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I. Semester.
Leipzig,
- Friedr, Ludw. Herbig>
1844
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Zwei ganz entgegengesetzte Regierungssysteme streiten sieh in En--
ropa um die ^physische und geistige Hegemonie. Während man im
Westen freiwillig, oder durch die Umstände gezwungen, entschieden
dem öffentlichen Staatsleben huldigt, gsaubt man im entfernten Osten
durch eine geheime Regierungsform die größte Macht erzeugen
und zusammenhalten zu können. Beide Systeme stehen sich feindlich
seit langer Zeit gegenüber und es liegt in der Natur der Sache, daß
sie mit der Zeit, wenn eine naturgemäße Ausgleichung nicht eintritt,
in Conflict gerathen .müssen. Mitten in diesem europäischen Dualis--
mus steht nnn Dentschland, das in dem letzten Vierteliahrhundert
seine innere Organisation auffallend vernachlässigt hat, noch immer
schwankend, ob es dem westlichen oder dem östlichen Regierungs-
system folgen soll. Das Volk, d. h. die denkende Masse, neigt sich
unverkennbar zum erstern, während die Beamten der Regierungen,
jeder öffentlichen und volksthümlichen Controle abhold, l^ieber dem
letzteren folgen möchten. Es war für Deutschland ein offenkundiges
Unglück, daß Napoleon nach den Bedingungen des Congresses von
Chatillon nicht Fran^kreich als Königreich nach den alten Grenzen an-
genommen hat. Wie schnell hätte sich dann nicht das träumende
und philosophirende Dentschland im Angesicht des großen ^Feldherrn,
dessen harte Mißhandlungen es noch im frischen Andenken hatte, neu
und auf eine volksthümliche Weife organisirt! Unse.re jetzige Lage
ist aber noch schlimmer als damals. Wir stehen nicht mehr eine^in
geschlagenen Soldaten -Kaiser, dessen glänzender Stern auf den Fel-
dern von Leipzig und Waterloo verblichen ist, sondern dem ganzen
Westen gegenüber, der im Besitz eines öffentlichen Staatslebens und
einer nationalen Repräsentation eine unberechenbare Kraft zu ent-
wickeln fähig ist. Dazu kommt noch, daß die französische Regierung,
welche für die Zukunft der neuen Dynastie besorgt ist, sich in neuester
Zeit eng an die englische angeschlossen hat, die wieder in anderer
Art für die innere Ruhe ihres Volkes besorgt sein muß. Durch so
wichtige Interessen fest an einander gekettet, wird es dem übrigen
Europa schwerlich gelingen, sie zu trennen. Sollte aber dennoch in
Folge irgend eines Ereignisses die Trennung beider gelingen, so
stände wast gar ein Bündniß der französischen Regierung mit Ruß^
land in Aussicht, und Deutschland würde dadurch in eine nach ge^
fährlichere Lage gerathen. Man hat zwar den Glauben, eine Allianz
zwischen Rußland und Frankreich sei wegen der Verschiedenheit ihrer
Prinzipien für immer unmöglich; allein die Vorgänge in Griechen^
land haben bewiesen, wie weit sich das Cabinet von Se. Petersburg
um Prinzipien kümmert, wenn es gilt, die russische Macht zu vergrö^
ßerr. Die Revoluiion von Athen wurde, wie kein Mensch mehr
zweifeli, von Rußland begünstigt, um den König Otto zu verdrängen.
Wie wenig auch die Ereignisse in Athen auf die deutschen Verhältnisse
influiren, so ist Deutschland mittelbar zu einem großen Resultate da^
bei gekommen, in so weit auch die deutschen Fürsten, die noch immer
zu Rußland seiner ,,legitimen"" Grundsätze wegen ein Vertrauen hat^
ten, die Augen geöffnet haben und erkennen, zu welchen Mitteln die
russische Poliiik im Rücken ihrer Freunde greisi. Die Ereignisse in
Serbien dienten ais Lehre für Oesterreich; die Begebenheiten in
Athen sind eine Lehre für ganz Deutschland geworden, daß Rußland
noch ein treuloserer Nachbar als Frankreich ist. Wie daher immer
die Ergebnisse der nächsten historischen Entwickelungen ausfallen ins^
gen, so viel steht fest, daß, wenn nicht eine freie und öffentliche Or^
ganisation in Deutschland bald verwirklicht und dadurch die ganze
innere Kraft der Nation entwickelt wird, die geistige und physische
Hegemonie auf Seiten des Westens sein wird.
Wir verkennen in keiner Art, wieviel, besonders in diesem Jahre,
für die Ausbildung der deutschen Heere und die Befestigungen im
südwestlichen und östlichen Deutschland, sa wie für die Herbeiführung
eines umfassenden Eisenbahnnetzes geschehen ist, wir behaupten aber,
daß solchen kolossalen Nachbarn gegenüber eine bloße materielle Ver^
Stärkung nicht ausreicht. Eine unbesiegbare Macht ist nur dann vor^
handen, wenn die geistige Kraft mit der materiellen Hand in Hand
geht. Dies ist in Deutschland nicht der Fall; es kränkelt vielmehr
an einem mehrfachen höchst verderblichen Dualismus. Im südlichen
Deutschland hat das constitutionelle Staatsleben tiefe Wurzel geschla^
gen und noch neuerlich in Baden einen dem geheimen Regierungs^
system ergebenen Minister zum Rücktritt gezwungen, während in den
östlichen Staaten das Repräsentativsystem noch nicht volle Geltung
hat erlangen können. In den meisten Staaten besteht außerdem eine
nicht zu erkennende Kälte und Mißstimmung zwischen den Regierung
gen und den gebildeten Classen, die um so bedauernswerther is^ als
diese sowohlimKriege als im Frieden die^Führer der Massen zusein pfke^
gen. So war es in den Freiheitskriegen, so wird es immer^sein, weil
nur die Gebildeten, abgesehen von der Ueberlegenheit ihrer Kennt^^
nisse, ein klares Bewußtsein haben und nur daraus und nicht aus
einer mechanischen Befolgung gegebener Befehle in der Stunde der
Noth für die angestammten Dynastien und für die Unabhängigkeit
des Vaterlandes tiefe und wahre Begeisterung geschöpft werden kann.
Ist nun in dieser Lage der Dinge eine größere National Ent^
wickelung, besonders von der geistigen Seite, die man bisher offenbar
zu sehr vernachlässigthat, nothwendig, so kann es auch keinem Zweifel un^^
terworfen sein, daß die größern deutschen Mächte, schon ihrer größern
Wichtigkeit und Ausdehnung wegen, die Führung in einem für das
künftige Wohl Deutschlands und für den europäischen Frieden uner^
läßlichen Beschlusse übernehmen müssen.
Wir erkennen die befondere Lage Oesterreichs, das aus mehre^^
^en ungleichartigen Nationalitäten besteht, gerne an und sind weit
entfernt, dieselbe Regierungsform, wie für Preußen, zu verlangen,
das, mit Ausschluß des Großherzogthums Posen, nur aus deutschen
Stämmen zusammengesetzt ist. Der Kaiserstaat muß sich daher höher,
als die Rationalitäten stellen, und wird, auch ohne eine directe Re^
präsentation, diesen Standpunkt sicherlich auch in der Zukunft behaupt
ten, wenn er allmälig die Freiheit der Presse, so wie Oeffentlichkeit
des Gerichtsverfahrens und der Administration einführt. Man hat
gefragt, ob Oesterreich deutsch, ob es slavisch sei; wir glauben, seine
Operations^ Basis kann nicht irgend eine Nationalität, die es vor^
zugsweise begünstigt, sein, sondern der einzelne Bürger, dem sein Recht
in der revidirten Gesetzgebung klar, mit freigebiger Hand, ohne
Aengstlichkeit ges^insere fein muß. Um den einfachen Bürger dem
Uebergewicht der privilegirten Classen und der Beamten zu entziehen,
muß eine freisinnige und wohldurchdachte Gemeinde-Ordnung ihn
in den Stand setzen, seine Rechte kräftig vertheidigen zu können.
Durch ein freies Gemeindewesen mit selbständigen Wahlen wird
sich die Negierung dankbare und kräftige Bürger unter all den Völ¬
kerschaften erziehen, die unter ihrer Herrschaft leben. Aus dieser
höhern Stellung des öffentlichen Rechts und der individuellen geisti¬
gen Freiheit erwachsen der kaiserlichen Negierung, die wegen ihres
Wohlwollens und ihrer Milde große Anerkennung in Deutschland
findet, nicht zu verkennende und unschätzbare Vortheile. Sie erhält
gegen das Ausland, besonders aber gegen Rußland, das Oestreich im
Süden zu umgehen droht, eine verstärkte Stellung und gewinnt end¬
lich die Sympathie von ganz Deutschland, wodurch — abgesehen
von allen historischen Verhältnissen — ihre Macht in jeder Bezie¬
hung mehr gehoben und gekräftigt werden muß. Zwar ist gegen
dieses dem Katserstaat wohl zusagende System von Publicisten, welche
die Natur des Menschen und das Wesen der StaatSverhälmisse nur
oberflächlich kennen, der Einwand erhoben worden, daß es für Oe¬
sterreich zu spät sei, indem die anomalen National-Zustände dort
eine zu große Ausbildung erlangt hätten. Dieser trostlosen Meinung
können wir aber in keiner Art beitreten. In jedem Staate gibt es
Momente, wo die Elemente in ihren Widersprüchen deutlicher her¬
vortreten; wohl demjenigen, der die Heilung des Uebels so nahe bei
der Hand hat, als Oesterreich. Wollte man die Zukunft der glän¬
zenden Staaten der Gegenwart, die Zukunft Englands von solchen
Gesichtspunkten aus in Frage stellen, wie man es bei der Zukunft
Oesterreichs gethan, welche Prophezeiungen wären da zu machen.
Oesterreich hat in seinem Länderverbande kein Irland, es hat keine
Kirchenconflicte unglücksschwanger über dem Haupte, eS hat bei allen
Anlehen keine englische Staatsschuld im Hintergrunde, es hat, trotz
der traurigen Noth des Erzgebirges, keinen Pauperismus britischer
Natur, es hat keine Chartisten-Banden in seiner Mitte, die Anhäng¬
lichkeit an das regierende Haus hängt in keiner seiner Provinzen
blos von den Reden eines einzigen Mannes, wie OConnell, ab,
alle Fäden der Gesetzgebung liegen fest in der Hand der Staats¬
gewalt, und es hat bei einer Reorganisation nicht die hartnäckige,
gefährliche Allmacht egoistischer Tones zu fürchten; ein reicher, kaum
zur Hälfte ausgebeuteter Boden liegt in seiner Mitte und zur Hebung
seines Nationalwohlstandes braucht es nicht erst ferne Welttheile
durch eine ungeheure und doch unsichere Flottenmacht in Unterwür-
figkeit zu halten. Die blühendste Zukunft kann es aus sich selbst
entwickeln, durch einen Schritt, freilich durch einen großen, aber zu-
gleich durch einen so nahen natürlichen. Und man wagt zu behaupt
ten, es sei zu sy^at!! - Deutschland sieht hoffend auf Oesterreich,
seinen alten Führer; es hat das Vertrauen zu seiner Würde, Ein-
sicht und Klugheit, daß es den Wendepunkt der Zeit erkannt hat,
der ein freisinniges Staatssystem nöthig macht, um seine Macht und
mit ihr die Macht der ganzen deutscheu Nation zu sichern und zu
heben.
Preußen hat allerdings viele Schritte näher, um durch ein frei-
sinniges System seine innere Kraft zur höchsten Entwickelung ^ zu
bringen und dadurch allen Gefahren, die uns künftig im Westen
oder Osten drohen möchten, mit Sicherheit zu entgehen. Von seinem
eigenen Volke selbst wird es mächtig auf diese Bahn gedrängt. Die
letzten in diesem Jahre versammelt gewesenen Provinzial -Landtage
haben alle deutschen liberalen Lebensfragen entschieden bevorwortet.
Der ostwestpreußische Landtag hat mit mehr als zwei Dritteln
Stimmen die Freiheit der Presse verlangt und ist darin mit absolu-
ter Stimmenmehrheit auch von dem rheinischen unterstützt worden.
Der schlesische hat mit einer imposanten Majorität und nur gegen
vier Stimmen um die Oeffentlichkeit feiner eigenen Verhandlungen
gebeten. Beinahe alle haben den Entwurf des Criminalgefetzbuchs ent-
weder abgelehnt, oder um dessen nochmalige Revision und erneuerte
Vorlage in Verbindung mit der Strafprozeßordnung gebeten. Diese
und ähnliche freisinnige Petitionen, wie auch die bevorwortete wei-
tere Ausbildung der ständischen Central - Ausschüsse, welche weit die
der ersten Landtage unter der neuen Regierung überholt haben,^ sind
um so überraschender, als in Preußen nur das Grundeigenthum
grundgcsetzlich repräsentirt und alle geistigen Capacitäten, so wie die
Besitzer von Capitalien und alles bewegli^chen Eigenthums völlig aus-
geschlossen sind. Der Grund dieser für Deutschland freudigen Er^
scheinung, deren noch mehrere und noch viel wichtigere auf den
nächsten Landtagen sich unzweifelhaft anschließen werden, liegt in der
gänzlichen Vernichtung des Feudal - Systems, das durch die freisinnige
Gesetzgebung der Freiherrn von Stein und Hardenberg vom Jahre
1804 bis 1813 bewirkt worden, so wie in den neuen Eimichtungen
für die -Schule und das Heer, welches eine wahre nationale In¬
stitution und der förmliche Gegensatz der frühern Soldateska ist.
Das preußische Volk strebt mit Riesenschritten vorwärts und die neue
Regierung ist viel zu gerecht und einsichtsvoll, um die Entwickelung
dieser neuen Kraft, die ihr zuletzt am meisten zu gute kommen muß,
gewaltsam zu hemmen.
Traurig gestimmt und tief geschmerzt hat es uns jedoch, daß
die neue Negierung sich noch nicht mit der Presse oder was gleich
bedeutet, mit den gebildeten und denkenden Classen der Nation auf
einen freundlichen Fuß zu stellen vermocht hat. Sie hat nunmehr
die literarische Einheit Deutschlands dadurch gebrochen und hierin
einen offenbaren Rückschritt begangen, daß sie auswärtige, unter
deutscher Censur erscheinende Blätter verboten und die Strenge so
weit getrieben hat, daß sie selbst Blätter, welche unter Aufsicht der
eigenen Beamten erscheinen, unterdrückte. Es ist hier nicht der Ort
zu untersuchen, welche Fehlgriffe, Indiskretionen und Ungezogenheiten
sich jene Blätter haben zu Schulden kommen lassen, aber so viel steht
fest, dass eine geistige Macht nur mit Erfolg mit dem Geist und
nicht mit der bloßen physischen Gewalt bekämpft werden kann. Wie
uns scheint, hat man den ersten Fehler darin begangen, daß man
den Organen der Presse zu viel Wichtigkeit beilegte und sogleich von
ihnen verlangte, daß sie sich nach Regierungs - Idealen bewegen
sollten. Jeder Schriftsteller trägt aber sein geistiges Ideal in sich
selbst und eS ist hart, so lange er die Landesgesetze nicht verletzt, ihn
zwingen zu wollen, davon abzugehen. Hätte man die radicalen
Blätter nicht verfolgt und in geistigen Dingen die Gewerbefreiheit,
wie sie in materiellen besteht, eingeführt, so hätte sich die Presse unter
sich selbst bekämpft und wäre nach und nach gezwungen worden, sich
den Interessen und den Bedürfnissen der großen Mehrheit anzu¬
schließen. Die literarische Gewerbefreiheit, wodurch allein die ge¬
bildeten Classen zufrieden gestellt werden können, hätte um so mehr
gewährt werden sollen, als sie gesetzlich wirklich besteht. Das Gesetz
über die Einführung der allgemeinen Gewerbfreiheit schreibt aus¬
drücklich vor, daß man auch seine Erzeugnisse in Kunst und Wissen¬
schaften künftig frei debitiren könne und daß Niemanden, der ein
Zeugniß der Polizei-Behörden über seine Sittlichkeit betbringt, der
Gewerbeschein versagt werden solle. Die Verwirklichung dieses Ge¬
setzes für die Schriftsteller sowohl als das lesende Publicum hätte
aus einem doppelten Grunde eintreten sollen, theils deshalb weil
der Literat auf der einen Seite unter fortwährender Censur steht,
auf der andern aber nur durch Vermittelung eines Buchdruckers oder
Buchhändlers wirken kann, deren Concession das allgemeine Gewerbe¬
gesetz selbst von besondern Bedingungen abhangig macht. Unter der
Verwaltung des bekannten Geheimen Rath von Tzschoppe ging man
in der Aengstlichkeit so weit, daß man von dem Redacteur eines
jeden Blattes eine politische, literarische und sittliche Garantie ver¬
langte. Jetzt wird, wie wir in einem neuesten Ministcrial-Rescripta
lesen, die Befähigung und das längst gefühlte Bedürfniß verlangt. Bei¬
des ist aber gegen das Gesetz über allgemeine Gewerbefreiheit. Die
Beurtheilung der Befähigung ist lediglich Sache der Abonnenten,
und um das Bedürfniß kümmert sich grundgesetzlich die Regierung
nicht mehr, seitdem die alte Zunftverfassung mit ihren Zwangö- und
Ausschließungsrechten aufgehoben worden ist.
Aber nicht allein diesen exceptionellen Verordnungen ist die geistige
Thätigkeit in Preußen unterworfen, sondern auch alle anderen Censur-
Gesetze sind ohne ständische Begutachtung erlassen worden, obwohl
das Grundgesetz vom 5. Juni 1823 ausdrücklich vorschreibt, daß alle
allgemeinen Gesetze, welche die Personen, das Eigenthum und die
Steuern betreffen, vorher von den Provinzial-Ständen begutachtet
werden sollen. In Preußen sind drei allgemeine Censur-Gesetze für
das ganze Land ohne Beobachtung dieser wichtigen und wesentlichen
Förmlichkeit in diesem Jahre erlassen worden. Unter'in 4. Februar
wurde durch eine Kabinets - Ordre die vom Ministerium entworfene
neue Censur-Instruction genehmigt und eingeführt. Man hielt nun
die Preußische' Censur-Gesetzgebung, wenigstens sür das laufende
Jahr, für geschlossen, da es in dz 13 der gedachten Instruction aus¬
drücklich hieß, daß nur besondere Zeitumstände einen vorübergehenden
Erlaß, der jedoch von nun an stets von dem Landesfürsten ausgehen
soll, über die Gestattung oder Versagung des Druckes von Schriften und
Artikeln, die sich auf politische Gegenstände beziehen, begründen können.
Neue Ereignisse sind indeß, wie Jeder weiß, nicht eingetreten; und
dennoch ist unter'in 30. Juni d. I. ein neues Gesetz auf den Vor-
schlag deö Staatsministeriums, welches nicht allein die politische»,
sondern auch alle anderen Gegenstande der Presse, und zwar nicht
vorübergehend, sondern auf immer umfasst, erlassen worden. Nach
demselben sind eine nicht unbedeutende Anzahl älterer Beschränkungen wie¬
der in's Leben gerufen worden, jedoch die Gewerbefreiheit hinsichtlich der
Monatsschriften gestattet worden. Später sind auch die Ober - Censur-
Nichter — zwölf an der Zahl — ernannt und eilte Censur-Proceß-
Ordnung von den Ministem des Innern und der Justiz veröffentlicht
worden. Mit Ausnahme von zwei Geheimen - Ober - Tribunal-
Räthen und zwei Professoren sind nun alle Ober-Censur-Richter
Ministerialräthe. Die Minister mithin haben in Preußen das Recht,
die Mitglieder dazu vorzuschlagen, und haben von diesem Recht
gleich in der Art Gebrauch gemacht, daß sie die größere Zahl
aus ihren eigenen Räthen gewählt haben, die dadurch nicht allein
von andern Arbeiten abgezogen werden/ sondern auch so oft ein
Interesse bei der Sache haben, als Gesetze oder Ministerial-Verfügungen
von der Presse beleuchtet und angegriffen werden. Ministerialräthe
hätten umso weniger zu Ober-Censur-Richtern bestellt werden sollen,
als nach dem Landesgesetze die Entscheidung eines jeden Richters,
der ein nahes oder.nur entferntes Interesse bei der Sache hat, abgelehnt
werden darf. Durch diese, zwar wohlgemeinte, aber unsers Erach-
tens sür die Gegenwart nicht mehr ausreichende Institution hat die
Presse dennoch an Terrain etwas gewonnen, da das Ober-Censur-
Gericht alle seine Entscheidungen, wozu es übrigens nicht verpflichtet
ist, bisher mit Gründen motivirt hat und viele der öffentlichen
Prüfung übergeben worden sind. Die Censur-Gesetze sind aber im
Allgemeinen in Preußen viel zu beengend, als daß eine freisinnige Be¬
sprechung der Landesangelegenheiten und der politischen Ereignisse
möglich wäre, da nicht nur eine bescheidene und ernste, wie in dem
alten Censur-Edict vom «8. October 181!), sondern sogar eine
wohlmeinende Untersuchung der Wahrheit gefordert wird, eine Be¬
dingung, die es sogar zweifelhaft läßt, ob selbst erwiesene, aber höchst
gravirende Thatsachen veröffentlicht werden dürfen. Alle diese Aus¬
nahmsgesetze haben aber im Publicum eine günstige Aufnahme nicht
gefunden, was nicht überraschen darf, da sie bedeutend strenger als
die sogenannten Karlsbader Beschlüsse sind, nach welchen eine Appella¬
tion von der Censur an die Gerichte zulässig ist. Wenigstens diese hätte
nachgegeben werden sollen. Wir sind bei den Angelegenheiten der
preußischen Presse deshalb etwas länger verweilt, weil der Kampf allge^
mein gegen diesen Gegenstand sich gewendet hat, und die errungene Frei -
heil hierin immer die erste und breiteste Basis des öffentlichen Staats¬
lebens sowohl in Preußen als in Deutschland bilden wird. Auch
kann Preußen ohne eine aufrichtige, freisinnige und kräftige Beschulung
derselben nimmermehr hoffen, eine allgemeine Sympathie im Gesammt-
vaterlande zu erlangen. Wir sprechen daher eben so sehr im Interesse
der Regierung als der Nation, und es freut uns, melden zu können,
daß die nächsten Landtagsabschiede, die seit neun Monaten in reift
sicher Ueberlegung und Bearbeitung begriffen sind, einige (Lrleichter-
ungcn, wie aus guter Quelle verlautet, bringen werden. Auch scheint
das Ministerium in neuester Zeit die Unterdrückung und Vernichtung
der noch bestehenden selbständigen Zeitungen nicht mehr bezwecken
zu wollen, eine Richtung, die wir um so mehr lobend anerkennen
müssen, als in geistuzen Dingen auch der glänzendste Sieg immer zu
einer Niederlage für die Negierung in der öffentlichen Meinung sich
gestaltet.
Dies sollten auch die kleinern Staaten beherzigen und ent¬
schiedener, als es bisher geschehen ist, für die Freiheit der Presse und
die aufrichtige Verwirklichung eines öffentlichen Staatslebens auf¬
treten, weil dadurch ihre innere, wie ihre äußere Sicherheit nur wachsen
kann. In der zweiten baierischen Kammer ist jedoch, während die
erste darüber ein feierliches Schweigen beobachtet hat, kräftig für die
freie Presse gesprochen worden, wie nicht minder in der sächsischen
Kammer, die auch entschieden für das öffentliche Gerichtsverfahren
sich erklärt hat. Während aber das sächsische Ministerium dieser
neuen Entwickelung, die überall in Deutschland den freudigsten An
klang gefunden hat, den hartnäckigsten Widerstand entgegensetzte, hat
das neue Badische Ministerium ein auf Oeffentlichkeit und Münd-
lichkeit basirteS Criminalproceßverfahrcn den versammelten Ständen vor<
gelegt, das nicht allein dort angenommen, sondern auch wohl später
im Bunde mit dem rheinischen Verfahren, die. Runde über ganz
Deutschland machen wird.
Wir haben in unsrer flüchtigen Skizze wegen Mangel an Raum
und um die Zeit und Geduld der Leser nicht zu sehr in Anspruch zu
nehmen, nur die wichtigsten Lebensfragen, welche Deutschland jetzt
beschäftigen und bewegen, berühren können und müßen, so sehr es
uns auch schmerzt, manches Interesse für diesmal unbesprochen lassen.
Bei dem Hinblick auf so großartige Gegenstände, von deren Wendung
das ganze künftige Wohl und die nationale Selbständigkeit des Ge-
sainmtvaterlandes abhängt, kann eS nur ein mitleidiges Achselzucken
erregen, wenn ein Philosoph einen andern deshalb vor Gericht stellt,
weil er seine Lehre, an deren Verbreitung ihm am meisten gelegen
sein sollte, mit einem kritischen Commentar veröffentlicht hat. Das ist
offenbar ein Rückschritt, zum Glück für Deutschland aber nur ein
Philosophischer.
Das große Interesse, welches die ^ri»" un
deutschen Publimm gefunden, hat auch schon hin- in Berlin dle lit^rariche Industrie zu einem ähnlichen Unternehmen arg^
will „die Geheimnisse von Berlin" erzählen. Es rst nrcht mure A
ficht/mich hier etwa schon vorher über den iU erwartenden Ä^us
oder Unwerth dieses Werks auszusprechen; ich ont nur «" s-um T
einige allgemeine Bemerkungen und Betrachmngen k'^upfi". ^ ^hat nämlich in den meisten hiesigen Kreisen Erstaunen, ^rast^u g
und Verwunderung erregt, man hat ihn wohl auch "e fach bäackM
bespöttelt, bewitzelt „Gek einrisse von Berlin." habe res Cu g aus
rufen hören, ,'vo sind si!? Wir sind, wir leben M in Be . ab
Gott sei Dank, wir wissen Nichts von derglechen interessant n od r
ekelhaften Geheimnissen, wie sie uns der Pariser Journaüst a ö ^ner Stadt wohl auftischen kann; bei uns muß man sie er>t n ^und mühsam erfinden, sie in Untcrhaltungsbüchern und ^„ in
uns erzählen; unsere Wirklichkeit, unser Leben ist ^ ""d ^es^davon, wir können unsere Tage friedlich und gemächlich dahin ave .
unsere Armenvcrwaltung, unsere Polizei ist zu gut organmn. z
wachsam, um dergleichen vor sich gehen und aufkommen S" la ,.n.
So die Ruhigen, die Friedlichen, die große fette Heerde der Pyuunr.
Anders, obwohl ähnlich, drückt sich der junge Stutzer, der romanM^
Commis, der poetische Jüngling der guten Gesellschaft, W ^ann
vom Stande darüber aus. Sie alle haben „die Geheumnsse von
Paris" mit unauslöschlicher Begierde verschlungen, find entzückt da^von, „schwärmen," wie man sich hier gern ausdrückt, dafür, nicht vlos
für das Buch, sondern auch für jenes abenteuerlich-romantische Le¬
ben, aus dem es hervorgegangen ist. „Was ist gegen jenes roman-
tische Aroma, jenes mystisch-phantastische Dunkel, mit dem die Ver¬
hältnisse der französischen Hauptstadt umgeben sind, die nackte All¬
täglichkeit unseres prosaischen, glatten, abenteuerloscn Lebens, was
könnte aus ihm wohl ein Schriftsteller schöpfen, wie könnte es ihm
gar Stoff zu jenen mysteriösen Geschichten geben, deren Lectüre uns
so ergötzt und hinreißt? Sollte er erst Künstler genug sein, uns
ähnliche Gemälde vorzuführen, durch Aehnliches uns zu „amüsiren,"
unser Leben müßte uns ja in jedem Augenblick an die Lüge seines
Products erinnern." In all diesem Geschwätz nun, wie wir eS in
der letzten Zeit von den verschiedensten Seiten gehört haben, offenbart
sich eine Wahrheit, die gerade für unsere entgegengesetzte Behauptung
spricht, daß nämlich das ganze deutsche Leben, wie es, aller Oeffent-
lichkeit entbehrend, die noch zerstreuten Keime und Bedingungen sei¬
ner Entwickelung in seinem Innersten bergen muß, noch ein tief ver¬
flossenes Geheimniß, ja lauter Geheimniß ist. Man mißverstehe
uns nicht.- wir wollen hier nicht Politisiren, wir meinen auch nicht
etwa jene Geheimnisse, die in Sitzungen und Beratschlagungen über
das Wohl und Weh des Volks bei verschlossenen Thüren, oft in der
Stille der Nacht, im Cabinet des Ministers, im Bureau des Beam¬
ten vor sich gehen — die Leute, die uns diese erzählen könnten, wer¬
den sie uns wohl nie erzählen — wir sprechen nur von den Ge¬
heimnissen des täglichen socialen Lebens, wie sie auch bei uns schon,
besonders in den großen Hauptstädten, aber unberücksichtigt, uner¬
kannt, unergründet in allen Kreisen der Gesellschaft sich finden. Ja,
ja, meine Herrschaften, sehen Sie uns nicht so verwundert an, auch
sogar Berlin hat seine mysteriösen Seiten, hat außer jenen läppischen
Stadtklatschcreien, an denen Eure Neugier sich so reichlich ergötzen
und befriedigen kann, auch noch seine fast in undurchdringliches Dun¬
kel gehüllten, seine tiefen, ernsten Geheimnisse. Auf seiner Oberfläche
freilich, auf der Ihr Euch nur bewegt, merkt und ahnt man davon
Nichts, das sieht Alles so glänzend, so glatt, so reinlich, so ruhig und
friedlich aus, da ist Nichts als Vergnügen und Lurus, lauter Tanzen
und Singen, tief aber, und immer tiefer muß man in den Kern, in
daS innerste Herz dieses Lebens und Treibens dringen und wenn
man nur Augen hat und Interesse für menschliche Zustände, wird man
sie auch hier bald entdecken, die große geheimnißvolle Tragödie unsres
Jahrhunderts, die noch stummen, aber drohenden Elemente eines
Kampfes, wie er ein Mal, und dann leider nicht zu Euerm Amüse¬
ment oder literarischen Vergnügen, sondern mit fürchterlichem Ernst
aus seinem Versteck hervortreten und für tausendfach durch die be¬
stehenden Verhältnisse zerstörtes, vernichtetes, vergiftetes Lebensglück
die offne blutige Rache fordern könnte. Sieh' Dir doch nur dieses
Berlin an, mit seinem ungeheuern weitverzweigten Straßenlabyrinth,
wie es in kräftiger Werdelust sich täglich mehr zu einer Weltstadt
emporarbeitet; es birgt dreimalhundert und funfzigtausend lebendige
Menschenherzen mit allen ihren wühlenden, gährenden Leidenschaften,
ihren mächtigen Trieben, all ihrem Hunger nach Gewinn und Besitz,
ihrem Anspruch auf Lebensglück und Lebensgenuß, ihrem Jubel und
ihrem Schmerz, ihrem Haß und ihrer Liebe; eS birgt in sich, in
schroffster Weise, alle jene furchtbaren Gegensätze, an denen das mo¬
derne Leben so reich ist: die himmelschreiendste Armuth, den Hunger
nach einem Stück Brod neben dem ausgelassensten, üppigsten, raffi-
nirtesten Reichthum, die überschwänglichfte himmelblickende Frömmig¬
keit neben dem frivolsten Weltsinn, nervenschwache Sentimentalität
neben thierischer zügelloser Rohheit, eingebildete Lakaien-, Krämer¬
und Philisterseelen neben schönen freien Charakteren u. f. w. u. s. w.
Suche Dir von diesem lebendigen Durch-, Neben- und Miteinander
nur ein Bild zu machen und Du wirst schon nicht mehr an den Ge¬
heimnissen zweifeln, die innerhalb dieser chaotischen Bewegung noth¬
wendig verborgen liegen müssen; sie kommen Dir freilich hier noch
nicht so ganz von selber auf offnem Markt entgegen, Du mußt, um
sie zu finden, Dir erst verschlossne Herzen und Häuser zu öffnen, in
sie einzudringen, Dich in ihnen heimisch zu machen, sie zu verstehen
wissen, mußt überhaupt um Dich sehen, beobachten, jede Dir auf¬
stoßende Erscheinung unter einem höhern, allgemeinem Gesichtspunkt,
als Deinem bisher gewohnten, betrachten, daS Leben, die Menschen
und ihre Zustände tiefer erfassen und würdigen lernen, ehe Du über
sie ein Urtheil fällen kannst. — Da gehst Du ja täglich, als sei es
Deine Pflicht, mit allen Attributen eines Pariser Lion ausgestattet,
von wohlriechenden Pommaden und Wassern duftend, nnter den Lin
den und im Thiergarten spazieren, Du kommst kaum ein Mal ans
diesem Gebiet heraus. Freilich siehst Du auch hier schon den siechen
und gebrechlichen Bettler Dir langsam und ängstlich folgen, er stört
und dauert Dich zugleich, Du legst, schnell vorübereilend, eine Gabe in
seine zitternde Hand; aber sich Dir doch nur sein Gesicht an, die
erlöschende Kraft feines einst wilden, gluthvoller, stolzen Auges, diese
von Lastern und Leidenschaften, von Hunger, Jammer und Wuth ver-
zerrten und zerwühlten Züge, der Mann ist wahrhaftig interessant,
werth, Deine Neugier zu erregen, vielleicht gar aus Paris. Gehe
ihm nur nach, weit und immer weiter bis in seine Wohnung, in
jene entfernten Stadttheile, von deren Eristenz Du kaum gehört, in
jene engen, schmutzigen, sast lust- und lichtlosen Straßen, wo die Ge-
heimnisse von Berlin ihren Sitz ausgeschlagen haben. Was wirst
Du hier erblicken? Neue Dinge, die Du in allen Deinen Träumen
von der Poesie der Armuth nie geahnt, eine Dir neue Welt voll
schrecklicher Mysterien, von denen Du in Deinem, nur dem Vergnügen
und der Annehmlichkeit gewidmeten Leben nie etwas gehört und ge-
sehen hast. Hast Du Dir je denken können, wenn Du Dich Abends
mit wohlgefüllten Magen in Dein wärmendes, weiches Bett legtest,
daß mit Dir hier Tausende ihre nur halb mit dünnen Lumpen um-
hüllten, frierenden, von Arbeit und Hunger ermatteten Glieder auf
den kalten, harten Fußboden ihres mit allerhand ungesunden Dünsten
erfüllten, armseligen Zimmers strecken müssen? Gehe nur dem Bettler
nach und Du wirst Dich davon überzeugen, Du wirst nicht in ein
Geheimniß, sondern in eine Welt von Geheimnissen eintreten, in eine
ganze Kette des nicht poetisch und romantisch zugestutztem, sondern des
wirklichen, haarsträubenden, grausenerregendem Elends ; wirst hier den
Menschen sehn in seinem fürchterlichen Kampfe mit dem nothdürf-
tigsten, in seinem schon halb ohnmächtigen Bemühen, ,ur athmen, ge-
schweige denken und Bewußtsein haben, Mensch sein zu können ; Alles
dessen beraubt, was das Leben nicht etwa angenehm, nein was es
nur erträglich macht; mit all seinem Thun nur in den Schmutz, in
die Gemeinheit, die Niedrigkeit, das Laster verwiesen, durch die Ver--
läugnung alles menschlichen Wesens allein sich noch erhaltend. Sieh^
Dir sie aber nicht blos an, diese bleichen Hungergestalten mit den
hohlen Augen und dem stumpfen Blick; das Elend, und wäre es
noch so gesunken, ist weich und mittheilsam, suche tiefer einzudringen
und Du wirst auch des Großartigen und Tragischen genug finden,
wirst hinfallende Ruinen von einst starken, mächtigen, nun aber durch
die Verhältnisse zerdrückten und zermürbten Ccharakteren, das unterge-
gangne, gebrochne Talent, die hingeopferte gemordete Schönheit ent-
decken. Siehst Du, mein Freund, das ist auch eine und zwar eine
der Hauptseiten von Berlin, DU aber kennst sie nicht, sie ist Dir ein
Geheimniß; Dn schwärmst für Pariser Geheimnisse und weißt Nichts
von denen, die steh in Deiner nächsten Umgebung, dicht bei Dir, in
der Stadt, in der Dn bist und lebst, befinden. Sieh doch nur dort
das alte, schmutzige, häßliche Weib mit den rothen, triefenden Augen,
wie sie von den vorüberrasselnden Carossen bespritzt, so emsig und
eifrig in der Gosse nach einem Stück alten Eisens, einem Knochen
sucht, muß Dir nicht ihr ganzes Leben und Treiben ein Räthsel sein?
Was mag wohl ihr Lebenslauf, ihr Schicksal sein? Hat sie vielleicht
einmal in bessern Verhältnissen gelebt, oder ist sie in Hunger und
Sünde graU geworden, immer Knochensammlerin, Diebeshehlerin,
Kuppelweib gewesen oder vielleicht gar einst eiUe elegante, stolz ein-
hergehende Dame, ein glückliches, heiteres Mädchen, nur letzt ein
Opfer unsrer gesellschaftlichen Zustände? So wie Du sie da siehst,
als diesen letzten Rest eines menschlichen Wesens, ist sie gewiß ei
Geheimniß, DU mußt nnr die Mühe nicht scheuen, es zu enträthseln
Folge aUch ihx einmal nach in die schmutzige, räucherige Kneipe, vo
deren Anblick schon Dein eleganter Sinn sich empört; sich, wie sie s
begierig den dargereichten Branntwein schlürft, den Labetrunk, wi
sie mit einem Male aufthaut, beweglich, fröhlich, gesprächig wird
Nun unterhalte Dich mit ihr und hast Du genug von ihr erfahren
so benutze die Gelegenheit, Dix die übrigen Gäste anzusehn ; vielleich
sind es Diebe und Vagabunden, jedenfalls Bettler und arme Ar
beiter, laß Dich von ihrer rohen Lustigkeit oder ihren finstern Blicke
nicht zurückschrecken, mische Dich nnter sie, setze Dich zu ihnen, mach
sie zutraulich und wenn Dn nach einigen Stunden nach HaUse kehr
werden die erlebten Scenen Deinen Berliner Geheimnißschatz wied
um ein Bedeutendes vermehrt haben. - Dn amüsirst Dich mit d
feinen, nobel herausgeputzten Lohndirne, Du wirfst ihr Geld hin,
muß Dich mit ihrem Wi^
ez, mit ihren frechen, schamlosen Reden
arten ergötzen. Ist sie nicht ein Geheimniß, eines von jenen Schre
lichen Geheimnissen, wie sie Dich in allen Straßen von Berlin
allen möglichen Gestalten umschwärmen? Suche Dir nur ihr He
zu gewinnen, laß Dir in vertraulicher Stunde ihre Geschichte e
zählen; gewiß in irgend einer Beziehung eine sociale Tragödie. —
Und kennst Du sie gar nicht, jene verrufenen Straßen und Winkel,
wo die Entmenschlichung und das Laster frei und offen sich geber-
den, wo Du Nichts siehst und hörst, als die wilde Lust, das wüste
Geschrei losgelassener, entfesselter Bestialität? Gewiß auch Du bist
schon dort gewesen; von einem fröhlichen Gelage kommend, hat auch
Dich der Weintaumel ein Mal dahin geführt, damit Du den lustigen
Abend mit einem guten Witz beschließest. Erinnerst Du Dich nicht
jener trunkenen, tobend, singend und schreiend dahinziehenden Horden,
jenes viehischen Jauchzens, aller jener langen Reihen von erleuchteten
Häusern lind Spelunken, aus denen wüster Lärm, Musik und Tanz
Dir entgegcntönten? Hier Hausen sie, die bedauernSwerthcsten, unglück-
lichsten, elendesten Opfer unserer gesellschaftlichen Verhältnisse, jene
armen, verachteten, von der Gesellschaft ausgestoßenen, moralisch und
physisch gemordeten Geschöpfe; in diese schmutzigen, geheimnißvollen
Gassen Berlins zusammengeschichtet, bergen sie unzählige schauder¬
erregende Geheimnisse in ihren Herzen. Doch ich sehe, Du hast
keine Zeit mir weiter zuzuhören; Du hast jetzt zartere Geschäfte, Du
scherzest da mit der kleinen, lieblichen Kellnerin. Sie hört Dir zu,
aber sie lacht, sie antwortet Dir gezwungen, der strenge Blick des
Herrn, der Deine volle Börse kennt, befiehlt es ihr. Könntest Du
ihr Inneres sehen, Du würdest nachlassen mit Deinem leichtsinnigen,
frivolen Geschwätz; ich kenne zufällig dieses Mädchen, ziehe nur ge¬
trost Deinen Hut vor ihrer Größe, sie ist mehr als Du, mein Freund,
sie ist ein großer, ein tragischer Charakter, ihre Geschichte — ich
werde sie Dir bald ein Mal erzählen —ist ein geheimnißvoller Kampf,
ein echtes Berliner Geheimniß. Aber Du bist heut einmal nicht aus
gelegt zum Ernste, es ist ja Fastnacht, Du stürmst fort, willst die öf¬
fentlichen Vergnügungsplätze, die Maskenfcste durchwandern. El,
wie Du da in wilder Ausgelassenheit Dich unter die bunte, wiu.
meinte Menge mischest, allen Deinen Humor und Witz sprühen la¬
ßest! Ha! sieh nur, wie die Musik sie Alle elektrisch fortreißt, wie sie
in wüstem, rasendem Taumel die glänzenden, feenhaften Säle durch¬
toben! Sieht das nicht gerade aus, als hätten sie geheime Schmer¬
zen zu betäuben, in momentanen Rausche den ganzen Jammer einer
grauenhaften Wirklichkeit zu vergessen? Diese gemachte trunkene Lust,
sieht sie nicht wie eine verzweifelte Flucht aus, aus dem Elende und
der Noth des Lebens und der Verhältnisse? Fällt es Dir gar nicht
ein, wie zahllose Geheimnisse verborgen liegen müssen unter dieser
wahnsinnigen Fröhlichkeit, unter allen diesen Masken, diesem Fiedler
und Putz? Mitten also in Deinem Vergnügen, in Deinen Freuden
umgeben und umschwärmen sie Dich, die Dir noch unbekannten, von
Dir unbeachteten Geheimnisse von Berlin; Du magst Dich drehen
und wenden, wohin Du willst, thue nur die Augen auf, Du wirst
sie finden. Meinst Du etwa vor ihnen in Deine vornehmen, ele¬
ganten Zirkel fliehen zu können? Hier erst Hausen sie in ihrer
schrecklichsten Gestalt, hier siehst Du, statt des augenfälligen, offen-
baren, das verdeckte, das glänzende Elend, die gleißende Sünde, das
geschminkte Laster, die ganze Noth und Angst gedrückter, verkümme»
ter, verzweifelter Verhältnisse unter dem Schimmer des sogenannten
guten Tones verborgen. Man lacht hier mit dem Dolch im Herzen,
singt und tanzt mit der Thräne im Auge, der Verzweiflung in der
Brust, umgibt die häusliche Tragödie mit der Mästender Heiterkeit,
der Geselligkeit und des Scherzes; nicht etwa aus freiem Entschluß,
weil man, wie der rohe Haufe da, sich betäuben, vergessen will, son¬
dern weil man muß, weil der Ton es so gebietet. Sieh Dir doch
nur diese verschiedenen Gestalten und Gesichter genau an, beobachte,
studire sie, ihre Züge, ihre Bewegungen, ihre Blicke, ihr Benehmen
und Wesen, forsche, frage, erkundige Dich dann, Du wirst oft ge¬
nug Mühe haben, Dein Erstaunen zu mäßigen. Hier ist der Ort,
wo Du Dich am allerwenigsten von dem ersten Eindruck, von der
Außenseite blenden lassen darfst; da siehst Du freilich Nichts als Glanz
und -Pracht, Freude, Jubel und Wohlleben, lauter glückliche, reine
Verhältnisse, Alles in Liebenswürdigkeit und Glätte aufgelöst; aber
versuche es nur, den schönen Schleier ein wenig zu lüften, darunter
erst lauert die Gemeinheit, das Elend, der Jammer, das trostlose
Unglück in seinen verschiedensten Gestalten als ein stummes, ein nie an
das Licht des Tages tretendes Geheimniß. Gern möchte ich Dir
sogleich, da Du mich so ungläubig ansiehst, mit einigen saubern Ben
spielen aufwarten, doch habe ich die Absicht, Dich erst später specie
in diese Kreise zu führen. Du lebst und ochse in ihnen und kenn
sie noch nicht von ihrer wahren Seite, wie Du überhaupt in Berli
lebst, von und über Berlin sprichst und weder sein Leben, noch sein
Verhältnisse kennst und berienat. Du will von Allem nur de
Schaum, die Oberfläche genießen, den tiefen, verborgenen, bittern
Kern nicht kennen lernen. Um so anmaßend wie Du über Berlin
urtheilen zu können, muß man dasselbe nicht blos bis in alle seine
entferntesten Stadttheile, zu allen Tages- und Jahreszeiten, am frühen
Morgen und in später Nacht, am kalten Wintertage und an dem
lauen mondscheinhellcn Sommerabend, emsig durchwandert haben,
man muß auch sein Leben, nach allen seinen Seiten und Rich¬
tungen, ergründet, studirt, durchforscht und durchlebt, den Blick lange
geübt, nüchtern und klar gemacht haben für die Auffassung ganzer
Verhältnisse und Zustände. Hättest Du dies je gethan, so würden
auch die Geheimnisse von Paris Dich, ihrer realen Grundlage nach,
sogleich an Aehnliches erinnert haben, was Du hier schon erlebt und
gesehn; Du würdest richtige Parallelen gezogen, wirkliche Unterschiede
und Eigenthümlichkeiten gefunden haben. So aber bist Du ja nur
ein Fremder in Deiner eignen Stadt, Du weißt kaum so viel von
ihr als von Paris, und deshalb aber muß der Schriftsteller kommen,
Dir ihr innerstes Wesen als ein Geheimniß aufdecken, Dich auf das¬
selbe hinweisen, Dir von ihm erzählen. Es ist das Bewußtsein und
der nothwendige Entwickelungsprozeß unserer Zeit, der auch in der
sogenannten belletristischen Literatur sich zu äußern anfängt; auch sie
will sich von der Illusion, in und von der sie bisher gelebt hat,
emancipiren, will besonders aufhören, glänzendes Elend mit glän¬
zenden Farben zu übertünchen, vielmehr das wahre, wirkliche,
aus unsern ganzen Zuständen hervorgehende, von den Meisten, wenn
auch gefühlte, doch noch nicht begriffene, das nothwendige Elend des
Einzelnen wie der Gesammtheit aus seinem geheimnißvollen Versteck
hervorholen, es kritisch, so wie es ist, darstellen und schildern. Ob
die bei den angekündigten „Berliner Geheimnissen" beschäftigten
Kräfte auch dieses Bewußtsein haben und deshalb dem im Titel
angegebenen Zwecke Entsprechendes leisten werden, davon können
und wollen wir hier durchaus nicht sprechen. Jedenfalls sehen wir,
ist das Genre angeregt; sollten auch die ersten Versuche verfehlt
und mißlungen sein, es wird nicht an jungen Kräften fehlen, die
es immer wieder von Neuem und mit Liebe und Fleiß bear¬
beiten werden.
Niemals gab es in der deutschen Literatur so viel Adel als
jetzt, und doch war die deutsche Literatur niemals so wcmg unter dem
Adel als eben wieder jetzt. Ueberschaut die schöngeistigen Produk¬
tionen, unter drei Verfassern ist der eine ein Adeliger; tretet in den
Buchladen, unter zwölf Käufern sind eilf Bürgerliche. Der denk,che
Adel sieht scheel und mürrisch drein, wenn die Regierung irgend
einem närrischen, aber fleißigen Industrien,ann, der dre Schwachheit
hat, mit einem „von" prunken zu wollen, das gewünschte Spielzeug
schenkt, aber er vergißt, daß der neue Eindringling nur Revanche
nimmt dafür, daß so viele Adelige in seinen Stand sich eingedrängt
haben. In den vorigen Jahrhunderten war der Grand Setgmur
Consument; er ließ seinen Reichthum, seine Revenüen unter die flei¬
ßigen Bürger fließen, er war der Käufer für all die LmuSdmgc in
dessen Magazinen; sein waren die kostbaren Gemäldegalerien, die
machtvollen Privatbibliotheken, er Halle seine Musikkapelle, wie er
Wne Hauölieseranten hatte. Er drückte vornehm lächelnd das Auge
5", wenn man ihn einen Gegenstand theurer bezahlen ließ, ja er
suchte seinen Stolz darin, daß'er überzahlte; diesem Grand Seigneur
ließ man seine Grandezza gerne, er war beliebt bei dem fleißigen
Krämer und Handwerker, der von ihm lebte. Nun aber hat er eine
andere Richtung genommen. Er wetteifert mit dem Bürgerlichen an
Sparsamkeit, an Knickerei sogar. Wo man früher von „fürstlicher
Pwcht" sprach, bedient
weit wohlfeiler ist. D,
man die Frau Gräfin i
ihre Einkäufe selbst beso
bei Banquiers n»d Großhändlern. Die Privatkapcllmcilter wcrvcn
u ein Thaler das Billet, angehört, oder noch häufiger gar nicht ge
hört. Noch findet man in den alten Palais die Prachtbibliothelen
der Großvater und Urgroßvater angelegt, weil sie zu seiner Würde
gehörten, weil sie einen wesentlichen unerläßlichen Bestandtheil deö
Glanzes seines Hauses bildeten. Aber der Stammbaum dieser alten
Bibliotheken ist abgeschnitten, die alten prächtigen Foliobände und
Quartanten, die schonen Elzevire - Ausgaben in Goldschnitt und
Safsianband stehen ohne Nachfolger da. Wozu auch diese Samm¬
lungen fortsetzen? Die Leihbibliothek und die Brüsseler Nachdrücke K
20 Gr. der Band, versehen die gnädige Gräfin mit dem vollen Be¬
darf ihrer Lectüre und der Herr Graf findet eS viel zweckmäßiger,
sein Geld in Eisenbahnactien als in vergilbten Büchern anzulegen.
Früher allerdings würde die zarte aristokratische Hand einer Dame
zusammengezuckt haben, wenn sie ein Buch hätte berühren sollen, das
bereits durch ein Dutzend andere Hände gelaufen ist und das viel¬
leicht noch das Aroma an sich trägt, welches eS Tags zuvor auf
dem Tische einer »meno entikwnus eingesogen hat. Es lag ein
schöner poetischer Stolz darin, den Freund, der uns eine schöne Stunde
bereitet hatte, ausschließlich besitzen zu wollen. Welch ein schöner
Reiz liegt auf dem Buche, von dem wir wissen, daß bereits unsere
Mutter daraus sich erquickte; das immer nur von theuren Händen
berührt wurde und wie ein Familienfreund auf andere theure Wesen
sich vererbt, die, wenn sie einst darin lesen, sich unsere Empfindungen
dabei vergegenwärtigen. Solche aristokratische Schwärmereien sind
jetzt außer Mode: in diesem Punkte ist selbst der stolze Adel demo¬
kratisch geworden. In der Kirche und in der Leihbibliothek sind
alle Menschen gleich.
Man wundert sich oft, warum eS in Deutschland an guten Zeit¬
schriften fehlt, warum unsere Romane des feinen Parfüms entbehren
und nur für die rohe Masse geschrieben scheinen»). Der Grund
liegt aber zum großen Theil darin, weil die meisten Romane nur
in Leihbibliotheken ihren Absatz finden, weil die Zeitschriften nur auf
Cafchäuser und Journalzirkel rechnen können und in Form und In¬
halt auf den Haufen speculiren müssen. Der deutsche Adel ist zwar
23
Nichts weniger, als die geistige Elite des deutschen Publicums und es
wäre um Nichts besser bestellt, wenn man Zeitungen und Romane
M' ihn schreiben wollte. Wohl aber sollte er das Bessere unterstützen
vn '"V^ der reiche genießende Theil der Nation, sollte ein Halt-
lumt für Schriftsteller sein, die nicht für den Lesepöbel schreiben
ovum. Er sollte selbst da, wo es ihm an Bildung fehlt, seinen Ehr-
^ ^ suchen, sie wenigstens äußerlich zu repräsentiren. Die Schlosser
/" . ^ ^ der Aristokratie sollten eine Zuflucht für jene schöne Li-
^ "tur sein, die das Höhere Aesthetische erzielt. Der Verleger sollte
und können, damit der Schriftsteller freie Hand gewinnt
""de gezwungen ist, nur der Lust des Haufens zu stöhnen.
A ^ !^ Adel bemüht sich so oft, auf die Geltung der englischen
"Itokratte hinzuweisen; aber er nimmt sich kein Beispiel daran, daß
," Adel consequent in all seinem Thun ist und dadur
"wlUkurlrch sich Achtung erobert. Der englische Adel schützt un
se> R > ""^laridische Wissenschaft und Literatur. Und um bei un
G^', »u bleiben, welche englische Lady, ja welche
b'l "behaupt würde dort ein Buch aus der Leihbiblioth
f^. Wenn nur halbwegs Mittel da sind, es zu kaufen? D
lion '' ^ ^ Zwar seine Rechte verloren, aber die Trad
erst ^" ?^ ^""derzeit er nicht aufgegeben und man braucht ni
eineFaubourg Se. Germain zu gehen, um zu erfahren, d
doir ^" halbbeschmtltzteS Buch nicht in ihr Bo
^ einläßt und die Ochwets «lo keck.ire nur für die wenig
> »le doch so gel
Sie fühlt dann weder so delicat wie «wnz^, ) ^ ^
muthig wie der Engländer. Wozu soll sie ^"")" ^'-,„innees ni
eine verstopfte Nase und scheut den P^^"'" on - hie Literat
und um die Literatur zu unterstützen — was U
was ist ihr Capulet? ..-s.Mer Lande Euro
Ich habe in Belgien, in dem demokratisch sein ^i
Gelegenheit gehabt zu beobachten, was cur kluge
Adel selbst in Mitte der für ihn ungünstigste
Achtung und Geltung erobern kann. In Belgien, " ^
politische Bedeutung verloren hat. versteht er es. Nntli-
anat in einer Stadt, wo nicht der reiche Adel zuerst mit der Hilfe
bei der Hand ist; kein Künstler, der nicht vou den Arembergs, Me^
rotes, Urfels, Beaufords und wie sie Alle heißen, reiche Bestellungen
erhält; kein gutes Buch, keine gute Zeitung, wo nicht diese Namen
an der Spitze dex Subscriptionslisten , nicht selten für ein halbes
Dutzend Exemplare, stehn. Auf diese Weise wird das Volk gewöhnt,
sie als Patrizier zu betrachten, denen es, da sie keine höheren Rechte,
sondern nur eine höhere Achtung verlangen, diese gerne zollt. Und
warum sollte es nicht? In jedem Lande, in jeder Stadt wird man
die ältesten Familien, ob vom Adel oder von dem Bürgerstande, un-
willkürlich höher stellen, wenn sie ihre würdige Stellung von Ge^
schlecht zu Geschlecht behauptet haben. Der deutsche Adel mit seinen
vielen glänzenden historischen Namen könnte selbst in Mitte einer
Zeit, die keine mittelalterliche Privilegien anerkennen will, immer noch
die höchste Theilnahme und Popularität sich sichern, wenn er seine
Stellung uur begreifen würde. Thut er das? Wir wollen hier nur
im Namen der Literatur fragen, ob er, der doch so viel sürdie "gute
alte Zeit" schwärmt, so viel thut, als ebeu diese gute alte Zeit wenig-
stens für sie gethan hat. Er zeige uns, um was er sseine geerbten
Bibliotheken bereichert oder gar neue angelegt hat?
Ich will das kleine Ereigniß erzählen, was mich zu diesen Zeilen
angeregt hat. Vor wenigen Tagen stand ich in der Schröder'schen
Buchhandlung unter den Linden in Berlin. Eine glänzende Equi
page fuhr vor. Ein vornehmer Herr, dessen Namen ich verdchweige,
stieg aus, um einige französische Bücher in Empfang zu nehmen, die
für ihn bereit lagen. - Haben Sie den neuen Roman von Willi-
bald Alexis? fragte er. -Den Urban Grandier? hier ist er, sagte
der Commis; er kostet drei Thaler. - O ich will ihn nicht kaufen,
erwiderte jener; meine Frau wünscht ihn blos zu lesen und Sie
werden wohl so gefällig sein, mir ihn zu borgen.-^ Sehr gerne, Herr
Gras, allein wir können ein ausgeschnittenes Buch dann schwer ver-
kaufen. - Ich will Ihnen für das Lesen gerne etwas vergüten;
auch soll es blos vou der Seite aufgeschnitten werden. -Der Commis
protestirte gegen die Vergütung -mit der ironischen Bemerkung, daß
eine Buchhandlung keine Leihbibliothek sei. Der Gras nahm das Buch
und ging. Welche sarkastische Bemerkutgen der Commis hinter ihm
her machte, hörte er freilich nicht. Allein ich hätte ihn gefragt, ob
es zu Zeiten seines Großvaters auch Sitte war, daß ein. reicher
Graf von vornehmem Ton sich von einem Buchhändler eine Ge-
fälligkeit erzeigen ließ, um drei Thalex zu ersparen; und ob die gnä-
dige Comtessin, seine Großmutter, auch um diese Ersparniß ein Buch
unaufgeschnitten verschlang d. h. in der unbequemsten Lage, wie ein
Bettler, der zwischen dem Hausthor den geschenkten Bissen hinunter^
schlucktonevraen.
,elnachComfortzug
Daß dieses Beispiel nicht das einzige in dieser Art ist, kann
Unter dem bunten Schwarm goldberänderter Taschenbücher, die
jedem neuen Jahre vorausflattern, zeichnet sich die "Libussa"*)
durch ihr eigenthümlich fremdartiges Ansehen aus; sie ist keine blos
modisch-- geistreiche Salon^^^ der auf so und so vielen Toiletten-
tischchen jährlich ihr kleines Opfer gebracht wird, sie hat ernstere Zwecke
und ihre Bedeutung entspricht dem geheimnißvollen Klang ihres Na-
mens. - Ist es nicht merkwürdig, daß gerade die sagenhafte Cze-
chenfürstin es sein muß, die mit prophetischem Finger hinweist auf
eine deutsche Literatur in Prag, ein deutsches Geistesleben im Böh-
merlande? Will sie etwa andeuten, daß die Germanisirung bis
rückwärts zu den Urquellen der Czechenwelt gedrungen ist? Daß
die deutsche Bildung nur wie ein rosiges Morgen- oder Abendroth
die geschwärzten Monumente einer alterthümlichen Vorzeit überfliegt?
Oder verkündet sie den ewigen Frieden, die geschwisterliche Verschlin-
gung deutschen und slavischen Geistes? - -
In der That wird die Libussa den tiefer Blickenden das bös-^
mische Doppelwesen repräsentiren, das mit dem einen träumerisch
wehmüthigen Antlitz zurückschaut in die dunkle slavische Vergangen-
heit, während es mit dem andern wach und bewußt in den deutschen
Tag hineinblickt. Böhmen ist, wie jedes Uebergangsland voll schrof-
fer Gegensätze, scheinbarer Verschmelzungen, verdeckter Abgründe, die
im Leben viel Trübendes, Peinliches, aber, wie alles Dämmernde,
auch ihr Romantisches haben. Wie die Sprachgrenze, selbst geogra-
phisch, in seltsamen Windungen zwischen engen Dorfgassen, zwischen
Feld und Garten , Palast und Hütte durchläuft, so trennt die scharfe
Grenzlinie, welche der deutsche Boden gezogen, oft beinahe Vater und
Sohn, Bruder und Schwester, ja Gedanken und Gefühle eines und
desselben Menschen. Im Herrenhause ist Gesellschaft, Musik und
Tanz. Das jüngste Fräulein singt zum Piano ein Göthe'sches Lied,
oder declamirt Schiller's Glocke; aber der czechische Gesang des
blinden Bettelmannes, schwach herüberkommt aus der anstoßenden
Dorfschenke, oder das Wiegenlied der alten Amme in der Gesinde-
stube, schlägt tiefere Saiten in Aller Herzen an. Wie freut sich der
alte Vater seines Sohnes, dex in deutscher Zunge so unbefangen
mit den hohen Herrschaften redet; die Schwester empfängt ihres
Bruders vornehmere Freunde mit deutscheu Grußworten, die sie er-
röthend und stotternd vorbringt, und die Fremden lächeln freundlich,
denn das Deutsche hat einen' seltsamen Reiz auf den widerstrebenden
Lippen eines hübschen Czechenmädchens; aber Vater und Mutter
segnen ihren Sohn und die Schwester betet für ihren Bruder -
auf Czechisch. Eigenthümlich äußert sich das Doppelleben der Ger-
manisirten. Dex Junker, dex Offizier, der Beamte, der Lehrer und
der Priester, sie alle treten öffentlich in der Rüstung und im Sonn-
tagsstaat deutscher Bildung auf; sie commandiren, sie lehren und
verordnen deutsch; aber i^hre vertrauten Reden, ihre Gemüthlichkeit
oder wenigstens ihre Zornausbrüche und Flüche sind czechisch.^ Um^
gekehrt sind der deutsche Knabe und das deutsche Mädchen, die viel
leicht nur die nothdürftigsten c.zendischen Ausdrücke verstehen, fortwäh
rend den seltsamsten Eindrücken ausgesetzt; sie glauben sich, unte
das Volk tretend, rings von Geheimniß umgeben; ein Spaziergan
in's Dorf ist ein Ab^enteuer; auf der kleinsten Fahrt brauchen si
dann und wann einen Dolmetsch. Und weit weg, verklärt vo
glänzender Ferne, wie in goldnen Abendwolken ruhend, das Lan
ihrer Sehnsucht, die Heimath ihrer Ideale, liegt ihnen die deutsch
Welt; dort tönt ja die Sprache, in dex sie beten und schwärme
gelernt, die Sprache ihrer Dichter und ihrer Liebe; wo selbst der Bet
ler deutsch spricht, muß Arkadien, muß Utopien sein. Alles Ed
und Reine, alles Glänzende und Erhabene, alles Schöne und Lich
ist ihnen deutsch; alles Dunkle und Unheimliche, alles Rohe, Dür
tige, Burleske und Gemeine ist ihnen ezechisch; mit andern Worte
Wirklichkeit und Gegenwart sind böhmisch, Ideal und Zukunft deuts
Und wenn sie einmal plötzlich nach Dentschland kommen, werden
Anorderunentelle -
In neuerer Zeit hat das Czechenthum sich ans dumpfem Traum
aufgerüttelt und laut verkündet, daß es nur scheintodt gewesen; es
will nicht mehr blos der Bettlermantel sein, der von den Gliedern
seines deutschen Herrn schlottert; nicht mehr blos der dunkle Schat-
ten, den die Hand und das Scepter des deutschen Lebens wirst; es
will gleichberechtigt sein. Man soll in czechischer Zunge uicht mehr
blos fluchen und murren, sondern auch segnen und preisen können.
