fundierter Schulden, ohne daß sich irgendein Weg zeigt, dieser Entwicklung
Einhalt zu tun, geschweige in absehbarer Zeit zu einer Abzahlung zu kommen.
Schlimmer noch als diese Geldnot des Reiches ist die Lage der deutschen
Volkswirtschaft in ihren Beziehungen zum Ausland. Eine Abschließung gegenüber
der Weltwirtschaft ist für uns nicht möglich, weil Deutschland in seinen jetzigen
Grenzen und in der zerstörten Verfassung seiner Wirtschaft das Ziel der Autarkie,
das vor dem Kriege bei höchster Vervollkommnung unserer Erzeugung erreichbar
gewesen wäre, gar nicht ins Auge fassen kann. Wir werden also für absehbare
Zeit auf die Einfuhr von Lebensmitteln und Rohstoffen zur Deckung des eigenen
Bedarfs angewiesen sein, ohne die Möglichkeit, durch die Ausfuhr eigener Boden¬
schätze und industrieller Erzeugnisse im gleichen Wertverhältnis einen Ausgleich zu
schaffen. Diese Lage ist bis jetzt noch nicht so in die Erscheinung getreten —
weil wir bisher noch die Möglichkeit hatten, Kohlen in erheblichem Umfang und
5» hohen Preisen an das neutrale Ausland zu liefern und weil infolge des abnorm
schlechten Standes unserer Valuta in der ersten Hälfte des Jahres industrielle
Erzeugnisse und inländische Werte unter Hintansetzung des eigenen Bedarfs in
großer Menge an ausländische Käufer übergangen sind, weil wir mit anderen
Worten von dem Kapital des Volksvermögens selbst gelebt haben.
Durch das Abkommen von Spa ist die Ausfuhr von Kohlen in das neutrale
Ausland fast unmöglich gemacht. Wir müssen Kohlen im Werte von etwa
24 Milliarden Mark für das Jahr an die Entente^liefern, ohne dafür einen
Gegenwert zu erhalten) denn die Lieferungen dienen nur der Abtragung unserer
Wiedergutmachungsschuld und die in Aussicht gestellten Vorschüsse sind neue
Schulden/ die Deutschland kontrahiert. Das gefährlichste aber ist, daß die
Kohlenlieferungen an Frankreich, Belgien und Italien eine Stillegung eines
großen Teils der deutschen Industrie im Gefolge haben werden, die sich jetzt
schon in immer schärferer Form bemerkbar macht, und damit eine weitere
Schwächung unserer Ausfuhr.
Das ist in kurzen Strichen das Bild der wirtschaftlichen Lage Deutschlands.
Zur Vervollständigung fehlt nur, was in Genf Deutschland an weiteren Leistungen
für die Wiedergutmachung auferlegt werden soll.
Sieht man die Sache so an, so bietet sich allerdings kein Ausblick für einen
Wiederaufbau, sondern der endgültige Niederbruch scheint unvermeidlich. Aber ich
halte diese Betrachtungsweise nicht für richtig. Man kann derartig neue, in der
Weltgeschichte ohne Beispiel dastehende Verhältnisse nicht mit dem Rechenstift
meistern und muß sich vor Augen halten, daß solche Zeiten der Not auch
neue Kräfte und Möglichkeiten wachrufen, die uns noch nicht erkennbar
sind. Wenn man uns im Juli 1914 gesagt hätte, daß Deutschland 4 Jahre lang
unter völliger Abschnürung vom Weltmarkt gegen die größte Koalition, die die
Geschichte kennt, Krieg führen müsse, so würden alle Sachverständigen das für
unmöglich erklärt haben. Und doch haben wir über 4 Jahre siegreich unsere
Grenzen behauptet, wenn auch unter unmenschlichen, niemals für möglich gehaltenen
Anstrengungen und Entbehrungen. Es sind also hier Möglichkeiten entdeckt und
nutzbar gemacht worden, die niemand in Rechnung gestellt hatte.
Aber die Voraussetzung für die Überwindung solcher Notlagen ist die klare
Erkenntnis der Situation und die zielbewußte Zusammenfassung und Einsetzung
aller Kräfte zu ihrer Überwindung.
Und daran hat es bisher vollkommen gefehlt. Was wir bisher getrieben
haben, läßt sich beim besten Willen nicht anders als mit Fortwurschteln bezeichnen.
Daß es so nicht weiter gehen kann, daß wir auf diesem Weg immer tiefer in den
Sumpf geraten müssen, sieht zwar jedermann ein. Aber die notwendige Schlu߬
folgerung daraus, daß wir einen anderen Weg wählen müssen, ist bis jetzt nicht
gezogen worden. Was wir vor allem brauchen, ist volle rücksichtslose
Offenheit und Klarheit, nicht das Vertuschen und Verkleistern, das Quack¬
salbern mit kleinen Mittelchen, die man anwendet, um den Patienten nicht zu sehr
zu erschrecken. Zu dieser rücksichtslosen, harten Offenheit hat sich noch niemand
aufgerafft. Jeder Staatsmann und Politiker, jede Partei fragt immer zuerst
ängstlich, ob das Eingeständnis der wahren Sachlage nicht seiner Stellung und
den Interessen der Partei schaden könne, und dann werden so lange Zugeständnisse
und Kompromisse gegen die Wahrheit gemacht, bis sie völlig verzerrt und entstellt ist.
Diese Art des Politikspielens konnte man sich allenfalls in der Vorkriegs¬
zeit leisten — sie ist zwar auch damals schon schuld an unserem Unglück ge¬
wesen — aber heute, wo es wirklich um Sein oder Nichtsein für Deutschland
geht, muß man solche Mätzchen lassen.
Wenn man sich die eingangs geschilderte Sachlage unbefangen vorstellt,
kann man gar nicht anders, als eingestehen, daß wir bankerott sind, und im ver¬
trauten Gespräch macht auch niemand ein Hehl daraus. Aber die Regierung
und der Reichstag dürfen beileibe nichts davon sagen und vor allem nicht danach
handeln. Es werden weiter Etats aufgestellt und bewilligt, als ob alles in
schönster Ordnung wäre, es werden Milliardensummen für neue Bedürfnisse, für
neue Unter und Stellen mit einer Freigebigkeit ausgeworfen, als ob wir in
Geld schwämmen, und die Mittel beschafft man durch neue Schulden und neues
Papiergeld. An Sparen denkt kein Mensch, weil's doch schon gleich ist. Das
ist Bankerottwirtschaft im schlimmsten Sinne. Das ist nach bürgerlichem
Recht betrügerischer Bankerott. Ein Zusammenbruch kann auch den Ehrlichen
schuldlos treffen, aber dann muß er sich danach strecken, wenn er seine Ehre be¬
wahren will, und nur dann ist eine Sanierung möglich.
Das ist freilich ein harter Entschluß, der uns alle schwer treffen wird.
Aber jedes Hinausschieben verschlimmert nur das Qbel. Und schließlich handelt
es sich bei der Politik in diesem Sinne doch nicht um das persönliche Wohl¬
ergehen des einzelnen, nicht darum, ob man für seine Handlungen Beifall findet
und momentane Erfolge erzielt, sondern um die Frage, wie die Zukunft unseres
Volkes gerettet werden kann. Hunderttausende haben während des Krieges willig
Leben und Gesundheit geopfert, um das Vaterland vor feindlichem Angriff zu
schützen. Und da sollten wir Überlebenden feig zurückstehen, wenn es gilt, Jahre
der Entbehrung, der Armut und Einschränkung auf uns zu nehmen, um unserem
Volk einen neuen Aufstieg zu ermöglichen?
Das Eingeständnis des Bankerotts unserer Finanz- und Volkswirtschaft
bedeutet nicht ohne weiteres die Erklärung des Staatsbankerotts im technischen
Sinne. Ob dieser sich wird aufhalten lassen, ist eine andere Frage. Aber es
bedeutet, daß man in Staats- und Volkswirtschaft die Folgen daraus zieht, also
vor allem in der Staatsverwaltung sich so einrichtet, wie es einem völlig ver¬
armten Volke ziemt. Davor kann uns das Blendwerk der Erzbergerschen Steuer¬
gesetzgebung nicht schützen, die Einnahmen vorgaukelt, die im Dauerzustand nie
zu erzielen sein würden, auch wenn überall beste Steuerwilligkeit bestände, weil
sie durch Vernichtung der Betriebsvermögen die solide Wirtschaft selbst totschlägt
und nur das Schiebertum leben läßt.
Man muß also vor allem entschlossen an die Umgestaltung dieser Steuer¬
gesetze Herangehen, die von Anfang an nichts als ein Bluff waren, um auf dem
Papier eine Bilanz herzustellen. In welcher Form ich mir das denke, kann im
einzelnen nicht im Rahmen dieser Abhandlung dargelegt werden. Aber um nicht
in Verdacht zu kommen, daß es mir nur um die Wahrung kapitalistischer Inter¬
essen zu tun sei, will ich gleich hier betonen, daß für meine Bestrebungen niemals
das Schicksal des einzelnen, sondern nur die Belange des Volksganzen ma߬
gebend waren.
Aber neben dieser notwendigen Offenheit und Wahrhaftigkeit gegenüber
dem eigenen Volk ist die gleiche Haltung auch gegen unsere Feinde not¬
wendig. Ich sage mit Vorbedacht Feinde, weil ich den Vertrag von Versailles
niemals als einen Friedensvertrag ansehen kann, sondern nur als ein Dokument
der Sklaverei. Unsere Regierungen — und zwar die Fehrenbach sche ebenso wie
die vorhergehenden sozialdemokratischen Kanzlerschaften — können sich nicht genug¬
tun in Beteuerungen, daß sie den Bertrag von Versailles erfüllen wollen. Ich
halte das nicht nur für unehrlich, sondern für töricht und würdelos. Der Vertrag
kann nicht erfüllt werden, weil er Unmögliches verlangt. Und selbst das an
sich Mögliche könnte nur erreicht werden, wenn man das deutsche Volk in dauernder
Schuldknechtschaft hält. Kann eine deutsche Regierung ernsthaft erklären, daß das
ihre Absicht ist? Eine Absicht, die sie doch nie verwirklichen könnte, weil sie in
dem Moment eben aufhören würde, Regierung zu sein? Nein, man muß endlich
mit diesen Fiktionen, die man der Kriegspsychose unserer Gegner zuliebe aufgerichtet
hat, Schluß machen.
Man muß in voller Offenheit und Klarheit zum Ausdruck bringen, daß
wir diesen Bertrag nicht erfüllen können. Das kann üble Folgen haben,
gewiß, ich werde darauf noch kommen. Ich will nur zuerst die innere Not¬
wendigkeit dieser Erklärung begründen.
Wenn ein Vertragsteil erklärt, er wolle seine Vertragspflichten erfüllen,
werde es aber sicher nicht können, so bekennt er sich von vornherein als schuldig.
Denn Verträge, von denen man schon beim Inkrafttreten weiß, daß man sie nicht
erfüllen kann, darf man ehrlicherweise nicht schließen. Wir verschlechtern also
unsere rechtliche Lage mit diesen beflissenen Beteuerungen des guten Willens, denn
wir anerkennen damit, daß der unerfüllbare Vertrag Deutschland zu Recht bindet.
Wer aber die Vorgeschichte und die Entstehung des Vertrages von Versailles
unbefangen prüft, weiß, daß er nach den Grundsätzen des Völkerrechts Deutschland
nicht verpflichten kann.
Ich will mich dafür statt weiterer Ausführungen nur aus das Zeugnis des
Professors I. M. Kehnes berufen, mit dem ich in Spa und Brüssel oft verhandelt
habe und den ich als einen der wenigen objektiv und wirtschaftlich denkenden
Vertreter unserer Feinde kennen gelernt habe.'
Er führt in seinem grundlegenden Werk „lKe economie conseyuencss
ok tke ?cane" mit überzeugender Klarheit aus, daß der Umfang der Verpflichtungen,
die Deutschland im Friedensvertrag auferlegt wurden, nicht das Maß dessen hätte
übersteigen dürfen, was in den 14 Punkten des Präsidenten Wilson und in dessen
späteren Ansprachen umschrieben ist. Denn auf dieser Grundlage sei die Verein¬
barung zwischen Deutschland und den Verbündeten über die Einleitung der Waffen¬
stillstands- und Friedensverhandlungen abgeschlossen worden.
„Die Natur des Abkommens zwischen Deutschland und den Verbündeten"
— so lautet der entscheidende Satz in der deutschen Übersetzung von Bonn und
Brinkmann (S. 45ff.), — „die sich aus diesem Notenwechsel ergibt, ist klar und
unzweideutig. Die Friedensbedingungen sollen den Ansprachen des Präsidenten
gemäß sein, und der Zweck der Friedenskonferenz ist, ,die Einzelheiten ihrer
Anwendung zu erörtern/ Die Umstände des Abkommens trugen ein
ungewöhnlich feierliches und verpflichtendes Gepräge, denn eine dieser Bedingungen
war, daß Deutschland Waffenstillstandsbedingungen annehmen solle, die es wehrlos
machen würden. Nachdem Deutschland sich im Vertrauen auf das Abkommen
wehrlos gemacht hatte, erforderte es die Ehre der Verbündeten, auch ihre
Verpflichtungen zu erfüllen und, wenn es Zweideutigkeiten enthielt, aus ihrer Lage
keinen Vorteil zu ziehen."
Diesen Grundsätzen widerspricht aber ein großer Teil der Bestimmungen,
besonders über die Wiedergutmachung, die die deutsche Negierung durch Drohung
mit Waffengewalt gezwungen worden ist, in Versailles zu unterschreiben.
Und diese Drohung mit Gewalt war nicht etwa eine solche, wie sie sich aus
dem Rechte der Stärkeren im Völkerrecht ergibt.
Sondern sie war eine qualifizierte widerrechtliche Nötigung, weil sie
sich gegen einen Bertragsteil richtete, der sich im Vertrauen auf feier¬
liche Abmachungen wehrlos gemacht hatte.
Wenn man sich das vor Augen hält, wird man es nicht zu hart finden
können, wenn ich die fortgesetzten Beteuerungen, man wolle diesen widerrechtlich
erzwungenen Vertrag erfüllen, als würdelos bezeichne. Und unehrlich sind sie
deshalb, weil keine demokratische Regierung Leistungen versprechen kann, die die
Mehrheit des Volkes ablehnt. Minister Simons hat kürzlich selbst erklärt, er
sei erschüttert über die Unkenntnis, die im Volke noch bezüglich des Vertrages
von Versailles herrsche. Wenn die Wahrheit über diese jede Menschenwürde mit
Füßen tretenden Bestimmungen erst allgemein bekannt wäre, würde die Ablehnung
noch viel entschiedener und lauter sein als jetzt.
Nein, darüber sollte keine deutsche Regierung und kein deutscher Staatsmann
einen Zweifel lassen, es ist unmöglich und wird durch keinen Zwang erreicht
werden, daß das deutsche Volk mit seinen 60 Millionen Einwohnern auf Menschen¬
alter hinaus einem kulturell, wirtschaftlich und an Volkszahl tiefer stehenden Volke
tributpflichtig und unterworfen bleibt.
Und die Überzeugung der Welt von dieser geschichtlichen Unmöglichkeit, die
sich mehr und mehr Bahn bricht, darf nicht dadurch irregeführt werden, daß die
deutsche Regierung immer wieder erklärt, sie wolle diesen Zustand nach Möglichkeit
Ehalten. Ich bin nicht der Optimist, zu glauben, daß irgendein anderes Volk für
Deutschland in diesen Kampf gegen eine unerhörte Vergewaltigung eintritt, dazu ist die
feindliche Koalition zu mächtig und zu geschlossen. Aber dem Zwang geschichtlicher
Notwendigkeiten wird auch sie auf die Dauer nicht widerstehen können, und wir
Wusser deshalb alles tun, damit die Erkenntnis davon sich ungestört Bahn bricht.
Wir sind heute wehrloser als am Tage von Versailles, und die Feinde
stehen uns, zum Stoße ins Herz bereit, mit dem Dolch in der Hand gegenüber.
Man hat uns, gegen alles Völkerrecht und selbst über die Strafbestimmungen
des Versailler Vertrages hinaus, in Spa die Besetzung des Ruhrgebietes angedroht,
wenn die Bedingungen dieses Abkommens nicht erfüllt werden. Kann eine Re¬
gierung in solcher Lage auf ihr Recht pochen? wird man fragen,- muß sie sich
"icht einfach dem Diktat der Feinde fügen, um das Äußerste abzuwenden?
Gewiß ist es eine Entschließung von furchtbarster Verantwortung, die hier
gesaßt werden muß. Aber die Geschicke der Völker spielen sich nicht in Monaten
^d Jahren, sondern in Jahrhunderten ab, und man darf sich bei solchen Ent¬
scheidungen nicht ausschließlich von den Sorgen der nächsten Tage leiten lassen.
?user Wirtschaftsleben bricht zusammen, wenn das Ruhrgebiet besetzt würde, das
^ sicher. Aber ebenso sicher ist, daß Deutschland sich nie wieder erheben kann,
wenn der Vertrag von Versailles ausgeführt wird.
Und wir knüpfen die Maschen dieses Netzes immer fester und verlieren in
den Augen der Welt immer mehr den Anspruch auf Befreiung von den unerträg¬
lichen Fesseln, wenn wir durch neue Verträge und Beteuerungen seine Rechts¬
verbindlichkeit anerkennen.
Wer aus der Geschichte zu lesen versteht, weiß, daß Zeiten schwerster Not
und Bedrückung für ein lebenskräftiges, tapferes Volk nicht den Niedergang,
sondern Läuterung zu neuem Aufstieg bedeuten. Und so hart es ist, sich solchen
Prüfungen bewußt zu unterwerfen, wie viel erträglicher ist es doch, als durch
Verzicht auf alle Menschenrechte dauerndem Siechtum entgegenzugehen.
Es dürfen uns deshalb selbst Drohungen und Zwangsmaßnahmen unserer
Gegner nicht davon abhalten, immer und immer wieder zu verlangen, daß die
den Wilsonpunkten widersprechenden Bestimmungen des Vertrages, der Deutschland
mit Gewaltandrohung aufgezwungen worden ist, abgeändert werden, und daß dem
deutschen Volke nicht mehr genommen wird, als es bei Fristung seines Lebens
leisten kann. Freilich setzt diese Forderung voraus — und damit komme ich auf
den Ausgangspunkt zurück —, daß das deutsche Volk auch in der eigenen Wirt¬
schaft die Folgerungen aus der Lage zieht und nicht ein Scheinleben weiterführt,
das allem anderen eher als dem Dasein eines Verarmten gleicht. Der Schuldner,
den man beim Sektgelage antrifft, hat keinen Anspruch auf Nachsicht. Wir
treiben einen Aufwand im öffentlichen und privaten Leben, der in schreienden
Gegensatz zu unserer wirklichen Lage steht. Und wir setzen uns damit dem
berechtigten Vorwurf unserer Gegner aus, daß derjenige, der solchen Aufwand
für den eigenen Bedarf treibt, sich absichtlich in die Unmöglichkeit versetzt, seine
Schulden zu zahlen. Es ist zwar auch das nur ein Trugschluß. Denn das,
womit wir den Aufwand betreiben, ist ja nur der Scheinwert des Papiergeldes/
der bei Fortsetzung dieses Treibens immer wertloser werden muß, und mit dem
wir die Schulden an das Ausland nicht bezahlen können.
Aber trotzdem müssen wir auch diesen Schein vermeiden, wenn wir unseren
berechtigten Ansprüchen Gehör verschaffen wollen. Und wir müssen vor allem
auf ihn verzichten, wenn wir zur inneren Gesundung unserer Wirtschaft komme«
wollen.
Dafür die Wege zu finden, müßte die erste Aufgabe aller wirtschaftlich
Einsichtigen, vor allem des Reichswirtschaftsrats, sein. Sie läßt sich nicht
lösen durch Behandlung von Einzelfragen, so drängend sie auch sein mögen-
Finanzkrise und Wirtschaftskrise sind so eng ursachlich verflochten, daß der Versuch,
sie einzeln und losgelöst voneinander zu heilen, völlig hoffnungslos ist. Solange
nicht unsere Währung wieder auf eine solide unveränderliche Basis gestellt ist,
unveränderlich insofern, als nicht durch ungedeckte Ausgabe neuen Papiergeldes
das innere Wertverhältnis der Währung sich ständig ändert, solange nicht der
Staat selbst in seiner Finanzgebarung sich an die Gesetze der Wirtschaftlichkeit
bindet und ein Steuersystem schafft, das einen klaren Überblick der Belastung
gestattet und den Betrieben die Existenzmöglichkeit beläßt, so lange ist jeder Versuch
einer Sanierung unseres Wirtschaftslebens vergeblich.
Ich habe schon an anderer Stelle darauf hingewiesen, daß die Aufbringung
des ungeheueren Staatsbedarfs nicht auf den bisherigen Wegen der direkten und
indirekten Steuern allein möglich ist, weil diese eine Höhe annehmen müßten, d:e
das Wirtschaftsleben stillegt und unvermeidlich zur Steuerflucht führt. Aber es
gibt Wege, die solche Lasten zur Not erträglich machen, ohne den Unternehmungs¬
geist zu unterbinden. Ich will nur ein Beispiel anführen. Durch das Reichs¬
notopfer sollen von den großen Vermögen bis zu 65 v. H. weggesteuert werden.
Die eingehenden Summen sollten ursprünglich zur raschen Abtragung der Reichs¬
schulden dienen, werden aber aller Voraussicht nach durch laufende und einmalige
Ausgaben, für die keine andere Deckung vorhanden ist, aufgebraucht werden. Die
Betriebe aber, denen so hohe Anteile des Betriebsvermögens entzogen werden,
erfahren dadurch eine solche Schwächung, daß das künftige Betriebsergebnis und
damit die Steuerkraft nicht nur um den verhältnismäßigen Betrag, sondern weit
darüber hinaus vermindert werden wird. Mit anderen Worten, die deutsche
Volkswirtschaft wird durch das Reichsnotopfer, wenn es voll erlegt würde, um
S0 bis 40 Milliarden Mark geschwächt, ohne daß die eingehenden Summen vom
Reich werbend angelegt werden. Der Ertrag dieser Summe wird also aus der
Volkswirtschaft verschwinden. Die Sinnlosigkeit dieser Bestimmung ist durch die
Zulassung einer Tilgungsrente zwar einigermaßen gemildert. Aber damit wird
der Denkfehler, der in diesem ganzen Steuerplan liegt, nicht korrigiert. Denn
diese Besitzsteuer ist rein fiskalisch gedacht, volkswirtschaftlich aber ein völliger
Fehlgriff. Wenn das Reich zur Abtragung seiner Schulden den Zugriff auf den
Besitz nicht entbehren zu können glaubt, dann müßte das in einer Form geschehen,
die nicht den Ertrag der Volkswirtschaft schädigt. Das Reich konnte sich
als Eigentümer des betreffenden Anteils des Betriebsvermögens erklären und in
dieser Höhe am Ertrag teilnehmen. Dann war keine Einschränkung der Betriebe
erforderlich und die dauernden Einnahmen des Reiches viel höher als die Zinsen
der Steuersumme. Gewiß läßt sich dieses System nur für größere Betriebe
durchführen und bedarf der Überwindung vieler Schwierigkeiten. Aber die dürfen
nicht abhalten, einen Weg zu beschreiten, der allein hoffen läßt, ohne Lähmung
der Betriebe den hohen Bedarf des Reiches dauernd aufzubringen. Es ist der
Weg, der allein die Möglichkeit für eine Gemeinwirtschaft bietet, die den ge¬
sunden Gedanken des Sozialismus verwirklicht, ohne zum Niedergang zu führen.
er ist Paula Modersohn? Paula Modersohn wurde als drittes Kind
des Buurats Becker, der als Ingenieur in der Eisenbahuverwaltung
tätig war, am 8. Februar 1876 in Dresden geboren. Ein reichliches
Jahrzehnt später siedelte die Familie nach Bremen über, und hier
. blieb Paula bis zu ihrem zwanzigsten Jahr, dem ersten Wendepunkt
Mes Lebens. Bis dahin mag sie sich über den Umfang ihrer Begabung und Be¬
stimmung zur Kunst selbst nicht recht klar gewesen sein. Der gelegentliche Zeichen¬
unterricht, den sie bis 1896 genoß, kann ihr kaum mehr als Elementarkenntnisse
^ermittelt haben. Aber nun schien sich plötzlich die junge Kraft zu regen und ihrer
selbst bewußt zu werden. Die Ellen schickten sie nach Berlin, damit sie dort eine
Kindliche Ausbildung empfange.
Die nächsten Jahre verlebt sie teils in Berlin, wo Hausmann, Störing, Dett-
l"ann und Jeanne Bauet ihre Lehrer sind, teils in Worpstvede, dem „Wunder- und
Götterland", in der Gemeinschaft der Worpsweder Maler: Mackensen, Vogeler,
Overbeck, am Ende und Modersohn. Mackensen wird ihr Lehrer, doch lernt sie
indirekt auch von den anderen und kommt in ein freundschaftliches Verhältnis zu
ihnen. Jeder der Künstler ist ihr wert und in seiner Eigenart bedeutsam.
Die Briefe und Tagebuchblätter, die uns aus diesen Jahren erhalten sind,
strömen die helle Begeisterung eines jungen, frischen, aufnahmefähigen Menschen
aus, vor dem das Leben wie ein strahlender Sonnentag ausgebreitet liegt. Diese
strahlende Lebensfreude bleibt ein Grundzug in Paulas Wesen, und die wehmütigen,
schmerzlichen Stimmungen, die in späteren Jahren dann und wann über sie kommen,
haben doch nie die Kraft, sich dauernd zu behaupten. „Traurigsein", schreibt sie
einmal, „ist wohl etwas Natürliches. Es ist wohl ein Atemholen zur Freude, ein
Vorbereiten der Seele dazu."
Es ist ein Genuß, an der Hand der schriftlichen Aufzeichnungen das Werden
und Wachsen unserer Künstlerin zu verfolgen. Wie ihre Seele langsam, aber stetig
reift, so reist ihre Anschauung von der Kunst. „Mich befriedigt das Zeichnen nicht,"
notiert sie im Dezember 1898 in ihr Tagebuch, „ich will weiter, immer weiter."
Und etwas später spricht sie von ihrem ernsten Streben und Leben für die Kunst,
das ein Ringen und Kämpfen sei mit allen Kräften.
Zu dieser Zeit muß das Persönliche in ihrer Kunstauffassung, die ihr eigene
Note zum erstenmal fühlbar gewesen sein. Sie ist zunächst mehr betroffen als beglückt
darüber. Sie empfindet es fast wie eine Ungehörigkeit, daß sie ihren eigenen kleinen
Menschen in ihrer Kunst so in den Vordergrund treten läßt. Aber es beginnt doch
langsam die Erkenntnis in ihr zu dämmern, daß das geliebte Worpswede mit seiner
Malerkolonie ihr nicht alle Fragen beantworten könne, die sie quälen. Und es mag
wie eine Erlösung über sie gekommen sein, als sie plötzlich erkennt, daß der Weg,
den ihre Freundin, die Bildhauerin Klara Westhoff, eingeschlagen hatte, auch ihr
eigener werden könne. Klara Wefthoff war 1899 nach Paris gefahren.' Der Mi߬
erfolg, den Paula mit einer Ausstellung ihrer Werke in der Kunsthalle zu Bremen
hatte, mag sie in dem Wunsch nach neuen Eindrücken und tieferer Bildung bestärkt
haben. In der Silvesternacht 1899 fährt sie nach Paris, wo die Freundin sie
erwartet.
Mit dem Pariser Ausenthalt beginnt eine neue Epoche ihres Lebens. „Ich
fühle eine neue Welt in mir entstehen", schreibt sie in ihr Tagebuch. Zwar ist der
erste Eindruck mehr betäubend als erheitert, aber nach und nach sammeln sich ihre
Kräfte, und sie beginnt klar zu sehen. Sie zeichnet fleißig Akt. Girandot, Collin
und Gustave Courtois erteilen ihr Korrektur, und sie nimmt eine Fülle neuer künstle¬
rischer Eindrücke und Erkenntnisse in sich auf. Leidenschaftlicher denn je fühlt sie
sich zur Kunst hingezogen. „Ich liebe die Farbe", schreibt sie, „und sie muß sich
mir geben. Und ich liebe die Kunst. Ich diene ihr auf den Knien, und sie muß
die Meine werden." Die stärkste Anregung aber bietet ihr der Louvre, der ihr das
„A und O ist" und das einzige Ding in Paris, das keinen Haken hat.
In jenen Monaten künstlerischen Reifens beginnt auch noch ein anderes
Reifen in ihr. Unter dem Einfluß der Liebe wird das Weib in ihr wach. „Und
dann fängt es an, menschlich in mir zu tagen. Ich werde Weib. Das Kind beginnt
das Leben zu erkennen, den Endzweck des Weibes, und harret feiner Erfüllung-
Und es wird schön werden, wundervoll."
Mit der Liebe schleicht sich der Konflikt in Paulas bis dahin ungetrübtes
Leben. Der Konflikt zwischen den Pflichten einer bürgerlichen Ehe in enger häus¬
licher Gebundenheit und dem Verlangen, ganz und gar der geliebten Kunst zu
leben. Noch ehe ein bindendes Wort gesprochen ist, muß etwas wie eine Vor¬
ahnung ihres Schicksals über sie gekommen sein. „Ich bin seit Tagen traurig, tief¬
traurig und ernst. Ich glaube, die Zeit des Zweifelns und des Kampfes wird
kommen. ... Ich wußte, daß sie kommen mußte. Ich habe sie erwartet."
Im Spätsommer 1900 kehrt sie nach Worpswede zurück, und im Herbst des
Jahres hält Otto Modersohn um ihre Hand an. Darauf geht sie einige Zeit nach
Bremen zu ihren Eltern und dann nach Berlin, um kochen zu lernen und ihre Aus¬
steuer zu besorgen. Sie ist zunächst vom Glück überwältigt. „Das Leben ist ein
Wunder", schreibt sie an den Geliebten. „Es kommt über mich, daß ich oftmals die
Augen schließen muß____Es überrieselt mich und durchleuchtet mich und schlägt in
mir satte verhaltene Farben an, daß ich zittere. Ich habe ein wundervolles Gefühl
der Welt gegenüber____Ich gehe an Deiner Seite und führe Dich an der Hand.
Und unsere Hände kennen sich und lieben sich und ihnen ist wohl."
Aber während ihres Aufenthalts in Berlin, wo sie ihre Kräfte teilen muß
zwischen Kochen, Einkaufsgeschäften und der Kunst, da beginnen die ersten ganz
leisen Trübungen. Es fällt ihr schwer, diese Doppelexistenz zu tragen. In ihren
Briefen bekennt sie sich aufs neue begeistert zur Kunst. „Die Kunst ist doch das
Allerschönste." „Ich fühle stark, wie alles Bisherige, was ich von meiner eigenen
Kunst erträumte, noch lange nicht innerlich genug empfunden war. Es muß durch
den ganzen Menschen gehen, durch jede Faser unseres Seins." Und dann, meist
ganz am Schluß ihrer Briefe, schreibt sie mit einem Seufzer: „Und das Kochen! ...
Das kommt auch noch." Oder: „Und das Kochen? Ich sage Dir, ich lerne."
Und endlich hält sie es nicht mehr aus, nicht in der Stadt, deren Steinmauern sie
bedrücken, nicht in den Haushaltsgeschäften, die ihre Seele hungern lassen. Ent¬
gegen einer mütterlichen Aufforderung, noch länger in Berlin zu bleiben, verläßt
sie die Stadt und eilt dem Geliebten entgegen. Pfingsten 1901 findet ihre Ver¬
mählung mit Otto Modersohn statt. Modersohn brachte in diese Verbindung aus
seiner ersten Ehe ein Töchterchen mit.
Die Bekenntnisse aus dieser Zeit klingen wie schwere Enttäuschungen. „In
Meinem ersten Jahr der Ehe habe ich viel geweint." Und ein andermal: „Es ist
Meine Erfahrung, daß die Ehe nicht glücklicher macht. Sie nimmt die Illusion,
die vorher das ganze Wesen trug, daß es eine Schwesternseele gebe." Und doch
liebt sie den Gatten zärtlich und schreibt ihm bei gelegentlichen Trennungen Briefe
voll innigsten Empfindens.
Aber sie kommt zu der Erkenntnis, daß das „Alleinwandeln" gut sei; „es
Zeigt uns manche Tiefen und Untiefen, deren man mit zweien nicht so gewahr
würde." Und mitten in Schmerz und Tränen durchrieselt es sie wie eine Offen¬
barung. „Merkwürdig, mir ist es, als ob meine Stimme ganz neue Töne hätte.
Ich fühle es größer werden in mir und weiter. Wolle Gott, es würde etwas
mit mir."
Und nun beginnt eine neue Studienzeit für sie. Im Frühjahr 1903 geht sie
Zum zweitenmal nach Paris. Zwei Dinge sind es jetzt vor allem, die ihr aufgehen.
Sie notiert sie in ihrer charakteristischen Weise. „Auf das Hauptsächliche Gewicht
legen!" und „Die große Einfachheit der Form, das ist etwas Wunderbares."
„Es brennt in mir ein Verlangen, in Einfachheit groß zu werden."
Nach einigen Wochen kehrt sie nach Worpswede zurück, um 1905 wieder nach
Paris zu gehen. Ein letzter längerer Aufenthalt in Paris war ihr im Frühjahr 1906
vergönnt.
Sie hatte sich ganz und gar zu dem Eindruck durchgerungen, daß die In¬
tensität und die Innerlichkeit, mit der ein Gegenstand vom Künstler erfaßt werde,
das Entscheidende sei in der Kunst. In ihren Tagebuchblättern finden wir die
Worte: „Die Stärke, mit der ein Gegenstand erfaßt wird (Stilleben, Porträts oder
Phantasiegebilde), das ist die Schönheit in der Kunst." Wie eine prophetische
Weissagung klingen diese Worte; das kommende Geschlecht schrieb sie mit güldenen
Buchstaben auf seine Fahne.
Daß Paula selbst innerlichst erfüllt war von ihren Werken, daß das Ver¬
langen nach einem letzten künstlerischen Ausdruck unablässig in ihr rege war, das
bezeugen die schönen Worte, die sie im Januar 1906 an ihre Mutter schrieb:,
„Dieses unentwegte Brausen dem Ziele zu, das ist das Schönste im Leben. Dem
kommt nichts anderes gleich. Daß ich für mich brause, immer-, immerzu, nur
manchmal ausruhend, um wieder dem Ziele nachzubrausen, das bitte ich dich zu
bedenken, wenn ich manchmal liebearm erscheine. Es ist ein Konzentrieren meiner
Kräfte auf das Eine."
Das Schicksal hat sie nicht ausreifen lassen. Sie hatte Mutter werden wollen.
Sie wurde es im November 1906, wo sie einem Mädchen das Leben schenkte. Dieses
Leben wurde ihr Tod. Wenige Wochen nach der Niederkunft erlag sie einem Herz¬
schlag, der wohl die Folge eines zu frühen WiedeMtigseinwollens gewesen ist.
Die Kunst dieser frühvollendeten Frau ist ein eigenes und selbständiges
Ding. Dieser Satz mich vorangestellt werden. Er schließt Anregungen und Ein¬
flüsse von Bedeutung nicht aus. Von den Worpswedern war schon die Rede.
Unter ihnen gebührt Mackensen der Vorrang. Er war es, der sie mit Entschieden¬
heit auf das ihrer Natur gemäße Stoffgebiet des bäuerlichen Lebens hinwies.
An Overbeck entzückte sie die „tollkühne Farbe", Vogeler wirkte anregend auf ihre
Phantasie. „Der ganze Mensch wirkt märchenhaft auf mich", sagte sie einmal.
Dagegen ist der künstlerische Einfluß ihres Gatten sehr gering gewesen.
Um so stärker hat Frankreichs Kunst auf sie gewirkt. C6zanne und Gauguin
sind ihre Lehrmeister gewesen. Sie nennt sie zwar nicht, aber ihre Werke sprechen
es deutlich aus. Neben ihnen hat Hoetger, zu dem sie auch in freundschaftlicher
Beziehung gestanden hatte, ihre Kunst gefördert.
Aber sie nahm von allen diesen Künstlern nur das an, was gleichsam im
Keim in ihrem eigenen Wesen enthalten war und organisch in dasselbe überging-
In ihrer Kunst zeigt sich eine Selbstbeschränkung, die man weise nennen könnte,
wenn sie nicht zugleich so unbewußt anmutete. Sie versucht sich nie in der „großen
Komposition". Sie vermeidet alle figurenreichen Bilder. Sie läßt das Dramatische,
sowie dus Epische unberührt. Auch ist der Stoffkreis, den sie sich wählt, ver¬
hältnismäßig begrenzt. Ihr Hauptthema sind die Bauern ihres geliebten Worpswede.
Unter ihnen bevorzugt sie die Frauen und Kinder. Sie malt sie bald als Porträts,
bald in ganzer Figur, bekleidet sowie als Akt. Dazu gesellen sich einige Modelle
ihrer Pariser Zeit, die sie zu schlichten Kompositionen verwendet. Endlich! dienen
ihr Blumen, Stoffe, Früchte, Geräte u. tgi. als Vorlagen für ihre Stilleben. Hin
und wieder malt sie eine Landschaft oder ein Porträt von Freunden und Bekannten,
Häufiger Selbstporträts.
Was nun aber ihrer Kunst an Weite abgehen mag, das ersetzt sie durch
Intensität. Die Innerlichkeit, mit der sie ihre Gegenstände erfaßt, ist es, die
ihren Bildern ein so eigenes Leben verleiht. Das Zufällige, Vielfältige, das jeden,
Ding einen zwiespältigen Charakter verleiht, fehlt in ihren reifen Werken. Ihre
Gestalten wirken einheitlich; sie sind auf einen großen Ton eingestellt. Ob sie das
Dumpfe, noch Unaufgewachte des Kindes schildert, oder das Erschauern einer in
Andacht versunkenen Bäuerin vor einer höheren Gewalt, oder den Säugling an
der Brust der Mutter — überall zeigt sich derselbe Drang, in der zufälligen Er¬
scheinung das Bleibende, am einzelnen Subjekt nicht haftende allgemein Menschliche
Zur Erscheinung zu bringen. Dieses allgemein Menschliche hat sie in einigen
Bildern zu einer monumentalen Größe zu steigern gewußt.
Ihre Mittel sind frei von aller Routine. Ein fast kindlicher Zug geht durch
ihre Kunst. Der Gehalt ihrer Bilder ist oft viel reifer als die Form. Man fühlt
ihr an, daß sie mit der Materie hat kämpfen müssen.
Aber sie war sich der Richtung, in der sie gehen mußte, vollkommen bewußt.
"In Einfachheit groß werden", das war der eine Weg. Dieser Zug zur Verein¬
fachung war ihr eingeboren und bedürfte nur der Entwicklung. Der andere Weg
führte sie zur Farbe. Jenes letzte, geheimnisvoll Unaussprechliche, was sich in
Linien und Formen nicht mehr fassen läßt, das eben soll die Farbe übermitteln.
Es sind jene Dinge, von denen Paula einmal sagte, daß sie sie in sich fühlte wie
ein leises Gewebe, ein Vibrieren, ein Flügelschlagen, ein zitterndeK« Ausruhen.
Und so kreist denn ihr künstlerischer Trieb immer wieder um das eine Ziel, die
Farbe. Ihre Werke, in erster Linie die Stilleben, sind ein Versuch, die ganze Skala
farbiger Möglichkeiten zu erfassen und den Ausdruckswert der Farbe in seinem
Zollen Umfang zu ergründen. Die Farbe war ihr auch zugleich ein erwünschtes
Mittel, das dekorative Element in ihren Bildern, auf das sie ein entschiedenes Gewicht
legte, zu steigern.
Sie starb zu früh, um ausreifen zu können. Etwa um die Jahrhundertwende
herum fängt der eigene Charakter ihrer Kunst an hervorzutreten. Die bedeutendsten
Werke sind in den letzten Jahren ihres Lebens entstanden. Was noch aus ihr
hätte werden können, wenn sie länger gelebt hätte, steht dahin. Aber das ist gewiß,
baß ihr Werk von einem Menschen zeugt, dem die Kunst der Ausdruck innersten
Erlebens war. Und so hat man mit Recht von ihr gesagt: Sie stand an der Schwelle
^'ner neuen Zeit als deren Verkünderin.
Das erste größere Werk, das den Versuch macht, Paula Modersohn als
Menschen wie als Künstler zu charakterisieren, ist das schöne Buch von Gustav
Pauli /) dem Direktor der Hamburger Kunsthalle. Es schildert zuerst das Leben
der Künstlerin und wendet sich dann zu ihrer Kunst. Die Lebensgeschichte ist an¬
legend erzählt; die Kunst ist glücklich charakterisiert und mit feinem nachempfinden
^würdigt. 58 Abbildungen bieten dem Leser einen anschaulichen Eindruck von
'drein Werk. Die beste Ergänzung zu diesem Buch bieten Paulas Briefs und Tage¬
buchblätter, die unter dem Titel „Eine Künstlerin" 1919 im Verlag von Franz
^uwer in Bremen erschienen sind.
Wenn Teile eines besiegten und geknechteten Volkes in einem Augenblick, da
dieses Volk als einziges unter allen seinen Nachbarn völlig entwaffnet wurde, em
Propaganda gegen den Krieg eröffnen, so kann das nur heißen, daß diese Bevou -
rungsteile bewußt oder unbewußt im Dienste des knechtenden Feindes arbeiten.
Unter dem Losungswort: „Nie wieder Krieg!" haben die von der An^
hängigen Sozialdemokratie organisierten Kriegsverletzten und Kriegsopfer "
Berliner Lustgarten demonstriert. Unmöglich, sich denselben Arbeiter in eine"
Demonstrationszug vorzustellen mit dem Losungswort: „Nie wieder Streik!" Die¬
selben Deutschen, die den antikapitalistischen Bürgerkrieg schüren, weisen den Fran¬
zosen den sicheren und gefahrlosen Weg zur kapitalistischen Ausbeutung des ganzen
deutschen Volkes.
Natürlich durfte unter den Jnschriftstafeln dieses jammervollen Zuges auch
eine Tafel mit der Inschrift: „Wir sind die Opfer der Kriegspolitik Wilhelms II."
nicht fehlen. Das Eingeständnis unserer Schuld bildete die regelmäßige Aufgabe
zu jedem Fußfall vor dem Feind. Den Abschluß bildete ein geschmackloser Funk¬
spruch an die Kriegsteilnehmer aller Länder: „Über alle Grenzen hinweg senden
wir euch unsere brüderlichen Grüße." Dieser Deutschen herzliche Grüße werden
den „Kriegsteilnehmer" FoÄ, gewin auch dann noch empfangen, wenn er „über alle
Grenzen hinweg" einmal selbst an der Spitze seiner brüderlichen Scharen im Berliner
Lustgarten erscheinen sollte.
In denselben Tagen hielt der Verband nationalgesinnter Soldaten in Berlin
eine Gedenkfeier ab, in welcher der ersten Tage des Krieges, da das ganze Volk in
Einigkeit, Vertrauen und Opfermut zusammenstand, gedacht wurde. Nach den
Presseberichten wurde dort die Hoffnung ausgesprochen, daß „wir die alten Fahnen
wieder in Euren entfalten können", und ein Vertreter der märkischen Jugend
beteuerte, daß die aufwachsende Generation an einen Friedrich den Großen der
Zukunft glaube.
Nicht umsonst aber haben die Franzosen, treu unterstützt von den deutschen
Linksradikalen, die Struktur des deutschen Staates so tief zerstört, daß vorderhand
noch jene ergebenen Helfer des Fmnzosentums bei uns den Ausschlag geben. Erst
wenn nach der Logik der Geschichte die Franzosen selbst die verblendeten Massen in
Deutschland durch Fremdherrschaft und Aussaugung zur Besinnung gebracht haben
werden, kann jener schöne Traum der Jugend auch von uns Älteren geteilt werden.
hat Dr. Simons einem Schweizer Reporter mitgeteilt, denn Leute von seinen
Fähigkeiten wären doch selbst im heutigen Deutschland selten. Dazu stimmt die
Information meines oberschwäbischen Gewährsmannes, der berichtet, daß hinter
Biberach, wo seit Monaten das Unterzeug des Exministers weißgewaschen wird, die
Abwässer jetzt schon so hell fließen, daß sie von klarem Wasser fast nicht mehr zu
unterscheiden sind. Mein Gewährsmann ist dank seiner ausgezeichneten Beziehungen
auch schon in der Lage, anzudeuten, wen der Reichskanzler Erzberger in sein neues-
Kabinett hereinnehmen wird. Erzberger geht mit seiner bekannten Menschenkenntnis
und Schlaue davon aus, daß der Deutsche jeden Staatsmann lieb hat, sei er auch
noch so hereingefallen, wenn er nur ein ehrenhafter, anständiger Bürger ist. Alle,
ob sie nun Fehrenbach oder Bauer hießen, erhielten pränumerando ihren Lorbeer-
und postnumerando, wenn sie gegangen wurden, ihren silbernen Myrtenkranz. Des¬
halb plant Erzberger, sein Kabinett ausschließlich aus gewesenen und erprobten
Reichskanzlern zusammenzustellen. Um dem deutschen Volk zu gefallen, soll scherde-
mann das Innere und die Justiz, Fehrenbach das Äußere und den Verkehr (aus¬
genommen den mit Llohd George), Erzberger selbst die Wirtschaft Punz Max von
Baden die Arbeit, Bauer die Kultur, Bethmann Hollweg die Post, Mutter das
Militär und Kapp das Luftwesen erhalten. Da Hertling, von welchem wahrend
seiner Neichskanzlerzeit nie recht festzustellen war, ob er schon gestorben >pare oder
»och lebte, jetzt wirklich in einer besseren Welt weilt, soll or Wirth die Finanzen
behalten, zumal er Erzberger den Anspruch, der einzige tolle Bursche in diesem
Kabinett zu sein, nicht streitig macht und man außerdem Frau or Wirth acht jetzt
schon wieder einen Umzug von Berlin weg zumuten kann. Weil sich sämtliche Alt¬
reichskanzler der besten Frische erfreuen (wie hätten sie sonst ihren Anteil an Deutsch¬
lands Geschichte so tragen können), und da Deutschland bekanntlich nur einmal
prompt und mit sicherem Instinkt seine gewohnte Langmut vergessend, sich einmütig
Segen einen Minister aufgelehnt hat (es war Bismarck), so darf man demi Kabinett
Erzberger ein langes Leben voraussagen. Wir beglückwünschen dazu im voraus die
politischen Talente Deutschlands, die hierdurch wie bisher noch weitere Gelegenheit
erhalten, völlig unentdeckt und unerkennbar in der Stille zu wachsen und zu gedeihen.