Einige Dichter von Beruf haben die Landessprache zu Ehren ge-
bracht und bewiesen, daß auch sie ein Spiegel des Schönen und
Edlen sein kann. Und wie ein alter, im Gram erblindeter Wan-
dersmann, wenn er sein verloren geglaubtes Saitenspiel wiederfindet,
es über Alles preist und höher stellt, als Stab und Stütze und thut,
als hätte er seine Jugend und fein Augenlicht wiedergefunden; so
ging der czechische Enthusiasmus im ersten leicht verzeihlichen Rausch
über sein Ziel hinaus. Wenn er früher sich zu scheu und selbstver-
achtend vor dem deutschen Licht verkrochen, glaubt er jetzt, es über-
strahlen und entbehren zu können, möchte er jetzt allein herrschen in
einem Lande, dessen blühende Saaten er nicht allein gesäet; und so
fordert er selbst wieder zum Widerspruch und zu neuer Ungerechtigkeit
gegen den kaum erweckten Nationalgeist auf. Doch was sage ich?
Nur die jugendlichen, ungestümen Herolde der Bewegung sind es,
die mit ihren lauten Träumen von Ottokarischer Herrschaft, von neu
zu begründenden Reichen die Welt in Staunen versetzen; nur der
Schaum der Sturmwoge ist es, der bis gegen den Himmel spritzt.
Der Steuermann erkennt sein Ziel besser, und die^ Männer, die grau
geworden sind in der Pflege und Wiedererweckung ihres heimath-
lichen Genius, muthen ihm keine solche Sprünge zu.
Und was soll dies Alles, werden Sie fragen; wie hängt dies
mit der deutschen Literatur in Böhmen zusammen? - Ich wollte
nur bemerken, daß sowohl deutsches, wie czechisches Leben im Böh-
merlande unausrottbar tief wurzelt; dieses durch die unverwüstliche
Lebenskraft des Volkes, jenes durch die Keime eines freiern Bürger-
thums, die in Böhmen durch deutschen Sinn gepflanzt worden sind.
Ich brauche nicht an das historische Recht zu erinnern, auf das sich
Beide berufen; ich rede nur von den wesentlichen Lebensbedingungen
in Gegenwart und Zukunft. Wollte und könnte Böhmen die deut-
sche Hand wegstoßen, die in seinen Angelegenheiten anschafft und
anordnet, um aus rein slavischer Quelle zu schöpfen, so müßte es
freilich „einige Jahrhunderte zurückgehen", um dann, auf langen bar¬
barischen Umwegen, weiß Gott wohin, zu gelangen. Das jedoch
will und denkt kein Czeche.— Was aber ist der schwache Anflug deut¬
scher Cultur ohne Volk? Eine germanisirte Bureaukratie und ein
gebildeter Lehrstand machen keine Nation. Und wollte, wie Einige
wünschen, die deutsche Faust mit eisernem Schnlmeisterlineal Ne Cze-
chen zu Deutschen schlagen: sie würde auf granitne Knochen stoßen
und, den ganzen unberechenbaren Grimm dieses still trotzigen Stam¬
mes weckend, würde sie selbst ihn zwingen, mit Abscheu vor deu
Wohlthaten der Cultur durch Brand und Schutt sich den Rückzug
in die Barbarei zu sichern. Schlecht steht eS jenen heiseren Zett¬
stimmen an, die den verschiedensten Stämmen Ungarns Einigkeit pre¬
digen, wenn sie in Böhmen die Zwietracht schüren und nur deutsche
Herren und czechische Knechte, oder umgekehrt, sehen wollen. Dle
Herrschsüchtigcn beider Theile, die mit einem kategorischen: Entweder
oder, den gordischen Knoten zu zerhauen denken, kennen das Land
und, was ihm Noth thut, nicht. Weil dort auf jedem Schritt und
Tritt sich Deutschthum und Slaventhum begegnen, muß eS zum
Kampf auf Tod und Leben sein? Ist nicht der Czeche durch ernsten
Sinn und starkes Gemüth unter allen Slaven dem germamschen
Wesen am nächsten? Der Deutsche in Böhmen sei vor Allem
Böhme und es fällt dem Czechen gewiß nicht ein, mehr sein ode
Bürger eines neuen südwestslavischen Reichs werdeu zu wollen. Un
der Deutsche im Czechengcbiet ist so wenig Pangcrmanist, wie de
Czeche Panslavist. So weit man zurückblickt, ging alle böhmische Kra
und Bedeutung aus dem Ineinandergreifen deutscher und czechischc
Elemente hervor. Ein deutscher Kaiser war eS, der die alte Prah
mit ihren theuersten Denkmalen krönte; selbst in den Glaubenskämpfe
bis in den dreißigjährigen Krieg, waren die Parteien nicht nach de
Nationalität geschieden; deutscher Adel und czechischeö Volk, czcchische
Adel und deutscher haben in Sieg und Tod oft treu zusammengestande
Und nur in einem einträchtigen Zusammenstehen beider Elemente lie
für Böhmen eine Zuwnft. Freilich haben die Wehen der Zeit au
hier manche Kluft weiter gerissen, als sie ursprünglich war. Da
erwachende Nationalbewußtsein zerrt beide Theile auseinander. D
Czeche lechzt nach einem Eraürolaneare der Verstoßun
und der ist ihm zu gönnen, da seine Ansprüche nicht über eine An-
erkennung hinausgehen, die ihm gebührt. Der Deutsche im Czechcn-
gebiet wird, wenn das erste Zahnfieber der Nationalität vorbei ist,
sich um so eher wieder mit dem Volke befreunden, als beide auf dem
Fuße der Gleichheit zu einander stehen werden; mit der übertriebenen
Demuth deö Einen und dem Hochmuth des Andern werden auch
Heimtücke, Verachtung und Neid von beiden Seiten verschwinden;
beide werden dann einsehen, wie sehr sie Einer des Andern bedürfen,
wie viel sie, bei aller Verschiedenheit, Einer vom Andern angenom¬
men haben. Nur die Nationaldeutschcn, die im Böhmerwalde, im
Erz- und Riesengebirge horsten, mit dem Antlitz nach Deutschland
gewendet, die gleichsam die in'S Ausland führenden Pässe besetzt
halten, gegen cttvaige Uebergriffe deö Slaventhums — nur sie schei¬
nen kein Herz für Böhmen als ihr Vaterland zu habend); sie be¬
trachten sich als eine deutsche Colonie im fremden Lande; und das
Auge ihrer Sehnsucht weilt überall eher, als auf den Thürmen von
Prag. Allein wenn sie sich den Czechen fremder fühlen, so ist ihr
Verkehr mit denselben doch stets freundlich und frei von gehässigen
Reibungen geblieben.
Ich wollte die deutsche Literatur in Böhmen besprechen und
gebe Ihnen da fromme Wünsche, welche die Liebe zur Heimath in
mir hervorruft, wenn ich an die Libussa denke, die sagenhafte alte
Czechenfürstin, die mit prophetischem Finger zugleich auf die slavische
Vergangenheit und eine noch dämmernde, aber große Zukunft deutet.
Das Taschenbuch „Libussa", dessen drei erste Jahrgänge auf
manche frische Quelle, die unbeachtet im böhmischen Dunkel rieselt,
hingewiesen haben, hat weder eine deutsche, noch eine slavische, son¬
dern recht eigentlich eine böhmische Tendenz. Es vertritt die deutsche
Literatur in Böhmen, aber es weist auch mit patriotischer Wärme
auf die edelsten Offenbarungen czechischen Geistes hin. So neigen '
sich diesmal all die deutschen Lyriker Prags gewiß gern vor dem zu
früh erloschenen poetischen Gestirn Macha, dessen „erster Mai" von
Siegfried Kapper, mit sorgfältiger und hingebender Liebe verdeutscht,
diesen Jahrgang der Libussa ziert.
Dies könnte eine Zufälligkeit scheinen. Die Sache hat aber
eine tiefere Bedeutung. Elemente, die in ihrer rohen und ur¬
sprünglichen Gestalt sich abstoßen und befeinden, versöhnen sich oft
oder vertagen sich wenigstens, wenn sie in eine höhere Sphäre sich
entwickelt haben. Jener doppelfarbige Strahl deS' böhmischen Gei-
stes, welcher der „Libussa" einen so eigenthümlich fremdartigen Nerz
gibt, entspringt aus keiner Absteht, ist nicht künstlich hineingetragen,
er ist eine Naturnothwendigkeit. Die deutschböhmischcn und dre
ezechisch-böhmischen Poeten Prags werden stets etwas Gemein¬
ames
aen.
Ich habe den mir zugemessenen Raum anfangs zu sehr über¬
schritten, um diesmal auf die besondern Merkwürdigkeiten der „Llbussa,
Wie Mach«, Führich, Ebert eingehen zu können; ich schließe da¬
her nur mit einer allgemeinen Andeutung. Man wird zugeben, daß
die Sprache allein nicht den ganzen Dichter macht. Die Mutter¬
sprache ist ein lebendiger Strom, der Ideen und Anschauungen in du-
Seele des Dichters führt und die Wurzeln seines Geistes von Jugend
nuf tränkt; aber die Sprache nimmt auch wieder Eindrücke von der
Individualität des Dichters auf und pflanzt sie, wenn sie mächtig
sind, weiter fort. Und die Muttersprache wirkt nur da mit unum¬
schränkter Alleinherrschaft, wo sie zugleich als Volkssprache das jugend¬
liche Ohr umrauscht. Die deutschen Poeten Prags haben eben so
viel slavisches, als czcchische Gelehrsamkeit und Bildung Deutsches
M sich hat. Ich rede hier nicht von Dilettanten und Virtuosen, du-,
wie überall, fertige Bilder und. Reflexionen in Reime fassen, ich
denke an Poeten aus innerem Drang. Die Jugendeindrücke dieser
Dichter stammen aus slavischem Volksleben; ihr Geist, ihre wissen¬
schaftliche Bildung ist deutsch; der Grundton ihrer Phantasie, ihres
Gemüths wird stets die Färbung ihrer ersten Erlebnisse behalten.
Physisches und geistiges Klima wirken nicht auf den Verstand, aber
auf Empsindungö- und Anschauungsweise; geht doch durch Lcnaü
und Beck'S Poesien ein Ton, der in Deutschland etwas fremd an¬
klingt, weil er ungarisch ist. - Wenn die Poeten selbst steh diese
Eigenthümlichkeit oft nicht bewußt sind oder bewußt werden wollen
so ist sie doch bei einer nicht blos ästhetischen Beurtheilung nicht z
übereen.
Die große Woche für das Palais royal ist angebrochen. Die
Magazine und Laden flimmern und glänzen Von unermeßlichen Aus¬
stellungen des raffinirtesten Lurus. DaS Neujahr steht vor der Thüre
und jeder Franzose wünscht seine Dame, seine Kinder mit Etivaö zu
beschenken, was voriges Jahr noch nicht da gewesen. Goldschmiede,
Juweliere, Gcschmcidcfabriken, Glasarbeiter, Modistinnen, Buchbin¬
der, Kalendermacher, Alles strengt seine Phantasie an, um daS Uner¬
hörte, Niedagewesene zu ersinnen und seinem Nachbar den Rang ab¬
zulaufen. In Frankreich ist der Neujahrstag, was für Deutschland
Weihnachten sind. Dieses Volk ist ein geschichtliches, selbst bis in die
kleinsten Züge hinab. Das Neujahr, das einen geschichtlichen Abschnitt
in dem Leben eines jeden Einzelnen, wie in der gesammten Zeitrech¬
nung bildet, ist ihm wichtiger als die Weihnachtsfeier, die blos eine
religiöse Bedeutung hat und ein Fest der Innerlichkeit ist. Bei dem
Pariser zumal, der recht gern nach J»ne» sich wendet und bei dem
religiösen Feste eben keine große Bedeutung haben, muß der Neujahrs¬
tag, der eine äußerliche Epoche bezeichnet, schon an und für sich mehr
gemeinschaftliche Theilnahme hervorrufen. Die lebenslustige coqucttc
Französin sieht sich an diesem Tage um ein Jahr älter und will sich
durch irgend.einen Putz, ein Geschenk'—trösten und zerstreuen lassen.
Daher entstand auch die Sitte, daß jeder Herr an diesem Tage den
Damen seiner Bekanntschaft einen Blumenstrauß, eine Düte Bonbons
oder je nachdem er ihr näher steht, etwas Bedeutendes zum Geschenke
macht, gleichsam als wollte er ihr dadurch ein Zeugniß ablegen, daß,
obgleich ihre Grazie um ein Jahr gealtert ist, sie doch in seinem Herzen
denselben Platz einnimmt, wie früher. Dies ist die weltliche Seite.
Aber auch die geistliche Seite findet an diesem Tage besser ihre Rech¬
nung, als bei der Weihnachtsfeier; der Priester weiß, daß das Chri¬
stenthum manches Franzosen sehr zweifelhaft ist und daß ein rein
christlicher Moment ihn vielleicht stumpf für seine Ermahnungen unter
wurde. Die menschliche Schwäche >se ihm ein sicherer Weg für fran¬
zösische Erbauung und darum sieht man die gallische K.rede me tya -
gar, als zum Neujahre, wo sie an die Hinfälligkeit an das -Rucr
'nahmen kann und manche Seele fischt, die noch um Weihnachten eine
sehr widerspenstige gewesen ist. Man erinnere sich nur das; d>e ganze
Schildcrhcbung des Clerus, der in neuerer Zeit Frankreich allarmnt,
sich von einer NcujahrSrede datirt, die der Erzbischof von Par.S vor
zwei Jahren Ludwig Philipp gehalten hat. — Das neue deutle
Journal „Vorwärts" (von Börnstein und Bornstedt redigirt) tritt
wirklich in'ö Leben und lassen Sie mich Ihnen das Geständnis! ma¬
chen: ich glaube, es wird reussiren, weil es praktisch angefangen wird.
Börnstein ist ein schncllfingrigcr Mensch, Der, obschon nur n»t si'hr
oberflächlichen Kenntnissen versehen, dennoch durch einen gewesen an¬
geborenen Takt sich herauszubeißen weiß. Es gibt, wie eifrig auch
die Uebersetzer hinter Allem her sind, was hier erscheint, dennoch noch
Material genug, um ein Blatt, namentlich daS in Lceo erscheint und
den Andern zuvorkommen kann, reichlich zu füttern und interessant zu
machen. Die erste Frage ist, ob daS Journal in Deutschland nicht
verbeten sein wird, und dagegen soll Herr von Bornstedt, der viel bei
d« preußischen Gesandtschaft'aus und eingeht, Präscrvativmutcl ein¬
geleitet haben. Der vertheilte Prospectus thut zwar gewaltig liberal
und kündigt Überschriften von Aufsätzen an, die sogar Scandal ver¬
sprechen; dies ist aber nur so eine Art Kunststückchen, w>e beiden
großen Auschlagözcttelu der Menagerien, wo man ein Krokodil abcon-
terfeit sieht, welches einen Menschen verschlingt; wenn man ,n die
Bude tritt, findet man, daß daS schreckliche Krokodil nur ein ausge-
stopftes ist. — Herwegh und Rüge, die man früher als Mitarbeiter
bezeichnete, werden sich wohl hüten, beizutreten. Die Zeitschrift, welche
.Ituge herausgeben wollte, selbst ist übrigens noch weit ,in Felde.
Ruge, der bekauntlich mit seiner Frau sich gänzlich hier angesiedel
hat, gefällt sich in Paris sehr wohl, was bei seinem heiteren Tempe
rament, das im Umgänge gar nicht so streng hallischjahrbüchcrllch ist
nicht verwundern kann. Die Damen ^erwcgh und Rüge sind zwe
sehr schüchterne Frauen, die in Mitte der lebensfroher Französinne
sich viel deutscher geberden, als ihre freisinnigen Ehchcrrcn. — Tu
„.Icevuc independante" brachte in ihrer vorletzten Nummer einen Arti
kel von Ävuiö Blanc über eine geistige Allianz zwischen Frankrei
und Dentschland, worin Rüge „un ^IloiuÄiiä divn coniiu peu.c 1
«listmvtion et« s„n of,„-ir I'intrch.i.lit« «1« s-s e..r.viotinns« sehr aufg
muntert wird, seine Zeitschrift zu begründen, i><»n- «U-'dur »'nUc- l
^i-imo«! «>t I'.^IlvmsN.« un k,--u«rü..> vol.anK« <>v »cntimvnls et'lini««
mal« no,u> sui'1 port« ton» >«« tu.it« ni»'«n . n p.ni net«,u1n', it taut q
t-t >->no ^IlL,»!,F»v svevuv Jo» vlntiov» »usuell«« «»« » >'i.i>,u ack^u
ki'lupi'U' Ü"N >!let!ne, und damit geht Herr Lenis Blanc sogleich auf
das linke Rheinufer über und weist »ach, warum ein Franzosen dessen
so sehr bedürfen. - Wirf die Katze, wie du willst, so fallt sie auf die
Ein Artikel in der Zeitung für die elegante Welt, der über
das hiesige Hofschauspiel ein strenges, aber wohl motivirtes Urtheil aus-
sprach, hat hier Alles in Allarm gesetzt, was mit dem prahlerische»
Titel des H o f-Schauspiels zusammenhängt. Die ganze Körperschaft
vom Kopf bis zum Schwanz ist empört über die Blasphemie: Das
Königliche Schauspiel Berlins, die Buhne Iffland's und Ludwig De-
vrient's, sei nur ein Theater zweiten Ranges. Und doch hat Laube
mit diesem Worte den Nagel auf den Kopf getroffen. Eine Bühne
ersten Ranges muß jedes Stück doppelt besetzen können und das hie¬
sige Hofschanspicl reicht mit seinen Mitteln nicht ein Mal einfach aus.
Ohne jugendlichen Heldenspieler, ohne einen Darsteller für das Fach
der Intriguanten, sieht sich die Direction in ihrem Repertoir überall
gehemmt, wie kaum eine Provinzialbühne, Wer die Berliner arro¬
gant nennt, der sehe ihr jetziges Theater an und er wird gestehen: es
sind recht bescheidene Leute.
Aber welches Theater in Deutschland ist denn jetzt besser daran?
fragt die Intendanz. Ist nicht das Burgtheater in Wien in derselben
Lage? Gegen solche Fragen läßt sich allerdings nicht gut Streite».
Gibt es doch noch hundert und hundert andere Dinge, bei welchen
Berlin nicht besser daran ist als Wien; warum soll das Bessere gerate
beim Theater beginnen? Allein es ist garnicht wahr, daß das Wiener
Hvfburgtheater in gleicher Lage sich befindet. Wien hat einen Löwe,
einen Fichtncr, einen Lucas für das Fach der Helden und Liebhaber;
es hat an dem vortrefflichen La Noche einen Charakterdarsteller von
seltenem Werthe. Wien ist nie in Verlegenheit bei der Besetzung eines
neuen Dramas, während mau hier mit beiden Händen nach der Me-
dea und der Antigone greift, weil die einfachen Bedingnisse der alten
Bühne geringere Ansprüche an vielfachen Kräften machen.
Man thut Herrn von Kistncr Unrecht, wen» man ihm Alles in
die Schuhe schieben will. Die meisten dieser Uebelstände liegen in
jenem Fehler, den man in unserem lieben Vaterlande gegen alle Ju¬
gend sich zu Schulden kommen läßt. Die Jugend wird immer an
den Katzcntisch gewiesen. Ein junger dramatischer Autor, der sein Stück
bei einer Bühne einreicht, wird nicht für die Zukunft beurtheilt, son-
dem für den Nutzen deö Augenblicks. Die Buhu« sagt nicht: Ich
will dieses Drama trotz seiner mancherlei Mängel zur Aufführung
bringen, um einen, talentvollen Autor Gelegenheit zur Entwickelung zu
geben, sondern sie fragt: wie viel Häuser wird dieses Stück machen,
und fahre ich „icht besser, wenn ich ein französisches übersetztes Stück
gebe? Dieselbe Frage richtet sie auch bei dem Engagement eines je¬
den Schauspielers an sich.' Sie denkt nicht: Dieser junge Mann hat
w>e hübsche Gestalt, ein schönes Organ, Feuer, Lernbcgicrigkcit, er ist
zwar noch roh und ungeschickt, aber ich will ihn heranbilden für die
Zukunft, sondern sie fragt: Wozu kann ich ihn sogleich verwenden,
welche Lücke füllt er aus? Bei einem Provinzialtheatcr, wo der Pächter
wechselt, ist eine solche Politik des Augenblicks zu verzeihen. Der
^golSmns eines Directors ist zu entschuldigen, der sein Geld nicht
sur die Heranbildung eines Talents verschwenden will, das vielleicht
^>t sein Nachfolger ausbeuten wird. Aber eine Hofbühne, ein stehen-
°es Institut muß sicherlich einen höheren Gesichtspunkt haben als den
ugcnblick. Dieses ist's auch, was das Theater frau^ils so blühend
"'achte und wodurch das Hofburgthcatcr so sehr vor dem Berliner Hof-
ttyauspicl sich auszeichnet. Die Wiener Hofbühue hat manches Stück
°" lungern Dichtern gegeben, an das keine andere Bühne sich wagte,
arniii hat sie sich ihren Grillparzer, Baucrnfcld, Halm herangezogen
rvtz der ungünstigen Censurverhältnissc. Eben so mit seinen Schau-
Iplelern. Die wenigsten seiner berühmten Actcurc sind als fertige
«unstlcr dahin gekommen. Erst allmälig sind sie von dem minder
, endenden 5» dem wichtigern Rollenfach«: übergegangen. Als Heur-
cm alt wurde, war Löwe da, als Korn sich zurückzog, trat Fichtncr
All Costenoble starb, nahm La Roche seine Rollen.
^ ^'^se Ersatzmänner waren bereits da, als man ihrer bedürfte
sei<t> lauge Zeit an der Seite der Abgetretenen, der Er¬
bt? dadurch ist das Hofburgthcatcr immer -u> xr-im! o<»>>i>Jot ge-
hal ^""^ '"^ """" Holbein daS traditionelle Verfahren
'"»er Vorgänger aufgibt, kann die Wiener Hofbühne in dieselbe Lage
°>unen, in welcher sich gegenwärtig die hiesige befindet. Letztere sollte
Erd>""/ ^hrrcichc Warnung für andere Bühncnadministrationcn dienen,
erst Ludwig Devrient todt war, engagirte man Seidelmann, und
D^!«""' Scidclmann ans dem Leben ging, speculirt man auf
rdings kann man den jetzt in H"""°°^^in^Engagivten nun Zieht haben und Herr von ^n ^„Ich kann keinen Scidclmann aus der Erde stamPs-n-
habt Ihr nicht gesäet, als es noch Zeit war
Dörng hier gastirte, da war er noch fre. und ^..«./..^küm-können; aber da.mais war't Ihr versorgt ..ut um d'c Zukunft ku.
merke sich Eure Weisheit nicht. Nun mögt ,/und Van vu
Trank leeren, den Ihr Euch eingeschenkt, und die öffentliche ^neun,^
Äre'
richtet Euch ohne Schonung. Dieser Vorwurf trifft eigentlich die Bö»-
gänger des Herin von Kistncr und er selbst ist nur das Opfer der
kurzsichtige» Politik klar bisherigen Leitung.
Eine andere Ungeschicklichkeit, welche man in Wie» sich nicht zu
Schulden komme» läßt, findet man jedoch unter der gegenwärtigen
wie unter der früher» Direction. ES ist dies das Abnutzen der Schau¬
spieler zur unrechten Zeit. Sollte man es glauben, daß Eduard De-
vrient, dein doch jetzt hier die erste» Rolle» in der Tragödie wie ii»
Schauspiel zugetheilt siud, gezwungen ist, in der Ander'sche» Oper
„Des Teufels Antheil" die abgeschmackte Rolle deS blödsinnige» Kö»igS
zu singe»? El»e lächerliche Nebenrolle in der Oper sür de» erste»
Helden im Schauspiele. A» welcher Bühne ersten Nemgcö begeht man
»och solche kluge Streiches Eine kluge Bühiicnleituug muß den be¬
liebten Schauspieler i» seiner Beliebtheit zu erhalten suchen: sie wird
ih» als eine» Festschmuck beHandel», de» sie »ur bei glänzenden Ge¬
legenheiten vorführt. Wenn man das Seidenkleid i» der Küche trägt,
so wird es bald sei» festliches A»sehe» einbüßen. Dieses ist eine Po¬
litik, welche daS Burgtheater sehr gut versteht. Es gibt viele Abende,
wo Man nur das zweite Treffen, die Hilfögarde, spielen und keinen
Namen ersten Rang-'S aus dem Zettel sieht. Sicht da» Publiem»
nun i» einem neuen Stücke eine» solchen figuriren, so bringt es vo»
vor» herein ni»e Feststimmmig mit nud das neue Product hat gleich
e<» günstiges Worurthcil sür sich.
Zum Schlüsse dieser Parallele zwischen Wien und Berlin dürfen
wir auch »icht verschweige», daß daS Znsanunenspiel deS Bmcgtheaters
um etwas rascher nud lückenloser stattfindet als a» der hiesigen Hof-
bühne. Nur bei Raupachischen oder noch älteren Stücke» greift das
Ettseinble Ring in Ring, wie es die Tradition einer früheren bessere»
Zeit und eingeführt hat; in viele» moderne» Stücke» vermißt man die
schnellen gleichzeitige» t«-»^>i, die zum wahren Leben eines Stückes noth¬
wendig sind. Möge dus Hofschauspiel sich zusammennehmen, daß es
»icht auch i» dieser Bcziehong zum Range einer zweite» Bühne her-
absüikt. Lückenhafte Fächer lasse» sich wieder ausfüllen, aber der Ge-
sammtgeist el»er Bühne ist, we»n er eine Zeitlang eingeschlafen, schwer
wieder in's Leben zu rufen.
Unter den Romane», welche die Leipziger Pressen in den letzten
Woche» a»S Tageslicht förderte,!, verdient Robert Heller'S „Prinz
von Oranien"') mit vollem Rechte eine Auszeichnung. Hellers
schönes Erzählertalent ist-noch in aufsteigender Linie begriffen, sem
neuer Roman, der einen Abschnitt des niederländischen Aufst-u.dö vc-
handelt (von der Entstehung der Wasscrgeuscn bis zur Belagerung und
Entsetzung von Leyden) ist nicht nur durch künstlerische Anordnung,
sondern auch durch reiche Quellcnstndic» rühmenswerth. Vielleicht hat
der Verfasser durch Letztere sich etwas zu viel aufgeladen. Nach der
Lebendigkeit des erstell Theils erscheinen viele episodische Partien des
zweiten Bandes gedehnt und mitunter überflüssig, und erst >in drittel.
Bande erhebt sich das Interesse wieder lebhafter. Es ist ein sonder¬
bares Ding mit unsern historischen Romanen. Den meisten sieht man
-s an, daß der Verfasser während oder wenigstens kurz vor der Arde.t
steh an das Studium des geschichtliche» Apparats gemacht hat. Da¬
durch tritt oft der Uebelstand ein. daß viele einzelne Details, die für
die Gesammtcomposition, so wie selbst für die Charakteristik der Epoche
unwichtig sind, allzusehr sich aufdringen. Scott, der große Meister
des historischen Romans, wählt- seine Stosse größtentheils aus der
Geschichte seines Landes, deren Geist er voll Jugend auf eingesogen,
deren Romantik bei ih.n in Fleisch und Blut übergegangen war. So
entwickelten sich seine Figuren organisch aus ihrem natürlichen Boden.
Seinen Nachfolgern, die daS historische Rüstzeug erst aus allen veralteten
Chroniken mit saueren Fleiße herbeitragen müssen, wird jede der mnh-
ia»i erworbenen Einzelnheiten ein theures Gut, ein Kind ihrer Schmer¬
ze», das sie nicht leicht von sich werfen, wenn es nicht paßt, ,oildcrn
es beibehalten, auch wenn der Rahme» des Ganzen dadurch zu sprin¬
gen droht. Es ist gerade mit dem historischen Romane, wie mit den
vnsificirten Dramen, worin der Vers meistens den Dichter zur Breite
verlockt und die Diction anf Nebenwege führt. Glücklich der, den
kein natürliches Talent ans dem Labyrinth der Einzelnheiten wieder in
°le Nische Region der Phantasie führt, wie dies bei Heller im drit¬
ten Bande seines Romans der Fall ist, wo sich Alles wieder zusam¬
menfindet, was früher sich zerstreut hat. Der überwiegende Reiz, den
die erfundenen Personen in dem ,Pri„zen von Oranien-' vor den ge¬
gebenen historischen voraushaben,' erregt die Vermuthung, daß Heller
»och einen weit glücklicheren Wurf et'ale, wen» er in seiner nächsten
Production das historische Gebiet verließe und eine» vollständig erdich¬
teten Stoff behandeln würde.
^us einem Privatbricfc erfahren wir, daß die Wiener Bu
händler eine Grcmiumsitzung veranstaltet haben, in welcher der Be,est
gesaßt werden sollte, die bösen Schriften über Oesterreich nicht mehr
beziehen und besonders die Verbindunmtoman» und Campe
unterbrechen!^) Die Folge wird zeige», wie der Beschluß ausgefal¬
len ist. — Schuselka ist übrigens mit einem Verweis davongekommen
und nachdem man ihn ermahnte, in Zukunft die österreichischen Cen-
sutvorschriftcn strenger zu befolgen, ist sein Proceß niedergeschlagen
worden.
— Der Schauspieler Döring, der bekanntlich durch ein glänzendes
lebenslängliches Engagement sich in Hannover gebunden hat, ist da¬
durch verhindert, den Nncrbictungen Berlins, das ihn gerne an Sci-
delmann's Stelle setzen mochte, Gehör zu geben. Döring, der in der
großen preußischen Residenz einen viel reichern Wirkungskreis sich ge¬
öffnet sieht, hat mancherlei Mittel versucht, um seinen hannoverischen
Contract zu lösen — doch umsonst. Endlich nahm er selbst Audienz
bei dem König. Warum wollen Sie fort von Hannover? — frug
Ernst August mit dem bekannten englischen Accent. — Döring
suchte mit den verblümtesten Reden die Motive zu schildern, welche
einem Künstler die Stellung in Berlin wünschenswert!) machen. —
Ich möchte anch lieber König in England als in Hannover sein,
antwortete der Monarch, muß doch hier bleiben. Und Sie bleibt
auch hier!
— Unter der Ueberschrift: die Brüder Forster und die Gräfin
Hahn - Hahn bringt die Augsburger Allgem. Zeitung einen sonderbaren
Artikel, der offenbar auf einer Mvstification beruht. Der Held des
Hahnschcn Romans Cecil Förster wird alö ein noch lebender Diplomat
geschildert und der erschossene Bruder als ein ehemaliger Regierungs?
rath Sigismund Forster bezeichnet. Dieses kann der Lesewelt zwar sehr
gleichgiltig sein; aber zu verwundern ist es, daß ein so ernstes Jour¬
nal wie die Allgem. Zeitung solche Dinge aufnimmt, die vollständig
erfunden, dabei aber mit Details angefüllt sind, die bis in'ö Kleinste
gehen. Ist nun das Publieum mvftificirt worden oder die Redaction?
Der Artikel ist von einem sonst wenig spaßhaften Schriftsteller, von
Alfred Reumont.
Berichtigung. In Bezug auf den Artikel „Gewissenlosigkeit
deutscher Kritik" von F. G. Kühne, den wir in einer unserer letzten
Nummern brachten, ist uns aus Hannover ein Schreiben zugesendet
worden, worin die Anklage: der Kritiker, Herr Schnabel, habe eine
und dieselbe Kritik in der Posaune und im Stuttgarter Morgenblatt
abdrucken lassen, als vollkommen grundlos erklärt wird.
erbstliche,sanft melancholischeueege
Theile einer Gebirgsgegend der Westgrenze Oesterreichs; der lieblichste
Tag des jüngsten Septembers vorüber bis zum Abendschein, dessen
milde Beleuchtung zauberhaft übergießt die Berge, die Wälder und
Dörfer. Auf der sanften Erhöhung eines Feldes, an einem Baume
lehnend, sieht ein Vater seinem wandernden, denkenden, städtisch ge¬
kleideten Sohne zu, der, den geheimsten Bewegungen seiner Seele
folgend, am nahen Waldrande hin- und hergeht. Allmälig wird
allabendlicher Gesang der Knaben und Mädchen allgemeiner, die
hinter ihren Heerden nach Hause ziehen; sonst nur wenig Lärm aus
fernen und nahen Dörfern^ Herbstlich, merkt man wohl, sind die
Gemüther geworden. Frühling° und Sommer thun rascher, lauter,
bewegter.eientüm¬
Denkt unser Vater, von der Milde deS Abendsung
licher Stimmung überkommen, und während dieser Gedanken immer
am Baume lehnend--
—''Wasmues
... Das möcht ich wissen; spaßhafts
sein? — Ich meine: kein Wölklein heut' am Himmel; — Sang
von Knaben nur und Mädchen; — ruhig Alles sonst, daß Einem
wohl wird' und geht die Sonne so schön nieder. Ueber'in Halmfeld
fliegen, rauschen Vvgclschaaren. Der Herbst rückt weiter und Laub
fällt nieder. Der Mensch wird still, die Erde rastet aus vom Segen.
Muß sagen, man wird stiller, traurig fast, doch Dank für Alles sei
Grenhvtci; 1844.
dem Himmel! — Das ist's, Wa6 ich denken kann und sagen. Das
aber möcht' ich wissen, was mein Sohn dort mag denken und träu¬
men? Studirt so lange, selten, daß er lacht mehr, voll Ernst und
Denken immer; — das möcht' ich wissen, was er mehr weiß als
sein Vater? Ist's der Mühe werth? Woher so viele Dinge, die er
lernt und kann? Und ist's der Zeit und Mühe werth, daß man's
erlernt?--was muß es sein?! Er muß doch auch sehen, was
ich, und hören und fühlen, was ich. — Wird der Abendschein schö¬
ner, wenn ich darüber denk', und kann ich den Herbst zum Frühling
machen? Was ist's, was er denkt? Wenn's gar viel wäre und wich¬
tig, was man lernen kann und denken — wenn'S gar viel wäre —
dann mein' ich, ließ es Gott nicht zu, daß wir's vom Land nicht
auch noch lernen müßten. Was? Nun ja. Das möcht' ich wissen...
So denkt unser Vater und bleibt am Baume lehnen.
Im ersten Hofe des nahen Dorfes beginnt eben ein Bursche
zu singen; es ist die einzige Stimme eines Erwachsenen, die singend
zu hören.
Ohne die Terte zum Gesang zu verstehen, hört unser Vater den
Burschen doch singen und denkt sich im Stillen:
— . . . Mußte jener so viel sehen, denken, erfahren, und hat
seine Freuden verloren. Er ist mein Sohn. Ist der Andere nie mit
viel Denken geplagt gewesen zu Hause, und der ist voll heiterer
Dinge. Auch er ist mein Sohn. Kommt's zum Guten, so viel zu
denken, erfahren — warum seine Freuden verlieren? Führt's zum
Uebler, so wenig zu lernen — warum so viel unschuldige Freuden?
Das möcht' ich wissen. Da hab' ich zwei Söhne nun und vergleich
sie zusammen . . .
Denkt so und bleibt am Baume lehnen. Im Dorf hört er den
Burschen singen:
Zsts a Freud auf
Am Waldsaum im Abendscheine steht er den träumenden Sohn
wandern; und indem er diesem länger mit betrachtenden Auge folgt,
bemerkt er einen vornehmen Wagen, den zwei prachtvolle Schimmel
unweit vom wandernden Sohne aus dem Walde ziehen. Im Wa¬
gen sitzt ein schwarzgekleideter Herr, rückwärts ein glänzender Jäger
und vorne der Kutscher in Zinnoberroth und Hellblau. Es scheint,
ob der Herr im Wagen, wie er den jungen, eleganten Wanderer
sieht, befehle, daß der Wagen langsamer gehe. Die Schimmel hal¬
ten gar plötzlich. Unser Vater sieht seinen Sohn in Gedanken gegen
enagenhinschreiten.
— ... Wird doch mein Sohn den Wagen bemerken, den Herr
im Wagen, unsern Grafen! Es ist der Graf! — Wird doch er
schrecken ein wenig, oder so thun — und den Hut abnehmen? E
Wandert ja geradezu gegen den Wagen! — Wird er doch daS thu
den Hut abnehmen und erschrecken ein wenig, daß Se. Excellenz d
Ehrfurcht merkt, auf die Se. Excellenz so viel hält! Wird doch me
Sohn so klug sein und das nicht unterlassen? Mir kommt ein Ba
gen, daß es sein könnt', daß er's nicht thut. Solch ein Herr, d
wir so selten sehen, nach Jahren einmal, der so mild blickt und spri
auf seinen Unterthan, und wenn er's nur wüßte, all' seine Beamt
e'
ntleß,deihn und uns betrügen! . . .
Nicht weit vom Wagen, der sich mit seinem Prachtgespann u
seiner glänzenden Ladung von Jäger und Kutscher im Abendschei
ganz überraschend ausnimmt, da fast märchenhaft in dieser Gege
solche Erscheinung, weicht unser junge Wanderer ohne Zeichen
leisesten Beachtung oder Ueberraschung aus einem. Seitenweg ab u
r
etetgegen das Dorf her.
— . . . Nein! — Nein! — Er thut's nicht, weicht aus u
läßt den Wagen sein und halten? bricht plötzlich seine Wandrung
und kommt da herüber! Geht wie zuvor, nicht sachter, nicht rasch
Thut, ob das Nichts wäre, der Wagen Nichts, die Pferde, der schi
mernde Kutscher und Jäger Nichts, der Wagen Nichts und der Gr
Sieht nicht um und et weiter! War keine Erurt im Herz
Warum sich wegkehren auf einmal und weggehn? — Soll mir'ö
recht sein, oder soll ich mich schämen? Soll ich denken, er sah ihn
nicht? Keine Ehrfurcht im Herzen? . . .
Indessen ist auf Befehl deS Herrn im vornehmen Wagen der
glänzende Jäger rasch abgestiegen.
— . . . Jessas! O Himmel! O Gott! ruft unser Vater, von
den Dingen, die er sieht, immer lebendiger angeregt und immer zu
heftigeren Worten getrieben. — O Himmel, da ist der blanke Jäger
herunter und geht meinem Sohne nach! Mein Sohn schaut nicht
um und geht weiter; geht weiter und laßt den Jäger laufen und
rufen — und sieht nicht um! Ich muß vergehn vor Scham! Ich
bin der-Vater! Mich reißt's an allen Gliedern vor Scham und Ver¬
wirrung! — Ein Graf läßt halten und schickt seinen Jäger nach,
und der Jäger muß laufen und rufen — und e r sieht nicht um! —
O schaut nicht hin mehr, alte, kindische Augen! Das hat mir alle
Vaterfreude erschlagen, Vaterfreude und Hoffnung für jetzt und im¬
mer! Mein Sohn ist nicht Priester, sonst möcht' ich sagen, er liebt
nur den Himmel! — So muß ich aber in den Boden sinken vor
Scham und Bestürzung! Muß der vornehme Jäger noch immer lau¬
fen und der vornehme Wagen halten, und nicht sachter, nicht rascher
geht mein Sohn und schaut nicht um! — Seh' ich? Hör' ich?
Geht das so vor, daß auch der Graf aus dem Wagen steigt und
hinter dem Jäger herkommt? Ich muß meinen eigenen Sohn anfal¬
len wie meinen Feind! Dort steht der Wagen, leer — und der Herr
und Jäger hinter meinem Sohn her, der nicht sachter, nicht rascher
geht und nicht umsieht. Wie kann ein Wohlgefallen kommen, eine
Neigung, und wenn mein Sohn ihn einmal braucht, eine Verwen¬
dung? Das ist kein guter Anfang, keine Art, keine Ehrfurcht . . .
singt dazwischen der Bursche im Dorf:
— ... O sing', sing'! — Zu Dir muß ich mich wenden. Sing'!
Du bist fertig, von Dir weiß ich, was zu hoffen. Du lebst und
singst — und das zusammen ist Dein Denken. Sing' und steig'
nicht höher und fall' nicht tiefer, so bleibst Du geliebt von Allen,
verstanden, lebst froh auf ebenem Wege. Dies Sinnen und Denken
im Anderen ist ohne Ehrfurcht! — Jetzt winkt Se. Excellenz den
Jäger zurück und der Graf folgt meinem Sohn. Was macht mir-
der Sohn für Kummer, für Angst, für Scham! Geht nicht sachter,
nicht rascher und steht nicht um! . . .
Der wandernde Sohn ist näher gekommen. Er mag vierund-
zwanzig Jahre alt sein, in voller Blüthe die Gestalt und Wangen,
mäßig lang sein dunkles Haar und in schöner, nicht erkünstelter Ord¬
nung. seelenvoll sind seine sanft melancholischen, braunen Augen,
und dazu, die jugendlich männliche Erscheinung vollkommen anziehend
zu machen, trägt nicht wenig der Ernst des Gedankens bei, der die
iugendliche Frische au die lieblichste Weise mildert.
— ... Da kommst Du, da bist Du! ruft unser Vater, den
der Anblick des nachfolgenden Grafen in'S Tiefste verwirrt. — Da
bist Du und machst nur den Kummer, mein Sohn! Ich komme von
Sinnen, Dein Vater! — Du hast keine Ehrfurcht im Herzen! Läugne
nicht! Sag'S — Du hast Alles bemerkt und gesehen! — Das hab'
ich nicht gemeint, daß ich spare und Dich frei werden lasse, was
Du willst — daß Du ohne Ehrfurcht im Herzen das nicht mehr
ansteht und grüßest. Jetzt hilf Dir! Rede für Dich! Se. Ercellenz
kommt nach! Hast so viele Jahre dahingethan, gelernt, studirt —
und machst mir°die Schande! Ich komme von Sinnen vor Scham,
Dein Vater. Ich muß in den Boden sinken, gleich da! Wollt' ich
reden für Dich, so weiß ich nicht was, und kann nicht reden. Bist
Du was? Bist Du Nichts? Keine Ehrfurcht im Herzen? — Da ist
Se. Ercellenz! Mir war's nit Recht — ich Hab's getadelt! . . .
Lächelnd winkt unser junge Wanderer dem Vater, daß er ruhig
sei, geht dem Grafen mit leichtem Anstand entgegen, der wohl zeigt,
wie der Titel hier Nichts bedeute.
^ Fliehen Sie nur! Fliehen Sie nur! Sie entgehen mir doch
nicht. Wie, alle Wetter! find' ich Sie so unvermuthet auf meinen
Besitzungen, bester Freund! Das ist ja eine Ehre, von der ich nie
geträumt hätte, und die ich mir darum so angelegentlicher muß zu
Nutzen macheu. Wo sind Sie denn? Wo wohnen Sie? Wissen
Sie, daß ich Lust, habe, Sie, wie ich Sie da treffe, auf ein, zwei,
drei Tage zu entführen? Wollen Sie? Sehen Sie meinen Wagen
bereit, dem Sie vorhin so unachtsam in Gedanken ausgewichen sind.
Wollen Sie zu meiner Entführung Ihre Stimme geben?
— Zur Hälfte, Herr Graf. Ich stimme dafür, daß Sie mich
eine gute Strecke durch die schöne Landschaft entführen, und Sie las¬
sen dafür Ihren Wunsch auf das Weitere verzichten.
— So kommen Sie, daß ich die frohe halbe Stunde gleich zu
genießen beginne.
Mehrere Dorfbewohner haben von verschiedenen Seiten diesem
wunderbaren, in der Gegend nie erlebten Ereignisse zugesehen, daß
ein gräflicher Wagen, mit zwei Prachtschimmeln, mit Kutscher und
Jäger in glänzender Livrve, angehalten habe, daß dann der Jäger
und darauf der Graf selbst abgestiegen und unserem jungen Wan¬
derer nachgegangen sei. Man rief sich zu, dahin zu sehen, das an¬
zuschauen, das Wunder zu betrachten. Größere und kleinere Grup¬
pen Zuschauer stehen jetzt vor den Häusern und auf kleinen Anhöhen,
wo sie zusammengelaufen sind, um den Schauplatz zu sehen, wo der
Graf, den jüngst aus Wien heimgekehrten Sohn ihres Nachbars am
Arm, dem Wagen zuschreitet.
Laut ruft man seine Verwunderung durcheinander.
— Schaut hin! Schaut hin! Was ist denn nur das? Schaut hin!
— Du lieblicher, gütiger Himmel!
— O Jesu, betrachtet nur das!
— Steigt der Graf selbst ab und geht ihm entgegen und nimmt
ihn am Arm.
— Nimmt ihn am Arm, o Jesu — und fahren nun beide im
Wagen davon!
— O lieblicher Gott!
— Was muß es nur sein, daß unser Graf das thut! Daß er
ihn in seinen eigenen Wagen nimmt und mit ihm fortfährt?
— Hat der Vater ein Glück mit seinem Sohn!
— Hat der Sohn ein Glück!
Unser Vater kommt lange nicht zur Sprache. Es laufen die
Leute um ihn zusammen und bestürmen ihn mit Fragen, die er nicht
beantwortet oder nicht hört. Ohne es selbst zu wissen,, hat er den
Hut feurig gegen das rechte Ohr gerückt und lehnt mit der Schulter
am Baum, leidenschaftlich vorgebeugt, und schaut dem gräflichen
Wagen nach mit den zwei Prachtschimmcln, mit Kutscher und Jäger
und mit seinem Sohn und dein Grasen. Es kommt auch die Mut¬
ter, es kommt auch der Bursche, den unser Vater zuvor singen
gehört.
— O Jesu, Du mein Gott! Ist mein Sohn mit dem Grafen
'
im Wagen? ruft die Mutter.
- Ist es denn wahr? Mein Bruder beim Grasen im Wagen?
ruft der Bursche.
Aber der Vater ist betäubt, er kann das Wunder nicht fassen
kann noch nicht reden, lehnt mit der Schulter am Baum und sieht
nach, den Hut feurig über dem Ohr.
Dämmerung sinkt allmälig über die Landschaft. Man kehrt
lärmend, fragend, unter Ausrufungen zurück. — Ju der Stube erst
geht der Vater rasch auf undneder.
— Mutter, Kinder, Leuteln. wie ihr da seid, laßt mich! Laßt
mich! 's ist anders! Mir war nicht so! Nun versteh' res, was man
sein kann, was man werden kann, wie weit man's bringt, wenn
man das Rechte wird. Pfarrer, Richter, kein Mensch hätt' nur be¬
wiesen, was mein Sohn ist und kann. Versteht einen Vater, ^s
könnte mir geschehen jetzt, daß ich mich selbst nicht mehr kenne Laßt,
laßt eine Weile. Wenn ich anfange, so auf- und abzugehn, so lMg
wie jetzt, wenn ich tromml' an den Fenstern, hinausstürm' in den
Garten und wieder zurück, und dabei rede Kluges und Alles — so
versteht einen Vater. Was thut nicht ein Vater um einen jolchen
Wer?...
ohn?Wer hat einen solchen? Wer hatenen
So wirkt eine blinde Ehrfurcht vor dem Grafen auf die Ge
müther. Nach diesem Vorfalle wär' jeder Stand, jede Beschäftigun
die sein Sohn gewählt hätte, unserm Vater willkommen und hcül
Die Auszeichnung, welche seinem Sohne von Seite des Grafen z
Theil wird, macht sein Vertrauen, seine Hoffnungen, seine Vaterfreu
unsäglich. Und wirklich, wenn man den Vorfall erwägt und d
Ansichten, die Gesinnungen, die Lebensweise des Grasen, seine b
zur feinsten Raffinerie gesteigerte Sorgfalt für seine angeborenen
tel und Würden, darin er so weit geht, daß er es den Beamten s
ner Besitzungen zur hohen Bedingung macht, die Unverletzlichkeit s
nes gräflichen Ansehens dem Volk in vie tiefste Seele zu pflanze
so muß ein außerordentlicher Grund diese Auszeichnung herbeigefü
haben, die er dem Sohne eines Unterthans vor den Augen des Vol¬
kes zu Theil werden läßt.
Dieser Sohn aus dem Volke muß entweder etwas Außerordent¬
liches sein, oder er muß auf die wunderbarste Weise in ein näheres
Verhältniß zu dem Grafen gerathen sein.
Das Außerordentliche wäre: ein großer Dichter, Maler, Bild¬
hauer oder Schauspieler; aber der Himmel bewahre Se. Excellenz
vor einem großen Dichter; aber bewahre ihn auch vor Malern, Bild¬
hauern, Schauspielern, denn er steht auf einem bedeutenden Staats¬
posten — und da weiß man schon —
Das Außerordentliche ferner wäre: daß der junge Sohn aus
dem Volke einen bedeutenderen Staatsposten bekleide als Se. Excel¬
lenz, die doch gut in den Vierzigern — aber, du gütiger Himmel!
an diesem Gedanken ist das Außerordentliche so außerordentlich, daß
eS unmöglich so kommen kann. Auch da weiß man schon —
Oder das Außerordentliche wäre gar: dieser Sohn aus dem
Volke sei ein Virtuos, oder Komponist, oder Sänger, bedeutend durch
die Mode im Schwung — und der jungen musikalischen Frau
Gräfin vorzüglicher Günstling. Das wäre möglich. Diese gang¬
barste Modefirma öffnet alle Zugänge. Man weiß es.
Wie dem aber sei, wollen wir die Begebenheit weiter verfolgen.
Der gräfliche Wagen hat indessen unseren glücklichen Dorfsohn
eine gute Strecke entführt und beide Freunde haben viel und lebhaft
über verschiedene Dinge gesprochen.
Se. Excellenz stellt eben die eitle Frage, ob sich denn sein jun¬
ger Begleiter seit seinem Aufenthalte schon umgesehen, und wie er
die Besitzung finde, und so weiter.
Diese Frage zu beantworten, scheint der Gefragte ein wenig
nachdenken zu müssen. Er erwiedert erst nach einer längeren Pause:
— Ich lebe nicht gerne ohne Bekanntschaft mit meinen Umge¬
bungen. Diese kennen zu lernen, lasse ich mir lieber eine Weile so¬
gar den Vorwurf von Zudringlichkeit machen, halte mich dann an's
Gute und ziehe mich vom Schlechten zurück. Ja. Schöne, einträg¬
liche Gegend, viel Wald, fleißige Menschen.
— Nicht wahr?
— Ja. — Doch wird der Boden mehr benutzt, wie ich glaube,
als die Menschen.
— Wie fol
— I meine, pflegen Sie diese Besitzungen jährlich zu besuchen?
— Das nicht; aber alle zwei, drei Jahre einmal.
— So. — Also nach zwei, drei Jahren in der Regel einmal?
Und dann wohl auf kurze Zeit immer?
— Wie soll ich's ändern? Meine Gattin will mir me folgen,
sie will Wien und dessen Umgebungen nicht verlassen, sie langweilt
sich hier; da findet sie ihre Musik und ihre Vergnügungen nicht, und
indem sie hier alle Launen aus Langeweile befallen» bin ich selbst ih¬
retwegen stets in Unruhe und Sorgen. Gibt'S da ein Mittel, lange
zu bleiben, wenn mich die unzufriedene Gattin begleitet? Und gibt'6
ein Mittel, lange da zu bleiben, wenn ich diese vermisse? Mein Be¬
such kann auch deshalb schon nicht dauerhaft sein, weil ich meinem
hohen Posten in Wien nicht lange entbehrlich bin.
— Das sind allerdings wichtige Gründe. Ja. Der Boden,
wie gesagt, ist trefflich benutzt. Ihre Unterthanen, das habe ich auch
im ersten Augenblicke gemerkt, besitzen fast alle musikalisches Talent,
arbeiten fleißig und sind nicht ohne Humor, wenn sie Zeit gewinnen.
Und vieles Andere, was ich gleich bemerkt habe.
— Ich glaube, das Volk arbeitet besser. Im Uebrtgen mag es
seine Eigenheiten haben. — Was sagen Sie zu den Prachtwäldern?
Zur Lage meines Schlosses, dessen Styl Sie wohl überrascht haben
mag?
— Da muß ich nur gleich bei aller Vorliebe für Landschaft,
Oekonomie und Baukunst gestehen, daß mir der Mensch einer Gegend
das Jnteressanteste ist, was mir da vorgeführt werden kann.
— Volk ist Volk und überall gleich. Am besten, wenn es
fleißig arbeitet und sich um Nichts weiter, kümmert.
— Dieser Ansicht kann ich nicht sein und muß sagen, daß um
die kerngesunde Natur Schade ist, welche ein Talent aus dem Volke
bei sorgfältiger, wahrhaft erhebender Bildung mitbringen müßte, die
Höhe der Zeit zu ersteigen und in voller Körper- und Geistesgesund¬
heit ureigenthümlich zu blühen. Sollten nicht einzelne Talente für
Kunst oder Wissenschaft aus Ihren Besitzungen zu finden sein, die es
bei einiger Verwendung zu mehr als Gewöhnlichen brächten? Wie?
Und sind Sie nicht auch der Meinung, daß in einem Lande, wo der
Adel so viele Güter und Menschen besitzt, die Talente mit außer-
ordentlicher Leichtigkeit entdeckt und befördert werden könnten, wollte
man sie nur mit halb jenem Eifer einem höhern Ziele zuführen, mit
dem man die prächtigsten Gestalten dem Waffendienst zuführt. Wir
sind hier im Freien, das heißt unbehorcht. Warum werden Sie die¬
ser unschuldigen Worte halber verlegen? Sie können mir glauben,
daß mir, als ich nach Oesterreich kam, Nichts so weibisch, so unan¬
genehm war, als eines Wortes halber oft den ansehnlichsten Mann
plötzlich in Aengsten zu sehen. Ich habe gefunden, man hat daS
nicht nöthig. Man sieht Gespenster am hellen Tage und fürchtet
zumeist seinen eigenen Schatten. Aber Sie verzeihen, daß ich unge¬
wöhnlich rede, weil eS sich um einen ungewöhnlichen Gegenstand
handelt. Wirklich sollten Ihre Unterthanen an Talenten wenig Er¬
freuliches bieten?
— Fleißige Hände, unglückliche Köpfe.
— Das will Etwas sagen —
— Bei Ihnen im Auslande mag es anders sein.
— Ich kann daS nicht finden. Es ist nicht schön, daß Sie die
Fähigkeiten Ihres Vaterlandes so rasch und gleichgiltig aufgeben.
— Nichts ist leicht aufzugeben. Ich meine, auf meinen Be¬
sitzungen hat sich noch kein einziges Volkstalent gezeigt.
— Dann begreife ich die unglücklichen Köpfe, die sich einem
Auge offenbaren sollen,, das keine Blicke für sie hat. Wäre ich Ihr
Unterthan, auf solche Aeußerungen müßten Sie sich mit mir schlagen.
— Sie draußen sind wunderliche Leute.
— Dieser Aeußerung halber?
— Sie ist ganz im Geschmack ewig wirbelnder Köpfe.
— Aber es war nicht die Aeußerung eines Ausländers; daS
hat ein Oesterreicher gesagt.
— Wie kommen Sie mir vor?
— Lassen Sie halten; es ist Zeit, daß ich absteige und zurück¬
gehe. Meine Eltern warten auf mich.
Se. Excellenz sitzt unbeweglich im Wagen, die letzten Worte
haben ihn in einen höchst ergötzlichen Zustand nobler Erstarrung
versetzt.
— Lassen Sie weiter fahren, Herr Graf; ich möchte nicht länger
Ihrer Verlegenheit zusehen. Leben Sie wohl. Ich bin Ihr Unter¬
than. Als ich in Wien sang und componirte und überhaupt in
den Augen Ihrer sonst trefflichen Gemahlin ein Held und Auslän¬
der war, wurde ich unwillkürlich zum Günstling. Als ich das Miß-
Verständniß erkannte, verschmähte ich es, ihm serner Ihre Gunst zu
verdanken und zog mich zurück. Als Unterthan hätte ich nie Ihre
Schwelle überschritten, sowohl die Benennung meiner Kunst als mei¬
ner Abkunft hätte mir augenblicklich Ihre Gunst entzogen. Das
Eine ist Ihnen zu hoch, das Andere zu niedrig. Den Ausländer
umarmten Sie, der Sohn des Vaterlandes, der Sohn eines fleißigen
Unterthans steht Ihnen ferner als der Kamtschadale. — Lassen Sie
zufahren, gnädiger Herr, und wenn Sie von den „unglückliche»
Köpfen" Ihrer Unterthanen sprechen, so sagen Sie wenigstens- sie
müssen erst Ausländer werden, damit man sie goutire! . .
Die Ereignisse der letzten Tage lenkten die Augen Europas wie¬
der auf eine Größe, deren Ruhm bei dem Publicum der Jetztzeit fast
vergessen zu sein scheint. Wir halten es für zeitgemäß, dein ersten
Dichter des alten Frankreichs durch die nachfolgende Biographie die
Schuld der Erinnerung abzutragen.
Ein und dasselbe Jahr sah Napoleon und Chateaubriand ge¬
boren werden.
In Paris sieht man oft auf dem Quai Voltaire einen klei¬
nen Mann, welcher langsam und in sich versunken durch die
Menge schreitet. Sein Gesicht ist lang,, etwas hager und bleich;
die Züge stark ausgesprochen, unter den dichten Augenbrauen
glänzt ein Auge von eigenthümlicher Schöne, in dessen Blick sich
Sanftmuth, Melancholie und Kraft vermählen; die Jupiterstirn ist mit
dichtem weißem Haar gekrönt und das Haupt gedankenschwer ge¬
gen die Schulter geneigt. Gekleidet ist der Greis mit einer ganz ju¬
gendlichen Eleganz: er trägt einen schwarzen Ueberrock, eine untadcl-
hafte Cravate, Stege, Handschuhe und einen Spazierstock von Ebenholz.
ES ist Chateaubriand, der vor wenigen Tagen erst aus London zurück¬
gekehrte Dichtcrfreund des Herzogs von Bordeaux.
Franz August von Chateaubriand, einer der ältesten Familien
der Bretagne entsprossen, wurde 1769 zu Se. Malo geboren. Die
ersten Jahre seines Lebens brachte er in dem Schlosse Combourg zu.
dem Sitz seiner Familie, dessen altersgraue, düstere Mauern von al¬
ten Eichen und dichtem Gebüsch umgeben waren. Von der Höhe
des Thurms, wo das Kind schlief, hörte es aus der Ferne die Bran>
dung des Meeres rauschen und schon erfreute sich sein Auge ein dem
blinkenden Licht der Sterne, sein Ohr an dem Brausen deS Windes
und dem klagenden Schrei der Strandvögel, und seine Seele wuchs
an den öden Schauern der bretagnischen Natur heran. Das Leben
in seiner Familie bot dem Gemüthe des Kindes wenig Erquickliches.
Sein Vater, streng und stolz, glich einem jener Ritter des Mittel¬
alters,''.deren eisernem Körper und deren Seele von Eis jede sanftere
Bewegung deö Gemüths unbekannt ist.
Ein solches Leben, im Schooß einer wilden Natur begonnen,
den Freuden des Herzens entfremdet und auf sich selbst zurückgewie¬
sen, drückte der Seele Chateaubriand's sehr früh das Gepräge in
sich selbst zurückgezogener, schwärmerischer Melancholie auf, welches sein
ganzes Leben hindurch in ihm vorherrschte. Er war Dichter, als er
noch Kind war. Eine junge Schwester, welche er liebte und deren
zarte und reine Seele den ganzen Reichthum der seinigen fühlte, goß
über sein einförmiges, freudloses Dasein die süßen Schmerzen der
Melancholie und die zarten Freuden schwesterlicher Liebe.
Als der jüngste Sohn der Familie dem Priesterstande bestimmt,
widmete sich der junge Chateaubriand ernsten und eifrigen Studien.
Er begann sie in dem Collegium von Dole und beendigte sie in
Nennes, wo Moreau sein Mitschüler war. Mit feinem zwanzigsten
Jahre sollte er ein Leben heimlicher Schmerzen, namenloser Sehnsucht
und zielloser Gemüthsbewegungen beginnen. Der Gedanke an die
Fesseln des geistlichen Standes flößte ihm Schrecken ein; einmal war
er auf dem Punkt, mit eigener Hand sein Leben zu endigen; einige
Tage später kam er in Paris an,' ein Patent als Souslieutenant des
Regiments Navarre in der Tasche. Der junge Offizier wurde bei
Hofe vorgestellt, hatte die Ehre, in einem der königlichen Wagen zu
fahren, hatte bei den Lcverö und königlichen Jagden Zutritt, was ihn
aber Alles nur wenig interessirte.
Ein anderer kleiner Hof war in Paris, nach dem er sich mit
lebhafterem Verlangen sehnte. Der Zutritt dort war der Gewöhn¬
lichkeit versagt und der Geist hatte dort Bürgerrecht. Dort thronten
die letzten Schüler der Encyclopädisten, Delille, Champfort, Parny
u. s. w. Die schwachen Nachfolger Voltaire'S schmiedeten Madri
gale, als schon die Hurrahs bei dem Schwur im Ballhause und der
Einnahme der Bastille ertönten, als schon die gewaltige Stimme
Mirabeau'S wie die Posaune des Erzengels am jüngsten Tage
donnerte.
Bald wurden die Ereignisse ernster und der Thron begann in
seinen Grundvesten zu wanken. Der revolutionaire Bach wurde zum
gewaltigen Strom; der Adel, anstatt sich ihm zu überlassen oder sich
kühn seinem Anwogen entgegenzustemmen, entfloh vor ihm und
sah Frankreich nur nach dem gänzlichen Umsturz seiner alten Welt
wieder. Nach Ruhm und Gefahren dürstend, aber außer Stand
gesetzt, sie in Frankreich aufzusuchen, wenn er nicht den Spinnrocken,
welchen die Helden von Coblenz vertheilten, annehmen wollte, auf der
anderen Seite die Desertion in Masse nicht billigend, deren Ziel und
Prinzip weder seinem Herzen noch seinem Verstände genügte, entschloß
sich Chateaubriand, eine gefahrvolle Sendung zu übernehmen. In
seinem zwanzigsten Jahre faßte er den Entschluß, den nordwestlichen
Weg nach Indien aufzusuchen. Er war bereit, um mit seinen eige¬
nen Worten zu reden, geraden Wegs nach dem Pol zu gelangen,
wie man von Paris nach Se. Cloud geht.
Zwei Monate später (im Frühjahr 1791) hatte sich der kühne
Reisende in Se. Malo eingeschifft, war in Philadelphia angekommen
und klopfte an die kleine Pforte deö bescheidenen Häuschens, in wel¬
chem der amerikanische CincinnatuS, Washington, wohnte. Keine
Garden umgaben den Präsidenten der Vereinigten Staaten, nicht
einmal eine Schaar von Dienern. Eine Dienerin öffnete ihm und
führte ihn in das Zimmer, wo sich der Ruhm der Gegenwart und
der Zukunft gegenüberstanden.
Chateaubriand legte dem Präsidenten seinen Plan vor. Dieser
hörte ihn an, erstaunte und sprach von den Schwierigkeiten des Un¬
ternehmens. Der junge Reisende antwortete ihm lebhaft: Ist es
nicht leichter, die nördliche Durchfahrt zu entdecken, als ein Volk zu
erschaffen, was Sie gethan haben? — Schon gut, schon gut, junger
Mann! sagte Washington und gab ihm die Hand.