Wir Verfasser von „Offenherzigkeiten" werden freilich unser undankbares Handwerk
vollends aufgeben müssen. Die Revolution und die Republik hatten uns neue Zeiten,
neue Männer verheißen. In Wirklichkeit sehen wir seit zwei Jahren mit Ausnahme
der Hölz und Toller, lauter alte Figuren aufziehen, wie Zinnsoldaten, die auf
einem ewigen Band aufgeklebt über eine Brücke gekurbelt werden, um eine uner¬
schöpfliche Armee vorzutäuschen. Um Abwechslung in das Spiel zu bringen, sollte
Dr. Simons für das prophezeite Erzbergerkabinett wenigstens Zehngebote-Hoff¬
mann vorschlagen, der unter den jüngeren Talenten des Parlaments hervorragt und
den wir nur zu kurze Zeit genossen haben, so daß er wohl schon wegen der Pensions¬
berechtigung und der erst halbfertigen Marmorbüste in Haenischs Vestibül noch
einmal Minister werden müßte.
Die französischen und englischen Könige, Richelieu und Cromwell haben jeden
selbständigen Willen gebrochen, der sich in den Provinzen regte. Die Nation hat in
Paris oder London ihren Kopf, der allein politisch disponiert und befiehlt. Das
findet der Deutsche öde und starr, er will aus Berlin schimpfen und mit seinem
besseren Pfälzer oder thüringischen Menschentum eigene Politik machen. Wir haben
an Stelle eines Zentrums noch viele Dutzende von Zentren, die Politik machen.
Darum haben wir keine gute und große Zmtralpolttik, sondern sich gegenseitig
reihende und aufreibende Partikularenergien, die in ihrer Eigenbedeutung die Freude
Frankreichs sind.
Aber sowie der Deutsche in fremde Dienste tritt, und er allein ist dazu so richtig
imstande, wird er bedingungslos zentralistisch, fanatisch. Der „Franzose" Weygand,
der „Pole" Haller und der „Russe" Wrangel beeifern sich jetzt mit deutscher Erb¬
tüchtigkeit, nebst ungezählten anderen Deutschgeborenen, das Werk Bethmann-
Hollwegs in Warschau zu sichern und sein Wort aus dem Jahr 1915 wahr zu machen:
„Nie wieder darf der Kosak und der russische Tschinownik nach Polen zurückkehren,
das wir von russischer Mißwirtschaft befreit haben." Ein preußischer Offizier, der
im November 1918 in meinem Wohnort die rote Fahne als mit der Ehre eines vor¬
beimarschierenden preußischen Soldaten unvereinbar herabgerissen hat, verteidigte im
August 1920 den Warschauer Brückenkopf unter Oberst Burckhard mit deutsch er¬
zogenen Posener Truppen, so daß sich der russische Ansturm brach. Deutsche schützen
die polnische Mißwirtschaft gegen die russische, dienen Großfrankreich am Rhein
und Kleinfrankreich an der Weichsel, und vergeblich warten Graudenz, Bromberg und
Thorn — deutsche Städte und polnisch-französische Zwinguris — auf den
russischen Befreier, der sich totläuft an Warschau, das von den Russen selbst befestigt,
von den Deutschen verstärkt und ausgebaut, heute gegen beide dient.
Der Begriff der Neutralität wird allem Anschein nach dem deutschen Volk, das
jetzt waffenlos zwischen dem waffenstarrenden Osten und dem waffenstarrenden
Westen liegt, noch viele Trübsal bereiten. Es wäre deshalb gut, wenn wir
endlich erführen, was Neutralität eigentlich ist. Vor dem Krieg wußten
es unsere deutschen Völkerrechtslehrer genau und ließen jeden im Nigorosum
durchfallen, der es nicht wußte. Dann erfuhren wir aber im Krieg so Wider¬
sprechendes, und die belgischen Heckenschützen, Weniselos, die N01'., die LSS.
und Wilson gewöhnten uns an so eigenartige Neutralitätsbegriffe, daß wir gerne
wenigstens nach dem Krieg etwas Authentisches erfahren hätten. Jetzt erleben wir
aber im polnisch-russischen Krieg wieder, daß jeder diejenigen Handlungen neutral
nennt, die seinen Freunden nützen und seinen Feinden schaden. Im Brüsseler
Kabinett ist großer Streit. Der franzosen- und polenfreundliche Außenminister
erklärt, Durchgangsverkehr der Munition für Polen wäre neutral, und der bolsche-
wistenfreundliche Justizminister Vandervelde sieht darin eine Verletzung der Neu¬
tralität. Man einigte sich auf die Formel, vorläufig die Neutralität aufrechtzuerhalten,
d. h. jeder bleibt bei seinem gegensätzlichen Auffassen des ominösen Worts; die
Folge dieser „Einigung" war eine Käbinettskrisis. Die deutschen Arbeiter sehen im
Durchführen von Kriegsgerät an die Polen eine unneutrale Handlung, die Franzosen
im Verweigern der Durchfuhr. Der englische Statthalter der deutschen Stadt Danzig
verbietet zuerst, als das Kriegsglück den Russen lächelt, die Waffendurchfuhr, weil
England die Bolschewisten nicht reizen will, erlaubt sie dann, als es den Polen an¬
fängt gut zu gehen, als unneutral, und das „Journal des D6half" schreibt dazu:
„Während des ganzen Krieges konnten sich die Alliierten Munition von den Neu¬
tralen verschaffen, ohne daß sie dieserhalb ihre Neutralität verletzten. Als die Ver¬
einigten Staaten noch lange nicht im Krieg waren, haben wir uns Kriegsgerät aus
Amerika in größten Mengen kommen lassen und ebenso aus der Schweiz. Heute soll
diese ganze Taktik, aus der wir Nutzen gezogen haben, umgestoßen werden, damit
Polen in seinem Daseinskampf behindert werde."
Dagegen sieht Frankreich einen deutschen Neutralitätsbruch darin, wenn wir
den Russen Sensen oder Lokomotiven verkaufen wollen. Es ist also dringend er¬
forderlich, daß der Begriff der Neutralität endlich einmal klar definiert wird und
das AA., Rechtsabteilung (weiland or. Simons) könnte sich ein Verdienst erwerben,
indem es zur Bearbeitung der Preisaufgabe aufforderte, durch welche feinen Merkmale
sich der Begriff Neutralität eigentlich von dem des französischen oder je nachdem briti¬
Rücksendung von Manuskripten erfolgt nur gegen beigefügtes Rückporto.
Nachdruck sämtlicher Aufsätze ist nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlages gestattet
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ergänzt. Dabei sin6 NÄinentlieli KulturZsscliictitlicKe LetraclitunAsn vertieft
un6 politische LeKIsZIictiter senSrfsr nerausZeardeitst wor6en. Die ?resss
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Verlag Eduard Hinze!, Wie« IV. Fmsengalst »
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Wer sich Über die Ausgaben des Deutschtums er den
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Klarheit verschaffen will, und die verwickelten StoatS-
und Wirtschaftsprobleme dieser Länder im Sllbosten
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keiten sür deutsche Kultur und Wirtschaft an der Ha"d
von Aussähen erster Sachkenner kennen lernen will,
der lese die „Deutsche Arbeit"
die einzige Zeitschrift, die sich die Vermittlung
besseren gegenseitigen Verständnisses zwischen dem
Deutschen Reiche und den Deutschen im Südosten z»r
Sonderaufgabe gemacht hat.
Die Rechtslage der OsiProvinzen
nach seur Frieöensvertrage
Line «ZZuellensammlung
Herausgegeben im Auftrage der Deutschen Vereinigung in Brombers
von Carl Georg Bruns
Preis 4,50 Mark.
R. F. Roehler, Verlag, Abteilung Grenzboten, Leipzig.__
u den bedenklichsten Folgen einer siegreichen Kappisterei, deren Ur¬
heber übrigens gerade des sozialdemokratischen Generalpardons
würdig gewesen wären, hätte die Rettung der parlamentarischen Idee
gehört. Eine Diktatur, von welcher Seite sie immer kommen möge,
muß jeder Art von Volksvertretung feindlich gegenüberstehen. Auch
wenn sie nach napoleonischer Methode Plebiszite veranstaltet oder sich eine Kammer
nach Vorschrift wählen läßt, gelingt es ihr nicht, programmgetreue Demokraten zu
täuschen. Ihr heuchlerischer Versuch, die parlamentarische Form zu wahren, wird
ihr von den Prinztpienfesten höchstens als eine der üblichen Verbeugungen an¬
gekreidet werden, die das Laster vor der Tugend macht; die mitleidlose Enthüllung
der Komödie vorm In- und besonders vorm Auslande tut dann das übrige, um den
genotzüchtigten parlamentarischen Gedanken erst recht zu glorifizieren. Kapp hätte
indes selbst auf diese Äußerung seiner Gewissensbisse verzichten müssen. Denn was
ihn auch, neben den Döberitzer Schwierigkeiten, zu seinem übereilten Verstoße
getrieben haben mag: die Hoffnung, schon im März oder April 1920 eine nationale
Reichstagsmehrheit zu erhalten, kann es sicher nicht gewesen sein. Dafür ist Deutsch¬
land noch lange nicht reif. Dafür haben wir noch bei weitem nicht genug Jammer,
Not und Schande erlebt. Der Parlamentarismus und die soziale Parvus-Republik
müssen sich erst noch ganz anders, noch viel herrlicher offenbaren. Der Kappzug
unterbrach verhängnisvoll eine gesunde, wenn auch bittere und schmerzliche Ent¬
wicklung; er war geeignet, die Weltblamage der deutschen Demokratie aller Schattie¬
rungen zu verschleiern und ihr Gesicht zu retten. Während uns nach menschlichem
Ermessen eine Wiederholung des 9. November wenigstens auf hundert bis zwei¬
hundert Jahre erspart bleiben wird, wenn wir erst einmal die Segnungen der Revo¬
lution bis zur Neige ausgekostet haben, bedeutet jede Kapptat und jeder Rechts¬
putsch überhaupt eine annoch strafbare Unterbrechung der Schwangerschaft. Laßt
das Kind der Zukunftsstaat-Agitation im Mutterleib ausreifen, stört den weniger
heiligen als heilsamen Vorgang nicht! Erst müssen einmal dem braven deutschen
Volke die Augen übergehen, ehe sie ihm aufgehen. Michel um den Anblick des
Scheusals bringen, heißt ihn neuer Versuchung zugängig machen.
Gegen das Spießerwort, daß es nicht besser werde, bevor es nicht ganz schlimm
geworden ist, sind gewiß Einwendungen möglich. Auf völlige Zerstörung unserer
Sittlichkeitsreserven und unserer Wirtschaftskraft dürfen wir es zweifellos nicht an¬
kommen lassen. Dies ist ja auch der stärkste Einwand wider den von Fanatikern und
Illusionisten gepredigten nationalen Bolschewismus. Das mühsam errungene
Kulturgut von Jahrhunderten, Persönlichkeitsglaube und Persönlichkeitswerte, in
Stürmen zu erhalten und nicht Augenblickserfolge halber aufzugeben, ist für unser
völkisches Dasein genau so wichtig, wie die Bewahrung der Wirtschaftsform, der
Leitung deutscher Arbeit durch freie Sachverständige. ?iiris va-ut Kiön uns messe;
das Wetter wird vorübergehen, duck dich, es will seinen Willen ha'n aber unsere
Nachgiebigkeit in dieser Frage wird immer nur scheinbar sein. Ganz anders steht's
auf dem politischen Schachbrett. Hier mag sich der radikale Wahnsinn überschlagen?
hier mögen die Schwätzer und Stümper und Futterkrippensetzer ihre Unfähigkeit bis
aufs letzte dartun. Daß sie's nicht bis aufs allerletzte tun können, dafür wird dann
in entscheidender Stunde das an den Abgrund gezerrte Volk schon sorgen.
Vom Parlamentarismus, von der Demokratie, vom Zukunftsstaate hat es sich,
mit.seinigen Versprechungen übermästet, alles Erdenglück versprochen. Man wird
ihm aus seiner Leichtgläubigkeit gerechterweise keinen Vorwurf machen. Fünfzig
oder sechzig Jahre lang morgens, mittags und mitternachts immer dasselbe Lied
zu hören, in jedem Leitartikel jedes dreimal täglich erscheinenden Blattes; auf
hunderttausend Wahlversammlungen und Zahlabenden ohne Unterlaß und Unter¬
brechung die köstlichen Prophezeiungen zu vernehmen, die der Mühselige und Be-
ladene so gern einsaugt — welche schlichte Widerstandskraft ist dem gewachsen? Wer
kann Ochsen widerstehen? fragt Heinrich Heine, der damit nicht bloß Zeus gemeint
hat. Und so mußte die Probe auf die Rechnung gemacht werden. Jetzt kommt
alles darauf an, unsere Nation durch den Augenschein, durch grimme Erfahrungen
am eigenen Leibe von der schöpferischen Kraft des Parlamentarismus, von der Auf¬
richtigkeit und Redlichkeit der demokratischen Maschine, von der Nahrhaftigkeit des
Zukunftsstaates zu überzeugen, in welchem der Verkündigung nach Brot genug für
alle Menschenkinder wächst, und Rosen und Myrten, Schönheit und Lust, und
Zuckererbsen nicht minder.
Der Heilungsprozeß ist in vollem Gange. Stören wir ihn nicht, lassen wir
vielmehr die Tatsachen für sich sprechen, während im Reichstag immer ohnmächtiger
werdende Bonzen auch nur noch für sich, ohne aufmerksame Hörerschaft, sprechen,
dann wird die rettende Stunde der allgemeinen Erkenntnis bald genug schlagen-
Unter der unbedingten Herrschaft des Parlamentarismus — wir sind, die Auguren
bestätigen es unaufhörlich, das freieste Volk der Erde — haben wir unsere Freiheit
an die fremden Sklavenvögte verloren, verwahrlosen Ordnung, Sicherheit, An¬
ständigkeit der Gesinnung im Eilzugstempo. (Eilzugstempo im Sinne der früheren
Fahrpläne.) Die Demokratie gibt die politische Macht der Straße; aus den
Kaschemmen hervorgekrochene, aus den Zuchthäusern und Irrenanstalten entlaufene
Mitbürger machen die großen Demonstrationen imposant und temperamentvoll,
zwingen der öffentlichen Meinung ihre Meinung auf. Allmählich wird man ja selbst
in Deutschland Zeitungen lesen lernen lest nur die Zeitungen, Zeitgenossen!
Weil hundert Eisenbahnbeamte wegen dreisten Eisenbahndiebstahls in Hast ge¬
nommen werden mußten, traten vor wenigen Monaten sämtliche Eisenbahnarbeiter
einer großen Direktion in den eigens dafür hergerichteten Aufstand: die
Arbeiter der Merlcmdzentrale Lübeck legten ruhevoll das Werk still, weil ein
Herr Kollege des mehrfachen Diebstahls überführt und deshalb entlassen worden war.
Solche Notizen bringen Hunderttausende zur Besinnung, die leider nicht in der
Lage sind, zu stehlen. Fährt die soziale Republik fort, wissentlich oder unwissentlich
ein schieberisches Drohnenvolk zu züchten, wie es der entartetste Kapitalismus nicht
zustande gebracht hat; geht die Beuteverteilung noch eine Weile fort, die Helphantiasis
der Mächtigen, und steigen dank der behördlich privilegierten Tagedieberei Waren-
und Lebensmittelpreise weiter, dann wird den Nachgeborenen beim bloßen Klang
der Zauberworte Parlamentarismus, Demokratie und Zukunftsstaat Ekel ohne¬
gleichen die Kehle würgen. Dann ist die Nation gegen diese Säfte immun.
Die Früchte am Baum der Erkenntnis müssen ausreifen. Ein Hochverräter
an der Majestät und der Zukunft des deutschen Volkes, wer sie vorwitzig zur Not¬
reife bringt und neue Täuschungen ermöglicht, eine Wiederholung des Schwindels,
daß Feigen an den Disteln wachsen können! Die Geschichte wird ihm zornvoller
fluchen als den kläglichsten Novemberlingen, die in manchem Sinne gottgewollte
Notwendi
er theoretische Bolschewismus ist eine Abart des Sozialismus.
Er ist im Grunde genommen weiter nichts als der akute Sozia¬
lismus. Er will mit einem Schlage alle Ideale des chronischen
Sozialismus verwirklichen, während der letztere annimmt, daß
das Hineinwachsen des staatlichen Lebens in die sozialistischen
ormen einen gewissen Entwickelungsgang und mithin einen bedeutenden
Zeitraum beansprucht.F
Die Tatsache, daß der theoretische Bolschewismus eine Abart des So-
ömlismus ist, erschwert seine richtige Einschätzung in West-Europa. Der west¬
europäische Kritiker tritt an ihn heran mit einem Maßstabe, der dem Sozialismus
entnommen ist. Deshalb steht er verständnislos gegenüber allen denjenigen
Erscheinungen des Bolschewismus, die sich aus seiner Theorie nicht erklären
Mer. Er fühlt sich dann versucht, solche Erscheinungen für Zufälligkeiten und
Äußerlichkeiten zu halten, die mit dem Wesen des Bolschewismus nichts zu
'Haffen haben.
Näher kommt man dem richtigen Verständnisse, wenn man das Eine
sMält, daß der theoretische Bolschewismus in Rußland praktisch geworden
'se unter Umständen, wie sie dem Sozialismus West-Europas durchaus fremd
V ' Krieg und die Revolution haben nämlich das wirtschaftliche Leben
^ußlands derart geschwächt, daß hier eine Unterproduktion eingetreten ist:
Rußland verbraucht mehr, als es produziert. In West-Europa rechnet der
Sozialismus mit drei Faktoren: Arbeitskraft, Produktionsmittel, Arbeits¬
ertrag. In Rußland kann er nur mit zwei Faktoren rechnen: Mit der Arbeits¬
kraft und Produktionsmitteln. Der dritte Faktor — der Arbeitsertrag — bleibt
teilweise oder ganz weg. Der praktische Bolschewismus ist der akute Sozialismus
der Unterproduktion. Der westeuropäische Sozialismus hat zum Objekt die
Produktion als eine positive Größe. Im russischen Sozialismus, d. h. im Bol¬
schewismus, muß diese Größe als eine negative aufgefaßt werden. Das bringt
in den praktischen Bolschewismus vieles hinein, was dem westeuropäische«
Sozialismus wesensfremd ist.
Der Arbeitsertrag ist das Ergebnis einer Kombination der Arbeitskraft
und der Produktionsmittel. Deshalb sind an ihm interessiert der Arbeiter sowohl,
als auch der Besitzer der Produktionsmittel. Beide leben vom Arbeitserträge-
Wovon sollen sie aber leben, wenn der Arbeitsertrag ausbleibt?
Das ist ein Problem, das der westeuropäische Sozialismus nie ernstlich
ins Auge gefaßt hat. Der russische Sozialismus war aber vor dieses Problem
gestellt und mußte darauf eine Antwort finden, die in der Theorie des Sozialis-
mus nicht enthalten war. Er fand diese Antwort und tat das, was zur Zeit des
Hungers, der Mißernte, überall getan wird: Er schlachtete die Kuh, die keine
Milch mehr gab, er vermählte das Saatkorn . . .
Der Bolschewismus verzehrt die Produktionsmittel, weil die Arbeit un¬
produktiv geworden ist und der Arbeitsertrag ausbleibt.
Das ist eine Beantwortung des obigen Problems, wie sie aus dem Wesen
des Sozialismus heraus nicht gewonnen werden kann. Der Sozialismus wird
es nie billigen, daß die Produktionsmittel verzehrt werden. Die Mannigfaltigkeit
und Reichhaltigkeit der Produktionsmittel bilden ja die Voraussetzung einer
jeden rationellen Arbeit. Erst die Rationalisierung der Arbeit macht sie so
produktiv, daß ihre Produkte zu Vorräten anwachsen können. Vorräte voM
Ertrage geistiger und physischer Arbeit bilden aber die Vorbedingung einer
jeden Kultur. Werden nun die Produktionsmittel vernichtet, so wird die Arbeit
weniger produktiv und sinkt auf ihre primitiven Formen zurück; die Vorräte
der Arbeitserträge verschwinden, und damit wird die Wurzel der Kultur durch"
schnitten. Ein Angreifen der Produktionsmittel ist Naubwirtschaft, diese letztere
aber ist kulturwidrig. Ein Vernichten der Produktionsmittel führt die Menschl
in die Barbarei zurück.
Das alles ist vollkommen wahr und richtig; und die russischen Sozialisten
mögen es sich gleichfalls gesagt und vorgehalten haben. Doch sie hatten keine
Wahl. Sie mußten mit der Unterproduktion rechnen, mit dem chronischen
Hunger. Das hatten sie als Erbe des Krieges und der Revolution übernommen-
Um die Bevölkerung wenigstens am Leben erhalten zu können, mußten sie
Raubwirtschaft übergehen und die Produktionsmittel angreifen. Der BM"
schewismus hat diese Naubwirtschaft ins System gebracht.
Der praktische Bolschewismus ist ein System der Raubwirtschaft.
Faßt man nun den Bolschewismus als Sozialismus des Hungers, der
Unterproduktion auf, so lassen sich daraus all seine Erscheinungsformen restlos
erklären, sowohl diejenigen, die er mit dem westeuropäischen Sozialismus
gemein hat, als auch seine Abweichungen vom letzteren. Von diesem Stand-
Punkte aus gewinnen wir leicht Verständnis sowohl für seinen phänomenalen
Aufstieg, als auch für seinen unabwendbaren Niedergang.
Der Aufstieg des Bolschewismus war schon durch das Zarenregime vor¬
bereitet. Es ist irreführend, den Bolschewismus hauptsächlich auf Lenin zurück¬
zuführen. Er wäre gekommen, auch wenn Lenin in der Schweiz geblieben
wäre. Denn die Vorbedingungen des Bolschewismus: die Unterproduktion
sowohl, als auch ihre Bekämpfung mit sozialistischen Mitteln, hatte noch das
Zarenregime verschuldet oder doch angeordnet.
Die materielle Vorbedingung des Bolschewismus ist die Unterproduktion.
Diese setzte schon mit dem Beginn des Krieges ein. Es hieß, daß die russische
Armee schließlich bis 18 Millionen Menschen umfaßt habe. 18 Millionen der
besten Arbeiter wurden der produktiven Arbeit entzogen. Dazu kamen noch
Millionen von Pferden und Rindern, welche die Landwirtschaft der Armee
liefern mußte. Die Fabriken wurden aus den Grenzgebieten evakuiert; nur die
wenigsten von ihnen wurden im Innern des Reiches wieder eröffnet. Dadurch
Wurde ein großer Teil der industriellen Produktionsmittel und der Arbeitskraft
brach gelegt. Beim Herannahen der feindlichen Front verließen Hundert¬
tausende von Familien als Flüchtlinge ihre Heimat und ihre Arbeit. Außerdem
wurden Hunderttausende von Hilfsarbeitern für die im wirtschaftlichen Sinne
unproduktiven Bedürfnisse der Armee verlangt: Bau von Befestigungen, von
strategischen Straßen, für den Transport. Rechnen wir hier noch diejenigen
Arbeiter hinzu, die in der Kriegsindustrie tätig waren, so dürfte man vielleicht
behaupten, daß wenigstens 25 Prozent aller Arbeitskraft in Rußland durch den
Krieg der produktiven Arbeit entzogen war.
Die Folge davon war, daß in Rußland seit Anfang des Krieges bedeutend
wehr verbraucht als produziert wurde. Man fing an, vom Vorräte zu leben.
Zunächst machten sich die Beschwerden der Unterproduktion kaum geltend.
Die Ernte vom Jahre 1914 verblieb ganz im Lande, da der Export aufhörte.
Doch sah^ im Jahre 1916 machte sich der Mangel der notwendigsten Verbrauchs-
Segenstände bemerkbar, und die Preise zogen an. Rußland mußte sich des Pro¬
blems der Unterproduktion bewußt werden.
In Deutschland war ja dieses Problem noch brennender. Hier versuchte
"wu ihm auf dreierlei Art zu begegnen: 1. Mit individualistischen Mitteln,
durch Gewährung von Vorteilen an die Produzierenden, um sie zur Mehrleistung
Anzureizen, 2. durch das neutrale Mittel der Streckung der Vorräte und der
Aatzwirtschaft, und schließlich 3. durch den sozialistisch anmutenden staatlichen
Angriff in die Produktion und in die Verteilung der Arbeitserträge vermittels
^r Zwangswirtschaft.
Ich kenne das deutsche Wirtschaftsleben viel zu wenig, um darüber
Stellen zu können, um wieviel die Vorteile der Zwangswirtschaft ihre Nachteile
Überwogen. Auf jeden Fall aber machte hier der Stand der Allgemeinbildung
"ud der geschulte ausreichende Beamtenapparat es der Regierung und den
Selbstverwaltungen möglich, die Zwangswirtschaft zu dirigieren und zu kon¬
trollieren. Doch auch so dürfte die Zwangswirtschaft allein, ohne Prämiierung
der Mehrleistungen und ohne die Streckung der Vorräte, wohl kaum ausgereicht
haben, um den Gefahren der Unterproduktion siegreich zu begegnen.
In Rußland dagegen lagen die Dinge ganz anders. Die Entfernungen
sind hier so riesig, die verschiedenen Teile des Staates geographisch und kulturell
so ungleich, und hauptsächlich der Mangel an intelligenten und zuverlässigen
Kräften so enorm, daß eine Zwangswirtschaft hier unbedingt in ein fröhliches
Schiebertum ausarten mußte. Außerdem war ja die offizielle Wirtschaftspolitik
Rußlands von jeher auf den ökonomischen Individualismus, auf die Förderung
der Privatunternehmung eingestellt.
Unter solchen Umständen war das einzig Mögliche — vielleicht auch das
einzig Richtige —, daß der autokratische Staat, in Übereinstimmung mit seiner
individualistischen Wirtschaftspolitik, die Unterproduktion mit individualistischen
Mitteln zu bekämpfen versuchte.
Dazu hätte vor allem gehört die Freigabe der Privatinitiative und die
automatische Prämiierung der Mehrleistung vermittels der natürlichen Aus¬
balancierung von Nachfrage und Angebot.
Der Zarismus hat aber von diesen individualistischen Mitteln bei der
Bekämpfung der Folgen der Unterproduktion keinen Gebrauch gemacht-
Höchstens in der Kriegsindustrie, wo die sozialistischen Methoden als Militari¬
sierung der Arbeit noch am leichtesten anwendbar waren, wurde ab und zu eine
individualistische Prämiierung der Mehrleistung schüchtern angewandt. Es wurde
also nur bei der unproduktiven Arbeit die Mehrleistung belohnt. Die sozialistisch
orientierte Zwangswirtschaft dagegen legte sich mit all ihrem zermalmenden
Druck auf die Landwirtschaft, also auf dasjenige Wirtschaftsgebiet, das bis dahin
noch am produktivsten geblieben war und dessen Produktionsmethoden durchaus
individualistisch sind.
Die agrare Zwangswirtschaft bewegte sich in durchaus negativen Formen-
Sie untersagte in vielem die Privatinitiative, ohne daß die entsprechenden
notwendigen Funktionen vom Staate übernommen worden wären; sie wurden
einfach lahmgelegt. So wurde z. B. durch das Getreidemonopol des Staates
der Saathandel eingeschränkt und der Verkehr auf diesem wichtigen Gebiete
— insbesondere in den Gegenden nahe an der Front — zur Aufgabe des Staates-
Doch meist blieben die Saatlieferungen ganz aus, oder aber sie erfolgten erst
Monate nach der verflossenen Saatzeit.
Außerdem war die Zwangswirtschaft einseitig: sie betraf nur die Land¬
wirtschaft. Arbeitszwang — die Reversseite der Pflichtlieferungen — bestand
nur für die Landwirtschaft als Unternehmung; dagegen die landwirtschaftlichen
Arbeiter waren von diesem Zwange befreit; sie hatten das Recht zu streiken-
Feste, dabei niedrige Preise galten nur für die landwirtschaftlichen Produkte!
die nichtlandwirtschaftlichen Erzeugnisse hatte der Landwirt im freien Handel
zu fortwährend steigenden Preisen zu erwerben.
Überhaupt wurde die Zwangswirtschaft in Rußland zu einem Ins^
mente, mit welchem der Staat aus der Landwirtschaft zugunsten der nicht
Produzierenden Klassen das Menschenmögliche herauspreßte. Der Staat trieb
Raubwirtschaft mit der Landwirtschaft und zwang damit letztere gleichfalls
zum Raubbau.
Allerdings befand sich der Staat in einer Zwangslage. Er hatte sich in
diese Lage dadurch versetzt, daß er jede Privatinitiative unterband. Aus den
riesigen öffentlichen Arbeiten wurde jeder Individualismus prinzipiell aus¬
geschlossen. Die Verpflegung der Flüchtlinge, der Arbeitslosen, der Soldaten¬
familien übernahm der Staat. Neben der ungeheuren Kriegslast hatte er sich
dadurch, daß er die individualistischen Methoden aufgab, eine Riesenaufgabe
aufgebürdet, zu deren Erledigung er weder die Mittel, noch die geeigneten
Arbeitskräfte hatte. Um die Millionen seiner neuen Pfleglinge vor dem Hunger¬
tode schützen zu können, war er eben gezwungen, aus der Landwirtschaft das
letzte herauszuholen. Die Folgen waren doppelter Art:
Damit hatte aber das Zarenregime schon seine bisherigen Grundlagen
verlassen und sich hart an die Grenze des Hungersozialismus begeben. Die
wirtschaftliche Grundlage der Autokratie war der Individualismus. Die Haupt¬
frage des wirtschaftlichen Individualismus heißt: wie steigere ich die Pro¬
duktivität der Arbeit? Daran dachte das Zarenregime nicht mehr. Sein Haupt¬
problem war jetzt: wie erfasse und verleite ich die noch vorhandenen Vorräte?
Das ist aber ein Bestandteil des wichtigsten Problems des Sozialismus. Denn
die Hauptsorge des Sozialismus gilt ja nicht der Steigerung, sondern der Ver¬
teilung des Arbeitsertrages.
Das Zarenregime, von den Folgen der Unterproduktion gezwungen,
hatte also schon die Fragestellung und die Methoden des Sozialismus sich an¬
geeignet. Vom letzteren trennte es nur noch die politische Form: die Gesetz¬
gebung war noch nicht ganz demokratisch. Die politische Form des alten Re¬
gimes mußte aber zerschellen, sobald das Zarentum sich als unfähig erwies,
den neu übernommenen, sozialistisch gearteten Funktionen gerecht zu werden,
d. h. das russische Wirtschaftsleben unter Ausschluß des wirtschaftlichen Indi¬
vidualismus immer mehr zu verstaatlichen. Formell zerbrach das Zarentum
in der Februarrevolution 1917. Tatsächlich aber hatte Nicolaus II. schon damals
sein Szepter der Opposition übergeben, als er den Versuch billigte, die Folgen
der Unterproduktion durch sozialistische Methoden zu überwinden unter Aus¬
schluß der individualistischen Hilfsmittel.
Eigentlich war es ja keine Revolution, an der das Zarentum zugrunde
ging. Es stürzte von selbst, weil es seinen Schwerpunkt weit über seine Grund¬
fläche, den Individualismus, hinausgeschoben hatte. Dabei gab es keine Be¬
völkerungsklasse, die das Zarentum hätte stützen wollen. Die Nichtproduzierenden
waren mit ihm unzufrieden, weil es doch nicht vermocht hatte, die Not von ihnen
fern zu halten. Und die individualistische Landwirtschaft, die einzige tragfähige
Basis einer Regierung Rußlands, war durch den schlechtberatensten aller Kaiser
in dumpfe, unbewußte Opposition getrieben, weil sie die negative und einseitige
Zwangswirtschaft als ihre Knechtung zugunsten der nichtproduzierenden
Klassen empfand.
Die Unterproduktion ist also die materielle Vorbedingung des Bolsche¬
wismus. Die formale Vorbedingung des Bolschewismus bestand aber darin,
daß man versuchte, die Unterproduktion nach sozialistischen Methoden zu be¬
kämpfen. Diese beiden Vorbedingungen hat aber zum großen Teile schon
das Zarenregime geschaffen.
Durch die Unterproduktion und die zwangswirtschaftliche Bekämpfung
ihrer Folgen war das Zarentum schon nahe an den Bolschewismus gerückt.
Sie waren jedoch noch durch eine politische Zwischenwand getrennt: durch das
staatliche Prinzip des Zarentums gegenüber den Klassengegensätzen.
Diese Zwischenwand zertrümmerte die russische Demokratie mit ihrer
Revolution. Mit dem Sturze des Zarentums verschwand in Nußland jede
Macht, die über den Klassengegensätzen stand. Denn eine Macht war das Zaren¬
tum noch immerhin gewesen durch seinen Regierungsapparat, durch die Armee
und durch die Tradition. Zwar hatte die Demokratie gehofft, als Trägerin der
Idee des Kompromisses zwischen Individualismus und Sozialismus, als die
Partei der politischen Mitte, die politische Führung im neuen Rußland über¬
nehmen zu können. Doch da hatte sie die Bedeutung der Idee gegenüber tat¬
sächlicher Macht entschieden überschätzt.
Zwar war auch die russische Demokratie zunächst nicht ganz machtlos.
Das ganze Genossenschaftswesen, die großen Städte- und Landschaftenverbände,
wie auch zum großen Teil die Selbstverwaltungsorganisationen waren meist
demokratisch orientiert. Desgleichen war das Heer durch die erdrückende Ma¬
jorität der Reserveoffiziere schon stark demokratisiert. In der Reichsduma war
der demokratische Gedanke vorherrschend. Das waren immerhin weit verzweigte
einflußreiche Organisationen, die eine gewisse reale Macht darstellten? an diese
Organisationen hätte die staatliche Aufbautätigkeit sich anschließen können.
Doch die russische Demokratie schätzte die organisierende Kraft der poli¬
tischen Idee so hoch ein, daß sie diese schon vorhandenen Organisationen absichtlich
zertrümmerte, um dann den Versuch zu machen, sie auf Grund des demo¬
kratischen Prinzips des allgemeinen Stimmrechts neu zu organisieren. In der
Armee wurden die Offiziere ihrer Autorität entkleidet; die Soldaten sollten
sich unter selbstgewählter Führerschaft organisieren. In allen Selbstverwaltungen
sollten Neuwahlen auf Grund des allgemeinen Stimmrechts erfolgen; an die
Stelle der ernannten Bureaukraten sollte eine gewühlte'Beamtenschaft treten.
Daß mit der Erweiterung der Rechte vieler Bevölkerungskreise auch eine Neu¬
regelung der Pflichten Hand in Hand zu gehen hätte, daß letztere aber längere
Vorbereitung beanspruchte, daran dachte die Demokratie nicht in ihrem Taumel
des allgemeinen Stimmrechts.
Damit war dem Klassenkampfe Tür und Tor geöffnet. Es gab keine
Macht, keine Institution mehr, die über den Klassengegensätzen stände.
Diese absichtlich geschaffene Anarchie nutzten die linksradikalen Elemente
für ihre Zwecke sehr geschickt aus, indem sie neben dem Organisationsprinzip
der politischen Idee das bei weitem praktischere Prinzip der Berufsinteressen
aufstellten. Die Arbeiter eines jeden Betriebes wählten zur Vertretung ihrer
beruflichen Interessen einen Rat von Vertrauensmännern, dessen Beschlüsse
durch das Vollzugskomitee vollführt wurden. (Oft fiel das Berufliche bei der
Interessenvertretung ganz weg, wie z. B. bei den Flüchtlingen). Die Räte der
einzelnen Betriebe schlössen sich dann zu immer höheren Organisationseinheiten
Zusammen, bis schließlich die gesamte Arbeiterschaft des Reiches in den drei
obersten Räten — Soldatenrat, Arbeiterrat, Bauernrat Rußlands — ihre
Vertretung fanden. Das war der Anfang des berühmten Rätesystems. Theo¬
retisch genommen lag ja dem Nätesystem ein gesunder Gedanke zugrunde:
wollte man beim staatlichen Aufbau an keine der bestehenden Organisationen
anknüpfen, so lag es nahe, auf das Organisierende der Arbeit zurückzugreifen.
Es ist nicht zu leugnen, daß die Arbeit, verbunden mit den beruflichen Interessen,
viel sicherer organisiert, als eine politische Idee. Das ist ja auch die Bedeutung
der Zünfte und Gilden gewesen. Das Rätesystem ist ja weiter nichts, als eine
Repristination des Zunftwesens, das unter Umständen staatsbildend wirken
kann.
In der Praxis jedoch kam beim Rätesystem das Klassengegensätzliche zum
Durchbruch. Das hatte zwei Gründe. Erstens gewannen die in kompakten
Massen lebenden Industriearbeiter und die in den Hauptstädten garnisonierten
Reservetruppen beim Organisieren ihrer Räte einen großen Vorsprung der
Bauernschaft und der Frontarmee gegenüber; deshalb waren diese haupt¬
städtischen Arbeiter- und Soldatenräte nachher imstande, die zentrale Macht
im Staate an sich zu reißen. Und zweitens: angesichts der Unterproduktion und
des drohenden Hungers setzte der Verbrauch der Produktionsmittel ein, was die
organisierte Arbeiterschaft in einen scharfen Gegensatz zu den Besitzern der
Produktionsmittel brachte.
So wurde die einseitig proletarische Räteorganisation zu einer Macht im
Staate, der die Demokratie nur die politische Idee des allgemeinen Stimmrechts
entgegenzusetzen hatte.
Die russische Demokratie ging an ihrem Idealismus zugrunde, an ihrem
Glauben an die Macht der politischen Idee und des abstrakten Rechtes. ^
Der Bolschewismus siegte, weil seine Führer erkannt hatten, daß es sich
bei der russischen Revolution weniger um eine politische, als um eine wirtschaft¬
liche Frage handelte. Die Verteilung der letzten Brotrinde während der Hungers-
Seit ist eine Frage der Macht, nicht des Rechtes.
Die Demokratie wollte darüber abstimmen lassen, wer die Verteilung
der letzten Vorräte in die Hand bekommen sollte. Die Hungernden und die
Besitzenden, die Verbraucher und die Produzenten sollten während der Zeit
des chronischen Mangels, während einer Zeit, wo man schon die Produktions¬
mittel verzehrte — also eine Versammlung von gegensätzlichen Interessenten
sollte auf Grund des allgemeinen Stimmrechts eine gerechte Verteilung der
restlichen Vorräte beschließen!
Lenins Bedeutung besteht nun darin, das Weltfreude einer solchen
demokratischen Politik erkannt und beiseite geschoben zu haben. Die letzten
Vorräte während der Hungerszeit wird derjenige nach seinem Gutdünken ver¬
teilen, der die Macht hat, sie zu erfassen und in seiner Hand zu behalten.
Diese Macht hatte vermittels des Rätesystems das Proletariat erhalten¬
den besitzenden und wirklich produzierenden Klassen gegenüber war ja das
Proletariat an Zahl unterlegen. Als zielbewußte Organisation dagegen war
es der desorganisierten produzierenden und besitzenden Klasse an tatsächlicher
Macht weit überlegen. Erst mit der Erkenntnis dieser Macht und mit der Pro¬
klamation der Diktatur des Proletariats gelangte der praktische Bolschewismus
in Rußland zum Siege.
Das ist das Wesentliche des praktischen Bolschewismus: Diktatur des
Proletariats zur Zeit der Unterproduktion.
Lenins Gedankengang ist ja verblüffend einfach: Rußland hungert; alle
Einwohner Rußlands können nicht mehr satt werden. Dann ist es natürlich, daß
derjenige zunächst satt wird, der der Stärkere ist; das ist infolge seiner Organi¬
sation das Proletariat.
Deshalb erfaßt das Proletariat die noch vorhandenen restlichen Vorräte;
das ist die Nationalisation des Besitzes.
Dann übernimmt das Proletariat die Verteilung der Vorräte unter
möglichst weitgehendem Ausschluß der nichtproletarischen Kreise; das geschieht
in der klassifizierten Verbrauchsnormierung.
Versucht man die erfaßten Vorräte dem Proletariat zu entreißen, so
verlangt es sein Lebensinteresse, sie zu verteidigen; das geschieht durch den
Terror dem inneren Feinde, den Kontrerevolutionären gegenüber und durch
die rote Armee dem äußeren Feinde gegenüber.
Darüber hinaus ist der praktische Bolschewismus in Rußland nicht ge^
kommen, kann es seinem Wesen nach wohl auch kaum.
Nur dann könnte mit einer Zukunft des Bolschewismus gerechnet werden,
wenn es ihm möglich wäre, die Produktion in Rußland derart zu heben, daß
nicht nur der Verbrauch mit der Produktion ins Gleichgewicht kommt, sondern
auch die bisherige Unterbilanz durch zukünftige Überschüsse aufgewogen wird.
Ist der Bolschewismus dazu imstande?
Bis jetzt hat man nicht das geringste Zeichen von einer wirklichen Hebung
der Produktion durch den Bolschewismus wahrnehmen können. Im Gegenteil:
Die Vorräte und Produktionsmittel des Nationalvermögens werden immer
mehr verwirtschaftet.
Die Fabriken werden immer mehr stillgelegt, teils aus Mangel an Roh"
Stoffen, teils weil die Maschinen beselt geworden sind. Das Transportwesen
steht schon an der Grenze eines katastrophalen Niederbruches. Der Handel ist
vernichtet, ebenso der Staatskredit, was sich in der Entwertung des Geldes
am deutlichsten kundgibt. Die Wohnungen in den Städten sind verwöhnt;
die Holzhäuser finden zu Brennzwecken Verwendung. Kleider und Schuhe der
Bevölkerung sind abgetragen und können kaum erneuert werden. Eisen-, Kohlen-
und Brennholzmangel wird immer fühlbarer. Salz, Petroleum sind kauw
aufzutreiben. Der Pferde- und Viehbestand verringert sich. Der Boden des
nationalisierten Großgrundbesitzes.ist ausgesogen. Ackergeräte und landwirt¬
schaftliche Maschinen sind abgenutzt. Wenn es auch heißt, daß die Näteregierung
Lokomotiven und landwirtschaftliche Maschinen gegen Goldzahlung im Aus¬
lande bestellt habe, so ist das eben der Verbrauch des letzten staatlichen Vorrates
des Goldfonds nämlich, und kann die Katastrophe um ein Geringes aufschieben,
aber nicht abwenden. Die Lokomotiven allein können das Eisenbahnwesen
nicht retten, wenn die Räteregierung im holzreichen Rußland nicht imstande ist
die Holzschwellen der Eisenbahnen zu erneuern.
Rußlands Vorräte schienen ja unerschöpflich zu sein; deshalb dauert es
eben einige Jahre, bis der Bolschewismus sie erschöpft hat.
Dieses Anwachsen der Unterproduktion erklärt die Räteregierung damit,
daß sie gegen die Gegenrevolution und gegen die Intervention der Entente
anzukämpfen habe. Nun, damit wird die Räteregierung noch lange zu rechnen
haben, daß die Bourgeoisie sich nicht mit Wonne abschlachten läßt und ausschlägt,
solange sie es noch kann. Desgleichen ist es verständlich, daß das Ausland nicht
ohne Wehmut sein schönes Vorkriegsgeld in Rußland verlorengehen sieht. Doch
immerhin fragt es sich noch, ob der Krieg, den die Räteregierung führt, sich nicht
bezahlt macht durch die Konfiskation des bürgerlichen Vermögens und durch die
Annullierung der Staatsschulden. Dann hätte die Produktion Rußlands diese
Kriegskosten eben nicht zu tragen.
Doch hört dieser Kampf auf, so ist für die Produktion damit nichts ge¬
wonnen. Die Räteregierung hat doch die Wahl nur zwischen dem Kampfe gegen
die Intervention einerseits und der Bezahlung der auswärtigen Schulden
andererseits. Und hört die Gegenrevolution in Rußland auf, so werden die
freigewordenen Kräfte und Mittel eben anderswo eingesetzt, nämlich: für die
Weltrevolution.
Es steht also fest, daß die bolschewistische Produktion die Belastungsprobe
der Gegenrevolution und der Intervention nicht vertragen kann. Eine
Besserung — falls andere Gründe der Unterproduktion nicht vorliegen — könnte
nur dann eintreten, wenn nicht nur die Gegenrevolution und die Intervention
aufhörten, sondern auch die Gläubiger Rußlands auf ihr Geld und die Räte¬
regierung auf den Gedanken der Weltrevolution verzichteten, — ein Zu¬
sammentreffen, das kaum im Bereich der Wahrscheinlichkeit liegt.
Mir scheint es aber, daß die Ursachen der Unterproduktion im Wesen
des Bolschewismus liegen. Eine Steigerung der Produktion kann nur auf
dreierlei Art erreicht werden: 1. Durch Verbesserung der Produktionsmittel,
2. durch Arbeitszwang, 3. durch Arbeitsfreudigkeit. Im individualistischen
Kapitalismus sind alle diese Vorbedingungen gegeben; im Bolschewismus
fehlen sie alle drei.
Doch wir können von einer Erörterung der Frage, ob Individualismus
oder Sozialismus zur Bildung von Mehrwerten geeigneter ist, ruhig absehen.
Auch wenn der Bolschewismus seinem Wesen nach imstande wäre, die Produktion
zu steigern, er kann es in Rußland trotzdem jetzt nicht mehr, es ist zu spät.
Ist die Kuh geschlachtet, so kann der beste Obermelker ihre Produktion
nicht mehr steigern. Ist das Saatkorn vermahlen, so hilft keine Agronomie mehr.
Rußland hat seine Produktionsmittel schon zu sehr angegriffen. Infolge¬
dessen ist die Arbeit unproduktiver geworden; sie ist auf eine primitivere Ent¬
wicklungsstufe gesunken. Die Industrie wird allmählich zum Handwerk, das
Handwerk zur Nebenbeschäftigung. Die Geldwirtschaft wird wieder zur Natural¬
wirtschaft, der Handel zum Tausche. Statt der Eisenbahn tritt wieder das
Fuhrwerk in seine Rechte, statt des Fuhrwerks die Fußwanderung. Statt
der Elektrizität und des Gases erscheint wieder die Unschlittkerze, statt der Kerze
der Span, statt des Pfluges und der eisernen Egge der alte Hakenpflug
und die Holzegge; statt der Mähmaschine die Sense, statt der Sense die Sichel,
statt der Dreschmaschine der Flegel und der Ochsentritt, statt des zehnten Korns
das dritte und vierte Korn. An die Stelle der Universität tritt die Volkshoch¬
schule; den Ingenieur verdrängt der Werkmeister, den Arzt der Feldscher, die
Kunst wird zum Dilettantismus. Es ist ein Abbau der Kultur im großen Stile,
verursacht durch die Vernichtung der Vorräte und der Produktionsmittel. Mit
den längst veralteten Arbeitsmethoden, zu denen Rußland gezwungenermaßen
jetzt zurückkehrt, kann man aber nicht mehr so viel produzieren, wieviel die jetzige
Bevölkerungszahl Rußlands verbraucht. Das führt zu einer Entvölkerung
Rußlands.
Zunächst sind es die Kulturzentren, die Städte, die ihre Einwohner ver¬
lieren. Die Städter fliehen in die Landwirtschaft, in die dörfliche Haus¬
industrie, in den Hausiererhandel. Die Kinder, die Alten und Schwachen
sterben natürlich. Sind aber erst die Städte entvölkert, wie soll dann die
sterbende Industrie ihre Produktion steigern?
Das Räterußland hat keine genügenden Produktionsmittel mehr; des¬
halb kann es das Sinken der Produktion nicht mehr aufhalten, falls kein Ein¬
griff von außen kommt. Bleibt Rußland sich selbst überlassen, so wird seine
Barbarisierung sich mit Naturnotwendigkeit bis zu demjenigen Zustande
entwickeln, wo die Produktionsich mit denjenigen Produktionsmitteln begnügt,
welche die Natur bietet und die der Arbeiter selbst sich herstellen kann. Das wird
die primitive Landwirtschaft und das primitive Handwerk sein. Die Landwirt¬
schaft hat in Rußland etwa 86 Prozent der Bevölkerung genährt. Nun, so
müssen die übrigen 15 Prozent eben zugrunde gehen.
Natürlich könnte es zu dieser äußersten Lage nur dann kommen, falls ganz
Europa bolschewistisch wird. Bleibt dagegen in Westeuropa die bürgerliche
Ordnung bestehen, so kann Rußland von ihr nicht hermetisch abgeschlossen
werden. Ihr kulturförderndes Eingreifen wird dann die Entkultivierung Ru߬
lands schon viel früher zum Stillstand bringen.
Der Eingriff von außen in die russischen Verhältnisse — wie ist er denkbar?
Zunächst sind wir Zeugen der kriegerischen Intervention gewesen. Man
hat sie aus allen Himmelsrichtungen und mit den verschiedensten Mitteln versucht;
sie ist aber restlos mißglückt. Und das konnte auch nicht gut anders sein, falls
unsere Wertung des praktischen Bolschewismus als einer Folgeerscheinung
der Unterproduktion zutrifft. Die kriegerische Intervention mußte ihrem Wesen
entsprechend die Unterproduktion steigern und mithin auch die Zahl derjenigen,
die infolgedessen auf den Verbrauch der Produktionsmittel, also auf den
praktischen Bolschewismus, als ihre letzte Rettung, angewiesen waren.
Daß in Rußland selbst der Bolschewismus infolge der kriegerischen Inter¬
vention mächtiger geworden ist, wird jetzt allgemein anerkannt. Doch auch die
Raubstaaten haben es jetzt bitter zu büßen, daß sie den Lockungen und Ein-
flüsterungen der Entente nachgaben und sich von der letzteren für eigene Rechnung
und mit eigener Kraft im Interesse der Ententekapitalisten zur Intervention
mißbrauchen ließen. Estland sowohl als Lettland und Polen haben infolge
ihrer Kriegslasten jetzt so schwer mit der Unterproduktion zu kämpfen, daß es
sehr fraglich ist, ob sie nicht demnächst zum Bolschewismus übergehen müssen.
Die Ukraine tut es bereits.
Nun wollte Lloyd George es mit der Handelsintervention versuchen.
Das ist ein ebenso kaltblütiger Verrat des Bürgertums in Rußland, wie auch
Koltschak und die Judenitscharmee verraten wurden. Denn anders als Verrat
können wir diese Blockade des Bürgertums und der Landwirtschaft kaum auf¬
fassen. Bis jetzt wurde das Räterußland blockiert. Jetzt soll dasselbe mit dem
produzierenden Rußland versucht werden, indem die gesamte Ein- und Aus¬
fuhr vertragsmäßig in die Hände der Räteregierung gelegt werden soll.
Letztere erhält dadurch ein wirksames Instrument, um damit die letzten
Vorräte aus der Landwirtschaft herauszuziehen. Ein direkter Verkehr mit
dem Verbände der Genossenschaften, also mit den Produzierenden,^ war ja
nicht zu erreichen.
Wird aber dieser Verrat Westeuropas an den produzierenden Klassen
Rußlands die Entente wenigstens zum Ziele führen?
Es kommt darauf an, welches Ziel die Entente im Auge hat. Hat England
es nur auf die Goldvorräte Rußlands abgesehen, will es sich also an der russischen
Raubwirtschaft beteiligen, so wird es gewiß zum Ziele kommen.
Hofft,die Entente dagegen auf die russischen Rohstoffe, so wird sie kaum
ihre Rechnung finden. Auch die Rohstoffe müssen immerhin gewonnen und
heraustransportiert werden. Es müssen also die gewinnende Arbeit und das
Transportwesen neu organisiert werden. Das ist ohne weitgehenden Kredit
nicht möglich. Aber für einen solchen Kredit wird die Entente angesichts der
ungeordneten Verhältnisse in Rußland schwer zu haben sein. Der ganze Handel
wird sich auf einen Austausch von Waren in den Hafenstädten beschränken;
und davon wird der Kohl kaum fett werden.
Hat aber Lloyd George den Hintergedanken, durch das Handelsmonopol
der Räteregierung letztere zu einem Exekutivbeamten der Entente umzuschaffen,
d. h. glaubt er, daß die Räteregierung durch eine Verstärkung ihrer Macht über
die produzierenden Klassen Rußlands in eine der Entente gefällige Beamten¬
diktatur umgewandelt werden kann, durch welche dann Rußland ausgenutzt
werden kann (etwa wie bis jetzt Lettland), — ich meine: hat Lloyd George diesen
Hintergedanken, so kann er sein blaues Wunder erleben. Zwar ist es nicht aus¬
geschlossen, daß die Räteregierung sich von der Arbeiterschaft und von der Armee
ganz abschnürt und zu einer diktatorischen Beamtenschaft auswächst; sie ist schon
auf dem Wege dahin. Doch sie ist im Verhältnis zur Einwohnerzahl und zur
Raumfläche Rußlands so verschwindend klein und dabei mit jüdischen Elementen
so stark durchsetzt, daß der Tag kommen muß, wo die aus dem Bolschewismus
hervorgegangene Beamtendiktatur von einer grandiosen Judenhetze verschlungen
wird. Mit seinem etwaigen Handelsvertrag setzt Lloyd George die Räte¬
regierung allerdings auf ein Pulverfaß. Wenn sie aber auffliegt, dann fliegt
die ganze Judenschaft Rußlands mit in die Luft.
Doch auch eine andere Überraschung kann sich aus den Handelsverträgen
entwickeln. Zwar gewinnt die Räteregierung durch dieselben eine scharfe
Waffe zur Bekämpfung der Gegenrevolution, wie auch ein Instrument zur
restlosen Erfassung der landwirtschaftlichen Vorräte. Wer will aber dafür gut¬
stehen, daß sie, einmal erstarkt, sich willig zeigt, dem Handel Englands Vor¬
spanndienste zu leisten? Bis jetzt hat die Räteregierung sich noch immer in der
Rolle des Schrittmachers der Weltrevolution gefallen. „Alte Liebe rostet
nicht" heißt es in einem dummen Sprichworte.
Aber vielleicht ist die Entente gezwungen, zu Rußland Beziehungen an¬
zuknüpfen. Vielleicht kann der Weltmarkt ohne Rußland nicht auskommen?
Dann ist man eben nicht imstande zu warten, bis der Bolschewismus von selbst
verschwunden ist.
Ich kann das nicht beurteilen: Vielleicht kann der Weltmarkt tatsächlich
ohne Rußland nicht auskommen. Dann ist es aber entschieden das produzierende,
das import- und exportfähige Rußland, welches der Weltmarkt nötig hat. Das
bolschewistische, das an Unterproduktion leidende Rußland dagegen ist für den
Weltmarkt ein negativer Faktor, ja geradezu eine Gefahr. Bei dem Stande
seiner jetzigen Produktion hat Rußland zu viele Einwohner. Es könnte also,
so wunderbar das auch klingt, billige Arbeitskraft exportieren, arbeitet man doch
jetzt in Rußland für paar Pfund Brot täglich, doch kein Land hat sie nötig, oder
es kann sie nicht ernähren. Sonst hat Rußland nichts auszuführen, kann also
keine sofort greifbaren Gegenwerte für etwaige Einfuhr bieten. Es könnte also
nur eine Einfuhr auf Kredit sein. Doch dann müssen die russischen Verhältnisse
vorher stabilisiert sein.
Rußland ist — meines Erachtens — für den Welthandel gegenwärtig
weniger wert (das bißchen Gold abgerechnet), als ein barbarisches Land. Bei
einem wilden Volke steht die Bevölkerungszahl doch im Gleichgewicht mit seiner
Produktionsfähigkeit; es wird dort noch immer irgend welche Vorräte, irgend
einen Überfluß geben, der für den Weltmarkt einen positiven Wert besitzt und
ihn bereichert. Rußland hat keinen Vorrat an Waren, wohl aber einen Überfluß
an Verbrauchern, von denen ein Teil zugrunde gehen muß, wenn er die Vorräte
des Weltmarktes nicht schmälern kann.
Angesichts dieser Sachlage gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder kann
der Weltmarkt ohne Rußland auskommen. Dann wäre es für die produzierenden
Länder nicht das Menschlichere, wohl aber das praktischste: den bolschewistischen
Brand zu lokalisieren und abzuwarten, bis er in sich selbst zusammenfällt, und
Rußland wieder import- und exportfähig wird.
Oder aber: der Weltmarkt kann nicht warten — dann muß es doch zu
einem Eingriffe von außen kommen. Dieser Eingriff kann aber nur das eine
zum Ziele haben: Rußlands Produktion zu steigern. Rußlands Produktion
leidet an zwei Grundübeln: Erstens sind keine genügenden Produktionsmittel
mehr da. Also muß das Ausland dem russischen Volke die nötigen Produktions¬
mittel kreditieren. Zweitens hat sich die sozialistische Arbeitsmethode als un-
geeignet erwiesen zur schnellen Schaffung von Mehrwerten; also muß man
die Arbeit wieder individualisieren.
Das eine wie das andere hat aber zur Voraussetzung, daß der Bolsche¬
wismus vorher niedergerungen ist. Denn dem bolschewistischen Rußland wird
das Ausland nichts kreditieren; und der Bolschewismus läßt keine individuelle
Arbeit, keine Privatunternehmung zu.
Will man also Rußland in absehbarer Zeit an der Weltwirtschaft teil¬
nehmen lassen, so bleibt eben kein anderer Ausweg: Man muß den Bolsche¬
wismus durch militärische Intervention niederringen. Doch Hand in Hand
damit muß die Reorganisation der individuellen Arbeit gehen. Man muß in
Rußland die politische Macht den nichtproduzierenden Klassen entreißen und
den produzierenden übergeben. Es muß wieder Arbeitszwang und Arbeits¬
freudigkeit geschaffen werden, wie auch eine Regierung, die für die zu kredi¬
tierenden Produktionsmittel aufkommen will und kann.
Daß bis jetzt jede militärische Intervention fehlgeschlagen hat, hat zwei
ganz bestimmte Gründe: Erstens weil man es jedesmal unterließ, die Produktion
w den befreiten Gebieten auf Grund der Privatunternehmung zu steigern,
^so die Macht den produzierenden Klassen zu übergeben, und zweitens, was
die Hauptsache war: weil die Entente gleichzeitig Räterußland und Deutsch¬
land bekämpfen wollte. Daß der Bolschewismus militärisch nicht nieder¬
gerungen werden kann, ist ein Märchen. Als im Mai 1919 die lettländische
^rrnee zusammen mit Teilen der deutschen (von der Goltzschen) die Bol-
Ichewisten bei Riga geschlagen hatte, war es ihr ein leichtes, der Judenitsch-
brmee die Hand zu reichen und nach Petersburg zu marschieren. Die Entente
iedoch verbot der deutschen Armee jeden Vormarsch, nahm außerdem (durch
General Gongs) die Ehlen von der bolschewistischen Front und warf sie den
Siegern von Riga in die Flanke (in den Junischlachten bei Wenden). England
M also damals die Ausnutzung des Sieges über die Bolschewisten absichtlich
^reitelt, um die antibolschewistischen Truppen gegen Deutschland zu dirigieren.
Dasselbe gilt von der ganzen Randstaatenpolitik der Entente.
Während der Drucklegung dieser Zeilen hat die polnische Offensive es
gleichfalls gezeigt, daß die rote Armee geschlagen werden kann; es fragt sich
^ur, ob der Bolschewismus damit geschlagen ist? Denn daß Polen allein
^ehe imstande ist, seine Fahnen tief nach Nußland hineinzutragen, zeigte ja
leine Niederlage bei Kiew. Dabei fragt es sich, ob Polen imstande ist, seine
^gene Unterproduktion zu beheben; 'es ist aber ganz ausgeschlossen, daß die
Produktion Rußlands durch den polnischen Sieg irgendwie gewinnt.
Also: die rote Armee kann geschlagen werden. Damit ist aber der
Avlschewismus noch nicht überwunden; falls nicht gleichzeitig auch Rußlands
Produktion organisiert wird.
. Angesichts dieser Schwierigkeit der Randstaatenpolitik dürfte es an
^. Zeit sein, zu erkennen, daß die Aufgabe,' Räterußland und Deutschland
^ eichzeitig zu bekämpfen, für die Entente zu schwer ist. Mit einem der beiden
kgner muß die Entente sich verständigen.
Lloyd George hatte sich für Räterußland entschieden. Warum dieser Ent¬
schluß nicht zu positiven Ergebnissen führen kann, habe ich schon versucht ZU
zeigen. Hier möchte ich noch auf eine direkte Gefahr hinweisen, die diesem
Entschlüsse entspringt.
Deutschland ist in Europa das letzte Bollwerk gegen den Bolschewismus.
Das will ich nicht in dem Sinne verstanden wissen, als ob in Deutschland ^die
Vorbedingungen des Bolschewismus nicht vorhanden wären. Im Gegenteil!
Deutschland leidet ebenso wie ganz Europa durch die Unterproduktion. Die
starke Vermögensabgabe ist doch weiter nichts als ein Leben vom Vorräte.
Zugleich ist das Proletariat in Deutschland unvergleichlich besser organisiert und
einflußreicher als in Rußland zu Kerenskis Zeiten.
Wenn ich aber von Deutschland als einem Bollwerk gegen den Bol-
schewismus spreche, so habe ich ein doppeltes im Sinne. Erstens hat Deutschland
einen erstaunlichen Willen zur produktiven Arbeit. Würde man Deutschlands
Arbeit nicht stören, so würde es unfehlbar sich nach einigen wenigen Jahren
aus der Unterproduktion herausgearbeitet haben.
Zweitens ist Deutschlands Armee noch ein Schutz der Produktionsmittel-
Solauge dies beides noch der Fall ist, kann der Bolschewismus in Deutschland
nicht hochkommen.
Nun will England mit dem Bolschewismus Frieden schließen. Das be¬
deutet, daß er für eine gewisse Zeit gestärkt wird. Dieser Friedensschluß erfolgt
wahrscheinlich wohl auch zu dem Zwecke, damit die Entente die Hände zu^
Schwächung Deutschlands freibekommt. Deutschlands Armee soll auf ein
Minimum reduziert werden, also auch der Schutz der Produktionsmittel dem¬
entsprechend vermindert werden. Deutschlands Arbeitsertrag soll an die Entente
abgeführt werden, wenn nur die Arbeitsfreudigkeit darunter nicht leidet! Muß
der Widerstand Deutschlands gegen den Bolschewismus auf diese Art schließlich
nicht versagen?
Es ist ein grausiges Spiel mit dem Feuer, das Lloyd George treibt.
Vielleicht ist es noch nicht zu spät, die Stellungnahme Lloyd Georges
einer Revision zu unterziehen. Sollte es zu einer Verständigung zwische^
Deutschland und der Entente kommen, so ist es allerdings ausgeschlossen, daß
Deutschland — gleich den unseligen Raubstaaten — an der militärische"
Intervention gegen das Räterußland für eigene Rechnung teilniniw -
Was Deutschland zu dieser Unternehmung liefern kann, ist zweifellos ein
genügende Heeresmacht zum Vorstoß gegen die Räteregierung, wie auch ^
Teil der Produktionsmittel und der intellektuellen Kräfte zur Hebung de
Produktion in Nußland. Die Finanzierung des Vorstoßes muß aber unbeding
von der Entente ausgehen, wenn nicht anders, dann in Form einer VerrechnnN»
auf die Kriegsentschädigung.
Hätte Deutschland den Kampf gegen den Bolschewismus für eigen
Rechnung zu führen, dann müßte es — zwar langsamer, aber ebenso sich
zusammenbrechen wie Estland, Lettland, Ukraine und wohl auch P"l^
Kommt es nicht zu einer solchen Verständigung, so nehme ich an, daß DeuM
land sich zunächst auf einen passiven Widerstand einrichten wird. Wie lang
es ihn führen kann, wenn einerseits die durch die Entente gestärkte Na
regierung ihre Agitationsarbeit in Deutschland verdoppelt, der wirtschaftliche
Kampf die Produktion schwächt und die geschwächte Armee nicht mehr im¬
stande ist, die linksradikalen Elemente niederzuhalten, das im einzelnen
vorauszusagen, kann ich mir nicht anmaßen. Das Gefühl kann ich allerdings
nicht los werden, daß dann die Flut gegen das letzte Bollwerk anspringt.
Wird auch Deutschland bolschewistisch, d. h. zwingt die Unterproduktion
auch Deutschland, die Produktionsmittel anzugreifen, wobei die Macht in die
Hand der Besitzlosen gelangt, so sehe ich keine ausreichende Möglichkeit
eines wirksamen Eingriffes von außen in den russischen Bolschewismus. Dann
wird Rußland — und mit ihm wohl auch die meisten Staaten Europas —
seinen Leidensweg gehen müssen, bis es in seiner Entkultivierung auf die-
lenige Stufe gelangt ist, wo die individuelle Arbeit wieder möglich und nötig
wird und an die Schaffung und Aufspeicherung von Mehrwerten heran¬
treten kann.
Was unterdessen aus der Entente geworden sein wird, entzieht sich meiner
Beurteilung. Eins aber steht für mich fest: Wird Deutschland bolschewistisch,
so kommt ohne weiteres eine Koalition Räterußlands und Rätedeutschlands
Z-ustande. Es fällt dann jede künstlich errichtete Scheidewand zwischen diesen
Staaten, die vom Schicksal und von der Natur aufeinander angewiesen sind.
Und wenn dann schließlich der Hunger die Völker zwingt, zu derjenigen Arbeits¬
methode zurückzukehren, die am geeignetsten ist, die Produktion zu steigern
und neue Werte zu schaffen, dann werden Rußland und Deutschland gleich¬
zeitig, sich aufeinander stützend, sich emporringen. Damit wird dann diejenige
unbesiegbare politische Kombination gegeben sein, die immer so nahe lag und
immer so künstlich verhindert wurde ... Diese schwache Hoffnung soll uns wie
ein ferner Stern blinken bei unserem dunklen Abstieg.
Das Muster einer französischen Chauvinistenzeitung ist die rohalistische
^etiou trAllsaisö, einer der ärgsten Deutschenfeinde, zugleich einer der rührigsten,
und in Verbindung mit seinen Freunden und Mitarbeitern Charles Maurras und
Jaques Bainville auch einer der weitsichtigsten, ist L6on Daudet. Dieser schreibt
w seinem Blatt: „Ich gestehe, daß ich jeden Morgen mit Wonne die Zahl der
in deutschen Nevolutionskänwfen umgekommenen Deutschen lese. Ich glaube kein
schlechter Mensch zu sein/ aber je mehr es drüben beim Erbfeind brennt, je mehr
Ulan sich totschlägt, desto zufriedener bin ich. Mein Ideal wäre, daß sich jenseits
des Rheines jetzt ein oder zwei Jahrhunderte lang 30 Millionen deutscher Reaktio¬
näre mit 30 Millionen deutscher Revolutionären in den Haaren liegen, sich
abschlachten, sich mit großen und kleinen Geschützen bombardieren und im Namen
von Luther, Spartakus, Wilhelm II., Roste, Wagner, Nietzsche, Lettow - Vorbeck,
Ludendorff in Moabit, Charlottenburg, München, Dresden, Stettin, Nürnberg
Feuer anlegen und sich gegenseitig auffressen. Unordnung in Deutschland, Ord¬
nung in Frankreich, das ist trotz Wilson das einzige Programm des Heils."
er Erzbergersche Friedensvertrag legt als unmittelbare Folge dem
deutschen Volke eine Auswanderung von 20 Millionen Volks¬
genossen auf.
Der Zug der Auswanderung geht nach Westen, nach den
Staaten Südamerikas, einschließlich derjenigen, die bislang mit
Deutschland im Kriege gestanden oder nur die diplomatischen Beziehungen ab¬
gebrochen hatten.
Aber wie haben sich die Bedingungen verändert, unter denen wir jetzt ins
Ausland gehenZ ^
Wir kommen nicht mehr als Gleichwertige zu den Staaten, die unsere neue
Heimat werden sollen, sondern als Werdende, als Bittende um Aufnahme. Nach
jeder Richtung hin haben sich unsere Aussichten verschlechtert.
Der Wunsch der meisten Auswanderer geht erklärlicherweise dahin, möglichst
den bisherigen Beruf im Auslande wieder ausüben zu können. Es liegt aber in der
ganzen wirtschaftlichen und sozialen Gestaltung der jungen südamerikanischen
Länder, daß nur solche Kenntnisse Aussicht auf direkte Verwendung finden werden,
die in unmittelbarer Beziehung zum täglichen Leben stehen, wie Ärzte, Apotheker,
Chemiker, Ingenieure, Landwirte, Kaufleute und Handwerker der meisten Berufs-
klassen. Je nach dem Lande wird die Aufnahmefähigkeit für den einen oder anderen
Beruf eine größere oder geringere sein. So wird z. B. Argentinien für Vauhand-
werker kein geeignetes Feld genannt werden können, weil der italienische Fach¬
arbeiter sich hier ein gewisses Monopol geschaffen hat und mit Lebensbedingungen
sich begnügt, die dem kulturell höher stehenden deutschen Arbeiter unzureichend
erscheinen.
Nur Menschen mit praktischer Auffassung und dem Willen zu einer ver¬
ständigen Anpassungsfähigkeit an die Bedürfnisse des neuen Landes nach den ver¬
schiedensten Richtungen hin haben Aussichten. Ebenso sollten Angehörige schön¬
geistiger und kultureller Berufe, wie Lehrer, Juristen, Pastoren, Philologen, Philo¬
sophen und Künstler usw., sich einer sehr eingehenden eigenen Prüfung unterziehen,
ob sie zur Umstellung für einen anderen Beruf die erforderlichen geistigen Eigen¬
schaften und Vorbildung mitbringen. Als geeignete Vorkenntnisse sind zunächst
möglichstes Verstehen und Sprechen der Landessprache erforderlich. Sodann aber
auch allgemeine Kenntnisse des Landes, sowie der Gebräuche, Gewohnheiten und des
Charakters der Bewohner.
Gesundheit ist überall erforderlich; gleichviel ob die Zukunft in den gemäßigten
oder mehr tropischen Gegenden liegt.
Das Alter spielt keine entscheidende Rolle. Solange Gesundheit und der feste
Wille vorhanden sind, mit den neuen Verhältnissen sich abzufinden und in ihnen
mit Energie die Zukunft zu suchen, so lange braucht man vor dem Gedanken einer
Auswanderung nicht zurückzuschrecken, wenn sonst die Vorbedingungen erträgliche
sind. Selbstverständlich wird die Konkurrenz jugendlicher Kräfte immer ins Gewicht
fallen. Aber im Auslande ist nicht so wie in der Heimat der engherzige Gedanke
vertreten, daß Menschen in abgeklärten reiferen Jahren ungeeignete Mitarbeiter
find, weil der Schatz der Lebenserfahrungen sie eine eigene Auffassung der Dinge
hat gewinnen lassen.
Leichter ist die Frage zu entscheiden, über welche Geldmittel der Aus¬
wanderer zu seinem Fortkommen verfügen muß. Wem große Mittel zu Gebote
stehen, wird zweckmäßig sich anderen Ländern zur Auswanderung zuwenden,
wo die kulturellen Bedingungen angenehmere sind und der Kampf ums Leben
nicht in den schwersten Formen des Pioniertums geführt zu werden braucht.
Bei den: Tiefstande der deutschen Valuta, mit der man aller Voraussicht nach noch
für eine Reihe von Jahren zu rechnen hat, wird schon die Frage der Überfahrt
sowie des Unterhaltes für die erste Zeit eine vielleicht entscheidende Rolle spielen.
Der Auswanderer wird ganz von selbst, darauf kommen müssen, den Aufenthalt
in den großen Städten nach Möglichkeit abzukürzen und baldigst zu versuchen,
sich mehr nach dem Innern aufs Land oder in die kleineren Städte zu begeben,
wo es leichter ist Arbeit zu finden und eine Abwartezeit weniger kostspielig ist.
Die argentinische Regierung, die mit einer gewaltigen deutschen Einwanderung
rechnet, hat für diese staatliche Aufnahmemöglichkeiten geschaffen, um den Ein¬
wanderern in Buenos Aires über die ersten Tage durch kostenlose Gewährung von
Wohnung und Unterhalt fortzuhelfen und sie dann über das Land zu verteilen und
an passende Arbeitsstellen zu verweisen. In ähnlicher entgegenkommender Form
arbeiten deutsche Hilfsgesellschaften in Argentinien und in anderen Staaten, um
dem Einwanderer die erwerbslose Zeit möglichst abzukürzen. Diese geldlichen Ver¬
hältnisse lassen es ohne weiteres als dringend empfehlenswert erscheinen, entweder
Nur mit fester Anstellung herauszugehen, wobei die Frage der Überfahrt in einer
der Lage des Auswanderers entgegenkommenden Weise gelöst zu werden pflegt, oder
Sum mindesten sich drüben vorher einen Anschluß zu suchen, der die Arbeits¬
beschaffung vorbereitet oder wenigstens durch Aufnahme und Verpflegung die
Existenz in der ersten Zeit sicherstellt. Jedenfalls kommt das deutsche Geld bei der
wirtschaftlichen Durchschnittslage der Auswanderer als Anlagekapital nicht in
Frage. Der Deutsche wird auch draußen zunächst zum bloßen Arbeitstier ver¬
urteilt sein. ,
Die neuzeitliche soziale Entwicklung in Deutschland hat auch der Frau eine
Fülle von Arbeitsmöglichkeiten gebracht, so daß auch an Frauen, die ohne Familie
dastehen, der Wunsch nach einer Auswanderung herantritt. Soweit aber Südamerika
^ Frage kommt, ist die Zeit für eine wirtschaftliche Betätigung der Frau noch
Alast gekommen. Frauenarbeit außer dem Hause ist noch so gut wie unbekannt.
Gewiß arbeiten auch in manchen Staaten Südamerikas schon Fabriken und Werk¬
stätten mit weiblicher Arbeitskraft. Aber eine Konkurrenz mit diesem einheimischen
Personal ist für die deutsche Frau aus den verschiedensten Gründen, nicht zum
Mindesten des Klimas wegen, ausgeschlossen.
Die Auswanderung der Frau wird daher nur im Rahmen ihrer natürlichen
Bestimmung, der Familie, in Frage kommen. Und nach dieser Richtung hin wird
die Frau eine Aufgabe zu erfüllen haben, die sie weit über den Nahmen einer auf
sich angewiesenen Arbeitskraft stellt. Wenn ein neues Auslandsdeutschtum sich
lebenskräftig entwickeln und durchsetzen soll, so ist dieses nur mit Hilfe der
deutschen Hausfrau zu erzielen. Es muß in Zukunft vermieden werden, daß der
deutsche Mann aus Mangel an deutschen Frauen eine Mischehe eingeht, bei der,
wie auch die Beispiele in der Diplomatie zeigen, der Mann der rassenunterliegende
Teil zu sein pflegt und die Kinder mehr dem fremdländischen Wesen der Mutter
folgen.
Daher wird es von den deutschen Auslandskreisen mit besonderer Freude
begrüßt werden, wenn deutsche Mädchen Anschluß an das Lebensschicksal der aus¬
landsdeutschen Männer suchen werden und für diesen Beruf die erforderliche Vor¬
bildung mitbringen: gute Wirtschafterin im Hause; Vertrautsein mit Kranken- und
Kinderpflege; Befähigung zum Unterricht der Kinder je nach der Stellung des
Mannes im neuen Wirtschaftskreise. Wir brauchen zu diesem Zwecke in der Heimat
eine Vermittlungsstelle, die von praktischen hochherzigen Frauen mit großer Aus¬
landserfahrung geleitet, dem Auslandsdeutschen mit Rat und Tat zur Hand geht
und in der Lage ist, beiden Teilen Vorschläge zu machen und die Bekanntschaft
anzubahnen.
Für den Entschluß zur Auswanderung und die Prüfung der Eignung sind
aber noch eine Reihe von Momenten ins Gewicht fallend, die früher nur von unter¬
geordneter Bedeutung oder überhaupt noch unbekannt waren.
Bei dem regen und friedlichen Handelsverkehr vor dem Kriege traten Anti¬
pathien und Sympathien nicht so in die Erscheinung. Der gute Gang des Geschäftes
überbrückte manche Gegensätze. Bequeme Reisemöglichkeiten sorgten für gegenseitiges
Kennenlernen; die Presse vermochte noch nicht aus politischen Gründen den Süd¬
amerikaner und Deutschen nachhaltig zu verhetzen oder zu entfremden. So spielte
auch die Stellungnahme der ausländischen Regierung zum Auslandsdeutschen noch
keine fühlbare Rolle. Wenn nun auch die südamerikanischen Staaten im allgemeinen
keine tiefgehende feindliche Neigung bekundet haben, so muß man bei manchen, wie
Uruguay, Peru und Brasilien doch noch mit Nachwirkungen des Pressefeldzuges
rechnen, den die Landespresse im Anschluß und auf Veranlassung der alliierten Presse
geführt hat. Diese Nachwirkungen darf man aber nicht zu hoch einschätzen; den»
im Volke hatte ein Haß oder eine tiefergehende Abneigung nicht Wurzel geschlagen-
Gewiß haben manche Staaten verschärfte Einwanderungsbestimmungen erlassen-
Aber deren Bestimmungen richten sich nicht gegen den Deutschen als solchen, sondern
gegen' die Einwanderung unliebsamer oder staatsgefährlicher Elemente; in erster
Linie gegen Bolschewisten. In dieser Beziehung sind allerdings die Deutschen dem
Südamerikaner verdächtig und er schließt sie in die strengen Vorsichtsmaßregeln ein,
die er zum Schutze seiner eigenen Heimat getroffen hat, und die zu einem Schutzb¬
und Austauschverhältnis der südamerikanischen Staaten untereinander geführt haben.
Wenn der Südamerikaner aber erst sieht, daß unter den neuen Einwanderern die
Besten des deutschen Volkes vertreten sind, wird er sehr rasch auch dem Neu¬
ankömmling die herzlichen Sympathien entgegenbringen, die der Deutsche bisher
genossen hatte. Denn der Südamerikaner ist ein urkonservativer Charakter, der als
hervorragendste Eigenschaft eine glühende Vaterlandsliebe besitzt, die dem kühlen
Nordländer manchmal über das Ziel hinauszugehen scheint. Er wird
bald bemerken, daß er alter deutscher Gesinnung gegenübersteht. Man
darf nicht vergessen, wie auf den patriotischen Südamerikaner, dem sein
Vaterland heilig ist, die Diskreditierung Deutschlands gewirkt hat, die von
Deutschen selbst ausgegangen ist. Bethmans weimerndes Geständnis von der
Vergewaltigung des „armen kleinen Belgiens"; Erzbergers Friedensschluß mit der
Auslieferung der Handelsflotte, auf der jeder Südamerikaner Deutschlands Über¬
seehandel und Reichtum aufgebaut sah; die Belobigung deutscher Delegierter auf
dein Pazifistenkongreß in Bern wegen ihrer Anerkenntnis von Deutschlands Schuld;
der liebedienernde Untersuchungsausschuß gegen Deutschlands bekannte Männer:
alle derartigen Momente haben dem deutschen Ansehen einen Stoß gegeben, der
hemmend der Wiederanbahnung des alten Vertrauens sich entgegenstellt. Der
Wiedereintritt Erzbergers in den Reichstag wird eine erneute Belastungsprobe sein!
Man hat vielfach behauptet, daß der Deutsche, wie überhaupt im Auslande,
so auch in Südamerika unbeliebt gewesen sei. Selbstverständlich hat es stets Deutsche
gegeben, die sich unbeliebt gemacht haben; aber diese bildeten die Ausnahme, Da¬
gegen war — es sei hier nur an die „Luxburgiaden" erinnert! — die deutsche
Regierung in ihrer auswärtigen Vertretung nicht immer beliebt oder angesehen;
und über das Auswärtige Amt hat man im vertrauten Kreise oft nur Worte der
Mißbilligung oder Nichtachtung gefunden. Wilsons Äußerung, daß er nicht gegen
das deutsche Volk, sondern gegen die deutsche Regierung kämpfe, entsprach psycho¬
logisch der Auffassung weiter neutraler und südamerikanischer Kreise, und fiel daher
so vielfach auf gläubigen und fruchtbaren Boden. Man glaubte ja auch Wilson so
gern in Deutschland, weil man hier in der breiten Masse noch auf einer so niedrigen
Stufe politischer und volkspsychologischer Einsicht steht; man hielt aber auch in
Südamerika eine derartige Gesinnung Wilsons für nicht ausgeschlossen, weil sie der
eigenen Auffassung so nahe kam und sich auf verwandter Auffassung gründete. Im
übrigen hat man aber von jeher Wilson als ganz geriebenen Politiker erkannt, der
gewissenlos blufft, wo er es im politischen, d. h. finanziellen Interesse seines Landes
bzw. seiner Auftraggeber für angebracht hält. Man wird unter den Südamerikanern
vergeblich Leute suchen, die, wie Professor Bonn oder Harden oder ein großer Teil
unserer Presse, sich teils aus kindlichem Glauben, teils aus Reklamebedürfnis für
eine Apotheose Wilsons hergegeben haben. Ein „zweiter Stern von Bethlehem"
war Wilson nur gewissen Deutschen!
Auch beim Auslandsdeutschen wird der Neuankömmling nur auf sehr zurück¬
haltende Ausnahme rechnen dürfen. Die Berichte aller Reisenden lauten ganz
gleichmäßig, daß der Empfang ein überaus kühler gewesen sei und eine
sehr genaue Prüfung daraufhin stattfinde, welcher Gesinnung der Neue
sei. Erst wenn die Legitimation als Deutscher im alten Sinne erbracht ist, kann
auf eine herzliche Aufnahme gerechnet werden. Draußen gibt es nur eine Flagge
.,schwarz-weiß-rot", unter der Deutschland in Ansehen und Handel groß geworden
ist- „Schwarz-rot-gold" ist für draußen eine Parteiflagge, für die man auch nicht
das mindeste Verständnis zeigt. Draußen bleibt man den alten Farben treu, weil
wan sie liebgewonnen hat. Wenn der Deutsche im Auslande „schwarz-weiß-rot"
slaggt, und die deutsche Vertretung „schwarz-rot-gold", so ist ein bewußter und
offensichtlicher Gegensatz da, der seine Rückwirkungen zeitigen muß.
In der Stellung der Deutschen zueinander draußen hat der Krieg das Gute
gehabt, daß die Eigenbrödelei etwas zurückgetreten ist. Die gemeinsame Not auch im
Erwerbsleben hat die Geister einander sich nähern lassen und zur Gründung deutscher
Handelskammern geführt, was vor dem Kriege kaum möglich erschien. Natürlich
wird der Konkurenzkampf auch unter den Deutschen nicht ausbleiben und die ein¬
gesessener Deutschen werden zunächst einmal selbst zusehen, wieder in auskömmliche
Stellungen zu gelangen, ehe sie dem Neuling die Wege zu gut bezahlten Stellungen
ebnen werden. Aber auch das wird nur eine Übergangszeit sein.
Mit der Auswanderung findet aber keine Lösung des Auswandernden von der
Heimat statt, sondern er bleibt noch mit einer Fülle von Fäden mit der Regierung
und den Gesetzen in der Heimat verbunden. Betrachtet die alte Negierung den
Auslandsdeutschen mehr als Verwaltungsobjekt, so erblickt die neue Regierung nach
Erzbergerschem Rezept in ihm nur ein Steuerobjekt, das möglichst ausgiebig und
lange zu „erfassen" ist. Von dem gewaltigen psychologischen, wirtschaftlichen und
politischen Werte eines starken Auslandsdeutschtums dämmert auch heute noch nicht
die mindeste Ahnung. Man sieht im Auslandsdeutschen und Auswanderer heute
nur jemand, der die Segnungen und Errungenschaften der Neuzeit nicht an¬
erkennen und der sich der Besteuerung entziehen will; also ein Individuum, das man
ohne Bestrafung nicht in die Fremde ziehen lassen soll. Man verfolgt sein Ergehen
und Schicksal draußen nur vom Standpunkte hoffentlich sich steigernder Steuerkraft.
Auch auf dem Gebiete des Strafrechts wollte man als Gegenstück zur doppelten
Besteuerung eine doppelte Bestrafungsmöglichkeit vornehmen, indem der „Vorentwurf
zu einem neuen deutschen Strafgesetzbuch" beabsichtigte, den Deutschen auch dann
zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit zu ziehen, wenn er im Auslande eine Tat
begangen haben sollte, die zwar nach dem ausländischen Recht nicht strafbar, in
Deutschland aber strafbar war. Man begründete diese eigenartige Auffassung damit,
daß so gut wie das Steuerrecht auch das Strafrecht dem Deutschen ins Ausland
folgen müsse!
Man vergißt so völlig, daß der Deutsche draußen auf einsamem Posten steht-
Denn hinter ihm liegt eine Heimat, deren Evangelium die Internationale ist; eine
Regierung, deren Devise lautet: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch", ein
Parteistaat, kein Nassenstaat.
Die amtliche Vertretung draußen aber kann wie früher nur im Nahmen der
Direktiven und Erwägungen des Auswärtigen Amtes tätig sein. Und wie es mit
diesem bestellt ist, welche Aussichten die Reorganisation bietet, davon schweige die
Höflichkeit! So muß der deutsche Pionier nicht nur gegen sein persönliches Schicksal
ankämpfen, sondern auch gegen die Nachteile seiner Regierung und die Verblendung
und Ideologie in der Heimat.
Gegen einen großen Teil dieser Schwierigkeiten würde nun die Naturalisation
und Aufgabe der deutschen Staatsangehörigkeit einen Ausweg bieten. So, wie die
Verhältnisse jetzt liegen, ist anzunehmen, daß von den Neueingewanderten weit¬
gehender Gebrauch von diesem Aushilfsmittel gemacht werden wird. Die Naturali¬
satton wird es gestatten, für die Zukunft der Kinder arbeiten zu können, und trotz
der neuen Staatsangehörigkeit in erhöhtem Maße für das Deutschtum tätig zu sein-
Denn die Zugehörigkeit zum neutralen Staate schützt in gleicher Weise vor Be¬
lästigungen durch die Entente, wie durch eine Regierung in der alten Heimat, die
nur darauf wartet, dem Rückwanderer später einen Teil seines sauer erworbenen
Besitzes als Vermögenszuwachs und zur Bestreitung sozialistischer Ausgaben abzu¬
knöpfen. Mancher aber, der diesen Ausweg nicht wählen will, wird ein neutrales,
Deutschland benachbartes Land als Ruhesitz für sein Alter erwählen.
In der durch Aufgeben des deutschen Jndigenates liegenden Kapitalabwande¬
rung oder Entziehung kann aber nicht einmal ein Nachteil gesehen werden, da das
Geld mit erhöhter Bereitwilligkeit deutschwerbend angelegt werden kann und in der
Betätigung bei deutschen oder dem deutschen Interesse dienenden neutralen Unter¬
nehmungen dem Deutschtum mehr Zinsen tragen wird, als wenn es zur Unter¬
stützung von Arbeitslosen oder zur Durchführung irgendwelcher Utopien verschleudert
würde. Sollten aber im Laufe der Jahre in Deutschland wieder Zustände eintreten,
die dem Auslandsdeutschen eine Rückkehr in den Staatsverband wünschenswert er¬
scheinen lassen, so wird beiden Teilen mit der gegenseitigen Zugehörigkeit gedient sein.
Der Südamerikaner aber wird für ein Aufgeben des deutschen Jndigenates aus den
eben skizzierten Gründen ein volles Verständnis haben und begreifen, daß damit nur ein
äußerer Wechsel der Flagge stattfindet, während der Kern der alten Flagge treu bleibt.
Die Verbindung eines Landes mit seinen Landeskindern draußen beruht aber
nicht nur auf der ideellen Zugehörigkeit, sondern auf dem Austausch materieller
Güter. Die Entwicklung der deutschen Wirtschaft wird also von grundlegender Be¬
deutung für die Möglichkeit eines praktischen Zusammenseins mit den Angehörigen
draußen sein. Nach dieser Richtung hin sind die bisherigen Ansätze leider wenig
vertrauenerweckend. Die deutsche Ware wird nicht nur unregelmäßig, sondern auch
unzuverlässig geliefert, indem weder Lieferungsfristen noch Zahlungsbedingungen
innegehalten werden. Der Kaufmann drüben kommt vielfach in peinliche Verlegen¬
heit, weil der deutsche Lieferant im letzten Augenblick nicht liefert oder einen Preis¬
aufschlag sich erlaubt, der direkt zum Fallenlassen der deutschen Ware anreizt oder
veranlaßt.
Der Einfluß wirtschaftlich falsch aufgefaßter Sozialisierungsbestrebungen und
das offensichtliche Bestreben der radikalen Arbeiterschaft, das Experiment des Räte-
shstems trotz der russischen Erfahrungen auf Deutschland zu verpflanzen, werden
weitere Etappen für das Ausland sein, auf das noch mehr Ungewisse der Lieferung
deutscher Waren in Zukunft zu verzichten, als es schon jetzt der Fall ist. So ist
letzten Endes die Arbeit des Auslandsdeutschwms auf das engste mit der politischen
Einsicht des deutschen Arbeiters verknüpft.
Die Stellungnahme der Entente zum Auslandsdeutschtum ist zunächst noch un¬
geklärt. Ansätze sind vorhanden, die Pionierarbeit der Deutschen draußen nach
Möglichkeit zu erschweren. Es muß aber doch sehr erheblichen Zweifeln unterliegen,
?b es sich mit dem Interesse der Entente selbst verträgt, den Handelskrieg
intmiwm fortzusetzen.
Zunächst aber ist in Deutschland noch alles in Gärung begriffen, und niemand
weiß, wohin endgültig die Fahrt gehen soll. So muß denn der Aufbau von Aus¬
landsdeutschen vorbereitet und begonnen werden, um der Heimat wieder die Führung
SU überlassen, wenn eine Konsolidierung der Verhältnisse eingetreten sein wird.
Zeit ist nicht zu verlieren; denn Zeitverlust bedeutet nach den Erschütterungen des
Weltkrieges mehr denn je nicht nur Geldverlust, sondern schwerste Gefährdung der
Zukunft. So muß denn zum Wiederaufbau Deutschlands, ähnlich wie damals in
Ostasien, der Ruf ergehen: „Deutsche Auslcmdspiontere an die Front!"
WM
MMein an der See gelegener Staat kann ohne eine der Ausdehnung
seiner Küsten und seiner wirtschaftlichen Bedeutung entsprechende
Seemacht auskommen. Das wird durch die Geschichte aller in
Frage kommenden Staaten bewiesen. In dein politisch zerstückelten
und nur mit seinen nördlichsten Ländern an das Meer grenzenden
Deutschland hat seit Jahrhunderten eine kontinentale Auffassung vorherrschen und
der Irrglaube aufkommen können, der Deutsche vermöge ohne Kriegsflotte, nur
gesichert durch ein tüchtiges Heer, in Ruhe zu leben. Dieser Glaube hat sich immer
wieder verhängnisvoll erwiesen, wie unsere Geschichte zeigt. Stets von neuem ergab
sich unter dem Zwang der Verhältnisse die Notwendigkeit, eins Flotte zu bauen. Es
braucht nur an die Schaffung der Kriegsflotte des Großen Kurfürsten, an die deutsche
Bundesmarine, die Preußische und Schleswig-Holsteinische Marine, die Marine des
Norddeutschen Bundes (seit 1866) und schließlich an die Kaiserlich Deutsche Marine
(seit 1871) erinnert zu werden. Alle diese Schöpfungen waren keine künstlichen,
etwa der Liebhaberei eines Herrschers oder der vorübergehenden Laune der öffent¬
lichen Meinung entsprungenen Gebilde, sondern sie sind zwangsläufig entstanden,
um dem Staat die seinen Lebensbedürfnissen entsprechende militärische Macht zur
See zu verschaffen. Wollte man diese historische Erfahrung unbeachtet lassen und
die uns aus der letzten großen Flottenentwicklung noch gebliebenen Marinewerte
(Schiffe, Personal, Marincanlagen, Erfahrungen) preisgeben, so wäre das, ebenso
wie ein etwaiges Abreißenlassen der kostbaren Tradition, nicht zu verantworten-
Früher oder später würde sicherlich die zwingende Notwendigkeit eintreten, alles von
neuem aufzubauen, und dann einen weit höheren Preis zu zahlen, als die Erhaltung
des Vorhandenen jetzt kostet.