Wenige Tage später war Chateaubriand mitten in den ameri¬
kanischen Einöden. Sein erstes Abenteuer unter den Wilden Ameri¬
kas ist bizarr genug. Man muß sein Zusammentreffen mit Monsieur
Violet, seinem Landsmann, ehemaligem Küchenjungen deS Generals
Rochambeau und dann Tanzmeister der wilden Herren und Damen,
von ihm selbst geschildert lesen. Der kleine Franzose im apfelgrünen
Frack, gepudert und frisirt, lehrte die Kunst der Terpsychore einem
Irokesenstamm, der ihn dafür mit Biberfellen und Bärenschinken bezahlte.
„Er rühmte", erzählt Chateaubriand, „die Gewandtheit seiner Schüler
sehr; und ich muß wirklich gestehen, nie solche Gambaden gesehen
zu haben."
Bald trat der Reisende vor dem Dichter zurück, und die nord¬
westliche Durchfahrt schien vergessen zu sein. Chateaubriand wandert
von Wald zu Wald, von Volksstamm zu Volksstamm, bewundert
mit künstlerischem Auge die Effecte des Sonnen- und Mondlichts,
lauscht der Harmonie der Winde und Wässer in den Tiefen der
Wälder, wagt sein Leben, um den Niagara in der Nähe bewundern
zu können, durchschifft die großen Seen, reif't den Ohio hinauf, un¬
tersucht die gigantischen Ruinen, welche seine User bedecken, begeistert
sich an dieser jungfräulichen Natur, diesen urweltlichen Sitten, an
dem poetischen, nomadischen Leben, und rastet endlich in dem Lande
derNt
aez,umen«;und Atala zuschreben.
Eines Tages, als er sich den europäischen Niederlassungen mehr
genähert hatte, beanspruchte er die Gastfreundschaft eines Farmers.
Hier fiel ihm eine alte englische Zeitung in die Hände. Bei dem
Schein deö wärmenden Feuers las er darin von der Flucht Lud¬
wig XVI., von seiner Verhaftung in Varennes und von dem Zu¬
nehmen der Emigration. Der ganze Adel vereinigte sich unter den
Fahnen der französischen Prinzen. Der bretagnische Edelmann folgte
der mahnenden Stimme der Ehre. Er verließ die geliebte Einsam¬
keit, fuhr abermals über das Weltmeer und eilte zu' der Condeschen
Armee. Man gab ihm zu verstehen, daß er sehr spät komme; um¬
sonst wandte er ein, daß er geraden Weges vom Niagara komme.
„Ich stand auf dem Punkte", sagte er, „mich zu schlagen, um die
Ehre haben zu dürfen, ein Tornister zu tragen." Endlich ward er in
der Adclsgarde aufgenommen und er machte den Feldzug von 1792
nut einer alten Flinte und dem Tornister auf dem Rücken mit. In
dem Tornister war Atala; und zwar zu seinem Glück, denn das
zarte Kind seiner Muse hielt eine Kugel auf, welche für seinen Vater
besttmmt war. Bei der Belagerung von Thionville am Schenkel
verwundet, zugleich mit einer gefährlichen ansteckenden Krankheit und
den Pocken behaftet, ließ man ihn für todt in einem Graben liegen.
Einige Leute des Fürsten von Ligne warfen ihn auf einen Packwagen;
sterbend brachte man ihn nach Ostende und legte ihn in ein kleines
Boot, welches nach Jersey unter Segel ging. In Guernsey, als
der Unglückliche dem Sterben nahe war, brachte man ihn ein'ö Land.
Hier an eine Mauer gelegt, das Gesicht gegen die Sonne gewendet,
mit Beulen bedeckt und von Allen verlassen, verdankte Chateaubriand
sein Leben der Barmherzigkeit einer armen Fischerin, welche ihn in
ihre Hütte bringen ließ und in seiner Krankheit pflegte.
Im Frühling 1793 reiste Chateaubriand nach London, um ein
Leben voll Elend und Armuth dort zuzubringen. In einem Winkel
einer Vorstadt, ohne Freunde und ohne Mittel, hinsiechend, fast ster¬
bend, mußte er mit erschöpfenden und geisttödtenden Arbeiten sein
Leben fristen. Er übersetzte für Buchhändler, gab Unterricht in der
französischen Sprache, und erholte sich Abends von der ermüdenden
Einförmigkeit seiner verkauften Tagesstunden an einer Arbeit, deren
Entwurf schon von der Kraft eines so jugendlichen und im Kampf
mit so drückenden Unglück beschäftigten Geistes zeigt. Dies Werk
war sein Versuch über die Revolutionen, welcher ihm zwei Jahre der
Studien kostete, und 1796 in London erschien. Der Zweck dieses
Buches, welches damals in Frankreich gar nicht beachtet wurde, ist,
zu zeigen, daß es nichts Neues unter der Sonne gebe, und daß man
in allen ältern und neuern Revolutionen die Personen und Grund¬
züge der französischen wiederfinde. Zahlreiche, oft gezwungene, zu¬
weilen richtige, aber immer geistreiche und von tiefen Studien zei¬
gende Parallelen charakterisiren dies Werk. Es athmet. Bitterkeit,
Menschenhaß, Skeptizismus und selbst Unglauben; der Jüngling hatte
noch nicht jenen Glauben, welcher die Last des Unglücks erleichtert.
Wir wollen ihn selbst erzählen lassen, wie der Philosoph zum Christen
wurde, und wie er den „Geist des Christenthums" als Sühne für den
Versuch schrieb.
„Meine Mutter, in ihrem 72. Jahre in's Gefängniß geworfen,
starb in Armuth und Elend. Der Gedanke an meine Verirrungen
verbitterte ihre letzten Stunden; und sterbend beschwor sie eine meiner
Schwestern, mich zu dem Glauben wieder zurückzuführen, in dem ich
erzogen worden. Als ich diesen Brief bekam, war auch meine
Schwester nicht mehr; sie war an den Folgen ihrer Einkerkerung ge¬
storben. Diese zwei Stimmen aus dem Grabe, diese Leichen, die
mir den Tod erklärten, haben mich bekehrt. Ich wurde Christ. Es ist
wahr, ich bin nicht durch übernatürliche Erleuchtung bekehrt worden,
meine Bekehrung kam aus dem Herzen; ich habe geweint und
geglaubt. "
Bald eröffnete Napoleon wieder den Emigrirten die Pforte des
Vaterlandes und auch Chateaubriand verließ jetzt Loudon. Die
Stadt, wo er sein Leben der Armuth und der Noth abgekämpft hatte,
sollte ihn erst zwanzig'^ Jahre später, mit Ruhm und Ehren bedeckt,
wiedersehen. Ponsonbyhouse, an dessen Thür sich vielleicht der arme
und freundlofe Verbannte sterbend gelehnt hatte, hallte dann vou dem
Geräusch der Feste wieder, welche dex berühmte Gesandte seiner aller-
christlichsten Majestät dex Elite dex englischen Aristokratie gab.
Im Jahre 1800 nach Frankreich zurückgekehrt, erhielt Chateau-
briand gemeinschaftlich mit de Fontanes das Privilegium zur Heraus-
gabe des Journals ,,Mercure''. Damals entschloß er sich auch, um
die Empfänglichkeit des Publicums zU soUdiren, von der größeren Ar-
beit, der Frucht seiner Verbannung, die Episode Atala zu veröffent-
lichen. Diese köstliche Blume dex Wüste, dieses reizende Kind der
Einsamkeit entzückte das alternde Europa; wie eine neUe Sprache
entzückten diese reinen und vollen Töne die ereignißmüde Welt.
Atala hatte einen ungeheuern Erfolg. Nach der Morgenröthe kommt
der Sonnenaufgang, nach Atala dex Geist des Chxistenthums.
Dies Werk erschien zux geeignetsten Zeit. Lange von dem
Sturme der Revolution aufgeregt, fühlte die Gesellschaft eben erst die
Segnungen der Ordnung, die sich, geschützt von einex mächtigen
Hand, wiedex herstellte. Aber die Geister, vom Zweifel erschöpft,
vom Atheismus zerrissen, schwankten unentschieden hin und her und
suchten einen Leitstern, einen Hafen; der Geist des Christenthums
war ihnen Beides. Man dürstete nach der Poeste des Glaubens
und der Liebe, und dies Buch brachte sie. Den Geist des Christen-
thums zu analysiren, ist hiex nicht dex Ort. Was bleibt auch von René
zu sagen übrig, diesem Bruder Werthers und Jacopo Ortis, des
schönsten der Kinder eines ernsten und schwärmenden Jahrhunderts?
Bald führte eine natürliche Anziehungskraft den Wiederhersteller
der öffentlichen Ordnung mit dem neuen Amphion zusammen, welcher
mit seiner Leier das vernichtete Gebäude dex Religion und Sitt-
lichkeit wiedex aufzubauen begann. Chateaubriand hatte fein Werk
dem ersten Consul gewidmet und diesex zeichnete den christlichen
Dichtex mit seinem Takte dadurch aus, daß er ihn als ersten Ge-
sandschaftssecretair nach Rom schickte. In der Hauptstadt der katho-
lischen Welt war der Verfasser des Geistes des Christenthums ganz
an seinem Platze.
Inmitten der Ruinen der ewigen Stadt, uuter den Hallen des
Coliseums, auf den Marmorblöcken des Circus ruhend, die vielleicht
von dem Blut der ersten Christen befleckt waren, faßte Chateaubriand
den Gedanken zu seinem Hauptwerk:^ Die Märtyrer.
Von da an erfüllte ihn eine lebhafte Sehnsucht nach Griechen-
land, der Wiege des heidnischen, und nach Palästina, der Wiege des
christlichen Roms, der doppelten Schaubühne, aus dex sein großes
Epos spielen sollte.
Einige Zeit daraus kehrte Chateaubriand nach Paris zurück und
wurde zum bevollmächtigten Minister in Wallis ernannt. Es war
am Vorabend jenes Tages, wo der letzte der Conde's in dem Graben
von Vincennes, ,,ein paar Schritte von der Eiche, unter der Ludwig
der Heilige Gericht gehalten hatte"*), erschossen wurde. An demselben
Abend, als Alle vor Entsetzen verstummten, reichte Ehateaubriaud seine
Entlassung ein. Diese Protestation, um so auffallender, da sie die
einzige war, verletzte Bonaparte aus das tiefste. Doch der erste
Consul, mag er nun selbst den Tod des unglücklichen Opfers be-
dauert haben (denn noch hat die Geschichte den Schleier von den
Ereignissen in Vincennes nicht ganz gelüftet) oder mag er die Würde
dieses alleinstehenden Tadels gefühlt haben, rächte sich nicht. Er
versuchte sogar, jedoch vergeblich, den Grollenden zu versöhnen, indem
er ihn später als Nachfolger Chenier's zum Mitglied des Instituts
ernannte. Die Geschichte der Antrittsrede des neuen Mitgliedes ist
bekannt genug. Diese Rede, eine lebendige und beredte Widerlegung
von Chenier's politischen Principien und der Rechtfertigung des Königs-
mordes, gehalten zu einer Zeit, wo abermals königliches Blut ver-
gossen worden war, wo die Richter Ludwig's XVI. die höchsten Staats-
würden bekleideten, trennte Napoleon und Chateaubriand sür immer.
Vor diesem letzten Ereigniß, welches 1811 stattfand, und bald
die Unterdrückung des Mercure zur Folge hatte, hatte dex Dichter den
Entschluß gesaßt, seinen langgehegten Plan einer Pilgerfahrt nach
Palästina auszuführen. Diese Reise durch das gelobte Land hat
die Poesie mit den schönsten Blüthen der französischeU Muse be-
reichert; Chateaubriand's Rückkehr nach Frankreich, die ihn durch
Spanien führte , gab seinem ,,letzten Abenccrage" das Leben.
Den 5. Mai 1807., nach zehnmonatlicher Dichterfahrt, kam
Chateaubriand wieder in Frankreich an und zog sich in feine reizende
Einsiedelei dem Vallee aux Loups bei Aulnay zurück. Hier sammelte
er seine Erinnerungen und schrieb das Itineraire, so merk-
würdig als historisches wie als philosophisches Werk, und legte endlich^
den ganzen Reichthum von Anschauungen und Gedanken, die er auf
seiner Reise gesammelt, in den Märtyrern nieder.
Wix erlauben uns einige wenige Worte übex das Gedicht, in-
dem wix es mit Fenelon's berühmtem Werk zusammenstellen. Jn dem
letztern sind Calypso und ihre Nymphen leichtfertige Damen am Hofe
Ludwig's X1V. - Die Insel dex Götter ist ein Garten von Ver-^
sailles - Telemaque ein Herzog von Burgund - Mentor ein
Erzbischof von Cambray.
In dem Gedicht Chateaubriands dagegen sind die geschilderten
Gegenden localgetreu, die Gedanken und Gefühle vollkommen zeitge-
mäß. Es ist mehr als ein schönes Gedicht, es ist eine erhabene
Nachschöpfung dex Geschichte. Es ist, als ob die Macht eines Zau-
berers uns die letzten römischen Kaiser, die Häuptlinge der halbwilden
deutscheu Völker, die gallischen Druidinnen, die schönen Jungfrauen
Messeniens, die griechischen Sophisten, die heidnischen Priester und
die begeisterten Bekennex des neuen Glaubens, lebendig vorüberführte.
Victor Hugo fand, daß eine gothische Kirche ein erhabenes Buch
sei; Göthe nennt die Architectur versteinerte Mustk; die Märtyrer
kann man ein Denkmal des Alterthums nennen, wie Pompeji und
Herculanum in seiner ganzen Frische aus der Tiefe der Vergangen-
heit herausgegraben.
Während der Dichter sich den Schöpfungen seiner Phantasie
ganz hingab, eilte die Geschichte mit Riesenschritten vorwärts. Die
Ereignisse von 18 I4 drohten Frankreich von Neuem in Verwirrung
zu stürzen. Chateaubriand trat aus seiner Zurückgezogenheit hervor
und mischte sich in den Parteienkampf.
Wir verlassen letzt den Dichter und haben es mit dem Staats-
manu Chateaubriand zu thun. Die Werke der Dichtkunst unterliegen
dem Urtheil des Geschmackes und Gefühls, die Ideen des Politikers
werden von dem Verstande gerichtet. Wir haben die ersten bewun-
dert, und werden über die letztern unser Urtheil kalt und unpar-
teiisch abgeben.
Chateaubriand's erste That aus dem politischen Kampfplatz war
die berühmte Brochüre ,,Bonaparte und die Bourbons," LudwigXVIII.
sagtevon diesem Buche daß es für ihn den Werth einer Armee habe;
wir haben es gelesen, ehe wir diese Zeilen niederschrieben, und können
nur beklagen, daß eine große Seele nur einen Augenblick so weit sich
herablassen konnte, seine Beredsamkeit dem Haß und der Verleum-
dung zu weihen. Aus jeder Seite ist der Wahrheit .Gewalt ange-
than, sind die Personen und Ereignisse entstellt; es ist das heftigste
Libell, das es gibt, eine Ausschweifung des Genies.
Während dex hundert Tage befand sich Chateaubriand bei Lud-
wig XVIII. in Gent, als dessen Staatsminister. Dort schrieb er
seinen Bericht an den König über den Zustand Frankreichs, der zu
poetisch ist, um wahr zu sein.
Nach der Schlacht von Waterloo behielt Chateaubriand seinen
Titel, weigerte sich aber, zugleich mit Fouche im Ministerrath zu sitzen.
Von diesem Zeitpunkt an beginnt seine politische Laufbahn als Mit-
glied der Pairskammer und vor Allem als Publizist.
Um die eigenthümliche Lage des Dichters der Märtyrer ganz zu
begreifen, muß man steh in die Zeit der Aufregung und des Par-
teienkampfes, welche den hundert Tagen folgte, versetzen. Drei Par-
teien kämpften um ihr Bestehen. Die Ultraroyalisten wollten den
König ohne die Charte; die Liberalen die Charte ohne den König;
die Gemäßigten König und Charte. Durch Ueberzeugung und in-
neren Trieb seines Genies gehörte Chateaubriand dex letzten Partei
an; und doch sah er sich durch seinen Haß gegen den Kaiser, durch
die Heftigkeit feiner letzten Schriften und durch persönliche Sympathie
bald unter der Fahne der heftigsten Vertheidiger des Throns und
des Altars. Aber trotz dieser schiefen Stellung ist sich Chateaubriand
fast nie untreu geworden. Zwei große Principien haben stets sein
politisches Leben erhellt und ihm eine Popularität erzeugt, welche nie
vergehen wird. Ueberall und immer hat Chateaubriand mit Wort
und Feder die Unverletzlichkeit der repräsentativen Verfassung und
die Freiheit der Presse vertheidigt.un
edergaateaubriand,in der Hoffnung, der dererag
feindseligen herrschenden Partei Concessionen abzugewinnen, zu viel von
seiner Seite nach. Daher rühren die zahlreichen Jnkonsequenzen,
welche man ihm so lebhaft vorgeworfen hat; daher die Unterstützung,
die er im Namen der öffentlichen Freiheit der reaktionären Kammer
von 1815, der Feindin jeder Freiheit, gab; daher das seltsame Ge¬
misch constitutioneller Principien und abgethaner Systeme, welche
man in seiner „Monarchie nach der Charte" findet. Nachdem er die
Principien der Repräsentativvegierung auf das Klarste dargelegt
und gänzlich mit dem Absolutismus gebrochen hat, verurtheilt er mit
principloser Strenge die Männer der Republik und des Kaiserthums,
entrüstet sich im 42. Kapitel, darüber, daß man die für den König in
Vendee Gefallenen auf gleiche Linie mit den für das Vaterland bei
Waterloo Gebliebenen stelle; billigt im 52, Kapitel das im Lause der
Revolution Entstandene und noch Bestehende als einmal geschehen
und verurtheilt ohne Unterschied die Männer und Principien, die eS
hervorgerufen; verlangt für die Geistlichkeit ein bestimmtes Eigenthum,
eine Civilverfassung, das Recht, die Civilregistcr zu sichren, und das
Monopol des Volksunterrichts in der weitesten Ausdehnung.
nmalauf den Kampfplatz getreten, führte Chateaubriand einen
ampf mit der kraftvollen und glänzenden Feder, die ihm allein
igen ist, fort. Die Journalistik wurde in seiner Hand eine gewal¬
ige Waffe und das Ministerium Decazes wankte unter den
chlägen, die ihm der Conservateur beibrachte. Die Ermordung des
erzogs von Berry vollendete seinen Sturz.
eerrendeGewalt ging in die Hände der Reactionäre
ber, die Censur wurde wieder eingeführt, °die persönliche Freiheit
uspendirt; Chateaubriand, ein wenig spät der Stimme seines na¬
ürlichen Gefühls gehorchend, verweigerte seinen gefährlichen Freun-
en seine Stimme. — Unter dem Ministerium Villvle wird Chateau¬
riand zum Gesandten in Berlin ernannt, dann in London, und im
eptember 1822. geht er über die Alpen, um Frankreich auf dem
ongreß von Verona zu vertreten,
neerersammlungvon Königen vertheidigte Chateaubriand
wann, aber vergebens, die Sache der Griechen, vertrat Frankreichs
Interessen in der spanischen Angelegenheit, und kehrte bald zurück,
um an Montmorency's Stelle dem Departement der auswärtigen An¬
gelegenheiten vorzustehen. Dies ist der glänzendste Zeitpunkt seiner
politischen Laufbahn.
Kaum waren acht Monate nach der Einnahme von Cadiz ver¬
flossen, als der'Mann, dem die Restauration das Bischen Ruhm
verdankte, welchen sie besaß, plötzlich wie ein Bedienter, der seinem
König die Uhr vom Kamin gestohlen, davongejagt wurdet). Villvle
war auf ihn eisersüchtig, Ludwig XVIIl. liebte ihn nicht; er weigerte
sich, die Conversion der Renten zu unterstützen, die er nicht billigte;
er wollte die siebenjährige Erneuerung der Deputirtenkammer, nur
mit einer Veränderung deS wahlfähigen Alters; er war populär,
Villole war es nicht; die Könige Europas schickten ihm ihre Orden,
Villele bekam keine; er war zäh und stolz wie ein Bretagner, Villvle
geschmeidig und listig wie ein Gascogner. Er wurde unhöflich
entlassen.
Die Beleidigung war groß; die Rache kam ihr gleich. — Corio-
lan ging zu dem Volskern über, Chateaubriand bewaffnete sich mit
seiner Feder und stellte sein Zelt in dem Journal des Debats auf.
Der Chef der realistischen Phalanx von 1818 kannte besser als je¬
der Andere die Schwächen seiner alten Waffenbrüder.
Vergebens rief Villvle alle Hilfsmittel seines gewandten Geistes
zur Unterstützung, vergebens klammerte er sich mit der Wuth der Ver¬
zweiflung an sein Portefeuille, nach einem dreijährigen heftigen
Kampfe war er von seinem furchtbaren Gegner von seiner Höhe
herabgestürzt.
Chateaubriand hatte nicht alle Folgen deS Kampfes vorher¬
gesehen. Als er Krieg mit^ einem Minister der Restauration
führte, bekämpfte er die Person und nicht die Sache. Die feurige
Jugend aber, welche seinen Schritten folgte, vermischte die Person
und die Sache im gemeinsamen Haß. DaS Ministerium Martignac
war eine Pause des Friedens, welche Chateaubriand zu einer Reis«:
nach Rom, wo er von alter Berühmtheit umgeben war und über
die Hinfälligkeit irdischer Größe nachdachte, benutzte. Als das Mi¬
nisterium Polignac an die Spitze der Geschäfte trat, reichte er aber¬
mals seine Entlassung ein; der Kampf begann von Neuem und
man weiß, wie er geendigt hat.
Die Juliordonnanz fanden Chateaubriand in Dieppe; er
eilte nach Paris, aber er kam zu spät. Als er über, die Barricaden
stieg, um sich in die Pairskammer zu verfügen, wurde er erkannt und
umringt, und dieselben Menschen, welche die Bourbons vertrieben
hatten, trugen ihren alten, nur zu sehr gerächten Diener, der jetzt
einen letzten und unnützen Versuch für sie wagen wollte, im Triumph
durch die Straßen.
Seit der Julirevolution hat sich Chateaubriand der Vertheidigung
der vertriebenen Dynastie gewidmet; jede seiner Brochure war ein
Ereignis;. Seine frühere Opposition hat er durch Verfolgungen und
Gefängniß abgebüßt, und man sah den Dichter der Märtyrer zwischen
zwei Gensd'armen auf der Bank der Angesagten vor den Assisen sitzen.
Außer seinen Gelegenheitsschriften hat Chateaubriand das Pu-
blicum mit den „historischen Studien" beschenkt, deren Vorrede schon
ein Meisterwerk des Styles und der Gelehrsamkeit ist; mit Moses,
einer Nachschöpfung der antiken Tragödie; mit dem Versuch über die
englische Dichtkunst, und der Uebersetzung des Milton; und endlich
mit dem Congreß von Verona, einem Werk, welches bestimmt war, die
vielverbreiteten Irrthümer über die spanische Invasion von 1823. zu
widerlegen. Von da an umgab sich der berühmte Greis mit
einem dichten Schleier der Einsamkeit und des Schweigens und
verfaßte sein Schwanenlied, die Memoiren seines Lebens am Rande
des Grabes. Er hat den Tod gebeten, zu warten, bis er sie vol¬
lendet habe, und der Tod hat seine Bitte erhört.
Wenn wir die politische Laufbahn Chateaubriands in wenigen
Worten zusammenfassen, so finden wir, daß er von 1814 — 1825
für die Vergangenheit gegen die Zukunft kämpfte; von 1825 —
1830 unter die Falme der Zukunft trat und mit der Vergangenheit
brach; und nach 1830 auf seine Weise die Vergangenheit und die
Zukunft, einen bombonischen Zweig mit einem demokratischen Stamm
zu verbinden suchte. — Ist diese Verbindung möglich? Wir ant-
worten mit den Worten des Cujaz: NihiI h0c ad edictum prae-
toris , was wir frei mit den Worten übersetzen : . Das ist nicht die
Sache des Biographen.
In den letzten Tagen ist er nochmals auf die Bühne des po-
litischen Lebens getreten. Die moderne Cassandra, die vergebens
ihre warnenden Worte dem tauben Ohre der Bourbons gepredigt
hat, der letzte Dichter des alten Frankreichs sah sich von
der Blüthe des französischen Adels umgeben und von dem letzten
Sprößling des Stammes begrüßt, dem er treu, aber vergebens ge-
dient hat.
Nein, meine Freundin, es gibt noch Unschuld - auch in der
Literatur. In der Welt? Wer wollte das bezweifeln! Mit jedem
neuen Geschlecht, mit jedem neugeborenen Menschen wird eine neue
Anwartschaft zur Wahrheit gegeben, tritt die Möglichkeit zum reinen
Wandel von Neuem an's Licht. In dieser Unverwüstlichkeit liegt ja
das Heil der Menschheit. Diesen Glauben lasse sich Niemand neh-
men, und wenn Sie das nahe Weihnachtsfest feiern, meine Freundin,
feiern Sie es in diesem Sinne, und Sie werden, wenn der Mythus
nicht mehx ausreicht, im Bedürfniß der Menschennatur noch immex
Stoff genug zux festlichen Stimmung finden. Das Leben der Men-
schen steht überhaupt aus viel festeren Füßen, als was wix Literatur
nennen, diesex so gefürchtete ,,Coloß auf thönernen Beinen". Was
für das Menschenleben Noth thut, ist unabweislich, seine Hilfsquel-
len sind unerschöpflich. Selbst dex Staat, so oft ein Gebäude alter
Vorurtheile, ein Labyrinth morscher Baufälligkeiten, gehorcht dem Be-
dürfniß, dex Nothdurft und gewinnt annäherungsweise seinen Theil
an dex Wahrheit. Die Poesie eines Zeitalters ist weit mehr ein Be--
reich der Einbildungen. Wo die Menschen ihren Glauben und ihre
Wahrheit zux ^Schönheit entfalten sollten, sind sie nicht selten am un-
wahrsten und belügen sich aus Eigensinn oder Schwäche. Die
Kranken in der Einbildung sind bekanntlich die gefährlichsten, und die
Literatur manches Zeitalters erscheint in dex That wie ein hartnäcki-
gex Pallene, den man nicht gern aufgeben möchte und für den es
doch, den Tod ausgenommen, kein Heilmittel gibt. Darum quack-
falbern so Viele daran herum!
Es würde nicht ganz Recht sein, wenn Jemand behauptete, daß
wir von heute in einer literarischen Lazarethepoche begriffen seien.
Es würde wenigstens einen starken Grad von Hypochondrie verra-
then. Wir haben ja unsern productiven Liberalismus, der sich sür
den Vertreter der Schönheit hält. Wir haben unsern productiven
Servilismus, der sich wie ein Inhaber der Wahrheit geberdet. Schön-
heit und Wahrheit werden wohl nicht entschieden auf der einen, nicht
entschieden auf der andern Seite liegen. Auch nicht in der Mitte,
wie Herr von Raumer sagt. Schönheit und Wahrheit werden wohl
in frischen Kräften der Zukunft ihre Priester finden. Und mit ihnen
werden wir, wonach Sie, meine Freundin, Verlangen tragen, auch
wieder Unschuld in der Literatur haben.
Aber Zukunft! entgegnen Sie mir. Was solI ich mit der Zu^
sun^t, wenn ich keine Gegenwart habe?
Nun, so brauchen Sie doch immer noch nicht zu Frederike Bre-
mer, ihren Hühnerhosgeschichten und Gemüsegartennovellen Ihre Zu-
flucht zU nehmen. Entweder ist an der Unschuld nicht viel, wenn
sie sich auf den kleinen Kram der gemüthlichen Familienstille beschrän-
ken soll, oder es gibt noch Unschuld des Geistes unter uns. Wan-
dern Sie mit Ihrer Lectüre nach Süddeutschland aus! Lesen Sie
^ Waldfräulein von Zedlitz! Hiex ist Unschuld, keine Prüderie, -
Prüderie ist überhaupt nur die Prätension aus Unschuld, wo diese
fehlt. Ich meine nicht Zedlitz, den Menschen, nicht Zedlitz, den
österreichischen Staatsbürger und Wiener Correspondenten, ich meine
Zedlitz in seinen guten Stunden, und unsere Poesie sollte immer
nur das Erzeugniß unserer Feierstunden sein; - im Poeten Zedlitz
ist wirklich eine ungestörte Unschuld des Geistes mächtig und wirt--
sam. Man glaube nicht, dies sei einem Wiener leicht! Mitten im
schwelgerischen Sinnenjubel ist es sehr schwer, eine Unschuld des
Herzens, eine Unsträflichkeit des Gedankens festzuhalten. In jener
Flucht vor Allem, was drängt und quält, liegt eine geheime Unsitt-
Iichkeit. Man nimmt das als Verhängniß hin, was dex freien That-
kxaft.zur Entscheidung angehören sollte, .und unter dieser Decke wel-
ken edle Kräfte langsam hin. Ist es Kra^t des Geistes oder ein In-
stinkI der Seele, die Harmonie des sittlichen Menschen, eine Romantik,
die noch unschuldig ist, so feci und frisch, wie ! alte Gesänge des
Mittelalters sie ungesucht bringen, in einer Dichtung von heute
wiederzueben?
Die Einleitungen zum Gedicht von Zedlitz sind ihm verunglückt.
Der Dichter sucht erst Stimmung und Ton für seinen Stoff, und
um beides zu finden, geht er der Naivetät alter Weisen nach, deren
gewaltsame Nachahmung quälerisch wirkt. Es ist bezeichnend genug,
daß ein Sänger von heute für den Fall einer Jungfrau, für die
Sünde kindlicher Unwissenheit, nicht mehr aus seinem Bewußtsein
den rechten Ton des Liedes findet, um den Stoff weder schwerer
zu nehmen, als ihn die überlieferte Sage gibt, noch ihn durch falsche
Scham zu verderben. — Eine Könistochter liebt einen Knaben,-
„Und gegen allen Hofesbrauch,
Hinter dem wilden Roenstrauch"
sind die Sinne mächtiger als das Bewußtsein. Solche Situation
bleibt nur im Munde deS naiven Mittelalters unsträflich. Um sie
erträglich zu machen für das sittliche Schönheitsgefühl von heut»,
zwingt sich Zedlitz zu den Knittelversen alter Poeme.
„Die Mutter, einem Knaben hold,
Gewärte was eniteollt."
,
DaS klingt fast wie jene Fibelverse, die auf jeden Buchstaben im
Alphabet einen Reim brinen:
Sd. Die Norm' in Sack und Asch' thut Buß.
Ein Nagelbohr man haben muß!
Zedlitz wollte nicht witzig sein, aber die gezwungene Natureinfalt des
alten KnittelreimS blamirt fast die keusche Schönheit der unbedachten
Hingabe von Seel' an Seele, Leib an Leib. Auch für die Schilde¬
rung der Schwangerschaft findet Zedlitz nicht den Ton, der das Zarte,
das Geeimnivollenit verunstaltete.
„Bald wird zu eng das straffe Mieder.
Der schlanke Leib allmäliswillt."
Das ist, wenn nicht unschön, doch sehr platt. Der Bänkelsängerton
alter Balladen erscheint uns mit unseren Begriffen von Delicatesse
nicht mehr ausreichend, um die süßen Schauer der Empfängniß zu
feiern. Wer hier grob schildert, beleidigt. ES kommt bei so zarten
Stoffen darauf an, im Helldunkel malen zu können. Die Prosa
kann hier weit mehr sub rosa geben; sie hat die Kunst, anzudeuten
und ahnen zu lassen, weit mehr in ihrer Hand. Zedlitz verletzt mit
seinem Verse, weil sein Stoff zarter ist, als der von ihm gewählte
Vers. Und wo er nicht beleidigt, da wirkt er lächerlich. Seine
Blicke auf das Reich der Vierfüßer, wie Hengst und Stute von
Brunst getrieben werden, sind als Parallelen zur süßen Verirrung
zweier unschuldigen Menschenkinder beides zugleich, anstößig und ko-
misch. Komisch aber wollte Zedlitz nicht wirken.
Alles das trifft, wie ich sage, den einleitenden Theil des Ge-
dichtes. Es beweist mir die Schwierigkeit, in Ton und Farbe un-
schuldig zu sein und unschuldig auf Lesex von heute zu wirken.
Zedlitz fand nicht gleich die Stimmung ; erst im Verlaufe spricht ex
in eigenen Versen, findet er für seinen Stoff Form, Haltung, Kleid
und Harmonie mit seinem Inhalt. Noch die Scene, wo der Wolf
die Prinzessin im Walde findet, nachdem sie das Fräulein geboren,
ist kindisch.
,,Wolf, was ist dein Maul so blutig?
Warum hängt Dein Bauch zur Erde?"
Der Wolf hat nämlich der Prinzessin den Schenkel angefressen.
,,Es hat der Wolf beflissen
Darein mit scharfem Zahn gerissen."
Man wolle nicht entgegnen, dies sei eben der bezweckte Ton
des Kindermärchens. Ein solches hat Zedlitz nicht geben wollen;
der Stoff liegt den Fabeln für Kindex ganz fern. Der Leser, der
diese Partien des Gedichtes unschön findet, hat ganz Recht ; die Rai^
vetät des Vortrags ist Nichts als Nothbehelf. Erst in den spätern
Theilen wird die Dichtung wirklich ein Erzeugniß des Dichters.
Waldsräulein ist von einer Fee bei der Geburt gerettet und wird
von ihr untex der Bedingung, sich nicht vom Gefühl der Liebe hin-
reißen zu lassen, erzogen. Allein das Erbtheil der Sterblichen, in
Liebe zu fühlen, ist auch ihr Loos, und die Fee verstößt sie Nun
irrt sie arm und sreudenleer durch Feld und Wald, kommt zur alten
Rothburga, der Hexe. Deren Sohn, der Köhler Caprus, ein Cretin
wie Caliban oder wie die ähnliche Gestalt in Grillparzer's ,,Wehe dem,
dex lügt", begehrt sie zum Weibe und Waldfräulein flieht vox der
rohen Inbrunst des Ungethüms. Dann wandert sie wieder unstät
weiter, kommt zu einem Einsiedler und auch dessen, längst in frommen
Liedern eingewiegtes Herz erwacht bei ihrem Anblick und geräth mit
Gott und Welt in Streit. Während dessen aber zieht Herr Aechtex
auch in der Irre herum, sein Lieb zu suchen. Ex baut sich ein Schiff
und fährt den Rhein hinab.
Ex besteht dann alle Gefahren auf dem Rhein. sein Schiff
sinkt und unten auf dem Boden des Stroms betritt er die Niren^
stadt. Ueberall aber wahrt ex sein Herz und bleibt der ersten Liebe
treu, bis ein großes Turniex sie Beide vereinigt. Alle diese Scenen
sind eben so reizend wie kindlich schön. Ton und Inhalt, Stimmung
des Dichters und sein Stoff erscheinen hier in einer vollendeten Har--
moule. Es hat mich in der That überrascht, daß es einem Poeten
von heute möglich ist, einen mächtigen Zaubex dex Unschuld übex
uns walten zu lassen.
Sie sehen, meine Freundin, ich habe mich nicht wohlfeil
gefangen gegeben. Dem Dichter selbst, wiederhole ich, ist es
nicht leicht geworden, füx die schlichte Einfalt seiner kunstlosen Ro-
mantik den rechten Ton zu finden. Tieck rief für seine Märchen
die Mustik dex menschlichen Seele zu Hilfe, seine Romantik buhlte
mit den Dämonen des Gemüthes, seine tiefere Poesie schwelgte in
Himmel und Hölle, er versetzt uns, wie mit einem Zauberschlage, in
seine geheimnißreiche Märchenwelt. Zedlitz ist keuscher, er ist kind-
lich und naiv, und. das scheinbar Einfachere steht dem Sinne un-
seres Zeitalters ferner. Hat er aber die ersten Hemmnisse überwun-
den, dann athmet seine Dichtung eine Frische, eine Anmuth, die fein
,,Waldfräulein" den schönsten Werken deutscher Literatur anreiht.
Auch die Prosa von heute gibt uns Zeugniß von einer unge-
ahneten Unschuld des Geistes. Es ist wiederum ein Dichter aus
den österreichischen Landen, dem dies möglich war. Ich meine Jo-
seph Rank's ,,Vier Brüder aus dem Volk". Der Verfasser nennt
seine Darstellung einen Roman ans Oesterreichs jüngsten Tagen und
will damit andeuten, daß Alles, was er schildert, Erlebniß ist, daß seine
ganze Scenerie sich der Welt der Wirklichkeit getreulich anschließt.
Aber mit der Bezeichnung ,,Roman'' wird er die Kritik nöthigen, die
Erfindung zu vermissen, den Faden seiner Geschichte verworren zu
nennen. Es kann nicht leicht etwas confuser verschwimmen, als der
Ablauf seiner Erzählung. Rank kommt mir vor wie Einex, dex die
Tage, die Gestalten und den Schauplatz seiner Kindheit beschreiben
will und noch keinen festen Standpunkt gesunden hat, um hintex sich
das schöne Thal seiner ersten Lebensidylle zu überblicken. Er hat
sich von dieser Jugendwelt noch nicht gelöst, und so gibt er wohl die
Musik der ersten Eindrücke wieder, fällt aber, wo er schildert, über
allerlei kleinen Kram der Gemüthswelt her und verliert sich ganz in
die sinnige Spielerei seiner kindlich schönen Empfindsamkeit. Welche
reizende Welt eröffnet er uns zu Anfang seiner Darstellung böhmischer
Landleute. Wie führt er uns ein in das seelenvolle Glück eines dörf-
lichen Familienlebens, das ganz abseits liegt vom großen Strom der
Welt! Die Oertlichkeit wird uns lebendig, wir athmen Feld und
Wald, die Räume des Hauses stehen vor uns, wir hören die Men-
schen reden, wir sehen sie schreiten, selbst das Schnarchen der Schläfer
beschleicht unser Ohr, und wir kriechen demPoeten überall nach, bis
in den Heuschober, bis aus die Hühnerstiege. Ich weiß nicht, weht
uns hier ein Anflug homerischer Einfalt an, oder ein Hauch von
Lorenz Sterne's weicher, humoristischer Schwermuth. Auch war der
Stoff nicht ohne Glück zu Anfang angelegt. Drei von den Brüdern
lieben des Nachbars Tochter. Jeder wittert im Bruder einen glück-
lichen Nebeubuh^ter und entsagt still und scheu, um dessen Glück nicht
zu stören. Jeder behütet den Andern und trägt sein Schicksal sest
und schweigend. Und so gehen sie Alle am Mißverständniß redlich
unter. Dieser Kampf der ehrlichen Burschen ist die ergreifendste Elegie.
Aber die Ausführung ist im Stoffe nicht sachlich erledigt und die
Darstellung, die sich mit der Lyrik des Stoffes begnügt, wird eine
manierirte Eintönigkeit. Die Prosa geht in dithyrambische Rhythmen
über und gefällt sich in Refrains, in Betheurungen, in Wiederholungen.
Dem erzählenden Styl wird zu viel Musik zugemuthet und aufge-
bürdet. Die Gestalten bleiben Conturen, Fedexstriche. Und zwischen-
durch fluthet die Stimmung des Verfassers, die alle Linien über-
schüttet, auflöst und chaotisch verwirrt. Es ist, als wenn Musik und
Zeichnenkunst ^ in Rank's Natur einen Kampf bestünden und jene
noch alle Gestaltung überströmte und vernichtete.
Es überkommt mich hier das Andenken an Karl Beck. Vor
lauter tobender und stiller Musik konnte Beck eben so wenig die
Linien seiner Zeichnung festhalten, zu Ende führen und füllen. Man
wird sagen: Mangel an epischem, plastischem Talent! Ja, eben aus
zuviel innerer Musik. Und das ist in deutschen Naturen nicht so
selten! Unschuld ist freilich nicht mehx in diesex Schwelgerei des
Empfindens. Unschuld ist ohne Harmonie dex Kräfte nicht möglich.
Erst der vollendete Mensch, der Dichter im Vollgefühl seiner fertigen
Bildung, gewinnt wieder, was der werdende Mensch, das Kind, verlor.
Es ist wieder eine neue Schrift bei Hoffmann und Campe erschie-
nen, die man in Massen hierher versendet hat; sie führt den Titel:
,,Briefe aus Wien von einenr Eingeborenen." Diesmal
aber werden die Exemplare wohl den Krebsgang machen und dahin
zurückkehren, woher sie gekommen sind. Das Buch scheint ein Abklatsch
vonCorrespondenzartikel^n zu sein, die früher in manchen kleinen norddeut-
schen Journalen ohne literarische und noch grringerr publicistische Be^
deutung gestanden haben. Das Glück, welches ,,Oesterreich und seiue
Zukunft" gemacht hat, ist ein Lockvogel geworden, der das kleine lite-
rarische Geflügel, das sich in Wien herumtreibt, reizt, gleichfalls sein
Glück unter Campescher Firma zu versuchen. Uber ,,Oesterreich und seine
Zukunft'' verdankte seinen Eindruck dem Umstand, daß ein Mann es
geschrieben hatte, ein Mann mit klarem Bewußtsein seines Zweckes,
ein Mann, der eine Partri vrrtrat, quoique oder vielmehr parceque er
ein Aristokrat ist. Er richtete seine Pfeile gegen die Verwaltung, aber
es fiel ihm nicht ein, den Volkscharakter zu schwächen. Seine unreifen
Nachbeter aber suchen nur Scandal und es ist ihnen ganz gleich, wo-^
hin sie mit ihrem plumpen Plumpsack schlagen, wenn nur 'der Staub
auffliegt. Was man über Oesterreich zu sagen hat: das österreichische
Volk sollte man hoch in Ehren halten. Wer sich bemüht, eine tren-^
herzige, kernige und edle Nation zu Schwäher und, statt ihr Nationalge^
fühl in Mitte der sie umgebenden nichtdeutschen Stämme zu stärken,
sie niederdrückt und verleumdet, der ist ein Verräther, dem man den
Rücken kehren muß. Der Verfasser jener Brochüre erzählt von den
Wiener Freudenmädchen, von einem vornehmen Herrn, der eine Beamten-^
frau verführt und ähnlichen hochpolitischen Dingen, die man in Cafe^
häusern in der Josephstadt, unter den Schauspielern oder beim sei.er^
hock unter den Börsenmäklern sich mit lüsternem Mundr erzählt. Virl^
leicht gibt er uns im zweiten Bande einen vollständigen Adreßkalender
der prostituirten Weiber in unserer Stadt; er srheint darin Sachkennt^
riß zu haben. Wer in solcher Gesellschaft sich bewegt, der kann allrr-
dings die Unsittlichkeit Wiens von der schwärzesten Seite schildern.
Ein Biograph der Königsmauer in Berlin, der rue de Helder in Pa-
ris, der Matrosenkneipen in Hamburg, des Steinwegs in Leipzig und
wie die unter dicken Weinreisenden und ausgemergelten Handlungs-
dienern renommirten Straßen der bezahlten Liebe alle heißen, würde
sicherlich noch mehr gelesen, als der alte Plutarch. Der Liebeshof zählt
in Wien eine gute Anzahl liederlicher Priesterinnen und schwelgerischer
Priester. Aber die Entstttlichung unserer Stadt steht darum aus kei-
ner größeren Stufe als in jeder andern großen Cit^. Ja, man darf
behaupten, daß die Entartung und das 'raffinirte Laster, das man in
Paris, in Se. Petersburg und selbst in Berlin sendet, Wien bei
Weitem überbietet. Der Grundzug des Oesterreichers und zumal des
Wieners ist Behaglichkeit, und wie alte Vergnügungslust bei uns ein^
facher, natürlicher als in Paris und Berlin ist, so auch in gewissen
speciellen unaussprechlichen Dingen. Der Wiener ist weniger geiht^
reich und erfinderisch als andere berühmte Großstädter; dies ist im
Punkt des Lasters ein Lobspruch. Man vergleiche überhaupt die Zahl
der Verbrecher und die Art der Verbrechen in Wien mit anderen
Städten gleichen Rangs und man wird bald die Erfahrung machen,
daß die Entsittlichung Wiens in weit engeren Grenzen sich bewegt als
anderswo. Wie es überhaupt zu wünschen ist, daß staiistische Tabellen
in Bezug auf Criminalverbrechen in ganz Deutschland veröffentlicht
würden, so möchten wir dies aus einem besonderen patriotischen Gefühl
noch für Oesterreich wünschen, weil wir das volle Vertrauen haben, daß
andere Nationen und unsere deutschen Mitbrüder dadurch das österrei^
chische Volk (ich meine hier besonders das deutsch-österreichische) in el^
nem bisher noch ungewürdigten Lichte erblicken müßten, das uns sicher^
lich nicht zum Nachtheile gereichen würde. - Eine andere Schrift über
Oesterreich ist seit meinem letzten Schreiben gleichfalls erschienen, sie
führt den stolzen Titel: ,,Böhmen und seine Zukunft,,*); ihr Verfas-
ser ist der Graf Schirnding. Es ist ein schwaches, unbedeutendes Pro-
duct; der Verfasser verlangt, Oesterreich soll eine slavische Poliiik zur
Grundlage seiner Regierungsprincipien machen, für welchen weisen Rath
wir Deutschen uns bei^ dem Herrn Grafen schönstens bedanken.
Wenn Sie sich übrigeus wundern, wie fo wir hier an courant
aller dieser Publicationen sind, so muß ich Sie auf unseren juri-
disch-politischen Lese-Verein verweisen. Dieser Verein (an des-
sen Spitze der Freiherr von Samaruga, staatsrathlicher Referent n. s. w.,
steht), gedeiht immer mehr und mehr. Alle deutschen Journale, viele
französische und englische liegen in einem prächtigen Locale (in der
Bischofsgasse) auf; es erscheint keine Broschüre in Deutschland, die den
Lesern vorbehalten würde und die Bibliothek des Vereins beginnt sich
zu consolidiren. Wien hat dadurch ein großartiges Institut gewonnen,
da die Regierung in Berücksichtigung der Bildungsstufe der Mitglieder
dieses Vereins, der aus Beamten, Professoren, Künstlern und Schrift-
stellern besteht, die Gedankensperre für denselben aufgehoben hat*). Der
Verein wird immer mehr und mehr Mittelpunkt für die gelehrte und
gebildete Classe Wiens. Dies ist um so nöthiger, denn die sogenann-
ten ästhetischen und gelehrten Salons hören völlig aus Die Baronin
P****a versammelte in früheren Jahren jeden Freitag Maler, Künst-
ler, Musiker, Dichter, beging aber den aristokratischen Fehler, diese im-
mer allein zu laden, ja es geschah, als auf einen Freitag ihr Ge-
burtstag fel, daß sie den Herren absagen ließ, weil sie heute andere
Gesellschaft habe. Bei Professor Endlicher, dessen Frau, eine Tochter
Adam Müller's, durch Liebenswürdigkeit ausgezeichnet ist, wollen die
gelehrten Zusammenkünfte am Montag nicht recht Wurzel fassen.
Die Gesellschaft der Aerzte hält regelmäßig ihre Versammlungen ;
bis jetzt haben sich noch keine bedeutenden Resultate, trotz der gedruck-
ten Verhandlungen, für die Wissenschaft gezeigt. Ein Schauspiel ei-
genthümlicher Art gibt jetzt die in einem Jahre (!) erst Statt habende
Wahl eines Decans der medicinischen Facultät, indem die Competen-
ten - darunter Dr. Ernst Baron Feuchtersleben (der Schriftsteller)
einer der würdigsten - schon jetzt Stimmen sammeln. Ein Dr. Kra-
nichstädter erließ eine von grammaticalischen Schwächen nicht freie li-
thographirte Aufforderung, er wolle dir Halfer des Decanatseinkommens
(das sich während dreier Jahre auf etwa 12,000 si. Mze. beläuft) einem
Unterstützungsfond für verunglückte Aerzte widmen. Die meisten Stim-
men dürfte Feuchtersleben erhalten, der, Secretär der Aerzte, eine ge-
achtete Persönlichkeit ist und jetzt Vorlesungen über Psychiatrik (ein bis
jetzt nicht gepflegter Zweig) an der Universität beginnen wird.
Unsere Journalistik wird durch zwei neue Zeitungen zum neuen^Jahre
vermehrt; durch eine homöopathische, welchr virr Aerzte im Vereine
herausgeben, und eine kritische Literaturzeitung von Dr. Schmidt; eine
im letzten Jahrr von einem Dr. Prochaska (drr jrtzt bei der Ce^nsur
angestellt ihl) brachte es nur auf 17 Nummern; wir wollen ein besseres
Schicksal der jetzt angekündigten Zeitung hoffen und wünschen. Unsere
Verhältnisse, unsere Bildung stehen nicht auf der Höhe einer Literatur-
zeitung. Die prächtig dotirter Jahrbücher der Literatur, die sich des
besondern Schutzes des Fürsten Metternich erfreuen, schleppen sich nur
vegetativ fort.
Der erste Band der Verhandlungen der böhmischen Academie und
der beiden italienischen Institute ist in diesem Jahre, und schon vor
mehreren Jahren der dritte Band der Verhandlungen der ungarischen
Gesellschaft erschienen. Warum bei so wachsenden Fortschritten des
slavischen und magyarischen Elementes dem deutschen in Oesterreich ver-
sagt ist, mit denselben gleichen wissenschaftlichen Schritt zu halten, und
warum den wissenschaftlichen Männern des deutschen Oesterreichs so
lange die Mittel vorenthalten werden, mit den Academien der Slaven,
Italiener und Magyaren, so wie mit denen von München und Berlin
zu wetteifern, darauf weiß ich nicht zu antworten.
Mehrere Zeitungen haben augenscheinlich aus derselben Quelle,
aber in zwei verschiedenen Versionen, die ganz grundlose Nachricht ver-
breitet, daß die so lange fruchtlos gehoffte Academie der Wissenschaften
nächstens, aber nur in der beschränkten Form eines Museums für Na-
turwissenschaften hier begründet werden solle; wenn die Staatsmänner,
welche an der Spitze der Regierung stehen, über die vor mehr als
sieben Jahren durch zwölf Beamte, die zugleich Männer der Wissen-
schaft, dem Erzherzog Ludwig für Se. Majestät den Kaiser überreichte
Bitte der Errichtung einer Academie der Wissenschaften noch zu keinem
Entschlusse gekommen, so scheint durch die lange Zell, welche sie sich
genommen, um die Sache in reife Ueberlegung zu ziehen, wenigstens
so viel verbürgt, daß die Anstalt nicht einseitig als ein bloßes Hilfs-
mittel der Naturwissenschaften, sondern als eine auch die historischen
und philologischen Wissenschaften umfassende in's Leben treten werde.
Einen ausführlichen Bericht über alle seit Leibnitz in Oesterreich fo oft
fruchtlos wiederholten Bemühungen zur Gründun^g einer Academie der
Wissenschaften liefert des Irländers Dr. Wilde so eben in den Buch-
handel gebrachtes englisches Werk über Oesterreichs medicinische und au-
dere Lehranstalten; die Vorrede dieses Buches ibd Winke über die
wahrscheinlichste Ursache der bisherigen Verspätung einer solchen wissen-
schaftlichen Anstalt. Der Mangel derselben zu' Wien springt um so
greller in die Augen, als die böhmische Academie der Wissenschaften
bei Grlegrnheit ihres funfzigjährigen Jubiläums (im J. 1837) mit
neuen Statuten versehen , und im folgenden Jahre das wissenschaftliche
Institut des vormaligen Königreichs Italien durch die beiden Institute
zu Mailand und Venedig wieder hergestellt worden.
Welch ein Mißbrauch wird in Deutschland mit dem Worte
Salon getrieben und wie affectirt lächerlich klingt es in manchem
Munde und an mancher Stelle. In Frankreich begreift man unter
dem Wort Salon eigentlich jedes Zimmer, das nicht gerade einen be¬
sondern Zweck hat, d. h. das nicht als Schlaf-, sentir- oder Kinder¬
zimmer dient. Im engern Sinne und bei armen Familien ist Alles
Salon, was nicht Schlafgemach ist. Man sagt: Ich habe einen Sa¬
lon und ein Cabinet gemiethet. Während man bei uns dadurch etwas
Pompöses, Hochgeselligcs auszudrücken vermeint, hört man in Frank¬
reich die arme Wittwe, die im vierten Stock wohnt, mit demsel¬
ben Aplomb von ihrem Salon sprechen, wie die Herzogin, die ihr ge¬
genüber daS ganze prächtige Palais einnimmt. Allerdings ist eS schwer,
ein passendes deutsches Wort dafür zu finden. Wohnstube, Plaudcr-
stübchen, Empfangzimmer, Gesellschaftszimmer sind ganz verschiedene
Begriffe, die auf der einen Seite zu kleinbürgerlich und auf der andern
zu pompös klingen. Es ist, als ob selbst unsere Sprache sich dagegen
verschwöre, die Gleichheit der Stände unter uns möglich zu machen.
Hier wäre ein gutes Ersatzwort doppelt zu wünschen.
— Der Großherzog von Oldenburg ist ein seltener Fürst. Auf
seinem Theater spielt man keine Opern; er liebt die dramatische Dicht¬
kunst mit Leidenschaft und will daher von Sängern und Tänzerinnen
Nichts wissen. Dies charakterisirt nicht nur eine Geschmacksrichtung,
sondern einen klugen, würdigen Geist. Nicht etwa, alö ob eine herr¬
liche Oper nicht ein schöner, strebcnSwerthcr Genuß sei, sondern weil
in der Regel, trotz des großen Aufwandes, den Stadt und Land zur
Erhaltung des Hoftheaters hier und da zollen, die Sänger und Sän¬
gerinnen doch meist nur Schreihälse sind, die in ihrer Unbildung und
Scbullosigkeit ein feines musikalisches Ohr mehr peinigen, als ergötzen
und das Kunstwerk im Gesang und vollends im Spiel zur Carricatur
machen. Nur wenige Opernhäuser ersten Ranges können die Kräfte
herbeischaffen, die ein so capriciöseS, unzählige Combinationen bedin¬
gendes Kunstwerk, wie daS musikalische Drama, fordert, um wirklich dem
Bereiche der Kunst anzugehören. Das recitirendc Schauspiel braucht
weit geringere Dinge. Die Mittel dazu sind näher bei der Hand.
Verwendet man nun vollends alle Kräfte, die dem Bühncnbudgct zu
Gebote stehen, auf das eine Feld, so kann man dieses leicht zu etwas
Glänzenden, Vortrefflichen heranbilden. Die Miserabilität unserer
deutschen Theater liegt größtentheils an der Zersplitterung in Oper und
Schauspiel, wodurch die meisten Bühnen nicht Fisch, nicht Fleisch
sind. —
— Schon wieder ein neuer ClavierspielerHerr Goldschmidt aus
Prag, den seines Landsmannes Dreischock Lorbeeren nicht schlafen
ließen und der nun Deutschland durchzieht, „um einem längst gefühl¬
ten Bedürfniß abzuhelfen" und sich hören zu lassen. Werden diese
Clavicrrciscndcn nie ein Ende nehmen? Was zwingt Herrn Goldschmidt,
seine böhmischen Wälder zu verlasse»? Herr Goldschmidt ist der Sohn
eines außerordentlich reichen Mannes in Prag. Wir begreifen, daß
die schöpferische Kunst nach Oeffentlichkeit dringt, daß ein Bild¬
hauer, ein Maler, ein Poet, ein Tondichter brennt, seine Schöpfun¬
gen der Welt vorzuführen. Aber die ereeutivc Kunst kann nur zwei
Motive haben, sich vorzudrängen: Nahrungssorgen und im vergrößer¬
ten Maßstabe Lust nach Gewinn — oder Eitelkeit. Bei der Anzahl
von Virtuosen, die sich zum Nachtheil anderer öffentlichen, würdigern
Regungen ans den großen Markt drängen, sollte man endlich behut¬
samer werden mit diesen Herren. Die ki-me Journalkritik ist leider
in allen Ländern noch den Ueberredungskünsten gelblicher Argumente
zugänglich. Auf diesem Wege werden reiche Künstler leider stets eher
Lobschreier finden als andere. Ergreift nun die Virtuoscnmanie unsere
retchen BankicrSsöhne, wie in letzterer Zeit so oft der Fall sich zeigte —
dann können wir'S am Ende erleben, daß das musikalische Renommee
ein Privilegium der Reichen wird. Wir wollen hier nicht auf zwei
Berliner berühmte BankicrSsöhne, die in diesem Augenblicke die zwei
größten musikalischen Celebritäten Deutschlands sind, hinweisen. Diese
Herren haben sicherlich das Meiste ihrem großen Talente zu danken.
Aber nur daS Meiste; einen guten Theil erwarb ihnen ihre günstige
äußere Lage. Ist es uun aber nicht empörend, daß sogar im Reiche
des Geistes der Arme dem Reichen nachstehen muß? Daß das Gute
durch Reichthum zum Vortrefflichen, und das Mittelmäßige zum Gu¬
ten gestempelt wird, wenn es ben gehörigen Zusatz von Gold hat!
— Wenn das Buch des Marquis do Cnstinc auch sonst Nichts
geleistet hätte, als daß es die Aufmerksamkeit Europas auf das Schick¬
sal der heroischen Fürstin Trubetzkoi lenkte, so wäre eS eines der ver¬
dienstlichsten, die seit Jahren geschrieben wurden. Der Fürst Trubetzkoi
war noch ein Jüngling, als er, verwickelt in die bekannte Verschwö¬
rung gegen den Kaiser von Rußland, zur Arbeit in den Ural'sehen
Quccksilberbcrgwerkeu verurtheilt wurde. Freiwillig stieg seine edle
Göttin mit ihm in den unterirdischen Kerker hinab, theilte seine Lei¬
den und Anstrengungen und dort, mitten in den pestilenzialischen
Dünsten der Quecksilbcrmincn, gebar und erzog sie dem Unglücklichen
fünf Kinder. Als die gesetzliche Strafzeit vorüber war, wurde der
Fürst zur Ansiedelung an die Küsten des sibirischen Eismeeres verbannt.
Auch dahin folgte ihm seine Gattin mit ihren Kindern. Als Kinder
eines Verurtheilten werden sie nicht als legitim betrachtet, sie haben
nach russischem „Gesetz" keinen Namen; sie sind in den Registern der
Strafkolonie blos mit Nummern bezeichnet. Als diese Kleinen, die —
antichristlich genug — für das Vergehen ihres Vaters so entsetzlich
gestraft werde», erkrankten, wagte man es in Se. Petersburg, dem
Kaiser eine Bittschrift der erhabenen Mutter zu überreichen, worin diese
nach fünfzehn Jahren unaussprechlicher Leiden für ihre Kinder um
Gnade (!) und um die Erlaubniß bat, sie zur Heilung und Pflege
nach Moskau schicken zu dürfen. Der Czar soll geantwortet haben:
„Noch immer wagt man eS, mich an eine Familie zu er¬
innern, deren Haupt gegen mich conspirirt hat!" — Wir
wollen hier kein Urtheil über den Menschen Nikolaus fällen, dessen
ritterliche Edelhcrzigkeit so vielfach gerühmt wird. Nur das müssen
wir bemerken: Von vielen Seiten wird das Custinc'sche Buch ein
übertreibendes, schmähendes, eine Satyre genannt; allein wir haben
in all seinen Raisonnements Nichts gefunden, waS schneidender und
lauter spräche, als diese — Thatsache. Ohne, wie gesagt, über den
Charakter des Kaisers zu urtheilen, müssen wir doch annehmen: Er
hatte keine Ahnung davon, daß diese Frau des Verbrechers Trubetzkoi
unsterblich ist; daß sie in den Annalen der Welt als ein Beispiel der
edelsten Selbstverläugnung und des weiblichen Heroismus ewig leuchten,
daß sie vielleicht einen Abglanz auf die Periode seiner Regierung zu¬
rückwerfen, und daß die Nachwelt staunen wird über das Wunder
einer solchen Erscheinung in — Rußland. — Jetzt heißt es, daß man
sich höheren Orts für die Fürstin Trubetzkoi verwenden wolle. Damit
meint man vermuthlich, daß die Kaiserin von Rußland für die Un,
glückliche einschreiten werde. Die Kaiserin wird sich selbst dadurch
ehren und fast möchten wir sagen, daß sie nur ihre Pflicht, als deutsche
Fürstin und in der Stellung, die ihr das Schicksal angewiesen hat,
erfüllen werde.
— In Nußland ist man über das Cnstine'sehe Buch: I^Rü»«le
I8Z9 empört. In Verzweiflung aber ist man über die Sensation,
die es in Deutschland gemacht' hat. Der russische Staatsrath
Gretsch hat eine Widerlegung Custine'ö geschrieben, ein russischer
Gesaudschastösecrctäri hat die Widerlegung inS Deutsche über¬
setzt; und um seiner Wirkung ganz sicher zu sein, läßt Gretsch in
öffentlichen Blättern erklären, daß er durchaus ohne offizielle Auffor¬
derung, sondern rein aus inneren Drang, — in stillen Stunden der
Begeisterung — die Widerlegung abgefaßt und daß sein Freund, der
Gesandschaftösccretär, ebenfalls rein aus innerem Drang dieselbe ins
Deutsche übersetzt habet — Der Staatsrath Gretsch gibt eben kein
Beispiel von der Feinheit russischer Diplomaten; und wenn seine
Schrift gegen Custinc in demselben Geist und Ton abgefaßt sein sollte,
wie einst sein Pamphlet gegen König und Mclgunoff, so wird er das
Gegentheil von dem, was er will, erreichen. In der Broschüre gegen
König schmähte er Jean Paul und Schiller auf euvas gemeine Art,
um es der russischen Literatur als Verdienst «»rechnen zu können, daß
sie keinen Schiller und keinen Jean Paul hat. Vielleicht wird er
auch hier aus mancher russischen Noth eine Tugend und aus mancher
französischen Tugend ein Laster machen.
— Julius Mosen ist als Dramaturg am großherzoglich oldcn-
burqischen Hoftheater mit einem Gehalt von achthundert Thalern an¬
gestellt und wird nun seine juristische Praxis ganz aufgeben, waS seiner
Muse nur förderlich sein kann. Merkwürdig ist es, daß fast alle poeti¬
schen Talente dieser Zeit sich der Bühne zuwenden. Noch keinem von den
Jüngern aber ist ein so unmittelbarer praktischer Wirkungskreis für
das moderne Drama eröffnet worden. — So eben hören wir, daß anch
Dingelstedt beim Stuttgarter Hoftheater eine Stellung und zwar als
Intendant erhalten hat. Die junge Literatur hat nun für ihre dra¬
matischen Bestrebungen zwei einflußreiche Posten gewonnen.
— Kaum hat Hoffmann und Campe mit einigen Schriften
über Oesterreich Glück gemacht, so möchten tausend Hände über Oester¬
reich schreiben, tausend drucken. Aber das ist noch nicht genug. Es
möchten auch viele Wiukclschriftstcllcr Oesterreicher werden oder sich da¬
für ausgeben. Man nennt so manche, ehrlich gemeinte und nicht
schlecht geschriebene Schrift über österreichische Zustände voreilig eine
Bnchhändlcrspeenlation — was soll man erst dazu sagen wenn nord¬
deutsche Autore», gute Rudolstädtcr, Soudcröhauscncr oder Lichten-
hainer Bücher über Oesterreich publiziren, in denen sie rufen: „Wir
Oesterreicher fühlen, wir Oesterreicher wissen u. s. w.?" Es klingt
unglaublich, aber es ist so. Wir hören, daß in diesem Augenblick ein
auf solche Art entstandenes „österreichisches Manuskript" in einer nord¬
deutschen Buchhäudlcrstadt gedruckt wird, und werden, wenn das Buch
veröffentlicht ist, es dem Publicum nennen. Freilich die deutsche Ein¬
heit ist so weit schon gediehen und so organisch fest, daß ein nord¬
deutscher Autor sich auch alö Oesterreicher muß fühlen können, wenn
er damit eine gute Speculation macht. Mau sieht, Oesterreich macht
Propaganda.