Man hört hin und wieder die Ansicht, für die Marine, wie sie uns durch den
Friedensvertrag gelassen worden ist, lägen keine ihrer Größe entsprechenden
wichtigen Aufgaben vor, ja es wird bisweilen behauptet, wir könnten unter den
jetzigen Verhältnissen ganz ohne Marine auskommen. Die letztere Ansicht wird
schon durch das in der Einleitung Gesagte widerlegt. Was die der Marine jetzt und
später zufallenden Aufgaben anlangt, so sollen sie nachfolgend in Mrze behandelt
werden.
Selbstverständlich ist unsere jetzige kleine Marine nicht imstande, Seekriege
gegen flottenstarke Staaten zu führen. Das haben unsere Feinde durch das uns
zugebilligte enge Ausmaß unserer Seerüstung wohlweislich unmöglich gemacht-
Trotzdem bleiben aber noch mannigfache wichtige Aufgaben übrig, die für unsere
jetzige Marine erfüllbar sind und die ohne sie gar nicht geleistet werden können.
Sieht man ab von der noch in Gang befindlichen umfangreichen und zeit¬
raubenden Arbeit des Minenräumens, die bei der beträchtlichen Ausdehnung der
von uns zu reinigenden Seegebiete sicher noch ein Jahr in Anspruch nehmen wird,
so sind von der Marine dauernd die folgenden Aufgaben zu erfüllen:
Diese Aufgabe würde bei dem Fehlen einer Marine von unserem im Ver¬
hältnis zur Größe des Reiches ungemein beschränkten Heere gar nicht zu leisten sein.
Was sollten wohl Landtruppen gegen Aufrührer im Küstengebiet machen, wenn diese,
wie es so nahe liegt, das Wasser als Basis und Zufluchtsstätte ausnutzen und sich
auf dem Wasserwege mit Zuzug und Versorgung versehen? Nur durch Kricgsfahr-
Zeuge, die von der Wasserseite eingreifen, kann in solchen Fällen der Widerstand
gebrochen werden. Schon ihr bloßes Erscheinen kann die gewünschte Wirkung haben,
wie wir es im vorigen Jahre in Emden, Bremen und Hamburg und in diesem
Frühjahre in Stettin gesehen haben. — Die wiederholt aufgetauchten Nachrichten
über eine von den russischen Bolschewisten beabsichtigte Landung auf Rügen, mit
dem Zwecke, diese Insel als Basis für die Ausbreitung der „Weltrevolution" über
Deutschland zu benutzen, mögen bewertet werden wie sie wollen; jedenfalls sind sie
insofern beachtenswert, als ein solcher Plan keineswegs schwer mrsführbar sein
würde, wenn keine deutsche Marine vorhanden wäre, um seine Ausführung zu ver¬
hindern. ,
Zu den Hoheitsgewässern eines Staates gehören die Teile des vor seinen
Küsten liegenden freien Meeres außerhalb der Watten, Inseln und Einbuchtungen
bis zu 3 Seemeilen Entfernung vom Ufer. Die Überwachung dieser Zone ist die
Obliegenheit des betreffenden Staates; für die deutschen Hoheitsgewässer fällt sie
also dem Reiche zu. Die Überwachung hat den Zweck, Neutralitätsverletzungen
seitens kriegführender Staaten zu verhindern. Für Neutralitätsverletzungen in
unseren Hoheitsgewässern könnten und würden wir verantwortlich gemacht werden.
Wir können Kriegsschiffe der kriegführenden Mächte nur dadurch von solchen Neu¬
tralitätsverletzungen abhalten, daß wir unsere Hoheitsgewässer durch geschulte
Marinebeobachtungsstellen, Patrouillenfahrzeuge, seebereite Kriegsschiffe und
Festungswerke dauernd überwachen lassen. Im Weltkriege haben die in der Nähe
der Kriegsschauplatze gelegenen neutralen Staaten ihre Mariner, lediglich zur Über¬
wachung ihrer Hoheitsgewässer, in einem mobilmachungsähnlichen Zustande ge¬
halten, mit dem Erfolge, daß ihre Gewässer von den im Kriege befindlichen Parteien
sorgfältig respektiert wurden, was sonst kaum der Fall gewesen sein würde.
Der Völkerbund soll eine Art ewigen Friedens gewährleisten und Vergewal¬
tigungen des einen Staates durch den andern unmöglich machen. Wie es damit in
der Praxis werden wird, wollen wir dahingestellt sein lassen. Tatsache wird es
jedenfalls bleiben, daß die unmittelbare Abwehr eines Überfalles stets dem einzelnen
Staat überlassen bleiben muß, schon weil der Apparat des Völkerbundes zu spät
funktionieren würde, um einem überraschenden Angriff entgegenzutreten. Er¬
fahrungsgemäß läßt sich auch eine Maßnahme leichter verhindern als rückgängig
Aachen. In dieser Hinsicht sollte uns der Verlust Posens ein warnendes Beispiel
bleiben. —
Die Verteidigung der deutschen Küste wird sich künftig nicht leichter, sondern
schwieriger gestalten als bisher. Früher war die Danziger Bucht einer der wesent¬
lichsten Stützpunkte in unserer Küstenverteidigung; heute ist sie in polnischen Händen
und damit zur Bedrohung der anliegenden Teile der deutschen Küste geworden,
namentlich der ostpreußischen, die durch Unterbrechung der Landverbindung vom
Hauptlande abgetrennt ist. In der Flensburger Föhrde liegt jetzt dänisches Gebiet
fast in Rufweite unserer Küste gegenüber und an der westschleswigschen Seite ist
das Nordufer des wichtigen Lister Tiefs in dänischen Besitz. Das alles sind neue
Gefahrmomente für die Sicherung unserer Küsten gegen Überfälle.
Dazu kommt, daß wir Nicht mehr über die als Beobachtungs- und Verteidi¬
gungsmittel wertvolle Waffe des Unterseeboots verfügen und daß die Mine infolge
der während des Krieges erfundenen Schutzmittel der Kriegsschiffe stark entwertet
ist. Eine rein artilleristische Verteidigung unserer langgestreckten Küste ist aus¬
geschlossen, ganz abgesehen davon, daß wir keine neuen Küstenbefestigungen anlegen
dürfen. Erst recht ausgeschlossen ist eine Verteidigung durch Landtruppen allein-
Der bewegliche Angriff von See her kann — vielleicht einzelne besondere Fälle aus¬
genommen — nur mit Seestreitkräften abgewehrt werden. Daher ist zur Ver¬
teidigung unserer Küste, selbst gegen die Flotten unserer kleinsten Nachbarn, eine
Marine von gewisser Größe und Leistungskraft unentbehrlich.
Unsere Schiffahrt ist nach Auslieferung unserer für den transozeanischen Ver¬
kehr geeigneten Handelsflotte bis auf weiteres der Hauptsache nach' Kleinschiffahrt
und ihre Hauptverkehrswege kreuzen die Ostsee. Diese Ostseeschiffahrt ist unter den
jetzigen Verhältnissen für uns von höchster Bedeutung. Sie muß um so mehr ge¬
fördert, behütet und beschützt werden. Ohne den Schutz einer deutschen Kriegs¬
flotte wäre sie der Willkür selbst der kleinsten Ostseestaaten ausgesetzt. Staaten wie
Lettland und Esthland könnten es sich einfallen lassen, ein paar Handelsschiffe mit
Kanonen auszurüsten und auf unsere unbeschützten Handelsschiffe loszulassen. Finn¬
land hat sich bereits aus Teilen der früheren russischen Kriegsflotte eine eigene kleine
Marine organisiert. Polen erhält von der Entente jetzt eine Kriegsflotte aus
modernen Kreuzern und Torpedobooten, die uns im Friedensverträge abgenommen
worden sind. Sowjetrüßland besitzt noch moderne Kriegsschiffe aller Größen, vom
Dreadnoughtthp abwärts bis zum Torpedo- und Unterseeboot. Mobilisiert es auch
nur einen Teil davon gegen uns, so ist unser Verkehr über See auf das ernsteste
gefährdet.
Ostpreußen ist durch seine Abtrennung vom deutschen Hauptlande zu einer
Insel geworden. Werden die nach Ostpreußen führenden Zufahrtswege über See
abgeschnitten, so ist es verloren; denn, um sich gegen Angriffe halten zu können,
braucht die Provinz Verstärkung durch Truppen und laufende Zufuhren an Kriegs¬
gerät, Munition und anderen für die Kriegführung nötigen Gegenständen. Der
einzige für solche Zufuhren in Frage kommende Hafen Ostpreußens ist PillaU.
Dieses liegt an der von Polen beherrschten Danziger Bucht. Nur wenn wir eine
eigene Marine haben, welche die polnische Flotte unbedingt in Schach zu halten
verring, können wir darauf rechnen, die lebenswichtige Verbindung mit Ostpreußen
aufrechtzuerhalten.
Ein Staat, der keine Kriegsflotte besitzt, ist der Absperrung zur See selbst
seitens der kleinsten Seemacht ausgesetzt. Es braucht nur daran erinnert zu werden,
wie das kleine Dänemark im Jahre 1864 die gesamte deutsche Schiffahrt und See¬
fischerei durch Blockade lahmzulegen vermochte. Was eine Blockade heutzutage
bedeutet, haben wir im Weltkriege zur Genüge zu fühlen bekommen. Selbst ohne
eigentlichen Kriegszustand kann die Blockade als Druckmittel zur Durchsetzung
irgendwelcher Forderungen angewandt werden. Mit dem Kriege zu Lande darauf
SU antworten, ist nur unmittelbaren Nachbarn gegenüber möglich und hängt außer¬
dem von der jeweiligen politischen Gesamtlage ab. Nur wer eine eigene Seemacht
besitzt, kann dem Gedanken einer Blockade vorbeugen und den Versuch eines solchen
Druckmittels vereiteln.
Eines der wirksamsten Mittel, Beziehungen zu überseeischen Ländern anzu¬
knüpfen und zu Pflegen, ist von jeher die Entsendung und Stationierung von
Kriegsschiffen über See gewesen. Natürlich vermag ein modernes und starkes
Schiff einen günstigern Eindruck von der technischen und militärischen Leistungs¬
fähigkeit des Heimatstaates hervorzurufen, als ein älteres und schwächeres; aber
schließlich kommt es nicht so sehr auf den Gefechtswert des Schiffes an als auf sein
gutes Aussehen, seine seemännisch geschickte Führung, die einwandfreie Haltung
seiner Besatzung, die Bildung und Weltgewandtheit seiner Offiziere, die als Grad-
Messer für die Beurteilung der heimischen Nation betrachtet werden. Die von einem
Kriegsschiffe getragene Flagge hat ihre Bedeutung nicht nur gegenüber dem über¬
seeischen Auslande, in dem sie erscheint, sondern nicht minder auch gegenüber den
eigenen dort wohnenden und wirkenden Volksgenossen, ganz besonders nach einem
unglücklichen Kriege. Das Deutschtum im Auslande wird nach der jetzt leider zu
erwartenden Auswanderung zahlreicher Volksgenossen eher zu- als abnehmen. Ihm
die Stellung im Auslande zu erleichtern und mit ihm das verknüpfende Band zum
Heimatlande herzustellen, kann es kein besseres Mittel geben, als das recht häufige
Auftreten deutscher Kriegsschiffe über See.
Bei allen seefahrenden Nationen ist es ein zweckmäßiger Brauch, die See-
bermefsung, das Seekartenwesen, den Wetter- und Handelsnachrichtendienst, die
Fischereibeaufsichtigung und die Kabelpolizei — letztere beiden auf Grund inter¬
nationaler Verträge —, ferner wissenschaftliche Forschungsreisen in den Weltmeeren
durch die Marine ausführen zu lassen. Auch zur staatlichen Hilfeleistung bei Un-
Mcksfällen auf See, bei Eisgefährdung der Schiffahrt u. tgi. pflegt die Marine
herangezogen zu werden. Deutschland wird zur Erfüllung solcher Kulturaufgaben
ebenfalls von seiner Marine Gebrauch machen müssen.
Auf den für die Lösung der vorstehend erörterten Aufgaben erforderlichen oder
wünschenswerten Umfang der dentschen Marine soll im Nahmen dieses Aufsatzes
uicht näher eingegangen werden. Dieser Umfang ist uns durch den Friedensvertrag
Zunächst vorgeschrieben und mit ihm haben wir uns daher abzufinden. Das ist klar,
daß unsere Gegner den Umfang unserer Marine im Friedensverträge auf das
Mindestmaß begrenzt haben, das sie selbst für unsere Bedürfnisse als unerläßlich
ansehen. Aber bei intensiver Schulung und geschickter Organisation und Aus¬
nutzung des uns Gelassenen werden wir die der Marine zufallenden Aufgaben im
wesentlichen erfüllen können. Halten wir unsere Marine innerhalb der uns auf¬
erlegten Grenzen qualitativ auf größtmöglicher Höhe, so bleibt bei der Intelligenz
und den technischen Fähigkeiten unseres Volkes auch eine spätere Vergrößerung stets
im Bereiche der Möglichkeit. Eine tüchtige, geschulte Marine ist, selbst bei be¬
grenztem Umfange, stets ein Machtfaktor, was in Hinficht auf unsere Bündnisfähigkeit
wohl zu beachten ist. Würden wir jetzt die Marine verfallen lassen oder gar auf¬
geben, so würden wir damit eine Verantwortung vor unseren Kindern und Kindes¬
kindern auf uns nehmen, die wir nicht zu tragen vermöchten. Eine Flotte läßt sich
nicht improvisieren, viel weniger als ein Heer, schon deswegen nicht, weil ihr Aus¬
bau, personell und materiell, Jahrzehnte in Anspruch nimmt. Daher muß der Ge¬
danke, auch nur etwas preiszugeben von dem, was selbst unsere erbitterten Feinde
uns nicht nehmen zu können glaubten, weit von uns gewiesen werden.
achten außer den Führern der 1., 2. und 3. Armee auch der General¬
stab sich in zwei Schriften zur Marneschlacht geäußert hat, kann das
„Rätsel der Marneschlacht" soweit als gelöst gelten, als dies ohne
Veröffentlichung der französischen und englischen Archive möglich
ist. Es liegen ja auch schön von französischen und englischen Heer¬
führern Abführungen über die Ereignisse bis Mitte September 1914 vor. M
nachstehenden soll nun versucht werden, auf Grund der bisher vorliegenden haupt¬
sächlichsten Schriften darzulegen, wie, vom deutschen Standpunkt betrachtet, sich die
Ereignisse von Mitte August bis Mitte September 1914 im allgemeinen abgespielt,
welche Umstände und Anschauungen sie beeinflußt, und wie ihre Folgen sich in der
eigentlichen Marneschlacht ausgewirkt haben.MS
Der Besprechung sind folgende Schriften zugrunde gelegt:
Erwünscht wäre es für die spätere Geschichtsschreibung, wenn auch die ma߬
gebenden Stellen der 4. bis 7. Armee sich zu den damaligen Vorgängen äußerten.
Wenn auch die Berichte und Ausführungen der Armeeführer oder anderer damals--
Maßgebender Persönlichkeiten ihres Stabes, subjektiv geschrieben, einen mehr oder
weniger einseitigen Standpunkt vertreten, so ist es doch von größter Wichtigkeit, fest¬
zustellen, wie die Maßnahmen und Anordnungen der Obersten Heeresleitung sich in
den Köpfen derer widerspiegeln, die in erster Linie zu ihrer Ausführung berufen
waren. Nur so läßt sich feststellen, ob Absichten und Anordnungen der O. H. L. sich
immer vollkommen entsprachen und ob ihre Anordnungen genügten, die Ausführung
ihrer Absichten im gewallten Sinne sicherzustellen. Ob, mit anderen Worten, die
O, H. L. das damals in sie gesetzte Vertrauen gerechtfertigt, oder ob sie versagt hat,
wann, wo und aus welchem Grunde. Während die aus den Kreisen des Generalstabs
des Feldheeres stammenden Schriften die Unterlagen geben für die Kenntnis des
strategisch erstrebten Zieles und der zu dessen Erringung angewandten oder beab¬
sichtigten Mittel, enthalten die Schriften der Armee-Oberkommandos, wenigstens in¬
direkt, die Kritik der ursprünglichen Absichten und der zu ihrer Ausführung ge¬
troffenen Maßnahmen. Sie ergaben deren Ausführbarkeit oder die Gründe, wes¬
wegen sie nicht ausgeführt wurden oder nicht ausgeführt werden konnten, weswegen
sie mißlangen oder mißlingen mußten.
Die Marneschlacht im engeren Sinne wurde von der 1. bis 3. Armee durch¬
gekämpft, die Maßnahmen dieser Armeen waren für ihren Verlauf und ihren Aus¬
gang entscheidend, in ihrem Kampfgebiet spielten sich in der Hauptsache die an¬
fänglichen Erfolge und der endliche Mißerfolg der Schlacht ab. Die Vorgänge bei
diesen Armeen, wie wir sie aus den Schriften ihrer Führer erkennen, lassen daher
die Gründe des taktischen und strategischen Mißerfolges der Absichten der O. H. L.,
wie sie die beiden Schriften aus dem Generalstabe offenbaren, klar genug erkennen.
Ohne auf Einzelheiten der kriegerischen Ereignisse im August 1914 einzugehen,
da diese nachgerade genügend bekannt sein dürften, soll kurz an folgendes erinnert
werden:
Dem Feldzuge lag unsererseits die Idee zugrunde, die der Altmeister der
Strategie, Graf Schliessen, mit strengster Folgerichtigkeit ausgearbeitet hatte, deren
Durchführung, zu unserem Unglück, ihm durch seinen. vorzeitigen Tod versagt
blieb: Niederringen des zuerst bereiten westlichen Gegners in den ersten Wochen, die
Rußland aller Voraussicht nach für seinen Aufmarsch noch nötig haben würde.
Einkesselung des französisch-englischen Heeres zwischen Paris—Marne—Rhein.
Hierzu linker Flügel der Hauptkräfte etwa bei Metz, starke Mitte und starker, mehr¬
fach gestaffelter rechter Flügel. Dieser sollte durch Belgien, dessen neutrale Haltung
Ah mindestens zweifelhaft schon lange erkannt war, marschieren, den Gegner über¬
flügeln und nach Südosten abdrängen, so daß dieser mit dem Rücken gegen Rhein
Und Jura die Entscheidungsschlacht annehmen mußte. Südlich Metz bis zur
Schweizer Grenze sollten nur schwache Kräfte den Grenzschutz ausüben und im
übrigen Metz—Straßburg—Brauschtalstellung—Oberrheinbefestigungen den Schutz
Süddeutschlands übernehmen. Dieser großzügige Plan wurde gleich zu Beginn des
Feldzuges dadurch verwässert, daß aus politischen und gefühlsmäßigen Erwägungen
den Franzosen der Einmarsch ins Elsaß unbedingt verwehrt werden sollte. Der
linke Flügel wurde daher erheblich stärker aufgestellt, der rechte Flügel entsprechend
geschwächt, die Aufmarschlinie des ganzen Heeres erheblich nach Süden verlängert.
Der größte Nachteil hierbei war, daß die Tiefenstaffelung des rechten Flügels, der
-sich ohnedies beim Durchmarsch durch Belgien an den dortigen und den nord¬
französischen Festungen immer mehr schwächen mußte, unterblieb, dieser also keine
Reserven hinter sich hatte, obwohl er in der Flanke ungedeckt war. Die Folgen
dieser Abänderung des ursprünglichen Planes warm ungünstig. Der deutsche linke
Flügel rannte sich — was Schliessen gerade vermeiden wollte — Ende August nach
einigen siegreichen Kämpfen an den französischen Festungen fest, schied damit für
die weiteren Ereignisse nicht nur aus, sondern vermochte nicht einmal zu verhindern/
daß Marschall Joffre von seinem rechten Flügel erhebliche Kräfte wegziehen und
aus diesen neue Armem 6., Maunoury, und 9., Fons, — bilden konnte. Von
diesen diente die eine (Fons) zur Verstärkung seiner Kampflinie an der Marne,
während die andere den bekannten Stoß in die rechts Flanke Klucks ausführte, der
diesen veranlaßte, die nach Süden gerichtete Stoßgruppe seiner Armee nach Westen
herumzuschwenken und auf seinen eigenen rechten Flügel zu werfen. Hierdurch ent¬
stand die berühmte Lücke zwischen 1. und 2. Armee, die die letztere zum Zurückgehen
am 10. September veranlaßte.
Eine weitere für unseren rechten Flügel unglückliche Maßnahme war die zeit'
weise Unterstellung der 1. Armee unter die Weisungen der 2. Armee. An sich war
ein enges Zusammenwirken dieser beiden Armeen und auch mit der 3. Armee eine
unbedingte Notwendigkeit. Es hätte aber besser erreicht werden können durch Bilden
einer besonderen Heeresgruppe, wie solche im weiteren Verlaufe des Krieges durch
die höhere Einsicht Hindmburgs und Ludendorffs geschaffen wurde. Ein selb¬
ständiges Heeresgruppmkommando hätte die Interessen der ganzen rechten Heeres¬
hälfte entsprechend den grundlegenden Weisungen der O. H. L. im Auge gehabt,
während bei Unterstellung einer Armee unter die andere diese den Sonderinteressen
der übergeordneten Armee unwillkürlich dienstbar gemacht wurde. Denn es ist nur
zu natürlich, daß dieser meist ihre eigenen augenblicklichen taktischen Bedürfnisse
mehr am Herzen lagen, als die strategischen Ziele des ganzen Heeres, die der ein¬
zelnen Armee nicht immer genügend bekannt warm. So fühlte sich denn auch Kluck
immer nur durch die Weisungen der 2. Armee beengt; sie scheinen ihm häufig nut
den allgemeinen Weisungen der O. H. L>, die er trotz der Unterstellung erhält, niW
in Übereinstimmung zu stehen. Er ist bestrebt, sich möglichst bald von ihnen loszu¬
machen, und handelt, wie Bülow mehrfach klagt, nicht immer in dem gewünschten
Umfange den Anordnungen gemäß, die die 2. Armee gibt. Es ist ja nur Mtürlich,
daß auch ein Armeesührer nach dem Grundsatze handelt: Das Hemd ist mir näher
wie der Rock, daß Kluck also lieber versucht, die Engländer völlig zu vernichten, als
Bülow gegen die diesem gegenüberstehende französische Armee unmittelbar zu unter¬
stützen. Andererseits glaubt Hausen, dessen 3. Armee an der Maas keine namhaften
Kräfte gegenüberstehen, diesem Grundsatze dadurch Rechnung tragen zu sollen, tap
er seinen nach Unterstützung rufenden beiden Nachbarn zu Hilfe eilt und seine
Armee hier, wie später an der Marne, zu dem Zweck in zwei Teile zerreißt, statt,
unbekümmert um die Unterstützungsrufe, mit seiner gesamten Armee geradeaus
weiterzumarschieren und so den die beiden Nachbararmeen angreifenden französischen
Kräften von selbst in die Flanke zu kommen. Die Notwendigkeit und Ausführbarkeit
eines solchen Verfahrens kann eben nur ein auf höherer Warte stehender Heer¬
führer erkennen, während jeder Armeeführer geneigt ist, den augenblicklichen Nöten
seiner Armee alle Kräfte dienstbar zu machen, die er irgend erreichen kann. Wie
der Führer jeden größeren Verbandes oft taub sein muß gegen die Hilferufe, die die
unterstellten Truppenkörper in jeder Schlacht an ihn richten, und wie er im Interesse
des Ganzen oft gegenseitige Hilfeleistungen der einzelnen Verbände verhindern
wuß, so auch der Heerführer gegenüber den ihm unterstellten Armeen. Bezeichnend
ist auch, daß jeder der drei Armeeführer der Ansicht ist, den Weisungen der O. H. L.
entsprechend zu handeln, ja diesen zuvorgekommen zu sein, auch wenn er in seinen
Maßnahmen mit den Nachbararmeen nicht übereinstimmte.
Nun hätte die O. H. L. die Stelle des Heerführers der 1. bis 3. oder auch
4- Armee gegenüber selbst versehen können. Damit kommen wir zu einem weiteren
ungünstigen Umstände, der unsere O. H. L. nicht wenig belastet und der sie an dem
endlichen Mißerfolg mitschuldig erscheinen läßt. Das Große Hauptquartier befand
sich zu weit hinter der Front und konnte dadurch zu wenig Einfluß auf die Armeen
ausüben. Seine Befehle kamen häufig zu spät, sie gründeten sich mehrfach auf allzu
optimistisch gefärbte Siegesnachrichten der Armeen. Sie gingen also manchmal von
Unzutreffenden oder nicht mehr zutreffenden Voraussetzungen aus, waren oft durch
die Ereignisse überholt oder widersprachen sich scheinbar.
Der zu günstigen Bemteilung der Lage bei der O. H. L. entsprang die vor¬
zeitige Abgabe des Garde-Reserve-Korps und des IX. Armee-Korps vom Westen
Nach dem Osten. Zweier Armeekorps, die unglücklicherweise dem rechten Heeresteil,
2- und 3. Armee, angehörten, und die bei der Entscheidung an der Marne schmerz¬
lichst vermißt wurden. Sie wurden, wie Tappen erläutert, deswegen dem rechten
Nügel entnommen, weil der damalige Chef des Gen.-Se. d. Feldh. auf Grund der
überschwänglichen Siegesnachrichten der 1. bis 4. Armee der Ansicht war, die Ent¬
scheidung im Westen sei schon gefallen, weil ferner diese Armeekorps nach dein Fall
bon ^Namur gerade verfügbar waren, während auf dem linken Heeresflügel die
'^orps aus der Front hätten herausgezogen werden müssen. Ein verhängnisvoller
Irrtum, der nur dadurch zu erklären ist, daß die O. H. L. wegen zu weiter Ent¬
fernung von den stürmisch vordringenden rechten Armeen keinen eigenen Einblick
^ die Geschehnisse hatte und so nicht erkennen konnte, daß das Zurückweichen der
Franzosen auf einem gefaßten Plane und in leidlicher Ordnung sich vollzog.
Als dann bei der O. H. L., die die Verhältnisse besser übersehen mußte, er¬
kannt tourbe, daß der Feind auf seinem linken Flügel neue Armem zusammenstellte,
°le die Flanke unserer 1. Armee und somit den Vornnrsch des ganzen rechten
Heeresteils bedrohten, da kam die durchaus richtige Anordnung, daß die 1. Armee
Üblich, die 2. Armee südlich der Marne den Flankenschutz des Heeres gegen Paris
Übernehmen sollte, zu spät. Die 1. Armee hatte die Marne mit 3 Korps schon über¬
schritten und stand zum Teil südlich des rechten Flügels der 2. Armee, diesen in
seiner neuen Aufgabe behindernd. Als dann die Flankenbedrohung wirksam wurde,
da stützte sich die 1. Armee, obwohl ihre Korps südlich der Marne im Verein mit der
2. Armee in scharfem Kampfe standen, auf den verspätet eingelaufenen Befehl der
O. H. L,, ging zunächst mit einem Korps auf das Nordufer der Marne zurück und
zog dann auch die beiden anderen Armeekorps nach. Hierdurch entblößte sie die
Flanken der 2. Armee, ließ eine große Lücke zwischen sich und dieser Armee, die
nur durch schwache Kräfte geschlossen wurde, und veranlaßte so die 2. Armee, ihren
rechten Flügel weit zurückzubiegen, wodurch die Lücke noch vergrößert wurde. Ein
Heerführer an Ort und Stelle hätte den Rückmarsch des III. und IX. A. K. und
deren Einsatz auf dem rechten Flügel der 1. Armee wohl verhindert. Für den
defensiven Zweck der 1. Armee war er jedenfalls nicht unbedingt notwendig. Die
2. Armee aber hätte das Verbleiben dieser beiden Armeekorps auf ihrem rechten
Flügel befähigt, die Offensive weiter fortzusetzen, die sich zu einem Durchbruch aus¬
zubilden schien, der mit Hilfe des rechten Teiles der 3. Armee in gutem Vorschreiten
war. Ein Heerführer an Ort und Stelle hätte auch das Zerreißen der 3. Armee
verhindert, die mit einem Teile bei der 2., mit dem anderen bei der 4. Armee focht,
in ihrer Mitte eine kaum bewachte breite Lücke lassend. Da sie keinen nennenswerten
Feind in ihrer bisherigen Vornmrschrichtung hatte, rächte sich diese Lücke nicht-
Aber ein Marschieren in ihrer alten Richtung hätte den Nachbararmeen eine wirk¬
samere Hilfe dadurch gebracht, daß sie deren Gegnern in die Flanke kam, als wenn
sie diese rein frontal unterstützte. Die vom rein örtlichen Kampfe voll in Anspruch
genommenen Armee-Oberkommandos übersahen diese Verhältnisse damals nicht-
Hausen glaubte den dauernden Hilferufen seiner Nachbarn unbedingt Folge leisten
zu müssen.
Die Entsendung des Oberstleutnant Hentsch vom Gen.-Se. der O. H. L. mit
weitgehenden Vollmachten zu den Armeen war nur ein schwacher Ersatz für die
fehlende persönliche Fühlung. Seine Anordnung betreffs Zurückgchens der 1. bis
3. Armee wird zudem vielfach als unheilvoll betrachtet.
Die O. H. L. ließ überhaupt die Zügel zu sehr am Boden schleifen. Sie
überließ den Armeen zu viel. Diese, nicht immer genügend über das unterrichtet,
was bei den anderen Armeen vorging — so war Kluck am 5. September erstaunt, als
er vernahm, daß die 6. und 7. Armee sich schon seit einiger Zeit vollkommen festgelaufen
hatten und auch die 5. Armee in dem schwierigen Gebirgsgelände nicht vorwärts
kam —, handelten an sich taktisch richtig, fielen aber mit ihren Entschlüssen und den
Anforderungen an ihre Nachbararmem öfter aus dem strategischen Rahmen heraus-
Die Armeen waren zu oft auf Vereinbarungen untereinander angewiesen, bei denen
die eigenen Interessen der Armeen häufig in Streit gerieten. So klagt Hausen
darüber, daß die Grenzen der Armeebereiche nicht genügend festgesetzt seien, so daß
durch die hierdurch entstehenden übergriffe in die Nachbargebiete die Armeen in
ihren Maßnahmen und in ihrem Vormarsche oft behindert würden.
Von den vorstehend geschilderten, in ihren Folgen unglücklichen Maßnahmen
und Versäumnissen unserer obersten Führung erscheint für den endlichen Mißerfolg
der Marneschlacht am ausschlaggebendsten das Fehlen verfügbarer Reserven hinter
dem rechten Heeresflügel. Es fehlen hier zunächst die 3 Armeekorps, die der General¬
stab vor dem Kriege vergeblich beantragt und durch deren unentwegtes Fordern
Ludendorff sich den leitenden Stellen unbequem gemacht hatte. Es fehlen die für
diese Armeekorps aufgestellten Neusormationen, die noch in der Ausbildung begriffen
waren. Es fehlten die vorzeitig nach dem Osten geschickten beiden Armeekorps.
Es fehlten zu deren Ersatz die Korps, die die O. H. L. in richtiger, wenn auch ver¬
späteter Erkenntnis der Läge aus der Heimat — IX. Reservekorps — und vom linken
Flügel des Heeres jetzt heranführte. Anfang September waren das A. O. K. 7 und
das XV. A. K. aus französisch Lothringen nach Belgien in Marsch gesetzt worden,
wo aus diesem, dem IX. Reservekorps und den nach dem Fall der belgischen
Festungen frei werdenden Korps «me neue 7. Armee gebildet wurde. Aber es war
Zu spät! Hätten am 7. oder 8. September zwei oder drei Korps dieser 7. Armee
bei Se. Quentin versammelt sein können, so war menschlichem Ermessen nach nicht
nur der taktische Erfolg gewährleistet, sondern auch die strategische Auswirkung der
gewaltigen Schlacht hätte dem Feldzuge ein ganz anderes Aussehen gegeben. Der
weitere Verlauf, selbst wenn es zum Stellungskrieg gekommen wäre, hätte eine für
uns erheblich günstigere Basis erhalten. Es sei hier nur auf die in' der „Kritik des
Weltkrieges" näher erläuterte Linie Metz—Dieppe hingewiesen, durch die die ganze
Kanalküste in unsere Hand siel, die Küste Dünkirchen—Calais, für deren Ge¬
winnung wir in der Folgezeit vergeblich die blutigsten Opfer brachten.
Des Rätsels Lösung? Die Marneschlacht, deren taktischen Erfolg wir am
" September schon in der Hand zu halten schienen, ging verloren durch Unzuläng¬
lichkeiten unserer obersten Führung, die es nicht verstand, die Armeen überall in dem
von ihr gewallten Sinne einzusetzen und zu leiten, und die versäumt hatte, rechtzeitig
die nötigen Reserven hinter dem rechten Hceresflügel bereitzustellen.
jahrzehntelang hat die sozialdemokratische Partei zwar nicht
darunter gelitten, aber es insgeheim doch als lastenden Mangel
empfunden, daß aus ihren Reihen kein Dichter erstand.
Die ungeheure Volks- und Völkerbewegung, die Morgenröte
der Welt, der angeblich vulkanischste und heiligste Gedanke
aller Zeiten, und niemand, der ihn in glutende Verse zu gießen wußte! „August
sein auf dem Thron, wenn kein Horaz ihn singt!" stöhnte wohl schon der wackere
Bebel. schreckte den Genius, der sich doch alleweil mit Feuer auf die Seite
der Bedrängten stellte (zumal der deutsche Genius!), schreckte ihn die Spießigkeit
der roten Stürmer und Dränger, oder erkannte sein Strcchlenblick allzu scharf,
daß sich hinter idealistischen Gerede nur grob materialistische Bestrebungen
verbargen, wie sie nachher zur jammervollen Lohnrevolution von 1918 führten?
Das Dichtervolk, sonst immer zur Fronde und Empörung geneigt, von Wilhelms
herrschenden Gewalten wahrhaftig nicht geködert und verwöhnt, hielt sich
abseits. Kein Freiligrath und Herwegh sprengten tyrtäisch dem Proletarier¬
heerbann voran; Wilhelm Blos. Pfannkuch, Jakob Autors hießen die Müh-
seligen, die ihm ein paar Dilettantenverse zusammenstümperten. Welche Pracht
der Leidenschaft, welche Wildheit und Großartigkeit der Sprache schlug aus den
Rhythmen der Vormärzler auf, die der moderne Umstürzler doch alle weil mit
lächelnder Verachtung maß und für kleinbürgerlich-engherzig erklärte! Statt
der noch immer jedes junge Herz entstammenden Signale des „Trompeters
der Revolution" hatten die Bezwinger des kaiserlichen Deutschlands höchstens
kümmerliche Sitzungssänge zur Verfügung: „Wohlauf, wer Recht und Wahrheit
achtet, bei unf'rer Fahne steht zu Haus! Ob uns die Lüge noch umnachtet, bald
steigt der Morgen hell herauf!" Allerdings, sie sind trotzdem Sieger im Kampfe
geblieben, wenigstens einstweilen; die Revolution von 1848 dagegen brach
rasch zusammen trotz Freiligrath. Aber der politische Erfolg entscheidet ja nun
und nimmer über dichterische Werte. Der Kranz der Verklärung, den der Poet
flicht und der eine Tat erst wirklich unsterblich, das heißt blühend-lebendig, glanz¬
voll, begeisternd auch in den Augen der Nachfahren macht, diesen Kranz erzwingt
der Wunsch eines Parteibonzen so wenig wie der Befehl irgendeines Im¬
perators.
Die Dichter der Jahrhundertwende haben sich von der politischen Poesie
ferngehalten; man müßte denn Ausnahmen wie Wildenbruch gelten lassen.
Jedenfalls stiegen zum Preise der Opposition keine eisernen Lerchen auf.
Vielleicht, weil die Musen bourgeoisiert waren wie das ganze Volk, dem Politik
ein Greuel, eine Geschäftsstörung, ein Zeitverderb schien. Für so etwas hatte
man bezahlte Staatsmänner und außerdem, na ja, den Plappermentarismus-
Das poetische Zigeunertum befaßte sich gleichfalls nicht mit Angelegenheiten
des öffentlichen Lebens; ihm lagen die des öffentlichen Hauses weit mehr ain
Herzen. Erst nach dem 9. November änderte sich das. Jetzt auf einmal wurden
tausend Schleusentore geöffnet, und Brausewellen sozialistischer Lyrik stürzten
ins überraschte Tal. Jetzt auf einmal schrillten tausend Instrumente los, ergab
sich, daß alle diese Erospropheten ebenso viele Thomas Moore waren, ja Karl
Moore, die von rasendem Fanatismus überschäumten. Den nicht durchweg
beliebten Novembersozialisten traten die Novemberdichter ebenbürtig zur Seite.
Daß sie sämtlich Senf nach der Mahlzeit auftischten und zur Tat anspornten,
als die Tat längst geschehen war, entging den Herren im Wirbelsturm der Hin¬
gerissenheit, die jede über Nacht gewonnene Überzeugung oder Weltanschauung
zu begleiten pflegt.
Bei alledem, warens Dichter gewesen, so wollten wir die üblen Begleit¬
erscheinungen und. den Mißduft aufdringlichen Renegatentums vergessen,
die abstoßende Feigheit, die heute, nun jede Gefahr vorüber ist, sich vor Mut
kreischend überschlägt, die Gesinnungslosigkeit von gestern, die ein Kakerlaken¬
dasein im Kaffeehaus führte und nun plötzlich Zinnenwächterdienst verrichtet.
Ein Talent braucht kein Charakter zu sein, ein Lump kann süßeste Musik machen-
Weshalb soll der Brand der Götterdämmerung nicht urgewaltig eine bis dahin
schlummernde Dichterkraft wecken? Aber von solcher Erweckung ist nirgendwo
die Rede gewesen. Politisches Dichten wurde eben Mode, wie kurz vorher das
Kabarett, die Diele und die Bar Mode gewesen waren. Der sogenannte neue
Stil, das heißt, die krampfigen Bemühungen, auf Kosten der deutschen Sprache
originell auszusehen, dieser neue Stil schmiegte sich zudem revolutionären
Ausbrüchen gefällig an, verlieh abgeleierten Leitartikeleien und Pazifisten¬
redensarten den Schein der Wildheit. Wieder einmal konnte der Bürger
verblüfft werden. Wieder einmal war es möglich, xbeliebige, gelegentlich auf¬
gelesene Programmpunkte für geniale Offenbarungen auszugeben und mit
der Theaterfeuermaschine erschreckliche Brände herzustellen. Und kein Zweifel:
wäre hinreichende Begabung vorhanden gewesen, dann hätte sich schließlich
doch etwas wie ein pomphaftes Schauspiel ergeben.
Nur hat es an solcher Begabung fast durchweg gefehlt.
Die — bezeichnenderweise nahezu unbekannt gebliebenen — Kraft¬
leistungen einzelner ändern an diesem Urteil nichts. Stehen die einzelnen doch
nicht nur im Getümmel der Mitstrebenden vereinzelt da, sondern ist doch auch
das ihnen geglückte Werk in ihrem eigenen Schaffen kläglich vereinzelt. Einmal
und nie wieder gelang der Wurf. Zur Berühmtheit sind sie, so oder so, nicht auf¬
gestiegen. Berühmtheit, das will sagen, Presselob, öffentliche Rezitation und
dergleichen belasten ausschließlich eiskalte Macher ein. Emporkömmlinge der
Revolution, Futterkrippenanwärter in ihrer Art so gut wie die Neffen, Onkel,
Nichten und Schwiegermütter der als Volksbeauftragte und Minister firmieren¬
den Triumphatoren. Es sind zum Teil Leute, die nicht einmal die Handwerks¬
technik beherrschen und ihre Stümperei durchsichtig genug hinter der beliebt
gewordenen Sternheimmauier verbergen, die deutsche Sprache zu verstümmeln.
Was der Maske- und Schippel-Ersinner tat, um die sinkende Aufmerksamkeit
seiner Gemeinde wachzuhalten; was bei ihm immerhin gewollt ist, das über¬
nehmen die Nachäffer zur Vergoldung ihrer übermenschlichen Unfähigkeit.
Etwa wie ein Adolph Hoffmann oder sonst ein dauernd sitzengebliebener Ge-
ineindeschüler entschlossen für „sit si fil" eintritt, weil ihm bei dieser Recht¬
schreibung keine orthographischen Fehler mehr nachgewiesen werden können.
Es kommt im wesentlichen nur auf ein Beispiel an:
und so fort. Dieser Poet hat die Eigentümlichkeit, mit endlosen gereimten Auf¬
zählungen Seiten zu füllen. Versifizierte Reportage statt des überwältigenden,
geballten Bildes, dem der Gedanke blitzschlagkräftig entspringt. Wenn außer¬
dem Defraudanten sich von Brücken werfen, im Lichtschein der Paläste auf¬
gewiegelt, so tun sie das nur, weil die Anarchisten, die ihre Messer schärfen, mit
einem Schwur zur dunklen Tat besiegelt sind. Die Sache muß nämlich hinten
Zappen, und in seiner Angst scheut der Dichter vor keiner Sinnlosigkeit zurück.
Auch gibt die Sinnlosigkeit Mystik her, alswelche das Gedicht erst auf modische
Höhe hebt.
über die Universitätsjünglinge und die väterhassenden Söhne, die der
visionäre Poet erblickt, nachher noch ein Wort. Aus welchem Vorstellungskreise
von anno Tobak stammt aber die Behauptung, daß gerade Minister an Tafeln
prasselt? Wohl haben diese Herren, wie heute noch, unter Wilhelm II. manch
wenig vergnügliches Nepräsentationsdiner mitmachen müssen, doch die eigent¬
lichen Schlemmer und Prasser, die wirklichen Drohnen, suchen wir seit etwa 125
Jahren, auf jeden Fall seit 1872, ganz wo anders. Im Hirn des Ganzneuzeitlers
jedoch ist die Titulatur, die ein Schubart noch mit etlichen Fug aufstellen konnte,
unvergänglich eingebrannt; fröhlich benutzt er beim Dichten längst verstaubte
Gummistempel weiter. Und dabei stört es ihn dann nicht, den Wortlaut, die
Feststellung, daß Minister in ausgedörrten Städten nicht mehr an den Tafeln
prasselt, wieder um des Reims und Rhythmus willen knabenhaft zu verschieben
und der Sprache das Ersatzprokrustesbett zu bereiten... Es ist nur ein Bei¬
spiel. Zwanzig Strophen füllt der Revolutionär mit abgehacktem, oft zusammen¬
hanglosen Schilderungen, mit poetischen Zeilenschildereien von bleierner Da-
geWesenheit. Daß ihn nicht besonderer Anlaß, besondere Absicht dazu treibt,
beweist bündig das nächste Gedicht, „Die Mörder sitzen in der Oper", mit genan
derselben stumpf-ironischen Aufzählerei:
Dies aus der Kirche geraubte silberne Tablett, das bei einem Königsnwh^
erscheint, darf als poetische Freiheit angesprochen werden. Etwas Poetische
muß ja schließlich in jedem Gedicht sein. Strenger Gesinnte würden, falls ve
Herr Verfasser nicht den Wahrheitsbeweis für seine Anklage zu erbringen ve
mag, vielleicht von gewissenloser Verleumdung und hetzerischer SchündlickM
sprechen, die gerade jetzt, angesichts gewisser feindlicher Beschuldigungen und
Sühneforderungen, verhängnisvolle Wirkung ausüben kann. Unter allen
Umständen ist nur einDeutscher von 1920 imstande, derlei Schmach zu schreiben;
daß unser Autor als Entstehungsjahr seines Gedichtes 1917 nennt, spricht für
seine Frühreife und sein Einfühlungsvermögen. Im übrigen hat Wedekind,
auch sonst unerreichtes Vorbild der Jüngeren, mutigere, eindrucksvollere und
satanischere Kontraste geformt. Er wartete nicht Revolutionen ab, ehe er
revolutionär wurde, und schrieb keine Neuruppiner Bilderbogen für den Massen¬
bedarf der Straßenseelen.
Von den allermeisten politischen Dichtern, die sich so grenzenlos erdreisten
Möchten, wild ins Chaos zu sprengen vorgeben und doch niemanden über die
Rasse ihres Karussellpferdes zu täuschen imstande sind, ist der hier Vorgeführte —
es sei wiederholt — nicht der Beträchtlichste. In vieler Hinsicht sogar einer
der Unbeträchtlichsten. Aber man nennt, obgleich der eigentliche Boon vorbei
ist, seinen Namen noch immer in sogenannten weiteren Kreisen. Ein Stück von
ihm, schwitzende Zusammennäherei von Schiller, Goethe und dem schon er¬
wähnten Wedekind, hat zahlreiche deutsche Bühnen beschritten. Darin ringt
«in Sohn, der die Reifeprüfung nicht bestanden hat, um den Hausschlüssel,
hält schwache, aber stark faustische Monologe, tritt zwischen allerlei Marquis
v. Keiths als Klubredner auf, verbringt eine angeregte Hotelnacht und wird
schließlich der Notwendigkeit, seinen Vater zu erschießen, dadurch enthoben,
daß der alte Herr einem Schlaganfall erliegt. Später brachte der Dramatiker
es nicht mehr zu dieser Fülle der Gesichte? nachlassende Erfindungskraft zwang
ihn, die Antigone dermaßen zu bearbeiten, daß es selbst der Reichshauptstadt
über die Hutschnur ging. Bei alledem gehört er noch nicht völlig zum Schnee
des vergangenen Jahres. „Seine Macht", so schreibt eine große Rundschau,
»ist Pathos, lyrische Fülle, definitionssicher differenziert, dialektisch pointierte
Leidenschaft." Man heißt ihn an anderer Stelle einen morgendlichen deutschen
Dichter, einen Priester des Reichtums an Gekostethaben, dessen „Hände wie
ruheschenkende schwere Sessel sprechen." Die Antigone ist in achter Auflage er¬
schienen, von einem anderen Schauspiel gibt es fünfzig vom Verfasser signierte
Exemplare auf Büttenpapier zu kaufen; Oskar Kokoschka hat das für 150 Mark
auf Japanbütten, für 125 Mark auf Holländerbütten lithographierte Butus
des Ragender geschaffen. Wenn nicht unseren bekanntesten, so darf er steh doch
unseren genanntesten Revolutionsdichter nennen. Und eben deshalb schien es
^förderlich, sein Wollen und Können rasch zu umreißen, rasch umzureißen.
Sein Name ist Walter Hasenclever.
Luzern. Es ist bezeichnend, daß nicht nur die französische, sondern
auch die deutsche Presse bei Besprechung des Luzerner Communiquös eine radikale
Schwenkung Llohd Georges festgestellt haben. Daß die französische dies tat, lag
sicher sowohl in Llohd Georges wie in Millerands Sinne, daß die deutsche es
tat, ist ein neues Zeichen derselben fürchterlichen Oberflächlichkeit und Gedanken¬
losigkeit, die auch in den Kommentaren zum Vormarsch der Roten Armee auf Warschau
und zum dann erfolgenden Umschwung der militärischen Lage zum Schaden unseres
Ansehens hervorgetreten sind. Augenscheinlich sind sich unsere Leitartikler, die,
mit wenigen rühmlichen Ausnahmen, ausländische Zeitungen nur aus telegraphischen
Auszügen zu kennen Pflegen, noch immer nicht klar darüber, daß man ihre Ergüsse
im Auslande sehr genau verfolgt, zusammenstellt und nötigenfalls propagandistisch
ausschlachtet, und daß dies nicht nur in den Andern, sondern mindestens im
gleichen Maße in den einzelnen Redaktionen selbständig geschieht. Die Zeiten
sind vorbei, da man in einer großen Tageszeitung Haß und Schadenfreude,
Entrüstung und Lob aus der Tiefe des Gemüts allein zur herzstärkenden Freude
und Anregung Abendbrot essender oder Morgcnmunke schlürfender Abonnenten
hinausschmettern konnte) das überlasse man gefälligst der Lokalpresse oder dem
Feuilleton. Der Leitartikel einer großen Zeitung hat mit Lyrik nichts zu tun,
sondern ist ein politisches Instrument, mit dem man in einen internationalen
Gesellschaftskreis eintritt. Und ebensowenig wie man im Hausrock in Gesellschaft
kommt, ebensowenig dürften außenpolitische Leitartikel lediglich mit Rücksicht auf
den „lieben" Leser freundlicher Familienromane geschrieben oder aus Furcht vor
Abonnementsabbestellungen nuanciert werden. Allerdings sollten auch besagte
Abonnenten sich die entrüstungstrotzenden Briefe an den Redakteur abgewöhnen
und sich daran gewöhnen, zu überlegen, ob nicht der Redakteur bestimmte Gründe
gehabt haben kann, gewisse Dinge eben nicht zu sagen oder anders auszudrücken,
als gerade der meist ganz schlecht, weil einseitig orientierte Leser es für richtig
hält. Diese Unfähigkeit, die Presse als politisches Instrument zu benutzen, zeigt
sich leider bis in die höchsten Stellen hinauf. Was angesehene Männer in öffent¬
lichen Stellungen sich für Entgleisungen in Interviews leisten, geht ins Ungeheuer¬
liche. Häufig habe ich feststellen können, daß der Interviewte' das Blatt, dessen
Vertreter er unterrichten soll, nie selber in der Hand gehabt und nicht die leiseste
Ahnung hat, wie der Leserkreis, zu dem er spricht, beschaffen ist, und die wenigsten
Leute überlegen sich, wie ihre Äußerungen sich, in die fremde Sprache übersetzt
(wie wenig Leute können bei uns noch wirklich fremde Sprachen!), ausnehmen
müssen. Leider scheint nicht einmal der deutsche Außenminister von dieser Ahnungs-
losigkeit frei zu sein. Es ist kein Zustand, daß Interviews wochenlang in der
Welt herumschwirren und glossiert werden und daß das Auswärtige Amt acht
Tage lang erklären muß, die richtige Wiedergabe der Äußerungen des höchsten
Chefs müsse „bis zu dessen Rückkehr einstweilen bezweifelt" werden. Gibt es
keinen Telegraphen? Interviews sind politische Handlungen,' man gibt sie nicht,
zumal nicht so wichtige wie das im „Tempo" und in der „Stampa" erschienene,
aus dem Stegreif. Warum wurde der Wortlaut der Erklärungen nicht sofort
nach Berlin depeschiert, damit man dort orientiert war? Es ist ein schlechtes
Zeichen, wenn nicht einmal derartig elementare Dinge funktionieren.
Was nun die angebliche Schwenkung Llohd Georges betrifft, so ist sie in
Wirklichkeit gar nicht vorhanden. Llohd George ist nicht umgeschwenkt, h?t mcyr
gestern weiß und heute schwarz gesagt, sondern er macht Politik und hat die LlM^
seiner Politik durchaus festgehalten. Seit' Monaten strebt die englische Polar,
da der Friede im Osten sich nicht ohne weiteres durchsetzen ließ, wenigstens me
Wiederaufnahme der Handelsbeziehungen zu Rußland an. Es geschieht dies unrer
dem Druck der wirtschaftlichen Verhältnisse und der Notwendigkeit, angesichts ^
immer drohender emporwachsenden Übermacht der Vereinigten Staaten, ein ruhM»
Europa zu bekommen, der Furcht vor weiteren Verwickelungen in Mittelasten,«er Besorgnis vor bolschewistischer Propaganda in Indien, unter den steten
-Mahnungen der englischen Arbeiterschaft, die bei zunehmender Abneigung gegen
das Sowjetregime an sich, eine Fortsetzung des Krieges unter allen Umstanden
verhindern will. Es geschieht gegen den Willen der englischen Rechtskreise
und gegen die Wünsche des französischen Alliierten, die eben dieselbe Rechte stärker
berücksichtigt haben will. Llohd George kann diese Politik nur durchführen, wenn
Ne erfolgreich ist. Ein Mißerfolg gefährdet nicht nur seine eigene Stellung,
Wildern erschüttert die gesamte innere Politik des Landes, das sich angesichts der
Abwicklungen in Irland und der sich immer mehr zuspitzenden Gegensätze zwischen
Arbeiterschaft und Kapital den Luxus eines neuen Wahlkampfes ohne schwere
Nachteile kaum leisten kann. Erfolge aber sind nicht möglich, wenn die Sowjet¬
unterhändler sich als unzuverlässig erweisen und die elementarsten Regeln
°lplomatischer Formen in den Wind schlagen. Es war somit selbstverständlich,
oaß Lloyd George die erste Gelegenheit, den Sowjetvertretern in dieser Beziehung
^ne scharfe Lektion zu erteilen, ergriff. Er würde sie ergriffen haben, auch wenn
ver Umschwung der militärischen Lage nicht erfolgt wäre, aber eben dieser
^wschwung bot Gelegenheit, dies in besonders nachdrücklicher Form zu tun. Das
Muck Lloyd Georges, das sür viele seiner Aktionen typisch ist, wollte es, daß
I'es gleichzeitig noch die Möglichkeit zeigte, das Prestige Millerands in Frankreich
heben und sich auf diese Weise wieder die Unterstützung der Rechten zu sichern,
^eit langem schon geht Llohd George darauf aus, die Stellung Millerands zu
Ästigen, ihm zu außenpolitischen Erfolgen zu verhelfen, damit nur Millerand und
>ein Kabinett die Macht behält und nicht von einem weiter rechts gerichteten, wie
^s. den Mehrheitsverhältnissen dex französischen Kammer eigentlich natürlich
^a're, abgelöst wird, einem Kabinett, das die zum Teil scharf englandfeindlichen,
^undestens der Bersöhnungspolitik Lloyd Georges mit ausgesprochenem Mißtrauen
begegnenden Tendenzen gewisser französischer Rechtskreise zum Ausdruck bringen,
A>r allem aber zusammen mit Belgien Deutschland gegenüber eine ausgesprochene
Gewaltpolitik verfolgen würde. Schon in Spa ist Lloyd George bestrebt gewesen,
Attllerand zu stützen, der selbst dann noch große Schwierigkeiten hatte, die Vor-
Msse an Deutschland durchzusetzen, der Eindruck der Sonderaktion Millerands
Mstchtlich der Anerkennung Wrangels (die dem russischen General jetzt schon zum
Unglück auszuschlagen droht), wurde nach Möglichkeit vertuscht, und in Luzern
"vt sich wiederum Gelegenheit, zu betonen, daß Millerand hinsichtlich Polens
^ehe gehabt hatte. Man will immer noch lieber den vorsichtigen Millerand
"is etwa den draufgängerischen Barthou. Mit Millerand ist immer noch Hoffnung,
"Ac Besetzung des Ruhrgebiets, die Frankreichs Hegemonie auf dem Festland in
geradezu bedrohlicher Weise festigen, die Franzosen überdies von dem englischen
^ohlenexport unabhängig machen würde, hinauszuschieben oder falls sie doch erfolgt,
?vzukürzen. Mit einem weiter rechts orientierten Kabinett wäre diese Möglichkeit
" Frage gestellt, um so mehr, als das englische Weltreich sowieso in allen Fugen
^zittert und es zweifelhaft erscheint, ob man nicht, der Orientpolitik zuliebe, den
natürlich noch immer bestehenden Widerstand gegen französische Besetzung des Ruhr-
geoiets wird einschränken müssen. Schon mußte man englischerseits angesichts der
»nadezu katastrophalen Entwicklung in Mesopotamien die syrische Position aufgeben
/'lib kann den Emir Faissal, der trotz englischer Ausrüstung dem General Gouraud
^ Feld räumte, nicht mehr empfangen, schon hat man Ägypten eine Selbstver¬
waltung zugestehen müssen, deren praktische Folgen man nicht zu überschätzen braucht,"'e aber den Franzosen Gelegenheit zu erneuter Einmischung in Ägypten geben
o^rd ^_ die Kommentare der französischen Presse in dieser Hinsicht sind bezeichnend
umug Gerade diese glatte Anerkennung der ägyptischen Selbstverwaltung aber
Meuse, wie unsicher man sich in England zu fühlen beginnt. Auch muß man es
^ gefallen lassen, daß die Franzosen die englische Donaupolitik immer fühlbarer
Durchkreuzen und ihren Einfluß sowohl in Ungarn wie in Rumänien, wie in
Bulgarien ausbreiten. Bei der Zersplitterung der französischen Linken und der
schweren Krise, in der die Sozialistenpartei infolge des Anschlusses einiger radikaler
Elemente an die dritte Internationale steht, ist ein weiter rechts orientiertes Kabinett,
das dann Deutschland gegenüber sofort eine aktive Gewaltpolitik einschlagen würde,
in Frankreich heute durchaus lebensfähig, und einem solchen gegenüber müßte
England, wie es bereits während der Versailler Verhandlungen getan hat, in
weitgehendem Maße kompensieren, um wenigstens den Orient zu retten. Diese
Entwicklung aber will man nach Möglichkeit hinausschieben, und dazu erhöht
man das Prestige Millerands. Ob diese Politik auf die Dauer Erfolg hat, ob
nicht England schließlich doch sowohl am Rhein wie im Orient wird zurückweichen
müssen, muß abgewartet werden. Lloyd George hat stets von der Hand in den
Mund gelebt, schon beginnt es, wie ein Artikel des Echo de Paris vermuten läßt,
den Franzosen bei dem Gedanken an eine tatsächliche Besetzung des Nuhrgebiets
selbst nicht ganz geheuer zu werden, und wenn es englischem Einfluß tatsächlich
gelingt, eine Oststaatenkonferenz in Riga zustande zu bringen, bekäme England für
eine Zeitlang wieder freies Spiel. Auch hinsichtlich der Danziger Frage bedeutet
das Luzerner Communiquö nicht eigentlich eine Schwenkung Lloyd Georges. In
einem Augenblick, da der Streik der deutschen Hafenarbeiter aller Welt in auf¬
fälliger Weise vor Augen führen muß, daß Danzig 6s tavtv nicht eigentlich ein
polnischer, vielmehr ein englischer Hafen ist, muß den Engländern naturgemäß
daran liegen, diesen Tatbestand zu vertuschen, zumal die Polen, wie die ober-
schlesischen Vorgänge beweisen, den militärischen Erfolg an der Ostfront benutzen,
«hre Position auf deutschem Gebiet zu stärken.
Zeitungsmeldungen zufolge ist das französisch-belgische Militärabkommen ab¬
geschlossen. Natürlich handelt es sich um rein defensive Maßregeln, — wann wäre
in unseren Tagen ein Offensivbündnis geschlossen! — und selbstverständlich wird
es geheim gehalten. Das ist vom militärischen Standpunkt aus begreiflich. Aber
wo bleibt der Völkerbund? Wo bleiben die belgischen Sozialisten? Werden sie
sich wirklich mit faustdicken Lügen abspeisen lassen wie solchen, daß das Abkommen
keine bindenden Verpflichtungen für Belgien enthalte und daß Angaben über
Truppenstärken nicht genannt seien? Wie will man militärische Maßregeln be¬
schließen, ohne sich über die Stärke der Operationskorps klar zu werden? Aber mit
äußerster Fixigkeit hat man den Augenblick einer Ministerkrise und der Kammcr-
ferien benutzt, das Abkommen perfekt werden zu lassen. Und die Sozialisten¬
führer haben nichts Eiligeres zu tun, als nach — Georgien zu reisen. Überschrift:
Parlamentarisches Regime.-
Die Lage in Belgien ist überaus verworren. Tatsächlich existiert das KoN
zentrationskabinett nicht mehr. Die Liberalen sind zurückgetreten. Von den beiden
anderen großen Parteien, deren jede außerdem wegen der Sprachenfrage, die jeden
Monat mehr akut wird, in einen flämischen und einen wallonischen Teil aus¬
einanderzufallen droht, fühlt sich keine stark genug, allein zu regieren, währeno
andererseits auch ein Zusammenwirken unmöglich erscheint. Belgien geht der Zer¬
setzung entgegen und wird zum Kampfplatz zwischen England und Frankreich wie
zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts. Leise und unmerklich festigt Englano
seinen Einfluß in Antwerpen, wo es die Deutschen fernzuhalten bestrebt ist; nocy
ist nicht deutlich, wie weit es die flämische Bewegung, die von Monat zu Monat
stärker wird, begünstigt, aber seine Haltung in der Wielingenfrage zeigt bereits
ganz klar, daß es nicht gesonnen ist, Zeebrügge und eine freie Scheldemündung w
die Hände eines französischem Einfluß unterworfenen Belgiens kommen zu laßen^
Diese Stellung wird England mit der gleichen Zähigkeit festhalten wie die am
Bosporus, und die Belgier werden es sich mit ihrer unvorsichtig franzosenfreuno-
lichen Haltung selbst zuzuschreiben haben, wenn ihr Land statt Neutralität S»
wahren, in Stücke zerfällt und zum Kampfplatz des größeren Nachbars wird.
Vertrauensseligkeit auf der einen Seite, Charakterlosigkeit auf der andern.
M trübes Zubehör der deutschen Geschichte aus den Tagen des Arnnmus. Herr
^auerwein ist ein Deutscher, wie er prachtvoller kaum unter den Germanen des
komischen Kaiserreiches vorgekommen sein dürfte. Erstens versieht er es, sich bei
°en Elsässern als echter Landsmann geltend zu machen, der d:e Heimat Uebt, wie
M irgendeiner der zahlreichen Deutschen, die nur eine Heimat haben und kein
Vaterland. Zweitens vermag er in Deutschland durch deutschen Namen, Sprache
und Zutraulichkeit die offenherzigen Geständnisse aller möglichen, vielbeschäftigten
Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens zu erHaschen. Drittens verwendet er sie
dann als Redakteur des „Matin" dazu, um die französische öffentliche Meinung
gegen die von ihm ausspionierten „schwarzen Pläne" der Deutschen aufzuhetzen.
Lächelnd kommt er am folgenden Tage und interviewt abermals in treuherzigem
Alemannisch aus einem neuen vielbeschäftigten Berliner Landsmann die nächste
pfiffige Pariser Kapitolsrettung für den übermorgigen „Matin" heraus. Die
unglaubliche Kraft der deutschen Nation kann man aus nichts besser abschätzen,
als aus der Summe der abtrünnigen Verräter, welche sie seit L000 Jahren er¬
tragen hat, ohne ganz daran zu sterben. Im allgemeinen erkennt der Durch¬
schnittsdeutsche den 'Sauerweinen durchaus das Recht zu, sich eine Nationalität zu
wählen, die ihnen beliebt, und er achtet sie im gewissen Sinne als interessante
Erscheinungen um so mehr, wenn diese Nationalität eine nichtdeutsche ist. Was
Sauerwein in Paris macht, das weiß der Deutsche, der ihm in Berlin die Hand
schüttelt, entweder gar nicht, oder wenn man es ihm sagt, so versteht er es immer
noch nicht. Wir haben unter den französischen und angelsächsischen Journalisten
in Deutschland mindestens ein halbes Dutzend Ehrengäste derart.
Als Konrad Haußmann den Prinzen Max von Baden 1918 zum Reichs¬
kanzler machen wollte, ließ er ihn ein paar Interviews und Reden geben, die,
wie lose Zungen behaupteten, unter Beihilfe des Theosophen Johannes Müller
so erbaulich ausfielen, daß selbst Scheidemann äußerte, er wäre so demokratisch,
daß er sich nicht einmal an der Prinzlichkeit des Kandidaten stieße. Man wurde
Kanzler, die Kanzlermacher wurden Staatssekretäre. Allerdings vollzog unter
Badenmax das Deutsche Reich seinen tiefsten Fall, indem es auf Anraten Ihrer
Exzellenzen Erzberger, Scheidemann und Konrad Haußmann etwas zu hurtig die
Waffen und das Kaisertum fortwarf und gegen vierzehn Wilsonpunkte umtauschte.
Aber das Ganze dauerte doch nur vier Wochen, und man kann es dem Badener
nachfühlen, daß er jetzt gern anstelle des Generals Gröner Reichspräsident werden
möchte, um etwas längere Zeit zum Einarbeiten in die Staatsgeschäfte zu
gewinnen. Der Deutsche ist überhaupt anhänglich an hereingefallene Staatsleute.
Wir hören immerfort die gleichen alten Namen, sie werden gewendet und auf neu
gebügelt und machen sich geradezu verführerisch und zugleich preiswert. Die
Reden und Interviews beginnen also wieder und sind sehr erbaulich. Auch findet
sich ein wirklich gutes Wort unter dem, was der Prinz einem Ausfrager der
„Neuen Badischen Landeszeitung" anvertraut hat. Leider stammt dieses Wort
nicht von Johannes Müller, sondern von einem Engländer. Diesen, so erzählt
der Prinz, habe er gefragt, wie er die deutsche Stimmung gegen England funde.
„Es ist mir nichts Böses aufgefallen," erwiderte der Brite, „im Gegenteil, ich bin
erstaunt, wie sanft man in Deutschland gegen England fühlt. Wirklichen Haß
und Leidenschaft scheint ihr Deutschen nur dort aufzubringen, wo ihr gegen euch
selber kämpft."
Der Engländer sollte wirklich Reichspräsident werden.
Georg Bernhard ....
Habe ich schon zu viel gesagt?
Süßes Frankreich!
Sogar die Unabhängi gen schwenken von Frankreich ab.^) George Bernhard
galoppiert weiter. Wenn er auf seinem täglichen Ritt Unter den Linden am
Pariser Platz vorbeikommt, faltete er ab, präsentiert sein Holzpferdchen, bindet
ihm das trikolore Schleifchen, mit dem es anstelle eines Schweiss wedelt, fester
und überreitet in gestreckter Karriere zwischen dort und dem Denkmal Friedrichs
des Großen die Wahrheit.
Sein Pferd hat seit zwei Jahren nichts Wirkliches zu fressen bekommen.
Wozu Wirkliches? Ein guter Stil genügt. Eine fixe Idee erhält eine Zeitung
w Schwung. Der Versuch der französischen Botschaft, Ullstein auszulaufen, um
Frankreich vor seinen Freunden zu bewahren, scheiterte, wie die BZ. meldet, an
des Verlagsdirektors unbestechlichen Enthusiasmus und dem Interesse der Vossischen
Zeitung an einer überzeugungstreuen, waschechter, fixen Jvee. Zibo.
„Die Gefahr eines neuen Krieges besteht immer noch im Osten. Wir haben
d>c wilden Zivilisierten an der Arbeit gesehen. Alles muß getan werden, damit sie
>hr Vernichtungswerk nicht wieder beginnen können, denn es führt zu nichts, wenn
wan die Menschen entwaffnet und nicht auch zu gleicher Zeit die deutsche Seele.
Acht auf die Maaslinie darf man sich stützen, sondern an den Rhein muß der
Defensivkrieg getragen werden."
Ein schönes unabhängiges Wort! Wer mag es gesprochen haben, Dr. Cohn-
Nordhausen, Dr. Vreitscheid oder sonst ein U.-S.-P.-Pazifist im Deutschen Reichs¬
tage? Keiner von ihnen! Diesmal war Genosse Brunek, der sozialistische Präsident
der belgischen Kammer, früher aufgestanden. In seiner Rede zu Vraine l'Allend
wandte er sich freilich gleichzeitig gegen „gewisse antimilitaristische Tendenzen inner¬
halb der Sozialdemokratie". Daran, aber auch nur daran ist seine Nichtgehörig¬
st zur U. S. P. D. zu erkennen. Sonst denkt und spricht Mr. Brünet Satz für
^atz so, wie ein deutscher Vertreter deutscher Sozialdemokraten in Deutschland denkt
und spricht, und ist auch für geübte Ohren nicht von ihnen zu unterscheiden.
Reform des Strafgesetzbuches ist eine von allen Parteien anerkannte Not¬
wendigkeit. Bei dem großen Umfang dieser verantwortungsvollen Arbeit kann man
es nur begrüßen, wenn das wichtigste Stück zuerst in Angriff genommen wird. Des¬
halb verdient der im Reichstag eingebrachte Antrag der Abg. Frau Schund, Dr. Rad¬
druck) und Genossen besonders liebevolle Annagelung:
Dem Strafgesetzbuch wird folgender § 219a. eingefügt: „Die in den Sö 218
und 31g Strafgesetzbuches bezeichneten Handlungen sind nicht strafbar, wenn sie
von der Schwangeren oder einem staatlich anerkannten (approbierten) Arzte inner¬
halb der ersten drei Monate der Schwangerschaft vorgenommen worden sind."
. Wahrlich, bei der ohnehin drohenden Übervölkerung Deutschlands und der
wgar von Lloyd George anerkannten Notwendigkeit, mindestens fünfzehn bis zwanzig
Millionen Deutsche zu beseitigen, bedeutet Schund-Nadbruchs Antrag die zur Zeit
dringendste gesetzgeberische Tat. Früher hätte man sogar von einem Markstein in
ner Entwicklung gesprochen. Die demokratischen Menschenrechte des einzelnen, Freiheit,
Gleichheit, Liederlichkeit, kommen vor allen den gefährdeten Mädchen zu, selbst wenn
dadurch die zweifellos ebenso begründeten demokratischen Menschenwerdungsrechte der
Angeborenen kurzerhand stranguliert werden. Frau Schuchs und or. Radbruchs Vor-
lwß ist zu günstiger Stunde ersolgt. Er läuft parallel dem entschlossenen Bestreben
der Lübecker Arbeiter, den Diebstahl als verfolgungswürdiges Vergehen auszu¬
schalten und sich bis dahin mit ertappten Spitzbuben solidarisch zu erklären. Gehen
velde Aktionen Hand in Hand, so läßt sich Bresche in zwei der rückständigsten und
Rüster^mittelalterlichsten Strasbefrimmungcn des Gesetzes legen. Die Erlösung des
versklavten Proletariats wird dadurch im Siebenmeilenstiefelschritt gefördert, ganz
on schweigen von dem entsprechenden Fortschritt der Kulturhebungsarbeit.
Allergnädigster Herr! Ew.- Hochwohlgeboren wollen gnädigst geruhen, meine
alleruntertänigste Bitte anhören und wohlwollend befürworten zu wollen."
Es folgt nun die Begründung des Gesuchs, das mit folgenden Wendungen
schließt:
„In Anbetracht dessen wollen Ew. Hochwohlgeboren ehrfurchtsvoll (!) ge¬
ruhen, meine Wiedercinstellung als Obersteuermann allergnäoigst genehmigen zu
wollen.
In tiefster Ehrfurcht verharrt einem allergnädigsten Reichspräsidenten aller-
Radikales Zeitungsschrifttum verhöhnt den Mann als Byzantiner, dem auch
zehn Revolutionen nicht helfen könnten. spottet seiner selbst, und weiß nicht wie!
Hier ist ihnen der glänzendste Satiriker des laufenden Monats erstanden, ein er¬
staunlich boshafter Beobachter, der der Demokratie in ebenso knapper wie schlagend
witziger Form dartut, wie gründlich der"'9. November die Volksseele gewandelt hat
und wie das schlichte Volk über die Demokratie der Oberdemokraten denkt.
Als die Flieger minutenlang über deutschen Städten Bomben abwarfen,
seufzten wir: ach, wann kommt der Frieden und bringt wieder ungeschreckten Schlaf
dem friedlichen Bürger? Der Friede kam und brachte statt der fliegenden Hornissen
die Dauereinquartierung der französischen Heuschreckenschwärme am Rhein, die
Jahr um Jahr unser Land abweiden. Aber der Bürger schläft ungeschreckt.
Als wir Lilie und Sankt Quentin besetzten, war unser Bürger stolz und ein
wenig mit den Franzosen mitleidig: was mühten die unter der Eroberung leiden.
Die Franzosen dankten für das Mitleid. Sie trugen die kurze Plage standhaft im
Vertrauen auf lange, kalt genossene Rache. Aber auch ihre Besetzung Triers, Wies¬
badens, Straßburgs und Saarbrückens wird vor dem Blick der Geschichte nur eine
kurze Plage für uns sein.
Vorausgesetzt, daß auch wir standhaft sind und über die Gegenwart hinweg in
Vergangenheit und Geschichte sehen.
Man sollte denken, daß es selbstverständlich wäre, die Grenzen von 1914 auf
den neuen Karten Europas anzudeuten, so wie die Franzosen von 1371 bis 1918
Elsaß-Lothringen in anderer Flächenfarbe brachten als Deutschland. Etwa wenn
Deutschland grün war und Frankreich rot, brachten sie Elsaß-Lothringen in rosa.
Auch sonst taten sie alles, was in ihrer Macht stand, ihr ideelles Recht auf Elsaß-
Lothringen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.
Kürzlich sah ich eine Verkehrskarte Deutschlands, auf welcher Bromberg und
Graudenz in Polen schwammen wie Warschau oder Lodz, und nichts erinnerte mehr
an die alten Grenzen. Man suchte vergeblich nach einer Erinnerung, die doch auch
aus rein praktischen staatsrechtlichen oder wirtschaftlichen Bedürfnissen heraus die
verschiedenen Bestandteile des heutigen Polens gegeneinander abgrenzen müßte.
Aber wir wollen offenbar die Geschichte und unser Recht so schnell wie möglich
vergessen. Dann bekommt das Auswärtige Amt keine Schwierigkeiten, eine kurze
Plage verwandelt sich sanft in eine ewige, denn kein Anspruch, der nicht mehr erhoben
wird, bleibt von selber am Leben, Frankreich triumphiert und der deutsche Bürger
schläft. Wenn nur keine Flieger und keine Erinnerungen mehr die Nächte stören.
Man darf nicht sagen, daß nur ein Volk, das angesichts des bedrohten Ober¬
schlesiens in echter, ursprünglicher Leidenschaft zur Verteidigung aufflammt, wert
und fähig ist, es zu behalten.
Man darf nicht sagen, daß wir heiße Liebe zu den Elsässern tragen, weil nur
unsere heiße Liebe auch in ihnen das Heimweh wachhält, so wie nur Frankreichs
heiße, inbrünstige Werbung nach 1870 das Souvenir tramps-is wachhielt.
Man darf nicht sagen, daß es uns bitter weh tat, Rußland vor Warschau
scheitern zu sehen.
Wir dürfen nicht sagen, daß wir es nicht sagen dürfen.
Die hohe Regierungsweisheit in Deutschland besteht darin, sich scheintot zu
stellen, bis der Scheintod in den wirklichen übergegangen ist."
Der Franzose kann „immer daran denken und niemals davon sprechen. Der
Deutsche vergißt, wovon er nicht spricht Er trägt sein Herz auf der Zunge und
Zibo.
In Heft 34/35 der Grenzboten
ist auf die Pläne der Franzosen mit Bayern
hingewiesen worden. Diese Pläne werden
deutlicher durch ein Interview, das Graf
Vothmer dem Berichterstatter des „Temps"
vom 29. August gewährte, und das in der
deutschen Presse bezeichnenderweise keinerlei
Beachtung gefunden hat. Graf Boehmer
sprach zunächst seine Entrüstung über die
willkürliche Verhaftung des Dr. Dorten aus,
den schon sein großes Vermögen vor dem
Vorwurf, erkauft zu sein, schützen sollte und
der ein wahrer Patriot sei. Wie Or. Heim
und Boehmer selbst sei auch Dorten keines¬
wegs ein Separatist, sondern ein Föderalist.
„Wir wollen, daß die künftige Nheinrepublik,
daß Bayern, Hannover und die anderen
deutschen Staaten von der preußischen
Tyranney befreit, den von den Sozialisten
und Berliner Spek lauten organisierten,
zentralistischen Einheitsstaat begraben." Die
bayrische Königspartei wolle ein geachtetes
und souveränes Bayern und fordere ebenso
wie Boehmer und seine Freunde die Ab¬
schaffung der Weimarer Verfassung. Von
Herrn von Kasr habe man nach den Wahlen
ein bayrisches und föderalistisches Programm
und von Heim eine aufsehenerregende Rede
erwartet, aber auf den Druck von Berlin
hin, das auf die Konferenz von Spa hin¬
gewiesen hätte, habe man die Ergebnisse der
Wahlen sabotiert. Man habe in Spa nichts
erlangt, weil keine Regierung da gewesen sei,
die die wirklichen Interessen des Landes ver¬
treten und eine Interessenvertretung mit den
früheren Feinden hätte zustande bringen
können. Man habe die deutschen Delegierten
Frankreich.
in Spa als Vertreter der Berliner
Spekulanten und als Quartiermacher der
Moskaner Internationale behandelt. „Wir
haben ein Frankreich vor uns, das mit
großen finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen
hat. Man muß sogar zugeben, daß, wenn
wir eine gute Regierung hätten, unsere
Situation besser sein würde, als die
der Sieger. Vom sozialen Standpunkt
aus ist Frankreich das gesündeste Land
Europas. Der Klassenkampf ist dort wenig
gefährlich und setzt den Bestand des Staates
nicht aufs Spiel."
Hinsichtlich der Entsendung eines französischen
Gesandten nach München verwies Graf Boehmer
darauf, daß während der ganzen Dauer des
Kaiserreichs eine französische Gesandtschaft in
München bestanden habe ohne den geringsten
Nachteil. Es sei also kindisch, lächerliche
Vorfälle aufzubauschen und aus Rücksicht auf
den Berliner Terrorismus die jämmerliche
Komödie zu spielen> die sich Herr von Kasr
hätte aufdrängen lassen. Das bayrische Volk
wünsche, daß seine Interessen im Aus¬
lande durch Vertreter wahrgenommen
würden, die dem verderblichen Einfluß der
Berliner Finanzleute entzogen seien. In
Stuttgart und Darmstadt sei man der gleichen
Meinung. Herr von Kasr hätte nur auf den
Versailler Vertrag hinzuweisen brauchen, den
ja die Berliner Leute unterzeichnet hätten.
Bayern müsse seiner Meinung nach die An¬
wesenheit des französischen Gesandten in
München dazu benutzen, um die Frage der
Einwohnerwehren, sowie der Versorgung
Bayerns mit Kohle auf gütlichem Wege zu
regeln. Die Kohlenfrage sei heute eine Macht¬
frage zwischen der westlichen Kultur und dem
Bolschewismus und würde siegreich gelöst
'werden von demjenigen, der das Ruhrbecken
besäße. Unter diesen Umständen habe Bayern
das größte Interesse daran, in München seine
besonderen Rechte bei dem Vertreter Frank¬
reichs geltend zu machen. —
Ein Kommentar dürfte sich erübrigen.
Vor mehr als
Jahresfrist hat sich die noch wahlunmündige
deutsche Jugend beiderlei Geschlechts, die
Deutschlands Heil von einem endgültigen
Bruch mit den haltlosen politischen Zuständen
seiner Vergangenheit erwartet, zu einer Be¬
wegung zusammengeschlossen, die ihren Brenn¬
punkt im „Landesverband Braunschweig der
Jugendgruppen der Deutschnationalen
Volkspartei" hat. Im Verein mit den
befreundeten Landesverbänden Westfalen-Ost
und Baden bemüht sie sich seit langem in
hartem Kampfe mit ihren außerordentlich
Zahlreichen Widersachern, ihre Gedanken den
weitesten Kreisen zugänglich zu machen und
,zum Reichsverband anzuwachsen. In der
Überzeugung, daß die politische Gleichgültigkeit
gerade der gebildeten Kreise im tiefsten
Grunde die Verantwortung für unseren kläg¬
lichen Zusammenbruch trägt, empört anderer¬
seits über die Leidenschaft, mit der Deutsche
heute Parteitrugbildern nachjagen und so im
Bruderzwist ihr bedrängtes Vaterland ver¬
gessen, gezwungen endlich durch die wahn¬
witzige Vorschrift der Reichsverfassung, die
Zwanzigjährige für wahlmündig erklärt, haben
sich die Jugendgruppcn die Erneuerung
des deutschen Politischen Lebens durch
staatsbürgerliche Selbsterziehung der
deutschen Jugend im Sinne der
Deutschnationalen Volkspartei zum
Ziel gesetzt. In dem gewaltigen Ringen
zwischen westlichem Kapitalismus und öst¬
lichem Bolschewismus, das die Zukunft auf
lange Zeit hinaus beherrschen wird, harren
der deutschen Jugend Aufgaben, wie sie kaum
je gelöst werden mußten. Ihr für diesen
Kampf die geistigen Waffen zu schärfen,, be¬
trachten die Jugendgruppcn als ihre heilige
Pflicht. Das können und wollen sie nicht,
wie ihre Gegner leichtfertig anzunehmen ge¬
neigt sind, durch parteipolitische Verhetzung
erreichen, sondern durch gründliche wissen-
schaftliche Behandlung politischer Probleme.
Mit der Deutschnationalen Volkspartei ver¬
bindet sie das Ziel, nach Ubcrbrückung der
Klassengegensätze eine deutsche Volksgemein¬
schaft zu schassen, die den Gedanken des
deutschen Vaterlandes hochhält, mag die Zu¬
kunft aussehen, wie fie will. In diesem
Geiste bewegen sich die mannigfaltigen Ver¬
anstaltungen, in denen die Jüngsten für den
nationalen Gedanken begeistert werden sollen.
Ihr Hauptgewicht werden die Jugendgruppen
jedotetsau die olitienVortrasabende
und Arbeitsgemeinschaften (für auswärtige
Politik, innere Politik, völkische Fragen,
Volkswirtschaft und vieles andere mehr)
legen, in denen sich die Achtzehn- und Neunzehn¬
jährigen zu ernster Schulung zusammenfinden.
Übe- die Probleme dieser Jugendbewegung
näheren Aufschluß zu geben, als es der Raum
an dieser Stelle zuläßt, wie es aber Vor¬
aussetzung jeder Beurteilung ist, ist der Ver¬
fasser jederzeit gern bereit.
ch s fpsch g
Verantwortlich: i. V. Haus von Sodenster» in Berlin.
Schristleitung und Verlag: Berlin SV? 11, Tempelhofer Ufer »Sö, Fernruf: Lützotv «dio.
Verlag: K, F. Koester, Abteilung Grenzbot-», Berlin.
Druck W. Moes-r Buchdruckerei, Berlin S 14, Stallschreiberstr. »4/Su.
Rücksendung von Manuskripten erfolgt nur gegen beigefügtes Rückporto.
Nachdruck sämtlicher Aufsätze ist nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlages gestattet
-——- —-^
PWWW Weil
in Heclllellblirz in
Vorbereitung auk alle Klüsen 6er ver8edle6enen 8ebul8^8thue !
(I_im8cnulung). In8be8on6er8 Vorbereitung auk ale LinMrigen-,
prima- unä Reifeprüfung.Dr. MicdselK.
Diesem Heft liegt ein Prospekt des Verlages L. Stcrackmann, Leipzig, bei, der auf
die Werke des Romandichters Rudolf Heubner hinweist und den wir der Aufmerksamkei
unserer Leser besonders empfehlen.
Die Wirkung des KoZlen-
Mommens auf die deuWe
MrtMt, die deutWe
Finanz, die Industrie und
jeden einzelnen Ztaats-
» von
ÄevsWlW » klar «> Magend
Preis 1.50 nark
erlag der Kulturliga s.in.ö.K..
VerlmWZ5Der Kronzeuge der Marne¬
schlacht 1914
Generaloöerfi 5rgr.V. sausen
ZrinmruWn
an den Warneseldzug
Mit dem Bildnis des Verfassers, ver¬
schiedenen Karten und GefechtSsktzzen und
einer einleitenden historischen Studie von
priednck M. ^irckeiken
Preis M. 15. — Gebunden M. 20. —
Generaloberst von Hausen war zu
Beginn des Krieges Führer der
3. Armee, die dem Gegner an der
Marne solche kraftvolle Schläge ver-
setzte, daß Joffre und Fons jeden
Augenblick glaubten, das französische
Zentrum würde durchbrochen werden,
K. F. Koester, Verlag,
Leipzig
Hamburg 8 Di». Buöenöe^ ^ Usver Verlag ZipyelhausL
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Dankbarkeit und Treue vom Mitmenschen zu verlangen, heißt ihm die
entrüstete Frage aufzwingen: Bin ich ein Hund? Übermenschliche
Tugenden sind unmenschliche Laster. Es darf also auf Erkenntlichkeit
! nicht rechnen, wer seine Geschäfte so betreibt, daß sie ausschließlich
! den Nebenbuhlern Nutzen bringen, und wer auf dein eigenen Hose
Einrichtungen trifft, die den schleunigen Übergang des Unwesens in nachbarlichen
Besitz notwendig zur Folge haben. Deutschland wird deshalb auch künftighin
darauf verzichten müssen, die Anerkennung des Auslandes für seinen Parlamentaris¬
mus zu ernten. Wie große Verdienste sich diese Institution immer um die europäische
Kultur, den Völkerbund und die Völkerversöhnung erworben hat, auf eine öffentliche
Anerkennung ihrer Leistungen dürfen wir heute so wenig rechnen wie im Oktober
und November 1918, wo wir Wilsons Schieberevangelium gläubig annahmen.
Glücklicherweise genügt es dem Deutschen, wenn ihn nach jeder begangenen ab¬
grundtiefen Eselei die Stimme in der eigenen Brust, sein internationales Gewissen,
belobt. Wenn des Liedes Stimmen schweigen von dem überwundenen Mann und
seinen vertrauensvollen Neinfällen, dann zeugt er für sich selber und steht sofort
groß da!
Durch den deutschen Parlamentarismus, einzig und allein durch ihn, ist die
Welt vor der preußischen Überflutung bewahrt worden. Diese geschichtliche Wahrheit
war in Neuyork und London und Paris unterdrückt worden, weil persönliche Eitel¬
keiten, der Stolz auf die noch nie besiegte Uankeestreitmacht, auf die eigene Tatkraft
und Boxerzcihigkcit, auf Prestige und Gloirc jede Objektivität verhindert. Weil
man, mit einem Wort gesagt, in Neuhork und London und Paris nicht echt deutsch
Zu empfinden vermag. Unbestreitbar bleibt die Tatsache deshalb doch, und vorm
Richterstuhl Klios, dem so häufig und stets so wirkungsvoll in Leitartikeln zitierten,
werden als die Erretter dieses Planeten einst nicht Pershing und Haig und Fons,
Noch weit weniger der stark angevuffte Wilson oder die unbeschwerten Quadrat¬
schädel Clemencecm und Lloyd George dastehen, sondern vielmehr unsere deutschen
Parlamentsgrößen seit 1890 und die von Gottes Gnaden eingesetzten Regierungen,
ihres Vertrauens.
Ein sicherer Scharnhorst hat nach der Niederlage von Jena, nebenbei bemerkt
einer an heutigen Verhältnissen jahrzehntelang maßlos aufgebauschten Zwerghaftig-
keit, Preußens Friedensheer auf 1 v. H. der Bevölkerungszahl zu bringen verstanden.
Mit Recht wies kürzlich der Demokrat Freiherr von Nichthofen darauf hin, daß
nur der Mangel an Parlamentarismus diesen mörderischen Schlag gegen den Welt¬
frieden ermöglicht hätte. Wäre damals ein Reichstag oder Landtag auf dem Plan
gewesen, Scharnhorst hätte mit Schwefelgestank im selben Augenblick in die Ver¬
senkung fahren müssen, wo er seinen Teufelsgedanken auch nur andeutungsweise
kundgab. Unterstützt von der aufgeklärten und freiheitlichen Weltstadtpresse, hätte
die antimilitaristische Opposition ihn und seine reaktionären Umtriebe bei der Neu¬
wahl für immer unmöglich gemacht und den friedliebenden Steuerzahlern Millionen
erspart. Man stelle sich nur vor, was ohne Parlament in den Jahren nach 1900
geschehen wäre, vielleicht sogar ohne einen Bismarck und ohne eine bismarckwürdigc
Monarchie geschehen wäre, wenn wir damals mittelalterlich noch auf Reichstag
und Reichstagsfraktionen hätten verzichten müssen! Wenn es nicht gesetzlich vor¬
geschrieben gewesen wäre, jede Änderung im Heeresetat sofort ausführlich dem
Auslande mitzuteilen!
Die unmittelbare Lebensnot für Deutschland lag auf der Hand. Nachdem der
einfache und schlichte Naturmensch Caprivi, dem alles Komplizierte, überhaupt alle
Diplomatie ein Greuel war, und der sich gerade deshalb so wunderbar zum Chef der
deutschen Diplomatie eignete, nachdem Caprivi den verwickelten Nückversicherungs-
vertrag mit Rußland aufgehoben hatte, gewann Frankreich endlich den lang ent¬
behrten Bundesgenossen. Caprivi hatte einen gesegneten Schlaf; der ca-uolivmar
usf eos-Mion» bedrückte ihn ganz und gar nicht. Durch den Burenkrieg und die
an geistvollen Widersprüchen reiche Haltung Marschalls wurde England veranlaßt,
der Idee des kordialen Einverständnisses näherzutreten und ernsthaft darauf zu
sinnen, ein unbequem gewordenes, dabei auf seiltänzerisch schmaler Grundlage er¬
richtetes Karthago abzuwürgen. Jedes neue Jahr klärte die Lage weiter. Nach
der ersten Marokkokrise erkannten nur die amtierenden deutschen Staatsmänner und
bie ihnen befreundeten Fraktionsführer nicht, wohin der Weg ging. Erkannten es
auch nach dem Panthersprung und Algeciras nicht, wo Italien demonstrativ von
uns abschwenkte.
Bei alledem, ohne richtigen Parlamentarismus waren diese politischen Ver¬
drießlichkeiten und diplomatischen Schlappen leicht zu überwinden, vielleicht sogar
zum wertvollen Anlaß entschlossener Besserungsversuche zu benutzen. Land und
Volk in Not! Selbst unbeträchtliche Nachfolger Scharnhorsts mußten nun,
wo die Wetterwand täglich näher rückte und vernichtungdrohend den Erdteil
überschattete, die 1 v. H. auf die Beine bringen und äußerste Vorkehrungen für den
äußersten Fall treffen. Ohne den Parlamentarismus würde jeder preußische Kriegs¬
minister seine verfluchte Pflicht und Schuldigkeit getan haben. Und dann hätten
wir am Entscheidungstage nicht bloß die drei Armeekorps gehabt, deren Fehlen
„macht mir nur ja den rechten Flügel stark!" — den Triumph an der Marne ver¬
hinderte, sondern acht bis neun darüber hinaus für die flandrisch-französische Küste
und den Osten. In längstens einem halben Jahre wäre der Krieg zu Ende ge¬
wesen; ein neuer, Fontane hätte dem alten Fritz den vierten Einzug durchs
Brandenburger Tor gezeigt. Welche Gefahr für Kultur und Zivilisation! Der
verhaßte Militarismus, den doch just deutsche Parteimänner und deutsche Blätter
in all seiner Scheußlichkeit entlarvt hatten, war auf dem Sprunge, die Welt zu
gewinnen: Deutschland über alles — das dreiste Wort schickte sich an, den Sinn
zu bekommen, den man ihm draußen angstvoll und haßerfüllt unterlegte. Zum
Glück war der Parlamentarismus auf dem Posten. Vor diesem Sankt Georg und
seiner Lanze knickten die soldatenlüsterncn Bocheregierungen in die Knie. Sie ver¬
mieden es sogar, militärische Vorlagen von Belang auch nur einzubringen, um das
Parlament und die gedrückte öffentliche Meinung zu reizen. So konnte später im
Verlegenheitsaugenblick der Reichstag mit Recht behaupten, keine Schuld am
Soldatenmangel zu haben. Ihm sei ja keine entscheidende Forderung gestellt
worden.