— Einige Zeitungen hatten es als eine merkwürdige Erscheinung
hervorgehoben, daß Schuselka, ein geborener Slave, wie sie meinten,
als Verfechter des deutschen Elements in Oesterreich auftrete. Die Ham¬
burger „Blätter der Börscnhalle" hatten dies sogar unter dem Titel:
„Durchbrechung der nationalen Scheidewände", berichtet!
Jetzt erklärt Schuselka selbst in der Augsburger Allgemeinen, daß er in
Budweis in Böhmen geboren sei, aber trotz seine» fremd klingenden
Namens von deutsche» Eltern und Voreltern abstamme und deutsch er¬
zogen sei. Wohl aber eine merkwürdige und erfreuliche Erscheinung ist
die Polemik, die sich zwischen Schuselka und dem Magyaren Luk-icz,
wie seit längerer Zeit zwischen Thun und Pulßkv, entsponnen hat.
Beide Strcitpaare kämpfen für ihre verschiedenen Nationalitäten mit
einer Wärme, die rein der Sachs gilt; es ist so wenig Bitterkeit, so
wenig Renommisterei und dagegen so viel sachlicher Ernst in diesen
Debatten, daß sie für die betheiligten Parteien in Oesterreich nicht nur
ein belehrendes Schauspiel bieten müssen, sondern auf ihre materiellem
Reibungen auch versöhnend einwirken können. Wir sind überzeugt,
daß, wenn dieser Krieg mit Gründen gleich ernst und ehrlich fortgeführt
wird, beide zuletzt einander große Zugeständnisse machen werden.
— Friedrich von Na um er, heißt es, wird kommendes Jahr
Amerika besuchen. Wenn Raumer die neue Welt unparteiisch beur¬
theilen sollte, so hat er's mit den Engländern verdorben; im umge¬
kehrten Falle wird ihm neben Boz ein Denkmal im Herzen aller
Stockengländcr sicher sein. Indessen scheint sich seit kurzer Zeit die
öffentliche Meinung über das Parteiwesen, die Presse und das gesellige
Leben der Nordamerikaner etwas milder zu äußern: denn die Handels¬
krisis hat sich gelegt und mehrere verdächtige Häuser in New-York und
Philadelphia haben gezahlt. Geht das so fort, so wird Amerika bald
wieder als das Asyl der Freiheit gepriesen werden.
Zu wiederholten Malen ist vor Kurzem der Name Arago in
das Ohr des deutschen Lesepublicums gedrungen und hat unwillkür-
lich auch die Aufmerksamkeit Jener gefesselt, die sonst der Wissenschaft
ganz fremd sind, welche diesem Mann zum Ausdruck dient. Zuerst
erstaunte die deutsche Philisterwelt, daß ein deutscher Monarch seinen
neugestifteten Verdienstorden einem Manne umhing, der als einex der
Führer der französischen Demokratie in deren leidenschaftlichsten Käm-
pfen genannt wird. Später wurde das Erstaunen noch größer, als
ein Journal die Nachricht brachte, der neuernannte Ordensritter habe
seine Ernennung zurückgewiesen, und als ein bekannter europäisch-
deutscher Gelehrter auftrat, um diese Nachricht officiell füx eine Un-
wahrheit zu erklären. Wir dürfen voraussetzen, daß unsern Lesern
eine nähere Bekanntschaft mit dem vielgenannten französischen Ge-
lehrten und Parteiführer willkommen sein wird, und haben daher die
Materialien gesammelt, um nach unserer gewohnten Weise eine kurze,
aber umfassende Charakteristik desselben liefern zu können.
Dominic Francois Arago ist am 26. Febr. 1786 in dex kleinen
Stadt Estagel bei Perpignan geboren. Einer seinex Biographen be-
hauptet, und drei oder vier andere^haben es ihm nachgeschrieben, daß
Arago in seinem vierzehnten Jahre noch nicht habe lesen können.
Wir haben uns die Mühe gegeben, der Wahrheit einex Erscheinung
nachzuforschen, die um so wunderbarer ist, wenn man bedenkt, daß
wenige Jahre später Arago eine wissenschaftliche Arbeit veröffentlichte,
die zu den berühmtesten des Jahrhunderts gehört. Aus zuverlässiger
Quelle haben wix jedoch erfahren, daß Arago nicht nux in seinem
vierzehnten Jahre mit vollkommener Fertigkeit lesen und schreiben
konnte, sondern auch daß sein Vater, welcher Cassler des Münzhoses
in Perpignan war, besondere Sorgfalt aus die Erziehung seines Sah-
nes verwendete, welcher als Aeltester einer zahlreichen Familie, ihx
Haupt und ihre Stütze werden sollte.
Arago begann seine Studien mit Eiser und Erfolg in dem Col-
lege von Perpignan, das er jedoch noch sehr jung mit dem von
Montpellier vertauschte, um sich dort für die polytechnische Schule
vorzubereiten, die damals eben gegründet worden war. In seinem
achtzehnten Jahre wurde er aufgenommen, als der erste und vorzüg-
lichste der geprüften Aspiranten. Zwei Jahre vergingen ihm hier in
angestrengten Studien. Einige Zeit nach seinem Austritt aus .der
politechnischen Schule, wurde Arago als Secretär des Längenbü-
reaus angestellt, und bald daraus von dem Kaiser beauftragt, an dex
wissenschastlichen Reise nach Spanien Theil zu nehmen, welche unter
dex Leitung Biot's den Bogen des Erdmeridians, welcher dem neuen
französischen Maßsystem zu Grunde liegt, zu messen.
Die Geschichte jener Reise und der Abenteuer Arago's wäh-
rend derselben ist ein förmlicher Roman. Wir beschränken uns dar-
auf, einen kurzen Abriß derselben zu geben, und verweisen den Lesex
wegen der Einzelnheiten auf Biot's interessanten Reisebericht.
Die ersten Versuche, den Durchmesser der Erde durch Bestim-
mung seiner Elemente zu berechnen, fallen in das Jahr 1670. Spä-
ter machten die Erfindung des cercle repetiteur vonBorda und die
Fortschritte in den physischen Wissenschasten eine genaue Berechnung
des Erddurchmessers nach einem Bogen des Erdmeridians von Dünkir--
chen bis Barcelona möglich. Die Fortsetzung dieser Messung von Bar-
celona bis aus die balearischen Inseln war der Zweck der Biot-Ara-
goschen Reise. Die spanische Regierung gab den französischen Ge-
lehrten zwei Commissäre, Chair und Rodriguez, mit, stellte der Erpe-
dition ein Schiff zur Verfügung und die englische Regierung ge-
währte ihr einen Geleitsbries.
Man bestimmte zuerst ein großes Dreieck, um die Insel Iviza
mit der spanischen Küste zu verbinden. Auf dem Scheitelpunkt die-
ses Dreiecks, einem der höchsten Berge Cataloniens, postirten sich Biot
und Arago, um sich durch Signale mit Rodriguez, dex sich auf dem
Berge Campuey aus der Insel Iviza auspostirt hatte, in Verbindung
zu setzen. Ju dieser öden Gebirgsgegend brachten die zwei Gelehrten
mehrere Monate unter angestrengten Arbeiten, allen Beschwerden der
rauhen Witterung ausgesetzt, zu. Im April 1807 waren endlich die
hauptsächlichsten Operationen vollendet, und Biot reiste nach Paris
ab, um die gemachten Beobachtungen zu berechnen. Arago blieb in
Spanien zurück, um die Arbeiten zu vollenden, und begab sich mit
Rodriguez nach Majorca, um dort von dEm Berg von Galatzo aus
sich mit Jviza in Ve.rbindung zu setzen und den Bogen der Paral-
lele zwischen diefen beiden Stationen zu messen. Unterdessen war der
Krieg zwischen Frankreich und Spanien ausgebrochen, und während
Arago ruhig seine Beobachtungen fortsetzte, verbreitete sich das Ge-
richt unter dem Volke, die Feuerzeichen und Signale der jungen
französischen Gelehrten hätten den Zweck, den Fe^ind herbeizurufen.
Die Majorcaner rotteten sich zusammen und bedrohten Arago mit
dem Tode. Dieser hatte kaum so viel Zeit, sich als Bauer zu ver-
kleiden und feine Papiere zu retten. Anerkannt gelang es ihm, dnrch
die aufrührerische Menge zu entkommen, und sich nach Palma zu flüch-
ten, wo er auf dem spanischen Schiffe Schutz fand, welches ihn nach
der Jnsel gebracht hatte. Die Gefahr feiner Lage wenig beachtend
und hauptsächlich um seine Instrumente besorgt, schickte er, um diese
zu retten, ein Boot und Soldaten nach Galatzo ab. Die Landleute,
welche er als Führer gemiethet hatte, und denen er sie anvertraut,
hatten den Schatz sorgfältig bewahrt, und stellten ihn ihm unversehrt
wieder zurück. Unterdeß war die Gefahr immer dringender, die auf-
rührerische Menge näherte sich Palma, und dex Capitain des Schiffes,
welchex nicht wagte, den Franzosen offen zu vertheidigen, brachte ihn
nach der Citadelle von Belvex, wo ex mehrexe Monate lang in sei-
nen Berechnungen vertieft blieb, während fanatische Mönche täglich
versuchten, die Wachen zu bestechen, daß sie den Gesangenen der
Wuth des Volkes überliefern möchten. Endlich erhielt Axago durch
die ausdauernden Bemühungen seines Begleiters Rodriguez bei der
Junta, seine Freiheit und die Eilaubniß, nach Algier abzureiseU, wo-
hiU er sich mit seinen Instrumenten und Papieren, von einem einzig
gen Matrosen begleitet, auf einem Fischerboot einschiffte.
Hier wurde Arago von dem französischen Consul aufgenommen,
welcher ihn auf eine algierische Fregatte brachte. Schon erblickten
sie die Küsten Frankreichs, als ein spanischer Korsar sie angriff und
nahm. Arago war zum zweiten Male Gefangener, wurde nach dem
Fort Rosas gebracht und hatte auf den Pontons von Palamos alle
Leiden der Gefangenschaft auszustehen. Unterdessen hatte der Dey,
als er die Verletzung seiner Flagge erfuhr, darauf gedrungen, daß
die ganze Equipage in Freiheit gesetzt werde, und man gab endlich
seinen Forderungen Gehör. Der junge Gelehrte schifft sich von Neuem
nach Marseille ein und glaubt jetzt, am Ende seiner Leiden zu sein.
Aber ein fürchterlicher Nordoststurm überfällt das Schiff und wirft
es an die sardinische Küste. Hier droht den Passagieren eine neue
Gefahr. Sardinien und Algier waren damals im Krieg mit einander
begriffen. Landen hieß sich freiwillig in eine neue Gefangenschaft
begeben. Um das Unglück ihrer Lage noch zu vergrößern, hat das
Schiff einen beträchtlichen Leck. Endlich entschließt man sich, zu ver-.
suchen, die afrikanische Küste zu gewinnen und das Schiff erreicht
noch zur rechten Zeit, dem Sinken nahe und entmastet, den Hafen
von Bugia, drei Tagereisen von Algier.
Hier erfährt Arago, daß der Dey, der ihn so gut empfangen
hatte, in einem Aufstand getödtet worden sei; die Barbaresken durch-
suchen das Schiff und bemächtigen sich der Kisten, in welchen seine
Instrumente aufbewahrt sind, in der Meinung, Geld darin zu fin-
den. Nach vergeblichen Reclamationen entschließt sich der unglück-
liche Reisende, nach Algier zu gehen, um den Schutz des Deys in
Anspruch zu nehmen. Er verkleidet sich als Beduine und übersteigt
von einem Marabout begleitet, zu Fuß den Atlas. Der neue Dey
aber, weit entfernt, auf die Reclamationen des Franzosen Rücksicht
zu nehmen, läßt ihn auf die Liste der Sklaven eintragen und benutzt
ihn als Dolmetscher.
Die dringenden Verwendungen des Consuls verschaffen Arago
endlich die Freiheit und seine Instrumente wieder, und er reist zum
dritten Male, diesmal mit einem Kriegsschiff, nach Marseille ab.
Aber ein anderes Hinderniß legt sich der Vollendung seiner Reise
jetzt in den Weg. Eine englische Fregatte versperrt den Eingang
in den Hasen von Marseille und will das französische Schiff zwin-
gen, sich nach Minorca zu begeben. Der Capitain aber, ermuntert
durch Arago, der die Aussicht auf eine neue Gefangenschaft nicht
tröstlich fand, stellt sich zwar, als wolle er dem Befehl gehorchen,
wendet aber plötzlich und fährt, einen günstigen Wind benutzend,
mit vollen Segeln in den Hafen von Marseille.
Um den jungen und unerschrockenen Gelehrten für seine Beob¬
achtungen und für die dabei erlittenen Mühseligkeiten zu belohnen,
sieht die Akademie der Wissenschaften von ihren Statuten ab und
nimmt den dreiundzwanzigjährigcn Arago in ihre Mitte auf. Der
Kaiser ernennt ihn zum Professor an der polytechnischen Schule, wo
er bis 18Z1 Vorlesungen über Analyse und Geodesie gehalten hat.
Es wird hier der geeignete Ort sein, einen Ueberblick der man-
nichfaltigen Arbeiten Arago'S zu geben, wobei wir uns jedoch blos
an das Allgemeine halten werden.
Die cracker Wissenschaften finden, wie alle Seiten menschlicher
Erkenntniß, zweierlei Arten von Bearbeitern. Die Einen, unermüd-
liche Forscher nach Problemen, steigen in die Tiefen des Abgrundes,
um das rohe Metall zu gewinnen, d. h. die geheimnißvollen Gesetze
der Welt in der Gestalt von abstracten Formeln; die Andern, von
weniger kräftigem Geiste, aber vielleicht scharfsinniger, bemächtigen
sich dieser Formeln, drehen und wenden sie, unterwerfen sie dem rei¬
nigenden und belebenden Einfluß der Analyse und machen sie zur
praktischen Anwendung geschmeidig. Jene nennen wir, um ein Gleich¬
nis; aus den technischen Künsten zu gebrauchen, die Bauleute, diese
die Schmiede. Uns scheint es, daß Arago mehr unter die Letzteren
gehöre; denn seine Arbeiten sind mehr großartige und fruchtbare An¬
wendungen, als neue Entdeckungen, mit Ausnahme der Entdeckung
des sich durch Rotation entwickelnden Magnetismus, deren Verdienst
man dadurch hat verkleinern wollen, daß man sie dem Zufall zu¬
schrieb, als ob es nicht auch ein Zufall gewesen wäre, der Newton in
einem fallenden Apfel die Gesetze der Gravitation entdecken ließ.
Wir können hier nicht Arago'S Verdienste um die Erfindung
der sinnreichen Instrumente, bestimmt, mit der möglichsten Genauig¬
keit die Durchmesser der Planeten zu bestimmen, und die durch die
Irradiation (die Abirrung der Strahlen leichtendcr Körper) entste¬
henden Irrthümer zu berichtigen, im Einzelnen aufzählen. Wir müssen
auch Arago'S Arbeiten über die Strahlenbrechung in der feuchten
und der trocknen Lust, über das Funkeln und die Schnelligkeit der
Sternenstrahlen, und viele andere schätzbare Arbeiten, die in dem
Journal dK Instituts und verschiedenen anderen wissenschaftlichen
Werken zerstreut sind, mit Stillschweigen übergehen.
Die Physik und vorzugsweise die Optik beschäftigt am meisten
Arago'S dirrchdringenden und forschenden Geist. ES ist bekannt,
wie eifrig sich von jeher die Gelehrten mit den Theorien des Sehens
beschäftigt haben. Seit Newton hatte das System der Emission ge¬
herrscht, trotz der Bestrebungen von Decartes, Euler und Andern,
welche die Theorie der Undulation vertheidigten, und man betrachtete
im Allgemeinen das Gefühl des Sehens als das Product der di¬
rekten Einwirkung der von einem leuchtenden Körper ausgehenden
Lichtstrahlen. Als aber Malus bei der Beobachtung der Verände¬
rungen, welche das Licht bei seinem Durchgang durch einen crystalli-
strten Körper erleidet, die Polarisation des Lichtes entdeckte, kam man
auf Erscheinungen, welche die Theorie der Emission widerlegten, und
die der Undulation wieder zu Ehren brachten und mit neuen Bewei¬
sen verstärkten. Letztere Theorie besteht in der Annahme, daß das
Gefühl des Sehens nicht durch eine directe Einwirkung der Strahlen
auf das Auge entstehe, sondern durch die Erschütterung eines seinen
Fluidums, des Aethers, welche den leuchtenden Körper umgibt, und
von diesem durch fortwährende Vibrationen in Bewegung gesetzt wird,
welche dann auf das Auge wirken, wie die erschütterte Luft auf
das Ohr. Arago war einer von denen, die das neue System mit
dem größten Eifer vertheidigten; er stellte zahlreiche Untersuchungen
an, um eS durch neue Beweise zu bestätigen; er veröffentlichte zu
demselben Zweck eine Denkschrift von hohem Interesse, auf deren
zweiten Theil die gelehrte Welt leider seit dreißig Jahren vergeblich
wartet, und bestand zahlreiche Kämpfe, die nicht immer sehr höflich
geführt wurden, mit seinem Kollegen Biot, dein Vertheidiger der
Emisstonstheoric. Doch ist die Undulallonötheorie bis jetzt, in Er¬
wartung eines Besseren, Siegerin geblieben.
Um dieselbe Zeit wurde Arago bei seinen optischen Untersu¬
chungen auf Beobachtungen der eigenthümlichen Eigenschaften des
Turmalins geführt, welcher die durch ihn gehenden Lichtstrahlen in
zwei Theile theilt. Arago bemerkte, daß wenn die hindurchfallenden
Strahlen von einem festen Körper ausgingen, sie sich auch nach der
Theilung nicht veränderten; gehen sie jedoch von einem gasigen Kör¬
per aus, so brechen sie sich, indem sie durch den Turmalin gehen,
in zwei verschiedenen Farben. Indem Arago nun auch die Strah¬
len der Himmelskörper der Prüfung durch den Turmalin unterwarf,
wurde er auf den Schluß geleitet, daß die Sonne Nichts sei, als
eine große, im Raume schwebende Ansammlung von Gas. Wenn
sich diese Entdeckung bestätigt, begreift man leicht, von welcher wich¬
tigen Folge sie für die Wissenschaft sein muß.
urdr
eeenunvelenanderen Arbeiten,deaemeroe
weniger in das Gebiet der Optik gehören, hat Arago mit zahlreichen
Versuchen über die Gesetze der Magnetisirung des Stahles durch
Elektricität, über den Magnetismus überhaupt, und über die Störun¬
gen der Magnetnadel sich beschäftigt. Die zahlreichen und gefahr¬
vollen Beobachtungen über,die Elektricität des Dampfes bei sehr
hohen Spannungen, so wie verschiedene Arbeiten in den ^um-Ach
l^suiuii et 6e (^lemiv, die er gemeinschaftlich mit seinem ge¬
lehrten Freunde Gay-Lussac gegründet hat, erwähnen wir ebenfalls
hier blos im Vorbeigehen, und wenden uns lieber zu einer Seite
seiner Thätigkeit, die mehr in dem Bereiche unserer Beurtheilungs¬
fähigkeit liegt. Wir meinen die interessanten Aufsätze die Arago
jährlich in dem ^»nu-ärv des I^miAkuävs mittheilt; die Gedächt¬
nisreden über verschiedene französische und ausländische Gelehrte,
die er als beständiger Secretär der Academie der Wissenschaften zu
halten hat; seine Vorlesungen am ^bsvrvittoire, die so glänzend und
besucht sind, aber leider so selten geworden sind.
Das ^inilliiilv wird in anEuroaeleen und '
gzpg,Arago6
Beiträge über den Blitz, den Dampf, und die verwickeltsten Fragen
der Astronomie haben diesem Werke eine außerordentliche Populari¬
tät verschafft. Die Vorlesungen im OliLerv-ttciirv besucht ganz Paris,
und es ist nicht die kleinste Eigenschaft eines Gelehrten, wenn man
von ihm mit Voltaire sagen kann: Der Uneingeweihte versteht ihn.
In den Gedächtnißreden hat sich allerdings Arago zuweilen,
durch politische Gefühle getrieben, zu Abschweifungen fortreißen lassen,
die nicht immer an ihrem Orte waren. Aber welcher Reiz der
Diction, welche Eleganz des Styles und des Gedankens findet sich
in diesen Reden, die eine so angenehme Abwechselung für den Unglücklichen
sind, welcher zu der trockenen und schwer verdaulichen Kost der wis¬
senschaftlichen Prosa verdammt ist. Gibt es einen Gelehrten, welcher
in demselben Maße wie Arago die Kunst besäße, durch eine geist¬
reiche Behandlung die ermüdete Aufmerksamkeit des Publicums zu
fesseln und' ihm fast wider Willen ein lebhaftes Interesse an den
verwickeltsten wissenschaftlichen Fragen einzuflößen? Man denke nur
an die allerliebste Abhandlung über Hieroglyphen in der Gedachte
nißrede aufYoung. Wird der Leser nicht den Kopf schütteln, daß diese
beiden Worte, allerliebst und Hieroglyphen, jemals neben einander
stehen können? Und doch ist es hier oder niemals der Fall. Wenn
man diese drei oder vier Seiten der liebevollsten Darstellung liest,
wird man ganz erstaunt, ganz stolz, ganz glücklich, diese Gegenstände
von sprichwörtlicher Dunkelheit zu begreifen.
In unserem lieben Deutschland, wo es die transcendentalen
Wissenschaften unter ihrer Würde halten, ihre Heiligkeit durch lite-
rarisches und anekdotisches Beiwerk zu verletzen, wo die Wissenschaft
Alles füx sich selbst und Nichts für uns ist, hat man füx die Dar-
stellungsweise Arago's gewiß keinen Maßs^^^^ Die öffentlichen Sitzungen
des Instituts de France haben nur in Berlin ihres Gleichen. Nun
denke man sich aber eine solche öffentliche Sitzung, wo durch die
weit geöffneten Thüren des Instituts Schaaren seiner Herren und
Damen hereinströmen, und denke man sich, daß vor diesem eleganten
Publicum, welches nach Aufregung begierig ist und sich um Formeln
wenig kümmert, der berühmte beständige Secretär sich darauf beschränken
soll, zU dem zehnten Theil seines Publicums zu reden; daß er die
geschlossenen Augen und sich vor Langeweile verziehenden Lippen
ganz und gar vergessen soll. Hieße dies nicht sich selbst und dem
Auditorium, welche beide wünschen, sichg egenseitig zu verstehen, Tan-
talusqualen auferlegen, und ist ein solches Verlangen nicht zugleich
unlogisch und unmöglich?
Ich habe nur wenige Zeilen für den Staatsmann Arago übrig.
Arago wurde das erste Mal 183 I von der Stadt Perpignan
in die Kammer gewählt und hat sich hier mit seinen Freunden, Du-
pont de l'Eure und Laffitte unter das Banner der radicalen Partei
begeben; seit neun Jahren hat er sich hier durch eine fast beständige
Opposition gegen alle ministeriellen Maßregeln bemerklich gemacht.
Die oppositionelle Stellung Arago's hat das Nachtheilige, daß
sie die Kammern und das Land zuweilen verhindert, allen möglichen
Vortheil aus den Hilfsmitteln eines so reichen und ausgezeichneten
Geistes zu ziehen. Seine wichtigsten Reden, sein Bericht über die
Eisenbahnen, seine Rede gegen die classischen Studien und mehrere
andere, sind immer voU einer gewisseU Bitterkeit und Feindseligkeit
durchdrungen, welche einen großen Theil der Kammer verletzt und
ihn verhindert, in Ansichten einzugehen, welche, in anderer Schaale
dargeboten, durch ihre Tiefe, Klarheit und praktische Anwendbarkeit,
ihre Aufmerksamkeit fesseln würden. Auf der Rednerbühne wird Arago
durch seine natürlichen Gaben sehr begünstigt.. Seine Züge sind edel,
lebendig und ausdrucksvoll, seine Gesticulationen von südlicher Leben-
digkeit, seine Stimme klar und wohltönend. Er zeigt eine vielleicht
zu^ große Vorliebe für Sarkasmen, eine Waffe, die er jedoch mit
großer Kraft zu gebrauchen weiß. Im Ganzen möchte man fast
sagen, daß ihn seine Fehler ebenso sehr wie seine Vorzüge unter-
stützen. Wenn er weniger feurig wäre, würde er öfter überzeugen;
er würde weniger interessiren, wäre er gemäßigter.
Arago hat eine ziemliche Anzahl öffentlicher Aemter zuvereen;
die ihm jedoch fast alle angetragen oder durch Wahl zugetheilt wor-
den sind: - Arago ist beständigex Secretär der Academie der Wis-
senschaften, Arago ist Deputirter, Arago ist Vorsteher der Stern-
warte und des Längenbureaus, Arago ist Mitglied des obersten
Rathes der polytechnischen Schule , Arago ist Mitglied des Gene-
ral-Conseils der Seine und des Gesundheits -- Comites , . Arago
war oder ist Oberstex der Nationalgarde und endlich ist Arago
Bürger von Glasgow und Edinburg. Letztere Würde ist die einzige,
welche eine Sinecure ist. Seit einiger Zeit spricht man immer von
der angeborenen Indolenz Arago's. Wenn Arago, sagt man, keine
jener Hauptentdeckungen gemacht, keines jener Werke geschrieben hat,
welche jahrhunderte überleben und ihren Urheber unsterblich machen,
so ist sein Leichtsinn und seine Indolenz daran Schuld.'
Will der Leser wissen , was es mit der Indolenz Aragos für
eine Bewandtniß habe, so bitten wir ihn, nur die jungen, am Obser--
v.^^.torium angestellten Astronomen zu fragen. Sie werden ihm mit
Schrecken gestehen, daß noch kein menschliches Gehirn ungestraft eine
so es^^^ ^ unternommen hat, daß Arago Jeden für einen
Faullenzer hält, der nicht vierzehn Stunden täglich arbeitet, und daß
f^ur ihndie Tage, an denen er nicht länger arbeitet, Tage der Ruhe
sin I;^^^^^^^ ^ daß dieser schreckliche Mensch in der
Pol^ilk, der. ^Chemie, der Physik, der Mechanik, der Astronomie, der
natu^rges^^^^^^^ der Philosophie und der Literatur vollkommen zu
Hause ist, und daß er im Nothfall selbst Trauerspiele schreibt; daß
er In regelmäßigem Briefwechsel mit allen Gelehrten Europas steht,
G
daß er bei allen politischen, wissenschaftlichen und industriellen Comi-
tes der Welt ist; daß sein Cabinet täglich mit neuen zu beur-
theilenden Denkschriften, Plänen, mit zu unterstützenden Petitionen
angefüllt sind; daß Alles das regelmäßig von ihm besorgt wird,
um den nächsten Tag wieder von Neuem anzufangen; daß die Ne-
gierung, die Municipalität, die öffentlichen Anstalten und selbst die
Privatindustrie in ihm einen ebenso uneigennützigen wie thätigen
Rathgeber finden; daß seine Zeit Jedermann und jeder Sache gehört;
daß er jeder Zeit ein Auge aus die Angelegenheiten des Handels und
das andere aus die der Erde gerichtet hat, und daß er bei all die-
sen verschiedenartigen und so großen Aufwand und geistige Kraft
erfordernden Beschäftigungen doch nach Zeit findet, einer der lichens--
würdigsten und geistreichsten Gesellschafter. in den Pariser Satans
zu sein.
Sa ist das Leben Araga's - ein arbeitsames und thätiges,
abex abwechselnd und vielseitig. Der berühmte Astronom liebt lei-
denschaftlich den Ruhm; er liebt ihn nicht nur wie der Gelehrte, son-
dern auch wie der Dichter; er strebt nicht nur nach ausgewählten
und dauerndem, sondern auch nach populären und augenblicklichem
Ruhm. In seinem Eiser sucht er ihn in den verschiedensten und ent--
gegengesetztesten Regionen; er findet ihn in der Wissenschaft, in der
Literatur und in der Politik; er sucht ihn auf der Tribüne, mit der
Feder und mit dem Quadranten.
. Zu wiederholten Malen und von den competentesten Männern
ist schon die Klage geführt worden über die ungünstige und nach-
theilige Aufstellung der Gemälde in ihrem bekannten unpassenden Lo-
cale. Nicht allein, daß ein großer Theil jener herrlichen Schöpfun-
gen durch das widrige oder geringe Licht, das ihnen zu Theil wird'
dem Auge des Beschauers fast ganz entzogen wird, sondern es wirkt
auch die Oertlichkeit auf die Gemälde auf das schädlichste ein. In
Dresden wird zumeist mit Steinkohlen geheizt und das Galeriege-
bände steht mitten in der Stadt, gerade in der nächsten Nachbarschaft
desselben aber wohnen eine Menge Feuerarbeiter. Frevelhaft aber
dünkt es mich, die herrliche, .unschätzbare Sammlung der möglichen,
ja drohenden Gefahr auszusetzen, durch Feuer vernichtet zu werden.
Wie leicht kann in der Nachbarschaft Feuer ausbrechen, die Galerie
ergreifen und sie in Asche legen. Schon der Gedanke ist fürchterlich.
Wie sollte dex Verlust des Unschätzbaren ersetzt werden? Abex selbst
iedex materielle Ersatz wäre verloren. Es ist die Gemäldesammlung
nach gewöhnlicher Form auf acht Millionen Thaler tarirt worden -
keine Assecuranzgesellschaft übernimmt wegen ihres hohen Werthes
die Feuerversicherung. Warum geht die Regierung bei dieser Sache
nicht energischer zu Werke und setzt ihren, schon seit lange gestellten
Antrag zu einem neuen Museumsgebäude an einem gesicherten Orte
durch. Die Stadt selbst würde vielfach dabei gewinnen, sie würde
eine^ .ne^ne schöne Zierde erhalten, eine Menge M^ersehen würde dabei
beschäftigt werden und Unterhalt erlangen. Den Winter bleibt die
sarmmlun^^ wegen der unheizbaren Localität gänzlich geschlossen und
doch is^^ die Bildergalerie der. größte Schatz Dresdens ! Unser ge-
ma^ Baumeister Semper hat schon im Auftrag obs Ministeriums
mehrere Pläne zu einem Museum entworfen, von denen jeder die
freudige Anerkennung der Sachverständigen gefunden — aber leider
ist es bis jetzt nur bei den Plänen geblieben.
Glücklicher als mit dem Museum war man bekanntlich mit dein
Theater. Bei diesem ist man durchgedrungen und ist statt der frü¬
heren Räucherkammer ein stattliches Gebäude aufgeführt worden,
welches, ein Meisterstück Semper'ö, als eines der schönsten Theater
gilt. Daß die Intendanz das Mögliche thut, die hiesige Bühne im¬
mer mehr zu heben, geht schon daraus hervor, daß das Theater
fortwährend sehr besucht ist. Mißgriffe werden allerdings auch hier
begangen. Mit mehreren neuen Engagements hat man volle Ur¬
sache, unzufrieden zu sein; doch ist auch hier ihre gute Absicht nicht
zu verkennen gewesen und man weiß, wie leicht in solchen Fällen ein
Irrthum möglich ist 5). Es wurden mehrere Mitglieder der Truppe
der Madame Birch-Pfeiffer aus Zürich hierher engagirt; eS haben
sich dieselben aber alle als unzulänglich für die Anforderungen der
hiesigen Bühne erwiesen; und das mag wohl noch zum Glück den
Grund abgegeben haben, warum Madame Birch-Pfeiffer nicht selbst
noch, wie es früher verlautete, hier angestellt worden ist. Die Dres¬
dener Bühne nimmt jetzt unstreitbar einen bedeutenden Rang unter
den deutschen Theatern ein, in manchen Beziehungen wohl den ersten.
Das Schauspiel, vornehmlich aber das ConversationSstück, ist hier
ganz ausgezeichnet besetzt. Ich nenne nur Emil Devvient und neben
ihm einen talentvollen, mit guten Mitteln begabten jugendlichen
Schauspieler, Herrn Heese, der erst seit etwa einem halben Jahr en-
gagirt ist ; ferner die Herren Ports, Quanter und freilich unbedingt
den Komiker Räder, die graziöse Caroline Bauer, die schwärmerische
Bayer, die ernste Berg, Fräulein Allram als Sollbrette:c. Leider
aber fehlt es unserer Bühne, wie den meisten andern, an einem euch»
eigen Heldenspieler. Die Oper hat ganz außerordentliche Kräfte:
Tichatschek, mit seiner prachtvollen Stimme, die Baritonisten und
Bassisten Wächter, Mitterwurzcr und Dettmer, die Damen Gentiluomo
und Knete (Wüst), die Fräulein Thiele und Wächter. Madame
Schröder-Devrient ist von Ostern an wieder engagirt. Der vortrcff-
liebe Chor steht unter der Leitung des Chordirectors Fischer. Was
die hiesige Oper zu leisten vermag, sahen wir vor Allem bei der
Aufführung von Wagner's Rienzi, die nach des Komponisten neuer
Einrichtung nun wieder an einem Abend gegeben wird. Dieses
großartige Werk konnte wegen der Abwesenheit einiger Sänger wäh¬
rend deS Sommers nicht zur Aufführung gebracht werden; die Jn-
scenesetzung desselben erfordert außerordentliche Anstrengung. Endlich
wurde es gegeben und zwar dreimal in einer Woche bei überfülltem
Hause und mit wahrem Enthusiasmus aufgenommen. Es ist ein
deutscher Komponist. Die Oper Rienzi kann in der durchaus neuen
Bahn, welche der Komponist mit ihr eröffnet, Einfluß auf die Kunst
ausüben. Die Oper hat sich bisher großen Theils in einer gewissen
Form bewegt, in welcher die Musik als solche sich auf Kosten des
dramatischen Elements geltend machte; der Tert erschien da als
Nebensache und von dem Komponisten nur in so weit zu berücksichtigen,
als er ihm Gelegenheit gab, seine musikalischen Ideen auszuführen;
auf die vom Drama bedingte fortschreitende Handlung und Bewe¬
gung wurde dabei wenig gesehen. Wir wissen, wie Arien, Duetts,
Terzetts, Chöre?c. oft in entscheidenden Momenten hemmend und
störend, ganz gegen die eigentliche Natur des Dramas, gegeben
werden; darin zeichnen sich besonders die Italiener aus. Die Musik
hat so in der Uebermacht, die sie durch das Gefühl über die Dent-
und Thatkraft erhalten, einen entnervenden und verweichlichenden
Einfluß ausgeübt. Man denke ein Italien. Jetzt tritt ein deutscher
Komponist, ein Dichter auf mit genialer Begabung, der uns eine
Oper gibt, die ein wirkliches, echt künstlerisches Drama ist: die Musik
tritt nicht hemmend auf gegen den dramatischen Gedanken, gegen die
dramatische Handlung, sondern weiß sich so innig mit denselben zu
vereinigen, daß sie ihnen nur noch eine erhöhtere Bedeutung, ein
reicheres Leben verleiht. Die verschiedenen Gesangstücke sind ganz
naturgemäß gehalten; alle, Arien und Chöre wirken stets auf den
Fortschritt der Handlung hin. Ganz besonders eigenthümlich aber
ist drescr Oper Rienzi, daß das bewegte wandelbare Volk, der Chor,
wirklich mlthandelnde dramatische Person ist, und hierin zeigt sich
eine besondere Kraft des musikalischen Dramas, dem recitirendcn
gegenüber; in letzterem können nur einzelne Personen den Willen,
den Ausdruck der Masse bezeichnen und kundgeben; das Volk gibt
uns da seine Repräsentanten, es kann nicht durch sich selbst auftre,
ten und handeln; im musikalischen Drama aber, wie es Wagner
geschaffen, tritt das Volk als solches auf; die verschiedenen dasselbe
bewegenden Elemente kommen zum massenhaften Ausdruck und hier
zeigt sich die Musik in ihrer Macht und Bedeutung, das wilde Durch¬
einander des Volkslebens, das wirre Geschrei bringt sie zu harmoni¬
scher Erscheinung. Das Drama der Alten mit seinen Chören mag
eine ähnliche Tendenz gehabt haben; nur ist unser neuer Dichter
und Komponist einen mächtigen Schritt weiter gegangen, indem er
das Volk mithandelnd austreten läßt. Hochtragisch ist der Gedanke,
daß Rienzi, dessen ganzes Sinnen und Trachten auf die Erhebung
des Volkes geht, dem eS gelingt, dieses Volk seinem großen Gedanken»
stolze nachzureißcn, der Laune dieser wandelbaren Masse fällt. Ab-
zuläugncn ist nicht, daß das Wagner'sche Werk auch manche Mängel
hat und diese Mängel bestehen zumeist in einem zu großen Reich¬
thum, es weiß der geniale Komponist nicht hauszuhalten mit seinen
reichen Schätzen, er wirst sie zu verschwenderisch um sich. ES ist
kein Richtpunkt in der ganzen Oper, man wird immerwährend durch
großartige Handlung und gewaltige Tonmassen bewegt. Die In¬
strumentalmusik tritt oft zu mächtig gegen die Sänger auf. — Näch¬
stens wird ein neues Lustspiel von Gustow „Schwert und Zopf"
hier gegeben werden, in welchem Wilhelm I. von Preußen mithan-
delnde Person ist; es soll von vorzüglicher Wirksamkeit sein, wie man
hört. Wir haben die Hoffnung, daß Gutzkow Anfangs dieses
Jahres hierher kommen und vielleicht länger hier verweilen wird.
Wegen der Gemäldegalerie und wegen mancher anderer gün¬
stigen Verhältnisse war Dresden ganz der Ort dazu, in der neueren
Malerkunst eine hohe Bedeutung, gleich München, zu gewinnen; wohl
sind tüchtige Kräfte hier, noch wage ich aber nicht zu entscheiden, ob
die Düsseldorfer Schule, die hier einige ihrer vorzüglichsten Reprä
sentanten hat, und in der letzten Zeit sich vorzüglich geltend zu machen
wußte, für die hiesigen Kunstverhältnisse von der günstigen Wirkung
ist, die man von ihr erwartet hat. Doch kann eS mir nicht einfalle»,
die Leistungen eines Bendemann und eines Hühner herabzusetzen:
ich erkenne sie in ihrem vollen Werthe, in ihrer tiefcmpfundnien
poetischen Haltung an. Bendemann ziert den Krönungssaal des
hiesigen Schlosses mit Fresken, die zum Gegenstand das menschliche
Leben und seine Thätigkeit, von einem gesetzlichen Zustande geregelt,
haben; sie zeigen in ihrer Ausführung eine eben so poetische und
sinnvolle, als würdige und edle Auffassung. Die jungen Maler in
Bendemann'ö Atelier können zu großen Erwartungen berechtigen.
Netz, der eben damit beschäftigt ist, eine Szene aus dem Bauern¬
kriege für den Halberstädter Kunstverein zu malen, — Helfenstein
wird von den Bauern aus seiner Burg fortgeschleppt — ein Bild,
das sich durch Kraft des Allsdrucks und schöne Charakteristik aus¬
zeichnet; Fröhlich und D en n e, der wahrhaft geniale Anlagen hat,
und dessen Skizzen namentlich voll Poesie sind; er hat eben die kleine
Mär^nerzählerin im Bilde vollcnvet, das in seiner reizenden Er¬
findung den freudigsten Eindruck auf den Beschauer macht. Der
dritte ist Schur ig, der eben an einem historischen Bilde, Siegfried
und Chrie!ahnte, malt. Von Hübner'S Schülern ist nur der talent-
volle Aker. v. Weber, ein Sohn deS berühmten Komponisten, bekannt/
Seit einiger Zeit ist auch Gönne, ein geborner Dresdener, von Ber¬
lin wieder hergezogen; dieser junge Mann hatte eine Räubcrszcne
auf der letzten Kunstausstellung gegeben, die durch meisterhafte Con¬
ception und Ausführung ihm schnell einen Namen gemacht hat; Ken-
ner lassen dieses Gemälde als eines der ersten unserer Zeit
gelten. — Dresden kann sich rühmen, zwei der allsgezeichnetsten pla¬
stischen Künstler zu besitzen, die Bildhauer Rietschel und Hähnel;
über die Werke Beider, namentlich über den BckehrungSzug und den
Beethoven des Letzteren ist jedoch in neuerer Zeit so viel die Rede
gewesen, daß ich mich nicht versucht fühlen kaun, darüber hier noch
ein Weiteres zu sagen. Professor Rietschel hat das Modell zu einer
vom landwirthschaftlichen Verein für Leipzig bestimmten Statue Thaer'6
gefertigt, doch kommt die Statue vor der Hand noch nicht zur Aus¬
führung, da das nöthige Geld dazu noch nicht ganz zusammengekommen
ist. Hähnel ist eben mit Ausführung der zu der Beethoven-Statue
gehörigen Basreliefs beschäftigt und soll ebenfalls wieder fremdwärtS
her einen großen, ihn sehr ehrenden «euer Auftrag erhalten haben.
— Professor Semper, der Erbauer unseres Theaters und der Syna¬
goge, ist hier in neuerer Zeit für seine Kräfte nicht angemessen und
genügend beschäftigt worden; sein neuestes Werk ist der gothische
Brunnen auf dem PostPlatz, der unserer an öffentlichen Denkmälern
nicht eben sehr reichen Stadt zur vorzüglichen Zierde gereicht. Jetzt
ist er von hier abwesend, da er einige größere Austrage im Auslande
erhalten hat, namentlich vom Großherzog von Mecklenburg-Strelitz,
dem er ein Schloß im gothischen Styl aufführen soll. Für Dresden
aber würde der Verlust unersetzlich sein, wenn Semper sich versucht
fühlen sollte, seine hiesige Stellung als Director der Bauschule auf¬
zugeben und von hier fortzuziehen; darum wäre es sehr zu wünschen,
daß der Bau des Museums zu Stande käme, der ihn in eine grö¬
ßere Thätigkeit versetzte. Der Hofbaumcistcr von Wolframsdorf hat
durch seine Bauten auf der Terrasse eben kein erfreuliches Zeichen
seiner architektonischen Geschicklichkeit gegeben. — Die nachbildenden
Künste sind hier ganz vorzüglich repräsentirt; von den Kupferstechern
nenne ich Seelilie, Thäter und Richter. Der erstgenannte hat einige
Werke geliefert, die zu den gelungensten Grabstichelarbeiten der Neu¬
zeit gehören, unter ihnen ist am meisten bekannt geworden die Hol-
beinsche Madonna; jetzt arbeitet er an der Sirtinischen Madonna
Raphael's und nach den Anlagen verspricht dieses eines der herr¬
lichsten Werke der Kupferstechkunst zu werden; es sind darum auch
eine Masse Bestellungen darauf bereits eingetroffen. Thäter sticht
im Auftrag des Münchener Kunstvereins den Einzug Friedrich Bar¬
barossa's in Venedig nach Schmorr's großem Carton. Auf eigene
Rechnung hat er die Karstenssche Zeichnung „Charon" gestochen
und herausgegeben; ein Blatt, das von den tüchtigsten Intentionen
des Künstlers zeigt. Wir rühmen uns, den ersten Lithographen
Deutschlands, Franz Hanfstängl, zu haben. Die Wirksamkeit dieses
Mannes ist wahrhaft bewunderungswürdig. Sein großes Werk
„die Dresdener Gemäldegalerie" ist bereits im 34. Hefte (welches
„den Herzog Sforza von Mailand" von Leonardo da Vinci, wie es
im Kataloge der Galerie heißt, enthält: doch ist es nach dem Ur¬
theil der Kenner ein Holbein aus dessen schönster Zeit; ferner „die
heilige Magdalena von Fr. Gessi und eine niederländische Bauern¬
hochzeit von D. Teniers) ausgegeben und naht seiner Vollendung,
denn das Ganze ist auf 40 Hefte berechnet. Wohl sind diese Co-
pien in der künstlichen Ausführung zu rühmen, wohl muß man
die Consequenz und Ausdauer eines Mannes bewundern, mit der
er sich an ein so gewaltiges Werk gewagt hat und in so würdiger
Weise zu Ende bringt. Doch ist das Verdienst Hanfstängl's darum
noch höher anzuschlagen, daß er künftigen Zeiten durch seine gelun^
gelten Copien die herrlichen Kunstwerke schöner Kunstepochen erhält
die in ihrer jetzigen Ausstellung dem Untergange entgegengehen. Es
ist das kein übertriebenes Wort, andere und weit vorzüglichere Män¬
ner wie ich und große Kenner haben diesen Ausspruch schon gethan.
Hanfstängl's Gemäldegalerie geht vorzüglich nach England, Frank¬
reich, Nordamerika, auch nach Südamerika und Asien werden mehrere
Eremplare versendet. Die Verdienste des edlen Künstlers finden
ihre Anerkennung; mehrere Fürsten haben sich beeifert, ihm Auszeich¬
nungen zukommen zu lassen. Dabei ist zu bewundern, daß er, eines
Bauern Sohn aus den baierischen Hochlanden, durch eigenen Drang
und eigenes Verdienst sich eine so bedeutende Stellung erworben
hat und bei vieler Sitteneinfachheit doch wieder einen Lebenstakt
und eine liebenswürdige Gewandtheit zeigt, wie man sie selten unter
Künstlern findet. Hanfstängl ist auch als Mensch eine ganz unge¬
wöhnliche Erscheinung.
Bon den neuerenProductioncn hiesiger Schriftsteller ist zu nennen
Ernst von Brünnow's „Ulrich Hütten", eine recht erfreuliche, das
edelste Wollen bekundende Schilderung jenes Mannes und der Refor-
mationszeit; ferner des Bibliothekars Klemm Culturgeschichte, von
der zwei Bände bereits erschienen sind, und die Schilderung Göthe's
von Carus, die so große Theilnahme gefunden hat, daß sie jetzt
bereits in der zweiten Auflage gedruckt wird. Die Abendzeitung unter
Schwieder's Leitung, bringt manches Gute; sie bespricht das Dres¬
dener Theater mit einem Freimuth und einer kritischen Schärfe, die
anzuerkennen wären, wenn nicht eine zu große Tadelsucht darin
herrschte; bei einer größeren-'Mäßigung würden die Kritiken, denen
Sachkenntniß durchaus nicht abzusprechen ist, auch noch eine tiefere
und bessere Wirkung haben; bis jetzt werden sie mehr gefürchtet, -i-)
Allgemein ist in Norddeutschland die Klage, daß aus Oester¬
reich, oder doch aus den Provinzen, Nichts als zahllose lyrische Bächlein
in die deutsche Literatur fallen; während dort wieder die Klage laut
wird, daß so wenig Sympathie diesem deutschen Gesang aus Böhmen
werde; vereinsamt, ohne den segnenden Sonnenschein des Ruhmes,
welke der deutsche Sänger im herbstkühlen, düsteren Schatten des
Slaventhums hin, den die alte Czechenstadt wirft. — Und doch ist
Böhmen so reich an Deutschen und deutscher Bildung. Und doch
fehlt es da nicht an gewaltigen Eindrücken, an großen Erinnerungen,
die ein Menschenleben zu erfüllen im Stande sind, auch nicht an
begabten Naturen und frischen Talenten, deren erstes Aufblühen in
heimischen Kreisen stets gerechte und begeisterte Hoffnungen weckt. —
Woher diese Klagen hüben und drüben, die beide gar wohl begrün¬
det find?
Betrachten wir den Lauf dieser zahllosen lyrischen Bächlein und
horchen wir ihrem Rauschen. Sind es die Wasser Babylons, an
deren Ufern die Trauerweide mit aufgehängten Harfen lehnt? Will
man vielleicht deshalb so wenig von ihrem Rauschen hören, weil sie
voll eintöniger Klage sind? Nein, sie rauschen eben gar nicht; es
sind stumme Gewässer mit glänzenden, glatten Wellen, die den blauen
Himmel und die romantischen Ufer zuweilen sehr malerisch abspiegeln ;
es sind oft gar keine Bäche, sondern künstlich gegrabene Kanäle der
Bildung, oder wenn sie wirklich dem Schooße der Natur entquollen
sind, so winden und stürzen sie sich, von Klippen und Wildniß ein¬
geengt, durch die Einsamkeit, erschöpfen ihre Kraft in kurzem Kampf
und finden nicht den Lauf durch die Berge zu einer großen Mündung.
— Lassen wir die Bilder, aber bleiben wir bei der Betrachtung der
deutschen Lyrik in Prag, nicht nur weil eine gedankenschwere und
fvrmleichte Prosa, diese späteste Frucht des reifen Geistes, in der
österreichischen Literatur überhaupt, folglich auch in der böhmischen
erst im Werden ist; sondern weil die Lyrik, als die ursprünglichste
poetische Regung, am sichersten verräth, weß Geistes Kind ein Volk,
welchem Boden und welchen Quellen sein tiefstes Leben entsprossen
sei. Man wird nicht verlangen, daß wir auf jedes einzelne Gedicht
in der „Libussa" besonders eingehen; doch gewiß wird der Unbefan-
gene nut uns darin übereinstimmen, daß trotz der geläufigen Gemüth¬
lichkeit Seidl's-i-), trotz Fränkl's und Braunthal's geschmack¬
voller Diction, trotz ver sinnigen und phantasievvllen Malerei Hans-
girg's, ja auch trotz der schönen Sonnette Ebert's, diese ganze
Fülle von Lyrik mehr Herbarium ist, als Blüthenhain. Die Blumen
mögen von schönster und zartester Form sein, aber sie find verdorrt,
ihr Duft ist gräberlich: sie regen sich nicht und rauschen nicht, denn
es fehlt auch der leiseste Hauch eines Volksgeistes in diesem stillen
Kunstgärten, mit einem Wort, es fehlt das Leben. Wir haben nicht
vergessen, in Anschlag zu bringen, was etwa auf die innere Armuth
zufälliger Mitarbeiter oder auf die gewöhnliche Entstehungsart von
Beiträgen zu einem wohlthätigen Zweck zu schieben sein mag. Auch
ist nicht Talentlosigkeit der hervorstechende Zug. Gewiß, eS werden
in Deutschland jährlich ganze Bibliotheken voll zehnmal talent- und
kunstloserer Lyrik gedruckt; wenn sich die „werdelustigen" Hallenser
oder die kritisirenden jungen Literaten Berlins zu einem lyrischen Al¬
manach zusammenthun, so wird bei Weitem weniger Geschmack, Bil¬
dung und äußere Formschönheit, aber selbst bei den rohesten Aus¬
wüchsen und dem schülerhaftesten Singsang mehr Naturlaut, Volksgeist
und Lebensgehalt an den Tag kommen. Hier dagegen, welche hoff¬
nungslose Schwindsüchtigkeit, welche Sehnsucht nach Stoff, welches
Schmachten nach einem poetischen Erlebniß blickt uns aus zierlich gehn-
beten Versen an! Glücklich diejenigen, die irgend einen harmlosen histori¬
schen Gegenstand gefunden; die es verstehen, alte Balladenstoffe um-
zuschmelzen oder deren Phantasie es gelingt, einen Wunderquell in
Arabien, in Hispanien zu entdecken! Die Anderen hängen sich ver¬
zweifelnd an einen Strohhalm, sie klammern sich an einen Mond¬
oder Abendsonnenstrahl, der wieder einmal auf eine Ruine fallt; sie
spinnen sich aus dem Wechsel der Jahreszeiten, aus der Wirkung
eines OelgemäldeS, aus dem Namen eines Dichters, aus einer
Glosse u. s. w., mühsam einen elegischen oder didaktischen Faden, um
aus dem vagen Labyrinth ihrer Gefühlssehnsucht zu einer bestimmten
Empfindung, um aus der leblosen Naturmalerei wenigstens zu einer
Pointe, zur glücklichen Variation eines alten Wiedersehens-, Unsterb¬
lichkeit-, Liebes- oder Grabgedankens zu kommen. Es ist be¬
zeichnend, daß man so selten ein eigentliches Lied oder ein liedartiges
Gedicht findet - Fricdr. Bach's melodische Verse machen darin
eine Ausnahme —; nicht daß ich den Werth eines lyrischen Gedich¬
tes grade von seiner Komponirbarkeit abhängig machen wollte, denn
das hängt nur zu oft blos von der äußeren Form ab: ich nenne
liedartig, was durch einen unmittelbaren Ausbruch des bewegten
Gemüths, durch die frei werdende Gewalt der Empfindung entsteht.
Bei den Prager Poeten aber ringen sich Gedanke und Empfindung
selten und schwer von der Last der Bilder los, an denen ihre Phan¬
tasie übrigens reich ist. Freilich wird der poetische Gedanke sich stets in
Bildern verkörpern: allein er muß nicht von ihnen erdrückt werden,
sie vielmehr beseelen und beherrschen und sich so frei in ihnen bewe¬
gen, wie ein feuriger und graziöser Menschengeist in den Gliedern
irdischer Schönheit. Sonst hat man hübsche Leichen geschaffen.
Und doch soll dies Alles weniger Tadel eines Fehlers, als
Klage über ein Unglück sein. Ich mag hier nicht die Ursachen die¬
ser Uebelstände näher auseinandersetzen; eS würde theils zu weit,
theils zu neuen Mißverständnissen sühren. Wenn ich das Kind beim
wahren Namen nenne und die Dinge angebe, wie sie einmal sind,
so könnte ich leicht wieder für einen versteckten Deutschfeind und Cze-
chomanen angesehen werden. Also nnr eine Andeutung. So viel
ist gewiß, daß die Hauptquelle dieser trübseligen Erscheinung in dem
Mangel ^n deutschem Volksleben besteht. Wie oft läßt dieser gebro¬
chene Gesang deutscher Poeten das dämmerige, innerlich getrübte
Geistesleben der halb Germanisirten errathen, die es nicht so weit
gebracht, deutsche Verse zu schreiben! Jhre Bildung ist eine angelernte
und selbst im besten Falle wird es ihnen kaum gelingen, die Jdeen
einer Welt, die sie nur aus Büchern kennen, mit ihren eingebornen
und angelebten Anschauungen und Gefühlen in rechten Einklang zu
setzen. Aus einem deutschen Schul-, Beamten- und Salonsleben
wächst noch kein deutsches Gedicht. Dies wäre freilich nur ein lite-
rarisches Unglück, wie Mancher lächelnd bemerken wird, - wenn es
nicht nothwendig auch andere, sehr wesentliche Entbehrungen voraus-
setzte. -Ich glaube, daß mancher von den Prager Poeten sich dieser
peinlichen Stellung nicht recht bewußt sein mag: fühlen aber wird er
sie, wenn auch nur dunkel, nicht wissend, was ^ und wo es ihm fehle.
Allein, abgesehen von jenen innerlich lähmenden und verwirrenden
Einflüssen, die ich nur andeuten wollte, gibt es auch mehx äußerliche
Trübsale, die sich gewiß Niemand verhehlen wird. Wie der deutsche
Poet dort mit seinen ursprünglichen Anschauungen nicht im deutschen
Volksleben wurzelt, so weiß auch kein deutsches Volk von ihm, hört
kein deutsches Volk van seiner Sehnsucht, ehe er etwa berühmt ist
und begraben. Ex ruft und kein Echa antwartet, die segensvolle
Rückwirkung der Gegenliebe fehlt und so erlischt ihm die Liebe, ^so
verrastet die Kraft, sa erblindet ihm der Zauberspiegel der paetischen
Ahnung. Sein Publicum ist eine kleine Elite van Gebildeten und
Dilettanten, die eben sa isolirt stehen, wie er. Nicht blos, um ihr
zeitliches Glück zu machen, verlassen so viel deutsche Poeten die böh-
mische Heimath und bauen ihr Nest sür immer in der Kaiserstadt:
sie suchen Deutschland in Wien.
Wer sich in diese Zustände hineindenken kann, wixd füx unsere
Prager Poeten ein doppelt mildes Urtheil haben und ihx tapferes
Streben um so höher schätzen; verehren aber wird ex ein Talent, wie
Egon Ebert, dem trotz so mannichfacher Ungunst seine Heimath
reizende und harmonievolle Schöpfungen verdankt. Ebert h^at nur
wenige Lieder gedichtet, seine Balladen und seine "Wlasta" jedoch
haben oft den festen und reinen Klang Uhland'scher. Epik. In sei-
nen neuesten Dichtungen hat er sogar eine seltene Eigenthümlichkeit
gewonnen. Ich weise namentlich aus das seelenvolle Gedicht, "Mi-
losch und Miliza" hin, das den vorigen Jahrgang der "Libussa"
ziert. Man wird in dem weichen Ton dieses Gedichts bei so gluth-
voller Färbung gewiß das speciell böhmische Element nicht ver-
kennen.
Ebert wird keine Ausnahme bleiben. Denn all jene Andeutun¬
gen sollten nicht etwa sagen, daß für die wahre deutsche Bildung keine
Aussichten im Czechenlande sind. Ich meine nur, daß sie dort keine
primitiven Quellen hat und daß ein Symptom davon die schwäch¬
liche und künstliche Lyrik ist, der wir in dem Präger Taschenbuch be-
gegnen. Um so mehr bedarf dieses Deutschthum, das so wenig na-
turwüchsig ist, der freien Lust, des ersehnten Zusammenhangs mit
dem Wirken des deutschen Geistes, damit ihm frische Kräfte zufließen
aus seiner ursprünglichen Heimath und den natürlichen, volksthüm-
lichen Boden, der ihm dort fehlt, durch die Schätze des Wissens und
den Glauben an deutsche Ideen ihm ersetzen. Daß es dahin kom¬
men muß und kommen wird, verräth sich schon jetzt durch leise Be¬
wegungen in der deutschen Literatur Böhmens. Dein: nicht vom
Osten, wie Manche wähnen, vom Westen vielmehr ist der Frühlings¬
hauch gekommen, der den scheintodten, verdorrten Ast des Czechen-
thumS plötzlich neue Blüthen treiben ließ. Es ist derselbe Geist der
Nationalität, der Treue gegen sich selbst, welcher Magyaren, Sla¬
ven und Deutsche aufregt zur friedlichen Schilderhebung für ihr in¬
nerstes Leben und dessen Zukunft. Diese Regung ist nur bis jetzt
mehr am Czechenthum bemerkt worden, weil sie von dieser Seite un¬
erwarteter und überraschender kam und weil sie nur zu sehr im Ge¬
wand politischer Phantasten auftrat. Sie scheint auch von deutscher
Seite nicht lange mehr ausbleiben zu wollen. Minder laute, aber
sichere Anzeichen sind vorhanden. —
Doch wir haben es hier blos mit literarischen Dingen zu thun. —
Leider enthält die „Libussa" diesmal keinen Beitrag von einigen jün-
gern böhmischen Talenten, an deren Namen sich bereits schöne Hoff¬
nungen knüpfen. Ich erwähne u. A. nur Alfred Meißner, Moritz
Hartmann, Isidor Heller u. s. w. In diesem jungen literari¬
schen Nachwuchs entwickeln sich Keime einer Kraft, die schon über den
engern provinciellen Horizont hinauszugehen und einst eine Geltung
in der „einigen und freien" Republik der deutschen Literatur zu ge¬
winnen verspricht. Ich schlage dgmit einige junge Talente nicht zu
hoch an; ich erwähne sie, weil sie bezeichnend find für die Richtung,
die der Fortschritt deutscher Literatur in Böhmen einschlägt. Hare-
m<an und Meißner sind sehr glückliche lyrische Talente. Auch sie
haben nie ein eigentliches Lied geschrieben, was man sonst nur den
Norddeutschen erlassen will. Singe, wem Gesang gegeben! sagt Ah»
land. ES wird jetzt in Deutschland überhaupt wenig gesungen,
wenn auch zu viel geschrieben; und hat doch selbst Grün, der heitere,
vorzugsweise österreichische Sänger vor lauter Gedankenarbeit nicht
den leichten Biedersinn' gewinnen können. Der Deutsche in Böhmen
gar muß sich sein Deutschthum erst erobern, und er fühlt, daß er
dies nicht durch längst abgeleierte Variationen und Modulationen
kann; daß er sich mit dem Jdecninhalt einer neuen Zeit zu erfüllen
suchen muß. Was diese beiden jungen Poeten vor dem großen Haufen
gebildeter Versmacher besonders auszeichnet, ist eine Tiefe der Reflexion,
die sonst in Oestreich für unerhört, wo nicht für unerlaubt ge¬
golten hätte. — Wir vermissen hier auch mit Bedauern den Na¬
men Jsidor Heller, der in einzelnen, in Journalen zerstreuten
Aufsätzen mehr Anlagen zu einem tüchtigen Prosaiker verräth, als
man sonst, nicht nur in der böhmischen, sondern in der österreichischen
Literatur überhaupt findet. Die österreichische Prosa neigt in der
Regel mehr zum Schwulst als zur Klarheit; Lyrik, Reflexion, Kritik,
Witz und Humor, dies Alles findet man oft bei dem talentvollsten
Prosaiker in unförmlicher, wüster Gährung begriffen, von keinem lei¬
tenden, vorwaltenden Gedanken beherrscht. In Heller's prosaischen
Aufsätzen fanden wir stets Grazie, Humor und Reichthum der An¬
schauungen, dabei eine gewisse Sicherheit und überlegene Entschie¬
denheit im Ausdruck.
Die „Libussa" hat das Ihrige gethan, um auch die böhmische Prosa
zu vertreten. Sie bringt mehr oder minder verunglückte historische und
sociale Novellen von Seidl, Marrheim und Seidlitz. Seltsam ist
daß diese Herren von der Feder in ihrer Prosa sämmtlich vor einem
— Maler zurückstehen, vor Führich, dessen Selbstbiographie nicht
nur in psychologischer und kunstgeschichtKcher Hinsicht von höchstem
Interesse, sondern auch als stylistische Arbeit beachtungswerth ist. Die edle
Ruhe, die klare Anschaulichkeit, bei lebendigster Bewegung, und das
glühende Colorit seiner Schilderungen verrathen überall den Künst¬
ler. Sonst führt uns diese Selbstbiographie einen der merkwürdig¬
sten modernen Malercharaktere vor. Ich zweifle sehr, ob Raphael
und Correggio so katholisch waren, wie es Führich ist; von neuern
Malern gar nicht zu reden. Der bildende Künstler neigt sich zwar
unwillkürlich, instinctmäßig dem katholischen Himmel zu, er stage aber
nicht viel nach dem Dogma, sein Glaube liegt in seiner Phantasie;
er sucht ihn nicht erst durch Bekämpfung des Skepticismus zu errin¬
gen und durch eine Absonderung von allen geistigen Genüssen einer
Welt, die für ihn denkt, sich zu bewahren. Wenn der Künstler sonst
Nichts von Speculationen der modernen Philosophie wissen will, so
geschieht es, weil ihm diese keine gereisten Früchte, keine anschaulichen
Resultate bieten kann; er läßt sich dagegen Alles gefallen, was da¬
von in das Leben Übergängen ist. Führich dagegen spricht sich mit
leidenschaftlicher Polemik gegen alle moderne Erscheinung, Richtung
und Steigung aus; diese Stimmung, die kein unkatholisches Gefühl
begreifen und für wahr halten kann, ist nicht aus naivem Künstler¬
sinn erwachsen. Führich gibt sich selbst als einen Schüler der Schle¬
gel, Stollbergs und Görres', in gewissem Sinne sogar als einen
„Geretteten" zu erkennen. Nach dem Urtheil von Kunstkennern ist
Führich, in seinen Werken, eins eigene Schule, die aber keine Jünger
hat. Seine Gemälde haben alle streng kirchlichen Charakter.