Von tückischen Verfassungsfeinden hört man zuweilen die Frage nach den
Vorteilen des parlamentarischen Systems für das deutsche Volk aufwerfen. Damit
vierhundert Sinn- und methodelos zusammengetriebene Herrschaften gesetzkräftige
Beschlüsse über Dinge fassen können, von denen sie grundsätzlich nichts verstehen;
damit diese Vierhundert die eigentliche Entscheidung in die Hände ihrer Führer
legen können, deren letzte Eigenschaft, wie im Falle Erzberger, starrer
Fleiß zu sein pflegt, so daß die übrigen höchst unfleißigem Franktions-
mitglieder ihnen folgen müssen, ob sie wollen oder nicht; damit wir
dauernd von widerwärtigen Radauauftrittcn im Reichstag lesen können,
von empörenden Beschimpfungen Abwesender oder doch Geistesabwesender,
Zu diesem Ende wird das deutsche Volk unaufhörlich verhetzt und aus¬
einandergebracht, in sogenannten Wahlkämpfen zu wahnwitziger Bruderfeindschaft
aufgepeitscht. Künstlich freilich hat die Gemeinheit dieser Wahlkämpfe, die an
Verseuchung der Volksseele das letzte leisten, gleichzeitig offenbar den Zweck, alle
anständigen, gegen Verleumdungen und Kotwürfe nicht abgebrühten Leute aus der
Politik herauszuschrecken. So werden Sachverständige und starke Intelligenzen,
deren Kraft ja bekanntlich nicht im Maulaufreißen zu liegen pflegt, der angeblichen
Volksvertretung in der Regel mit Sicherheit ferngehalten. Diesen Segnungen des
Parlamentarismus, die Deutschland genießt, stehen beträchtlich größere für das
Ausland gegenüber. Er hat uns dem Feindbunde auf Gnade und Ungnade in die
Hände geliefert, hat die Nation, an deren Wesen ja wohl die Welt genesen sollte,
zur machtlosesten, einflußlosesten und verachtetsten gemacht; er sorgt schließlich dafür,
daß wir aus dem vergiftenden inneren Haß und Hader nie auch nur minutenlang
herauskommen, hindert jedes Zusammenballen der völkischen Kräfte und jede
völkische Erneuerung. Durch die Verabschiedung des Zwangsgesetzes, das die
militärische Wehrpflicht aufhebt, hat er sein Jahrzehntewerk glorreich gekrönt.
Seine Segnungen werden, das sagen schon heute hundert Stimmen, zum
schrillen Fluche geworden sein, ehe ein weiteres Jahrzehnt verflossen ist; verflucht
sein werden sie alle, verworfen vor Gott und der Nation, die an ihm und der
Novemberumwälzung teilgenommen haben. Unerträglich brennt das importierte
Nessushemd. Aber was immer wir, töricht-ahnungslos oder bewußt-verderberisch,
dem englischen Parlamentarismus entlehnt haben, es wird abgestreift werden bis
«uf ein gewandeltes Zitat aus der Unterhausgefchichte: „Kemember, rememder
4d
in altes, arabisches Märchen berichtet: In Bagdad wohnten
Haus an Haus zwei Kaufleute, Ali und Hasar. Während ersterer
durch Fleiß seine Habe mehrte und ein vermögender Mann
geworden war, brachte es Hasar zu nichts. Denn er trug seinen
Erwerb in die Häuser der Dirnen und sein lasterhaftes Leben
nagte an seiner Arbeitskraft. Wenn er dann seinen Nachbarn vorüberschreiten
sah mit dem Abglanz innerer Zufriedenheit auf dem Antlitz, wie sie ein Allah
wohlgefälliges Dasein verleiht, dann verzerrten Haß und Neid sein verlebtes
Gesicht. Und er sann auf Alis Schaden. Da es ihm allein an Mut gebrach, so
sammelte er noch andere Neider seines Nachbarn um sich, und als letzterer von
seiner Reise nach Basra zurückerwartet wurde, legten sie sich vor den Toren
Bagdads auf die Lauer. Aus dem Hinterhalt überfielen sie den nichtsahnenden
Ali, allein sie hatten sich in seiner Stärke getäuscht und um ein Haar wäre er
Sieger geblieben. Erst als einer ihm tückisch von hinten eine Schlinge über den
Hals werfen konnte, wurden sie seiner Herr. Sie beraubten den Wehrlosen und
schlugen und traten ihn, daß er für tot liegen blieb. Dann gingen sie mit ihrer
Beute. Als letzter ging Hasar zögernden Schritts. Der Zweifel würgte ihn, ob
Ali auch wirklich tot sei. Vielleicht war er nur ohnmächtig geworden, er würde
erwachen und sich an ihm rächen. Bei diesem Gedanken flogen seine Glieder vor
Furcht, sein Herz klopfte in wilder Angst und das Blut stieg ihm siedendheiß
in den Kopf. In sinnloser Angst stürzte er zurück zum Ort seiner Tat. Leise,,
denn er fürchtete jeden Augenblick, der Totgeglaubte schlüge die Augen auf und
fände seine Kräfte wieder, schlich er heran, einen Dolch in den bebenden Fingern?
das Herz dunkel von schlechtem Gewissen. Mit dem Mut der Angst stieß er den
Dolch in seines gefurchtsten Feindes Herz. Nun war jener tot und er konnte sich
sorgenlos seines Raubes freuen. Aber aus dem Munde Alis spritzte ihm ein
Blutstropfen ins Gesicht und er erblindete auf der Stelle. Zehrendes Fieber
stürzte mit Flammengluten über seinen Leib, seine verdorrende Zunge wehrte
ihm den letzten Angstschrei. Taumelnden Schrittes irrte er in die pfadlose Wüste
hinaus, bis er sterbend zusammenbrach, eine Beute der Hyänen und Schakale.
Die französische Politik von heute heißt Angst vor dem wiedererwachenden
Deutschland. Die heute in Frankreich maßgebenden Kreise sind von der Rachsucht
Deutschlands felsenfest überzeugt. Das Wort ihres eigenen Staatsmannes
t'vujours, n'on parlons Sinais" ist ihrem nationalistischen
Jdeenkreis eine Selbstverständlichkeit. Nun steht ihnen aber das unaufhaltsame
Schwinden der eigenen Volkskraft vor Augen, daneben der bereits recht greif»
bare Formen annehmende Auflösungsprozeß innerhalb der Entente. Dies
alles laßt das vereinsamende Frankreich von einer Wiedererstarkung Deutsch¬
lands den rettungslosen eigenen Untergang besorgen. Der Gedanke einer
friedlichen Verständigung, der dem vergebungsfreudigen und anbiederungs¬
beflissenen Deutschen ja so nahe liegt, hat absolut keinen Platz in der Gedanken¬
welt des Romanen, dem kein Streben selbstverständlicher erscheint als das, für
erlittene Unbill Rache zu nehmen. So suggeriert sich Frankreich in das ohn¬
mächtige deutsche Volk die eigene Seele hinein, glaubt es nur von dem einen
Sehnen erfüllt: „Auge um Auge, Zahn um Zahn". In diese Auffassung trägt
die Erinnerung an den August 1914, an das Frühjahr 1S18 die Schrecken des
Bewußtseins eigener Unterlegenheit hinein.
Somit ist die ganze französische Politik eigentlich kristallisiert um das
Problem der dauernden Niederhaltung Deutschlands. Dies mußte Frankreichs
Augen auf Rußland lenken. Vom Weltverkehr abgeschnitten, muß Deutschland
Zunächst seine wirtschaftliche Neuerstarkung bei seinen Nachbarn suchen.
Und da kommt ja Rußland mit seinem großen Warenhunger und Reichtum
an Rohstoffen in erster Linie in Frage. Und das wirtschaftliche Band kann zum
politischen werden, gemeinsames Elend ist ein gutes Bindemittel. Wie leicht
könnte eine Liga der im Weltkrieg betrogenen und vergewaltigten Völker ent¬
stehen. Die russischen Menschenmassen von deutschen Technikern ausgerüstet,
vom deutschen Generalstab geführt! Entsetzlich Gesicht! Kein Wunder denn,
wenn Frankreich mit größter Sorgfalt bemüht war, auch schon die kleinsten
Anfänge einer solchen Entwicklung frühzeitig und gründlichst im Keim zu er¬
sticken. Die Not der Eile gebar Polen als vorläufige Wasserscheide, die Raub¬
staaten verlängerten die esiMurs ssnitairiz. Auf die Dauer würde natürlich
Polen einem sowohl in Rußland wie in Deutschland wirksamen Zusammen¬
streben nicht Widerstand leisten können. Deshalb müssen, um die Gewähr für
Dauer der französischen Politik zu bieten, die Wurzeln solcher Triebkräfte unter¬
bunden werden. Die französische Politik, ist unterrichtet darüber, daß der Bol¬
schewismus in einer ernsten Krise steht und daß man ihm wohl keine lange Lebens¬
dauer mehr wird geben dürfen. Also gilt es für Frankreich, beizeiten die Fäden
>zu knüpfen, in deren Netz das zukünftige Rußland für die französischen Interessen
gefangen gehalten werden soll. Der sicherste Weg dazu ist natürlich die Unter¬
stützung der kommenden Männer Rußlands; dadurch, daß man ihrer Aktion die
Wege ebnet, werden sie Frankreich zu, ewigem Danke verpflichtet, wird gleich¬
zeitig die französische Politik für ihre Unterstützung noch realere Werte in Form
von bindenden Abmachungen für sich herausschlagen können. So ist die Regierung
Wrangel heute bereits fest an der Kandare. Das Donezgebiet hat sie für
300 Millionen Goldfranken, die sie erhielt, als Pfand Frankreich zusichern
müssen. Auf Häfen im Schwarzen Meer will Frankreich Einfluß gewinnen.
Wie wird sich England an den Dardanellen dazu stellen?) Neben Wrangel sind
weitere Mitglieder der russischen Emigranten Vasallen Frankreichs geworden,
um nur Gutschkow, Ssawinkow und vor allem Burzew zu nennen. Ihre zu
Deutschland neigenden Landsleute müssen sie auf Befehl Frankreichs bis aufs
Messer bekämpfen. Mögen sie in Wirklichkeit der extremen Rechten angehören,
der Verdacht der Deutschfreundlichkeit genügt, sie mit dem Kainszeichen des
Bolschewismen zu brandmarken.
Trotz aller Sicherungen scheinen aber den Franzosen doch schon Zweifel
an der Beständigkeit dieser von ihnen erzwungenen Gefolgschaft des werdenden
Rußlands zu kommen. Das ziemlich anmaßende Gebaren französischer Dele¬
gierter bei Wrangel hat den russischen Nationalstolz schon empfindlich verletzt
und die Bande, die die südrussische Negierung an Frankreich noch ketten, ent¬
springen überwiegend dem Zwang materieller Notwendigkeiten. Von wahrer
Sympathie ist nicht mehr viel zu reden. Dessen dürften sich die Franzosen wohl
bewußt sein. Auch die Erkenntnis, daß wirtschaftliche Notwendigkeiten Nußland
und Deutschland späterhin doch zusammenführen müssen und daß solche, in
wirtschaftlichen Momenten begründete Entwicklungen durch künstliche Schranken
meist nicht aufzuhalten sind, mag dabei mitsprechen. Und vielleicht genügt die
Abschnürung nach Osten immer noch nicht, um Deutschland dauernd auf das
Siechbett zu fesseln. Die Leistungsfähigkeit und Spannkraft des deutschen
Volkes im Kriege und seiner Wirtschaft, die sich trotz aller Beschränkungen und
Hemmungen immer wieder einen Ausweg zu erzwingen wußte, haben in den
französischen Ideen aus Deutschland ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten
und unberechenbaren Überraschungen gemacht.
Also, um ganz sicher zu gehen, empfiehlt es sich, den direkten Weg zu
gehen. Die Absperrung von Rußland ist ja nur ein Umweg. Der gerade Weg ist,
Deutschland vollends zu vernichten, solange Frankreich noch Zeit dazu hat.
Das heißt, die Einheit des Deutschen Reiches zu zerstören, um sie nie wieder
zuzulassen. In einzelne, hemmungslos dem historischen deutschen Erbübel der
Zwietracht und des Bruderzwistes verfallene Staaten zerrissen, hat das deutsche
Volk aufgehört, ein Faktor der großen Politik zu sein. In allen Tonarten ist
dieses Lied schon im französischen Blätterwald seit Abschluß des Waffenstill¬
standes erklungen. Unverhohlen wurde festgestellt, daß der Vertrag von Ver¬
sailles Stückwerk bleibe, solange er die deutsche Einheit nicht zu sprengen ver¬
möge, die die vornehmste Grundlage einer Wiedererstarkung Deutschlands
bilde. Wer sie vermeiden wolle, müsse den Baum mit der Wurzel ausgraven^
nicht nur Nöte beschneiden und in kunstvolle Schlingen fesseln, die einmal doch
s^es lösen müßten. Alle vielfältigen Sicherungen des Versaillers Vertrages
hätten gegenüber der unberechenbaren Leistungsfähigkeit des deutschen Volkes
nur bedingten Wert. Die Auflösung des Reichsganzen allein könne dem
französischen Volke den Alpdruck der deutschen Revanche nehmen, ihm den
ruhigen Schlaf wieder schenken. Neben diese offen die französischen Gedanken¬
gänge wiedergebenden Äußerungen treten auch andere mehr verschleierte Vor¬
wände. So führte neulich ein Blatt in einem gleisnerischem Artikel aus, daß
das deutsche Volk sich nie wohler gefühlt hätte als in der Zeit vor 1870. Das
Biedermeiertum der Kleinstaaterei, von dem heute noch zahlreiche Geschichten
aus der „guten alten Zeit", ja sogar Kunstwerke wie die eines schwinde u. a.
mit wehmütiger Sehnsucht erzählten, dieses Dahinschlendern im kleinen ver¬
trauten Kreise sei dem eigentlichen Volkscharakter des Deutschen in Wahrheit
entsprechend.
Das Zusammenpressen der in ihrer Stammeseigenart auseinander-
strebenden Teile sei etwas Widernatürliches. Die Allierten würden sich als
wahre Freunde des wahren deutschen Volkes, das nicht das von 1914 sei, zeigen,
wenn sie ihm behilflich wären, den seiner Struktur angepaßten Zustand von
einst wiederzugewinnen, sich herauszufinden aus dem unnatürlichen Rahmen,
in den es das Machtgelüst der Hohenzollern gepreßt, in dem es die Suggestion
einer erlogenen geschichtlichen Aufgabe erhalten habe. Alle diese Stimmen
legen Zeugnis ab von der französischen Auffassung, die nur in einer Vulkani¬
sierung Deutschlands, wobei der Süden mit Deutsch-Österreich eine französische
Kolonie unter dem Namen „Donauföderation" und möglichst unter dem Zepter
eines Habsburgers werden dürfte, die Gewähr für den ungestörten Besitz des
1918 Gewonnenen erblicken kann und will.
Je mehr das Verhältnis zu den bisherigen Verbündeten, namentlich zu
England, sich abkühlt, desto intensiver mahnen diese Gedanken die französische
Politik zur Tat, ehe es zu spät geworden ist.
Um nun dein deutschen Volke nach Frankreichs Lebensinteressen seine Zu¬
kunft zu diktieren, ist nicht etwa, wie harmlose Leute in Deutschland meinen, die
Besetzung des ganzen Deutschen Reiches notwendig. Oberschlesien in polnischen,
das Saargebiet in französischen Händen, genügt es, auch noch das Nuhr-
gebiet zu besetzen, um Deutschland in die Willenlosigkeit eines Hypnoti¬
sierten zu versetzen. Wer nicht gehorcht, bekommt Kohlensperre, das bedeutet
lawinenhaftes Anwachsen der Arbeitslosigkeit, Stocken des Verkehrs, der Lebens¬
mittelbelieferung der Städte, Hungersnot, Krawatte, Chaos.
Nun ist es aber, um diesen letzten Schritt zu tun, der Frankreich noch von
seinem Ziele trennt, notwendig, einen äußerlich unanfechtbaren An -
I a ß hierfür zu haben. Nicht nur vor dem Weltforum im allgemeinen, sondern vor
dem Bundesbrüder England im besonderen. Die Art, in der England seinerzeit
die Besetzung Frankfurts mißbilligte, läßt für die französischen Pläne hinsichtlich
des Nuhrgobiets wenig Wohlwollen erwarten. Im deutschen Besitz ist die Ruhr¬
kohle ein vom Friedensvertrag beschlagnahmtes Objekt, in französischem ein Kon¬
kurrent der Cardiffkohle, die ja zur Zeit nicht eben billig ist. Also muß schon ein
recht gewichtiger Grund geschaffen werden, um England, wenn man es nochmals vor
ein kalt aoooinpli stellen muß — denn das ist natürlich Voraussetzung —mit
einer Sensation die Widerrede von vorderem abzuschneiden.
Der Friedensvertrag von Versailles böte hierfür ja zahlreiche, mit Liebe er¬
sonnene Möglichkeiten. Nun ist aber sehr störend, daß Dr. Simons immer wieder
im letzten Moment die fein angelegten Pläne durchkreuzt. Da hat man mit viel
Aufwand die oberschlesische Kohlenförderung in Unordnung bringen lassen, um
Deutschland Vertragsbruch der Kohlenlieferung aufzunötigen. Schon wird fest¬
gestellt, daß ja Herr Lloyd George Störungen in Oberschlesien als vis muivr
anerkannt habe. Überhaupt macht es nervös, daß in England Herr Simons nicht
ungern gesehen ist. Die Stellung Englands Deutschland gegenüber geht nach
französischer Auffassung viel zu weit über das hinaus, was Herr Millerand unter
„wohlwollender Mäßigung" versteht. Diese Entwicklung muß abgeschnitten werden,
und zwar baldigst. Wer weiß, wie lange die Möglichkeit zur Realisierung der ge¬
schilderten vitalen Projekte noch besteht. spätestens im November 1920
soll das Ruhrgebiet besetzt sein, das sei der äußerste Ter -
min, munkeln Eingeweihte in Paris, Um aber nicht in letzter Stunde wieder
plötzlich über einen unerwarteten Knüppel zu stolpern, muß erst „die Schlange
Simons" weg.
Herrn Burzew ist der ehrenvolle Auftrag zuteil geworden, diesen Minister¬
sturz durchzuführen. Einmal ist es günstig, einen Nichtfranzosen vorzuschieben, und
dann muß natürlich der wirksamste Strick, der für Herrn Simons gedreht werden
kann, der sein, ihn als verkappten Volschewisten zu entlarven. Dem gilt ja schon
seit Wochen und Monaten das heiße Bemühen der französischen Militärmission in
Berlin. Leider ohne Erfolg, trotzdem man so. tüchtige Kräfte dorthin geschickt hat
und den Franken rollen ließ. Aber es muß gelingen, denn dann muß auch England
verstummen, wenn man womöglich nachweisen könnte, daß Herr Simons Enver
Pascha nach Moskau geschmuggelt hat, um die Brandfackel nach Indien Z»
schleudern! Was der eigenen Militärmission bisher nicht gelang, sollte nun Herr
Burzew versuchen. Er kann sich vielleicht leichter anbiedern, kann sich je nach Lage
als Bolschewist oder als Monarchist einführen.
Mitte September ist Herr Burzew triumphierend nach Paris zurück¬
gekommen und hat Dokumente mitgebracht, die er durch Be¬
stechung von einer deutschen Behörde erhalten hat und die
die verbrecherischen Pläne Deutschlands und Sowjetrußlands entlarven. Hoffent¬
lich hat Herr Burzew keine ack usum vsIMmi angefertigten Akten erwischt! Auch
eine sehr bekannte Berliner bürgerliche Zeitung ist durch Burzew mit gewichtigen
Mitteln zum Sprachrohr gewonnen für die nunmehr ein setz ende Fehde
gegen den Gleißner Simons. Hauptsache ist, daß England nicht hinter
die Kulissen kommt. Dann geht es hoffentlich in zwölfter Stunde noch nach
Wunsch. Der Besetznngsplan f ur das Ruhrgebiet ist fix und
fertig. Alles, vom General bis zum Rat der Ruhrarbeiter in Mainz, der
Streikbrecherorganisationen schaffen soll, ist arenipröt,. Der Marsch
kann beginnen, der Frankreich endlich in die gebührende Stellung der kontinen¬
talen Vormacht führen soll, der die französische Macht über Ruhrgebiet, Süddeutsch¬
land, die Tschecho-Slovakei, Polen, Deutsch-Österreich, Ungarn, Rumänien und das
Schwarze Meer in lückenlosen Zusammenhang ausdehnt, die Donau und den Rhein
zu französischen Schiffahrtstraßen, die Kohlen- und Erzlager, die Ölquellen und
Getreidekammern des Kontinents zu Kraftquellen Frankreichs macht. — Nur auf
England blickt man hier in Paris mit mißtrauischer Sorge.
Soweit unser Gewährsmann. Unsere Ausführungen werden gewissen Kreisen
nicht passen. Wir sind aber bereit, mit weiteren Angaben zu dienen, wenn es
nötig ist. Zum deutsch-französischen Problem geben wir zunächst auch in den
beiden folgenden Artikeln zwei ausgezeichneten Kennern das Wort.
WM>Ileine Ereignisse, Schulfragen oder Streiks, Übergriffe der schwarzen
kund weißen Franzosen oder ein besonderes Entgegenkommen fran¬
zösischer Theater und Orchester lenken wohl ab und zu die Auf¬
merksamkeit im Reich und im Rheinland selbst auf die großen welt-
Igeschichtlichen Ereignisse, in deren Varu wir allesamt seit bald zwei
Jahren schon im Rheintal stehen. Wie überall, so bedarf eben auch hier der Mensch
eines Anstoßes von außen, um sich selbst zur Rechenschaft darüber zu zwingen, wo
wir weltpolitisch auch in der rheinischen Frage stehen: Vor allem, wohin der Weg
führt, den wir unter dem Druck des Weltsriedens zur Zeit beschreiten. Als welt¬
politischer Richtpunkt lenkt zugleich die Tagung von Spa den Blick zurück auf die
Tage, als im November 1918 Deutschland zusammenbrach, als Frankreich Straßburg
und Metz wieder in Besitz nahm und zugleich freien Durchgang durch die belgische
Barriere erhielt. In doppelseitigen Angriff von Norden und Süden her dringen
seitdem aufs neue die fremden Scharen in Deutschland ein. Zwei Jahre hindurch
tobt in der Stille der Kampf um das rheinische Vorwerk, das wie ein Fels¬
vorsprung aufs linke Ufer des deutschen Stromes hinüberragt. Fremde Besatzung
erleichtert dabei dem Feinde den Zugang zu Herz und Verstand der Einwohner in
bisher unerhörter Weise. Planmäßig und gewandt treiben große französische Propa-
gandagcsellschaften, die das Erbe und zugleich die Führer der Lissusz ä'Minev und
der Patriotenliga, des Louvsnir tramps-is und der ^Marios kr-iQ^also übernommen
haben, die Keile in das zerrissene Rheinland hinein.
In logischer, furchtbarer Folge haben dann die letzten Julitage die^ große Kette
der Ereignisse vollendet, die im Friedensvertrag und im Rheinlandsabkommcn bereits
vorgezeichnet waren. Das Kohlenabkommen, das mit unerträglicher Schwere auf
unserem Industriegebiet und damit auf dem Herzen Deutschlands lastet, verlängert
sozusagen die Vormarschstraße und Angriffsfront, die bisher im Norden des Rhein¬
landes selbst endete. Weit hinübergreifend über das von Briten und Belgiern
besetzte Gebiet legt Frankreich seine Hand bereits auf das linke Rheinufer und droht
mit Zwangsverwaltung des wichtigsten Besitzes, den Deutschland als Industriestaat
aufzuweisen hat. Aus der anderen Seite greift gleichzeitig über Straßburg hinweg
die Ernennung der französischen Gesandten in München und Wien tief hinüber ins
Herz Süddeutschlands. Alte, scheinbar längst verklungene Erinnerungen aus den
Zeiten, des ersten Rheinbundes von 16S8 und aus der Zeit, da Napoleon I. mit
Bayerns Hilfe den zweiten größeren Rheinbund schuf, tauchen auf, wenn wir hören,
wie fast selbstverständlich Frankreichs Gesandter sein Beglaubigungsschreiben in
München überreichen durfte. Daß just zur selben Zeit die Gesandten der Alliierten
auch in Wien einrücken und dort voll Freuden empfangen werden, erscheint in diesem
größeren Zusammenhange nicht mehr als Zufall. Von Norden und von Süden
dehnen sich die großen Zangen der Wirtschaftskunst und der Diplomatie, die Deutsch¬
land in doppelseitigen Druck umklammern und zu zerbrechen drohen. Im Besitz
des Ruhrgebiets, so müssen wir befürchten, wird Frankreich die scheinbar so un¬
bedeutende Stellung des französischen Gesandten in München zu unerhörter Be¬
deutung heben. Im Besitze der Kohlenschätze Deutschlands hat es zugleich die
Entscheidung über die Industrie Süddeutschlands und damit über das Wirtschafts¬
leben aller deutschen Bundesstaaten in der Hand. skrupellos wird es seine Macht
ausnutzen, um die dazwischen liegenden Gebiete endgültig vom deutschen Wirt-
schastskörper und weiter auch vom deutschen Staatswesen abzutrennen. Der wichtigste
Schritt zur Balkcmisierung Deutschlands, zur Zertrümmerung des Deutschen Reichs
in kleine, leicht zu regierende, leicht gegeneinander auszuspielende Einzelkörper
ist erreicht, wenn das Kohlenabkommen von Spa in der Tat nicht erfüllt werden kann.
Über diese Erfüllung selbst bestehen heute im Ruhrkohlengebiet selbst Zweifel
und Sorge. Die Regierung und mit ihr die Führer der Gewerkschaften und der
Großindustrie hoffen, die geforderten zwei Millionen Tonnen monatlich fördern und
an Frankreich abliefern zu können, ohne die deutsche Industrie selbst wesentlich
stärker lahm zu legen, als dies bisher schon geschehen ist. Die Umstellung auf
Braunkohle, die in Mitteldeutschland zur Zeit vor sich geht, macht sich dort in der
Tat bereits deutlich bemerkbar, während man von neuen Entdeckungen und
Förderungen auf dem Gebiete der Kohlenveredelung — Erfindungen, die heute noch
geheim und im Stadium der Entwicklung sind — eine wesentliche Erleichterung
unserer Lage erwartet. Auf der anderen Seite aber, auch das darf nicht vergessen
werden, mehren sich die Zeichen, daß aus politischen Gründen in der Arbeiterschaft
selbst sich Widerstände gegen die restlose Erfüllung des Kohlenabkommens erheben.
Den offiziellen Gewerkschaften gegenüber arbeitet die Freie Arbeiter-Union sehr
stark mit der Anreizung zum Generalstreik und zur Sabotage, um dies häßliche
französische Wort auch für diese häßliche Forderung einzusetzen. Die Hauptschreicr
erhalten wertvolle Unterstützung bis weit in die Kreise der Unabhängigen Sozial¬
demokratie hinein, und es scheint nicht nur möglich, sondern leider auch wahrschein¬
lich, daß es in absehbarer Zeit zu neuen Unruhen im Ruhrgebiet selbst kommen
wird. Erfolgreiche Vorstöße der Kommunisten im Regierungsbezirk Düsseldorf sind
Zeichen hochgesteigerter Spannung, die unmittelbar ins besetzte Gebiet hinüberreicht.
In diesem schweren Zwiespalt, in dem das Ruhrgebiet als Ausläufer des
Rheinlandes selbst zwischen der Charybdis sozialer Kämpfe und der Scylla fran¬
zösischer Auspowerung mitten innesteht, kommt es vor allem darauf an, ob es gelingt,
die starken positiven Kräfte, die trotz alledem im deutschen Staatskörper leben, se'
kräftig und nachhaltig im Ruhrgebiet und damit auch im Rheinland selbst zu ge¬
stalten, daß sie wirklich imstande sind, das entlegene Land vor völliger Vernichtung
zu bewahren. Mit solchen Aussichten aber sieht es zur Zeit recht trübe aus. Die
separatistische Bewegung alter Art — auch das muß an dieser Stelle hervorgehoben
werden — ist zur Zeit verebbt und arbeitet nur mit geringem Erfolg unter der
Oberfläche weiter. Auf der anderen Seite aber erscheint es außerordentlich be¬
deutsam, und gefährlich, daß alle bisher in dieser Richtung tätigen Kräfte sich
seit Wochen und Monaten langsam zur Überlieferung des deutschen Föderalismus
„bekehrt" haben. Charakteristisch dafür ist die Stellung, die der bekannte Staats¬
anwalt a. D. Dr. Dorten heute einnimmt. Die Christliche Volkspartei, die kurz
vor der Neichstagswahl aus Zentrumskreisen erstand, um ihre Abneigung gegen
den Reichsterrorismus Erzbergers offen zum Ausdruck zu bringen, ist zum größten
Teil in das Lager der sogenannten Aktivisten übergegangen. Eine solche Fest¬
stellung erscheint um so nötiger, als eine weitverbreitete Meinung in Nord- und
Mitteldeutschland diese Neugründung als einen Bundesgenossen gegen die Allmacht
des Zentrums begrüßt und unterstützt hat. Jede Hilfe auch nur moralischer Art,
die heute der „Rheinische Herold", die ausgesprochene Tageszeitung des um
Dorten gescharten Kreises erfährt, stützt zugleich die Führer derselben Bewegung,
die vor wenig mehr als Jahresfrist offen mit französischen Generälen über die
Ausrufung der rheinischen Republik verhandelten.
Wohl ist das Sonderbündlertum am Rhein selbst nicht mehr die Macht, die es
damals darstellte. Gerade in der Frage der Lostrennungsbcstrebungm ist die Christ¬
liche Volkspartei in sich gespalten. Mitte Juli erklärte die Kölner Ortsgruppe ent¬
schieden, daß sie mit der Rheinischen Volksvereinigung, der Kampftruppe Dortens,
nichts zu tun habe. „Unabhängig und unbeeinflußt vom Auslande wolle der
Deutsche die Fragen der Beibehaltung oder Neugründung der Länder in gesetz¬
mäßiger Freiheit ordnen. Sollte in Zukunft ein Staat die deutsche Not zur Auf¬
richtung von neuen deutschen Einzelländern — seien es Rand- oder Puffer¬
staaten — benutzen wollen, so werden wir uns diesem Unterfangen mit allen Mitteln
des Rechtes widersetzen." Dem „Rheinischen Herold", dem bisherigen Organ gerade
der Christlichen Volkspartei in Köln, wurde zugleich der Charakter als Parteiblatt
aberkannt, als die Hintermänner der Wiesbadener Aktivisten ihre unerschöpflichen
Mittel auch zum Ankauf dieser Zeitung verwandten. Auf der anderen Seite
aber haben sich ebenfalls vor wenigen Wochen Vertreter der Christlichen Volkspartei
in Aachen, Trier, Koblenz und Wiesbaden, die angeblich acht Zehntel der Gcsamt-
wcihlerschaft vertreten, um so enger um Dorten geschart und ein eigenes General¬
sekretariat in Koblenz errichtet. Der Riß, der ursprünglich das rheinische Zentrum
spaltete und diesem bei den letzten Neichstagswahlen nicht weniger als Viermal¬
hunderttausend Stimmen entzog, geht also auch durch diese Neubildung, ohne jedoch
hier wie dort das enge Zusammengehörigkeitsgefühl aller Teile zu trüben. Hier
wie dort läßt sich die Scheidelinie zwischen unitarischem Zentrum, föderalistischer
Volkspartei und Aktivisten nie und nirgends scharf ziehen. Verhindert tritt immer
wieder die Abneigung gegen ein längst entschlafenes „Preußentum" hervor, die die
Christliche Volkspartei, die Bayerische Volkspartei, die Weisen, die Hessische Rechts¬
partei und eine ganze Anzahl kleinerer Gruppen im Deutschen Reich in gemein¬
samem Haß zusammenhält.
Diese Entwicklung muß heute scharf ins Auge gefaßt werden, denn es ist nicht
emders: Jeder Fortschritt des deutschen Föderalismus in der Reichsverfassung und
im Staatsleben, der im Innern des Reiches unverfänglich, vielleicht sogar nützlich
erscheint, kommt in der Tat in der Westmark des Reiches vor allem doch den rheini¬
schen Absonderungsbestrebungen zugute und stärkt dadurch in ganz besonderem
Maße die Nheingelüste Frankreichs. Nicht mehr als Separatisten, sondern schlecht¬
hin als ehrliche deutsche Föderalisten öffnet der Kreis, der sich seiner Zeit unter
dem Namen Dorten zusammenfand und durch diesen auch nach außen am besten
gekennzeichnet wird, den Feinden die Pforten zum Einmarsch ins Reich. Der Kampf
um die preußische Verfassung, dessen entscheidende Phasen in den nächsten Wochen
schon zu erwarten sind, greift tief hinein auch in dies Außengebilde des deutschen
Staats. Sein Ausgang wird ganz wesentlich hemmend oder fördernd die Aus¬
wirkung der großen Ziele unterstützen, die Frankreich durch die doppelseitige Um¬
klammerung im Süden und Westen sich selbst und seinem Ehrgeiz gesteckt hat.
urch die Unterzeichnung des strategischen Defensivbündnisses mit
Frankreich ist Belgien endgültig aus der Stellung eines dauernd
neutralisierten Staates, die es von 1831 —1914 innegehabt hat,
ausgeschieden. Wer den Wandel der ^belgischen Stimmungen vor
und in dem Weltkriege aufmerksam verfolgt hat, dem konnte diese
neue Schwenkung nicht überraschend kommen. Im Grunde hat die von den Gro߬
mächten vertragsmäßig garantierte Neutralität von dem Augenblick an für die
Belgier ihren Hauptwert verloren, in dem England, das bis dahin zu der
europäischen Spaltung eine unabhängige Außenstellung eingenommen hatte, aus
dieser Isolierung heraustrat, also etwa seit 1903. Solange die europäischen Neben¬
buhler sich sagen mußten, daß ein Angriff auf Belgien das Schwergewicht der
englischen Macht in die gegnerische Wagschale fallen lassen würde, war das in
der Tat ein erheblicher Schutz für das Land,- 1870 ist das bekanntlich nicht ohne
Einfluß geblieben. Diese Sicherung ging zum guten Teil verloren, sobald England
Partei nahm und daher mit seinem Eingreifen in einen großen europäischen
Konflikt ohnehin zu rechnen war. Seitdem ist in Belgien jene Strömung immer
mehr gewachsen, die einmal auf Verstärkung der eigenen Verteidigung, dann aber
zu deren Ergänzung auf Abschüttelung der unfreiwilligen Neutralität und eine
selbständige Bündnispolitik hinausging. Die Ereignisse von 1914 haben den Wert
der Neutralitätsbürgschaft vollends erschüttert. Eine so große Rolle sie auch in
der nach außen wirkenden Propaganda gespielt hat, und so erheblich sie dazu bei¬
getragen hat, die öffentliche Meinung in England geschlossen für das aus ganz
anderen Erwägungen erfolgende Eintreten in den Weltkrieg zu gewinnen, —- im
Grunde wären die Dinge ohne Bestehen der belgischen Verträge von 1839 doch
nicht viel anders gelaufen, als sie sich tatsächlich gestaltet haben.
Während des Krieges konnte man mit Sicherheit vorhersagen, und ich habe
das z. B. in meinem 1918 erschienenen Buche „Das belgische Bollwerk" näher
ausgeführt, daß allenfalls nur bei einem aus beiderseitiger Erschöpfung geborenen
Berständigungsfrieden eine weitere Neutralitätsgarantie für Belgien in Frage
kommen könnte, während ein voller Sieg auf der einen oder anderen Seite in dem
zwiegespaltenen Europa keinen Raum mehr dafür lassen würde. Vielmehr würde
man alsdann zum Bündnis mit dem Sieger gedrängt werden, dem Anschein nach
mit mehr oder weniger großer Selbständigkeit, in Wirklichkeit jedoch in der Art,
wie Kleine mit Großen nach den Grundsätzen der im Westen noch heute völlig
ungebrochen gehandhabten Machtpolitik nun einmal Bündnisse zu schließen pflegen-
„Man glaubt an Verbündete und wird nur Gebieter haben."
Auf diesem Wege ist das jüngst abgeschlossene französisch-belgische Militär¬
abkommen ein erster bedeutsamer ^Schritt. Nach dem, was über seinen Inhalt
in der Presse verlautet, sollen im Frieden zwar die Armeen der beiden Staaten
von einander unabhängige Körper unter Kontrolle der Parlamente und Kriegs¬
ministerien bleiben, wenn auch die belgische im engsten Zusammenwirken mit dem
französischen Generalstab und auf einen festen strategischen Plan hin organisiert,
ausgerüstet und ausgevildetet werden soll. Tritt aber der Vertragsfall ein, —
und Belgien soll sich das Recht vorbehalten haben, zu bestimmen, wann das der
Fall ist, — so werden die beiden Heere zusammengeworfen, das belgische bildet
automatisch den linken Flügel der Gesamtarmee. Diese steht unter dem Ober¬
befehl eines Franzosen, dem die belgischen Generale zu gehorchen haben. Diese
französisch-belgische Verteidigungslinie soll die jetzige längs des Rheines ersetzen,
sobald nach den Bestimmungen des Versailler Friedens die Besetzung des linken
Rheinufers ein Ende gefunden haben wird. Als vertragsmäßiger Niederschlag
von bestehenden Verhältnissen, mit deren Fortdauer für die Zukunft ohnehin gerechnet
werden mußte, braucht das Abkommen, soweit es wirklich nur defensive Ziele verfolgt,
das nach friedlicher Gerechtigkeit strebende Deutschland nicht gerade zu beunruhigen.
Indessen die unverhohlene Genugtuung, mit der es in der'französischen Tagespresse
begrüßt worden ist, und die allenthalben zum Ausdruck gebrachte Hoffnung, daß diesem
ersten Schritt bald weitere in der gleichen Richtung zu einer engeren Verkettung
der beiden Schwesternationen folgen möchten, verdienen doch auch bei uns die
sorgfältigste Beachtung. Insonderheit werden wir dem auch hier, wie so vielfältig
in der Welt des Versailler Friedens, sich kreuzenden Spiel der französischen und
britischen Politik alle Aufmerksamkeit zu schenken haben.
An sich wäre eine militärische Anlehnung Belgiens an den anderen Entente¬
sieger ebensowohl möglich gewesen, und das hätte der überlieferten Politik Gro߬
britanniens in der Tat ungleich besser entsprochen. Wer die europäische Geschichte
der letzten Jahrhunderte nur einigermaßen kennt, der weiß, daß die Fernhaltung
jeder anderen Großmacht von der Scheldemündung und der flandrischen Küste,
jener „Contrescarpe" Englands, zum mindesten seit den Tagen Ludwigs XIV. —
falls man nicht ins Mittelalter bis zum 13. Jahrhundert zurückgehen will —
einen Hauptprogrammpunkt der englischen Politik gebildet hat. Diesem Bestreben
entsprang das holländische Barriereshstem des 13. Jahrhunderts ebenso wie 1814
das Königreich der Vereinigten Niederlande mit dem Aachener Militärprotokoll
von 1818 zur Sicherung seiner vornehmlich mit englischem Gelde nach Wellingtons
Plan erbauten Festungskette. Aber auch die nach der Erhebung Belgiens 1831
von der Londoner Konferenz festgesetzte Neutralisation des neuen Staatsgebildes
war als „moralische Barriere" gegen französische Übergriffe gedacht und wurde
von den maßgebenden Großmächten unter Mitwirkung Englands mit einem gegen
Frankreich gerichteten geheimen Festungsvertrage für vereinbar gehalten. Gegen
die Zollunionswünsche Ludwig Philipps in den vierziger Jahren, gegen die ver¬
kappten oder unverhohlener Annexionsgelüste Napoleons III. hat England
abwehrend in der ersten Reihe gestanden. Dort vor allem flammte die öffentliche
Meinung auf, als Bismarck 1870 den auf Belgien gerichteten Kompensationsplan
nach Benedettis Niederschrift bekannt machte. Zeitweilig haben das Bewußtsein
militärischer Schwäche oder andere Rücksichten der hohen Politik England wohl
Zurückhaltung in der Auslegung seiner Garantieverpflichtung auferlegt. Bei der
Kriegsgefahr von 1887 wäre es bereit gewesen, einen Durchmarsch deutscher
Truppen durch Südbelgien zu dulden, freilich nur als vorübergehende Inanspruch¬
nahme eines Wegerechtes, eine dauernde Beeinträchtigung der belgischen Unabhängig¬
keit hätte auch damals das britische Eingreifen nach sich gezogen. Später betonte
man bei der wachsenden Spannung zu Deutschland das englische Interesse an
der Unverletzlichkeit Belgiens wieder schärfer und suchte der Möglichkeit einer
Beeinträchtigung von deutscher Seite her durch militärische Vereinbarungen, die
bekannten anglo-belgischen Konventionen von 1906 und 1912, die übrigens schon
während der kriegerischen Spannung des Jahres 1875 ein weniger beachtetes
Vorspiel gehabt haben, entgegenzuwirken. Bei Ausbruch des Weltkrieges
endlich konnte man sich in der Betonung der heiligen Vertragspflichten kaum
genug tun und hätte in der Tat aus eigensten Interesse eine Festsetzung der
deutschen Macht an der flandrischen Küste sozusagen bis zum letzten Atemzuge
bekämpft.
Ich erinnere an alles das nur, um darauf hinzuweisen, daß mit dieser
zähen Überlieferung der britischen Politik das französisch-belgische Militärabkommen
in scharfem Widerspruch steht. Man hat es englischerseits zu verhindern gesucht,
indem man sich bereit erklärte, auf fünf Jahre die Garantie einer erneuten
belgischen Neutralität zu übernehmen. Eine derartige Garantie hätte an die
historische Überlieferung angeknüpft und für die Zukunft immer noch die Möglich¬
keit der Rückkehr zu einer internationalen Verbürgung der belgischen Neutralität,
etwa durch den bis dahin erstarkten Völkerbund, offengehalten. Freilich wäre
auch diese englische Garantie nicht mehr die gleiche wie die von 1831 gewesen.
Von einer einzigen, in die europäischen Händel auf das tiefste verwickelten Macht
ausgesprochen, hätte sie in gewissem Sinne ebenfalls den Charakter eines Militär¬
abkommens gehabt: allerdings einseitig, ohne Belgien andere Verpflichtungen als
eben die der dauernden Neutralität aufzuerlegen,' aber auch für England nicht
so bindend wie eine Militärkonvention, da es sich die Auslegung der Garantie¬
verpflichtung wohl ähnlich wie in früherer Zeit vorbehalten hätte. Eben deshalb
wird auch England nicht von sich aus ein Militärabkommen angeboten haben, da
es in festländischen Angelegenheiten nach Möglichkeit stets die Politik der freien
Hand bevorzugt hat. Aus dem gleichen Grunde verstehen wir aber auch, weshalb
die belgische Regierung den Abschluß mit Frankreich der englischen Garantie vor¬
gezogen hat, denn jenes mit der näheren und stärkeren Landmacht vereinbarte
Abkommen bot neben größerer Sicherheit, die nicht subjektiver Auslegung unter¬
worfen war, wenigstens den Schein der freien Selbständigkeit und Gleich¬
berechtigung eines restlos souveränen Staates, ganz abgesehen davon, daß eine
starke Strömung im Lande schon vor dem Weltkriege und seitdem noch in erhöhtem
Maße auf eine engere Verbindung mit Frankreich drängte.
England wird diese politische Schlappe zunächst, solange es selbst der Ver¬
bündete Frankreichs ist, vielleicht nicht allzu tragisch nehmen, zumal es zur Teil¬
nahme an der Konvention eingeladen worden ist und ihr noch jetzt jederzeit be¬
treten könnte. Aber wenn es seine Vergangenheit nicht gänzlich verleugnen will,
dürfte es doch darauf bedacht sein, aus diesem ersten Keim einer dauernden
französisch-belgischen Vereinigung nicht noch weiteres erwachsen zu lassen, was
dann doch den britischen Interessen geradezu zuwiderlaufen würde. Eben in
dieser Hinsicht könnten es die Besprechungen Pariser Blätter stutzig machen. So
schreibt der „Eclair": „Das Bündnis, das soeben abgeschlossen worden ist, ist,
genau gesprochen, nicht ein eigentliches Bündnis, aber es ist so gut wie ein
Bündnis, und es besteht aller Grund zur Annahme, daß es enger und immer
enger werden wird." „Die öffentliche Meinung Frankreichs," schreibt „l'Avenir,
„begrüßt den Abschluß des Übereinkommens mit warmer Genugtuung. Sie sieht
darin das Vorspiel für politische und ökonomische Abkommen, die aus dieser
strategischen Allianz ein wahrhaftes Bündnis machen werden." Deutlicher noch
führt Gustave Hero6 in der „Victoire" aus: „Es handle sich jetzt darum, dieses
defensive Militärbündnis durch eine wirtschaftliche Entente zu ergänzen, ohne die
das Militärbündnis Gefahr laufen würde, zerbrechlich zu sein. Es gelte nun,
die verschiedenartigen Zollsysteme der beiden Länder einander derart anzunähern,
daß eine Zollunion möglich werde, in die auch Luxemburg einzubeziehen sei.
Wenn diese wirtschaftliche und diese Zollunion zustande komme, dann könnte man
sagen, daß Frankreich und Belgien die Verträge von 1815 zerrissen haben, welche
die beiden Länder, die die Natur aufeinander angewiesen hat, in brutaler Weise
voneinander getrennt haben." Man beachte dabei wohl, daß es vornehmlich
England war, das jene Verträge von 1815 in seinem eignen und Europas Interesse
gegen die französische Begehrlichkeit errichtet hat. Am offenherzigsten betont im
„Journal" Samt Brice die Gegensätzlichkeit der englischen und französisch-belgischen
Politik. „England habe," so führt er des weiteren aus, „im Grunde seines
Herzens die Wiederherstellung der belgischen Neutralität gewünscht, jener Neutralität,
die einstmals im Londoner Vertrage dem belgischen Staate auferlegt worden sei,
um jedes direkte oder indirekte Vorrücken Frankreichs in den Niederlanden zu
verhindern. Viele Engländer glaubten heute, die alten Zeiten seien wieder¬
gekommen, Hamburg sei erledigt,- jetzt werde Antwerpen wieder der große
Konkurrent von London. Daher verweigere man Belgien die freie Schelde-
mündung und unterstütze die Ansprüche Hollands auf Limburg. In der militärischen
Frage habe die englische Diplomatie nichts weiter angeboten als eine fünfjährige
Garantie der belgischen Neutralität. Wenn gewisse furchtsame Leute den Abschluß
des Bündnisses verzögert hätten, so hätte doch die Macht der Tatsachen sich
schließlich durchgesetzt."