Auch „Rank" fehlt in diesem Jahrgange der „Libussa". Wir
haben das Buch „aus dem Böhmerwalde" und die „vier Brüder aus
dem Volke" in diesen Blättern schon besprochen gesehen; es wäre
daher überflüssig, hier darauf zurückzukommen. Nur CineS sei be¬
merkt. Wer nicht ganz blind ist, wird an ihm ein Etwas erkennen,
das sich nicht gut definiren läßt, das ihn aber von all den deutschen,
im Czechenland erwachsenen Poeten unterscheidet. Dieser Unterschied
liegt nicht blos in der besondern Art und Weise seines Talents, son¬
dern in seinem grunddeutschen Wesen, das von einern. ungetrübten,
rein nationalen Volksleben gepflegt worden ist. So sehr Rank in
seinem provinziellen Böhmerwald wurzelt, ist er doch smehr allgemein
deutsch, als jene, die erst auf dem Umwege kosmopolitischer Bildung
zu ihrem Deutschthum gelangen.
Wir haben noch Uffo Horn zu erwähnen, der ein Vorspiel
zu seiner Tragödie: „König Ottokar" unter dem Titel: „Die drei
Fürsten" mittheilt. Aus einem Vorspiel läßt sich nicht auf das
Drama schließen, doch zeigt Horn hier, wie in allen poetischen Ver¬
suchen, die wir von ihm kennen, viel Schwung der Diction, mehr
Glanz, als Wärme. Der Gegensatz zwischen dem trotzigen Ottokar
und dem bescheidenen Grafen Rudolph von Habsburg, der als Va¬
sall des Böhmenkönigs dessen Kreuzzug wider die heidnischen Preu¬
ßen mitmacht, ist glücklich gegeben. Patriotische Böhmen beklagen
sich oft über die Rolle, die Grillparzer in seiner Tragödie: „Ottokar's
Glück und Ende" ihren gefeierten Nationalhelden spielen läßt; allein
ich wüßte nicht, wie jener Gegensatz würdiger gezeichnet werden
konnte, als es eben von Grillparzer geschah. Und wir finden, daß
Uffo Horn, ein sehr patriotisch gesinnter Böhme, es hier durchaus
nicht anders macht.
So wären wir zu den Glanzpunkten der „Libussa" für 1844
gekommen; diese Glanzpunkte gehören aber zufällig nicht in eine Be¬
trachtung der „deutschen Literatur in Böhmen"; eS sind zwei aus
dem Slavischen übersetzte Dichtungen: die eine „Wratislatv" aus
dem Altböhmischen, die andere Karl Hynek Macha's „Mai" aus
dem Neuböhmischcn. Wir behalten uns vor, in einem besondern Ar¬
tikel auf Macha und seine Dichtung zurückzukommen, die in ihrer
Art ein Phänomen ist und zu neuen Betrachtungen über das Thema
vom Zwiespalt zwischen Czechenthum und Deutschthum Veranlas¬
sung gibt.
Die Leser werden sich wundern, einem so nnlitcrarischcn Namen
wie „Hans Jörgel" plötzlich zu begegnen; wie aber wird ihre Ver¬
wunderung erst wachsen, wenn sie hören, daß Haus Jörgel der Titel
eines Blattes ist, das zu den verbrcitctcstcn inOestcrrcichgchört, eines Blat¬
tes, das bereits seit zwölf Jahren erscheint, daS notorisch die freieste
Censur unter allen Wiener Blättern hat und das, obgleich es in öster¬
reichischem Volksdialekt geschrieben ist, dennoch über Dinge spricht, die
für ganz andere Ohren gehören, als für das Volk, eines
Blattes, das über Politik, Literatur, Kunst sein Votum abgibt, das alle
Stadtklatschcrcien in seinen Spalten behandelt n. s. w. — Wenn nun
unsere Leser ärgerlich darüber sind, ein so interessantes Blatt bisher
nicht gekannt zu haben, so müssen wir zum Troste derselben die Cha¬
rakteristik des Hans Jörgel vollenden. Herr Rechnungsrath Weiß,
so heißt der Herausgeber und Verfasser des Hans Jörgel, ist k. k.
„Blonder" (Beamter) und benutzt die Ccnsnrcnvcitcrung seines Volks¬
blattes dazu, die Augendienern auf eine auffallendere Weise zu treiben,
als es deu anderen wiener Journalrcdactorcn möglich ist; Herr Nech-
nungsrath Weiß ist ein geborner Slave und genirt sich daher nicht,
den österreichischen Volksdialekt, der in der Regel wegen seiner Treu¬
herzigkeit und Naivetät bekannt ist, in der gemeinsten Ausdrucksweise
zu nothzüchtigen. Das letzte Heft des Hans Jörgel enthält eine Po¬
lemik gegen Hoffmann und Campe und gegen die Wiener Buchhändler,
welche die im Auslande erscheinenden Schriften über Oesterreich Ver¬
schleiße». Der Ton dieser Polemik liefert einen interessanten Beitrag
zur Kenntuiß unserer Prcßverhältnisse, als daß ich mich enthalten
könnte, Ihnen einen Auszug aus der erwähnten Vhilippica einzusenden.
Hans Jörgel schreibt an seinen Schwager:
„gchwager?
„ES ivar hietzt eine Zeit, wo das liebe Deutschland außerordent¬
lich beflicßen war, Schmähschriften gegen unser Oesterreich und gegen
uns Oesterreicher in d'Welt z'schicken. Aber na, Deutschland kann da
irr dafür, eben so wenig als Hamburg, wo der vorzügliche Koch¬
kessel is, in dem die Hcrmbrüh, mit der's uns bespritzen, abg'rührt
und gesotten wird. I glaub', Hamburg hat uns Oesterreicher und
b'Sünders d'Wiener von einer bessern Seiten kennen g'lernt, als aus
diesen Büchern, denen man's auf 80 Meilen ansteht, daß's entweder
Hunger oder Gallsucht z'sammg'schrieb'n, der niedrigste Krämergeist
verlegt und dann solche Leut' verkauft hab'n. dö vom Ausland als
arme „Jungens" nach Wien trennen sein.^) Wann ein Familien¬
vater is, der irgend Ein'n in seine Familie ausnimmt, und so wie
seine eigenen Kinder behandelt, und dieser Mensch geht her und steckt
den Kindern Bücher zu um etliche Groschen, wo'S Hauswesen recht
hcrunterg'setzt, und sogar der Familienvater nit verschont wird, was
sagt man zu so ein'in'Menschen? — Schuft! dös wär der g'lindcstc
Ausdruck. Und den wirf i enk Allen aufm Hals, dö's in ein'in Staat,
wo'S auf ehrliche Art Tausende verdient's, weg'n etliche Gutt'n,
gegen diesen Staat selber Schmähschriften cinschmuggcltö. I möcht'
nur wissen, was denn so ein Buchhändler that, wann man auf ihn
und sein Hauswesen so eine Schmähschrift machet, und so in d'Welt
h'nauöschickct. Wie der glei zu alle G'richter rennet, wo er Schutz
suchet, was er für el» Spektakel machet. Aber wann ein nixnutzigcr
Vnrsch, den seine Lumpereien und seine Liederlichkeit forttreibt, was
zusammenschmiert, und da ein ganzes Volk heruntersetzt, Schändlich¬
keiten z'sammlügt, und Sachen beschreibt, dö er uit einmal dem Na¬
men nach kennt, dös verkauft er mit Scclcnvergnügeu, als ob ihn
diese etlichen Groschen vom Hungertod retteten. I hab' g'wiß gegen
Manches offen und unverhohlen meine Meinung ausg'sprochcn, is's.
angangcn, wem's will, dcßweg'n sag' i'S a eben so offen: Schuft
edliandlcr!
ersoBüchcrschcchh
Wie gefällt dem Leser diese Probe Hans Jörgel'scher Polemik?
Alles für's^Volk! Die Schrift über Oesterreich und seine Zukunft ist
ja nur von solchen Leuten gekauft und gelesen worden, die uur den
österreichischen Dialekt verstehen. Deswegen ist es ganz natürlich, daß
gerade Hans Jörgel dagegen loszieht. Ein „Schuft" in österreichischer
Mundart ist übrigens so etwas Gemüthliches, daß nur ein Hypochon¬
der darin eine Injurie sehen kann. Die Wiener Buchhändler werde»
sich überdies wohl hüte», den Haus Jörgel wegen dieser Injurie zu
Vom Herrn or. Schuselka in Wien ist der Redaction der Grenz-
boten folgendes Schreiben zugekommen?
Hochgeehrter Herr Redacteur und lieber Herr Landsmann! Der
Wiener Brief von Z. v. Z. in Ur. 47 Ihres geschätzten Blattes ent¬
hält in einer sehr freundlichen Mittheilung über mich einige sachliche
Unrichtigkeiten, die zwar bei der gänzlichen Zurückgezogenheit, in der
ich lebe, kaum zu vermeiden waren, aber berichtigt werden müssen,
weil sie auch fremde Personen und Verhältnisse berühren. Ich ersuche
Sie daher, folgenden Angaben ein Plätzchen zu gestatten: Ich bin nicht
zwei, sondern nur ein Jahr im nichtöstcrreichischcn Deutschland gewesen.
Ich bin keineswegs Advokat, sondern einfach Doktor des Rechts. Ich
lebe allerdings jetzt in Klosterneuburg, aber in eigener Wohnung
und mit eigener Haushaltung und keineswegs im Kloster, mit dessen
Prälaten, (einem bereits hoch betagten Manne, ehemaligem Professor
der Theologie, k. k. NegicrungSrathe und Director der Gymnasialstudic»
in Oesterreich), ich noch niemals in irgend eine Berührung gekommen
bin. Die löbliche Polizei fand bei mir weder politische Manuscripte,
noch Concepte von Artikeln für die Deutsche Allgemeine Zeitung,
sondern ich »bergab freiwillig die Exemplare meiner fünf politischen
Broschüren*) und Abdrücke von etwa 70 Artikeln in der Leipziger
Allgemeinen Zeitung und bekannte mit ruhigem Bewußtsein, daß ich
der Verfasser dieser, und nur dieser anonymen Schriften bin. Unter
den mir abgenommenen Briefen befanden sich allerdings zwei vom
Herrn or. G. Kolb, Redacteur der Augsburger Allgemeinen Zeitung,
allein sie haben mich durchaus nicht comprommittirt, sondern meiner
Sache wesentlich genutzt, indem sie Nichts enthalten, als eine überaus
freundliche Beurtheilung meiner Schrift: „Ist Oesterreich deutsch?"
und die Aufforderung, im loyalen Sinne dieser Schrift für die Allge¬
meine Zeitung zu schreiben"). Die volle Wahrheit sagt Ihr geehrter
Herr Korrespondent, da er behauptet, das Gerücht über Halm und Ent
sei nicht von mir ausgegangen, und ich danke ihm für die zuversicht¬
lich gute Meinung, die er von mir hegt. Ich erfuhr jenes Gerücht
in meiner ländlichen Einsamkeit erst, als schon alle Zeitungen davon
voll waren. Hierauf aber, das bekenne ich ohne Bedenken, fand ich
mich im Interesse der Ehre unserer Literatur aufgefordert, die Sache
ernsthaft zur Sprache zu bringen. Ich theilte daher unparteiisch die
ganze Thatsache des Verdachtes mit, der mit merkwürdiger Schnellig¬
keit sich in der That allgemein verbreitet hatte, und forderte im Na¬
men unsrer Nationalehre dringend auf, daß man, woher es nur mög¬
lich wäre, gründliche Beweise für oder wider, auftreiben und bekannt
machen möchte, damit dem Lebenden oder dem Todten sein Recht geschehe.
— Der so eben verstorbene Poet Casimir Dclavigne machte sein
Glück hauptsächlich durch Gelegenheitsgedichte. Stirn, unter dem Titel
Messcnicnncs berühmten drei Elegien erschienen kurz uach dem Augenblicke,
wo die alliirten Armeen ihren zweiten Einzug in Paris hielten. Damals,
wo das Nationalgefühl Frankreichs so tief gebeugt und verletzt war, erstand
ein dreiundzwanzigjähriger junger Mann, der in feurigen, kräftigen
Worten der Nation Muth zusprach und Blücher und Wellington
warnende Worte zurief, den Jammer eines besiegten Volkes nicht
durch Uebermuth zu erhöhen. Diese drei Messcnicuucs machten Dela-
vigne allsogleich zu einem Liebling Frankreichs. In seinen spätern
MesscnicnncS besang er Griechenland und Italien; in der Juliuswoche
dichtete er die Parisicmic, einige Monate später, während des polnischen
Aufstandes, die Varsvvicnne u. s. w. Seine Leier kam immer apro¬
pos u,,d die französische Nation ist für solche Dinge dankbarer als
die deutsche.
— Die Schriften über Juden-Emancipation und Nicht-Emanci¬
pation nehmen gar kein Ende. Wie kann mau über eine fertige Frage
"och so viel schreiben? In neuester Zeit hat sogar Herr Moriz Brühl
„Selbstbekenntnisse eines Katechumenen" herausgegeben, die er „dem
hochgestellten Priester am Rhein" gewidmet hat. Wir haben, Gott
sei Dank, diese Schrift nicht gelesen. Schon der Name des Verfassers
richte hi», uns abzuschrecken; in einer so hochwichtige» Sache dürfen
nur Männer von unbescholtenem Lebenswandel ihre Stimme erheben;
was will Herr -Moriz Brühl, dessen Name noch aus seinem vorjähri¬
gen Scandal, als er sich für Drechsler-Manfred ausgab und Dahl-
">ann Geld ablich? Wen will er bekehren, Christen oder Jude»?
Die Selbstbekenntnisse des Herrn Brühl können weder für ihn, noch
Mr den Leser erquicklich sein.
— Lustspiel in drei Acten nach dein Französischen von Börnstein
— Drama in zwei Acten frei nach dem Französischen von Castelli. —
Dabei versteht sich's von selbst, daß wir Deutschen die ehrlichste Nation
auf der Weit sind, die Franzosen aber sind lauter Windbeutel, Glücks¬
ritter und gewissenlose Menschen, gegen die wir keine Rücksicht zu ha¬
ben brauchen. Daß so ein Höllenbraten von Franzos sich die Mühe
nahm, ein allerliebstes zwei-, drciactigcs Stück zu erfinden — was
kümmert das uns? Wenn wir nur wissen, wer es übersetzt hat.
Der Name des Verfassers ist eine Nebensache. Mit gleicher gründlich
deutscher Ehrlichkeit verfährt eine große Berliner lithographische An¬
stalt. Ans allen Lithographien, die sie in die Welt versendet, könnt
ihr lesen: „lithograpHirt von Blau"; wer die Zeichnung ge¬
macht hat >- das ist pures Nebending. Dieser Horaz Vernet, dieser
Ingres, dieser Ary Scheffer, deren Bilder auf eine so pfiffige Art
nachgezeichnet und nachgedruckt werden, sind nur Franzosen, Lnmpcn-
volk, Mysteres de Paris, unmoralische Wälsche; die deutsche Nation
will Nichts wissen, als daß Herr Blau der Lithograph war. Rival die
deutsche Ehrlichkeit! Vivat Herr Börnstein! Herr Castelli! Herr Blau!
— Der italienische Tenorist Moriani, der jetzt in Dresden singt
und gegenüber von Tichatschck den Kürzeren zieht, reist mit großen
vornehmen Empfehlungsschreiben versehen. Wie alles Ausländische,
wird auch er vorzüglich von dem Adel beschützt. Eine hübsche Anek¬
dote trug sich in Prag zu. Die Zeitschrift Ost und West enthielt
eine Kritik, in welcher dieser Sänger mit unparteilicher Strenge be¬
sprochen wurde. Einige Tage darauf kam dem Redacteur Herrn Ru¬
dolf Glaser die indirecte Warnung von einigen hohen Adelige» zu,
daß wenn sein Blatt sich noch einmal derlei zu Schulden kommen
ließe, man das Abonnement desselben aufgeben würde. Schön!
— Nichts als Untersuchungen! Ueber den Königsberger Wa-
lesrode ist wegen seiner vor langer Zeit in Königsberg gehaltenen und
nachher veröffentlichten Vorlesungen eine Untersuchung verhängt; eben
so über einige Berliner Literaten, die im entfernten Verdacht stehen,
mit den Studenten vom Lescvcrein sympathisirt zu haben; in Leipzig
sind eben die Untersuchungen gegen eine Anzahl von Studenten be¬
endigt worden, die sich gemeinschaftlich „eine politische Bildung ver¬
schaffen wollten;" in Heidelberg sind verschiedene Pfeifcnqnastcn und
Bänder der Studenten in Untersuchung. J>, Deutschland werden die
politischen Untersuchungen bald etwas so Gewöhnliches sein, wie der
Schnupfen oder der Katzenjammer. Statt: „wie befinden Sie sich?
wird man fragen: wie geht's, sind Sie schon untersucht? Die ganze
neuere Geschichte Deutschlands, glaube ich, ist noch in Untersuchung;
darum geht sie so langsam vorwärts. Ernsthafter, obgleich nicht so
ärgerlich, ist die Untersuchung, welche die neapolitanische Regierung
aegcn den Aetna und seine schrecklichen Lavaauöströmungen einleitete.
Man sagt, die Untersuchungen hätten Nichts ergeben, obgleich sie
unpolitisch sind. Oder steht der Aetna vielleicht in unterirdischer Ver¬
bindung mit den Rebellen in der Romcigna?
— Der „Sommernachtstraum" ist ans der Leipziger Bühne
glücklich vom Stapel gelaufen: ohne zu mißfallen, ohne den Wunsch
nach öfterer Wiederholung rege zu machen. Die Masse des Publicums
hält sich an das Ballet — was sie im 02M „Wade" nennen — und es
gibt Leipziger Patrioten, welche triumphirend versichern, daß Fräulein
Günther ein besserer Puck sei, als die Berliner Hagn; das Urtheil der
Musiker ist sehr verschieden, obgleich sonst Mendelssohn's Name hier
immer durchdrang. Was soll man aber von der Theilnahme der Li¬
teraten sagen? Diese theilen sich in Literaten, welche Dramen schreiben,
und in Literaten, die keine Dramen schreiben. Erstere sahen die Aus¬
führung mit einem Lächeln des Mitleids an und berichteten ohne Bit¬
terkeit, mit großer Fassung darüber; letztere — mein Gott, soll man
.es sagen? — wird man es glauben? — letztere sind großentheils gar
nichl im Theater gewesen. Sie haben unterdessen mit Fanatismus
über O'Connell, über Hader, über den Dombau und den Zollverein
gesprochen. So weit ist es gekommen! Ein Kunstgenuß, nach dem
sich Tieck sein Leben lang sehnte, läßt diese Barbaren kalt, und das
wollen Musensöhne sei»! Sommernachtstraum! — ein Name, der
sonst an alle Wunder der Phantasie, an alles Entzücken der Begeiste¬
rung erinnerte, jetzt ruft er ein höhnisches Lächeln, saure Gesichter oder
ein Achselzucken hervor.
— öl. Boden in Frankfurt am Main hat nun, nachdem Jor¬
dan's Selbstvertheidigung erschienen ist, nachträglich zu seiner Kritik
deS Processes, einen juristischen Epilog herausgegeben, worin er die
Ueberzeugung ausspricht, daß der arme verfolgte Rechtslehrer gewiß vom
kurfürstlich hessischen OberavpcllaliouSgcricht werde freigesprochen wer¬
den. Endlich! Wir sind neugierig, ob Jordan seine Freisprechung
erleben wird. Gleichzeitig hört man, daß Wcidig'ö Proceß von dem
liberalen Criminalrichter Nollncr authentisch nach den Acten die er
von der Regierung erhalten hat, dargestellt werden soll. Wenn nur
die wichtigste» Aktenstücke nicht unterdessen abhanden gekommen sind.
— Wer da glaubt, unsere Zeit sei ohne Romantik und Wunder¬
lichkeit, der nehme sich einmal nur die Mühe, einen Hausen gleich¬
zeitiger Tagesneuigkeiten nuf's Gerathewohl neben einander zu stellen,
zum Beispiel:
— In der Schweiz hat eine Mutter ihrem achtjährigen Töchter-
kein durch siedendes Wasser und Peitschenhiebe den Teufel ausgetrieben.
Diese löbliche Cur grassirt jetzt in mehreren Cantonen.
— In einer norddeutschen Stadt besteht eine Gesellschaft von
gebildeten jungen Leuten, die sich vorgenommen haben, nicht an Gott
zu glauben.
— Zwei französische Industrieritter haben den Dey von Tunis
um I,3ol)Mi) Franken geprellt und fünf seiner Frauen entführt.
Revanche für die Secrciubercien, welche die frühern Devs gegen Frank¬
reich führte».
— Der türkische Ministerpräsident hat in einem leitenden Artikel
in dem französischen Journal de Smyrne die wohlwollenden Gesinnun¬
gen seines Herrn gegen Griechenland betheuern lassen.
— Ein jüdischer Edelmann hat sich mit einem spanischen Kava¬
lier auf Pistolen geschlagen und denselben erschossen.
— Zwölf ungarische Comitate haben auf dem Reichstag für die
Judenemancipation gestimmt.
— In Westphalen bereitet man Petitionen vor, um ein Gesetz
gegen die Fortpflanzung und Vermehrung der Juden.
— In der „Jagdzeitung" singt ein junger deutscher Adeliger:
„Mein erstes Schwein". Sonst besang man seine erste Liebe.
— Der Clavicrvirtuosc Lißt ist vom Fürsten von Hechingen zum
wirklichen Hofrath und Ritter eines Vogclordcns ernannt worden.
— Einem Gerücht zu Folge soll nun Luther, mit dem Titel:
Sprachverbessercr, doch in die Walhalla kommen u. s. w. u. s. w.
Wenn man diese Geschlchrcn etwas mehr anSmalte, durcheinander
würfelte und in Verbindung brächte, gäbe das nicht den prächtigsten
Stoff zu einem satyrisch-phantastisch-melodramatischen Zeitballet? —
— Auch die Russen haben uns ihre Neujahrsgratulation abge¬
stattet. Sie berichten nämlich selbst und offiziell, daß sie im Kau¬
kasus wieder eine Schlappe erlitten und 1600 Mann nebst 45, Offi¬
zieren verloren haben.
„Woran es den jetzt auftauchenden deutschen Dramatikern noch
fehlt?" — Sie stellen mir, verehrter Freund, diese Gewissensfrage
sehr naiv. Ich will versuchen, sie ebenso naiv zu beantworten. Das
heißt, ich will herumsuchen und anklopfen, wo sich der Jnstinct, das
Rechte zu finden, verräth oder sich ein Bewußtsein darüber ankündigt.
Und da werden Sie mich wohl vor Allem gleich auf Gutzkow
verweisen. Er nahm den ersten Anlauf, die Bühne literarisch zu er¬
obern. Sein Sturmdrang, seine gewaltige Schnellkraft hat ihm rasch
Bahn gebrochen. Seine Production ist fast so unermüdlich wie seine
Betriebsamkeit. Bei All dem ist er durch die Beschaffenheit seiner
Stücke noch nicht zum Bedürfniß der heutigen Bühnen geworden.
Wehe der deutschen Bühne! wenn er zurücktritt, wehe ihr! wenn er
sie aufgibt, das heißt, wenn er es aufgibt, mit ihr zu einem Ziele
zu gelangen. Aber er kann nicht mehr zurück, er hat zu Viel schon in
die Schanze geworfen, er muß über die Leichen vieler seiner Stücke
hinweg das Bollwerk ersteigen und die Mauerkrone erringen. Auch
lebt ein Etwas in ihm, das bedeutender ist als sein Schaffenstrieb,
als sein speculativer Arbcitsdrang. Sem Wissen ist mächtiger als
sein Talent. Ich meine nicht seine Bühnenkenntniß; in der Technik
und Praktik, in der Herbeiführung des Effectes zwischen Lampen und
Coulissen wird er noch lange vergebens mit der Birch-Pfeiffer um
die Palme ringen. Aber Gutzkow weiß immer, um was es sich han¬
delt. In allen Stoffen, in denen er sich von je seit dem Beginne
seiner literarischen Thätigkeit bewegte, wußte er, was und wo eS
fehlte. Dieser Spürsinn hat nicht gehindert, daß er oft genug weit
abirrte, in geschmacklose Seltsamkeiten gerieth; aber sein Talent, ob
es gleich um Vieles schwächer ist als sein scharfsinniges Wissen, wird
seiner Einsicht nacheilen, sein Ziel erreichen. Und was der poetischen
Begabung in ihm unmöglich bleiben wird, das wird schließlich die
Routine möglich machen.
„Also Gutzkow weiß, warum es sich bei der Wiederbelebung
des deutschen Dramas handelt? Und das müßte Geheimniß bleiben?
Ein Cabinetsgcheimniß der Schreibenden?"
Gutzkow spricht nicht über das, waB ihn leitet. Er baut Stück
auf Stück und will die Sache praktisch erledigen. Er haut nieder,
was ihn hindert, drückt die Augen zu und ist nur um seinen Special-
fall bekümmert. Er wird so viel erreichen, als die vereinzelte Energie
vermag, so viel oder so wenig, als der Streifzug eines Einzelnen
möglich macht. Lassen wir noch Geheimniß sein, was er in seiner
dramatischen Arbeitsamkeit als Geheimniß behandelt. Wenn er dau¬
ernde Wirkungen hinter sich sieht, wird er schon selbst sagen: Seht,
so muß ein modernes Drama beschaffen sein, so ist sein Styl, seine
Structur! Nicht die Charaktere machen es, nicht die Gewalt der
Wahrheiten, die im Stücke zum Ausspruch kommen, nicht der Tief¬
sinn der Seelenkunde, nicht die feine Auömeißelung der Gestalten,
selbst nicht die Neuheit der Erfindung, sondern — sondern —. Im
Nothfall wird er uns die Birch-Pfeiffersche Praktik wenigstens in
spekulativer Form vortragen. — Lassen Sie uns jedoch erst bei An¬
dern anfragen, ob wir an ihren Fehlern die Tendenz ihrer Dichtun¬
gen uns erklärlich machen können.
Laube verhandelt seine Tendenzen, seine Plane, seine Theorien
von der Nothwendigkeit einer besonderen Stylart sehr naiv und offen.
Seine Harmlosigkeit ist sogar blank genug, zu sagen, aus der Wie¬
derbelebung des deutschen Theaters könne Nichts werden, wenn die
dramatischen Autoren nicht mehr Geld verdienten. Diese schmerzliche
Offenbarung macht er mit ganz ruhigem Blute. Furchtbar, zerschmet¬
ternd ist diese Wahrheit, wenn sie eine ist. Aber wird diese Wahr¬
heit leitendes Princip, so könnte sie zu dem Entschluß der Verzweif¬
lung führen, vor der Hand eine Zeit lang zu birchpfeiffern, um nur
erst Fuß zu fassen, Raum zu gewinnen, und später — später — sehr
classisch edle Bestrebungen folgen zu lassen. Wer Credit gewonnen,
como <ju'U eoutk, hätte dann die Macht und das Publicum in
Händen. —
Ich spreche hier das Wort Birchpfeifferei aus und gebrauche
diese Kategorie wie ein Scheusal, wenigstens wie eine Vogelscheuche.
— Was heißt das, Birchpfeiffern ? fragt ein unschuldiger unter meinen
Lesern. — Birchpfeifferei ist unter den Stylarten des modernen deut¬
schen Dramas die Manier, eine Wurst so voll zu stopfen, daß man
in jedem Augenblicke mit Spannung ihrem Platzen entgegensieht;
Birchpfeifferei ist die Kunst, einen dicken dreibändigen Bulwerschen
Roman in einen einzigen Darm hineinzuquetschen und dem Zuschauer
dies Stück Arbeit bis auf den letzten Zipfel, wo das Qucrhölzchen
sitzt, in den Hals zu jagen, dergestalt, daß ihm mindestens der Athem,
wo nicht alle Sinne vergehen. Man nennt das stoffliches Interesse,
und dem wilden Handgemenge von That auf That, gleichviel ob
Schaudcrthat, ob Schandthat, bleibt der jubelnde Zuruf deutscher
Herzen gewiß. Daß das ganze Gewebe des Stoffes, bei Tageslicht
besehen, nur ein ganz nüchternes Rechncnerempel zwischen erbärm¬
lichen Bösewichtern und lendenlahmen Tugendhelden ist, das stört
für den Augenblick beim Lampenlichte nicht die Entzückung. — Doch
wozu Kindern bange machen! Die Furcht vor Gespenstern erweckt
ja erst den Reiz, welche zu sehen!
Doch Scherz bei Seite! Laube dringt beim Drama auf stoffli¬
ches Interesse. Und er ist Mann der Form genug, um nicht blos
das Was, sondern vorzugsweise das Wie, nicht den Stoff, sondern
den Gang des Stoffes, nicht die Fabel, sondern deren Faden und
dessen Fortführung in's Auge zu fassen. Laube hat sich in seinen
Vorstudien offen zur Schule Scribe's bekannt. Und der Franzose ist
Meister in der Intrigue des Dramas, er ist es in einer Weise, wie
kein Deutscher, kein Engländer. Bei All dem verrieth Monaldeschi
in seiner Anlage wenig von der Kunst der Franzosen, die bunte
Fülle mannichfacher Anknüpfungen zu einem Hauptknoten zu ver¬
schlingen. Der Stoff drängte hier recht eigentlich zu einem Jntri-
guenstück. Und der erste Act gibt uns eine Scene zwischen zwei
Nebenbuhlern im Ruhm und im Abenteuer, eine Scene zwischen
Monaldeschi und Santinelli, die den Wettkampf Beider anhebt, die
Interessen des Stoffes von dieser Seite richtig aufnimmt. Allein
das Thema verrückt sich, der Stoff fällt auseinander und selbst Chri¬
stine und ihr Günstling, die uns lediglich im Verlauf beschäftigen,
erleben in ihrem Verhalten zu einander nicht die Wendungen, die
einen stetigen Faden, einen Knoten, der sich schürzte und entwirrte,
noch zuließen. Das Jntriguenspiel zwischen König und Cavalier hätte
Scribe weit schärfer, entscheidender entfaltet und die dritte Figur dazu
nicht fallen lassen. — Laube hat in der Scriba'schen Kunst hier ei¬
nen Versuch gemacht, auf den gelungenere folgen werden. Vielleicht
ist Rokoko von dieser Art, ein Fortschritt in der Architectur des mo¬
dernen Dramas. Jedenfalls ist es interessant, zu wissen, wo das
Drama mit Laube hinauswill, sollten auch Irrwege nicht erspart
bleiben, die ihn von seinem eigenen Ziel noch wiederholt entfernten.
Möglich, daß für die Wiedergestaltung des deutschen Theaters erst
Styl und Technik aufgefunden werden muß, ehe die Nation mit ih¬
ren Ansprüchen auftritt und über sachlichen und geistigen Inhalt die¬
ser Versuche eine Frage auswirft, die alle Vorstudien zunächst wieder
beseitigt.
Die Irrungen sollen uns nicht die große Sache verleiden. „Die
große Sache?" — Nun wohl, wie anders soll das Streben bezeich¬
net werden, die deutsche Bühne, diese Pflanzschule der Wildling für
alle Classen, wieder zu einem Nationalausdruck unserer wichtigsten
Interessen zu machen!
Lassen Sie uns an einem dritten Dichter seine Irrthümer be¬
trachten, die er praktisch und theoretisch an den Tag gelegt. Ich
weiß nicht, ob Irrungen nicht überhaupt nur Nüancen der Wahr¬
heit sind. Hier aber spreche ich von einem wahrhaften Dichter,
dessen dramatische Irrthümer mehr werth sind, als alle bisherigen
Bühnenerfolge der heutigen Dramatiker. Ich meine Friedrich
Hebbel. Seine Gedichte sind bühnenwidrig, aber es find Ge¬
dichte. Die Versuche in Hamburg und Berlin, feine Judith auf
den Brettern zur Erscheinung zu bringen, haben deutlich gezeigt, in
welchem doppelten colossalen Irrthum Hebbel befangen ist. Er irrt
sich in der dramatischen Nothwendigkeit und in den theatralischen
Möglichkeiten. Er irrt sich auch noch in vielen andern Punkten,
vornehmlich im Publicum, das das Erhabene in der Form des Ent¬
setzlichen nicht mehr erträglich findet. Ich weiß nicht, ist die Bil¬
dung von heute zu feige, zu weichlich, zu sehr in versteckter Sünde
befangen: Muth hat das Zeitalter nicht, weder das Regiment,
das befiehlt, noch die Gesellschaft, die gehorcht und duldet. Wie
viel oder wie wenig unserm Publicum zuzumuthen, darüber sind wir
Alle im Zweifel, aus dem einfachen Grunde, weil wir selbst mehr
oder weniger ein Theil dieses Publicums sind. Zur Entwickelung
einer freien Großthat haben wir die Befähigung verloren. .Und wo
sie sich im Gedicht gestalten will, nimmt sie mit schaudernden Ent¬
zücken die Larve der Carricatur an. Ich muß fortwährend an Grabbc
denken, wenn ich mir die literarisch vereinsamte Gestalt Hebbel's be¬
trachte. Er ist nach seiner innern Empfindung durchaus ein Gegen¬
stück Grabbe's, eben so weich wie jener hart, eben so tiefsinnig zart,
wie jener- grotesk und barock. Aber in ihrer Weltentfremdung sind
sie beide gleich stark und ohne alle Kenntniß der Vorbedingungen
zur Wirksamkeit, ohne alle Fähigkeit, das Zeitalter in seinem eigenen
Nerv zu erfassen. Bei aller Verschiedenheit im Talente und in der
dichterischen Stimmung sind sie in unsern Bestrebungen zwei seltene
Einsiedler.
Hebbel hat eine kleine Broschüre „Mein Wort über das Drama!"
gegeben. Er beklagt sich über den dänischen Professor Heiberg
der das für die Bühne eingerichtete Manuscript der Judith, das der
Theaterdirection von Kopenhagen überreicht wurde, öffentlich, vor
der Aufführung, kritisirte. Nun, das ist bei uns gemüthlichen Deut¬
schen nicht neu. Der gründliche Marggraff, um noch mehr als
gründlich zu sein, sitzt in seiner Bücherschau auch über Handschriften
zu Gericht, die ihm freundschaftlich mitgetheilt wurden, und verwirft
den ersten Entwurf zu einem Drama, unbekümmert über die spätere
Gestaltung, die dasselbe bereits nach seinen ersten Aufführungen erlebte,
um auf dem Wege der Praxis erst der Oeffentlichkeit und seiner
Vollendung entgegcnzureifen. — Professor Heiberg machte den Holo-
fernes in Hebbel's Judith lächerlich. Dies ist der Punkt, auf den ich
ich hier kommen wollte. „Wie leicht," sagt Hebbel in seiner Bro¬
schüre, „ist nicht ein Holofernes in einer Zeit lächerlich gemacht, wo
es keine römischen Imperatoren mehr gibt, die sich vergöttern lassen!"
— Also leicht? Das ist ja der traurige Fall der Venrrung, in die
auch Grabbe gerieth. Das beruht auf Unkenntniß der Zeitgenossen,
auf Voraussetzung einer ganz andern Gesittung, ganz andern Den-
kungsart. ES beruht auf dem Verkennen eines menschlichen Maß-
Stabes, auf Fehlgriff in den Mitteln zum Zweck. In der Geschichte
der italienischen Kunst gab es eine Epoche, wo man im Giganti¬
schen das Schöne suchte. Michelangelo beherrschte diese Spätepoche.
Er gab riesige Leiber und meinte damit menschliche Größe hinzu¬
stellen. Holofernes und Judith sind solche Colosse, welche die Men¬
schenmöglichkeit überschreiten. Ihre gigantischen Naturen gehen in's
Unmeßbare über. Wir staunen sie an, aber wir erwarten Nichts
von ihnen. Die Entscheidung ihres Processes mit einander liegt
außerhalb der Kreise menschlicher Empfindung. Ob er sie frißt,
ob sie ihn würgt; — wir wissen das Letztere aus der Historie im
Voraus; — aber die entgegengesetzte Wendung im dialektischen
Kampfe beider Naturen läge eben so nahe und würde uns eben so
wenig überraschen. Der Maßstab in der Zeichnung beider Gestalten
ist von Anfang an ein verrehltcr, Riesen sind nicht die echten Heroen;
das elementarisch Ungeheure ist nicht das menschlich Große. Aller
.Tiefsinn, aller Schwung, alle Warme und Größe der dichterischen
Empfindung, wie sie Hebbel in seiner Natur hegt und trägt, will
nun nicht mehr ausreichen, die maßlos gezogenen Conturen zu füllen,
und er müht sich vergeblich ab, die beiden Geburten seiner Phantasie
vor dem Lächerlichen zu behüten. Seine Schöpferkraft hat sich hier
verschwendet. Er hat nämlich innere Erfindung, tiefe Seelenkunde
genug, um das Verhältniß der zwei geschichtlich gegebenen Figuren
ganz neu zu fassen und zu stellen. Seine Judith findet diesem Ho-
lofernes gegenüber alle übrige Männerwelt kleinlich und widrig
elend. Sie hat in ihm allein Größe entdeckt, Wahrheit und Kraft,
wenn auch in Form barbarischer Ausartung. Daß sie ihn liebt,
während sie den Feind ihres Volkes in ihm mordet, ist ergreifend,
ein tiefer Zug. Ich kann mir denken, auch ein Deutscher unserer
Zeit hätte Napoleon so im Gemisch von Feindschaft und Bewun¬
derung ermorden können. Holofernes ist aber keine wirkliche Männer¬
größe, wie Napoleon. Er ist das Zerrbild davon, der Popanz der
Großheit. Judith nimmt, indem sie ihn liebt, nur Theil an dem
Schicksal, mit einem einzigen Schritte vom Erhabenen in's Gegen¬
stück zu verfallen. Und dieser eine Schritt ist ein leichter. Der dä¬
nische Professor braucht uns nicht erst zu zeigen, wie leicht es ist,
Holofernes lächerlich zu machen. Auch die Darstellung auf der
Bühne bewies es. In Berlin gab vor Jahren Madame Krelinger
die Judith, mit Begeisterung,, mit der Befähigung zur Größe. Aber
die tragischen Spitzen brachen ab, das Verwegene erschien utopisch,
das Ungeheuere erweckte Gelächter, Alles schlug in sein Gegentheil
um. Daß Judith ihren Helden liebt, während sie ihn mordet, sich
ihm hingab, während sie ihn verabscheute, führt weder zu einer Ret¬
tung der Gestalten, noch zu einer dramatischen Wendung des Stof¬
fes, gibt nur dem lyrischen Tiefsinn Raum zum Ausspruch. — Und
dieser lyrische Tiefsinn des Dichters färbt noch viel mehr seine Tra¬
gödie Genoveva. Sie sollte Golo heißen; denn sie entfaltet wesent¬
lich die monologischen Momente dieser in Leidenschaft schwelgenden,
aus versagter Liebe mit Himmel und Holle buhlenden Männer¬
gestalt.
Wenn die Irrungen der dramatischen Poesie von heute immer
solche an sich merkwürdige und bedeutungsschwere — lyrische Ge¬
dichte verschuldeten, so könnten wir uns zu diesen Bestrebungen des
literarischen Zeitalters Glück wünschen. Aber die Bühne wird nicht
damit gerettet. Doch ich wollte auffinden, auf welchen Punkten
Hebbel'S Irrthümer als Fehler lehrreich sind. Wir wollen sein Glau¬
bensbekenntniß, wie er es in Prosa und nicht sub roh-l ausgesprochen,
weiter betrachten.
Hebbel verfällt nicht leicht in den Fehler eines andern unserer
jetzigen deutschen Dramatiker, dessen Hauptcharaktere zu viel Welt-
und Selbstbewußtsein haben, um sie noch als einzelne Creaturen
nehmen zu können. Ich meine, so weit ich sie kenne, einige Dramen
von M osen. Da sprechen die Gestalten nicht blos wie heroische
Naturen, die dichterisch fühlen, sondern wie der Geist der Weltge¬
schichte selber, träte er in Person auf und setzte die Tuba an die
Lippen. Hebbel'S Gestalten haben Entwickelung, haben ihre Genesis,
greifen dialektisch ein in den Stoff. Ständen sie in einem dramati¬
schen Ganzen, sie würden dramatisch wirken.
Damit sprech' ich ganz einfach die Meinung aus, daß Charaktere
noch nicht das Drama machen. Und das verstößt freilich gegen
Shakspeare und den ganzen Glauben, der sich auf diese gewaltige
Dichternatur stützt. Shakspeare kehrte die Oekonomie der antiken
Tragödie um. Shakspeare befreite die Charaktere von der Oberherr¬
schaft der Fabel. Wer will läugnen, daß der modernen Welt erst
mit dem Briten das Drama eröffnet wurde! Es lag das in der gan-
zen Entwickelung der Zeiten bedungen. Das Mittelalter gab alle
Stoffe des Lebens an die sich selbst fühlende Naturkraft hin, und das
protestantische Christenthum eröffnete die Welt des Individuums, gab
die Persönlichkeit frei, schuf Charaktere. Und nimmt nun der gro߬
artige, kraftbeseelte Dichter solche Charaktere, wie sie ihm sein Zeit¬
alter gab, und läßt sie mit der ganzen Macht ihrer Schadelstärke
an einander prallen: so haben wir das Shakspearcsche Drama. Aber
das Alles ist doch nur für eben jenes Zeitalter giltig. Mit solchen
Elementen fällt auch die Giltigkeit solcher dichterischen Geburten fort,
nicht für sich selbst, sondern für uns! Nur mit solchen Charakteren
ist die regellose Romantik solcher dramatischen Form möglich und
erträglich. Wir haben weder diese heroischen Gestalten, die uns das
Zeitalter liefert, noch in uns selbst die Naturkraft, die sich am Spiel
der elementarischen Willkür ein Genüge schafft. Die ganze Weltan¬
schauung ist eine andere geworden. Das Christenthum hat nicht
mehr die Kraft des ersten Stoßes auf eine ihr noch nie Unterthans
Welt, das Christenthum macht nicht mehr frei, macht keine Heroen
mehr. Wie soll die fessellose Willkür der frei gewordenen Natur¬
kraft noch in unseren Dramen, den Abbildern des Menschenlebens,
toben und sprühen! Gespenster gelten nicht, Schatten sind unmächtig.
Gestalten der Vergangenheit können nur mit dein Lebensathem von
heute uns reizen, das historische Drama kann uns nicht zurückver¬
setzen wollen; selbst Shakspeare'ö Charaktere aus den ihm entlegensten
Zeiten und Orten waren doch immer nur Organe seiner Welt,
sprechen wie Genossen seiner Epoche. Und wenn Charaktere von
heute unsere Stücke füllen, können sie noch mit dem romantischen
Lärm des mittelalterlichen Lebens auftreten?
Ich will keinen Sprung machen und sagen, der ganze Geist
unsers Jahrhunderts müsse den dramatischen Dichter zum Jntri-
guenspiel führen. Es sieht immer thöricht aus, mit abstracten Ab¬
handlungen nachhelfen zu wollen. Aber die Franzosen thun, was
wir uns erst nach tausend Experimenten, Versuchen und Ueberzeu¬
gungen langsam construiren. Die Intrigue ist die Form, in welcher
der Weltgeist die heutige Menschheit regiert, nicht die Naturkraft,
nicht der Heroismus, nicht die Begeisterung. Scribe beherrscht nicht
zufällig diese Epoche. Laube hat Recht; nur darf er Scribe's Form
nicht mit Scribe's Inhalt verwechseln, uns nicht diesen statt jener auf-
nöthigen wollen. Und selbst die Form, in der die Franzosen die
europäischen Bühnen beherrschen, kann für uns als eine entlehnte
nicht angepflanzt werden. Wenn sie sich nicht von selbst aus den
uns eigenen Stoffen ergibt, so bleibt sie ohne alle Wirkung, wo es
gilt, die heimische Bühne neu zu gestalten, Literatur und Theater
in eine neue lebendige Wechselwirkung zu bringen. — „Also drama¬
tische Jntriguenspiele thun uns Noth und sind uns Nothwendigkeit!
Aus dem Geiste unsers Zeitalters förmlich nachgewiesen? Es ist
wahr, an Intriguen, deutsch gesagt: Quertreibereien, fehlt es uns
nicht. Nun, dann kämen wir am Ende selbst ohne Freiheit der
Presse zum langersehnten deutschen Lustspiel? Auf dem Wege der
Intrigue!" — Spotten wir nicht, mein Freund! Unser Zeitalter ist
sehr hilfsbedürftig. Rufen wir seinen Geist nicht auf, blos um ihn
zu verhöhnen. Lassen Sie uns aus Erbarmen mit ihm für sein
Heil sorgen. — „Wenn Sie so fortfahren, so gerathen wir in einen
höchst komischen Dialog. Mit der Miene eines Leichenbitters wollen
Sie dem Zeitalter das Lustspiel decretiren!"
Nicht Lustspiel allein! Verstehen wir uns nicht alß! — Im
Grunde will ich auch keine ausschließliche Nothwendigkeit nachweisen,
nur falsche Möglichkeiten in den Richtungen aufdecken. Hebbel ist
der Meinung, die Charaktere machten lediglich daS Drama. Das
führt in die Shakspeare'sche Form zurück, für welche deutsche Kräfte
schon genug Schulübungen geliefert haben. Hebbel will an dem
Briten nachweisen, wie wenig man auf die Fabel zu geben habe, um
doch dramatisch sein zu können. Shakspeare ist also das Netz in
dem abermals eine großartige Dichterkraft gefangen sitzt! Mittel¬
mäßigkeiten finden sich weit leichter zurecht, um Mittel 'und Zwecke
in Einklang zu bringen. Was auf der heutigen Bühne wirkt, ist
in der That die Fabel des Stückes, ihre Erfindung, aber noch weit
mehr die Dialektik ihrer Entfaltung, die Schürzung und Lösung eines
Knotens. Nicht auf die deutschen und französischen Fabrikanten soll
man Hebbel verweisen, selbst auf Scribe nicht, dessen Meisterschaft
in der Form und Structur des modernen Dramas uns nicht über
den Gehalt seiner Stoffe täuschen sollte. Will Hebbel Autoritäten,
und er stützt sich ja selbst auf Shakspeare, so rufe man ihm die
Alten in die Schranken; die mit Gewalt und zum Hohne deutscher
Produktion von heute aus dem Grabe heraufbeschwomc Antigone
sei uns eine Mahnung! Die Sophokleische Tragödie ist in ihrer Weise
und ganz in den Nationalbedingungen der alten Zeit, in Entfaltung
der Fabel, in Führung des Fadens, in Vermittelung und Lösung des
sachlichen und geistigen Gehaltes ein Meisterstück naiver Kunst. Die
fesselnde Kraft der Erwartung, diese Macht der Spannung, diese
sittliche und geistige Aufregung deS ganzen Menschen, der hier, im
Streite göttlicher und irdischer Anregung, der Schlichtung wie einer
Entscheidung über sich selbst entgegenharrt: das sind Theatereffecte
in classischer Form, es sind die Mittel, die das dramatische Gedicht
erst zum wirklichen Drama und ohne Weiteres zum bühnenwirksamen
Theaterstück machen. Von gemeinen Hebeln zur Aufreizung der Ner¬
ven wird bei Sophokles wohl nicht die Rede sein dürfen, und doch
erreicht er die höchste Wirkung auf den Brettern, so weit die be»
schränkte Welt der Alten eine Wirkung für uns zulässig macht. So¬
phokles ist so naiv und bornirt wie Hans Sachs. Aber er ist ein
Meister in Handhabung der Intrigue seines Stoffes. Ich nenne
ohne Scheu Intrigue, was man bei den Alten gern die Fabel des
Stückes mit der Dialektik ihrer Entfaltung hieß.
Ist nun das Wort Intrigue vor Ihnen gerechtfertigt? Ich weiß
kein anderes.
Welch ein Jdeologe zugleich Hebbel ist, beweist er wohl recht
eigentlich mit dem, was er über Gutzkow's Dramen äußert. Hebbel
verlangt, daß das Drama nicht blos mit den einzelnen Charakteren,
sondern auch als Totalität wirke. Diese Totalität liegt aber für ihn
nicht in der Sache, nicht im Verlaufe des Stoffes, sondern in der
Idee, die ich daraus abstrahire. Er sagt, Gutzkow habe das sociale
Thema aufgenommen. Vier seiner Stücke, die gedruckt vorliegen,
seien Correlate, die in ihrer Gesammtheit mehr als einzeln befriedig¬
ten. Richard Savage zeige, was eine Galanterie bedeute, offenbare
in scharfen Gegensätzen den tragischen Kampf zwischen Naturgefühl
und Decorum. Je gMusamer, sagt Hebbel, desto besser. — Kann
ein Poet thörichter sprechen? Also je schiefer die Annahme im Ver¬
halten von Menschen zu einander, je unwahrer die Stellung der Fi¬
guren gegen einander, desto besser? Und kann eine Dichtung mit dem,
was sie bedeutet, was sie will, je täuschen über das, was sie sachlich
gibt, wirklich und stofflich vorführt? Von abstrakten Philosophen ist
man gewohnt, daß sie sich mit dem begnügen, was sich aus dem
Stoffe als Ertract absieden läßt. Die Poesie aber gibt Seel' und
Leib als Eins, sie will nicht das Ergebniß der Sache, sondern die
Sache selbst; sind die Factoren falsch, so kann sie uns nicht auf ein
richtiges Facit des Nechnenerempels vertrösten wollen. Auch in Gutz-
kow's Werner werden uns gesellschaftliche und psychische Unmöglich¬
keiten als Vorbedingungen zur Katastrophe zugemuther; die Katastro¬
phe selbst, der eheliche Conflict zwischen Werner und seiner Frau, ist
allerdings mit einer Macht und einer ergreifenden Wahrheit hin¬
gestellt, der nur um so mehr fühlen läßt, wie schief diese Zustände
moderner Welt hier herbeigeführt sind und wie unwahr sie vom
Dichter gelöst und gesühnt werden. „Werner," sagt Hebbel, „genügt
am wenigsten." Er verkennt also hier den Kern, weil er in einer
falschen Umschälung liegt. „Werner," sagt Hebbel, „scheint mehr aus
einem Gefühl, als aus einer Idee hervorgegangen zu sein." Kann
ein Dichter so verblendet sein, dies zu tadeln? Kann eine Dich¬
tung überhaupt mit einer Idee, die sie beweisen soll, für Anwen¬
dung falscher Mittel, unwahrer Empfindungen entschädigen? —
„Patkul," sagt Hebbel, „zeigt, wer an einem Hofe die abhängigste
Person ist, und es gilt gleich, ob die Zeichnung auf August den
Starken paßt oder nicht." Ganz richtig; Porträtähnlichkeit verlangen
wir nicht vom historischen Drama, Kongruenz mit der Geschichte be¬
zweckt die Poesie nicht. Aber die Zeichnung des Dichters muß, mich
wo sein Pinsel das bestimmte Zeitalter verfehlt und nicht trifft, auf
Menschen und menschliche Zustände überhaupt passen. Ob Schiller's
Wallenstein der historische, Schiller's Philipp in Spanien der wirk¬
liche, bestimmt nicht die Giltigkeit der dichterischen Gestalten, aber
daß sie wie große Menschen auf solchem Schauplatz und in solchen
Bedingungen fühlen und denken, das macht die Dichtung wahr, gibt
ihr eine tiefere Bedeutsamkeit, als die Figuren in der realen Geschichte
je für uns haben können. Patkul aber und Gutzkow's August stehen
im Stücke, wie Menschen niemals zu Menschen standen. Diese in¬
nere Unwahrheit stürzt die scharfsinnigsten Combinationen des Dich¬
ters. „Die Schule der Reichen," sagt Hebbel, „lehrt —." Doch wir
kümmern uns nicht um das, was sie lehren will. Zweck und Ten¬
denz machen Versündigungen gegen menschliche Empfindung nicht
Wieder gut. Das will ich nicht gegen dies Stück gesagt haben. Es
hat einen genialen Entwurf, nimmt einen kecken und überraschenden
Anlauf, verläuft aber bis in's Kindische und Sinnlose. In solchen
Ertremen stürzen sich Gutzkow's Erfindungen hin und her. „Je
grausamer," sagt Hebbel, „desto besser." Hat Hebbel für das poetisch
Werthvolle, das menschlich Wahre so »venig Sinn, wie für das dich¬
terisch Häßliche, menschlich oder gesellschaftlich Schiefe und Unmögliche?
Hebbel sucht blos nach, was ein Product beweisen will. DerTicck-
sche Magister Ubique in der „Vogelscheuche" beweist als Cicerone
auf einer Gemäldeausstellung auch an einem Wirthöhauöschilde die
tiefsinnige Idee eines idyllischen Stilllebens! Von Gutzkow's „weißem
Blatt" spricht Hebbel nicht. Ich weiß nicht, was er an diesem
Stücke nachgewiesen hätte. Ich meines Theils kann an diesem, in
den ersten zwei Acten vortrefflich gearbeiteten Drama nur bedauern,
daß eS sich um eine Grille dreht, wie sie im wirklichen Leben unter
Menschen niemals von solchem Gewicht ist, als der Autor hier
nimmt und uns zumuthet, sie dafür ebenfalls zu nehmen, damit sein
Stück nicht die Angel und den Hebel verliere. Man kann nicht mehr
Beruf zum modernen Drama haben als Gutzkow. Aber eigensinnige
Zumuthungen, mit denen er seine Figuren und sein Publicum herum-
quäle, sind nirgends störender als im Drama. Er weiß selbst darum,
daß das bürgerliche Schauspiel am wenigsten solche aus Utopien
herangezogene Amiahmen duldet; er weiß darum, sein Wissen,
sagt' ich, ist schärfer als sein Talent. — Nachschrift. Gutzkow's
„Zopf und Schwert" ging gestern hier zum ersten Mal über die
Bühne. Das neue Theaterjahr wurde in Dresden damit begrüßt.
Es konnte nicht glücklicher eröffnet werden. Auch hat Gutzkow wohl
nichts Glücklicheres geschaffen. Er greift, wo er rühren will, zu fal¬
schen Mitteln. Hier aber, wo er für die Waffen seines Scharfsinns
den Schauplatz fand, bewegt er sich wie in seiner eignen Welt.
Dies dramatische Zeitgemälde, wie er sein neues Erzeugnis) nennt,
ist ein höchst gelungenes geistvolles Spiel des Witzes und der Sa^
tyre, eben so pointenreich in den Einfällen, als durch die rasche
Folge pikanter Gruppen und Scenen effectvoll. Daß manche saty¬
rische Charakteristik an die Posse streift, wolle Niemand rügen, der
das Bedürfniß des heutigen Publicums nach starker Würze, wo sie
erlaubt ist, kennt. Die Intrigue des Stoffes ist sehr einfach, aber sie
hält die belebten Zeitbilder in ihrer raschen bunten Folge hinlänglich
fest. In der Erfindung ist hier Nichts erkünstelt, Gutzkow ist hier
auf seinem Grund und Boden gesund und frisch, er ist selbst harm¬
los bei aller Geißel auf das eigue Zeitalter. — Daß Raupach'S
„Vor hundert Jahren," ein durchaus glückliches Zeitgemälde solcher
Art, keine Nachfolger hatte, ist oft bedauert. Gutzkow hat sich mit
weit schärferem Geist dies Genre eröffnet. Das Theater kann nicht
mehr erzielen und erlangen, als was die Literatur ihm mit diesem
satyrischen Lustspiel bietet. Die dramatische Schöpfung erfüllt hier
alle Bedingungen des Theatralischen.
Die Universitäten sind kein Staats-, sondern ein Nationalinstitut,
Wie die Wissenschaft selbst ein Gemeingut ist, so muß es auch ihr
Altar sein, und eS verschlägt dabei noch gar Nichts, daß ihre Priester
concesstonirte sind, daß Form und Gestaltung in den Händen der
Macht liegen. Wenn man aus dein mächtigen Ringen der Jetztzeit
einen Schluß der Wahrscheinlichkeit auf die Zukunft ziehen darf,
möchte man ohnedies leicht behaupten, daß diese Aeußerlichkeit, dieser
Schein obrigkeitlicher Gelehrsamkeit nichts Dauerndes bleiben kann.
Die Universitäten sind Werkstätten der geistigen Ausbildung; der theo¬
retische Geist aber, die Wissenschaft, muß selbständig neben dem
praktischen, dem Staat, stehen. Die Weihrauchwolken des Geheim-
nißvollen, deS Erhabenen vermögen Kanzel und Katheder nicht mehr
zu verhüllen, die Kritik zertheilt sie dem freien Blick — und die Kritik
ist stets das siegende, das vorwaltende Element. Es ist in jüngster
Zeit viel und mannigfach über diesen Gegenstand geschrieben worden,
und mit Recht, denn es ist ein Prinzipienstreit: aber wie bei so man¬
chem Großartigen werden auch hier Zeit und Verhältnisse erst die
Reformen schaffen, natürlich langsam, deutsch. In diesem Aufsätze
wird man Nichts darüber finden, ich wollte nicht gern wiederholen,
was Andere schon besser gesagt; die einzelnen, wo es nöthig war,
eingestreuten Andeutungen überlasse ich dem Leser zu interpretiren.
Was ich hier biete, ist Nichts, als äußere Eindrücke, Silhouetten,
Skizzen.
Berlin ist Residenz, xr-in6e--ol!Jo, das sieht man auch unter
den Hallen. Die langen Haare und das offene Brusthemd von
Jena, die Heidelberger und Bonner aristokratische Nachlässigkeit des
feinen Aeufiern, das Farbenbunt der bairischen privilegtrten Lands¬
mannschaften — es ist Alles verschwunden, Natur und Krähwin,
kclei sprechen aus Wesen und Bewegung der Großstädter, der Mo¬
dernen. Berlin hat nicht, wie andere Universitäten, eine bestimmte
Farbe, einen Charakter, es ist hier Alles zusammengefahren, daher
auch Alles isolirt. Das gilt nicht blos von den Studirenden. In
den Ansichten der Professoren finden Sie alle Stufen von chinesischem
Knechtsinn und muhamedanischen Prädestinationsglauben bis zur frei¬
sten Entwickelung demokratischer Gleichheit und autokratischer Vernunft-
religion. Diese Männer stehen einzeln neben einander, jeder hat sei¬
neu Boden für sich. Kühne vergleicht einmal die Berliner Universität
mit einem botanischen Garten, ich glaube, daß sie eher eine hohe
Staffage ist, auf welcher man die verschiedenen Pflanzen in Töpfen
aufgestellt hat. Die eine erhält viel Mist, viel Pflege, die andere
wurzelt in vertrockneter Erde und gedeiht doch, aber der gemeinsame
Boden fehlt.
Unter den Ersten, was ehemaligen Ruhm und jetzige amtliche
Stellung betrifft, steht ein Mann, dessen Name kürzlich wieder in
grelles Gedächtniß zurückgerufen wurde: der geheime Oberregierungs¬
rath Fr. W. I. von Schelling. AIS Schelling vor zwei Jahren
nach Berlin berufen ward und zum ersten Male den Lehrstuhl der
Philosophie hier bestieg, äußerte er sich in den bekannten Worten,
daß alle frühere Philosophie ein Unding sei und er die alleinselig¬
machende kund thun werde. Daß er dies nicht gethan, ist auch be¬
kannt. Es muß ein theurer, kostbarer Schatz sein, den der alte
Mann so ängstlich verschließt. Aber er ist doch an'S Licht gezogen
worden, Kapp und Paulus haben seine Bestandtheile zerlegt, daS
Gepräge untersucht und was der geheime Obcrregicrungörath dazu
gesagt, ist ebenfalls bekannt. Nie hat sich Jemand so den öffentlichen
Angriffen blosgcgcben, und doch behaupte ich, daß Schelling so han¬
delt, weil er nicht anders handeln kann. In allen seinen Produktionen
offenbart sich das Ringen des Stoffes mit dem Gedanken, mit der
Form, ein Ringen nach Vollendung, die nie erreicht wurde. Des¬
halb ist es thöricht, von Schelling ein „System" zu verlangen: er
kann es nicht geben, es würde weder ihn noch sonst Jemand befrie¬
digen. Was er bis jetzt hervorgearbeitet, eS will sich nicht zusam-
menfügen zu harmonischem Ganzen, seine Schöpfungen sind Frag¬
mente, Ruinen. In diesem Winter gibt er wiederum eine Einleitung,
wenn auch nicht in die vielbesprochene Offenbarungsphilosophie, doch
in die Philosophie überhaupt. Wiederum eine Einleitung, eine In-
troductio, wie die Anzeige sich ausdrückt! Es war ein großes Au¬
ditorium, aber ganz gefüllt durch ausgelassene, fast frivole Neugier,
die seltsam gegen das weiße Haupt des kleinen Tageshcros abstach.
Jetzt hat der Zulauf lange nachgelassen, nur die Coteric füllt einiger¬
maßen die Räume. Schelling ist zu hart und leidenschaftlich gegen
Hegel und seine Philosophie ausgebrochen, als daß man es ihm ver¬
gessen könnte, und sein» letzten Thaten tragen gewiß Nichts dazu bei.
Die Schadenfreude ist auch nicht ausgeblieben. Wenn man eine
große Schule, nachdem ste ihres Hauptes beraubt und in sich selbst
uneinig ist, im Allgemeinen des gröbsten Irrthums und noch ganz an¬
derer Dinge beschuldigt, so kann man diesen Kampf nicht durch vor¬
nehmes Schweigen beendigen, es ist ein Kampf um Leben und Tod,
wo sich selbst der innere Zwist in starke Eintracht zerschmelzen muß.
Die Hegel'sche Schule mit ihren Abstufungen ist in Berlin wohl re-
präsentirt und ihr Sieg über die Schelling sehe Lehre bis jetzt und
für immer unzweifelhaft entschieden. Schweigen auf dem Felde der
Oeffentlichkeit ist immer ein böses Präjudiz, aber zu Schelling's Ehre
will ich die allgemeine Meinung theilen, daß nur sein Alter ihn kin¬
disch gemacht.
Diejenigen, welche die Einführung der Hegel'schen Philosophie
in die Religion mit dem günstigsten Erfolg bei dem denkenden
Theil der Theologen unternommen, sind hauptsächlich Marheineke
und Vatke, zwei Männer, welche durch ihr würdiges Auftreten und
die sichere Haltung ihrer Lehre Vertrauen gewinnen. An ihnen ist
daher auch zuerst Anlaß zu Polizcieinschreitungen genommen. Nicht
minder tüchtig wirkt Michelet, der trotz seiner Jugend bekanntlich
allein im Stande war, die Naturphilosophie Hegel'ö zu bearbeiten.
Er hat seinen Meister richtig und bestimmt aufgefaßt und mit Kühn--
heit und Glück sich an die schwierige Auslegung gewagt. Sein
Vortrag ist im höchsten Grad klar und faßlich, ich möchte ihn populär
nennen. Dabei ist eine gewisse, sast geniale Oberflächlichkeit und
Leichtigkeit nicht zu verkennen, obschon er, wie gesagt, seinen Lehrer
verstanden hat, und in dessen wie auch in den übrigen Philosophien
trefflich Bescheid weiß. Die Parallelen und Konsequenzen, die er
zieht, sind in die Augen springend und schlagend, er ist ganz Eins
mit seinem Gegenstand; Subject und Object hat sich, ein authentischer
Beweis für die Hegel'sche Philosophie, nie in schönerer Verbindung
gezeigt. Nur eine festere, kernhafte Grundlage in Wissen und Vor¬
trag wäre ihm noch zu wünschen, wie sie aus Marheineke's und
Vatke's tiefgediegcnem Wesen hervorschaut; nicht solches Luftfechten
und leeres Gesticuliren, das seiner Würde nur schade» kann. Mi-
chelet ist immer eine bemerkenswerthe Erscheinung.
Ein Mann des Tages war vor Jahren Werber, der als jun¬
ger Docent ein bedeutendes Auditorium zu erringen wußte. Werber
ist ein oratorischeS Talent, wenn Phrasen und Bombast den Redner
machen. Aber auch als Philosoph wird er es nie zu einiger Bedeu¬
tung bringen, obgleich er zu denen gehören will, die Hegel's Lehre
fortbilden. Er hat seinen Meister nicht verstanden, das beweist zur
Genüge der erste Theil seines Commentars zu Hegel's Logik — der
zweite scheint blos in der Ankündigung zu leben. Was allein be¬
merkenswert!) sein dürfte, ist seine entwickelte Dialektik.
'
Jmistischcrseitö treten die Hegelschen Prinzipien auf eine geist¬
reiche Weise in den Vortragen des Prof. Heide manu hervor, der
mit einer feinen Dialektik durchdringende Geistesschärfe paart und
dem conservativen Stahl glücklich das Gleichgewicht hält.
Eine vereinzelte Erscheinung ist Trent elenburg. Talent ist
ihm nicht abzusprechen, er weiß seine Ansichten in einen geistreichen
Nimbus zu hüllen, aber ästhetisches Urtheil geht ihm gänzlich ab.
Zudem sind seine ehemaligen philologischen Studien zu fest mit ihm
und seinem Denken verwachsen. Aus dem Aristoteles kommt er fast
nie heraus, und wenn er einmal neuere Philosophie berücksichtigt,
bleibt er bei Herbart. Die logische Frage in Hegel's System hat
ihn zu öffentlichen Aeußerungen veranlaßt. Trendelenburg ist mehr
als Einer Negierungöprofessor. Arme Theologen und Philologen
weist man an ihn und seine unschuldige Logik. Daher sein stets ge¬
fülltes Auditorium, daher auch die glückliche Nebenbuhlerschaft mit
Michelet, dessen Geschichte der Philosophie mit Unrecht vernachlässigt
wird. Uebrigens ist er einer der wenigen Glücklichen, Klugen, die
Schelling zum Verständniß seiner neuen Philosophie gebracht, vielleicht
mehr als alle, selbst den alten "Zuhörer Schelling's, Steffens, nicht
ausgenommen.
Steffens hält sich still, verschlossen, im höchsten Grad neutral.
Es sieht ihm gar nicht unähnlich, das; er geäußert haben soll, Schel¬
lina, habe in seinen Vorlesungen über die Offenbarungsphilosophie
viel Gutes und Schönes gesagt, aber kein einziger unter seinen Zu¬
hörern könne sich rühmen, es verstanden zu haben. Wer zudem noch
Steffens' wohlgefällige Selbsterhebung kennt, womit er in seiner Auto¬
biographie seine Verdienste bei Aufstellung der Naturphilosophie her¬
vorhebt, der wird seine Zurückhaltung leicht aus eben derselben Quelle
ableiten, wie Schelling's Schmeicheleien: Beide fürchten einander, nicht
wie offene Gegner, sondern wie zwei GewisscnSbedrückte, die gegen¬
seitig Verrath' ahnen. Was Steffens' Eigenthümlichkeit betrifft, so
sind seine Vorträge über Anthropologie und Psychologie das Geist¬
reichste, was je in diesem Zweise gedacht und gesprochen worden.
Eine strenge Entwickelung wird freilich vermißt, aber das ist man
schon aus seinen Romanen gewohnt. Genial, unsystematisch sind alle
Producte dieses überreichen Geistes.
Neben Schelling und Steffens hat als dritten berühmten Pro¬
fessor der Berliner Universität Gustav Kühne seinen Freund Theodor
Mundt genannt. Mundt wird aber nie den Einfluß gewinnen, der
die Behauptung einer solchen Stellung motiviren könnte. Dazu
geht ihm der tiefere Charakter und vor Allem eine entschieden aus¬
gesprochene Gesinnung ab, was ihm in der öffentlichen Meinung nur
hinderlich sein kann. Diesen Mangel sucht er in seinen Vorträgen
vergebens durch ein Haschen nach Witzen und Anspielungen zu ver¬
bergen. Er hat keiner Partei Vertrauen gewinnen können und ver¬
harrt in dem unglücklichsten Dilemma, in welches ein Mann der
Oeffentlichkeit nur fallen kann.
Die in keinem Fache zu schwach besetzte philosophische Facultät
hat sich seit Kurzem um eine Celebrität, in der Person des Marbur¬
ger Professors Amadeus Hub er, vermehrt. Herr Huber hat vor
Jahren die „Skizzen aus Spanien" geschrieben, über deren Entstehung
jetzt mancherlei verlautet, was hoffentlich nur Böswilligkeit aufsprengt.
Später, nachdem er sich durch sogenannten Liberalismus bemerkbar
gemacht, schienen ihn die Verhältnisse des preußischen Staates zu in-
teressiren und er schleuderte zwei Pamphlete in die Welt, welche, wenn
ich nicht irre, die Titel führen: „Keine Constitution" und „Die liberale
Partei." Der Dr. me<i. und Professor der schönen Künste entwickelte
hier eine neue scharfsinnige Logik, die man summarisch nennen möchte,
so einfach war sie: „Es ist bekannt", „Niemand zweifelt", „Dies zu
erweisen, ist überflüssig" u. s. w. Hierauf wurde Herr Huber nach
Berlin berufen, und er kam. Aber die Berliner erwiesen sich sehr un¬
dankbar, — Herr Huber hat nach den ersten Wochen seine Vorlesun¬
gen eingestellt, was ihm gewiß in Marburg selten begegnete, da er dort
selten ein Colleg zu Stande brachte. Wie ich die Theilnahmlosigkeit
gegen Herrn Huber in Berlin deuten soll, weiß ich nicht. Einige
sagen (nämlich die, welche seine Vorlesungen besuchten), er habe keine
Persönlichkeit zum öffentlichen Lehrer und bleibe in seinem Vortrag
stecken; aber dann hätte Herr Huber ja ein Heft ablesen können, wie
so Manche thun; — Andere lachen. Das Gerücht, daß Herr Hu¬
ber Redacteur der preußischen Allgemeinen werden solle, welches seit
einem halben Jahr die Zeitungen durchläuft, ist so eben als unge¬
gründet zurückgenommen.
Berlin hat noch so viele Größen; sie alle zu schildern, wäre zu
weitläufig und wohl auch undankbare Mühe. Nur die, welche in
das öffentliche Leben eingreifen, gedachte ich Ihnen vorzuführen; Ko¬
ryphäen, wie Ritter, Lichtenstein, Johannes Müller, lasse ich außer
Augen, weil sie, obwohl gewiß auf hochverdiente Weise wirksam, nur
auf einem einzelnen Felde der Wissenschaft und dem Leben und der
Oeffentlichkeit etwas fern gestellt sind. Andere, wie Rückert, I. Grimm,
erwähne ich ebenfalls nicht; es ist ein Pietätsgefühl gegen diese Män¬
ner, deren Vergangenheit so strahlend vor uns liegt, ein wehmüthiges
Gefühl zugleich, wenn man sieht, wie sie hier auf dem kalten Boden
sich nicht heimisch fühlen, selbst erkalten.
Ein Mann der Oeffentlichkeit nun vor Allen ist, besonders seit
der letzten Zeit, Fr. v. Raumer. Die Urtheile, welche über ihn
als Geschichtsforscher gefällt, sind bekannt und sehr verschieden: aber
auch im schlimmsten Falle wird man zugeben müssen, daß seine Auf
fassungsweise und sein Vortrag ein, wenn auch bisweilen eintöniges,
doch meist anziehendes Colorit haben. Raumer gilt sür liberal, er
will auch dafür gelten, aber ohne aus seinem Justemilieu herauszu¬
treten, ohne seine Vermittelungsthcorie aufzugeben. Er steht über
und somit außer den Thatsachen, — ein Standpunkt, der für ihn
ein gefährlicher ist. Sein Urtheil ist schnell fertig, ohne Kopfbrechens,
mit einer Gleichgiltigkeit und Worrgeläufigkeit, wie sie für den Salon
passender als für den Katheder wäre. Eine Schwäche, die H. Heine
mit Recht an ihm verspottet, sind die „königlich preußischen Pro¬
fessor-Thränen." Raumer weint. Es ist komisch. Ein alter Ana¬
tom, der schon so lange Geschichte zergliedert, weint über die schottische
Marie, die schöne, die unschuldige Marie, über Conradin, über Gott
weiß wen. Ob er über unsere neueste Geschichte weint, weiß ich
nicht. Aber er ist ja „liberal."
Ranke ist ganz der Gegensatz zu Raumer. Ranke weint
nicht; höchstens ein Spott, ein Lächeln bekleidet ihn. Hände und
Füße, Augen und Mund, alle Glieder arbeiten mit an seinem Vor¬
trag. Ranke ist ein Original. Nicht wie Raumer hat er sich die
Geschichte zurecht gemacht: er steht in den Thaten und Ereignissen
mitten drin und entwickelt aus ihnen heraus pragmatisch wie factisch
den ganzen Zusammenhang. Seine Sprache ist fein und gewählt;
dem Anschein nach kunstlos, durchglüht sie Rhetorik. Ranke ist auch
nicht „liberal". Er hat es ausgesprochen mit dürren Worten, er sei
nicht absolutistisch, er sei nicht liberal, er wolle eine gewisse Mitte
halten; — freilich kennt man diese „gewisse". Die Geschichte der
Studentenverbindungen, der Burschenschaft leitete er mit den Worten
ein: „Obgleich diese Geschichte unser eigenstes Leben berührt, will
ich doch davon sprechen." Dann wehte er wie ein Windhauch flüch¬
tig darüber hin. Leider wird der Jugend ihre eigene Geschichte so
oft vernebelt und fern gehalten. Ranke vermag indeß nicht zu be¬
geistern, er kann das Erhabene nicht großartig zusammenfassen. Di¬
plomatische Intriguen auszuklügeln ist seine Lieblingsarbeit, seine
Hauptstärke. Es ist der neutralste, aber auch der kitzlichste Theil der
Geschichte, jedoch, wie bemerkt, mit so glücklichem Erfolg von ihm
behandelt, daß Niemand sagen kann, ob der Historiograph die Folge
oder die Ursache seiner loyalen Gesinnung sei.
Neben Raumer und Ranke, den zweifelhaft Gesinnten, steht ein
Mann des festesten Charakters und der tüchtigsten Gesinnung, Karl
Nauwerk, der in seiner Vorlesung über die Philosophie des Staa¬
tes ein zahlreiches, begeistertes Auditorium versammelt hat. Hegelia¬
ner seiner philosophischen Bildung nach, sucht er eine Anwendung
seiner Ueberzeugungen auf den Staat und das Leben. Die Ruhe
und der tiefe Ernst seines Vortrags, selbst von den witzigen Epi¬
grammen nicht gestört, verleihen ihm und der vertretenen Idee einen
würdevollen Anstrich: man sieht, er gibt sich, wie er ist, er spricht
vom Herzen. Darum geht es auch so warm und mächtig in die
jungen Herzen hinein und haftet so fest darinnen. DaS Vertrauen
welches zwischen Lehrer und Schüler, soll die Lehre fruchten, bestehen
muß, hat er sich glücklich und vollständig erworben.
Ruhig, aber nicht minder fest in seinen Gesinnungen, steht Both
da. Seine Reden an des Königs Geburtstage tragen den Stempel
der Freimüthigkeit und Charakterstärke. Daß er nur vorsichtig und
leise auftritt, liegt in seiner Stellung, welche dem öffentlichen Leben
entfernter ist.
Das Gegentheil von ihm ist Lachmann, derzeitiger Rector,
welcher, fern von aller Selbständigkeit und Charakterfestigkeit, nur
dem Bestehenden, Befohlenen, ja selbst polizeilichen Maßregeln, welche
die Studirenden einschränken, sich pflichtergcbenst anbequemt. Die
Geschichte des unterdrückten Lesevereins und der daran geknüpften
Weilern Einschränkungen, wo der Studirende alles Andere, nur nicht
Schutz und Festigkeit in der Universitätsbehörde sand, hat Mißtrauen
und Erbitterung erweckt. Und Berlin, die Universität, der Sammel¬
punkt der ganzen deutschen Jugend, wird erst dann zur vollendeten
Blüthe gelangen, wenn die freie Entfaltung der Gesinnung und
Meinung eben so ungehindert ist, wie der doppelte Sonntags-
kirchenbesuch des frommgläubigcn Christen.
Während der ersten Jahre der Restauration befand sich in Pa-
ris in dem Erdgeschoß eines Hauses der diuo clvs Uilr^rs ein
geräumiges Maleratelier, welches den ganzen Tag über nie leer
ward und zugleich das geräuschvollste und merkwürdigste Atelier in
Frankreich und Navarra war. Der Saal und ochsen Bewohner
hatten die gleiche charakteristische Physiognomie. Es war nicht das
classische Atelier mit seinen griechischen und römischen Göttern, nicht
das romantische mit seinem mittelalterlichen Lumpenkram; sondern
das militärische Atelier pu- Lxcellenok. Die Wände waren von
oben bis unten mit militärischen Erinnerungen aus der Republik und
dem Kaiserreich bedeckt. Hier sah man den französischen Soldaten in
allen Uniformen und Stellungen, in der Garnison, im Feld, bei der
Revue, beim Biwacht, beim Sturm, vor, während und nach der Schlacht,
Infanterie, Cavallerie, Artillerie, defilirte, chargirte, feuerte unter den
strengen Augen des ersten Konsuls Bonaparte mit der dreifarbigen
Schärpe und dem langen Haare, oder unter denen des Kaisers Na¬
poleon; zu Fuß und zu Pferde, im grauen Ueberrock oder in der
grünen Uniform der Gardejäger. — Hier und da glänzten Trophäen
von Schutz- und Trutzwaffen, dort standen Gliedermänner von allen
Größen, Pferde von Pappdeckel, oder zuweilen von wirklichem Fleisch
und Bein, die mehr oder minder gelehrig einen nachgemachten Mu-
rat oder Napoleon trugen.
Umgeben von dieser malerischen Unordnung, saßen Maler-
Haudegen vor ihren Staffeleim, Generäle, Oberste und Haupt¬
leute auf Halbsold, bemüht, die Schlachten zu malen, die sie gefoch¬
ten hatten, und machten, da sie auf dem Schlachtfelde keine Feinde
mehr todten konnten, sich das Vergnügen, sie wenigstens auf der
Leinewand niederzuhauen; junge Offiziere, gelangweilt von der Ein¬
förmigkeit des Garnisonslebens, Zerstreuung suchend in dilettantischer
Beschäftigung; und endlich eine Schaar schlachtenlustiger Schüler, be¬
müht, den Fußtapfen ihres Meisters zu folgen und sich in einem
Kunstfach auszuzeichnen, welches damals alleinherrschend war.
Dazu kommen noch die Gäste, Kenner und Freunde, welche von
Staffelet zu Staffelei gehen, eine Stellung, einen Effect, eine Com-
Position kritisiren.
So bevölkert, sieht das Atelier oft zugleich wie ein Studicnsaal,
eine Kaserne und ein Fechtboden aus. Während die Einen sich stumm
in die Abbildung eines Grenadiers der alten Garde, eines BiwachtS
oder eines Scharmützels vertiefen, singen Andere, daß die Fenster
klingen, ein Lied Beranger'S; Jene schlagen den Sturmmarsch, diese
blasen eine Fanfare oder üben sich in den Waffen., Etwas wei»
ter hinten stehen Zwei in Hemdärmeln, die Cigarre im Mund,
eine Palette in der linken, ein Fleuret in der rechten Hand, zur
großen Zufriedenheit der sie umgebenden Kampfrichter und Zeugen,
brillante Stöße führend.
Inmitten dieses bunten Gewühles bewegt sich ein Mann von
ungefähr dreißig Jahren, nicht groß, aber kräftig und gewandt, mit
feurigem Auge, lebhaften Bewegungen und offenen, männlichen und
entschlossenen Zügen. Er trug damals wohl noch nicht den gewal¬
tigen Schnurrbart, der jetzt seine Oberlippe ziert, aber er hatte schon
in seinem ganzen Wesen jene Physiognomie des französischen Offi¬
ziers, die er so sehr liebt, und die bei ihm so stark ausgesprochen
ist, daß man bei seinem Anblicke schwören möchte, er habe sein gan¬
zes Leben auf dem Schlachtfelde zugebracht.
Dieser Mann mit dem soldatischen Anstrich, welcher, während
er die Arbeiten seiner Schüler beaufsichtigt, hier eine Contour, dort
einen Farbenton ausbessere, das Fleuret besser zu führen weiß, als
jeder Andere, der die Trommel so fertig rührt, wie er die Trompete
bläst, ist der Herr des Hauses, Ilm^o Vorovt, dessen Name schon
in Aller Mund ist, dessen Bilder, die man aus dem Salon als auf¬
rührerisch verwiesen, ganz Paris nach seinem Atelier zogen, und wel¬
cher so schnell werden sollte, was er jetzt ist: der berühmteste, popu¬
lärste, und fruchtbarste Maler des heutigen Frankreichs.
Horace Vernet ist weder ein Schüler Raphael's, Rubens', noch
David's; er ist weder ein großer Zeichner, noch ein großer Colorist,
seine Werke zeigen weder die Grazie da Vinci's, die Farbengluth
Titian's, noch die Kraft Michelangelo's; als Schlachtenmaler erhebt
er sich eben so wenig über Salvator Rosa wie über van der Meu-
ten und Gros; als Historienmaler zeigt er weder die reinen und
ausdrucksvollen Konturen von JngreS, noch den dramatischen Eklek-
tizismus von Delaroche, noch die oft glückliche Kühnheit von Dela-
croir :c.; eS ist unmöglich, ihn in eine der Abtheilungen einzureihen»
in welche sich die heutige französische Malerschule trennt: und doch
ist er ein großer Maler.
Ich lasse mich nicht mehr als jeder Andere von der Populari-
tät blenden. Ich gebe gern zu, daß Vernet, wenn er statt Ereig¬
nissen, die noch im Herzen des Volkes lebten, griechische und römische
Schlachten gemalt hätte, vielleicht nicht als Entschädigung für seine
Popularität den Beifall der Kenner davon getragen haben würde. Der
Gegenstand seiner Gemälde hat allerdings viel zu seinem Ruhme
beigetragen, und ich fühle recht gut, wie viel die Correctheit der Zeich¬
nung, die Wärme und der Reichthum des Colorits, die Ausführung
des Details, die Tiefe und der Schwung der Gedanken, und die
Poesie des Ensemble in Vernet's Kompositionen zu wünschen übrig
lassen. Aber wenn seine Erfindung zuweilen auch ärmlich, der Aus¬
druck im Ensemble dürftig ist, mit welchem Feuer, welcher Handlung,
welcher Mannigfaltigkeit in Anordnung und Ausführung entschädigt
er uns dafür im Einzelnen! Welche bewundernswerthe Geschicklich-
keit, Bewegung und Gewühl festzuhalten und doch lebendig vor die
Augen zu bringen, die unendliche Verschiedenheit der Stellungen und
Gruppen der Kämpfenden in Ordnung zu halten; den Schwierig¬
keiten auszuweichen, welche die regelmäßigen Massen der heutigen
Kriegsführung dem Künstler entgegenstellen; welche Fruchtbarkeit, welche
gewandte Technik! Man darf von der Kunst Verres nicht die Eigen¬
schaften verlangen, welche Nachdenken und Mühe geben; nehmen
wir den Künstler als das, was er ist und wohl auch sein will:
der glänzendste und originellste Jmprovisator unter den Malern
Europas.
Das Malertalent ist in der Familie Venet'S erblich. Anton
Venet, der Urgroßvater von Horace, war ein guter Maler von Avig-
non; sein Sohn war Claude Joseph Vernet, der erste Marinemaler
seiner Zeit. Von ihm erzählt man die bekannte Anekdote, daß er
sich während des Sturmes an den Mast habe binden lassen und
ruhig gezeichnet habe. Horace Vernet, sein Enkel, hat dieses Ereig-
niß zum Gegenstand eines Gemäldes gewählt, welches im Salon
von 1823 ausgestellt war und sich jetzt in der Galerie des Palais
Luxemburg befindet.
Der Sohn Joseph's, Carl Vernet, geboren 1758, war Historien¬
maler, doch hauptsächlich wegen seiner Reitergefechte berühmt. Er
war der Schüler seines Vaters, gewann in seinem dreiundzwanzig¬
sten Jahre den erstell Preis, reiste als königlicher Pensionär nach
Rom und erhielt 1787 für sein großes Gemälde, „der Triumph des
Paulus Aemilius", einen Platz in der königlichen Malerakademie an
der Seite seines Vaters. Unter dem Consulat und zu Anfang des
Kaiserreichs erwarb er sich großen Ruf; Keiner wußte einen Reiter
zu malen, wie er. Seine Hauptwerke sind: die Schlacht von Rivoli,
die Schlacht von Marengo mit dem Angriff der Kellermann'schen
Kürassiere, die Schlacht von Austerlitz, die Abreise der Marschälle,
der Einzug in Mailand :c. Karl Vernet starb im November 1836
in einem Alter von achtundsiebenzig Jahren und konnte daher den
Ruhm seines Namens in seinem Sohne größer und schöner fortleben
sehen.
Der Berühmteste und Letzte dieser Künstlerfamilie, denn Horace
Vernet hat nur eine Tochter, ward in Paris am 30. Juni 1789
geboren, und zwar in den Galerien des Louvre, wo sein Vater und
sein Großvater wohnten. Seine Neigung zur Malerei zeigte sich
schon in seiner frühesten Jugend.
Er hatte keinen andern Lehrer als seinen Vater. Dieser schickte
ihn zwar eine Zeit lang in Vincent's Atelier, um dort nach der An¬
tike und der Natur zu zeichnen; aber der junge Vernet kam wenig
dorthin, denn das Studium der Antike sprach ihn nicht an. In seinem
zwanzigsten Jahre bewarb er sich zwar nur seinem Vater zu Liebe
um das Reisestipendium, aber das mythologische Bild, welches er zu
diesem Zwecke malte, hatte keinen Erfolg. Zu derselben Zeit aber
malte er eines seiner guten Schlachtenbilder: die Einnahme einer
Redoute.
Die classische Schule David's erfuhr bald eine Umwandlung;
unter Einfluß der großen militärischen Ereignisse jener Zeit neigte sie
sich zu immer größerer Modcmisirung des Kostümes und des dargestell¬
ten Gegenstandes, aber im Grund blieb sie immer classisch. Ein
französischer Schriftsteller entwirft folgende geistreiche Schilderung
vom damaligen Zustande der Kunst. „Die glänzenden Kriegsthaten
und die Begeisterung unserer Heere, und das wunderbare Genie
ihres Anführers, hätten Künstler, die weniger in den Traditionen
und Formen der classischen Kunst befangen gewesen wären, als die
unsern, gewiß zu Werken ganz neuer Art begeistert. Aber anstatt zu
schildern, was sie sahen, und statt den Krieger des neunzehnten Jahr¬
hunderts, wie er vor ihren Augen kämpfte, fiel und siegte, zu malen,
betrachteten alle großen Künstler jener Zeit — mit sehr wenig Aus¬
nahmen — diese Wirklichkeit als ihrer unwürdig und überließen es
denen, die sie verächtlich Genremaler nannten, die schrecklichen und
rührenden Scenen zu schildern, welche sie für zu gemein für ihren
-Pinsel hielten. Jene aber behielten den Basreliefstyl bei und be¬
schränkten sich darauf, den schon hundertmal gemalten antiken Sta¬
tuen die glänzenden Uniformen jener Zeit überzuhängen. Herkules
bedeckte seine breiten Schultern mit einem Küraß und schwang den
Pallasch, Bacchus zog den Husarcndolman an, Apollo setzte die
Grenadiermütze auf, Diana und Venus wurden Marketenderinnen
und Amor schlug die Trommel."
Horace Vernet war ganz der Mann dazu, um eine vollkommene
Reaction gegen die statuarische Schule einzuleiten. Zwischen einem
untergehenden und einem werdenden System steht stets der Skepti¬
cismus als Uebergang, und Horace Vernet ist ein Skeptiker in der
Malerei. Ohne Sinn für die Schönheit der Antike, die in der
Reinheit der Umrisse, größter Idealität der Formen, Correctheit der
Verhältnisse besteht; aber auch wenig bestrebt, den entgegengesetzten
Styl aus das Ausdrucksvollere ausging, sich anzueignen, wählte Ver¬
net einen Mittelweg. An die Stelle der der Antike nachgeahmten
Poesie setzte er zwar keine neue Poesie, sondern eine Prosa, leicht,
lebendig, glänzend, aber doch eine Prosa. Er malte mit Geist und Feuer
Soldaten, wie man sie auf allen Straßen sah, Schlachten, wie sie
das Bulletin darstellte, und gab so dem Volke ein Bild von sich
selbst, ohne Uebertreibung, aber auch ohne Poesie und Idealität.
Das Volk fand sich selbst verschönert in den Soldaten Vernet's wie¬
der, es bewunderte erst sich und dann den Künstler, und rief ihn
einstimmig als den ersten Maler des Jahrhunderts aus. Die Frucht¬
barkeit Vernet's ließ der Begeisterung der Zeit nicht Zeit zum Er¬
kalten: er improvisirte größere Gemälde wie Andere Aquarellen, so
erschienen nach einander die Schlacht von Tolosa, die Barriere von
Clichy, der ackernde Soldat, der Soldat von Waterloo, die letzte
Patrone, der Tod Poniatowski'ö, die Schlachten von Jemappe, Val-
my, von Montmirail, von Hanau, die Vertheidigung von Sara¬
gossa, das Blutbad unter den Mameluken von Cairo, und zahllose
andere Bilder, die> ich hier nicht aufzählen kann, ungerechnet die
Porträts, Seestücke, Landschaften und Jagden. Endlich im Jahr
1822, reichten die Bilder Vernet's zur Ausfüllung seines Ateliers
aus, und da man ihnen die Zulassung im Louvre immer noch versagte,
wurden sie von ihm dem Besuche des Publicums freigegeben, Jay und
Jouy schrieben einen ausführlichenKatalog über die damalige Sammlung.
'
Während Vernets Ketzerei einen so allgemeinen Beifall fand,
versuchte die classische Kunst sich noch einmal vor ihrem gänzlichen
Absterben aufzuraffen. Die griechisch-militärische Schule hatte sich
noch einmal umgewandelt: an dem Tage der Abdankung des großen
Kaisers legte sie die Uniform ab und wurde christlich. Der Hof
ging in die Messe, der König communicirte, die Beichtväter vergaben
Stellen und hatten die Schlüssel zum Staatsschatz in ihrer Hand.
Die Maler, wie heidnische Priester, welche sich zum Christenthum
bekehrten, machten ihre Venus zur Mutter Gottes, Apollo zum Erz¬
engel Michael, Ncprun zum Se. Nikolas, Jupiter zum Se. Peter,
und die Grazien, die Schwestern der Liebe, wurden in die drei theo¬
logischen Tugenden verwandelt.
Der christliche Impuls, den die Malerei erhielt, war stärker und
allgemeiner, als es der militärische jemals gewesen war. Die GrunD-
lagen blieben jedoch immer classisch. Es war eine Umgestaltung der
Schule, keine Veränderung. Aber jeden Tag wurden die Neuerer
zahlreicher; der Widerwillen gegen die Nachahmung größer; der
Durst nach Unabhängigkeit belebte die Massen und der Aufstand brach
aus. Der Krieg zwischen den Classikern und Romantikern war plötz¬
lich überall — in der Literatur wie in der bildenden Kunst — er¬
klärt. Victor Hugo und Eugene Delacroir gingen Hand in Hand
nach demselben Ziele, unter einem Banner und mit einem Fcldge-
schreie Freiheit der Kunst.
Horace Vernet wünschte zu sehr, mit der Zeit auf gleicher Höhe
zu bleiben, als daß er bei den ersten und lärmenden Erfolgen der ro-
mantischen Schule Hütte gleichgiltig bleiben können. Indem er noch
jeden Morgen fortfuhr, seine militärische Prosa zu improvisiren, mußte
er aber doch fürchten, daß die reiche, aber schon so stark in Anspruch
genommene Mine der Haudegen, grauen Ueberröcke und kleinen Hüt¬
chen sich endlich doch erschöpfen könnte. Er beschloß, sich auch in
dem neuen Genre zu versuchen.
Die Geschichte der Eroberung Englands durch die Normannen
war damals in allen Händen. Der Maler des Hundes des Regi¬
ments fand Geschmack an seiner weißen „Ediths," mit dem Schwa¬
nenhalse, welche allein unter den Gefallenen auf Hastings den Leich¬
nam ihres königlichen Geliebten, Harald, erkannte. Er malte die
schöne blauäugige Sachsin, wie sie nur von einem alten Mönch be¬
gleitet, sich über den Leichnam ihres Geliebten beugt. Dies Schlacht¬
feld, mit blutigen Trümmern bedeckt, die Jungfrau und der Mönch
hatten das Zeug, um eine ganze Academie in schrecken zu setzen.
Die Classiker schrieen laut über Scandal; die Romantiker fanden die
Erfindung gut, aber die Ausführung dürftig und kalt. Horace
Vernet befriedigte Niemanden; er wünschte die beiden Schulen °zu al¬
len Teufeln und reiste nach Rom, um dort zu versuchen, ob er sich
an Raphael neu begeistern könne. Er war seit langer Zeit schon
Mitglied des Instituts, und eben an Guerin's Stelle zum Vorstand
der in Rom studirenden französischen.Künstler ernannt worden. So¬
bald er sich in der Villa Medici eingerichtet hatte, — wo ihn, wie
ich glaube, die Julirevolution fand — gab H. Vernet glänzende
Feste, prächtige Bälle und studirte nebenbei die italienischen Meister
des sechszehnten Jahrhunderts.
Aus diesen Studien ging eine neue Reihe von Gemälden her¬
vor: Räuber, mit päpstlichen Carabiniren kämpfend, die Beichte des
Räubers, der Aufbruch zur Jagd in den pontinischen Sümpfen, die
Verhaftung deS Prinzen im Palais-Royal auf Befehl Anna's
von^Oesterreich, Judith und Holophernes, Papst Pius VI is., in der
Basilika Se. Peter, Raphael und Michel Angelo im Vatikan. Diese
Gemälde, welche Vernet während^seines fünfjährigen Aufenthaltes in
Rom malte, wurden im Pariser «salon ausgestellt, wo die Kritik ei¬
nige sehr schön, andere mittelmäßig fand. Andere, vorzüglich Michel
Angelo und Raphael im Vatikan, wurden von der Kritik hart mit¬
genommen.'
Da die Versuche Vernets im italienischen Styl im Allgemeinen
nur mittelmäßigen Erfolg hatten, kehrte er von Rom mit dem Ent¬
schluß zurück, das Fach nicht wieder zu verlassen, für welches ihn die
Natur geschaffen zu haben scheint. In dem Salon von 18Z6 stellte
er vier neue Schlachtbilder aus: die Schlacht von Jena, die von
Friedland, die von Wagram, und die von Fontcnoy.
Nachdem Vernet der illustrirende Historiograph des Kaiserreichs
und Oppositionsmaler der Restauration gewesen, wurde er von Rechts¬
wegen, der Aufzeichner der militärischen Großthaten der Juliregierung.
Die Eroberung Algiers war für ihn eine wahre Goldmine; hier
fand er für fein Talent, welches gegen den strengen historischen
Styl so rebellisch ist, neue Nahrung und neue Effecte. Von 1837
bis 1841 hat der Künstler, indem er in seinen Mußestunden mit sei¬
ner gewöhnlichen Fruchtbarkeit verschiedene Genrebilder, die meistens
im Orient spielen — wie Abraham, die Hagar verstoßend, Rebekka
am Brunnen, die Löwenjagd — Gegenstände, die, beiläufig gesagt,
nur wenig für sein bläuliches und kaltes Colorit passen, malte,
alle seine Kräfte einem großen Werk gewidmet, welches jetzt vollen¬
det ist, und dessen Ausführung ihm große Ehre macht.
Er hatte vom König den Auftrag erhalten, eine ganze Galerie
— die von Constantine — zu malen. Um nicht zu weitläuftig zu
werden, beschränke ich mich- darauf, die Kompositionen, welche diese
Galerie bilden, zu nennen. Der Eingangsthür gegenüber bemerkt
man drei große Gemälde, die schon im Salon von 1839 ausgestellt
»parer, Episoden aus der Belagerung von Constantine. Das erste
Bild stellt einen Ausfall der arabischen Besatzung dar, zurückgeschla¬
gen von einem französischen Bataillon, welches der Herzog von Ne¬
mours befehligt; in dem zweiten erkalten die Sturmcolonnen das
Signal, aus den Laufgräben hervorzubrechen; und im dritten sieht
man sie die Breche ersteigen. Diese Bilder haben alle gewöhnlichen
Vorzüge Vernet's; Kenner sagten sogar, daß die Pinselführung freier,
die Extremitäten besser ausgeführt als gewöhnlich seien. Zur Rech¬
ten dieser drei Gemälde befindet sich der Sturm auf die Citadelle
von Antwerpen, zur Linken die Einnahme deö Passes von Tamias;
an den beiden Enden des Saales befindet sich auf der einen Seite
das Bombardement von Se. Jean d'Ulloa, auf der andern das Ge¬
fecht von Habrah; neben der Thüre der Seitenwände: die Einnahme
von Bugia, die Besetzung von Ancona, der Einzug in Belgien, die
Flotte, den Eingang des Tajo forment, das Gefecht von Sickack,
das Gefecht von Saniah, das Gefecht von Afrum. Trophäen von
Waffen und Palmen verzieren die vier Ecken des Plafonds. Die
Abtheilungen desselben, mit Basreliefs von Gefechten in Märschen,
ausgefüllt, werden durch Medaillons, in Nachahmung von Bronze,
getrennt, auf denen acht allegorische Figuren: die Stärke, die Klug¬
heit, die Treue, die Mäßigkeit, die Gerechtigkeit, die Ausdauer, die
Tapferkeit und die Wachsamkeit dargestellt sind. Diese acht Allego¬
rien lind überhaupt der ganze Plafond, sind das Schwächste von
Vernet'S Arbeit. So sehr dieser Meister in der Darstellung einer
Handlung glänzt, so wenig gelingt es ihm, eine abstracte Idee vor
die Augen zu bringen; die Malerei <-u ij^freuet ist wegen der
Strenge der Formen und der Bedeutsamkeit der Idee, welche sie er¬
fordert, wenig für daS Talent deS Künstlers geeignet.
Wir sind jetzt am Ziele der Bahn, welche Vernet bis jetzt mit
so vielem Glück durchlaufen hat; wenn ich hier alle die tausend und
abertausend Compositionen, welche die Fruchtbarkeit unsers Künstlers
hervorgebracht hat, hätte aufzählen sollen, würde ein Band nicht ge¬
nügenden Raum geboten haben; ich habe mich daher auf die haupt¬
sächlichsten beschränkt. Indem ich jetzt einige persönliche Einzelnheiten
erwähnen will, muß ich noch ein Wort über eine Eigenschaft sagen,
welche Vernet in einer seltenen Ausbildung besitzt. Ich meine das
Gedächtniß des Auges, welches die Wahrheit seiner Gemälde erklärt.
Auf den ersten Blick erfaßt Nernct die kleinsten Details einer Hand¬
lung, einer Stellung, eines Costüms, und der einmal empfangene
Eindruck verlöscht sich nie wieder. Ein Soldat geht an Vernet vor¬
über. Wenn ihn der Künstler genau ansieht, und man verlangt nach
sechs Monaten eine Skizze des Soldaten von ihm, so schreibt er ihn
Wort für Wort auf das Papier oder die Leinwand ab, seinen Gang,
sein Gesicht und seine Tracht bis auf die Nummer des Tzschakvs und
den letzten Kamaschenknopf. Sein Auge ist ein wahres Daguerreo-
type; auch entwirft Vernet nur selten Skizzen. Er trägt eine Studie
eben so sicher in seinem Auge, wie Andere in der Mappe.
'
Soll ich noch einmal die Persönlichkeit Vernets schildern? Er
ist immer noch derselbe, wie ich ihn zu Anfange dieser Skizze gezeich¬
net habe, der echte Typus des französischen Offiziers in Gestalt und
Manieren, obgleich er nicht allein mit seinem Pinsel die Epauletten
eines Hauptmannes im Generalstabe der Pariser Nationalgarde ge¬
wonnen hat. Uebrigens wer sollte auch nicht Vernet in irgend einem
Theil der bekannten Welt gesehen haben? Der geistreiche Künstler
hat seine Sporen, seinen Schnurrbart und seine kosmopolitische Pa¬
lette überall sehen lassen. Er ist der Freund aller Soldaten und
aller Potentaten Europas. Lieblingsmaler des Königs der Franzo¬
sen, hat er den Segen des heiligen Vaters erhalten, eine Narguileh
mit dem Pascha von Aegypten geraucht und der Kaiser von Rußland
rief ihn zu sich.
Obgleich sehr jung verheirathet, hat Vernet doch nur eine Toch¬
ter. Ohne directe Erben seines Ruhms und seines Namens, hat er
sich entschlossen, diesen Namen wenigstens mit dem eines gleichbc-
rühmten Künstlers zu vereinigen, und seine Tochter, ein sehr schönes
Mädchen, mit Paul Delaroche verheirathet. Der dieser Ehe entspros¬
sene Sohn soll Vernet-Delaroche heißen. Er wird eine doppelt schwere
Erbschaft auf seinen Schultern zu tragen haben.
— DaS große Leipziger Museum wird in der Mitte dieses Mo¬
nats eröffnet. Es enthält, nach der ausgegebenen Liste, alle politischen
Hauptzeitungcn Deutschlands, die wichtigsten Parteiorgane Frankreichs
und Englands, eine oder zwei griechische und, wenn wi>: nicht irren,
auch eine dänische und schwedische Zeitung; dann die französischen Rc-
vucs, die englischen Reviews und die deutschen Vierteljahrs- und Mo¬
natsschriften von Bedeutung. Den meisten Raum nehmen die wissen¬
schaftlichen und Fachjournalc ein; die Anzahl der theologischen Blätter
allein kommt beinahe der letzten Rubrik, nämlich der schönwtssenschaft-
lichcn, gleich. In der That gibt es nicht so viel belletristische Jour¬
nale, als man gewöhnlich glaubt und klagt; besonders, wenn man die
rein localen Blättchen ausnimmt. Und wie viele davon beschäftigen
sich mehr mit publicistischcn Dingen, mit Oeffentlichkeit und Mündlich¬
keit, als mit den Geheimnissen der Musen I — Das Museum verspricht
für Leipzig ein gesellig literarischer Mittelpunkt zu werden. — In kei¬
nem Museum sollte eine Schrift fehlen, die übrigens noch nicht ge¬
schrieben ist: eine „Anleitung, mit Nutzen und ohne großen Zeitverlust
Journale zu lesen." DaS Journallcscn ist wahrhaftig eine Kunst, die
sehr Wenige inne haben. Wie in Gemäldegalerien einen Katalog,
so sollte man in großen Lcseanstaltcn eine Schrift der Art jedem
Besucher anbieten. Eine praktische Charakteristik der einzelnen Jour¬
nale, ein Wegweiser, »ach welchem man sich in dem weitläufigen Ge¬
biet orientiren konnte, wäre aber in allem Ernst von Nutzen.
— Man spricht allgemein von Reformen im deutschen Studenten-
thum und es sind bereits die ernsthaftesten Befürchtungen von manchen
Seiten ausgesprochen worden. Eine gewaltsame Umwandlung von
Außen her, eine Beschränkung der akademischen Freiheit wäre gerade
jetzt die größte Unklugheit, wo eben eine innerliche unwillkürliche Re¬
form im Studententhum vorgeht, welche die Regierungen nur beruhigen
kann. Der burschicose Geist verliert sich immer mehr. Wie die bur-
schenschaftlichen Ideen überhaupt, seit sie vom Staat selbst, ihrem Kerne
nach, anerkannt oder bekannt werden, sich in gesetzliche und loyale ver¬
wandelt haben, so ist auch der burschicose Studentengeist ein mehr
bürgcrthümlicher geworden. Die Jugend beginnt, die ihr natürliche
Stellung als Jünger und Novize des politischen Lebens einzunehmen,
statt übermüthig opponiren und von ihrem Standpunkt aus umwälzen
zu wollen. Und je mehr der Philister wieder zum Bürger wird, desto
mehr wird sich die Jugend ihm anschließen, desto besonnener und in
ihren Ansichten praktischer wird sie selbst werden. Und das sollte so
gefährlich sein?! —
— Herr von Haber befindet sich, nach neuern Nachrichten, nicht
in Paris, sondern an der holländischen Grenze, wo er Gölcr's Bruder
zum Duett erwartet; vorher, sagt man, will er sich vor die Assisen
von Alzey stellen, um über den blutigen Zweikampf, in welchem er
Sarachaga erschoß, Rechenschaft abzulegen. Gölcr's Bruder war schon
vor Sarachaga mit ihm engagirt; vielleicht sind es Andere auch noch.
Herr von Haber scheint übrigens am Ducllircn Geschmack bekommen
zu haben. Und warum nicht? Das Pistolenschießen ist auch eine
Kunst; und wenn man es zur Virtuosität darin bringt, wie manche
Cavaliere, sogar eine ehrenvolle, schöne und nützliche Kunst. Manche
behaupten, nur die Verzweiflung habe dem Heron von Haber Muti,
zum Zweikampf mit Sarachaga gegeben. Eben so gut könnte man
sagen, nur die Einbildung, einen furchtsamen, ungeschickten, in jeder
Hinsicht »»ebenbürtigen Gegner vor sich zu haben, flößte Sarachaga
den Uebermuth ein, den er vor und bei dem Duell zeigte. Mit dem
Duellmuth, als Prüfstein der Ehre, ist es überhaupt eine eigene Sache.
Aus kaltem Pflichtgefühl schießt man sich selten auf Leben und Tod,
sondern meist aus verzweifeltem Haß, aus stumpfer Gleichgiltigkeit ge¬
gen das Lebe», oder, wie manche Kavaliere, ans Vertrauen auf die
Ungeschicklichkeit des Gegners. Nun kann aber auch ein von Haber
im Schießen Virtuose werden und durch Gewohnheit Muth bekommen.
Ja, es wäre sogar möglich, daß am Ende der jüdische Bankier, ohne
es zu wollen, ein ducllwüthigcr, rauflustiger, echter Kavalier würde.
Das wäre für das badische Offiziercorps und für die badische Vollblut-
aristokratie ein neuer Aerger. Vielleicht würde das Ducllircn dann
nicht mehr für nobel, sondern für gemein und schmuzig angesehen. Auf
solche oder ähnliche Weise könnte es geschehen, daß einmal der Zwei¬
kampf aus der Mode käme.
Marburg ist bekanntlich eine der altem deutschen Universitäten;
— wem es etwa nicht bekannt ist, den verweisen wir auf die all¬
jährlichen Reden der Prorectoren und Decane. Als die erste, d. h.
älteste protestantische Hochschule, als Landesuniversität eines deutschen
Bundesstaates verdient sie allein schon Beachtung, wenn es besonderer
Gründe zu einer Beleuchtung akademischer Verhältnisse bedürfen sollte:
allein wir glauben, daß eine öffentliche Anstalt auch der öffentlichen
Kritik unterworfen ist, trotzdem man sich auch in den jüngsten Tagen
mit solcher Hartnäckigkeit an gewissen Orten dagegen wehrt. Mar¬
burgs Vergangenheit war zudem eine große. 'Sein Name hat einst
an dem vaterländischen Himmel geglänzt wie ein Heller Stern, jetzt
ist er erblaßt, er will zerstieben: sollen wir nicht unsere Augen auf
ihn heften? Es war die Wiege großer Heroen; Savigny, Vangerow,
O. Müller, Mackeldey, Herrmann haben hier ihre Laufbahn begon¬
nen, keiner von ihnen beschlossen: sollen wir da nicht halten und
nach der Gegenwart fragen? Diese Gegenwart wird auch Ver¬
gangenheit.
Nicht ohne Absicht ist das Alter Marburgs vorangestellt. Die
Universität, — nicht das Gebäude, denn ein solches gibt es nicht,
die Gewohnheit des Lehrers und Hörens in Marburg ist alt, seine
Institutionen sind alt, seine Professoren sind alt. Wir werden das
gleich sehen. Von dem historischen Alter bedarf es keines Nachweis
ses, auch gehört das nicht hierher. Die Institutionen sind im All¬
gemeinen nur wenig verschieden von denen der übrigen deutschen
Universitäten; nur die Gerichtspflege ermangelt zeitgemäßer Modifi¬
kationen. An ihrer Spitze steht, nicht wie anderweitig ein praktischer
Jurist, sondern der jedesmalige Prorector als Richter, daher nach
dem Wechsel der Fakultäten ein Theologe, Mediziner u. s. w. Ihm
steht ein Syndikus zur Seite, jedoch blos als Protokollführer, den
Spruch fällt in größeren Sachen der Senat. Bei der leider zu
umfangreichen Macht des Untersuchungsrichters und seiner großen
Verantwortung ist es natürlich ein Uebelstand, der zu Irrthümern
und Mißverhältnissen führt, wenn dies Amt einem Laien überlassen
wird. Oft kommen komische Dinge vor. Freilich ist die ganze Ein¬
richtung der Universitäts-Gerichtsbarkeit nicht eine polizeiliche, sondern
eine Vormundschaftsbehörde, die Erkenntnisse zu sehr von der „morali¬
schen Ueberzeugung" abhängig, als daß man Rechtsmittel gegen
Überschreitung in Händen hätte. Der Senat, sagt man, vertritt
Vaterstelle, und wie ein Vater seinem Kinde Dritten gegenüber im¬
mer eher Unrecht gibt, so auch jener bei Angelegenheiten Studirender
mit Andern. Gegen dies Verfahren sind in neuerer Zeit mehrfach
und verschiedenerseits Klagen erhoben worden, um so mehr, da die
Strafen weit härter sind als die polizeilichen. Am drückendsten aber
ist dasselbe an Orten, wie Marburg, wo die Leitung nicht einmal
Rechtskundigen übergeben ist.
Was das Alter der Professoren betrifft, so möge man dies vor-
läufig buchstäblich nehmen. In allen Facultäten finden sich eine
Menge alter, kathedermüdcr Docenten, welche ihre vorschriftmäßigen
Collegia jahraus jahrein lesen, weil eS so sein muß. In Mar¬
burg nämlich werden gegenwärtig nur Brodcollegia gelesen. Aber
das ist eS noch nicht allein. Selbst diese sind von einer erschrecken¬
den Eintönigkeit, bequem, breit, stereotyp. Es ist eine treffende Sa-
tyre von einem Studirenden, der ein mechanisch nachgeschriebenes
Heft aus früherer Zeit besaß und die eingestreuten Witze des Docen¬
ten voraussagte. Uebrigens sind diese Witze keine Contrebande, sie
haben alle Censur passirt, oder sind wenigstens stets dazu bereit.
Die jüngere Generation unter den Docenten ist nicht geschaffen, die
scheidenden auf eine würdige Weise zu ersetzen. Die Universität
hatte, wie bereits gesagt, früher die tüchtigsten Lehrer; daß sie nicht
geblieben, lag vielleicht in den amtlichen Verhältnissen, wir wollen
vies nicht untersuchen: aber man hätte diese leere Stätte dann
wenigstens durch den Klang anderer Namen ausfüllen sollen
DaS ist nie geschehen. Während man in Kassel an Manoeuvre und
Verbesserung der Uniformen dachte, wandten die Wissenschaften ihrem
alten Sitz den Rücken. Die verlassenen Lehrstühle wurden durch
junge Docenten besetzt, die — wenig Ansprüche machen. Dazu
kommt, was in kleinern Staaten vorzugsweise der Fall ist, daß
kleinliche Rücksichten oft bei Anstellung und Nichtanstellung vorwal¬
ten, und in Kurhessen konnte man in neuerer Zeit mehrfach bemerken,
welches treue Gedächtniß man für die politischen Jugendsünden An¬
derer hat. Die jüngere Generation bildet oder formt sich vielmehr
ganz nach ihrem nahen Vorbild, da sie von ihm am meisten erwar¬
tet. Dieser Zirkel, in dem sich das geistig-sociale Leben Marburgs
bewegt, wird noch lange bestehen, vielleicht daß zuweilen ein festerer
Kern aus der Kette sich löst und in die Feine verpflanzt wird, aber
die Kette wird deshalb doch bleiben. Herzschneidend aber ist es,
wenn man den wehmüthigen Blick auf die Vergangenheit richtet und
aus dem plötzlichen raschen Verfall der ehrwürdigen Philippina auf
eine traurige Zukunft schließen muß. Betrachtet man das nahe gelegene
Gießen, mit welchem Marburg schon vereint worden, welcher rege
Geist herrscht dort, in der kleinen Universitätsstadt, die kaum eine
Geschichte besitzt, im Vergleich mit dem alten namhaften Marburg?
Gießen zählt über 6tel) Studirende, darunter selbst Amerikaner,
Marburg selten 30V, darunter nur Inländer und Waldecker, deren
Landesuniversitüt es ist. Es war mehrfach schon das Gerücht ver¬
breitet, daß Marburg abermals mit Gießen vereint werden sollte,
und wir wünschen gewiß von aufrichtigem Herzen, daß es sich nie
bestätigen möge: aber was kann der Fortschritt einer Hochschule
sein, die von der Negierung mit Gleichgiltigkeit betrachtet und von
ihren Lehrern nur zu Zwecken des äußern Lebens benutzt wird?
Was zunächst die Philosophie betrifft, so ist von der eigent¬
lichen Wissenschaft der Philosophie keine Rede. Professor Hildebrand.
ein aus Breslau berufener Docent, entspricht weder den Erwartun¬
gen einer Partei, welche in ihm nur den früher polizeilich überwachten
Mann sieht, noch scheint er ganz das Vertrauen einer höhern Einsicht
errungen zu haben, welche ihn blos auf Verwendung deö ehemaligen
Ministers Hanstein berufen, ohne sein Leben und Wirken zu kennen.
Professor Vorländer, seit Ostern 1843 hier angestellt, war früher
Privatdocent in Berlin, wo er sich nur ein sehr kleines Auditorium
zu erringen gewußt. Sein Streben, eine unabhängige Bahn zwischen
Hegel, Herbart und Schelling zu verfechten, ist ein mißlungenes, da
ihn selbst seine Parallelen zu keinem Ziel führen. Außerdem man¬
gelt ihm die Persönlichkeit. Der einzige, von dessen talentvollen Be¬
mühungen sich etwas erwarten läßt, dem auch die Sympathien der
Jugend zu Theil wurden, ist ein junger Hegelianer, Professor Bair-
hoffcr, aber wir wünschen ihm einen andern Wirkungskreis, wo er
bessere Theilnahme finde. In den Sprachen zeichnete sich Hermann
würdig und erfolgreich aus, doch ist sein Abgang nach Göttingen
nur mangelhaft durch den Erlanger Privatdocenten Herrn Thiersch
ersetzt. Seit Michaelis hat Professor Huber, der meist unbesuchte
Sprachvorlesungcn anzeigte, die Universität verlassen. Man hat ihn
einmal, wenn ich nicht irre, in der Rheinischen Zeitung, einen Bettel¬
brief an die Preußische Negierung um Anstellung genannt. Ist er
das gewesen, so hat er seinen Zweck erreicht, aber weiter auch Nichts,
denn schon im November hat er seine Borlesungen in Berlin wegen
Mangel an Zuhörern eingestellt. In Marburg kam dies öfter vor.
Die theologische Facultät zählt einen nicht unbedeutenden Zu¬
fluß von Studirenden. Sie ist blos eine protestantische, die Katholiken
haben in Fulda das katholische Seminar und die Universität Würz-
burg zugewiesen bekommen. Die neuern Regungen sind ihr fremd
geblieben, eS ist eine zahme Staaten-Theologie, die dort gelesen
wird. Professor Rettberg, wohl der tüchtigste unter den Lehrern,
liest Kirchengeschichte und Dogmatik, doch ist auch er von der Ein¬
seitigkeit einer Partei nicht ganz frei. Professor Hupfeld, seit Mi¬
chaelis an Gesenius' Stelle nach Halle berufen, war mehr in sprach¬
licher Beziehung angesehen. Er stand an der Spitze der Theologisch-
Servilen und soll als Ephorus der Stipendiaten-Anstalt sich durch
pedantische Strenge unbeliebt gemacht haben. Die meisten der Theo¬
logie Studirenden und einige Andere sind auf diese Anstalt ange¬
wiesen, die aus sehr bedeutenden Fonds besteht und mit den Mvl-
lenbecker Beneficien (welche vor Jahren der Kronprinz in Bonn allein
bezog) eine große Anzahl unterstützt. Marburg ist in seinem äußern
Leben überhaupt einfach und schmucklos, da zwei Drittheile der seu-
direndm arm sind; man kennt die Bonner und Heidelberger Aristo¬
kratie nicht.
In der Juristenfacultät waren früher, wie schon erwähnt, die
bedeutendsten Männer, unter den jetzigen Lehrern wüßten wir kaum
Einen hervorzuheben. Professor Endemann, der liberalste und be¬
liebteste derselben liest ein nicht ganz uninteressantes Heft über deut¬
sches Privatrecht, aber ohne Originalwerth. Professor Platner und
Professor Löbell sind alt und bequem, sie vermögen nicht zu erheben,
am wenigsten der letztere mit seinem herben Vortrag. Dagegen ist
der einzige Mann der ganzen Universität, der die vollste Anerken¬
nung verdiente, aber bisher von der höchsten Einsicht doch noch man¬
gelhaft gefunden zu sein scheint, Professor Bündel. Seine Pandekten,
die er nach Wening-Jugenheim liest, sind äußerst tüchtig und na¬
mentlich bet den Controversen kernhaft und bestimmt. Seine civili¬
stischen Erörterungen haben, obwohl schon 1836 erschienen, erst jetzt
durchzuringen vermocht und bereits gerechte Anerkennung gefunden.
Bündel ist nach langen rastlosen Bestrebungen erst im Anfang dieses
Jahres zum ordentlichen Professor ernannt worden; der Grund seiner
bisherigen Zurücksetzung soll in der Verdächtigung früherer politi¬
scher Meinungen und in Theilnahme an gewissen Landtagen zu
suchen sein. Vielleicht wäre er noch immer nicht seiner untergeord¬
neten Stellung entzogen, wenn er nicht einen Ruf nach Breslau
erhalten, und man den einzigen Romanisten von Bedeutung zu ver¬
lieren gefürchtet hätte. Von den-Uebrigen ist Nichts zu bemerken,
es wäre denn Negatives. Der Mann, von dem ich am liebsten
reden möchte, dessen Verdienste als Staatsrechtslehrer nicht un¬
bedeutender sind, als die um die Hessische Nation, er kann als aka¬
demischer Lehrer jetzt nicht mehr genannt werden, der Riegel des Ge¬
fängnisses trennt ihn von einer begeisterten Jugend, und die Augen,
welche einst freudig an seinem zaubergewaltigen Munde hingen, sehen
ihn jetzt geknickt, auf den Arm seiner Frau gestützt und von Polizei¬
soldaten überwacht, einherwand»in — das Opfer der heimlichen Ge¬
richtsbarkeit. Dieser Mann ist Sylvester Jordan.
Der medizinischen Facultät ist mit dem Tode Vünger'S der
letzte Klang geraubt. Sie besteht aus den ältesten, unbeseelt Professoren
und aus jungen bedeutungslosen Docenten, unter denen sich einzig
1)r. Robert die Sympathie der Studirenden erworben.
Nicht ohne Wehmuth kann man auf diese Ruine alter Kraft
und Wissenschaft blicken, sie zerfällt wie so manches Herrliche, lang¬
sam, allmälig, nicht einmal mit einem Schrei des Schmerzes oder
Zornes. Und dabei ist der Geist der Studirenden unverkennbar
ein reger, erfreulicher, aber: „ES ist dafür gesorgt, daß die Bäume
nicht in den Himmel wachsen." Ein Leseverein, das sogenannte Mu¬
seum, hat einen reichhaltigen Vorrath von Schriften und Journalen,
aber von der dabei beabsichtigten Annäherung der Professoren zu
den Studirenden ist keine Spur zu finden. Im Gegentheil ist über
mancherlei Vorfälle Mißtrauen und Zwist entstanden, und wiewohl
im Ausschuß die Stimmen zwischen Professoren und Studirenden
gleich vertheilt sind, so weiß man doch zu wohl bei den Wahlen
umsichtig zu verfahren und der Kastengeist ist hier wieder im Conflict
mit dem allgemeinen, — auch unter den Studirenden.
Hier haben Sie ein Bild, eine Skizze der heutigen Philippina,
derselben, die einst der Stolz des protestantischen Deutschlands war,
derselben, auf welcher jetzt allein die Jugend Kurhesseus zum Staats¬
dienst, zur Lebensfreiheit herangebildet wird. Ich beuge mein Haupt
in Demuth.
Vielfach ist dieses Belgien von uns Deutschen angestaunt wor¬
den. Innerhalb eines Dutzend von Jahren hat dieses Land mehr
gethan, als wir innerhalb eines Jahrhunderts zu thun erhoffen dür¬
fen. Durch geschickte Benutzung des Augenblicks hat es sich Selb¬
ständigkeit und die freieste Verfassung erobert. Durch besonnene Ne-
gociationen nach Außen, durch rüstige Thätigkeit nach Innen hat es
sich im europäischen Staatcnverbande zu einem willkommenen Mit¬
glied«? erhoben. „Der Zufall war der Freiheit Belgiens günstig"
rufen die Diplomaten, „wären im Jahre 183t) Preußen, Oesterreich
und Nußland besser vorbereitet gewesen, dann hätte man diese unru¬
higen Kopfe von Flandern bald zu Paaren getrieben, und es gäbe
heute so wenig ein selbständiges Belgien, wie es nach dem Wiener
Frieden eins gab."
Allerdings! Aber schlaget die geschickte Benutzung des Augen¬
blicks nicht so gering an, Ihr Herren Diplomaten, was wäre sonst
Euer Verdienst? Zudem war dieses Belgien im Momente der Ent¬
scheidung einig mit sich. Dieses ist kein Zufall, sondern eine große,
bewundernswerthe Sache. Wäre Deutschland in gewissen Augen¬
blicken einig gewesen, so hätte es viel unnütze Dinte erspart — nicht
blos in Hannover und in Cassel.
Was den Deutschen, der in Belgien reist, besonders in Ver¬
wunderung setzt, das ist die Betrachtung, wie himmelweit verschieden
die beiden Stämme sind, die unter dem gemeinschaftlichen Namen
Belgier so einmüthig ihre Freiheit erkämpften und ihren neuen Staat
organisirten. Er, der Sohn einer Nation von dreißig Millionen
Mensche», die alle Eine Sprache reden, Einer Abstammung sind und
die in ihrem Gemeinsinn noch nicht einmal bis zur Niederreißung
der trennenden Zollschranken gelangt sind, er sieht mit verzeihlichen
Neid, wie hier zwei in Sprache, Abkunft, Sitten und Körperbildung
ganz verschiedene Nationalitäten sich die Hände reichten, um Ein
Volk zu sein, Eine Gesetzgebung, Ein Vaterland, Ein Recht, Eine
Freiheit zu haben.
Flamänder, von Vlaeming, Flandercr; Wallone, von ni
(Jemand, der die Mi-Sprache spricht) 5). Der Vlaeming ist Ger^
mane; der Wallone Gallier. Der Vlaeming spricht einen der ältesten
deutschen Dialekte, der Wallone einen der ältesten französischen; doch
wird ersterer besser von dem eigentlichen Deutschen verstanden, als
letzterer von dem eigentlichen Franzosen. Das Flamändische war und
ist Schriftsprache, das Wallonische war es nie.
Auch äußerlich ist der Unterschied zwischen dem Flamänder und
dem Wallonen zu erkennen; er ist eben so stark, als der zwischen dem
Magyaren und dem Slovaken und viel stärker als zwischen dem
Großrussen und dem Kleinrussen. Der Flamänder hat ganz den
germanischen Typus: Helles Haar, blaue Augen, weißen Teint; der
Wallone hat ganz den romanischen Ausdruck: schwarzes Haar, dunkle
Augen, braune, tiefgefärbte Haut. Zu diesen allgemeinen Stamm¬
zeichen gesellen sich noch- mehrere Localeigenthümlichkeiten. Der Fla¬
mänder ist in der Regel mittelgroß und stämmig; der Wallone hoch,
schlank und gelenkig. Jener ist phlegmatisch, aber ausdauernd; die¬
ser feurig, aber schneller ermüdet.