Die Hemmungen, die sich in Belgien selbst, namentlich im vlämischen Lager,
aber auch darüber hinaus, bei ehrlichen Verteidigern der belgischen Unabhängig¬
keit, wohl auch bei zahlreichen Interessenten der wirtschaftlichen Selbständigkeit
und des autonomen Zolltarifs den weitergehenden sanguinischen Hoffnungen der
Franzosen entgegenstellen, sind der britischen Diplomatie natürlich nicht unbekannt
und werden von ihr gebührend in Rechnung gestellt werden. Vielleicht glaubt
sie dadurch trotz des militärischen Anfangserfolges der Gegenpartei das Spiel
dauernd in der Hand behalten zu können, ohne daß es darüber zum Bruche mit
Frankreich zu kommen brauchte, ähnlich wie in den ersten Zeiten Napoleons III.
der englisch-französische Zusammenschluß gegenüber Nußland durch die notwendige
Rücksicht, die der Kaiser auf seinen Verbündeten zu nehmen hatte, Belgien längere
Zeit mehr als alles andre vor seiner Begehrlichkeit geschützt hat.
„Ich, Ataman Grigorjew, erkläre im Namen der mir unterstellten
Arbeitertruppen und des gegen die Bourgeoisie aufständigen Volkes, daß Ihr
hier in der Ukraina das blinde Werkzeug in den Händen unserer Bourgeoisie,
daß Ihr keine Demokraten, sondern Verräter des europäischen Rußlands seid.
Wenn Ihr nicht innerhalb von vier Tagen Nikolajew und Dolinskaja ver¬
lassen habt, wird kein einziger von Euch seine Heimat wiedersehen und Ihr
werdet bei der ersten Bewegung unnachsichtlich wie die Fliegen vernichtet.
Transportmittel geben wir Euch nicht/ Ihr hattet genügend Zeit, ohne
Lebewohl abzufahren. Wir betrachten Euch als Erbfeinde, aber aus
Menschenfreundlichkeit geben wir Euch vier Tage Zeit, Eure Behausung zu
Fuß zu verlassen. Nach Ablauf dieser vier Tage wird jeder deutsche Soldat,
der bei dem Standort seines Truppenteils bleibt, vernichtet. Wisset, daß
unser Volk sich vor Euch nicht mehr fürchtet und daß Ihr nichts seid als
unsere Gefangenen. Wenn wir Euch erlauben, mit der Waffe in der Hand
in die Heimat zurückzukehren, so verdankt Ihr das nur unserer Gro߬
mütigkeit. Wir wollen Euch nicht die Schande zumuten, unter Bewachung
unserer Weiber nach Hause zurückzukehren. Wir sind alle solidarisch-
Bolschewiken, Menschewiken und alle, die fähig sind, Waffen zu tragen. J>H
bitte, diesen Brief ernstlich zu nehmen. Unsere Geduld ist zu Ende. Euch
kann keiner retten. Ein Volk von 40 Millionen kann selbst sein Schicksal
bestimmen und braucht keine fremde Vormundschaft.Wodopoi, 31. 12. 1918.
Grigorjew."
Das war der Ton, in dem Ataman Grigorjew, der von Petljura bestellte
Befehlshaber der ukrainischen Truppen in der südlichen Ukraina mit dem deutschen
Truppenkommando in Nikolajew verkehrte, ein Ton, auf den nicht nur Grigorjew,
sondern auch Petljuras Direktorium stolz war. Denn Abschriften dieses-
Pamphlets waren in den ersten Januartagen zur Kenntnis für jeden, der es
lesen wollte, in der Post und im Telegraphenamt in Kiew öffentlich ausgehängt
und wurden erst auf dringliche Vorstellungen des Oberkommandos beseitigt. Daß
es sich aber nicht um einmalige Entgleisung und inhaltlose Drohungen handelte^
beweisen die weiteren Noten Grigorjews:
„Auf keinen Fall dürfen deutsche Truppentransporte durchgelassen werden.
Gleise und Drahtleitungen sind zu vernichten. Alle Transportmittel sind
beim Erscheinen der deutschen Truppentransporte zeitweilig unbrauchbar
zu machen. Die Angestellten auf den Stationen haben diese vorübergehend
zu verlassen, nachdem sie rollendes Material und Drahtleitungen zeitweilig
Ataman Grigorjew." unbrauchbar gemacht haben.
Oder:
„Den Deutschen ist von mir völlig verboten worden, die Eisenbahn zu
benutzen) nicht ein einziger deutscher Transportzug, nicht ein einziger
deutscher Soldat darf die Bahnstrecke passieren. Wenn die Bahnleitung in
Snamenka auch nur einen deutschen Transportzug durchläßt, ist sie sofort
zu verhaften und mir zuzusenden. Wenn Sie es aber selbst veranlassen,
so schießen Sie sich ohne ^Gericht selbst eine Kugel vor den Kopf. Gestattet
ist den Deutschen der Durchmarsch nur zu Fuß und ohne Waffen.
Sammelt alle bewaffneten Kräfte und begegnet den Deutschen mit Eröffnung
des Feuers. Bolbatschan mit zwei Divisionen und einem Kavallerieregiment
ist im Anrücken und wir werden diese deutschen Hunde vernichten.
Ferner:
„studiert ordentlich die Karte, da werdet Ihr die Oberzeugung gewinnen,
daß Ihr „kaput" seid. Ich werde meinen Standpunkt wahren, solange Ihr
bourgeoistische Offizierselemente habt, die alles vor den Soldaten ver¬
heimlichen. Der einzige Ausweg für Euch ist, mit gesenktem Haupte zu Fuß
nach Hause zu gehen."
Auch der Seeweg sollte den deutschen Truppen in Nikolajew verschlossen bleiben.
„Ich teile Euch mit, daß kein Schiff Berechtigung hat, Nikolajew zu
verlassen, um nach dem Meere zu fahren. Alle aus Nikolajew in See
gehenden Schiffe werden mit Artillerie, Maschinengewehr- und Jnfanteriefeuer
beschossen werden. Auf der Strecke von Bohajawlenskoje bis Stanislew sind
Batterien am Ufer versteckt aufgestellt. Außerdem habe ich Maßnahmen
getroffen, um aus Nikolajew kein Schiff mit Ausnahme englischer und
französischer Kriegsschiffe herauszulassen.
Die sehr bedenkliche Lage der Garnison von Nikolajew war dem Ober¬
kommando in Kiew bekannt, sie war eine Folge der fortgesetzten Überfälle, denen
auf der Strecke Nikolajew-Snamenka, und namentlich an letzterem Knotenpunkt,
den auch alle Transporte aus der Gegend von Jekaterinoslaw und von der
Küste des AsowschenMeeres durchlaufen mußten, sämtliche deutschen Transporte
zum Opfer fielen.
Die planmäßig vorbereiteten Fallen bei Snamenka wurden mit der Zeit
so berüchtigt, daß die Truppe dem längeren Seetransport von Nikolajew aus den
Vorzug gab vor dem zweifelhaften, aber vielleicht schnelleren Bahntransport. Es
handelte sich hierbei vornehmlich um Truppen, die aus dem Kaukasus und von
der Krim zur Entlastung der Bahn zu Schiff nach Nikolajew transportiert
waren. Aber auch Garnisonen aus dem Gebiet östlich des Dujepr mußten vor
Snamenka umkehren und Anschluß an die Garnison in Nikolajew suchen. Dies
geschah häufig erst nach schweren und verlustreichenKämpfen) hierbei waren die deutschen
Truppen, eingeschlossen in lange Transportzüge, aus denen sie sich angesichts aus¬
gebauter Stellungen mit feuerbereiten Maschinengewehren und Geschützen erst
zum Gefecht entwickeln mußten, taktisch von vornherein erheblich im Nachteil.
Dem stand das Oberkommando in Kiew völlig machtlos gegenüber,
nachdem es den Petljuraleuten gelungen war, sämtliche Bahnlinien mit
Drahtleitungen und rollenden Material in die Hand zu bekommen. Die
Heeresgruppe war auf Grund dieser Bahnlage seit Anfang Dezember völlig auf
den guten Willen des Direktoriums für den Heimtransport angewiesen. Energische
Proteste bei den Vertretern des Direktoriums in Kiew gegen die zahlreichen Über¬
fälle und Beraubungen deutscher Truppen konnten, selbst guten Willen der Zentral¬
stelle vorausgesetzt, eben deshalb nicht immer, und leider meist nicht, den gewünschten
Erfolg haben, da das Direktorium selbst nicht über die Machtmittel verfügte, dem
vertragswidrigen Verhalten der unbotmäßigen Unterführer Petljuras Einhalt zu
tun. Wie Grekow, Grigorjew und Machno, so spottete auch Bolbatschcm in Charkow
der Anordnungen des Direktoriums. Seiner Eigenmächtigkeit und Feigheit ist es
zuzuschreiben, wenn Teile der Garnison Charkow mit dem Generalkommando des
I. Armeekorps von den Bolschewiken gefangengenommen wurden und erst auf dein
Umwege über Sowjetrußland die Heimat erreichten.
Diese Hilflosigkeit des Oberkommandos war eine Folge der von Deutschland
ausgehenden revolutionären Bewegung, die bei dem Besatzungsheer der Ukraina in
einem planlosen Drängen nach der Heimat zur Auswirkung kam. Dieser Drang
nach Hause war so kurz vor Weihnachten und dicht vor dem russischen Winter
psychologisch um so verständlicher, als man nunmehr, nach Abschluß des Waffen¬
stillstandes, die Westtruppen bald in der Heimat wußte, hier aber, in der Ukraina,
noch einer ganz ungewissen Zukunft entgegenging. Bezeichnend für die
damals im Heere herrschende, von der revolutionären Verseuchung hervor¬
gerufene Psyche ist es, daß alle diese Einflüsse eine ganz andere Wirkung
auslösten, als vernunftmäßig zu erwarten war. In der Lage, in der wir uns
nun einmal zwischen den beiden sich bekämpfenden Parteien der Ukraina be¬
fanden, gab es doch nur einen Weg der Hilfe: straffste Führung und unbedingte
Disziplin, nicht nur in der Truppe von Offizier und Mann, sondern ganz
besonders in der Befolgung der vom Oberkommando für den sehr komplizierten und
diffiziler Abtransport gegebenen Weisungen. Statt dessen aber trat zunächst
eine Auflösung und Zersetzung in der Truppe ein, die alle wohl überlegten
Anordungen des Oberkommandos illusorisch machte. Sonderinteressen einzelner
Verbände sollten berücksichtigt werden, trotzdem sie dem Gesamtinteresse zuwider¬
liefen. Gefühl für Kameradschaft, Verständnis für die Gesamtlage der
Heeresgruppe, Pflichtgefühl und vernunftmäßige Bewertung der Opfer, die der
einzelne der Gesamtheit zu bringen hatte, mußten immer wieder vor dem
einen Gedanken zurücktreten: umgehend nach Hause! Und so geschah es, daß
allmählich sämtliche Truppen westlich des Dujepr, gerade diejenigen, deren
Verbleiben zum Schutz des Abtransports am notwendigsten war, ihren Posten
verließen und nach Hause fuhren. Denn nun, nachdem kein deutscher
Bahnschutz westlich des Dujepr mehr bestand, waren die Petljuraleute Herren der
Bahnen, die sie zum Aufmarsch gegen Kiew und gegen Polen brauchten. Damit
war aber auch das gesamte Besatzungsheer, soweit es noch in der Ukraina stand,
auf die gutwillige Hilfe des Direktoriums angewiesen, ein Zustand, den man in
richtiger Erkenntnis der damit verbundenen Schwierigkeiten von vornherein ver¬
meiden wollte und mußte, wenn überhaupt die Hoffnung erhalten bleiben sollte,
einen nach taktischen und eisenbahntechnischen Gesichtspunkten ausgebaut»n Ab¬
transport planvoll durchzuführen. Die Notwendigkett dieser Forderung anzu¬
erkennen, war die von Soldatenräten in revolutionärer Richtung geleitete und mit
Mißtrauen gegen Offiziere und Stäbe erfüllte Truppe nicht mehr einsichtsvoll
genug. So blieb der große leitende Gesichtspunkt des Abtransports: Abbau von
Osten durch den Bahnschutz der Mitte und des Westens, nur noch für das Gebiet
östlich des Dujepr wirksam, aber auch hier, wie oben ausgeführt, zumeist gestört
durch die gewaltsamen, eigenmächtigen Eingriffe von Petlsuras Unterorganen.
Als der Petljuraaufstand Anfang November 1918 ausbrach, war vom Ober¬
kommando die Bedeutung des ungestörten Verkehrs auf der Bahn, namentlich west¬
lich des Dujepr, voll erkannt. Diese Bahnen aber führten gerade durch den Auf¬
standsherd und waren für die Truppenbewegungen Petljuras gegen Kiew und Polen
von größter strategischer Bedeutung, Ihr Besitz entschied die günstige Entwicklung
der revolutionären Bewegung und war deshalb erstes und wichtigstes Ziel der Auf¬
ständischen. Damit waren aber die Aufständischen unsere Gegner; nicht weil sie
Sozialisten, Revolutionäre oder Feinde der bisher von uns gestützten Hetman-
regierung waren, sondern weil sie uns die Benutzung des für uns lebenswichtigsten
Betriebes streitig machten. Dieser Standpunkt, daß die Petljuraleute nicht politisch
als Gegner anzusehen seien, kommt deutlich und klar in dem Befehl des Ober¬
kommandos vom 16. November zum Ausdruck: „wir stehen den innerpolitischen Ver¬
hältnissen in der Ukraina neutral gegenüber; Ruhe und Ordnung im Lande muß
jedoch, nötigenfalls mit Waffengewalt, durch uns aufrechterhalten werden, damit
keine Störung im Abtransport unserer Truppen eintritt. Insbesondere sind die
Bahnen fest in der Hand zu behalten." Wie schwer die Durchführung dieses Be¬
fehls in der Praxis war, ergab sich sehr bald aus zahlreichen Anfragen aus der
Truppe über Verhaltungsmaßregeln in recht kritischen Situationen, in die sie vieler¬
orts durch die lokalen Kämpfe der Petljuraleute gegen Hetmanorgane gebracht waren.
Denn die Aufgabe der Wachen an den Bahnen und großen Depots im Sinne obiger
Direktive des Oberkommandos mußte zum Eingreifen mit Waffengewalt führen, sobald
die Nutionalukrainer sich gewaltsam in Besitz der Bahnen und Depots zu setzen ver¬
suchten. Das entsprach aber keineswegs den Neigungen der Truppe, die einmal
überhaupt nicht mehr kämpfen wollte, nachdem im Westen Waffenruhe eingetreten
war, und andererseits tatsächlich mit den Aufständischen sympathisierte. Der auf
solche Gründe zurückzuführenden Tatenlosigkeit der Truppe ist es denn zuzuschreiben,
wenn schließlich die Bahnen nach Polen mit den anliegenden Magazinen und
Depots in der Gewalt der Aufständischen waren. Fälle aber, wo die Truppen ihrer
Pflicht nachkamen und mit Gewalt Magazine, Depots und Bahnhöfe gegen die
Petljuraleute schützten, wurden agitatorisch als planmäßige politische Parteinahme für
den Hetman und Bekämpfung des Aufstandes ausgeschlachtet. In der praktischen
Durchführung war eben Neutralität mit der Sicherung der Bahnen nicht vereinbar,
solange die Aufständischen planmäßig und mit Gewalt auf Besetzung der für sie so
wichtigen Bahnlinien ausgingen.
Zur Änderung seines Standpunktes wurde Ende November das Ober¬
kommando gezwungen, als nach völligem Versagen der deutschen im Bahnschutz ver¬
wendet gewesenen Truppen durch die Aufständischen jeder Verkehr nach Polen unter¬
bunden, die Versorgung Kiews, sowohl der Stadtbevölkerung als auch der deutschen
Garnison, abgeschnitten und der ganze Abtransport in Frage gestellt war. Die
Selbsterhaltung erforderte es nunmehr, im Interesse des ganzen Besatzungsheeres
die Bahn nach Polen für die Abtransports wieder frei zu machen; von dieser Not¬
wendigkeit warm auch Truppen und Soldatenräte überzeugt. Keinen anderen
Zweck hatte der Vorstoß einer aus der Garnison Kiew gebildeten gemischten Ab¬
teilung auf Fastow, der nach kurzem Gefecht bei Bjelgorodka westlich Kiew mit einer
vorläufigen Waffenruhe endete. In dem dann folgenden Vertrage vom 2. Dezember
heißt es:
„Die Truppen des Direktoriums stellen bis zum Eintreffen des Vertreters
der Entente in Kiew und von Ententetruppen in der Ukraina und bis zur Kündigung
dieses Abkommens jede operative Tätigkeit gegen die von ihnen bei Inkrafttreten
dieses Vertrages noch nicht besetzten Teile der Ukraina, insbesondere jede weitere
Annäherung an Kiew ein.
Seitens des Direktoriums wird alles geschehen, um die deutsche Eisenbahn-
Zentralstelle bei Regelung des Betriebes auf den Eisenbahnen zu unterstützen. Dem
deutschen Abtransport dürfen in dem von Truppen des Direktoriums besetzten Ge¬
biet keine Schwierigkeiten gemacht werden; er ist vielmehr in jeder Weise zu fördern.
Kämpfe an den Eisenbahnen und Unterbrechung des Betriebes werden durch
die deutschen Truppen nicht zugelassen werden.
Deutsche Drahtleitungen und alle Bahnleitungen dürfen weder unterbrochen
noch zerstört werden.
Die Lebensmittelversorgung für die deutschen Truppen wird in keiner Weise
gehindert werden. Ebenso wird die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung der
Stadt Kiew entsprechend den Anforderungen des Oberkommandos und der deutschen
Kommandantur nicht gehindert." —
Es war von vornherein zu erwarten, daß diese Bestimmungen nur provisorische
Bedeutung haben würden. Tatsächlich ergriff die von Truppen' getragene revo¬
lutionäre Bewegung dauernd neue, bisher von Kämpfen noch nicht berührte Gebiete,
namentlich auch auf dem östlichen Dnjeprufer in der Gegend von Poltawa, Tsther-
kassy und Krementschug.
Trotz des Vertrages trat eine Besserung der Lage nicht ein. Östlich und
westlich des Dujepr gingen die Aufständischen unter dem Vorwande, die lokalen
Organe der Hetmanregierung zu beseitigen, ganz systematisch darauf aus, die Bahnen
in die Hand zu bekommen, deutsche Truppen zu entwaffnen und aus dem Gebiete
zwischen Dujepr und Polen nach Deutschland abzuschieben, mit Gewalt da, wo güt¬
liche Beeinflussung ihr Ziel nicht erreichte. In Anbetracht dieser Lage blieb dem
Oberkommando nichts anderes übrig, als erneut durch Verhandlungen Garantien
für schnelle Durchführung des Abtransportes zu erlangen. Der Preis, der dafür
gezahlt werden mußte, war Kiew.
Bei den am 11. Dezember erfolgten Verhandlungen in Kasatin erklärten die
Bevollmächtigten des Direktoriums:
„Im gegebenen Moment betrachten wir als unsere Hauptaufgabe die Be¬
setzung der Hauptstadt Kiew, und zwar sofort, um die Ordnung und Ruhe im ganzen
Lande zu erhalten. Die Lage der Dinge gestattet es nicht, die Operationen gegen
Kiew weiter zu verschieben. Darum hält es das Direktorium nicht für möglich,
irgendeine Verzögerung der Antwort zuzulassen, die durch die Entsendung von
deutschen Vertretern zur Entente entstehen würde, wie sie von den deutschen Bevoll¬
mächtigten gewünscht wurde. Die ukrainisch-republikanische Regierung verhandelt
mit den bevollmächtigten Vertretern der Entente und auf dieser Grundlage kann sie
erklären, daß die deutsche Armee keine Veranlassung hat, den Einmarsch der
ukrainisch-republikanischen Truppen in Kiew zu verhindern.
Wir legen Wert darauf, daß die deutschen Truppenabteilungen möglichst schnell
die Ukraina räumen; deshalb sichern wir den deutschen Soldaten freien Abtransport
und nötige Lebensmittel zu, wenn die deutschen Soldaten gegen die ukrainisch¬
republikanischen Truppen, speziell bei Kiew, nicht kämpfen werden.
Sofern die Erklärung abgegeben wird, daß die deutschen Truppen einen: Ein¬
marsch von Truppen der ukrainischen Volksrepublik in Kiew keinen bewaffneten
Widerstand leisten werden, treten folgende Vereinbarungen in Kraft:
Das Direktorium wird mit allen Mitteln den Abtransport der deutschen
Trrwpen fördern und beschleunigen. Die deutschen Militäreisenbahnbehörden sollen
ihren Dienst für die Durchführung der deutschen Transporte ungehindert weiter ver¬
sehen. Die telegraphischen und telephonischen Verbindungen der deutschen Truppen
werden wiederhergestellt und bis zum Abtransport aufrechterhalten werden."
Auf den drei nach Polen führenden Strecken über Pinsk, Sarny und Kasatin
wurden ferner in diesem Vertrage insgesamt mindestens 10 Transportzüge zu¬
gebilligt. Über das freundschaftliche Zusammenarbeiten der deutschen Behörden mit
den Organen des Direktoriums, besonders in Kiew, wurden eingehende Bestim¬
mungen vereinbart. —
Der Vertrag wurde am 13. Dezember von beiden Parteien unterzeichnet; am
14. Dezember besetzten die Aufständischen nach unbedeutenden Kämpfen die Stadt
^iew. Ihr neuer ukrainischer Kommandant Oberst Konowalez, ehemaliger An¬
gehöriger des österreichischen Heeres, war offensichtlich bemüht, den Vertrag loyal
durchzuführen, wofür er sich den Vorwurf der unberechtigten Deutschsreundlichkeit
gefallen lassen mußte. Ganz anders aber sah es im Lande aus; hier trat die ver-
^aguas zugesicherte Besserung der Lage im Laufe des Dezember nirgends ein. Wie
Süden Petljuras Organe wirkten, ist zu Anfang geschildert. Auch fernerhin
wurden noch sämtliche Transporte nach Polen entwaffnet und beraubt. Sämtliche
Drahtleitungen waren und blieben gestört; der PostVerkehr mit Etappe und Heimat
blieb unterbunden. Nur an der bolschewistischen Grenze wurden die deutschen
Truppen, teils mit List und Gewalt, festgehalten. Erst als die Truppe erkannte,
daß ihre bisherige Taktik des VerHandelns zu keinem günstigen Ende führen würde
^d sich fest entschlossen zeigte, ihr Recht mit Waffengewalt zu verteidigen und
durchzusetzen, als bei verschiedenen Zusammenstößen die Ukrainer sich blutige Köpfe
Gebote hatten, erst dann änderte sich die Lage und glückte es von Anfang Januar ab
den Transporten, unbehelligt die Grenze zu erreichen.
Petljura ließ es auf einen ernsten Kampf seinerseits mit den Bolschewiken
^ehe ankommen. Er räumte im Januar 1919 vor den dem deutschen Besatzungs-
ZFY
Heere nachdrückenden Bolschewiken die Ukraina, seine Unterführer Bolbatschan und
Gregorjew gingen in das bolschewistische Lager über. Im ersten Halbjahr 1919
kämpfte Petljura in Wolhynien und Ojtgalizien gegen die Polen, dann Schulter an
Schulter mit den Bolschewiken gegen Denikin; dessen Niederlage brachte auch ihm er¬
neut den Verlust der Ukraina. Jetzt steht er erneut im Kampfe gegen die Bolsche¬
wiken, aber an der Seite der Polen. In der Wahl der Bundesgenossen nicht von
Vorurteilen beherrscht, hat er diesmal als Helfer für die Ukraina ihre Todfeinde,
die Polen, gefunden. Der Preis war Galizien, der völkisch wertvollste Teil
ukrainischen Landes. Ein weiterer Faktor zur Stärkung der polnischen Vorherr¬
schaft in der künftigen Ukraina sollte die Sonderbegünstigung des polnischen Gro߬
grundbesitzes sein, der von einer Aufteilung unter die ukrainischen Bauern aus¬
geschlossen bleiben soll. Dieser Politik Petljuras mußte das ukrainische Volk seine
Gefolgschaft versagen.
Wir haben keine Veranlassung, mit Petljura zu sympathisieren oder seine
Politik zu unterstützen, eine Politik, die ohne Gewissen und Verantwortungsgefühl
das Land in immer neue Unruhen führt. Wir hatten im Herbst 1918 nur ein Ziel
und das war der Abtransport des Besatzungsheeres nach Deutschland. Zahlreiche
Todesopfer, Verluste an Gut und Eigentum deutscher Heeresangehöriger, Ent¬
behrungen und Leiden gehen auf Konto Petljuras. Er trägt die Verantwortung
als Führer des Direktoriums, wenn seine Unterführer allen Verträgen zum Hohn
deutsche Garnisonen belagerten und ihnen den Heimweg verlegten; günstigstenfalls
können wir annehmen, daß ihm trotz guten Willens die Machtmittel fehlten, Be¬
folgung der vom Direktorium erlassenen Anordnungen zu erzwingen. Schon damals
zeigte sich eben, daß Petljura nicht die Masse des Volkes hinter sich hatte und nicht
befähigt war, die Rolle zu spielen, die ihm heute noch eine umfangreiche Propaganda
sichern will. Die vom Oberkommando befohlene Neutralität deutscher Truppen war
angesichts der Lage im November 1918 die einzige Maßnahme, die einen ungestörten
Abtransport des Besatzungsheeres zu gewährleisten geeignet war, sofern beim
Direktorium und seinen Organen der ehrliche Wille vorhanden war, die Räumung
der Ukraina auf friedlichem Wege zu ermöglichen. Aber der ruhmlose Abbau des
österreichischen Besatzungsheeres, der den Banden mühelos wertvolles Heeresgut in
die Hände gespielt hatte, reizte um so mehr zur Nachahmung gegen die deutschen
Truppen, als man die Wehrlosigkeit der Truppe, deren Führung zumeist in Händen
der stets verhandlungsbereiten Soldatenräte lag, sehr wohl kannte. Notwehr war
es gegen die systematischen und planmäßig vorbereiteten Beraubungen und Über¬
fälle, wenn schließlich die Truppe mit Waffengewalt ihren Besitz verteidigte oder
die Hindernisse beiseite räumte, die ihr für ihre Heimkehr in den Weg gelegt wurden-
Der Marsch einer Abteilung vom Schwarzen Meer bis zur polnischen Grenze, im
eisigen Winter und umschwärmt von beutegierigen Banden, beweist, daß es einer
Truppe immer am besten geht, wenn sie ihrem Führer folgt; dieser Wintermarsch
durch das aufständische Gebiet war eine glänzende militärische Leistung, die immer
wieder anerkannt zu werden verdient und Zeugnis dafür ablegt, daß auch am Ende
des Krieges noch nicht überall wahre Soldatcntugenden erstorben waren.¬
Wenn Petljura im Sommer vorigen Jahres um militärische Jnstruktoren ge
beten hat, so ist es eigentlich selbstverständlich, daß diesem Verlangen von der
deutschen Regierung nicht Rechnung getragen wurde, und zu begrüßen, wenn es
Heeresangehörige ablehnten, auf eigene Verantwortung ihr Schicksal in den Dienst
einer so zweifelhaften Politik zu stellen. Die Abneigung gegen Petljura und seine
Politik braucht deshalb aber nicht mit einem Mangel an Verständnis für die Inter¬
essen des ukrainischen Volkes gepaart sein oder Sympathien zerstören, die dieses
Volk deutscherseits durchaus verdient.
in 2. August Mobilmachung. Das war eine Begeisterung für die
Marine! Wir selber waren zuerst recht enttäuscht, daß wir keinen
würdigen Gegner zur See hätten, zumal unsere Regierung bei den
ersten Verhandlungen mit England garantieren mußte, den englischen
Kanal nicht als Kriegsschauplatz gegen Frankreich zu benutzen. „Die
große Armee nimmt uns wieder alle Aussicht" war das allgemeine Thema in der
Marine. Aber es war doch ein wundervolles Bild, als das dritte Geschwader
in Kiel von der Boje wegging. Acht Tage vorher war die „Kaiserin" als erstes
Schiff durch den erweiterten Kanal gegangen. Welcher Schwung lebte auf den
großen Schiffen! Auf dem „Panther" dagegen herrschte etwas gedrückte Stimmung.
Was blieb uns zu tun übrig mit unserer schwachen Armierung, unseren zwei kleinen
Kanonen, auf dem Fahrzeug, das zur Hälfte aus Holz bestand? Unsere erste Auf¬
gabe war, die bei Langeland ausgelegte Minensperre zu verteidigen. Es war doch
wenigstens eine Aufgabe, und man gab sich zufrieden. Man hoffte auch, gelegentlich
etwas zu tun zu bekommen. Man erwartete, daß der Russe einen Vorstoß gegen
Kiel machen würde und wir ein kleines Gefechtsbild erleben dürsten.
Von Langeland aus kamen wir später zur Verteidigung vors Arve im kleinen
Veit, der damaligen Nordgrenze des schleswigschen Ostseegebietes. Vormittags und
Nachmittags fuhren wir je dreimal um die Insel, also Karousselfahren. Ich setzte
wich schließlich mit dem Doktor in Verbindung. Meine eigentliche Krankheit konnte
er allerdings nicht heilen, denn die bestand in der heißen Sehnsucht, auf ein großes
Kriegsschiff zu kommen. Ich erkundigte mich aber nach entbehrlichen Körperteilen.
Die Wahl fiel auf den Blinddarm. Die Symptome einer Blinddarmentzündung
begannen sich bald zu melden, so daß der Arzt mich nach Kiel schickte zur Operation.
Ich wurde ins Lazarett gesteckt, und selbst der Chirurg meinte, als er die Stelle
befühlte und ich meine Empfindlichkeit äußerte, es wäre Blinddarmreizung. Am
Nächstfolgenden Tage wurde ich operiert, und da nach der Operation ein längerer
Erholungsurlaub nötig war, wurde ich abkommandiert von „Panther". Das Opfer
des überflüssigen Eingeweidezipfels hatte sich gelohnt: ich war den Blinddarm und
„Panther" los und kam auf das neueste Schlachtschiff „Kronprinz". Mein heißester
Wunsch war erfüllt.
„Kronprinz" war das zuletzt in Dienst gestellte Schiff der Königsklasse. Welch
ungeheure Arbeit ist nötig, bis ein neues Schiff mit seiner ganz frischen Besatzung
gefechtsklar geworden und als gleichwertige Einheit dem Geschwaderverbande ein¬
gereiht werden kann! Es wird gleichsam als rohes Material von der Werst über¬
nommen. Die Werft hat das Schiff aufgebaut, aber das lebende Element ist noch
nicht darin. Es gilt, den rohen Stoff nun erst einzuspielen. Acht Wochen dauern
die vorbereitenden Jndienststellungsarbeiten. Kein Offizier, kein Mann findet sich
zunächst auf einem solchen Schiff zurecht, das etwa 800 wasserdichte Räume in sich
birgt. Die Mannschaft muß mit ihm vertraut gemacht werden, daß sie sich heimisch
fühlt; die Heizer und Maschinisten müssen die Maschinen kennen lernen und aus¬
probieren, die Mannschaften sind an den Geschützen und verschiedenen Gefechts¬
apparaten einzuexerzieren; die Flut- und Lenzvorrichtungen müssen aufs genaueste
beherrscht werden. Später kommen die Artillerie- und Torpedoschießübungcn, sowie
das Fahrtexerzieren hinzu. Wenn Mannschaft und Offiziere mit allen diesen Funk¬
tionen vertraut sind, ist das Schiff gefechtsbereit und wird dem Geschwaderoerbandc
angegliedert. Das Kriegsschiff ist die stärkste Krafteinheit, die es gibt. Es birgt
an Gefechtskraft so viel in sich wie die ganze Festung Metz. Die zum Betrieb des
Schiffes erforderliche elektrische Energie ist so groß wie die einer größeren Stadt¬
zentrale, etwa von Kiel.
Während meiner ersten eineinhalb Jahre auf „Kronprinz" bis zum Mai
war unsere Haupttätigkeit in der Flotte: Verbandsübung, Kriegswache auf der
Jade, Artillerie- und Torpedoschießübungen, sowie die üblichen Vorstöße nach der
englischen Küste und in die Nordsee. Wir hatten immer gehofft, daß der Feind
einmal die deutsche Küste bombardieren würde als Revanche; wir hatten doch oft
genug an seine Tore geklopft mit der Beschießung seiner Küste; sie war Heraus¬
forderung genug. Doch immer nur Kriegswachegehen unter den gewaltigen ^
fcchtsaparaten, den riesigen Kanonen! Wie oft fragt man sich auf einsamer Wachen
„Wann schießen sie? Wann kann man die Geschützmündung von der Scheibe reißen-
Können wir unsere Kolosse nicht gegen den Feind probieren? Nicht sehen, wer es
besser kann?" Wir hatten doch geübt im Frieden, wir wußten, jeder einzelne Mann
ist ein Kerl. Wenn auch unsere Flotte zahlenmäßig den Engländern unterlegen
war und im Durchschnitt auch nicht so schwere Kaliber besaß, so wußten wir doch,
daß wir viele andere Vorteile hatten: zunächst unsere Mittelartillerie und die
Torpedowaffe, ferner die Untcrwassereinteilung. Die höhere Geschwindigkeit seiner
Schiffe hatte der Engländer auf Kosten ihrer Sicherheit ermöglicht durch die
feuerung. Uns boten außer dem Panzer noch die fünf Meter breiten Schutzbunker
gegen etwaige den Panzer durchschlagende Geschosse Schutz. Tirpitz' Werk war gut.
Und so hofften wir immer: „Wann kommt der Gewaltmensch, der den wunderbaren
Geist in der Flotte ausnützt und uns an den Feind bringt?"¬
Wenn ich nun die Seeschlacht am Skagerrak schildere, so übernehme ich selbst
verständlich manches aus den Berichten von Kameraden, die auf die verschiedenen Ge¬
fechtsabschnitte verteilt waren. Mir liegt vor allem daran, eine Darstellung der See-
Wacht zu bringen, die sich nicht als ein trockener Admiralstabsbericht gibt, sondern
in dem Laien die lebendige Vorstellung erweckt von der herrlichen, historischen Tat
unserer Flotte, wie wir Mitkämpfenden sie empfunden haben. Ich selbst habe aus
dem Sehschlitz des von mir befehligten Geschützturmes auf S. M. S, „Kronorinz"
die Kampfvorgänge beobachtet.
Es war am 30. Mai. Das dritte Geschwader lag auf Kriegswache auf der
Unterjade. Es war ein diesiger Nachmittag, als plötzlich auf dem Flottcnflaggschiff
das Signal hochgeht: „Sämtliche Kommandanten zur Besprechung auf das Flottcn-
flaggschiff!"
„Das hat etwas zu bedeuten", hört man aus dem Mund der Kameraden
und den Unterhaltungen der Matrosen. Von allen Schiffen werden die kleinen
Dampf- und Motorbarkasscn ausgesetzt; sie umwimmeln das Flottenflaggschiff.
„Was ist los?", neugierig fragt einer den anderen. Gerüchte tauchen bereits auf.
Der eine hat gehört, das Geschwader solle nach Kiel zum Torpedoschießen; es ist so
der Lieblingswunsch derjenigen, die zur Ostsee gehören. Dort taucht wieder ein
Gerücht auf, wir sollten von jetzt ab nach der Unterelbe verlegt werden, kurz und gut,
willkommene und unwillkommene Nachrichten fegen durch das Schiff. Jeder glaubt
das, was er im stillen hofft.
Nach etwa einer Stunde ist die Sitzung beendet. Jeder ist gespannt auf die
Rückkehr des Kommandanten. Die Boote kommen längsseit, der wachthabende Offizier
springt ans Fallreep, der erste Offizier eilt ebenfalls heran in der Hoffnung,
etwas über das Ergebnis der Sitzung zu erfahren. Ernst und schweigend kommt
der Kommandant an Bord und geht in seine Kajüte. Nichts wird bekannt. Die
Spannung legt 'sich allmählich, man denkt: „Es ist wieder nichts."
Die Schiffe liegen klar für halbe Fahrt, wie bei Kriegswache üblich. Die Back¬
bordwache geht abends auf Kriegswachstation, die Steuerbordwache schläft auf Hänge¬
matte. Da plötzlich morgens um zwei Uhr Trommel und Horn: „Klar Schiff zum
Gefecht!" Man fegt wie der Teufel aus der Koje: „Was ist los?" Halb an¬
gezogen stürmt man an Deck auf seine Gefechtsstation. Man mutmaße den Feind
dicht an unseren Küsten, fragt den ersten Matrosen oder Unteroffizier von der Back¬
bordwache: „Was ist los?" Kopfschütteln, keiner hat eine Ahnung. Die Gefechts¬
station wird klar gemacht, die Munitionsaufzüge probiert, die hydraulischen Ein¬
richtungen der Höhenrichtnmschinen untersucht, die elektrische Avfeuerung wird nach¬
gesehen, die Bereitschaftsmunition, die schweren Granaten, werden in den Turm
gefördert, und endlich geht die Meldung nach der Kommandozentrale: „Turm Dora
klar zum Gefecht." Immer dabei die Frage: „Was ist los? Sind feindliche Streik
kräfte gemeldet?" Niemand weiß etwas; so unvorbereitet war noch nie der Befehl
„Klar zum Gefecht" gekommen. Nachdem die Gefechtsstation klar gemeldet, geht
man an Deck. Da bietet sich im Grau der Morgendämmerung ein überwältigendes
Bild: die Zerstörer kommen flottillenweise aus der Reede von Wtlhelmshaven
hervor, die „Schwarzen Husaren", mächtig qualmend. Drei bis vier Flottillen,
jede zu zehn Booten, haben uns schon passiert. Die kleinen Kreuzer setzen sich
langsam in Bewegung; weit draußen auf Schilligreede sieht man die Schlachtkreuzer
Anker lichten und sich entwickeln in breiter Formation, umschwärmt von den schnellen
Torpedobooten. Langsam und bedächtig kurbelt das Schlachtschiffgeschwader an
und mahlt sich in Kiellinie wuchtig aus der Jade heraus: S. M. S. „König",
„Kurfürst", „Markgraf" und „Kronprinz", die neuesten und stärksten Schlachtschiffe,
Sie bilden den Kern der Flotte. Rechts und links gruppieren sich die Zerstörer als
II-Bootsicherung; die kleinen Kreuzer, gleichsam die äußere Schale, geben seitliche
und achterliche Deckung, damit der Kern der Flotte nicht überraschend angegriffen
werden kann. Auf der Höhe von Cuxhaven stößt das zweite Geschwader heraus und
hängt sich dem Gros an. Mit großer Fahrt durchwühlt die Schlachtflotte die
Nordsee gen Norden. Die Panzerkreuzer verschwinden fern am Horizont. Es find
die Einheiten, die zuerst an den Feind herankommen und die Aufgabe haben, sich
vermöge ihrer Geschwindigkeit und schweren Artillerie an dem Feind festzubeißen
und ihn auf das Gros zu ziehen. Sie gehen mit äußerster Kraft voran, um den
Feind aufzustöbern, begleitet von den schnellsten kleinen Kreuzern. Niemand ahnt,
wohin es geht. Diesig und grau ist die Nordseeluft, die verdickt wird durch die
gewaltigen Rauchschwaden. Längs der deutschen, längs der jütländischen Küste
geht es immer weiter gen Norden in 15 Kilometer langer Schlachtlinie. Niemals
ist solch weiter Vorstoß unternommen worden. Es ist vier Uhr nachmittags; da
meldet ein kleiner Kreuzer feindliche Streitkräfte. Endlich etwas vom Feind! Vor
allem aber wartet man gespannt auf die drahtlosen Telegramme von den Panzer¬
kreuzern, deren Meldung die maßgebendste ist. Nur ein kleiner Bruchteil von den
1200 bis 1300 Menschen der Besatzung des Schiffes, höchstens 25—30, haben Ge¬
legenheit, den Feind mit Augen zu schauen, die anderen sind im Schiffsinnern auf
ihren Gefechtsstationen und warten nur gespannt ihrer Aufgabe und der Nachrichten,
die von oben kommen. Man muß sich vergegenwärtigen, was der einzelne Mann zu
tun hat, z. B, der Mann in der Munitionskammer, die weit unter der Wasserlinie
liegt; er hat nicht nur seine Munition zu fördern; wenn eine Granate einschlägt und
Brand entsteht, hat er die Flut- und die Feuerlöscheinrichtungen in Tätigkeit zu
setzen, die Schotten zu schließen und vor allem auch die Lüster anzustellen gegen
giftige Gase. Alle diese Gedanken bewegen den Mann in dem Augenblick, in dem
die Meldung kommt: Kampf! Er überlegt sich: „Was hast du zu tun, wenn eine
Störung kommt, wenn so und soviele von deinen Kameraden tot oder verwundet
liegen? Dann gilt es zunächst für die Sicherheit des Schiffes zu sorgen. Erst das
Schiff! und dann die Krankenträger rufen, dem verwundeten Freund helfen, Wieder¬
belebungsversuche anstellen." Nicht Kommandos können ihm sein Handeln vor¬
schreiben, sondern eigener Entschlußkraft bedarf es. Jeder Mann ist eine Per¬
sönlichkeit, wenn seine Station in Frage kommt. Der Gedanke an ihre Aufgabe durch¬
zieht die Gemüter derjenigen, die den Feind nicht sehen, sondern nur die Begeisterung
durchleben können. Sie sehen nicht das Kampfbild, auf das jeder doch am meisten
begierig ist, und jeder weiß sich doch abhängig von der Sicherheit des Schiffes. Sie
haben auszuhalten auf ihrer Gefechtsstation, in jedem Augenblick gewärtig, durch
einen Treffer erledigt zu werden.
Um Uhr kommt der Funkspruch: „Deutsche Panzerkreuzer im Kampf mit
englischen!" Die Stimmung im Schiff wogt auf, und die Meldung geht von der
Gesechtsstation hinunter bis zum Heizer und Trimmer im dunkelsten Bunter.
'
Jetzt kams darauf an für die Flotte, ihr Äußerstes herzugeben, um den
Panzerkreuzern zu Hilfe zu kommen. Der Heizer jagt die Schaufel bis an den Ell¬
bogen in die Kohlen, schmeißt sie in die Feuer und schürt die Glut auf. Der Trimmer
im Bunter schleift bergeweise das Brennmaterial heran. Alles geht auf äußerste
Kraft. Feuersäulen steigen aus den Schornsteinen von den überhitzten Rauch¬
kammern auf, die Sicherheitsventile der Kessel öffnen sich und blasen. Niemals
haben die Maschinen auf Probefahrten das geleistet wie heute; das Schiff fängt an
zu beben infolge der erhöhten Schraubenumdrehungen. Alles ist voller Begeisterung,
der langersehnte Wunsch ist erfüllt: „Jung, nu geit't los, nu kamt wi an den
Fiend, ditmal krigt wi em to faden!" Die Ausguckleute spähen scharf aus, ob sie
Rauchwolken sehen.
Unsere Schlachtkreuzer drehen nach Süden, um den Feind auf das deutsche
Gros zu ziehen; Admiral Beatty dreht auf gleichen Kurs. Die Geschütze sind geladen,
die Torpedos im Rohr, die Entfernungsmesser stehen an ihren Apparaten, der
Artillerieoffizier im Kommandoturm wartet auf den Augenblick, wo er Entfernungen
geben und die Geschütze auf den Gegner richten kann. Mit wilder Fahrt nähern
sich die Kolosse, und es beginnt ein laufendes Gefecht. Mit höchster Feuer¬
geschwindigkeit sucht einer den anderen niederzukämpfen. Was an Eisen auf den
Gegner geschleudert werden kann, wird aus den Geschützen herausgefeuert. Mit
50 000 bis 60 000 Kilo Stahl in der Minute behämmert sich Geschwader gegen
Geschwader. Beide Kreuzergruppen sind leingehüllt in Fontänenwälder. „Lützow",
auf dem die Flagge des Admirals Hipper weht, hat die Führung unserer Kreuzer.
Rechts und links von ihn: stehen 150 bis 200 Meter hohe Wassersäulen. Nur der
Steven und der schneeweiße Gischt der weit vorgeschobenen Bugwelle ist sichtbar,
ausgewühlt durch fast 100 000 pferdige Maschinenkräfte. Stichflammenartige
Mündungsfeuer, doppelt so lang wie die Geschütze, blitzen bei ihm auf; es sind die
vollen Breitseiten, die er schleudert. Hinter ihm jagen „Derfflinger", „Seydlitz",
„Moltke" und „Von der Tann".
Auch die grauen englischen Kolosse „Lion", „Princeß Royal", „Queen Mary",
„Tiger", „New-Zealand" und „Jndefatigable" werfen an Eisen heraus, was mit
höchster Feuergeschwindigkeit möglich ist. Stahl prallt auf Stahl; ein dumpfes Rollen
dröhnt unaufhörlich über das Meer. Da, was ist das? Bei dem grauen Koloß vom
Feind, dem „Jndefatigable", dem letzten Schiff der feindlichen Schlachtkrcuzcrlinie?
Zwei Salven von S. M. S. „Von der Tann" schlagen kurz hintereinander ein.
Dann läuft eine Feuerschlange längs der Bordwand. Kurz darauf steigen zwei
Feuerarme steil aus dem Schiffskörper, in eine schwarze Rauchwolke übergehend.