Die Kinder der Flamänder haben in der Regel wahre Engels¬
köpfchen; man kann sich kaum etwas Lieblicheres und sanfteres den¬
ken, als solch ein Gesichtchen mit den reinsten Schattirungen und dem
zartesten Teint. Letztern findet man selbst in den untersten, ärmsten
Volksclassen, und Niemand würde es glauben, wenn er eines dieser
lieblichen Geschöpfe mit der blendend Weißen Haut, dem zarten In-
carnat der Wangen und dem goldigere, reichen Haarwuchs vor sich
sieht, daß dies das Kind irgend eines Tagelöhners oder eines armen
Handwerkers ist. Aber wunderbar genug, je reifer der Knabe wird,
je mehr er sich entwickelt, um so entschiedener weicht der Reiz von
ihm. Die Flamänder haben durchschnittlich sehr wenig schöne Män¬
ner auszuweisen. Was das Kind zum Ideale macht, das artet beim
Mann oft in Weichheit und schwammigten aus. Die feine Haut
wird von der Luft gehärtet, die Züge werden plump, wie der ganze
Körper mehr in die Breite als in die Höhe sich entwickelt. Ganz
umgekehrt ist es mit den Wallonen. Es gehört die ganze Sorgfalt
wohlhabender Eltern dazu, um den unvortheilhaften Eindruck, den
die dunkle Hautfarbe und meist auch die Unregelmäßigkeit der Ge-
sichtszüge der Kinder hervorbringt, zu mildern. Das Kind des ge¬
meinen Mannes hat etwas Wildes, Rohes in seinem Aeußern, das
in einer öffentlichen Schule z. B. einen schreienden Gegensatz zu dem
sanften Ausdruck der flamändischen Jugend bildet. Aber gerade die¬
ses Kräftige und Wilde, das mit dem Antlitz eines Kindes nicht
verträglich ist, gibt ihm, je mehr es zum Jünglinge, zum Manne
reift, einen so entschiedenen Ausdruck, daß es die Schönheit ersetzt
und die unregelmäßigsten Züge in eine Harmonie bringt, welche der
Schönheit nahe kommt und in gewisser Beziehung noch mehr besticht
als sie. Dies findet auch bei den Frauen seine Anwendung. Die
flamändischen Mädchen und Frauen behalten der Natur ihres Ge¬
schlechtes gemäß den zarten Kindertcint, die feine Haut und das weiche
Colorit länger als die Männer. Die Frauen von Brügge und Ant¬
werpen sind wahre Ideale von sanftem Ausdruck und lieblichen Zü¬
gen. Aber von- der Büste abwärts verliert sich dieser Reiz: große
Füße, breite Hüften, ein Ansatz zur Wohlbeleibtheit, der bei der ersten
Gelegenheit ausartet. Die Wallonin umgekehrt ist selten schön, Und
selbst in günstigeren Fällen darf sie es nicht wagen, Arm und Nacken
allzuviel sehen zu lassen, es müßten denn die runden vollen Formen
für die dunkle Hautfarbe reichlich Entschädigung bieten. Aber der
schlanke zierliche Wuchs, das feurige, verheißende Auge, die kühne,
rasche Bewegung zeigen von TemM-amene und Phantasie und sind
oft viel anziehender als die regelmäßigen flamändischen Schönheiten,
welche Rubens zu seinen Idealen machte.
Daß sich zwei Racen, die so eng neben einander leben, nicht
unvermischt erhalten haben, versteht sich von selbst. Nur auf den
beiden entgegengesetzten Enden des Landes findet man die Stämme
in ihrer vollen Reinheit; in Brabant jedoch, wo die Grenzscheide des
Sprachgebiets sich befindet, konnte die Vermischung natürlich nicht
ausbleiben. Da findet man auf jedem Schritte den Gegensatz von
schwarzen Haaren und hellen Augen, der gewöhnlich das Zeichen
von einer Mischung südlichen und nordischen Blutes ist; da findet
man jenen gräßlichen Jargon, aus flamändischen und französischen
Worten zusammengesetzt, den weder der Flanderer noch der Lütticher
versteht. Die kleinen Antipathien, die man immer bei Nachbarvöl¬
kern, ja bei Nachbarstädten und Nachbardörfern findet, haben zwar
sich auch hier erhalten. Der Flamänder schimpft den Wallonen falsch
0->,8 villsti i8, viUsli is! heißt ein Jahrhunderte altes Sprichwort),
dieser dagegen nennt jenen dumm. Das untere Volk beider Stämme
hat immer für das andere einen Spitznamen, der oft zu blutigen
Händeln Veranlassung gibt, so daß vorsichtige Hausfrauen sich sogar
hüten, eine Flamänderin und eine Wallonin neben einander in Dienst
zu nehmen. In den höhern Ständen hat jedoch die Verbreitung der
französischen Sprache eine Verständigung herbeigeführt. Namentlich
seit der letzten Revolution ist die Harmonie eine innige geworden;
man hat eingesehen, daß Belgien nur durch die Ueberwindung der
kleinen Localvorurtheile seine Selbständigkeit und staatliche Eristenz
erhalten könne, und man muß den Kammern und den Behörden das
Lob zollen, daß sie Alles vermeiden, was eine Reibung und ein
Mißverständniß dieser Art hervorbringen könnte.
Dies ist auch der Grund, warum die Bemühungen der flamän¬
dischen Literaten, ihrer Sprache eine größere politische Bedeutung zu
erwerben, nicht gelingen, und ihre der Kammer überreichte Petition,
obgleich sie von mehr als hundert Gemeinden unterschrieben war,
keine Berücksichtigung fand. „I/lluvia t-ut >->, doree," ist die Devise
des belgischen Wappens, und diese Union hat hier eine um so schwe¬
rere Bedeutung, als sie zwischen zwei von Natur getrennten Völkern
ein Band zu bilden hat. In der That wäre diese Einheit ein Werk
der Unmöglichkeit, wenn nicht äußere Berührungspunkte da wären,
welche den beiden Stämmen einen Anschein von gemeinschaftlichem
Charakter geben. Vom Meere umspülte Küsten, von großen, schiff¬
baren Flüssen durchschnittene Gegenden, dort der üppigste Getreide¬
boden, hier unterirdische unerschöpfliche Schätze an Eisen und Kohlen
— wie sollte sich da nicht der Fleiß entwickeln? Die Industrie wurde
schon frühe die gemeinschaftliche Göttin dieser Lande; der Handel
folgte ihr auf dem Fuße. Die Schifffahrt lag in der Nähe und
holte den Wohlstand bald aus der Ferne. Der Bürger und Hand¬
werker wurde reich und fühlte sich. Der Fürst lernte hier den Ar¬
beiter und Handelsmann früher achten als in andern Ländern. Das
Verhältniß zwischen Herrscher und Volk wurde schon in frühesten
Zeiten ein Gegenstand steter Bewachung von beiden Seiten. Bei
dem mindesten Eingriff des erstem erhob sich letzteres in Masse; der
Handwerker war zugleich Krieger, nett die Hellebarde, oder, wie die
alten Flamänder diese ihre Lcibwaffe humoristisch nannten, der (Zoo-
üenllu,x (Gutentag), stand stets in dem Winkel blank geputzt, und
viel rüstiger zum Kampf bereit, als das Gewehr eines modernen
Nationalgardisten. Nach mancher bösen Nacht, wo die Gemeinden,
Zünfte und Gildmleute über die neue Steuer stürmisch berathen hat¬
ten, standen diese Lanzen vor dem Schlosse der Herzoge, Grafen und
Bischöfe von Flandern, Brabant, Hennegau und Lüttich und wünsch¬
ten mit durchdringender Stimme ihren «Zooden«^. Der Geist der
Opposition, die Gewohnheit der Revolte incarnirte sich. Diese „har¬
ten Kopfe von Flandern," wie sie Karl V. nannte, dieses „böse Blut
von Lüttich," wie Karl der Kühne sich ausdrückte, paßten recht gut
zusammen. Diese lebendige und oft sogar wilde Freiheitsliebe ist bei
beiden Stämmen ein Grundzug geworden, und was braucht eS bei
politischen Verbindungen mehr als Aehnlichkeit der politischen Volks-
stimmung? Dies ist es, was Flamänder und Wallonen, trotz der
Verschiedenheit der Racen, der physischen und geistigen Anlage, zu
Einem Volke gemacht und ihnen gewisse gemeinschaftliche Eigenthüm¬
lichkeiten aufgeprägt hat, die man fast Nationalcharakter nennen dürfte.
Der Belgier, Flamänder wie Wallone, ist enthusiastisch für sein Land,
eifersüchtig auf seine Freiheit und darum Patriot. Seit den ältesten
Zeiten gewohnt, seine Gemeinde-, Provinzial- und Landesangelegen-
heiten selbst zu besorgen und überall sein Wort mitzusprechen, hat
sich bei ihm ein Grad von Offenherzigkeit herausgebildet, der jedem
Fremden auffallen muß. Nirgends, selbst in Frankreich nicht, hört
man über politische Angelegenheiten so laut und unverhohlen sprechen,
als in Belgien. Dies erstreckt sich sogar auf die Staatsmänner;
zur Zeit der Londoner Protokolle waren die Diplomaten nicht wenig
in Verlegenheit, als sie ihre heimlichen Vorschläge und Pläne plötz¬
lich in den belgischen Kammern laut vor den Ohren aller Welt ver-
handelt sahen. — Diese allerdings etwas unnütze Naivetät haben
die belgischen Staatsmänner allmälig bei größerer Erfahrung abge¬
legt; indessen ist ihnen ein schöner Hauptzug geblieben, nämlich der
Widerwille gegen alle überflüssige Heimlichthuerei, durch die viele
andere europäische sogenannte Staatsmänner, zumal im lieben Deutsch¬
land , sich eine Wichtigkeit zu geben vermeinen. Wer je Gelegenheit
gehabt hat, mit den Herren Nothomb (gegenwärtig Minister des In¬
nern), Dechamp (Minister der öffentlichen Arbeiten), Van de Weyer
(Gesandter in London) u. s. w. zu sprechen, der ist gewiß erstaunt
gewesen, mit welcher Unverhohlenhcit diese Herren sich über die Lage
der Landesangelegenheiten aussprachen. Nirgends sind die Journale
besser unterrichtet als in Belgien (kW. über die inneren Geschäfte)
und hat der junge Staat trotz dieser Oeffentlichkeit in diesen, zwölf
Jahren etwa seine Geschäfte schlecht besorgt?
Ein zweiter Hauptzug des belgischen Charakters ist das tiefe
Gefühl für Recht und vor Allem für Gleichheit deö Rechts. Ob-
schon ein Handelsvolk und als solches im merkantilischen Handel
und Wandel schlau und auf seinen Vortheil bedacht, ist doch in allen
Rechtsfragen der öffentliche Sinn so geschärft und wachsam, daß
nirgendswo der Spruch von der vox populi einen bessern Beleg fin¬
det, als hier. Auch das ist eine Folge der Qeffcntlichkeit. Die
Rechtspflege kennt hier kein, Hinterthüren; ein bestochener Richter ist
hier ein fremdes Gewächs. Die öffentliche Meinung ist ein zu wach¬
samer und furchtbarer Gerichtshof, als daß man gegen sie sündigen
könnte.
Gutmüthig, bescheiden, rechtliebend und offenherzig, ist der Bel¬
gier ein liebenswürdiger und gemüthlicher Kumpan, wo ihr ihm auf
öffentlichen Plätzen begegnet; alö Gesellschafter, als Beamter, auf der
Börse, im Estaminet — überall wird ihn der Fremde zugänglich, an¬
spruchslos, praktisch, gefällig und das Leben erleichternd finden; an¬
ders ist es, wenn ihr ihn in seiner Familie aussucht. Hier steht der
Belgier seinen Nachbarn (mit Ausnahme etwa des langweiligen
Holländers) sehr nach. Auf dem öffentlichen Platze lernt ihr den
Belgier, d. h. den Mann, kennen; in seiner Familie lernt ihr die
Belgierin kennen, und das ist die schwache Seite der belgischen
Gesellschaft. Die Belgierin ist eine rüstige, musterhafte Wirthin; von
dem weißen Linnen deö Tischtuches bis zu dem messingenen Knopf
an der Thürklingel wird man bei ihr Alles stets glänzend und von
Reinlichkeit leuchtend finden. Die Belgierin ist die tugendhafteste
Hausfrau. Selten hört man von einem Vergehen gegen die eheliche
Treue; sie ist eingezogen, anspruchslos, wenig vergnügungssüchtig;
aber sie ist auch das unpoctischste, langweiligste Geschöpf, das je der
Himmel mit weichen Gliedern und seidenen Locken gesegnet hat. Sie
hat weder die Bildung und die warme Sentimentalität der deutschen
Frauen, noch den natürlichen Geist und die angeborene Grazie der
französischen. Dem untern Stande angehörig, erhält sie ihr Bischen
geistiges Leben rein aus der Hand des niedern Geistlichen, der in
dem schwärzesten Aberglauben die sichersten religiösen Bande zu
knüpfen glaubt. Die wohlhabenden Classen senden das halberwachsene
Mädchen in ein Mädchenpensionat, wo sie bis zu ihrem Eintritt in
die Welt, d. h. bis kurz vor ihrer Verlobung, ihre Erziehung voll¬
endet. Diese Penstonöerziehung ist oft genug auch in andern Ländern
mit allen ihren Nachtheilen beleuchtet worden. In Belgien zumal,
wo das Erziehungswesen überhaupt noch in seinen Kinderschuhen ist
und wo einerseits der Ignoranz und andrerseits dem Clerus allzu¬
viel Spielraum gelassen wird, da sind die Mängel der Pensionats¬
erziehung noch schädlicher und auffallender als anderswo. Das
Mädchen tritt als Gliederpuppe aus demselben; mit den allerober-
flächlichsten Schlagwörtern der modernen Bildung dürftig ausgestat¬
tet, unentwickelt in seinem Gemüthsleben, ohne nachhaltige Anregung
in seiner Gedankenwelt, fällt es, sobald es verheirathet wird, dem
allergewöhnlichsten Materialismus heim und die ganze Erziehungszeit
liegt da wie eine unnütze Episode des Lebens. Soll hier noch eine
Ausnahme stattfinden, so müssen wir sie zu Gunsten der Wallonin
machen; ihr kommt wenigstens ihre Muttersprache, das Französische,
zu Gute. Die herkömmlichen feinen Wendungen der französischen
Sprache werden ihr eben so geläufig wie der Französin, und die
französische Lectüre weckt und regt ihren Geist doch immer auf eine
nationale Weise an. Die Fi--mänderinnen hingegen, die ihre Erzie¬
hung in französischer Sprache machen (und dies ist in allen Pensio¬
naten Belgiens der Fall), werden in ein ganz fremdes, ihrer natio¬
nalen Eigenthümlichkeit widerstrebendes Element versetzt; sie haben
mit dem Dictionnaire, mit Orthographie und Grammatik während
des größten Theils ihrer Erziehungsjahre zu hart zu kämpfen, um
Freude an der Sprache oder gar große literarische Kenntnisse in
derselben zu erlangen. Der Esprit der französischen Sprachwendun-
gen bleibt ihnen immer Etwas, das ihrer Natur sich nicht fügen
kann. Gegen ihren eigenen niederdeutschen Dialekt haben sie eine
eben so nachtheilige als lächerliche Verachtung, und statt durch Stu¬
dium des Holländischen sich wenigstens nach einer Seite hin zu bil¬
den, vernachlässigen sie die angeborene Sprache und werden dadurch
zu jenen Zwittergeschöpfen, die halb gebraten, halb roh, im Ganzen
ungenießbar sind für alle höhere Geselligkeit.
Vor Kurzem wurde im französischen Theater zu Berlin ein neues
Stück gegeben, daS sehr gefiel. Am Schlüsse desselben, nachdem der
Liebhaber die Geliebte zur Frau erhalten, machte ein Theil des Pu-
blicums, nach gewohnter deutscher Art oder besser gesagt Unart, sich
zum Fortgehen bereit, während die Schauspielerin noch ihre Schluß-
Couplets zu singen hatte, in welche bekanntlich die französischen Vcm-
devillisten das beste Salz ihres Witzes zu legen pflegen. Die ge¬
räuschvolle Unruhe der deutschen Zuschauer, die sich von den Bänken
erhoben, Sitze zuklappten u. s. w. störte einige anwesende Franzosen
und beim Herausgehen entwickelte sich zwischen zwei, drei Personen
ein heftiger Wortwechsel, der auf ein Stelldichein auslief. Am an¬
dern Morgen trafen sich die Gegner mit ihren Zeugen; die Klingen
kreuzten sich, eine Hand wurde gestreift, einige Tropfen Blut quollen.
Der Ehre war Genüge geschehen und nach herkömmlicher Weise en¬
dete der Act mit einem guten Frühstück. Der Schreiber dieser Zeilen,
ein Zeuge jenes kleinen Dramas, kann nun nicht umhin, seinerseits
die Schlußcouplets, die Moral dieses kleinen Schauspiels hier nieder¬
zuschreiben und er hofft, die Leser einer deutschen Zeitschrift werden
geduldiger sein als die Zuschauer in einem deutschen Parterre.
Wie oft hört man über die Unfruchtbarkeit der deutschen Bühnen¬
dichter im Vergleich mit den französischen räsonniren. . Daß die Schuld
mehr an dem Publicum und seiner Verschiedenheit diesseits und jen¬
seits des Rheins, als an den Dichtern liegt, wird selten ausgespro¬
chen. Noch weniger aber getraut man sich zu sagen, daß das denk-
sche Volk „das Volk der Denker," „der tiefen Empfindung" und was
wir uns noch für große Eigenschaften alle beilegen, ein weit ober¬
flächlicheres, ungebildeteres und vor Allem ein geistloseres Thcater-
publicum ist als das französische. Beweise können wir von allen
Seiten herbeiführen. Die rohesten Stücke, die man in Paris
nur aus dem Boulevardtheater letzten Rangs zu geben wagt,
bilden die Zierde unserer Hofbühnen. Piecen, in denen die
Keuschheit und die gute Sitte veraltete Begriffe sind, die in
Paris nur zUr Ergötzung der Grisette und ihres Liebhabers dienen,
werden bei uns in Gegenwart der „hohen" und „höchsten" Herrschaften
aufgeführt und die frommen Prinzessinnen eines großen norddeutschen
Hofes amüsiren sich bei den mehr als zweideutigen Scenen des Vi-
comte de Letorricres! Die Pariser Vorstädte, die immer von einer
bestimmten Volksclasse bewohnt werden, richten ihre Bühnen immer
darnach ein, diesem bestimmten Publicum zu gefallen. Die Stücke
des Theaters der Faubourg Se. Antoine haben gewöhnlich irgend
einen Handwerker zum Helden, der den Reichthum verachtet und
durch seinen Edelmuth die vornehmen Grafen und Banquiers be¬
schämt. Die Faubourg Se. Antoine ist von Handwerkern bevölkert.
Ein anderes Theater, daS sein Publicum unter den Bewohnern deS
Quartier Ladin recrutirt, hat zu seinem Helden gewöhnlich einen
jungen Studenten oder einen jungen Maler, der am Schlüsse ein
reicher Herr wird und entweder eine Herzogin oder seine Ge¬
liebte, das hübsche Ladenmädchen, heirathet. Alle' diese Stücke sind
mit Schlagworten und Sittenschilderungen gefüllt, die mit dem Leben,
aus dem sie gewachsen sind, organisch zusammenhängen und daher
auch auf keine andere Pariser Bühne übergehen. Dieser ganze
Kram wird nun schaufelweise, Kraut und Rüben durcheinander, dem
deutschen Publicum vorgeführt, und das deutsche Parterre beißt dar¬
ein mit so frischem Appetit, als säßen heute lauter Studenten und
morgen lauter Tischler- und Schlossergesellm und übermorgen lauter
Grisetten umher. — Sehen wir nun aber das Bild umgekehrt; die¬
ses deutsche Publicum, das einen so unverwüstlichen Magen für die
Stücke der tumnambules und des Theaters <1e Mi-klare- cle 8-i.calli
hat, wie goutirt es die Stücke des Theater kraii^is, das Repertoire
der gebildeten Pariser Welt? Seit die alte Tragödie Racine's und
Corneille's wieder eine entsprechende Darstellung durch die Rachel ge-
funden hat, strömt ganz Paris wieder den Werken seiner alten tra¬
gischen Meister zu. Nicht etwa flüchtig als Modesache; vielmehr ist
seit dem ersten Auftreten der Rachel, also seit fünf Jahren, die Lust
an dem alten Drama sich gleich geblieben. Wo ist aber die Lust
an unserm Corneille, an unserm Racine bei uns geblieben? Man zähle
nach, ob unsere Bühnen alle zusammen während dieser fünf Jahre
so oft die Göthesche Iphigenie und den Tasso gegeben haben, wie
das Theater l',--»»«^!« den Polycuct und die Horatier? Und die
Schuld liegt keineswegs blos an unsern Theaterdirectoren. Würde
das deutsche Publicum an unserm classischen Drama den rechten
Antheil nehmen, die cassalustigen Direktionen würden gewiß nicht
sparsam damit sein; man thut den Direktionen Unrecht, wenn man
glaubt, daß gerade sie es sind, welche die „drei Tage aus dem Leben
eines Spielers" und den Lumpacivagabundus der Braut von Mes-
sina und dein Wallenstein vorziehen.
DaS deutsche Volk ist allerdings überhaupt nicht so theaterlustig
wie das französische. Wahrend es in Paris mehr als ein Dutzend
Theater gibt, wo im Parterre und in Logen der Handwerker, der
Kleinkrämer, ja der Taglöhner als Publicum sitzt, findet man in
deutschen Städten nicht nur die Zahl der Theater, (selbst Verhältniß-
mäßig genommen) beschränkter, sondern Parterre und Logen sind nur
von den gebildetem Classen besetzt und das Paradies, die ober¬
ste Galerie, reicht für die Schaulustigen der untern Stände reichlich
aus. Aber gerade dieser Umstand ist wieder gravirend für uns.
Indem man uns die Stücke jener Volksbühnen übersetzt und unse¬
rem Parterre das'bietet, was der französische Originaldichter für
sein Parterre berechnete, stellt eS sich deutlich heraus, daß das
deutsche Theaterpublicum, welches aus der Elite der deutschen Gesell¬
schaft besteht, auf einer gleichen Bildungsstufe mit jenem französischen
Theaterpublicum, sich befindet, welches den umern Ständen angehört.
Schauen wir nur recht herzhaft in den Spiegel und sehen uns
unser Bild ungeschmeichelt an. Das deutsche Volk, „das Volk der
Denker", hat sich in letzterer Zeit allzuviel Complimente gemacht, eS
muß auch ein Mal die Wahrheit hören. Nicht die Schlaffheit der
Dichter ist Schuld, daß das Drama nicht zur Blüthe kommen kann;
der Zustand unseres Publicums macht den Boden so sandig, daß
nur selten ein Korn Wurzel fassen kann. Das deutsche Publicum ist
ein Prahlhans; mit der Zunge führt es hochästhctische Reden, in sei¬
nem Herzen aber hat eS eine rohe Lust; in seinen kritischen Koch¬
büchern ist es ein Gourmand, dem nur das Feinste behagt, in Wirk¬
lichkeit aber hat es den Magen eines Taglöhners, dem das Massen¬
hafte lieber ist, als die Delicatesse. Der arme deutsche Dichter! Hält
er sich an daS Kochbuch, so schreien sie über Hunger; stillt er ihren
rohen Appetit, halten sie ihm das Kochrecept entgegen. Der fran¬
zösische Dichter hat vie Wahl; ist sein Talent grobkörnig, wendet er
sich an die Vorstadt, an das Volk; ist es aus feineren Gewebe, wen¬
det er sich der Bildung, der Elite zu. Der deutsche Dichter wird in
eine und dieselbe Löwengrube geworfen; wenn der eine Löwe ihn
verschont, frißt ihn der andere auf.
Vielleicht findet sich mancher Leser beleidigt, daß wir daS deutsche
Theatcrpublicum in Logen und Sperrsitzen nicht höher als das eines
Pariser Vorstadtpublicumö schätzen. Und doch müssen wir noch einen
Schritt weiter gehen und sagen, es ist unartiger und ungeduldiger
als dieses. Das Pariser Publicum selbst des letzten Ranges hört
den Dichter ruhig bis zu seinem letzten Worte an. DaS Schlußcou¬
plet im Vaudeville, die Schlußmoral im Drama oder im Lustspiele
findet dieselbe Aufmerksamkeit wie die erste Scene der ErPosition.
Das deutsche Publicum erhebt sich, sobald die Katastrophe eingetreten
ist; sobald seine rohe Neugier befriedigt wurde und es den Schluß
deS Märchens weiß, bricht es auf wie eine Truppe ungezogener Schü¬
ler, die die Glocke, welche daS Ende der Schulstunde anzeigt, läuten
hört. Was der Dichter noch auf dem Herzen, was er als K,,-
Kulm lZocvt noch zu sagen und zu erläutern hat', die Blüthe seiner
Gedanken, die Seele seiner Dichtung, das will man nicht mehr hö¬
ren. Diesem philosophischen deutschen Publicum, diesem Volk der
Denker muß man den Vorhang fallen lassen, sobald der Hans die
Grete bekommen hat, sobald der Geßler todt am Boden liegt. Daß
der Dichter noch einer Scene bedarf, um den Tod der Stuart an
der Elisabeth zu rächen, um den Mord Geßlers zu mildern, für dies
Alles hat dieses Volk der Denker keine Zeit mehr. Und nicht blos
etwa den Schauspiel, selbst in der Oper, wo doch die Handlung eine
so untergeordnete Rolle spielt, muß man den Vorhang senken, nach¬
dem der große Block der Hauptaction gefallen ist. Für dieses Volk
der Denker muß man die letzte großartige Scene im Don Juan, wo
Donna Elvira und Ottavio noch ein Mal auftreten, weglassen.
Denn, nachdem Don Juan vom Teufel geholt wurde, waS kann das
deutsche Volk da noch interessiren? Auch im Othello mußte man
die letzte Meisterscene aus gleichen Gründen streichen, während sie in
dem unphilosophischen Italien und Frankreich gesungen wird. Be¬
steht nun aber ein dramatischer Dichter darauf, daß die letzte Scene,
die er als poetischen Schlußstein, als Frucht der ganzen dramatischen
Fabel nöthig hat, gespielt werde, so sieht er mit trübem Herzen die
eine Hälfte des Auditoriums die Plätze verlassen; das Geräusch
stört die Aufmerksamkeit der andern Hälfte, und der Vorhang fällt
endlich unter allgemeiner Lauheit; das Stück, das bis zur vorletzten
Scene einen günstigen Erfolg hatte, scheint ihn plötzlich völlig einge¬
büßt zu haben. Die Schauspieler werden schwach oder auch gar
nicht gerufen. Alles scheidet in einer unbehaglichen Stimmung; denn
wohl gemerkt, dieses Volk der Denker vergißt die Wohlthaten eines
ganzen Abends während einer einzigen Scene. ES küßt den Dichter,
den Darsteller nur, so lange es den Zucker auf der Zunge hat. —
Gibt nun aber der Dichter den Vorstellungen des Regisseurs und
der mitwirkenden Darsteller nach und streicht mit blutendem Herzen
die letzte Scene, dann kommt die Kritik, die deutsche Kritik, die um
keine Praris sich kümmert, weil sie Nichts von ihr versteht, und geißelt
den armen, ohnehin genug unglücklichen Poeten und hält ihm ein
ganzes Register von Sünden vor, die er gewiß gesühnt hätte, wenn
er nur sein letztes Wort hätte sprechen können. Und was das
Schlimmste ist: das deutsche Publicum, der wüthigste Necensionenfresser
der Welt, macht gleich Chorus hinter den Kritikern her und derselbe
Götze, dem der arme Dichter das Herz seines Kindes geopfert, ver¬
urtheilt ihn nun als einen gemeinen Baalsdiener.
Diene Einer dem deutschen Parterre!
Die Jnstallirung des Erzherzogs Stephan als Gouverneur von
Böhmen hat vielerlei Hoffnungen rege gemacht. Das Ereigniß hat
allerdings für das, von vielfachen neuen Culturbewsgungen erregte
Böhmen eine wichtige politische Bedeutung. Seit vielen Jahren
war diese reiche österreichische Provinz blos von Oberstburggrafen
administrirt. Diese wurden gewöhnlich aus dem Adel des Landes ge¬
wählt und hatten eine zu schwere Verantwortlichkeit auf ihren Schul¬
tern lasten, um in wichtigen Augenblicken, wo der Chef einer Regie¬
rung energisch aus sich selbst schöpfen muß, selbständig handelnd auf¬
treten zu können. Zudem pflanzte die Intrigue und die Eifersucht
manches Standesgenossen genug der Dornen dem Oberstburggrafcn in
den Weg. Nach Oben sich vertheidigend und nach Unten anordnende
Befehle ertheilend, mußten die böhmischen Oberstburggrafcn bisher Hof¬
männer, Diplomaten und Administratoren in ein und derselben Per¬
son sein, und nicht Jeder hatte das Talent, diese drei Eigenschaften
zu vereinen. — Indem nun Böhmen gleich Ungarn und dem lom¬
bardisch-venezianischen Königreiche einen kaiserlichen Prinzen an die.
Spitze seiner politischen Verwaltung erhält, wird der Entwickelung des
Landes offenbar eine neue Phase geöffnet. Viele kostbare Zeit, die
früher durch die Aufklärungen, welche die Wiener Ccntralrcgicrung ver¬
langte, verschwendet wurde, wird jetzt bei neuen Unternehmungen er¬
spart werden, da der Hof in der Gegenwart eines seiner Erzherzoge
eine Garantie gegen persönliche ehrgeizige Absichten und Zwecke findet.
Andererseits muß der Einfluß eines kaiserlichen Prinzen auch nach
Unten zu belebend wirken, und Manches, was einem Obcrstburggrafen
bei neuen Organisationen ein unübersteigliches Hinderniß gewesen
wäre, wird von Seiten des stolzen Landesadels dem Wunsche und der
Verwendung deS neuen Gouverneurs gefällig weichen. —
So überläßt sich nun jede der verschiedenen Gesellschaftsclassen
ihren speciellen Hoffnungen. Der Erzherzog kam mit dem neuen Jcchre
an, zur fruchtbarsten Zeit goldener Zukunftsträume. Die Beamten
sehen sich schon im Geiste mit neuen Würden und Ordensbändern be¬
deckt; der Adel träumt von großen Festivitäten; die Industriellen er¬
hoffen neue Schutzzölle; die Krämer erwarten reichen Absatz für das
Hoflager; die Buchhändler und Schriftsteller — denn es gibt auch
Schriftsteller in Prag — sehen Ccnsnrcrlcichtcrungcn entgegen; kurz
jeder spiegelt sich das ihm zunächst Liegende auf das freundlichste vor.
Um von allen diesen Hoffnungen eine näher zu beleuchten, wol¬
len wir die hervorheben, die uns wenigstens am nächsten liegt, nämlich
die der Presse. — Wenn irgendwo im Bereiche geistiger Bestrebung
Abhilfe nöthig ist, so sind es sicherlich rie Nöthen der österreichischen
Provinzialpresse. Man hat viel von der Wiener Censur gesprochen
und geschrieben, und doch verhält sich die Wiener Censur zu der in
den Provinzen, d. h. in den deutschen Provinzen, und für deutsche
Publication, ungefähr wie unser Adel zu den bürgerlichen Ständen
sich verhält. Die Wiener Journale stehen doch wenigstens in der
Nähe der ersten entscheidende« Instanz. Der oberste Chef des Censur¬
wesens ist in derselben Stadt, und in dringenden Fällen ist eine Apel-
lation möglich. Nicht so in den Provinzialstädten, wo die Censur
von untergeordneten Beamten geübt werden muß, die natürlicherweise
in ihrer Aengstlichkeit noch einen Schritt über das Mögliche hinaus¬
gehen. Zudem hat die Wiener Staatskanzlei und die Polizei-Obcr-
hofstelle schon von vorn herein den Kreis der Provinzialjournale be¬
gränzt. Sollte man es glaube», daß z.B. die Präger politische Zeitung
das ganze wichtige Ereigniß der Ankunft des neuen erzherzoglichen
Gouverneurs, mit allen damit verbundenen Feierlichkeiten und Prc-
sentirungen der Behörden, Stände :c. nur in wenigen kurzen Worten
anzeigen durfte!? — Die Censurvorschrift verbietet nämlich jeder Pro-
vinzialzeitung jede politische Origiualmitthcilung, die nicht früher in
dem österreichischen Beobachter, oder in der Wiener Hofzeitung erschie¬
nen ist und somit ihre Sanction in Wien erhalte» hat. — Wenn
z. B. der Fürst Metternich das Schloß KönigSwarth besucht, darf die
Präger Zeitung nicht melden: Seine Durchlaucht der Fürst Staats--
kanzlcr sind gestern auf ihrem Schlosse wohlbehalten und gesund an¬
gekommen in., sondern sie muß diese Nachricht den Weg über Wien machen
lassen und warten, bis die dortigen Blätter es publicirt haben. —
Der Grund dieser Norm liegt offenbar in dem Mangel an Vertrauen
zu der politischen Einsicht der Provinzialccnsorcn. Wir haben daS
Nächstliegende geringfügige Beispiel hervorgehoben; man möge davon
auf andere wichtigere schließen. Die bescheidensten Anforderungen wer¬
den gestehen müssen, daß ein solcher Zustand der Presse nicht länger
mehr haltbar ist, um so weniger, als diese Fesseln gerade ti« deutsche
Presse am härtesten binden, während rings um sie her die czechischen
Journale sogar sie überflügeln. — Während man einerseits vor den
Angriffen der Panslavisten sich ängstigt, verstopft man andererseits die
Organe, dnrch die deutsche Bildung die sichersten und weitesten Erobe¬
rungen machen konnte. In ganz Böhmen, d. h. in einem Lande von
mehr als zwei Millionen Einwohner, von denen bei weitem zwei
Dritttheile der deutschen Sprache mächtig sind, erscheint chi einziges
politisches Blatt, — und welche Politik! — die Präger Zeitung, und
diese nur vier Mal die Woche. Neben ihr erscheinen noch vier belle¬
tristische Zeitschriften. Die Bohemia, Glasers Ost und West, daS
Panorama des Universums und die Erinnerungen, so daß die ganze
Populäre Journal-Literatur eines großen, an Intelligenz und Bildung
reichen Landes, fünf Mann hoch, die Wache bezieht. Fünf Mann
niedrig, sollte man eigentlich sagen; von hoch ist hier nicht die Rede.
Nicht etwa, daß es an dem guten Willen der Herausgeber fehlte, ihre
Journale zu einer gewisse» Höhe zu bringen, vielmehr scheut die thä¬
tige haasischc Buchhandlung weder Kosten noch Mühe, die in ihren,
Verlage erscheinenden drei Blätter so anständig als möglich auszustat¬
ten. Die Bohemia ist im Vergleich mit andern ähnlichen, einer po¬
litischen Zeitung beiliegenden Unterhaltungsblättern, ein sehr rühmens-
wcrthcs Blatt zu nennen. Es nährt sich keineswegs, wie die Frank¬
furter Didaökalia, wie daS Dampfboot und ähnliche Zeitschriften, vom
Nachdruck, vielmehr sind alle ihre Artikel Original, und so weit das
Talent der einheimischen Schriftsteller ausreicht und die gcdankcn-
mördcrischc Censur nicht eingreift, frisch und rüstig'). — Glaser's
Ost und West ist auch in Deutschland hinlänglich bekannt und gele¬
sen, und es ist wahrhaft bewundernswerth, wie unter den mißlichen
Verhältnissen, mit denen ein Prager Blatt zu kämpfen hat, eS dem
Redacteur gelingt, eine so reiche Masse von Material in seinem Blatte
zu hciufcu. Die Grundtendenz dieser Zeitschrift, eine Vermittlung des
slavischen Osten mit dem deutschen Westen zu bewerkstelligen, ist zwar mehr
in dem Bereiche eines wissenschaftlichen Organs, denn eines belletristi¬
schen, indessen wäre bei einer freieren Bewegung selbst gegenüber einem
großen Publicum manches Erfolgreiche zu leisten möglich. Herr Gla¬
ser, der Seriptor an der Universitätsbibliothek ist, seine beste Kraft
aber seinem Blatte widmet, sieht sich nichtsdestoweniger auf allen Sei¬
ten behindert, und so ist dieses Organ, in welchem der Streit zwischen
Deutsch und Czc'chisch eine schöne Vermittlung haben könnte, in seinem
besten Wollen gelähmt. Daß es in Böhmen keineswegs an reger
Theilnahme für deutsche Literatur fehlt, daS beweisen die zahl- und
gcschäftsrcichcn SortimcntSbnchhandluugcn in Prag, die allwöchentlichen
schweren Bücherballen, die von Leipzig einlaufen und die Wohlhaben¬
heit, deren der größte Theil dieser sich erfreut, das beweisen ferner die
zahlreichen Abnehmer, welche die wenigen deutschen Blatter, die hier
erscheinen, im Lande finden. Die „Bohcmia" setzt drei Tausend
Exemplare ab; das Panorama des Universums (ein Blatt uach dem
Muster des Cotta'sehen Auslands, welches von F. Klutschak redigirt
wird) fast eine gleiche Anzahl. Die „Erinnerungen" (ein Volksblatt,
redigirt von Urbani) sogar an siebentausend. An Lesern fehlt es so¬
mit in Böhmen nicht; an kenntnißreichen, talontvollcn Männern eben¬
so wenig. Und doch ist dieses schöne Land für deutsches Litcraturlebcn
wie ein abgesperrter Teich, in welchem die besten Fische erstarren. Wird
der vou allen Seiten als ein ebenso geistreicher, als wohlwollender
Mann gerühmte Erzherzog Stephan eine Reform in diese traurige»
Zustände bringen? Die früher von den Obcrstburggrafcn, oder rich¬
tiger gesagt, von den jedesmaligen Präsidialseeretärcn geübte Censur
war eine der ängstlichsten, die man je, selbst in Oesterreich, kennen ge¬
lernt hatte. Hoffen wir, daß die Selbständigkeit, mit welcher der
kaiserliche Prinz, der neue Landesgouverneur, auftreten kann, uns für
die Hungerjahre entschädigen wird, welche den Geist unseres Vaterlan¬
des im Auge des Fremden magerer als nur eine der sieben Kühe
Wie kommt es, daß unter den zahlreichen Judengemeinden sich
noch nirqendö ein historischer Verein gebildet hat, der Materialien zu
einer Geschichte der Juden, wo nicht in Deutschland überhaupt, doch
wenigstens in den einzelnen Staaten, Provinzen, Städten u. s. w.,
sammelt? Bei dem grauen Alter mancher jüdischen Colonien in
Deutschland finden sich gewiß im Besitze vieler Gemeinden und Pri¬
vaten UrÜnndcn, fragmentarische Chroniken und ähnliche Aufzeich¬
nungen zerstreut, die, wenn sie gesammelt, gesichtet und aus dem He¬
bräischen oder dem jüdisch-deutschen Jargon, in welchem sie geschrieben
sein mögen, übersetzt würden, sowohl der Wissenschaft überhaupt man¬
ches neue dankenowcrthc Moment zuführen, als auch den Juden ins-
bcfcnderc bei ihren Emancipatiouökämpfcn wohl zu Statten kommen
könnten. Wie kommt es, daß die Juden in ihrem praktischen Sinn
noch nicht auf den Gedanken gekommen sind, in ihrer Vergangenheit
zu wühlen, um ihre Gegenwart und Zukunft dadurch zu fördern und
zu unterstützen? Was in dieser Beziehung von Jost, von dem Ver-l
fasscr der „Juden in Oesterreich" und in sonstigen Monographien ge¬
schehen ist, verdient gewiß Lob, aber es sind doch immer nur einzelne
Bestrebungen, denen überdies nur spärliche Quellen zu Gebote stan¬
den. Warum trachtet man nicht, diese Quellen reichlicher auszugraben?
In Prag z. B,, wo der Jesuit Schalter nachgewiesen, daß die Juden
zugleich mit den Slaven, wo nicht noch früher, eingewandert sind,
in Prag, wo der uralte jüdische Gottesacker mit seineu Tausenden von
Grabsteinen und ihren wunderlichen Hieroglyphen die Phantasie aller
Geschichtsforscher reizt, wo die sogenannte ,, Alt-Neusynagoge ^, eines
der ältesten Denkmäler christlicher Architektur, auf ihrem finstern
ungeheuren Dachboden ganze Stoße von alten undurchsuchrcu Perga¬
menten birgt, welche wichtige und interessante Entdeckungen wären
nicht da zu machen, wenn die Gebildeten in dieser alten Gemeinde aus
ihrer unverzeihlicher Indolenz sich aufrichten möchte», um zu einem
qcschichts - und alterthumsforschcndcn Vereine zusammenzutreten?
Sonderbar, die Juden haben in neuester Zeit auf allen Feldern des
Gedankens sich rüstig getummelt und der deutschen Wissenschaft und
Kunst viele ausgezeichnete Talente zugeführt. Nur die Geschichte ist
ihnen ein verschlossenes Feld geblieben, und vergebens würde man sich
nach irgend einem bedeutenden Geschichtswerke umsehen, das einen
Juden zum Verfasser hätte. Dieses ist nicht etwa eine blos zufällige
Erscheinung; vielmehr ist der Maugel an historischem Sinn den Juden
aller Zeiten nachzuweisen.
— Seit dem Neujahr hat die Angövurgcr Allgemeine Zeitung ihre
Beilage definitiv von dem Hauptblatte getrennt, und sie auch darin
selbständig organisirt, daß sie ihr ein eigenes Inhaltsverzeichniß an
die Spitze setzte. Die Beilage will offenbar Das erstrebe», was die
englischen und französischen Revüen erzielen, und wir glauben, sie ist
darin glücklicher, als die deutsche Vierteljahrsschrift. Einer der besten
Artikel, die sie in diesem Jahre bereits brachte, ist die Charakteristik
Klinger's; die Parallele zwischen den Bestrebungen der jungen Li»
teratur im vorigen Jahrhundert und denen unserer gegenwärtigen trifft
den Nagel auf den Kopf. — Die Redaction der Augsburger Allgem.
Ztg. trug sich vor einiger Zeit mit dem Plane, vierteljährig oder mo¬
natlich einen Band in 8. zu publiciren, der stets über 2V Bogen
und darin solche Aufsätze enthalten sollte, welche Censur und sonstige
Rücksichten von der Zeitung ausscheiden. Auf diese Weise hätte die
Redaction eine große Masse trefflichen Materials, welche sie jetzt unbe¬
nutzt lassen muß, dem Publicum übermitteln können. Der Plan war
vortrefflich; waS ist aus ihm geworden?
— Von dem Erzherzog Stephan erzählt man in Wien folgende
Anekdote. Bekanntlich ist das Buch „Oesterreich und seine Zukunft"
auf eine fast räthselhafte Weise trotz aller Wachsamkeit der Censur
nach Oesterreich gedrungen. Das Buch, dessen Grundzug die Verthei¬
digung der aristokratischen Interessen bildet, fand unter dem Adel be¬
sonders viele Leser und Verbreiter. An einem Morgen fand man das
Buch auch auf dem Schreibtische des Erzherzogs Ludwig liegen, ohne
daß man wußte, wer es dahin gelegt habe. Dieses Räthsel machte
Aufsehen und brachte den Hofstaat des Erzherzogs in Verwirrung, bis
endlich der Erzherzog Stephan an seinen erlauchten Onkel die Frage
richtete, was er über daS Buch, welches er auf seinen Tisch gelegt
habe, urtheile? Durch diese Frage war allerdings das Räthsel gelöst.
— Die „illustrirte Zeitung", welche erst seit einem Jahre be¬
steht, hat vielleicht den größten Succeß, den je> ein Blatt in Deutsch¬
land noch gehabt. Bei ihrem Erscheinen hielt Jedermann das Unter¬
nehmen für gewagt, ja für kopflos. Der Verleger selbst bekannte, daß
er drei tausend Exemplare absetzen müsse, um auf seine Kosten zu
kommen, und am Ende des ersten Jahres schon belief sich der Absatz
auf 5(X)0 Exemplare! Seit dem Neujahr soll er um noch zwei tau¬
send gewachsen sein! Und doch bringt dieses Blatt, mit Ausnahme
etwa der politischen Uebersichten von I. L. fL eh manu in Berlins)
selten einen Artikel von größerer Bedeutung. Die Holzschnitte müs¬
sen den ganzen Absatz motiviren. Und doch haben auch diese selten
das Verdienst, 5 jironas zu kommen. Vielmehr langen sie gewöhn¬
lich als hinkende Boten, als mulet-u-d« ->^i<>8 dinvr an. Wenn die
Pariser Neugier nach den „Mufti'ittions " greift, um die Landung in
Trcport und den Besuch Victoria'S in En abgebildet zu scheu, so ist
diese Neugier ganz natürlich, denn dieser Besuch fand so eben Statt,
alle Blätter sprechen noch davon. Die Aufmerksamkeit ist »och ganz
erregt. Wenn aber der Holzschnitt, nachdem er in Paris gehörig seine
Dienste gethan, nun mit dem Güterwagen die lange Reise nach Leip¬
zig antritt, um hier, nachdem mehrere Wochen hinter jenem Ereignisse
liegen, xost teslmn die Neugier des deutschen Publicums zu befriedi¬
ge», das nicht ein Mal wie die Franzosen, ein nationales directes
Interesse an diesem Ereignisse hat, dann kommt u n s dieser Nachzüg¬
ler mehr komisch als interessant vor. Uns, d. h. den Schriftstellern
und dem kleinen Kreis von Lesern, welche dem Gange der öffentlichen
Ereignisse mit Ernst folgen. Aber für uns gibt Herr Weber anch
seine illustrirte Zeitung nicht heraus, sondern für das große deutsche
Publicum und daß er sich in diesem nicht irrt, das beweisen seine
siebentausend Abonnenten. Das deutsche Publicum hat auch nach
vielen, vielen Wochen noch immer Interesse für Ereignisse, die es viele,
viele Wochen früher schon Nichts angingen. Das deutsche Volk ist
nämlich ein Volk von Denkern! Nicht zu vergessen!
— Alle Zeitungen melden jetzt angelegentlich, daß Balzac in Pe¬
tersburg eine laue Aufnahme gefunden; wir bezweifeln dies um so
mehr, als man auch von ihm ein Buch über Nußland erwartet. Der
Gratsch-Custine'sche Streit wirft übrigens ein seltsames Licht ans unsere
offizielle Presse. Gretsch's Machwerk spricht unwillkürlich für Custinc:
Die Katze will erklären, daß sie keine Katze ist, und — inland; eben so
wenig sagen Tolstoi's gezwungene Scherze und ausweichende Spöttereien.
Dennoch regnet eS bei uns Schmähungen über Custinc; man beruft sich
sogar diesmal auf Kritiken Pariser Parteiorgane. O deutsche Gründ¬
lichkeit! Die Franzosen wissen von Rußland weniger als Nichts, Viele
wünschen die russische Allianz und den Meisten ist der Gegenstand so
gleichgiltig, daß sie nur daran denken, den aristocratischen Marquis bei
guter Gelegenheit abzutrumpfen — Man schämt sich nicht, Custine's
Privatcharakter eben so allgemein hin zu bcflüstern, weil Gratsch über
ihn allerhand gehört haben will. Was? sagt er freilich nicht. Ein
in Leipzig lebender Russe L.......n hat in der Deutschen Allgemeinen
Gretsch's Broschüre meisterhaft, wahrhaft und ehrlich genannt und da¬
mit sogleich den Ton angegeben für die offiziellen Scribenten, die jetzt
ganz im preußisch-allgemeinen BerichtigungSstyl von Custine's Bös¬
willigkeit und Lügenhaftigkeit reden. — Alles in majorem (^»««aris xlo-
i'j^in! Ein geiht- und kenntnißreicher Publicist besprach in der Augs-
burger Allgemeinen Custine's Werk mit jener künstlich gewundenen,
zweideutig schielenden und schillernden Manier, worin es leider unsere
Presse zur beispiellosen Virtuosität gebracht hat; er sucht Custine's
Darstellung aus katholischer Intoleranz abzuleiten, deutet aber selbst
an, daß die Kirche Rußlands Achillesferse sei. Wir glauben, es gehört
keine große Intoleranz dazu, um ein Grauen vor der todten, gemüth-
und schwungloser griechisch-russischen Kirche zu empfinden; und gewiß
ist sie großentheils die Quelle oder der Ausdruck jenes platt-materiali¬
stischen, schlangenglattcn und schlangenkaltcn Wesens, wodurch Nußland
uns eben so gefährlich als verhaßt ist. Dieser eigenthümlich russische
Geist aber ist es, den Custine's scharfer Griffel meisterhaft gezeichnet
hat; die Wahrheit dieser Zeichnung ist nicht widerlegt, nicht einmal
bestritten. Ob die Petersburger Bauten vom Winterfrost so viel lei¬
den, wie C. sagt und wie Gratsch läugnet, auf solche Aeußerlichkeiten
kommt es wahrlich nicht an; auch die einzelnen Geschichtchen von rus¬
sischer Barbarei mag Gratsch kritisiren. Wir haben dergleichen nicht
zuerst von Custinc gehört; ungelehrte Reisende jedes Standes bringen
uns ja täglich neue Kunde von viel crasscrcn Fällen; die Berührungen
mit Rußland sind ja so häufig, daß man den Augenschein der Ver-
lcumdung zeihen müßte, um Gratsch's Betheuerungen zu glauben. Was
die Fürstin Trubetzkoi betrifft, so hat Gretsch erklärt, daß der Kaiser
ihre Kinder erziehen lassen, d. h. in einem Soldatcnstift unterbringen
wollte. In diesem Punkt war Cnstinc irrig berichtet. Aber dieser
Punkt ist nicht die Hauptsache. Der kalte, vcrklcinerungssüchtigc Ton,
mit dem G. von der unglücklichen großen Frau spricht, verräth nur
zu sehr, daß man in Petersburg weit davon entfernt ist, ihren Herois¬
mus zu bewundern; ja, daß man vielleicht eher unwillig ist über die
unkluge, taktlose Fürstin, die, statt am Hos ein glänzendes Leben zu
führen, vor ganz Europa solch ein Aergerniß gibt und eine Selbstauf¬
opferung, die eigentlich nur dem Allerhöchsten, dem Kaiser, gebührt,
ihrem verbrecherischen Manne widmet. Solche Dcnkungsweise kann
man nicht weiter anklagen: sie ist eben russisch. Wenn der Königs«
berger Judenschaft auf ihre Petition zu Gunsten von 4W,l)W un¬
glücklichen, von Haus und Hof getriebenen Glaubensgenossen geant¬
wortet wird, man halte die Sache nicht für erheblich, so ist dies
nur ein neuer Beweis, daß Vieles, was bei uns die heiligsten Inter¬
essen berührt, dort für sehr unerheblich gilt; man versteht es nicht an¬
ders. Nicolaus ist ein sehr energischer Regent, und wir werden ihm
weder Grausamkeit noch Gewissenlosigkeit zum Vorwurf machen, denn
er ist so ganz Russe, daß wir ihn nicht nach unserem occidentalischen
Maßstab beurtheilen können; eben darum sind aber auch die Epitheta:
ritterlich, erhaben, heroisch, welche die gedankenlose Speichelleckerei täg¬
lich an ihn verschwendet, so lächerlich und unpassend. —
— Die preußischen Landtagsabschiede sind nicht geeignet, den po¬
litischen Durst zu stillen, der die verschiedensten Stämme des deutschen
Volkes in Preußen zu ergreifen anfängt. Die Provinzialstände wer¬
den überall, wo ihre Forderungen einen Blick ans das Allgemeine, auf
das Vaterland im Großen verrathen, mit entschiedenem Mißfallen zu¬
rückgewiesen, als hätten sie ihre Schranken überschritten. Es gibt aber
so manche Frage von allgemeiner Wichtigkeit, die doch zugleich in den
Kreis des localen und provinziellen Lebens gehört. Sollen z. B. die
Stände einer Provinz nicht um Oeffentlichkeit und Mündlichkeit des
Gerichtsverfahrens pctitionircn, weil die Gewährung derselben von gro¬
ßen politischen Folgen wäre, während die Forderung doch eine noth¬
wendige, die Frucht eines auch in localen Kreisen erkannten Bedürf¬
nisses ist? — Das Schlimmste dabei ist das allerhöchste Mißfallen.
Go konnte gewiß Manches nicht unmittelbar gewährt werden; eine
offene Motivirung deö „Nein" wäre immer eine Art Hoffnung gewesen;
so aber hat es den Anschein, als sähe man mit ungnädigem Mißbe¬
hagen das Volk jener Reife entgegenwachsen, die man selbst als Ter- '
um seiner Emancipation feststellt.
— Der Thcaterdirector Cerf in Berlin war bedenklich krank, als
im Rath der Höchsten beschlossen ward, dem geistreichen, um die He¬
bung des deutschen Dramas so verdienten Manne den rothen Adler-
orden, dritter Classe, wenn wir nicht irren, zu verleihen. Seine
Freunde brachten ihm den rothen Adler vor's Bett; sogleich trat eine
heilsame Krisis und bald darauf die Genesung ein. (5'in Orden ist
manchmal doch was werth und kann in Auönahmsfcillen sogar Wun¬
der wirken; nur gehört freilich ein kindlicher Glaube dazu.
— Friedrich's des großen Werke werden endlich auf Staatsunko¬
sten gedruckt, aber nicht, wie man anfangs glaubte, um in den Buch¬
handel und durch billigen Preis in das Publicum zu kommen, sondern
als Hofmanuscript für den König; zweihundert Prachtexemplare, mel¬
det die Deutsche Allgemeine, sollen abgezogen werden. Gewiß wird der
König an Freunde und verdiente Männer Exemplare verschenken, statt
der Krönungsmedaillcn und Ordensbändchcn. Der Einfall wäre nicht
schlecht. Aber warum nicht lieber ganz an die Oeffentlichkeit? Ist
Friedrich der Große so gefährlich? Fürchtet man, er würde nicht genug
populär werden oder die Oeffentlichkeit nicht vertragen können?
Vermischte Nachrichten. Sir Hudson Löwe, Napoleons
Kerkermeister auf Se. Helena, ist, 73 Jahr alt, gestorben, hinterläßt
Memoiren und entschuldigt sich mit den Instructionen, die er gegen
den Kaiser von den Tories erhalten. — Der Herzog von Angoulömc
leidet, wie Napoleon, am Magenkrebs. Der Herzog von Bordeaux,
der Erbe seiner Ansprüche, wäre geneigt, sich mit den Republikanern
in Frankreich zu verbünden. Daher die Furcht Louis Philippe'S vor
d-n Legitimisten. — Rußland geht mit dem Plane um, alle katholi¬
schen Kirchengüter und Stiftungen in Polen und Lithauen zu confis-
circn; die katholischen Geistlichen sollen dann vom Staat besoldet, also
ganz vom Kaiser von Nußland abhängig sein. Da dieser auch Ober¬
haupt der griechischen Kirche ist, so wäre das eben so Viel, als würden
die protestantischen Geistlichen in Ungarn vom Papst besoldet. — Der
Bürgerkrieg in Spanien wird nun hoffentlich zu Ende gehen, da der
König von Neapel bereit ist, die jetzige Regierung anzuerkennen und
bereits um die Erlaubniß der Großmächte zu diesem Schritt nachgesucht
hat. Isabella ist ein gutes Kind und will, wie der Londoner 5fiunch
versichert, decretiren, daß zur Bequemlichkeit ihrer Unterthanen wöchent¬
lich ein Ministcrwechsel stattfinden und alle Sonn- und Feiertage keine
Regierung sein soll. Das wird ein lustiger Karneval! —-
Meine Erinnerungen von der Gesellschaft in Berlin sind etwas
verwirrt, ich habe meine Tage dort im beständigen Taumel zuge¬
bracht, im Taumel der Geschäfte und im Taumel der Zerstreuungen,
deren die große Stadt nur allzuviel bot. Nach den endlosen Cor--
fercnzen mit den preußischen Geschäftsmännern, denen die weitläufig¬
sten Wege fast immer die angenehmsten schienen, besuchte ich Abends
gewöhnlich die große Welt, einige Hofbälle, die Säle der Minister,
der Gesandten; langweilte mich aber bald in dem bunten Gewühl,
das in seiner Mannigfaltigkeit doch nur immer dieselben Gesichter
zeigte. Wenn auch manche der Anwesenden genug Geist und Leben
in sich hatten: die Versammlung gewann dabei Nichts, denn Niemand
wollte oder durfte hier etwas Anderes vorstellen, als den äußern
Rang, durch Geburt oder Amt überkommen, und somit war von
selbst aller Anspruch auf Geist, Talent oder Liebenswürdigkeit in Ruhe
gesetzt. Das Haus eines geadelten Kaufmanns, das man mir ge¬
rühmt hatte, konnte mir noch weniger gefallen; in seine Säle stürzte
ebenfalls, wie in die andern, die ganze Hofgesellschaft, es war auch
dort dasselbe langweilige Wesen, und wenn der Ton leichter war, so
war er dadurch nicht angenehmer. Ich ließ mich selten dort blicken,
und nur auf Viertelstunden.
Aber ich fand bald andere Kreise, in denen der Reiz der Ber¬
liner Geselligkeit, von dem ich so viel gehört hatte und an den ich
kaum noch glauben wollte, unerwartet sich mir enthüllte, und von
dem ich bald mächtig angezogen wurde. Ich nenne das reiche und
angesehene Haus Beer, wo um die heimischen schönen Talente die
vornehme, künstlerische, gelehrte und geschäftliche Welt sich versammelte;
den ernsten, aber durch geistvolle Frauen erheiterten Kreis der Fa¬
milie von Savigny, den sehr belebten und gewählten der Generalin
von Helvig, die sehr besuchten Abende des klugen und witzigen Ge¬
heimen Staatsraths von Stägemann, dessen edle Gattin alles Schöne
und Gute in ihrer Nähe gedeihen ließ, und dessen liebenswürdige
Tochter ich von Neapel her, kannte, ferner das Haus des verständi¬
gen und ehrenfester Stadtraths Mendelssohn-Bartholdy, dessen fein¬
sinnige Gattin das Geheimniß besaß, gediegene Häuslichkeit mit ge<
sellschaftlicher Eleganz zu vereinigen, und ich könnte noch mehrere
andere Kreise nennen, die zum Theil aus den vorigen wieder als
kleinere sich absonderten. In den meisten dieser Gesellschaften horte
ich den Namen der Frau von Varnhagen mit ausgezeichneter Ach¬
tung nennen. Frau von Helvig versicherte, sie sei gleich vortrefflich
durch Güte wie durch Geist, und so unterhaltend und anregend wie
Niemand sonst! Ich hätte sie in jenen Kreisen öfters treffen sollen,
allein durch Eigensinn des Zufalls verfehlt' ich sie lange Zeit, und
es hieß, ihre leidende Gesundheit halte sie jetzt viel zu Hause, ohne
doch ihren geselligen und muntern Sinn zu stören. Herrn v. Varn¬
hagen hatte ich schon öfters gesehen und auch flüchtig gesprochen,
allein ich bekenne, daß er wenig Anziehendes für mich besaß; er
hatte etwas scharfes und Ironisches, das mir ganz mißfiel, und
durch ihn am wenigsten wünschte ich die Bekanntschaft seiner Frau zu
machen. Ich bat daher Frau von Helvig um ein paar einführende
Worte, die mir sehr gern gegeben wurden.
In der gelegenen Zeit, kurz vor dem Theater, verfügt' ich mich
in das bezeichnete Haus in der Mauerstraße, klingelte im ersten
Stock ein Mädchen heraus und sandte mein Empfehlungsblatt nebst
meiner Karte hinein. Nach einer kleinen Weile kam die Antwort
zurück, ich möchte die Dame, welche jetzt Niemanden empfangen könnte,
entschuldigen, und würde auf den spätern Abend willkommen sein.
Das Mädchen lachte, indem sie mir das bestellte, und ich fragte um
die Ursache. „O Nichts", erwiederte sie, „aber die gnädige Frau ist so
komisch, und da muß man wohl lachen!" Ein gutes Zeichen! dacht'
ich, und von der bloßen Wirkung, deren Grund ich nicht kannte,
schon etwas mit ergriffen, ging ich lachend ab. —
Am Abend war ich zeitig auf dem Platze und vernahm, Frau
von Varichagen sei noch ganz allein. Ein erstes Zimmer ließ durch
offene Flügelthüren in ein zweites blicken, wo ich sie an einem Tische
sitzen und lesen sah, während ein Kind an ihrer Seite eingeschlafen
lag. Ich stand einen Augenblick und sah mir das Bild an. Ernste
Gemüthsruhe und heiteres Wohlwollen waren der Ausdruck ihrer
Züge, die sich nicht belauscht ahnten; ihre kleine gedrungene Ge¬
stalt, ihr klares, feines Gesicht, trotz der Jahre und langwieriger
Kränklichkeit noch von bewundernswerther Frische, ihre feste und leichte
Haltung, Alles war in einer gewissen Uebereinstimmung, die meinen
Sinn lebhaft ansprach. Als sie meine Tritte hörte, schob sie den
Tisch etwas ab, wandte sich mir entgegen, auf das schlafende Kind
deutend, ich möchte verzeihen: sie habe nicht den Muth, das Glück
zu stören! Ich bat natürlich, dies ja nicht zü thun. Wir sprachen
dann das Nöthige von Frau von Helvig und ihren EinführungS-
zeilen, von meinem bisherigen Aufenthalt und seiner fernern Dauer.
Auf meine Frage, ob das Kind ihre Nichte sei? erwiederte sie; „Es
ist die Tochter meiner Nichte, aber ich lieb' es wie mein eigen Kind."
In ihrem Tone war dabei eine zärtliche Innigkeit, die mir zum Her¬
zen drang, ich fühlte die lebendige Wahrheit ihres einfachen Wortes.
Frau von Varnhagen sagte, ich sei ihr als ein Musikfreund
empfohlen, und freute sich, daß ein Paar schöne Stimmen sich zum
Abend bei ihr angesagt, auch werde vielleicht Fürst Radziwill kom¬
men, der jede Gelegenheit, Musik zu hören und zu üben, gerne wahr¬
nehme; er sei der größte Musikfreund, den sie je gesehen, er über¬
treffe darin weit den berühmten Fürsten Lobkowitz, der freilich größere
und lärmendere Mittel aufzubieten gehabt, aber Radziwill'ö Leiden¬
schaft sei ernster und tiefer, und seine Compositionen zu Göthe's Faust
reihten ihn den großen Meistern an. Wir sprachen nun vom Ge¬
sang, und namentlich von Liedern und deren Vortrag, wo denn Frau
von Varnhagen der einfachen großartigen Weise, wie Madame Mil¬
der deutsche Lieder zu singen pflegte, volle Gerechtigkeit widerfahren
ließ, aber hinzufügte, eigenthümlicher und rührender habe sie derglei¬
chen nie singen hören, als vor mehreren Jahren von einem jungen
Schwaben Grüneisen, der habe ihr ordentlich eine neue Sphäre auf¬
geschlossen, einen neuen Begriff von etwas bisher Unbekannten,
nämlich voll echt und schön deutschem Gesang, himmelweit verschie¬
den voll dem erkünstelten, hohlen, anspruchsvollen Wesen, daS auch
in der Musik als Deutschheit gelten wolle. Sie knüpfte an diese
Aeußerungen den Wunsch, es möchte einmal umgekehrt verfahren wer¬
den, erst die Musik eines Liedes und zu dieser dann die Worte ge¬
macht werden, aus dieser Entstehungsart würden ganz neue Schön¬
heiten hervorgehen; ich sah hierin nur eine Paradorie und verhehlte
es ihr nicht, sie aber versetzte ruhig: „O nein, das ist es nicht, das
bezwecke ich nie; auch ist es kein Einfall von heute, und schon vor
langen Jahren gab mir Reichardt darin Recht, und ich führte die
Sache eigentlich nur an, weil Grüneisen's Lieder mir sehr in dieser
Art zu sein schienen, und weil ich dachte, ich könnte sie Ihnen da¬
durch einigermaßen deutlich machen; das wird aber freilich am besten
geschehen, wenn Sie ihn selbst hören; versäumen Sie es nicht, wenn
es sich je so trifft, und grüßen Sie ihn dann auch bestens von mir."
Das eingeschlafene Kind wurde unruhig, erwachte und blickte
aus zwei himmlischen blauen Augen sogleich lächelnd die Tante an,
deren Augen mit dem Ausdruck inniger Freude auf die Kleine leuch¬
teten. Nach einigen leisen Worten, zu denen das Kind beifäl¬
lig nickte, nahm die Tante dasselbe auf den Arm, entschuldigte sich
bei mir für ein Paar Augenblicke und trug den Liebling kosend in
ein Seitengemach.