Man begreift noch nicht, was es bedeutet, man hat ja noch keine Schlacht mitgemacht,
noch kein Kriegsschiff untergehen sehen. Da erkennt man, wie dieser gepanzerte
Körper stückweise auseinander gerissen wird, wie alles, was bisher von ihm über
Wasser war, in der Luft wirbelt. 300 000 Kilo Pulver, die das Schiff in sich
barg, haben die Explosion hervorgerufen. Alles, was an Menschen und Material
an Bord ist, wird mit hochgeschleudert, Granaten, Maschinen, Kanonen. Die Ge¬
schütze, die noch geladen sind, ihre vollen Breitseiten auf uns abzufeuern, über¬
schlagen sich in der Luft. Der gewaltige Slinhalt des Schiffes bluwwert nach oben
und breitet sich in Brand gesetzt über der Wasserfläche aus. In dieses brennende
Meer schlagen die hochgeschleuderten, weißglühenden Eisenteile, die letzten Reste
des Schiffes zischend hinein; die Nordsee brennt und kocht----Wer der Trümmer¬
stätte steht unbeweglich noch lange Zeit ein ungeheuerer Rauchkegel wie nach dem
Ausbruch eines Vulkans.
Im Anblick dieses schaurigen wird der Kampf mit rücksichtsloser Heftigkeit
fortgesetzt. Die noch eben gewesene Lücke füllt der Hintermann aus und „Von der
Tann" sucht neues Ziel. Salve auf Salve rollt, und eine zweite Katastrophe befällt
die britische Linie. Mit einer gewaltigen Explosion, von einer deutschen Salve ge¬
troffen, fliegt die „Queen Mary" in die Luft. Als ihr Hintermann, der „Tiger",
im Kielwasser ausschließt, regnet es Eisenteile auf sein Deck; das war alles, was
von der „Queen Mary" übrig war.
In diesem schweren Artillerieduell setzen von beiden Seiten die Torpedoboote
ein. Der kleine Kreuzer „Regensburg" bricht vor dem deutschen Flaggschiff mit
zwei Flottillen mit äußerster Kraft durch, ein unbeschreibliches Bild von Kraft und
Schneid. Ein neuer Kampf der Torpedoboote entwickelt sich zwischen den Linien
der großen Kreuzer und tobt mit gleicher Heftigkeit.
Gegen sieben Uhr abends stoßen unsere Panzerkreuzer auf unsere Schlachtflotte
und setzen sich vor deren Spitze. Auch die deutschen Linienschiffe sichten jetzt feind¬
liche Panzerkreuzer an Backbord. „Alles klar auf Gefechtsstation!" Wie durchzuckt
das die Gemüter! Alles rennt, stürzt, jeder gibt's begeistert von Mund zu Mund:
„Habt Ihr gehört? Minsch, Jung, dät givt hüt wat!". Alles wird noch einmal
geprüft, jedem noch eine Warnung gegeben: „Ruhe behalten! Keine Störung an
den Sachen! Die Fahrstühle der Geschosse nicht verfahren!"
Die englische Absicht, unsere Schlachtkreuzer vom Gros abzuschneiden, ist
nicht gelungen. Hipper und Scheer vereinigen sich. Beim Sichten der
deutschen Flotte drehen die englischen Panzerkreuzer ab und Scheer gibt
Befehl: „Alles zur Jagd nach Norden ansetzen." Schnell erfolgt die Ziel¬
verteilung, und in wenigen Sekunden krachen die ersten Salven der „König"- und
„Kaiser"-Schiffe. Ein furchtbares Kanonengebrüll dröhnt über das Meer. Da
plötzlich schieben sich vier graue Kolosse an Backbordseite der bisher von uns be¬
schossenen Schlachtkreuzer hervor, um ihren Rückzug zu decken. Es sind die stärksten
und schnellsten Linienschiffe der feindlichen Flotte, die „Queen Elisabeths", die
schnelle Division, dem Kreuzergeschwader Beatty zugeteilt. Jetzt gab's Feuer.
Prasselnd und mit furchtbaren Explosionen schlugen ihre gewaltigen 38-Ztm-
Geschosse von fast 1000 Kilo Gewicht bei uns ein. Vorne, hinten, rechts und
links von uns standen die turmhohen Wassersäulen, es war, als wenn das Wasser
gen Himmel gesogen würde und wir als Einziges zurückblieben. sanfte eine volle
Salve dieser Stahlriesen über das Schiff, so entstand ein derartig ohrenbetäubendes
surren, als wenn Staffeln von Flugzeugen dicht über unsere Köpfe flögen. Zu¬
weilen fuhr „Kronprinz" durch dicht vor dem Bug einschlagende Salven. Einem
gigantischen Wasserfall gleich strömten die Wassermassen unter dröhnenden Getöse
über das Schiff. Es bebte ununterbrochen durch die Explosionen der in das Wasser
einschlagenden Granaten.
Der Feind, begünstigt durch seine überlegene Geschwindigkeit, HM sich in Ent¬
fernungen außerhalb unserer Reichweiten und strebt die vorliche Stellung an; wir
drängen mit allen Mitteln heran. „Warspite" läuft aus dem Ruder und wird mit
Treffern überschüttet; man beobachtet, wie eine Weiße Stichflamme aus dem Achter¬
schiff hervorschießt: das Schiff muß die Linie verlassen. Die unselige schwenkt
langsam auf Ostkurs. Der Artilleriekampf rast jetzt wie ein Orkan. Es ist kein
Zweifel, weitere englische Geschwader müssen eingegriffen haben, denn auch von Osten
her erhalten wir jetzt Feuer. Infolge der Unsichtigkeit der Luft hatten wir von der
Stellung des Feindes ?ein genaues Bild. Hier Rauchschwaden von Explosionen,
dort Qualm aus den unzähligen Schornsteinen aller Größen, gleich einer
riesigen Fabrikstadt, da künstliche Nebelbänke von Zerstörern nud kleinen
Kreuzern, all dieses, untermischt mit dein Wasserstaub von ununterbrochenen
Geschoßeinschlägen, verhüllte die Bewegungen der Geschwader mit dichten
Schleiern, Nur für Augenblicke taucht aus den: Dunst das Wrack der „Jnvincible"
auf. Unsere Spitze liegt unter schwersten Geschützfeuer, „Lützow" hat starke
Schlagseite, sein Bug ist tief eingetaucht. Weitab ist „Wiesbaden" sichtbar, manövrier¬
unfähig auf der Stelle liegend, stark in Rauch gehüllt; nur das Hinterschiff ist zu
erkennen, von wo noch ein Geschütz feuert, das einzige, das unbeschädigt war. Un¬
unterbrochen wird sie vom Feind unter konzentrisches Feuer genommen. Man sieht,
wie aus der „Wiesbaden" ganze Teile von den vielen einschlagenden Geschossen
gerissen werden, aber trotz alledem, ihr Geschütz schweigt nicht. (Forts, folgt.)
Vor etwas mehr als 11 Jahren, als mit der Berufung Bethmann-Hollwegs
der eigentliche Niedergang Deutschlands begann, zog ein fleißiger Finanzbeamter
die Augen seiner Vorgesetzten dadurch auf sich, daß er morgens um acht schon im
Amt war und die Schreiberärmel, die er zur Schonung seines Anzuges über-
gestreift trug, bis in den späten Nachmittag nicht mehr ablegte. Bethmann
erhob den Strebsamen und Gefügigen zum Reichsschatzsekretär. Bald danach
konnte man in den Andern die Offenbarung Johannis zitieren hören: „Es siel
ein großer Stern vom Himmel, der brannte wie eine Fackel, und fiel auf das
dritte Teil der Wasserströme und über die Wasserbrunnen. Und der Name des
Sterns heißt Wermuth, und das dritte Teil der Wasser ward Wermuth, und
viele Menschen starben von den Wassern." Es war damals, verglichen mit heute,
ein wahrer Charitentanz, deutscher Finanzminister zu sein. Aber Wermuth sah
seine Aufgabe darin, Bethmann in der Sparsamkeit an den Lebensnotwendigkeiten
der Nation zu unterstützen. Ja, er war es, der den schwachen Kanzler vor allem
auf die Bahn diängte, 1912 die notwendigen Aufwendungen für die Wehrmacht
zu verkürzen. Nicht der Reichstag ist schuld an jenen Abstrichen, die uns den
Krieg haben verlieren lassen durch den bekannten Ausfall in der Marneschlacht.
Der Reichstag war bereit, zu bewilligen, das Geld war auch da und in einem
Umfang da, der heute bittere Erinnerungen weckt. Um ein paar Dutzend
Millionen zu sparen, hat damals Wermuth innerhalb der Behörde selbst, bevor
die Forderung an den Reichstag kam, die lebensnotwendigen Forderungen von
Heer und Marine erstickt. „Wer Mut hat, nehme Wermuth," hieß es. IM
Zusammenhang mit der Taktik, die er damals anwandte, um das Vorhandensein
von bereitstehenden Mitteln als möglichst gering hinzustellen, mußte Wermuth
bald ruhmlos aus dem Reichsamt scheiden,- er hatte sich für das demokratische
Heldenstück, die Nation um ihre Rüstung gebracht und einen führenden Anteil an
unserer Katastrophe erworben zu haben, inzwischen den besser bezahlten Posten
als Berliner Stadthaupt besorgt. Als solches prägte er im November 1918 das
geschichtlich gewordene Wort vom „fluchbeladenen alten Regiment". Er hat die
heimkehrenden Truppen als Vertreter des segensreichen neuen Regiments aw
Brandenburger Tor empfangen mit Eselstritten auf das Kaiserreich, zu dessen
devotesten und zugleich schuld- und unglückbeladenen Trägern gerade er selbst
gehört hatte, er, der die Wehrmacht und damit das Fundament des alten Staats
von innen her unterhöhlte. Als Oberbürgermeister der Nevolutionstage erwarb
er sich das ungelenke Vertrauen der „Unabhängigen", indem er seinen frühere»
bureaukratischen Byzantinismus in einen jakobinischen leicht umwandelte, und
errang die ungelenke Mißachtung aller bürgerlichen Parteien. Als Kandidat der
Unabhängigen ist er soeben wieder zum Oberbürgermeister gewählt worden, während
die Bürgerlichen ihm einstimmig ihr Mißtrauen aussprachen. Der Zentrums¬
abgeordnete Ol-. .Salzgeber sagte am Tag der Wahl in der Berliner Stadt¬
verordnetenversammlung: „Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt schwankt
sein Charakterbild in der Geschichte? Nein, hier schwankt das Bild nicht mehr/
es steht schon fest. Und es ist auch nicht einmal ein Charakterbild, denn eM
Mann weder warm noch kalt, weder Fisch noch Fleisch, ist kein Charakter." Der
volksparteiliche Abgeordnete Eynern erklärte: „Er, der stets engsten Ressort¬
partikularismus betrieben und seine Person in hen Bordergrund geschoben hat, er,
der so kleinlich denkt, ist klein. Dieser große Mann ist ein kleiner Berliner. Die
Presse hat er aber stets gut mit Nachrichten über und für sich versorgt." Auch
mich, Zibo, hat dieser ganz und gar Triste, dessen Schuld an Deutschland ein
andrer gar nicht zu tragen vermöchte, mit seinen häßlichen Augen süß angeblickt.
Aber das Gesicht war mir unausstehlich wie ein Aktenzeichen, das ein lyrisches
Gedicht, wie ein Bureausitzkissen, das eine Seele vorstellen möchte. So tief ist dieser
strebende Bureaukrat gesunken, daß ihm sogar die „Vossische Zeitung" in einem
Artikel „Oberbürgermeister-Dämmerung" sagt: „daß er die ihm jetzt attestierte
Popularität dem Umstand verdankt, daß er die Weisungen der unabhängigen
Führer nicht nur ohne Widerspruch, sondern auch mit der nötigen Überzeugungs¬
kraft befolgte". Höher hinauf, höher hinauf: Der „unabhängige" und über¬
zeugungstreue Mann will jetzt auf seine alten Tage noch Reichspräsident werden.
Er wäre der schwarzrotgoldenen Republik vielleicht zu gönnen. Aber der Kelch
unseres Leidens ist schon zum Rande voll, es bedarf des Wermuthstropfes nicht
zum Üb
Den 82 Fällen schwarzer Schmach, die die streng pazifistische und völker¬
versöhnende Gruppe um Han?Delbrück anklagend festgestellt hat, können demokratische,
also hinreichend unverdächtige Blätter „dicke Aktenstücke" über beinahe vier Dutzend
weiterer Gewalttaten gesellen. Die Feder sollte sich, wie dos leider fast immer
u geschehen Pflegt, nicht sträuben, die ruchlosen Schändlichkeiten eingehend zu
childern,' aber schließlich, was hilft ihr Sträuben, solange die Nation sich nicht
mit Händen und Füßen gegen Bestialisierung und Bestien sträubt, sondern dies
allein den unglücklichen Opfern der farbigen und weißen Verbrecherfranzosen über¬
läßt? Und außerdem — die erforderliche flammende Entrüstung bringt nicht ganz
leicht auf, wer z. B. in der Deutschen Tageszeitung liest:
„Nachmittags, im Rummelplatz am (Kölner) Zoologischen konnte man
Hunderte von englischen Soldaten im trauli-'t sten Gemenge mit deutschen Mädchen
erblicken. — Andern Tags, bei einer Fahrt über Land, kamen wir in ein Dorf,
das war von schwarzen Truppen besetzt, Marokkanern. Die saßen (und lagen)
abends mit deutschen Bauernmädchen hinter den Hecken herum, an offener Straße.
Wie nie zuvor mit deutschen Burschen, solange deutsche Zucht und Ordnung in
der Rheinprovinz waren. Ja, in Köln gibt's" sogar eine besondere Entbindungs¬
anstalt für uneheliche Soldatenkinder: weiße, gelbe, bräunliche und schwärzliche!
Der Stempel der Schande, den der Sieger unserer Frauenwelt aufdrückt."
Über allzu galante deutsche Weiber, die sich den westlichen Helden in die
Arme warfen, haben schon die Ehrbaren von 1806 gesto'eine. Wir sind in der
Entwicklung insofern vorgeschritten, als der Damenflor sich damals mit den
Weißen Siegern begnügen mußte, während ihm heute dle Sensation der bunten
Seladons blüht. Melchior de Vogüe, der vom sittlichen ni oergang des kaiser¬
lichen Deutschlands die Revanche erhoffte, hat allzu seht? recht behalten. Nachdem
es jahrzehntelang den Verderbern erlaubt war, unterm Schutze der Preß- und
Theaterfreiheit das deutsche Volk bis ins Mark zu verwahrlosen, Anstand und
Zucht zum Feuilletongespött zu machen, wie dürfen wir da vom Normalfrauen¬
zimmer Haltung erwarten? Es schleudert seine weibliche Ehre in den Schmutz,
wie der Nvrmalbürger seine männliche. Wenn die Engländer auf dem Kölner
Domplatz Parade abhalten, drängen sich Tausende von Deutschen, den Hut in der
Hand, hochachtungsvoll-neugierig hin^u) landesverräterische Leitungen und Bücher,
deren Verbreitung nach Z'81 RSiGB. mit lebenslänglichem Zuchthaus bedroht
Wird, liegen in den Luder aus: „Geschäft ist Geschäft", lächeln die Inhaber und
berufen sich auf den englischen Schutz. Unsere bedeutsamsten Errungenschaften der
verflossenen Epoche, Pröfilsucht und ungehemmte Amüsiersucht, entfalten jetzt ihre
üppigsten Blüten. Können wir uns über hundert Vergewaltigungen entsetzen,
wenn hunderttausendfach die freiwillige, weibliche und männliche Prostitution
wuchert?
„So schluckte ich Tag für Tag meine bitteren Pillen, suchte vergebens nach
Meinem alten Vaterland, nach Gesinnungsgenossen! Was ich fand, war völligste
Abgebrühtheit, vollständige Abwesenheit nationalen Empfindens, gar kein Ver¬
ständnis dafür, daß man ein Sklavenleben führte, nur den Ausdruck der Be¬
friedigung, daß man nicht die Franzosen oder Belgier als Besatzung habe.
.Ihr seid alle in einer Art Narkose/ sagte ich bei meinem Abschied zu
meinen alten Bekannten, ,ihr seid in einem Dämmerzustand und habt gar kein
Gefühl für eure Erniedrigung! Euch fehlt eins: Ganz Deutschland muß vom
Feinde besetzt werden, und zwar möglichst nicht von den scheinheiligen Engländern,
die ihre Gefühle zu verbergen verstehen, sondern von den Franzosen, den Belgiern,
den Polen, damit ihr endlich wach werdet, damit der Geist Scharnhorsts und
Blüchers wieder bei euch einzieht, ihr euch aufrafft und eurer Kraft bewußt
werdet. Nehmt euch ein Beispiel an den Russen, den Türken, den Jrländern!
Die kämpfen um ihre Freiheit. Ihr gefallt euch in eurer Sklaverei!'"
Die Erinnerung an die Vorzeit sollte dazu dienen, den Glauben aufrecht¬
zuerhalten, daß auch uns das Glück wieder lächeln kann. Wären wir eine stolze
Nation, wir würden jetzt Jubiläumsfeiern, nicht nur für den 2. September, sondern
auch für den 18. Oktober allerorten einrichten. Aber es soll dagegen in Deutsch¬
land Leute geben, die gar nicht wissen, was der 18. Oktober bedeutet! Wir sind
nicht stolz, aber gute Kerle im Grunde. Wir Pflegen die Gräber der toten
Franzosen — selbst die llberwachungskommission muß uns das bescheinigen
während die Franzmänner die Gräber unsrer Krieger sogar im Elsaß dem Erd¬
boden gleichmachen, die Grüfte aufreißen und die Schädel deutscher Krieger für
Museen und Raritätenjäger sammeln. Die französische Nation hat wirklich bis
zum letzten Atemzug ihre Volkskraft dem einen Ziel des Sieges gewidmet. Hätte
sie nun das Wunder vollbracht, die Fehler ihrer Tugenden abzulegen und Maß
zu halten im Erfolg, so würde ihre Zukunft gesichert sein. Jetzt aber gräbt sie
sich langsam ihr eigen Grab, und die deutsche Nation wird auferstehen. Ihr
fragt mich, wie? Arbeitet, ohne zu fragen! Jetzt schläft der Kaiser zum
zweitenmal im Kyffhäuser, dessen Schlüssel Marschall Fons behütet, und
krächzende Parteiraben umflattern ihn. Die Zukunft, die uns Alten noch zu
leben übrig bleibt, ist so unerträglich, führt in solche dunklen Abgründe und
Schluchten, daß das deutsche Volk von neuem an das Wunder glauben und
darauf hoffen wird. Die Franzosen sprechen vom „Wunder der Marne" und
errichten der heiligen Jungfrau von Orleans die Denkmäler, die ihr noch fehlten,
als Schiller sie besang. Friedrich der Große verkündete einige Tage nach Kuners-
dorf seinem Bruder das „Mirakel des Hauses Brandenburg". Größer war unser
wird
uns geschrieben: Die Frage über das Schicksal
Kärntens steht vor ihrer Entscheidung. Die
, endliche Ratifizierung des Friedensvertrages
von Se. Germain bedeutet auch den Anfall
jener dreimonatigen Frist, innerhalb deren die
Volksabstimmung über die umstrittenen Gebiets¬
teile Kärntens durchgeführt sein muß.
Ohne der letzten Endes beim Volke allein
liegenden Entscheidung vorzugreifen, kann
heute doch schon gesagt werden, daß, wenn
die Lösung der Kärntner Frage sich logisch
nach den tatsächlichen, von Natur aus ge"
geberen Verhältnissen und infolge richtige"
Abschlusses ihrer bisherigen Entwicklung voll¬
zieht, 'sie auch im Sinne der natürlichen
Einheit und Geschlossenheit des Landes, also
seiner politischen und wirtschaftlichen Unteilbar¬
keit erfolgen kann.
Auch hier wird die Natur und der in
den Verhältnissen des Landes selbst liegende
Sinn, also die innere Wahrheit der Dinge,
jenen äußerlichen, künstlich und fälschlich
darüber gelegten Schein zerstören, der im
Drange gewaltsamer Aneignung fremden
Staatsgutes die landfremden Politiker in
Paris und Umgebung zu täuschen bestimmt war.
Schon der Gedanke, Lurch die Stimme des
Volkes selbst die Entscheidung über das
Schicksal eines Landes herbeizuführen, ist kein
bon Hause aus in einer Friedenskonferenz
liegendes Prinzip/ keine primäre Lösung einer
einfach nach dem Willen des Siegers zu be¬
stimmenden Frage, sondern er ist selbst schon
ein Kompromiß zwischen Anspruch und Gegen¬
spruch, eine sekundäre Maßregel zur Schlichtung
von Dingen, die eben nicht eindeutig klar,
sondern von zwei Parteien bestritten sind.
Man weiß, wie es zur Bewilligung der
Volksabstimmung in Körnten kam. Sie ist
nur die Folge des entschlossenen Abwehr¬
kampfes der Kärntner, die zur Umsturzzeit
den widerrechtlich das Land überfallenden
Südslawen mit den Waffen in der Hand ent¬
gegentraten. Schon der erste feindliche Ein¬
bruch im Herbst 1918 wurde durch den Sieg
der deutschen Waffen Kärntens bei Grafenstein
niedergeschlagen. Das um seine Existenz
ringende Land — denn jede politische Aus¬
einandersetzung Kärntens hebt den bisherigen
Begriff des Landes Kärnten überhaupt auf —
erregte die Aufmerksamkeit der sich bereits
getäuscht sehenden und von den Südslawcn
irregeführten Entente; die Amerikaner ver¬
mittelten den Waffenstillstand vom Januar 1919,
schufen nach dem damaligen Besetzungsstand
eine vorläufige Abgrenzungslinie und bereisten,
um zu eigener Anschauung der Verhältnisse
Zu gelangen, kommissionell das Land. Eine
damals probeweise durchgeführte Volks¬
abstimmung ergab, daß 84,6 Prozent der
Wählerschaft, das sind 81451 Personen, für
ein ungeteiltes Kärnten und nicht einmal
1 Prozent, das sind 771 Wähler, für den
Anschluß an Südslawien stimmte. >
Um der Gefahr, ihre Sache in Paris zu
verlieren, durch einen tatsächlichen Besttztitel
Zu begegnen, versuchten die Jugoslawen am
S9. April 1919 unter Bruch des Waffen¬
stillstandabkommens einen Überfall an der
Grenzlinie.
Neuerdings trat Kärnten in den Kampf
um die Heimat, wiederum warf es den Feind,
diesmal sogar über die Landesgrenze, zurück,
in dem benachbarten, ebenfalls besetzten Süd-
steiermark wurde Windisch-Graz besetzt, CM
und Marburg bereits von den Jugoslawen
geräumt, als Plötzlich die Wiener Negierung
den Kärntner Vormarsch ins steirische Unter¬
land und den gelungenen Anstoß zur Er¬
schütterung des LW-Staates aufhielt. Die
Unterhandlungen aber zerschlugen sich, die
Südslawen, besonders Serben, rückten aufs
neue und diesmal mit Übermacht an, drängten
die Kärntner zurück, bedrohten Vliland, das
nur der italienische General Segrö rettete,
und zogen am 6. Juni 1919 in der Landes¬
hauptstadt Klagenfurt ein, die sie — während
über 16000 Kärntner aus den besetzten Ge¬
bieten im eigenen Lande als Flüchtlinge hcr-
umirrten — bis Ende Juli 1919 besetzt hielten.
Auf Grund dieser Erfolge arbeiteten
nun die Jugoslawen mit neuem Hochdruck
beim Viererrat in Paris. Sie erreichten eine
Änderung des bereits Ende Mai 1919 fertig¬
gestellten Friedensvertrages, der Kärnten bis
zu den Karawanken (mit Ausnahme des
Mießtalcs) den Kärntnern zusprach. Die Ver¬
handlungen wurden mit Wilson selbst ge¬
führt und ihnen das neue Prinzip der Teilung
des Klagenfurter Beckens zugrunde gelegt.
So erhielt der Friedensvertrag die heutige
Gestalt, in der er das Klagenfurter Becken
in zwei Zonen ^ und L teilt, über die ge¬
trennt eine Volksabstimmung abzuhalten ist.
Die südlichere Zone ^ stimmt zuerst; fällt
ihr Spruch für den Anschluß an Südslawien
aus, so stimmt 3 Wochen später die nörd¬
lichere Zone L, die Klagenfurt, Se. Veit und
Umgebung umfaßt; erklärt sich die Zone ^
für den Verbleib bei Osterreich, dann entfällt
die Abstimmung in der Zone L von selbst.
Bis zu diesem Ziel sind die Südslawen
durch ungerechten Waffenkampf und diplomati¬
schen Krieg gekommen. Nun aber, bei der
Abstimmung, soll die innere Wahrheit der
Dinge, die Macht der tatsächlichen Verhält¬
nisse sprechen. In Wahrheit steht es so, daß
die Ansprüche der Südslawen auf das Gebiet
der beidenstrittigcnZonenKärntens geographisch,
ethnographisch, wirtschaftlich, kulturell uni>
politisch nicht nur anmaßend ungerecht, sondern
auch haltlos sind.
Denn geographisch ist Kärnten eine von
Natur aus unteilbare Einheit, deren südliche
Grenzlinien im kartographischen wie im
wirklichen Landschaftsbilde vor jedem Auge
klar daliegen.'
Ethnographisch ist es im SinneHes
durchaus landsmannschaftlichen Zusammen¬
gehörigkeitsgefühls aller Kärntner, der
Deutschen wie der „Windischen", eine Einheit,
weil auch der mehr als einem Jahrtausend
innerhalb der Kärntner Landesgrenzen ein¬
gesprengte slawische Zweig der „Windischen"
sich nur als Kärntner fühlt und, durch Ge¬
schichte, Wirtschaft und kulturelles Leben seit
jeher mit dem Deutschen in Frieden und Ein¬
tracht verbunden mit den „Bruderstämmen"
jenseits der Karawanken in Krain und am
Balkan nichts zu tun haben will.
Die wirtschaftlichen Verhältnisse aber
weisen auch diesen windischen Teil Kärntens
mit zwingender Notwendigkeit nach Norden,
da ihm die Felsenmauer der schwer gehbaren
Karawanken Handel und Verkehr mit dem
Süden erschwert, während ihm nach Norden
hin das ebene Becken Klagenfurts alle Wege
für Ein- und Ausfuhr öffnet. Für Ober¬
tarnten mit Klagenfurt aber bedeutet das
Ausscheiden des Südens und des Südost¬
winkels seines Landes den Wegfall seiner er¬
giebigsten Kornkammer, ohne deren Einfuhr
jene Gebiete nicht leben könnten.
Die kulturelle, geschichtliche und politische
Einheit des Landes aber ist darin begründet
und in beiden Volksstämmen Kärntens da¬
durch seelisch verankert, daß sie auf ein mehr
als tausendjähriges, in Not und Gefahr
(Türkenkriege! Franzosen- und Jtalienkriege!
Slawennot!), in Glück und Frieden gemein¬
sames völkisches und staatliches Erleben zurück¬
sehen, in dem Bewußtsein einer unzerreißbaren,
geistigen und natürlichen Landsmannschaft,
die sich bisher für alle Teile vorteilhaft be-
währt hat, während ein Anfall an den Süden
«inen Wechsel der westeuropäischen altöster¬
reichischen Kultur und Gesittung mit der des
Balkans, ein Aufgeben wohlbegründeter Sicher¬
heit gegen die Ungewißheit eines neuen staat¬
lichen Gebildes, eine Umstellung aus der
deutsch-christlichen in die serbisch-orthodoxe
Gedankenwelt bedeuten würde.
Die Volksabstimmung in Körnten wird
demnach eine Probe auf die Kraft solcher,
nach Maß und Gewicht unwägbarer Momente
abgeben, die in die Wagschale der vollen Ver¬
hältnisse noch sittlich-geistige Werte legen.
In Nummer 16/1?
der „Grenzboten" wurde von Moeller van
den Brück in ernster und wohlwollender
Weise eine Schilderung des „Auslands¬
deutschen" gegeben, die jeden Auslands¬
deutschen, der sich in dem dort geschilderten
Typus wiedererkennt, mit Stolz erfüllen
muß. Leider kann das nicht für jeden
Auslandsdeutschen gelten, namentlich nicht
für diejenigen, die der Verfasser durch be¬
sondere Bemerkungen in seiner Schilderung
.(S. 88) selbst ausscheidet: die Konsular-
vertretungen, die Kunstgelehrten und die
Vergnügungsreisenden.
Es ist nicht mein Berus und meine Ab¬
sicht, die deutschen Vergnügungsreisenden im
Auslande, die dem Verfasser durch lärmendes
Wesen unangenehm auffielen, in Schutz zu
nehmen. Wer nach solcher Art Reisender
das deutsche Volk beurteilt, begeht denselben
Fehler, den man in Deutschland beging,
wenn man das englische Volk nur nach dein
Benehmen gewisser „Globetrotter", die wir
am Rhein oder in der Schweiz sahen, be¬
urteilt.
Nicht so offenbar ist die Unrichtigkeit und
Ungerechtigkeit, die in der Ausnahmebehand¬
lung der Konsularvcrtretungen liegt.
Die amtlichen Vertretungen des Deutschen
Reiches im Ausland sind ja gewöhnt, daß
der mit ihrer Amtsführung irgendwie un¬
zufriedene Landsmann seine Unzufriedenheit
in die Öffentlichkeit hinaufruft und ihnen
dabei auch manche Unzufriedenheit anhängt,
die mit ihrer Amtsführung nichts zu tun
hat, — übrigens eine Erscheinung, unter der
auch Englands und anderer Länder Konsuln
zu leiden haben. So war es schon immer-
Die Konsularvertrctung des Deutschen
Reiches ist keine leichte Aufgabe. Ein Amt
von ähnlicher Bedeutung im Inlands ist bei
weitem nicht so allgemeiner Beachtung, An¬
forderung und Kritik ausgesetzt wie ein
Konsularamt, das weit und breit die einzige
und höchste deutsche Amtsstelle darstellt und
der Kritik einer Gemeinde ausgesetzt ist, die
weit selbständiger, unterrichteter und cmspruchs-
voller zu sein Pflegt als inländische Amts¬
gemeinden. Darum wurde die Auswahl der
Konsularbeamten seitens des Auswärtigen
Amtes von jeher mit besonderer Sorgfalt
gehandhabt. Um das recht beurteilen zu
können, musz man wissen, wie im Auswärtigen
Amt vor der Annahme eines Bewerbers für
den höheren Konsulardienst seine Persönlich¬
keit nach Herkunft, Begabung, Leistung,
Gesundheit, Charakter und Austreten geprüft
wurde; die Anwärter hatten sodann als
Assessoren im Auswärtigen Amt eine strenge
Lehrzeit durchzumachen, bei der noch mancher,
der sich in Gerichts- oder Verwaltungspraxis
schon bewährt hatte, versagte und wieder
abgegeben wurde; auch bei der Auslands¬
praxis als Vizekonsul ist noch mancher, der
bis dahin die Probezeit bestanden hatte, an
den eigenartigen Verhältnissen des Auslandes,
die ihm nicht behagten oder denen er nicht
gewachsen war, in der Laufbahn gescheitert.
Diese Vorzüge des alten Konsulardicnstes
sollten neben seinen Mängeln, von dem neuen
Konsulatsdienst, wie er sich jetzt entwickelt,
nicht vergessen werden.
Daß sich im alten Konsulardienst auch
Versager zeigten, soll nicht geleugnet werden,
war aber keine Eigentümlichkeit weder dieses
Berufs noch unseres Volkes. Die Klagen
der Kaufmannschaft oder Industrie, daß sie
von den Konsularbehörden zu wenig Nutzen
hätten, verkennen häufig die Aufgabe der
Konsularbehörden, die nicht die Agenten
einzelner deutscher Geschäfte, nicht die Ver¬
treter einzelner deutscher Firmen oder Einzel-
Vcrsonen, sondern Vertreter des Deutschen
Reiches und Agenten für die Interessen des
gesamten deutschen Volkes sein sollen; sie
werden auch von der englischen Geschäftswelt
immer wieder gegen die englischen Konsular-
vertretungcn — denen dabei vor dem Kriege
die deutschen Vertretungen als Muster vor¬
gehalten wurden — in ganz > ähnlicher Weise
erhoben. Die Hauptfehler, die unserer alten
Diplomatie vielfach mit Recht vorgeworfen
werden konnten: Auswahl der Beförderung
"ach Rücksichten persönlicher Beziehungen, statt
"ach Befähigung, sühlungslose Abschließung
gegenüber dem fremden Volke und gegenüber
den eigenen Landsleuten im Auslande, das
sind Fehler, vor denen die Konsuln — denen
solche Diplomaten ja auch meist fremd
gegenüberstanden — im allgemeinen bewahrt
waren. Ganz unverständlich ist mir aber
nach meinen 15jährigen Auslandserfahrungen
die Behauptung jenes oben angeführten Ar¬
tikels, baß, wo sich im Auslande ein
Deutscher mit den schlechten natio¬
nalen Gewohnheiten der Auslands¬
nachahmung breit machte, er am ehesten
den Konsülarvertretungen angehörte.
Ich weiß nicht, ob der Verfasser dabei
vielleicht an Wahlkonsuln gedacht hat, die
früher einmal deutsche Reichsangchörige waren
und später die Staatsangehörigkeit des Lan¬
des, in dem sie sich niedergelassen hatten,
angenommen hatten. Unter den Berufskonsuln
sind mir solche Erscheinungen nicht begegnet,
und ich kenne ganz gut den deutschen Kon¬
sulardienst in Nußland und in Asien. Wohl
aber weiß ich von Konsuln, die in Fragen der
nationalen Haltung in Gegensatz ,u anderen
Auslandsdeutschen geraten sind, insbesondere
auch zu kaufmännischen Angehörigen ihrer
Kolonie; zu Kaufleuten, die nicht verstehen
konnten, wozu deutsche Zeitungen nötig seien
(da sie mit ihrer Kundschaft doch englisch
verkehrten), zu Kaufleuten, die ihren Familien¬
namen ins Englische übersetzten, zu Kauf¬
leuten, die ihren eigenen deutschen Landsleuten
Rechnungen und Briefe in englischer Sprache
schrieben, zu Kaufleuten, die nicht mehr „nein"
statt „ne>" zu sagen vermochten, zu Kauf¬
leuten, die den englischen oder internationalen
Klubs den Vorzug vor den kleineren deutschen
gaben, und so könnte ich noch viele Beispiele
aufzählen, aber ich will nicht angreifen, und
ich möchte nicht den Eindruck erwecken, als
wüßte ich den Wert des deutschen Übersee¬
kaufmanns, seinen Weitblick und Scharfblick,
seine Tatkraft, seine Großzügigkeit nicht zu
würdigen, oder als wüßte ich nicht, welchen
Wandel in der nationalen Haltung das letzte
Jahrzehnt vor dem Kriege gerade in der
jüngeren deutschen Kaufmannschaft des Aus¬
landes gebracht hat, mit wie anderen, von
der älteren Kaufmannschaft häufig sehr ver¬
schiedenen Auffassungen vom Deutschtum die
jüngeren Jahrgänge schon hinauskamen und
eine wie verschiedene Stellung dieses junge
Deutschtum dem Ausländer gegenüber ein¬
nahm.
gefaßt finde: „Es wird kein AuSlands-
deutschtum mehr geben."
Der Friedensvertrag hat das im Aus¬
lande bestehende Deutschtum in den meisten
Ländern der Welt ziemlich zugrunde gerichtet
und er ist voller Bestimmungen, die ein
Wiederaufleben deS Deutschtums verhindern
sollen. Grund und Ursache für dieses Vor¬
gehen ist der Neid der feindlichen Kaufmann¬
schaft, die fich durch Beseitigung des deutschen
Wettbewerbes ihre eigenen Geschäfte zu ver¬
mehren und zu erleichtern sucht. Aber wir
wissen auch, daß auf anderen Seiten der leb¬
hafte Wunsch besteht, mit dem Deutschtum'
wieder Fühlung zu bekommen und von dem
Zwang befreit zu werden, das, was Deutsch¬
land Gutes und Nützliches bieten kann, ent¬
behren zu müssen. Dann werden freilich
diejenigen Auslandsdeutschen, die bisher den
Kern des Deutschtums im Auslande aus
machten, gerade die ältesten und eingesessensten,
verschwinden; und sie werden Lücken hinter¬
lassen, die ihre Landsleute tief empfinden und
bedauern werden. Aber nicht verschwinden
wird „der Auslandsdeutsche". Millionen von
Deutschen warten auf die Gelegenheit, ins
Ausland gehen zu können und zu dürfen-
Sie werden sich einer anderen Umgebung und
anderen Aufgaben gegenübersehen als bisher
die Deutschen im Auslande. Sie werden von
der Heimat eine andere Führung und andere
Unterstützung erwarten und bedürfen. Ist die
Heimat dazu imstande, so wird sich ein Aus¬
landsdeutschtum entwickeln, das von stärkerer
und höherer Bedeutung sein wird als das
frühere und in hohem Maße dazu beitragen
wird, aus dem verlorenen Krieg einen ge¬
fgchtz zs
Wie sieht er aus, der Friede? Bei der
geradezu lebensgefährlichen Gleichgültigkeit
der Deutschen dürfte es nur sehr wenige
geben, die dieses Schanddokument mit seiner
katastrophalen Wirkung für das deutsche
Wirtschaftsleben kennen. Es ist daher eine
zu begrüßende Arbeit des Verfassers, die die so¬
genannten Friedensbedingungen zum Hand¬
gebrauche für jedermann zusammenstellt-
Die Zusammenstellung beruht auf den Ver¬
abredungen von Versailles und von Spa und
den sonstigen Vereinbarungen, wie sie nun¬
mehr in Wirksamkeit sind. Sie stützt sich
durchweg auf amtliches Material und enthält
sich jeder Entstellung, Färbung, Verschleierung
oder Beschönigung. Mit Parteipolitik und
dergleichen hat diese Arbeit nichts zu tun.
Sie gibt einfach die Tatsachen, wie sie sind.
Die Schrift eignet sich nicht nur zum Einzel-
Gebrauch, sondern vor allen Dingen zur Auf¬
klärung der Massen. Der Preis beträgt für
das Einzelexemplar (16 Seiten) 50 Pf., bei
100 bis 1000 Stück 40 Pf., darüber Is Pf.
wo ist unmittelbar zu beziehen von der
Deutschen Zeitung, Berlin SW 11, Hedemann¬
straße 12.
Wenn ein Buch in dieser gewitterschwangeren
Zeit, in der der Bürgerkrieg aller gegen alle
jeden Tag aufflammen kann, sich ein „politisches
Volksbuch" nennt, dann wird man es darauf¬
hin ansehen, ob der Verfasser in möglichster
Objektivität über den Parteien steht und dem
Volke nicht Gelegenheit zu neuem Haß gibt.
Dies Buch aber trägt allein die Tendenz, das
„alte System" in jeder Beziehung herab¬
zusetzen. Der Verfasser ist von dem größten
Haß gegen den „Geist des Kapitalismus,
dem Geiste hochmütigen Eigennutzes", dem
schließlich auch das Beamtentum und die¬
jenigen Schichten des Adels, die sich unter
dem alten Kaiser noch durch Schlichtheit und
soziale Aufopferungsfreudigkeit ausgezeichnet
haben, verfallen seien, erfüllt. Das alte
System nennt er „eine furchtbare Krankheit
am Körper des deutschen Volkes".
Der Verfasser fühlt die Verpflichtung, auch
die Schuldfrage, die er von einem internationalen
und einem innerpolitisch nationalen Gesichts¬
punkt aus beantworten will, näher zu er¬
örtern. Unser ganzes Elend wird dem
Verhalten Wilhelms II. zugeschrieben. Jeder
unserer Feinde wird mit Wonne ein Buch
lesen, das ihren Krieg gegen eine so ver-
brecherischeTyrannei zur heiligen Sache stempelt.
Und der Verfasser erblickt in seiner Arbeit
eine vaterländische Pflicht, hält es sogar für
moralisch verwerflich, sich derselben zu entziehen.
Auch die Nichtlösung der sozialen Frage wird
dem Kaiser in die Schuhe geschoben, obgleich
zugegeben wird, daß „der moderne Staat"
im allgemeinen sich nicht der Verantwortlichkeit
der Arbeiterschaft gegenüber bewußt geworden
sei. In seiner englisch orientierten Auffassung,
die in einem Bündnis mit England, wie es
z. B. Lord Salisbury 1895 mit dem Vor-
schlag einer Aufteilung der Türkei unter Eng¬
land, Deutschland und Österreich-Ungarn vor¬
schlug, das alleinige Heil für unser Land er¬
blickte, übersieht er ganz, daß England damit
uns sofort in einen Krieg mit Rußland und
Frankreich verwickelt hätte, dem es von seiner
Insel aus gelassen zugesehen hätte, froh, daß
seine beiden mächtigsten Gegner sich gegen¬
seitig zerfleischten. Der Verfasser weiß offen¬
bar nichts von dem Buche John Morels
„Nsroeco in OipIomÄL^", das die Politik
Deutschlands in dieser Periode, wo es nicht
der herausfordernde, sondern stets nur der
herausgeforderte Teil gewesen sei, als würdig
und loyal gegenüber den Signaturmächten
hinstellt, dagegen die Politik Englands und
Frankreichs als schamlos die öffentliche
Meinung irreführend verdammt. Es wäre
für die Demokraten und Pazifisten besser und
ehrenvoller, wenn sie sich weniger mit der
Beschmutzung des eigenen Volkes als mit den
soviel größeren verbrecherischen Absichten
unserer Feinde beschäftigten. Wenn Amend
die Knebelung der öffentlichen Meinung durch
die Zensur während des Krieges beklagt, s»
wird diese Zensur nachträglich geradezu gerecht¬
fertigt durch Bücher, denen in solchem Grade
jede nationale Würde und politische Selbst¬
zensur fehlt.
Rücksendung von Manuskripten erfolgt nur gegen beigefügtes Rückporto.
Nachdruck sämtlicher Aufsätze ist nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlages gestattet
^llNI lMItMK
Vorbereitung fut alle Klagen 6er ver8ebieäenen ZcKuls^Steine
<Ani8Lnulung). Insbesonclers Vorbereitung fut alle LinMrigen-,
k'rims- unä Reifeprüfung.Dr. NiclmeZis.
INFritz Schumacher
UnltUrx>olitik
Neue Streifzüge eines Architekten
Brosch. Mk. 10,—. Geb. Mk. 15.— und 20?i Sortimentszuschlag.
Inhalt: Zur Erziehung des neuen Menschen / Mittel der Volkskultur: Das
Kino, Die Kirche, Der Friedhof, Die Schule, Das Gerät, Der Garten, Die
Straße / Vorbedingungen der Wohnungskultur / Kulturproblein der Großstadt /
Mechanisierung und Architektur / Expressionismus und Architektur / Unser künst¬
lerisches Verhältnis zum Auslande.
Der Verfasser ist der bekannte Hamburger Stadtbaumeister.
Kölnische Zeitung: Ein Buch, das sich nicht mit Nebenergebnisscn begnügt, sondern das
Grundlagen schafft. Darüber hinaus der Spiegel einer Persönlichkeit, die das Neue sucht ohne die Üb er¬
lieferung nach bellte marktgängiger Weise zu verachten, die frei und unbefangen sich allen fremden
Einflüssen öffnet und doch vor allem die deutsche Eigenart schaffen möchte, die nach dem Zi^
sammenbruch unserer Weltpolitik unverzagt und frisch an den Ausbau durch Kulturpolitik geht-
Gngen Dieöerichs Verlag in Jena
s^W^l^^^l^S^l^W^I^W^I^
„Gine dör erfreulichsten Erscheinungen der Gegenwart!"
nennt der Pädagoge I. Teos
Unserer Kinder
Deutsche Geschichte
erzählt von Margarete Vorländer
Einband und Schmuckzeichnungen von TNax Thalmann--Weimar
Preis gebunden zwanzig Mark
„Ls geht ein deutscher Hoffnungsklang durch diese Blätter.
Leipziger Neueste Nachrichten
„Das ist ein Buch zur rechten Zeit."
Schwäbischer Merkur
Ausführliche Prospekte durch jede Buchhandlung oder durch den
Verlag Friedrich Andreas perthes A.-G. Gotha
TSEebtt» vonCKStAbttev
Einzelnummer 60 Pf., viertcljährl. (b. d. Post) M. 6.—, Jahresbezug (b. Verlag) M. 20.—.
Verlag: Berlin >V 9, Schellingstraße 13, Fernspr.: Lützow 5196.
Das „Gewissen", dessen Leserkreis im „Ring" zusammengeschlossen ist, erscheint
wöchentlich und gibt dem politischen Einheitswillen der Jungen entschiedenen Aus¬
druck. Es wendet sich gegen Korruption, Partcihader und Klassenkampf und versieht
eine aktivistische Politik des nationalen Aufbaus auf korporativer Grundlage.
Aus dem Inhalt der Ur. 38:
Abgewirtschaftet. Von Hütten. — Stellung z» Italien. Von Moeller van den Brück. —
kön, Kohlciiversorgung Deutschlands. Von A. Heinrichsbauer. — Der Kampf um den
Ol,^""tiven Gedanken. Von Dr. Max Hildebert Bochen. — Die kleine Entente. Von Martin
wers. — Drei„ki<>j«>i-i,i,» »iii> socialer Oraanismus. Von or. Hans Heinrich Schaeder.Dreigliederung und sozialer Organismus.
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MtomWzM Pret5lui55clirelbeil
Verlag und Schriftleitung des „Deutschen Jägers" schreiben einen Photogrciphtschen Preis¬
wettbewerb für kynologische Bilder (Jagdhunde) aus.
l> preis SSS M., 2. preis Z00 M., z. preis 20» M.,
ferner 20 Trostpreise zu je SV M.)
Preisrichter sind: Freiherr v»n Vesserer, München, Zreiherr von perfall, Schloß Greifenverg
a. Ammersee, Apotheker Jungermann, München, und Verlag uns Schriftleitung ses „veutfcht"
Jägers", München.
Genaue Bedingungen gegen Einsendung von 20 Pf. in Briefmarken durch den Verlag
des „Deutschen Jägers" München, Briennerstraße 9.