Mittlerweile besah ich mir die Oertlichkeit etwas näher; die
hellblauen Zimmer waren geräumig und besonders hoch, mit freier
Aussicht vorwärts in die gerade Straße hinauf, rückwärts aus hohe
Gartenbäume, übrigens ganz einfach ausgestattet, ohne Kostbarkeit
und Glanz; ein Paar geringe Bildnisse hingen an der Wand, zwei
Büsten, die des Prinzen Louis Ferdinand und ich glaube, Schleier-
macher's, standen zwischen Blumentöpfen; von Geräth schien nur das
eben zum Gebrauche Nothwendige vorhanden; aber das Ganze machte
dennoch einen eleganten Eindruck, oder vielmehr die Anordnung war
so gefällig und bequem, daß sie jenes eigenthümliche Behagen her¬
vorbrachte, welches durch die höchste Eleganz bewirkt werden soll
und bei den größten Mitteln doch so oft verfehlt wird. Auf dem
Fortepiano lagen einige Bücher, die ich unwillkürlich in die Hand
nahm, ein Banv von Samt-Martin — der Name war beigeschrieben —
und die Gedichte Uhland's, ein französischer Roman und Fichte'S
Staatslehre ruhten friedlich beisammen. Ein geschriebenes Heft, das
aufgeschlagen dalag, reizte meine Neugierde; es enthielt allerlei Be-
mcrkungen, eine von ganz frischem Datum betraf den Kronprinzen,
und ohne daran zu denken, ob ich Unrecht thäte, versagte ich mir
nicht, sie zu lesen. Frau von Varnhagen hatte kürzlich im französi¬
schen Theater ihren Platz ganz nahe der königlichen Loge gehabt, die
Physiognomie und Haltung des Kronprinzen waren ihr ungemein auf¬
gefallen, und das Ergebniß ihrer scharfen, während der ganzen Schau-
spicldauer fortgesetzten Beobachtung hatte sie hier niedergeschrieben,
ein sehr charakteristisches Urtheil, aber auch ein die Schreiben» cha-
rakterisirendes, denn es gab nur eine schlichte Wahrnehmung, aber
diese von so eingreifender und sicherer Art, daß sie mir nicht wieder
aus dem Sinn gekommen ist. In der späterhin erfolgten Ausgabe
ihres schriftlichen Nachlasses hab' ich dieses Urtheil über einen Prin¬
zen, der damals, wie noch jetzt, die Meinung außerordentlich beschäf¬
tigte, ungern vermißt.
Auf ein Geräusch, das ich vernahm, wandte ich mich von dem
Hefts schnell ab, indeß würde Frau von Varnhagen meine Verlegen--
heit gewiß noch bemerkt haben, wäre sie nicht beim Wiedereintreten
durch neue Gäste sogleich beschäftigt worden, die von der andern
Seite ihr schon entgegenkamen. Es war der Freiherr von Reden
mit seinen beiden Töchtern, hannöverscher Gesandte, ein munterer al¬
ter Herr, der an einem Krückstock langsam einherschritt, aber dafür
um so rascher und eifriger sprach; in der That war seine Redselig¬
keit unerschöpflich, aber zugleich so der Ausdruck eines überfließenden
Herzens, einer gutgemeinten Mittheilung, daß man ihn lieb gewann
und kaum lästig fand; auch war sein Sprechen wirklich lehrreich,
denn sein wunderbares Gedächtniß hegte die gründlichsten Geschichts¬
kenntnisse, und selbst die Stammbäume der regierenden Häuser, in
deren sämmtlichen Verzweigungen er mit seltenster Sicherheit auf-
und niederstieg, führten ihn öfters auf überraschende Gesichtspunkte
für herrschende Tagesfragen. Wie früher um das Kind, war Frau
von Varnhagen jetzt um den Alten sorglich bemüht, suchte mit zar¬
tester Aufmerksamkeit ihm Alles behaglich zu machen und dabei ihr
Bemühen möglichst unscheinbar zu halten, ohne Zweifel um ihn nicht
empfinden zu lassen, daß er so großer Sorgfalt bedürftig sei! Er em¬
pfand aber die liebevolle Begegnung und sah mit freundlichster Rüh¬
rung auf die wackere Wirthin, für die auch seine ältere Tochter die
wärmste Freuiwschaft zu fühlen schien. Diese Tochter war ein We-
her eigener Art, von so glücklichen, edlen und wirksamen Eigenschaf¬
ten, daß ihre Gegenwart immer ein Wohlthun war, denn ihre leb¬
hafte Thätigkeit förderte stets auf heitere anspruchslose Weise alles
Gute und Rechte, wie es dem Augenblicke gemäß erschien, und griff
dabei doch niemals eigenmächtig ein; die jüngere Schwester stimmte
anmuthig in diese Sinnesart und Gabe. Kaum hatte der alte Herr
im Lehnstuhle behaglich Platz genommen, als auch die für ihn nö¬
thigen Mitsprecher sich einfanden, der Professor Gans mit Ludwig
Robert — dem Bruder der Frau von Varnhagen — und Herr von
Narnhagen, alle drei schon im Streit und alsogleich von Herrn
von Reden in Beschlag genommen. Sie schienen aber ihr begon¬
nenes Gespräch nur fortzusetzen, und der Gegenstand war damals in
Berlin überall an der Tagesordnung: es war die schwebende Sache
der beiden Theologen zu Halle, Wegscheider und Gesenius, deren
Rechtgläubigkeit durch hämische Anschuldigungen war verdächtigt wor¬
den, ganz Berlin nahm Partei für oder wider, und die mächtige
Ueberzahl der Vernünftigen und Freisinnigen war für die Verketzerten,
denen aber in den höchsten Kreisen auch manche Einflüsse feindlich
waren, und eS konnte daher wohl zweifelhaft scheinen, auf welcher
Seite der Sieg bleiben würde. Die dunkle Partei bot alle Mittel
auf, aber auch die helle zeigte unerwartete Kräfte und Anhänger.
Es wurde angeführt, daß ein Minister von größtem Ansehen, den
man bisher unbedenklich zu den Unfreisimügsten gezählt, in dieser
Sache mit entschiedenem Eifer sich für die Verfolgten erklärt und ge¬
sagt habe, wenn man solchen Verdächtigungen die Bahn öffne und
dem Frömmlerwesen weltliche Macht einräume, so werde die ganze
Stadt bald nur eine große Heuchlerschule sein und jeder ordentliche
Mann aus dem Lande zu laufen wünschen. Den alten Reden ver¬
droß, daß auch der Minister von Stein sich habe dazu brauchen las¬
sen, aus Kopenhagen einen Brief an den König zu schreiben und
ihn aufzufordern, jene Irrlehrer nicht zu dulden. Der gute Alte fand
solche Einmischung unberufen und gehässig und meinte, der Minister
von Altenstein, der hier von Amtswegen zunächst einzuwirken habe,
würde das sachgemäße schon ermitteln und, wenn es nöthig wäre,
auch auf jener Männer Entfernung vom Lehrstuhl antragen. Nöthig
möge das doch wohl sein, — fuhr er dann bedenklich fort, — denn,
ich frage Sie, was für Geistliche können aus solcher Schule, die den
Glauben dem Verstand unterordnet, dem Staate künftig zuwachsen?
— Was für Geistliche? — siel hier Herr von Varnhagen mit sanf¬
ter, mir widerwärtiger Stimme ein, — nun möglicherweise solche Pie¬
tisten und Verketzerer, wie jetzt gegen jene Rationalisten auftreten,
denn alle jetzigen Zeloten haben zu ihrer Zeit keine andern Lehrer
gehabt, als aufgeklärte und ungläubige. — Ja, das ist wahr! rief
der alte Reden und lachte und erinnerte sich eines frühern Vorgangs
in Göttingen, der dieser Ansicht beistimmte, ihn aber auf hannöveri-
sche Verhältnisse ablenkte, in deren Anpreisung er sich überaus gefiel.
Hier aber widersprach ihm Gans als wohlunterrichteter Gegner,
und der gute Alte, verwundert und aufgereizt, wurde nun heftiger
und führte seine Sache wirklich so gut, daß Gans wenig mehr auf¬
kam, ich fand ihn sogar matt und ungeschickt und mußte den Ruhm
seiner gepriesenen Dialektik und Beredsamkeit für wenig begründet
halten!
Ich verließ den Streit und wandte mich den Damen zu, die
inzwischen die Gesellschaft vermehrt hatten. Frau von Varnhagen
stellte mich der Gräfin von N - - - ""d deren Schwester vor, zweien
Damen von sehr ausgezeichnetem Ansehen und schöner freier Bil¬
dung; ich vernahm, daß beide die herrlichsten Stimmen hätten, und
beide sagten es nicht ab, vielleicht spater einige Lieder zu singen; die
jüngere Fräulein von Reden wurde gleichfalls wegen ihres lieblichen,
in Italien ausgebildeten Gesanges vorläufig in Anspruch genommen.
Frau von Varnhagen aber wurde von dieser Gruppe abgezogen,
denn laute Stimmen klangen vom Vorsaale herein, und eine kleine
Schaar von Herren erschien und bestürmte sie mit Begrüßungen. Es
waren zwei Offiziere, ein Graf von Seht. . . und Paul E. . ., fer¬
ner der Graf von M. . . mit dem Grafen von K. . . L. . ., und
hinter ihnen zuletzt der spanische Gesandte General Cordova. M. . .,
ein deutschredender Italiener und Diplomat, zeigte alle Lebhaftigkeit
und Gewandtheit, die seinem Ursprung und Stande entsprachen, man
sah, auf jedem Boden, den er betrat, mußte er gleich heimisch sein;
er war ungezwungen in seinen Aeußerungen, laut und lustig und
nicht allzu wählerisch in seinen Worten, so daß man leicht fürchten
konnte, er möchte in seiner Munterkeit etwas zu weit gehen, was
doch nie vorkam. Seine Erzählung von dem Verlauf einer kürzlich
gesehenen neuen Oper und von den geschmacklosen Anstrengungen
einer unzureichenden Sängerin, der das Publicum doch großen Bei-
fall gezollt, war in der That ganz artig anzuhören und die Damen
lachten sehr, während Frau von Varnhagen durch eingestreute Scherz-
und Schlagworte die Scharfe milderte und den Ernst erhöhte.
Eine polnische Dame rrat ein und mit ihr einige Stille, denn
sie war der Gesellschaft und auch dem Hause — wie es schien —
ziemlich fremd und machte nur einen kurzen Anstandöbesuch. Frau
von Varnhagen hatte auch für diese Dame in unbefangener Weise
gleich den rechten Ton, und ich hörte ein feines, sehr verbindliches
Gespräch, das mich vermuthen ließ, Frau von Varnhagen sei hier zu
einigem Dank verpflichtet und wolle dieses andeuten. Wie sehr, er¬
staunte ich später, als ich erfuhr, daß eine solche Verpflichtung eher
im entgegengesetzten Verhältnisse stattfand, indem der Mann der Po¬
lin nicht ohne die starke Einwirkung deö guten Rathes und der klu¬
gen Leitung der Frau von Varnhagen zu einer ihm höchst erwünsch¬
ten Beförderung gelangt war! Die Sache hatte die lustige Be¬
wandtnis«, daß der Pole, welcher früher allen seinen Unmuth, alle
seine politische Freigeisterei, so wie seine härtesten persönlichen Ur¬
theile rückhaltslos der einsichtsvollen Freundin vertraut hatte, jetzt
nach erlangtem Ziele in ganz entgegengesetztem Sinne sprach und auch
gegen sie, und sogar unter vier Augen, den feurigsten Anhänger deö
Staats und der Minister vorstellte und von jeher diese Gesinnung
bekannt haben wollte! Dies hatte neben der empörenden auch seine
ergötzliche Seite und gewährte nicht selten der geistigen Ueberlegenheit
den Vortheil, dem Neulinge, der in der frischen Rolle noch nicht ganz
geübt war, in seinem Eifer den Rang abzulaufen und ihn als noch
viel zu lau gesinnt erscheinen zu lassen. Die Frau jedoch schien un¬
befangen und ohne Theil an jenem Bemühen. Unter solchen Um¬
ständen hatte das Benehmen der Frau von Varnhagen jetzt das dop¬
pelte Verdienst richtiger Zurmthaltung und seiner Schonung; dies
wurde uns Allen erst recht offenbar, als Ludwig Robert, nachdem der
Besuch sich wieder empfohlen hatte, seine beißenden Bemerkungen
nicht sparte, so sehr dies auch seiner Schwester zu mißfallen schien.
Der General Cordova war keine gleichgiltige Erscheinung, er
zog die Blicke sehr auf sich und war es gewohnt, daß die Damen
ihn günstig beachteten. Ein schöner schlanker Mann, von bedeutender
Physiognomie, feurigen, unternehmenden Ansehns, ausgestattet mit
aller Gewandtheit eines thätigen Glückskindes, und so jung schon
General und Gesandter, hatte er in der großen Welt, nachdem er sie
einmal betreten, leichtes Spiel gehabt; als Günstling seines Königs
war er bei fremden Hosen unter der Voraussetzung erschienen, ein
vollkommener Absolutist zu sein, doch hatte er Klugheit genug, einzu¬
sehen, daß diese Meinung nicht überall zum Vortheil gereiche, und er
wußte sie durch Benehmen und Wort gelegentlich einzuschränken.
Unter dem Anschein bequemer Lässigkeit merkte er wachsam auf Alles,
was um ihn her vorging; man glaubte ihn mit Frauen, Musik,
Theater, Eleganz und Mode beschäftigt, und dahinter steckte kühles
Beobachten, meist in» Dienste seiner Selbstsucht und seiner stärksten
Leidenschaft, des Spiels, die er doch gern wieder unter vornehmer
Gleichgiltigkeit verdecken wollte. Er war ohne Zweifel tapfer, sogar
waghalsig, aber doch weniger auf eigentliche Kriegsthaten, als auf
militärische Abenteuer gerichtet, sein rasches Aufsteigen verdankte er,
wie ich selbst ihn eines Abends erzählen horte, dem wilden, unter den
Augen des Königs gefaßten Entschlüsse, bei noch zweifelhaftem An¬
laß, ohne sich viel zu bekümmern, ob Freund oder Feind getroffen
werde, ein blutiges Gemetzel anzurichten. Solch ein Offizier war
höchst willkommen und wurde bestens ausgezeichnet. Aber sich in
seiner Erhebung am Hofe zu halten, war ihm doch nicht gelungen;
er hatte weichen müssen, indeß nur zu neuem Glücke, denn der fen»e
Gesandtschaftsposten, den die Gunst ihm ausersah, war den Verhält¬
nissen, die für ihn daheim offen standen, weit vorzuziehen, sowohl an
Genuß des Lebens, als an Ehre. Die Politik brauchte ihn hier
wenig zu kümmern. Jetzt schien er ganz von Musik erfüllt und nur
mit Parteinahme für Rossini beschäftigt, und da die Damen seinen
Urtheilen widersprachen, so vertheidigte er ihn mit Lebhaftigkeit. Er
wandte sich aber hauptsächlich an Frau von Varnhagen und trug
ihr seine Meinung umständlich vor, ja zum bessern Belege zog er ein
Blatt des kumm-i-lei- ti'un^is aus der Tasche und las einen von ihm
selbst verfaßten und dem Pariser Journal zugesandten Artikel, worüber
nicht wenig Verwunderung entstand, denn im Gesandten Ferdinand's VII.
einen Mitarbeiter des heftigsten französischen Oppositionsblattes zu
entdecken, war allerdings befremdlich genug; er hatte aber auch hier
wahrscheinlich nicht erst lange unterscheiden mögen, ob er Freund oder
Feind vor sich habe, das Blatt stand ihm durch seinen Landsmann,
den Pariser Bankier Aguado, zufällig offen, und so benutzte er es,
ohne sich um dessen politische Farbe weiter zu bekümmern. Merk-
würdig war sein Benehmen gegen Frau von Varnhagen; er wußte
im Ganzen sehr gut seinen Ton nach den Personen zu stimmen, doch
selbst wenn er aufmerksame Artigkeit bezeigen wollte, lag noch etwas
Unverbindliches in seinem Auövruck, das gleichsam merken ließ, es
beliebe ihm jetzt gerade so zu sein, und eS könne der nächste Augenblick
ihn ganz anders zeigen. Nur bei Frau von Varnhagen schien er
diesen Rückhalt aufzugeben, mit ihr schien er unbefangen sich auf
gleichen Boden zu stellen, für sie zeigte er ungewöhnliche Beachtung
und eine Art freundlicher Zuversicht, die seinem Wesen übrigens fremd
war. Jugend und Schönheit hätten dies nicht über ihn vermocht,
bloßer Rang auch nicht, den Geist allein war er weder fähig noch
willig in so hohem Werth anzuerkennen; was bewog ihn zu diesem
auffallenden guten Vernehmen? Ich glaube den Grund einzusehen.
Cordova hatte das Gefühl, hier sei ein Wesen, das ihn durchschaue,
und das ihn bei diesem Durchschauen mit vollkommener Güte gelten
lasse, das sich nicht gegen ihn überhebe, sondern das Menschliche in
ihm anerkenne. Wenigstens habe ich stets wahrgenommen, daß die
sprödesten Menschen sich in solchem Falle, wo sie sich erkannt und
doch geschont sehen, unwillkürlich dankbar und gefällig erweisen. Wie
selten aber findet sich diese wahre christliche Milde, die eben so ver¬
zeiht, als erkennt! In Frau von Varnhagen schien sie wirklich einge¬
boren, und dies war ohne Zweifel ein Haupttheil des Zaubers, den
sie auf die verschiedensten Gemüthsarten unmittelbar ausübte.
Wir bildeten, theils sitzend, theils stehend, eine Gruppe bei dem
Sopha, die Musik war fortwährend das Hauptthema des Gesprächs,
welches doch nur von eigentlich drei oder vier Personen geführt
wurde; E... und Graf von M... wechselten abgesondert vertrauliche
Worte; der Graf von K... L... stand beharrlich als schweigsamer
Beobachter, ohne durch Laut oder Miene zu verrathen,, wessen Mei¬
nung er etwa beistimme. Unterdessen wurde Madame Milder, die
herrliche Sängerin, durch den Grafen von U... hereingeführt und
von den Damen mit größter Vorliebe aufgenommen; daß sie singen
würde, war sogleich entschieden, sie war entzückter Hörerinnen gewiß
und ihnen gern gefällig.
Plötzlich aber hören wir einen lebhaften Aufschrei, wir wenden
unwillkürlich die Köpfe und sehen Herrn von Reden mit zornigen
Geberden sich ereifern, er weist eine Beschuldigung heftig zurück, welche
Robert unvorsichtig gegen den Grafen von Münster vorgebracht; dies
war ein Punkt, wo der treue hannöversche Staatsdiener keinen Spaß
verstand, sondern sogleich Flamme fing. Robert selber war etwas
erschrocken über den Knall des Schusses, den er absichtslos gethan
hatte. Frau von Vamhagen trat hinzu, lobte den guten Alten we¬
gen seines Eifers, der sich schon dadurch gleich besänftigte, und sagte
dem Bruder, Herr von Reden werde nicht böse auf ihn sein. —
O nein, ganz und gar nicht! rief der Letztere gerührt und bot jenem
traulich die Hand. Völlig geschlichtet und vergessen wurde die Mi߬
Helligkeit durch den Eintritt der Gattin Robert's, der schönen Frie-
denke. Man mochte diese Frau leiden können oder nicht, schön fin¬
den mußte man sie, und sie war es in höchstem Grade, sie strahlte
so hell, daß die andern Gesichter neben ihr im Schatten zu sein schie¬
nen; eine Wirkung, die nur nicht von Dauer war, denn allmälig
suchte der Blick doch wieder den Ausdruck des Geistes, der Klugheit,
der Güte, des Freisinns, der Zartheit und anderer Eigenschaften,
durch welche hier die augenblicklich verdunkelten Physiognomien bald
wieder sich erhellten und zuletzt die bloße Schönheit weit überflügel¬
ten. Jetzt aber wirkte die schöne Friederike wie ein guter Genius,
Frau von Varnhagen führte sie zu Herrn von Reden, der seine ga-
lanten Huldigungen hier gern anbrachte und gern gehört wurde. Die
jungem Herren drängten sich nun auel herzu, der Schönheit wider¬
fuhr ihr volles Recht, wie Frau von Varnhagen munter sagte. —
Madame Milder war inzwischen zum Fortepiano getreten und
bereitete sich zu singen. Bald war Alles still und havrte der mäch¬
tigen Töne dieser Silberglocken. Sie begannen in zartester Reinheit
und Süßigkeit und schwollen zu dem stärksten Strom, ohne getrübt
zu werden. Lieder von Kreutzer, von Schubert und Beethoven rissen
uns Alle zum Entzücken hin. Eine zauberische Einfalt wirkte in die¬
sen Tönen, rührte das innerste Herz, das Gemüth fühlte sich durch¬
schauert und emporgehoben. Frau von Varnhagen lächelte mit feuch¬
tem Auge; selbst Graf von M..., der ausschließliche Bewunderer
italienischen Gesanges, lobte diesen deutschen; nur General Cordova
wehrte sich gegen den Eindruck und blickte wie zerstreut in seinen
Luli-riei- keim<?sis, den er zusammengefaltet noch zwischen den Fin¬
gern hielt.'
Währenddeö Singens waren zwei Herren still hereingekommen,
welche jetzt ihre Begrüßungen machten. Der eine war der General
von einer der ausgezeichnetsten höhern Offiziere der preußischen
Armee, dessen entschlossenes, rüstiges Aussehen den bewährten Kriegs¬
mann sogleich erkennen ließ. Er war bekannt als überaus geschickt
in körperlichen Uebungen, besonders im Fechten und Schwimmen,
und überall, wo er sich aufgehalten und wo das Wasser nicht gefehlt,
hatte er durch errichtete Schwimmschulcn sein Andenken verewigt.
Aber ausgezeichneter noch war seine geistige Bildung; mit größter
Natürlichkeit fein und taktvoll, sprach er sachkundig und klar über
viele Dinge, die einem General nicht geläufig zu sein brauchen, und
sprach, wo es der Anlaß forderte, mit Leichtigkeit ein gediegenes
Französisch. Der andere, mit ihm gekommene Herr war gerade hierin
sehr das Gegentheil; seine Zunge lief wohl rasch über die französi¬
schen Redensarten hin, aber keine blieb unbeschädigt und alle Vocale
und Accente rangen in der schrecklichsten Verwirrung. Ein junger
Bürger der Vereinigten Staaten, war er seiner Ausbildung wegen
nach Europa gekommen und verfolgte seinen Zweck, wie erzählt
wurde, mit einem Ernst und Eifer, der einem Vierzigjährigen Ehre
gemacht hätte. Nach Art seiner amerikanischen Landsleute, wollte er
Alles nach praktischen Prinzipien und mit möglichster Zeitersparung
lernen; er verlangte von Hegel's Schülern die Philosophie ihres
Meisters auf einem Quartblatt; einen Maler bat er um die Mitthei¬
lung der Grundsätze, nach denen er ein Porträt mache; von dem
General verlangte er die Regeln, wie man eine Schlacht gewinne;
genug, in seinem technischen Bilvungsdrange ein so wunderliches und
hier zu Lande fremdartiges Menschenkind, daß ein Urmensch jenes
Bodens, eine Rothhaut selbst, hier kaum größeres Staunen hätte
wecken können. Sein unerschütterlicher Gleichmuth, sein uncrmüdetcs,
lerngieriges Fragen und die achtlose Offenheit, mit der er sich selbst
und alle Andern einzig für seinen nächsten Zweck behandelte, waren
zu ergötzlich, als daß sie hätten verletzen können. Als er von Ma¬
dame Milder ein Recept verlangte, wie sie ihre Stimme gebrauche,
gleichsam, als wolle er dergleichen in den Vereinigten Staaten nach-
erzeugen, erheiterte sich die ganze Gesellschaft, und besonders hatte der
preußische General — vielleicht aus Sympathie technischen Hanges,
der auch ihm nicht fremd war — das größte Vergnügen an dem
Sonderling, den übrigens Frau von Varnhagen, unter eigenem La¬
chen und Scherz, einigemal eifrig in Schutz nahm und seinen wirk¬
lichen Vorzügen und Kenntnissen Anerkennung zu verschaffen wußte.
Durch eine Neuigkeit, welche Jemand mitgebracht, lenkte sich das
Gespräch aus politische Dinge; und Professor Gans, der schon viele
Zeichen von Ungeduld und Verdrießlichkeit gegeben hatte, ergriff den
Anlaß, nun auch seinerseits thätig hervorzutreten. Ich hatte ihm
wahrlich Unrecht gethan, ihn vorhin für ungeschickt und schüchtern zu
halten; ich sah nun vollkommen ein, daß er nur rücksichtsvoll gewe¬
sen und den guten alten Reden nicht hatte ärgern wollen. Jetzt
brannte er sichtbar darauf hin, eS mit dem bedeutender» Gegner auf¬
zunehmen, und als Cordova eine Bemerkung hingeworfen hatte, rief
er ihm scharfen Widerspruch zu. Der Spanier, etwas verwundert,
maß seinen Gegner und schien zum Streiten eben nicht Luft zu ha¬
ben, antwortete aber einige Worte, mit denen er die Sache vornehm
abzuthun glaubte. Doch das war gar nicht die Meinung von Gans.
Der kühne Dialektiker saßte seinen Mann nur enger und zwang ihn,
Rede zu stehen. Das Gespräch setzte sich auf den mißlichsten und
gefährlichsten Gegenstand, der mit einem spanischen Gesandten zu er¬
örtern sein mochte, nämlich auf die Verbindlichkeit der Eide und
Versprechungen, welche der Fürst dem Volke leistet. Gans hatte sich
heftig zum Streite gedrängr, aber als dieser entzündet und er des
Kampfes sicher war, da wurde er wunderbar ruhig und führte mit
Gelassenheit die kuh'nöten und doch bedachtvollsten Streiche, geschickt
die ihm brauchbaren Thatsachen cinflechtcnd, folgerecht die triftigsten
Gründe und bündigsten Schlüsse darlegend, immer bereit, den Gegner
zu hören, ihn immer ausreden lassend, aber dann, mit größter Be¬
herrschung des Stoffes und mit scharfsinnigster Benutzung aller ge¬
gebenen Blößen, seine Argumentation fortsetzend und sie endlich in
klares, einleuchtendes Ergebniß abschließend. Dies Alles geschah in
fließendem, schwungvollen Französisch, mit größter Präcision, mit Hel¬
ler, freimüthiger Stimme, so daß eS ein Vergnügen war, den wackern
Redner anzuhören. Auch siegte er vollkommen; selbst der alte Reden
murmelte Beifall. Ueberdies erleichterte Gans dem Gegner die Nie¬
derlage großmüthig, indem er, als sie schon entschieden war, zum
Schlüsse Alles in die unerwartete Behauptung zusammenfaßte, c6 sei
von Haus aus Unrecht, einem Könige dergleichen Eide zuzumuthen
oder solche Versprechungen abzufordern, die er ja freiwillig nie schwö¬
ren oder geben würde. Cordova, der auch seinerseits eigentlich ohne
Erbitterung gekämpft und mehr aus vermeinter Schicklichkeit, als aus
Gesinnung und Ueberzeugung etwas verfochten hatte, das er selber
nicht recht zu bezeichnen wußte, indem er ja weder den Eid verwer¬
fen noch den Meineid vertheidigen konnte, durfte sich diese Wendung
gefallen lassen, wenn auch nicht in gleichem Maße den Nachsatz,
welchen Gans schon außerhalb des Streites hinzufügte, daß in sol¬
chem Falle der Zwang, anstatt der losen Zusage, lieber gleich der
Sache selber sich bemächtigen sollte!
Die Erhebung deS Nationalgefühls wirkt auch auf das Drama
günstig ein; je freier sich der Geist eines Volkes bewegt, je mehr
Vertrauen und Selbständigkeit eS gewinnt, je mehr es thut und han-
delt, um so mehr werden sich Dichter finden, die in jener Entwick¬
lung sich erheben und als Organe der allgemeinen Volksgesinnung auf
diese lebensvoll wieder zurückwirken. Deutschland hat in der Natio-
nalenlwicklung mächtige Fortschritte gethan. So blüht auch unserem
Drama eine fröhliche Zukunft; jugendliche frische Kräfte regen sich
für dasselbe, die Theilnahme des Publicums, das so wenig Sinn
für das Drama halte, das so lange Zeit, weil ihm eben wenig An¬
regendes geboten wurde, sich unberührt zeigte, wird jetzt immermehr
für dasselbe gewonnen; das Interesse aller Stände wirkt thätig für
das Drama. Die Fürsten widmen ihm eine größere Aufmerksamkeit
und wenden ihm eine achtsame Sorgfalt zu. Jetzt hat der Groß-
herzog von Oldenburg den Dichter Julius Mosen als Dramaturgen
an seinem Hoftheater angestellt. Wenn auch diese Stadt nicht groß ist
und uns fern liegt an den Grenzen Teutschlands, so darf uns jene An¬
stellung schon darum nicht unbedeutend erscheinen, weil sie eben die
Theilnahme eines Fürsten an der Kunst bekundet und sein Beispiel
nicht ohne Consequenzen sein und Nachahmung erwecken wird.
Für Dresden selbst ist Mosen's Weggang freilich ein Verlust,
denn von den verbältniß mäßig wenigen Literaten, die sich hier befin¬
den, wird ihm der vorzüglichste entrissen. Auf des Dichters fernere
dramatische Schöpfungen wird aber die praktische Wirksamkeit sicher
einen günstigen Einfluß haben, er wird die Anforderungen der Bühne
mehr noch berücksichtigen. Sicher wird er auch in seiner Stellung
auf eine größere Einigung, auf ein Zusammenhalten und Zusammen-
streben der dramatischen Dichter mit hinwirken; denn nicht durch An¬
feinden und Herabsetzen der Competenten werden die Dichter sich he¬
ben, sondern durch gegenseitige Anerkennung, durch Förderung ihrer
Zwecke werden sie eine höhere Achtung und Theilnahme, werden sie
festeren Boden und weiteres Terrain gewinnen. Vor Kurzem sind
Mosen's Gedichte in zweiter Auflage erschienen; in diesen zeigt sich
sein Genius am deutlichsten mit seinen ursprünglichen Gaben; viele
davon sind bereits in das Volk übergegangen, ohne daß man viel¬
leicht den Namen des Verfassers kennt, so „die letzten Zehn vom
vierten Regiment." — Die Dresdener Bühne hat uns am ersten
Tag des neuen Jahres einen Glückwunsch dargebracht, der bedeu¬
tungsvoll, folgenreich sich erweisen wird. Gutzkow'S „Zopf und
Schwert" wurde gegeben und seitdem noch einmal bei stets überfüll'
tem Hause wiederholt. Die Theilnahme des Publicums hat für das
Stück eher zu- als abgenommen; auch von Frankfurt, Hamburg und
Nürnberg hören wir ahnliche Resultate. Die Franzosen, namentlich
Scribe, haben das historische Lustspiel mit vielem Talent in ihrer ei¬
genthümlichen Weise cultivirt; die deutschen Dichter wagten es wegen
unserer politisch-socialen Verhältnisse kaum, auf diesen glatten und
schwankenden Boden zu treten. Gutzkow hat die Kühnheit gehabt,
voranzuschreiten. Er gibt ein Charakterbild Friedrich Wilhelm's I.
von Preußen und seiner Zeit und führt den Hof jenes Königs in
seiner militärisch-strengen Eigenthümlichkeit vor. Der Erbprinz von
Baireuth, Freund des sich in Rheinsberg aufhaltenden Kronprinzen
Friedrich, gewinnt die Neigung der liebenswürdigen und geistreichen
Prinzessin Wilhelmine, die nachmals als Markgräfin von Baireuth
durch ihre Memoiren sich ein bleibendes Gedächtniß gestiftet, und er¬
ringt sie sich, durch glückliche Umstände und die eigenthümliche Ge¬
müthsstimmung des Königs begünstigt, als Braut, trotz der Mitbe¬
werbung des englischen und des österreichischen Gesandten für den Prin¬
zen von Wales und den Erzherzog Leopold. Die Charaktere treten
in scharfer, lebendiger Zeichnung auf, die Handlung ist bewegt und
immer fortschreitend, die Situationen originell, spannend, pikant, er-
götzlich und das Alles von glücklichem Witz und reichem Humor ge¬
würzt und erheitert. Zu den ergötzlichsten Scenen gehört die, als
Eckhoff der Prinzessin Wilhelmine auf des Königs Befehl den Ziu-
merarrcst verkündet und mit ihm noch drei andere Grenadiere ein>
treten, von denen einer eine Bibel oder Katechismus präsentirt,
woraus die Prinzessin Sprüche lernen soll, der andere eine Suppen¬
terrine mit gequollenen Erbsen aus der Garnisonsküche überreicht, die
ihre Kost sein sollen, der dritte einen angefangenen Strickstrumpf, den
sie fertig stricken soll. Höchst originell ist die Verabschiedung des
englischen Gesandten, bei welcher der König und der Gesandte stets
ihre Rede an den General von Grumbkow richten, der in der Mitte
zwischen ihnen steht, daß er sie dem, welchem sie gilt, mittheilen soll.
Die Krone des Stückes aber ist das Tabakscollcgium. Dabei eben
der Dichter zeitgemäße glückliche Griffe in unsere Nationalsympathien.
Als Englands Gesandter bei dem zu stipulirenden Hcirathscontract
zwischen ven Prinzen von Wales und der Prinzessin Wilhelmine den
Abschluß eines neuen HandelStractats verlangt, ruft der König aus:
Hcmdelstractate! Hab' ich darum die Cultur meines Landes zu ver¬
edlen gesucht, Handel und Gewerbe gehoben, die Schifffahrt beför¬
dert, Tausenden von armen französischen Neligionsflüchtlingen in mei¬
nen Staaten ein Asyl geschenkt, daß ich nun, für die Ehre, mit Eng¬
land verschwiegen zu werden, die Thore öffnen und die verbotenen
englischen Waaren zum Ruin meiner Unterthanen hereinlassen soll?
— Andauernder jubelnder Beifall brach jedesmal bei den Worten
des Königs aus: Statt England dann ein deutscher Staat! Und
's ist besser so, meine Herren, '6 ist besser. An Deutschland schließ
ich mich an mit ganzer Seele. Fremder Eigennutz lehre uns einig
sein! — Köstlich ist die Rede, die der scheinbar trunkene Erbprinz
von Baireuth vor dem Tabakscollegium zum Andenken des anwesen¬
den, als verstorben angenommenen Königs hält, die durch dre Be¬
merkungen, die der König und andere Anwesende dazwischen werfen,,
von noch größerer dramatischer Wirkung ist. Sie gibt zugleich eine
höchst gelungene Schilderung Friedrich Wilhelm's I., so daß ich mich
nicht enthalten kann, sie hier mitzutheilen, jedoch ohne Einreden der
übrigen Personen: Fröhliche Versammlung, vergnügte Leidtragende!
Erlauben Sie, daß ich die heutige Festfreude durch einige schmerzliche
Betrachtungen über die Eigenschaften des Dahingeschiedenen untere
breche. — Friedrich Wilhelm i., König von Preußen, war — ein
Charakter, in dem sich — die sonderbarsten Widersprüche -- ver¬
einigten. — Wie bei allen Menschen, die ihre Erziehung sich selbst
verdanke», stand sein an sich edles Gemüth unter dem Einfluß trüber
Regungen, von denen die traurigste das Mißtrauen war. —> Seine
Staaten hat er zu einem glänzenden Aufschwünge gebracht. Er hat
die Regierung vereinfacht und die Gerechtigkeitspflege verbessert. Den
ruhigen Genuß aller dieser Segnungen verdarb er sich aber durch ei¬
gene Schuld.---Sein lebhafter Geist versetzte ihn in eine fort¬
währende Unruhe, die eben so für Andere, als für ihn selbst peinlich
war. Ermüdet, konnte er das Bedürfniß gemüthlicher Erholung nicht
unterdrücken und seine Sitten waren einfach genug, dies Bedürfniß
nirgend anders befriedigen zu wollen, als im Schooße seiner Familie.
---Aber auch hier, statt sich auf Rosen zu legen, bettete sich der
arme Fürst auf Dornen. Die Geschichte seines Sohnes ist so be¬
kannt, daß ich sie mit Stillschweigen übergehen kann. Impfen wollt'
er Stamm auf Stamm, Vater auf Sohn, Alter aus Jugend. Die
Hand einer liebenswürdigen Tochter bald hier, bald dorthin verschen¬
kend, fiel ihm niemals ein, auch der Wahl des Herzens Rechte ein¬
zuräumen, noch einmal zu fragen: „Macht meine Wahl Dich
glücklich, Kind?"--Nun ist er geschieden. Jene Creaturen. die
während seines Lebens das Herz der Mutter von dem Herzen deS
Vaters und Gatten entfernt gehalten, zittern. Was der verkannte
Sohn mit diesen Creaturen beginnen wird, steht dahin. Des Vaters
Schöpfungen werden die Grundlage dieses Staates bleiben. Ueber
sie her aber wird ein milder Geist wehen, Künste und Wissenschaften
werden den Ruhm der Kugeln und Kanonen überflügeln und der
himmelanstrebende Adler Preußens wird seine Devise jetzt wahrhaft
erfüllen: nee soll accus! Zu deutsch: Selbst der Sonne Blick darf
Dich nicht blenden! Selbst die Sonne muß Dir aus dem Wege ge¬
hen! — Hotham, geben Sie mir zu trinken! — Diese von Devrient
unübertrefflich gesprochenen Worte erregten bei jeder Aufführung stür¬
mischen Beifall. Die Dresdener Bühne zeigte bei der Darstellung
des Stückes, welch' glänzende Kräfte ihr zu Gebote stehen, uno
Gutzkow wird kaum wo anders tüchtigere Repräsentanten seiner dra¬
matischen Personen finden, als hier in Emil Devrient, Winger, Heese,
Quanter, Ports und den Damen Bayer und Berg. Das aber be-
währt sich, daß das Talent mächtig ist über die Vorurtheile; denn
erst zweifelte man, ob das Lustspiel wegen seines Inhalts, weil eS
die Ahnen des preußischen Hofes in ihrer Eigenthümlichkeit vorführte,
hier gegeben werden könnte, dann glaubte man nicht an eine Wie¬
derholung; jetzt hat eS sich Bahn gebrochen und dieses historische
Lustspiel wird auch auf andere Hofbühnen kommen, wird auch in
Berlin und zwar da mit noch erhöhterem Beifall als irgend wo an¬
ders gegeben werden; deß bin ich gewiß. Der Erfolg des Stückes
mag wohl vorzüglich zu dem hier entstandenen Gerücht Anlaß gege¬
ben haben, daß Gutzkow als Dramaturg um die hiesige Bühne be-
rufen werde. Ein Dramaturg wäre wohl ein sehr nothwendiges und
nützliches Ding für ein Theater, das über so viel Kräfte gebietet, als
das Dresdener; darum schon wäre es zu wünschen, daß sich jenes
Gerücht als wahr bestätigte. Für Gutzkow selbst und seine künf¬
tige Thätigkeit würde es sehr nützlich sein; er würde der Bühne
sein reiches Talent ungetheilter zuwenden und manchen literarischen
Zersplitterungen, die ihm doch nur Feindseligkeiten zuziehen, entrissen
wervcn; Dresden aber würde wieder reicher um eine literarische No¬
tabilität, die sicher noch manche andere Literaten herziehen würde, so
daß unsere Stadt, die in allen anderen Künsten so gut bestellt ist,
auch in der Literatur besser als jetzt repräsentirt werden würde. —
Emil Devrient verläßt uns auf einen Monat, um in Stettin zu ga-
stiren; seine Stelle wird während dieser Zeit einigermaßen durch sei¬
nen Bruder Eduard aus Berlin vertreten, der so lange auf Gast¬
rollen an die Dresdener Bühne kommt. Man spricht davon, daß
Letzterer als Oberrcgisseur hier angestellt wird, doch glauben wir das
nicht. — Caroline Bauer verlaßt leider das Theater schon im März,
indem sie sich mit einem preußischen Landrath verheirathet; ihr Ver¬
lust wird uns sehr fühlbar werden. — Von der nachtheilvollen Be¬
schaffenheit unserer berühmten Gemäldegalerie habe ich schon in mei¬
nem ersten Briefe geredet. Es ist eine Commission aus den ersten
Künstlern und Kunstkennern Dresdens bestellt, welche viel zur Ver¬
besserung des Zustandes, so weit das angeht, beiträgt; so hat diese
Commission namentlich sür bessere Aufstellung der Gemälde und für
Restauration vieler ganz unscheinbar gewordenen gesorgt, wofür sie
sicher den größten Da»! verdient. Doch auch auf die als werthlos
bei Seite gestellten, in der sogenannten Rumpelkammer befindliche»
hat sie ihre Aufmerksamkeit gewendet und daselbst neuerdings bereits
mehrere ganz vorzügliche Bilder von Metzii, Terburg und Wouver-
mann hervorgezogen und restauriren lassen. Es ist das ein nicht
genug zu achtender Fund, da man weiß, in welchem Werthe gerade
Bilder der genannten Meister jetzt namentlich in England stehen und
wie sie gesucht, werden. Merkwürdig aber ist der Reichthum der
hiesigen Galerie an Wouvermcmns, deren Zahl sich wohl auf achtzig
belaufen mag. Die Beruf, welche, jetzt restaurirt, so viel Aufmerk¬
samkeit auf sich zieht und ein Meisterstück Tizian's sein soll, ist nicht,
wie man in einigen Blättern ausgesagt, durch die Sorgsamkeit des
Galeriedirectors Mathäi aus Schmuz und Verborgenheit gezogen
worden, sondern eben jene Commission entdeckte sie bei ihrer Muste¬
rung in einem Winkel der Galerie, hoch oben aufgehängt, und ließ
sie zu jetzigem Glänze restauriren. Für den Winter müssen wir lei¬
der dem Vergnügen entsagen, die Galerie zu besuchen, die, da sie
nicht zu heizen ist, für diese Zeit geschlossen bleibt. Wie nachtheilig
aber die Kälte auf die kostbaren Gemälde einwirken mag, wie schäd¬
lich die eintretende Wärme ist, welche ihnen dann reichen Angst¬
schweiß entlockt, kann man sich denken. Wann wird diesen Uebel¬
ständen durch den Bau eines neuen Museums abgeholfen werden?
Nachschrift. Leider haben sich in meinem ersten Briefe recht fatale
Druckfehler eingeschlichen, die ich hier zu freundlicher Berücksichtigung angeben
will. Seite 9», Zeile 12 v. u. und freilich unbedingt Räder — lies- und
freilich nur bedingt Räder; S. 92, Z. 18 v. o- statt Richtpunkt — l. Ruhe-
punkt; S. 93, A. 5 se. Netz — I. Metz; 3- 9 se. Fröhlich und Denn- — l.
Fröhlich, ein Däne; 3- 15 se. ist nur — l. ist mir; 3. 15 v. u. Bekehrungs¬
zug — l. Bacchuszug; S. 94, 3. 2 Mecklenburg-Strelitz — l. Mecklenburg-
Schwerin; ?. 12 se. secirte — l. Stcinla.
Halm'S „Sampiero" ist ein neuer Beweis, daß der Wogenschlag
der Zeit nicht verhalte am umfriedeten Oesterreich; daß wir hier die
Rufe vernehmen, die von „Draußen" kommen und daß auch wir mit
Deutschland neuen Erkenntnissen entgegenreifen. Auch wir wissen es
nun, daß die Bühne nicht mehr eine im alten Sinne „moralische"
Anstalt bleiben könne, sondern ihrer Bestimmung immer näher schreite,
Tribune, Organ der Volksstimme zu werden. Halm hat es versucht,
jene ersehnte Stimme von der Tribune schallen zu lassen, er hat ein
politisches Drama geschrieben. — Uns liegt hier die Erörterung,
ob und wie ihm dieser Versuch gelungen, weniger am Herzen, als
der Ausdruck unserer Freude, daß ein Dichter wie Halm, von den
triumphirenden Zeitideen gedrängt, den neutralen Boden des sagen¬
haften, oder blos erdichteten, sogenannten rein ästhetischen Dramas
verKissen, in die Geschichte greifen und uns ein Kapitel aufschlagen
mußte, daraus uns verwandte Gesinnung, begeisternde Thatgedanken
wie aus einem Spiegel mit ernsten Augen entgegenblicken. Das ist
der Triumph unserer Zeit, daß sie die Gleichgiltigsten zur Parteier-
gretfung, die Träumerischer zum Denken, die Abstracten zur That
hindrängt und ein doppelter Triumph ist es, wenn es in Oesterreich
geschieht, dem Lande voll Schranken und Verschlüge, der Heimath
des that- und gedankenlosen „Gemüths", dem Vaterlande der vor¬
trefflichen Lyrik.
Daß es Halm nicht gelang, einer historischen Idee das gehö¬
rige Blut und Fleisch zu geben, — wie natürlich ist das bei einem
Dichter, der bis jetzt gewohnt war, an den nebligen Sagen der Ta¬
felrunde, an TriSmegystos göttlichem Merkur, an den Gefühlen einer
Massalischen Bürgerin und eines Tektosagenhäuptlings sich zu begei¬
stern. — Das ist ja ein erster Versuch eines neuen Dichters auf
einem neuen Felve; ein erster Wassergang auf ungewohnten, Ter¬
rain. Seine Muse ist wie die Hirtin, die ihre Jugend bei Heerden
und Hirtenliedern verlebt, die noch der Waffen ungewohnt, da sie
schon ausruft: Der Helm da ist mein! — Aber sie wird der Waffen
gewohnt werden, sie wird Schlachten schlagen: Halm wird Erfolge
haben, das beweist der erste Act von Sampiero.
Die folgenden vier Acte aber sagen, daß wohl Halm zu seinem
innern Fortschritte, keinesfalls aber zu seinem Erfolge zu gratuliren
sei; sie sagen, daß der Keim, den die Zeit in Halm's Brust gewor¬
fen, noch nicht gehörig Wurzel gefaßt und noch nicht hervorwachsen
könne zur schönen vollendeten Blüthe eines Dichterwerkes.
Die heißeste Liebe für das Vaterland, der glühendste Haß ge¬
gen die Genueser, ihre bisherigen Tyrannen, begeistert Sampiero und
die ihm anhänglichen Corsen. Nachdem Frankreich im Frieden Cha-
teau-Cambresis Corsica verrathen, zieht Sampiero in alle Welt, um
Hilfe zu suchen; die Patrioten flüchten nach Marseille, mit ihnen
Vanina, Sampicro's Gattin, und Ornone, sein Geheimschreiber. Die¬
ser, ein gemeiner Bösewicht, der ein Sampiero Blutrache zu nehmen
hat, strebt zwischen die Patrioten und Sampiero Zwietracht und
Mißtrauen zu säen und bewegt Vanina durch falsche Vorspiegelungen
erst zu Unterhandlungen, endlich zur Flucht nach Genua. Dort will
sie für ihren Gemahl unterhandeln und, wie sie meint, ihn retten.
Die Flucht wird durch die Patrioten in Marseille vereitelt und Va¬
nina kann nur bis Air gelangen zu ihren Brüdern. Doch sind schon
die Patrioten mißtrauisch und glauben, Vanina unterhandle im Na¬
men Sampicro's. Mittlerweile trifft dieser in Marseille ein, erkennt
das Ungünstige seiner Lage, sieht, daß mit dem Zutrauen der Corsen
Alles verloren, holt Vanina von ihren Brüdern ab und um den
Patrioten seine Treue zu beweisen, ermordet er Vanina (obwohl er
sie für unschuldig hält) und fällt dafür sogleich von der Hand ihres
Bruders. Der Vorhang fällt. — Dies ist die ganze Fabel eines
Stückes, das die erschütternde That eines Brutus, einen in's Aben¬
teuerliche greifenden Patrioten darstellen soll. Soll, sage ich, ist
aber nicht im Geringsten geschehen. Denn in den ganzen langen
fünf Acten zeigt sich Sampiero nur in einer Scene des eosdem Actes
als charaktervoller, starker Mann, sonst wird nur von seinem
Heldenmuthe gesprochen, wird er von Vanina ein großer Mann
genannt, thut aber nicht das Geringste, um für sich einzunehmen, ja
nur um mit sich zu versöhnen für so Vieles, was man an seinem
Charakter Tadelhaftes, ja Empörendes entdeckt. Hierher gehört vor
Allem Sampiero's Patriotismus, der uns nur in einem ewigen
Paroriömus, in keiner ruhigen That, in keinem besonnenen Worte
entgegentritt; der Patriotismus, dem ein Freund uno eine liebevolle
Gattin zum Opfer fallen, der Patriotismus, der uns in Sampiero's
Kopfe eine fire Idee scheinen muß. Denn ist es nicht eine solche,
wenn Sampiero, trotz dem, daß er von Vanua's Unschuld überzeugt,
erschüttert ist, seiner im Parorismuö auSgcstöhnten Sentenz: „Corsica
über Alles!" ihre unmotivirte Ermordung alö eine verbi c-ins-t hin¬
zufügt, ist das nicht eine wahnsinnige Idee, die sich in ihrer prakti¬
schen Anwendung also darstellt? — Vanina selbst spricht ihrem
Manne und mit seinem Helden dem Stücke selbst ein vernichtendes
Urtheil. Wir müssen das näher erläutern.
Vanina, um Sampiero von genuesischen Dolchen, die aber nur
„Gedankendolche" sind, zu retten, läßt sich mit Genua in Unterhand-
lungen ein und empfängt Briefe aus dieser Stadt. Diese Briefe
verlangen die Auslieferung der Patrioten und fallen unglücklicher
Weise diesen in die Hände. Darum wird der rückkehrende Sam-
piero von ihnen als Verräther empfangen. Dieser eilt nun zu Va¬
nina und obwohl er von ihrer Unschuld überzeugt ist und sie jene
Anträge wirklich mit Abscheu zurückgewiesen, holt sie Sampiero doch
nach Marseille, um sie da zu richten. — Vanina, die ihren Mann
kennen muß, erwartet ihren Tod und geht ihm muthig und gefaßt
entgegen, geräth aber in die höchste Aufregung, da Sampiero in
der Hcnkerstunde ihren Tod als einen höchst gerechten beschönigen will.
— In einer prächtigen Rede, wie sie nur der wahrhaft Unschuldige
vor dem Blutgerüste oder der Advocat eines verfolgten Clienten oder
ein dramatischer Orateur wie Halm halten kann, beweist Vanina
ihre Schuldlosigkeit und das himmelschreiende Unrecht ihrer Hinrich¬
tung. Alle Zuschauer sind von der Wahrheit ihrer Worte, die der
Trommelschlag Sampiero's, „ich bin Dein Mann, ich darf Dich
richten :c.," umsonst zu übertäuben sucht, durchdrungen, und selbst
der Henker wird endlich überführt und weiß nicht, was zu sagen.
Und darum meinen wir, daß Vanina ihrem Mann und mit ihm dem
Halm'schen Stücke das Urtheil spricht. — Denn nun sollte Sam-
piero die verriegelten Thüren wieder öffnen und sprechen: Zieh hin,
mein theures Weib, Du bist frei. — Die Zuschauer sollten sich zer¬
streuen, der Vorhang sollte fallen und die Tragödie, die sich so in
Nichts oder in sich selbst aufgelöst hat, sollte nicht wieder aufgeführt
werden. — Vanina hat ja bewiesen, es seien die Faden nicht da,
an denen die tragischen Gewichte hängen, also könne die Uhr
nicht gehen; Vanina hat ja, wie ein scharfsinniger Kritiker dargethan,
daß alle natürlichen Antecedentien fehlen, um sie zu einem tragischen
Tode verurtheilen zu dürfen, und daß, sobald Sampiero seine Hand
wider sie erhebe, er ein gemeiner Mörder sei, der aus Blutdurst
mordet. So wird das ganze Stück ein Jntriguenspiel, dessen Wirr¬
nisse durch die strahlende Unschuld, durch die lebensvolle Beredsam«
keit eines Weibes aufs Glänzendste gelöst und gelichtet werden, und
wir haben ein Stück, wie „der Kaufmann von Venedig." Es thut
Einem dann nur Leid um das viele tragische Pathos der fünf Acte
und um die Aengstlichkeit, die die gedrückte, gewitterschwüle Stim¬
mung des Stückes eingeflößt hat.
Aber die Geschichte sagt: Vanina starb von der Hand ihres
Mannes und so muß die „Unglückselige" plötzlich losbrechen mit:
Was ist mir Corsica? Mich hat es stets elend gemacht u. dergl.
mehr, was der Patriot Corsica's nicht anhören kann, ihr also einen
Dolch in'ö Her-z stößt mit den Worten: Stirb und schweig. — So
und durch den Umstand, daß unmittelbar nach der That der Bru¬
der der Gemordeten ankommt, um an Sampiero Gleiches mit Glei¬
chem zu vergelten, wird das Stück mit einer einzigen, unbedeutenden
Wendung — eine Tragödie.
Aber, wird man fragen, warum wurden zu diesem Ende Erde
und Himmel' in Bewegung gesetzt, wozu braucht man da den Bö¬
sewicht, die Kinder, die Corsen, die Flucht und den ganzen Aufwand
von poetischer Prosa? Wir wissen, Vanina hat Corsica nie geliebt,
sie hätte sich auch zu jeder andern Zeit darüber äußern und ein
Mann wie Sampiero, der in einer Stunde, die ihm sein Weib als
rein, unschuldig, heldenmüthig darstellt, ihr den Dolch in'ö Herz
stößt, ein solcher Mann, meinen wir, hätte eben so leicht und
leichter in jedem andern, gleichgiltigen Momente sie erdolchen, zerrei¬
ßen, erdrosseln können, wie es eben einem solchen Manne gefällt.
Wozu also all' dieser Aufwand, da die ganzen vier Acte zum fünf,
ten gar nicht nöthig sind, mit der Katastrophe, wenn man die letzten
Scenen dann noch so nennen kann, in gar keiner Verbindung stehn?
— Meint also das Parterre, daß in dieser Hinsicht an dem Stücke
viel zu viel sei, stimmen wir wohl ganz und gar überein; betrachten
wir es aber als historische Tragödie, so müssen wir gestehen, daß
wir hier noch sehr Vieles vermissen. Wir vermissen z. B. in dieser
historischen Tragödie die Geschi es t e. Der größte Held mit seiner
nächsten Umgebung macht noch nicht Geschichte; es muß seine Zeit, es
muß sein Volk hinzukommen. Wo spüren wir in dieser Tragödie den
Schritt der Zeit, in welchen Personen ist das Volk repräsentirt? Doch
nicht in den Patrioten, die alle einander gleichen, wie abgegriffene
Münzen desselben Werthes, wie blöde Gesichter, die alle Eine Aus-
druckslosigkeit haben. Es müßten Nebenpersonen, d.i. Charaktere hin¬
zukommen, Episoden, die aus der Zeit hervorgehen und charakteristisch
sind; Charaktere, Episoden wie in Shakspeare, in Götz und Egmcnt,
in Fiesco und Faliero. — Mit diesem Mangel wäre zugleich ein
zweiter gehoben worden: die Armuth der Handlung, die Ursache ist,
daß der Dichter Dinge einwebte, die zum Ganzen gar nicht gehören
und als etwas ganz Fremdartiges sich selbst ausscheiden und stören;
daß er Effecte anbrachte, die dem Haupteffect völlig heterogen sind.
Neben den erwähnten Fehlern dieses Dramas scheint uns jener
der NichtSbedeutcnheit, der gänzlichen Vernachlässigung aller Neben¬
personen der bedeutendste. — Man sieht es diesen an, sie sind nur
der zum Zusammenhange, zur Ausfüllung der Lücken nöthige prosai¬
sche Kitt; sie stehen da wie Decorationen, sie gehen und kommen wie
abgerichtete Statisten oder wie Maschinen, kurz machen den Eindruck
belebter Golems. Selbst die Brüder Vanina's, die doch eine Rolle
spielen, sind unheimlich wie zwei Doppelgänger. — Ornone, von dem
das ganze Unglück ausgeht, ist ein abgebrauchter, gemeiner Bösewicht,
der nach dem zweiten Acte verschwindet, ohne daß man weiter etwas
von ihm erfährt. — Wie viel schöner wäre es gewesen, wenn die
Tragödie sich wie eine dunkel umhüllte Rome aus dem Gewebe der
Verhältnisse, die unser Fatum ausmachen, erhoben hätte, als daß sie,
ein giftiges Unkraut, aus dem Sumpfe Ornone emporwächst.
Fassen wir das Gesagte in wenigen Worten zusammen, so stel¬
len sich folgende Hauptmangel als Todeskcinic heraus: I) Sampiero
ist ein Mann, der sein Vaterland befreien will, ist aber von seinen
Ideen so berauscht, so wahnsinnig, müssen wir sagen, daß er Alles
thut, nur nicht das, was zu seinen Zwecken nothwendig, ja daß er
einen zwecklosen Mord begeht. — Man verabscheut also den Hel¬
den der Tragödie; wie soll sie bestehen? 2) Die unmotivirte Kata¬
strophe. 3) Stoffmangel verursacht Langeweile. Kann ein Bühnen¬
dichter eine größere Sünde begehn? 4) Die historische Tragödie
zeigt uns, mit Ausnahme des vortrefflich gearbeiteten ersten Actes
keine Geschichte.
Außer dem Erwähnten stört noch so vieles Andere. — Der zweite
Act ermangelt alles Interesses. — Häufige Reminiscenzen kommen
vor, theils an fremde Stücke, theils an Stücke des Verfassers. —
Der oft wiederholte Ausruf Sampiero's „der Brief, der Brief!" er¬
innert an Othello; das plötzliche Auftreten unter den Verschworenen
an die Streichen und andere Stücke; das Benehmen und der Ton
Sampiero's gegen seine Gattin an Percival und Griseldis. — Zu
tadeln ist die Grausamkeit, die im vierten Acte die Ermordung auf¬
schiebt und sich den, ganzen fünften Act hindurch damit beschäftigt.
Ja man erkennt noch den Dichter der Griseldis. Ich habe im Par¬
terre Leute gesehen, die die Tortur der Armen nicht länger mit an¬
sehen konnten. — Zu bedauern endlich ist, daß Vanina, die einzige
Person, die man lieben möchte, diese Liebe auf eine ungeschickte
Weise verscherzt. Sie kann dem Bauernsöhne gegenüber ihre aristo¬
kratische Abstammung nicht vergessen, was doch lächerlich ist, da sie
Sampiero für einen großen Mann hält. — Störend endlich ist noch
die Sprache dieses Dramas. Es ist gewiß auch ein Fortschritt,
wenn Halm den Vers verläßt, aber es gelingt ihm noch nicht, in
reiner, natürlicher Prosa zu sprechen. Die Sprache ist Nichts, als
aufgelöster oder zerstückelter Vers. Ost, sehr oft kommt ein ganz
stattlicher Jambus mit seinem ganzen Sonntagsstaate und feierlichen
Schritte» angestiegen und man stage sich verwundert: Das soll Prosa
sein? Es geht Halm mit seiner Prosa, wie jenem Immermann'schen
Minister in Münchhausen, der sich populär machen will.
Wie wenig politische Bildung und Theilnahme an deutschen An¬
gelegenheiten hier zu finden ist, konnte man in diesen Tagen bei Ge¬
legenheit der Beröffcntlichnng deö rheinischen LandtagSabschicdes bemer¬
ken. Ich habe wohl an zwanzig Personen aus den gebildetsten Stän¬
den gesprochen: Advocaten und Schriftsteller; die meisten antworteten mir
„sie überschlugen derlei für den Oesterreicher uninteres-
sante Artikel in den Zeitungen"; die Wenigen, welche den
Landtagsabschied gelesen haben, ^hatten doch keine Ahnung von der
Bedeutung dieses Actenstückes für die Zustände Deutschlands. Jeder
fege vor seiner Thüre, heißt das deutsche Sprüchwort, das so viel Un-
rath im Gesammtvatcrlande anhäufen ließ. Was geht uns der Koth
in andern Straßen an? — Die Gesellschaft „Concordia" (eine Art
Litcratcnvercin, nur fröhlicherer und minder ernster Natur als der
vielbesprochene Leipziger) hat diese Woche durch ein glänzendes Fest
den zweillndsünfzigstcn Geburtstag Grillparzer's verherrlicht. Gegen
achtzig Personen, Maler, Musiker und Schriftsteller waren versammelt,
und die Politik, die alle Welt beleckt, hatte auch auf dieses Fest sich
erstreckt. Baucrnfeld, Witthaucr, Hammer hatten Verse geliefert,
voll bitterer Polemik gegen die Kümmernisse, mit welchen der öster¬
reichische Dichter zu kämpfen hat und gegen den Mangel an Unter¬
stützung, die ihm von Seiten des Staates zu Theil wird. In den
hiesigen Journalen darf die „Concordia" nicht beim Namen genannt
werden und muß officiell „ein Kreis von Künstlern" heißen. — Stcg-
mavcr, ein drolliger aber talentvoller hiesiger Lyriker (er schrieb ein
Bündchen Gedichte unter dem Titel: Klänge aus der Teufe) war sechs-
zehn Jahre bei der Hofkanzlei angestellt; der Man» hat darüber seinen
Kopf grau werden gesehen. Jetzt endlich ist er als Hofconzipist mit
Gehalt nach Gmunden versetzt worden. Unter den Anekdoten, die man
sich von diesem im Leben sehr kölnischen Kauz erzählt, ist auch die,
daß er an den Kaiser Franz ein Gesuch um Beförderung einreichte und
als Beleg dreißig Trauerspiele, die er geschrieben und die ihm in Ma¬
nuskript auf dem Hals geblieben sind, beifügte. Der Bote mußte die¬
ses Gesuch sammt seinen Beilagen buchstäblich in einem Korb auf dem
Rücken in die Kanzlei tragen. — Die Verhältnisse des Hofburgthca-
terS sollen wieder eine Veränderung erleiden. Holbein, der von allen
Seiten der unerquicklichsten Aengstlichkeit angeklagt wird, soll nicht
mehr die oberste Leitung des Burgtheaters behalten; ein Hofintendant
soll ihm als Vorgesetzter beigegeben werden. Man nennt als solchen
Heu Landgrafen von Fürstenberg; andere bezeichnen jedoch den Oberst-
Hofmeister der Kaiserin, den Grafen Moriz von Dietrichstein als sol¬
chen. — Das neue Jahr war für die hiesige Journalistik nicht gün¬
stig; mit wenigen Ausnahmen haben alle Journale die Zahl ihrer
Abonnenten sich mindern gesehen. Man gibt dafür mancherlei Ursachen
an. Unter andern auch die, daß die Privatvereine, wie der kaufmän¬
nische, der juridisch-politische Verein :c. immer mehr anwachsen und
die Privaten, von denen sonst jeder auf ein Journal für sich abonniren,
dasselbe im Lesezimmer finden, wo ein Exemplar dreihundert speist. —
Der Carneval hat sehr flau begonnen. Die öffentlichen Bälle sind
weniger besucht, als in früheren Jahren. Unter die Tänze ist eine
Revolution gekommen; die Quadrille^ hat die Gallopade verdrängt.
Das französische Princip hat das deutsche bei Seite geschoben, man
tanzt nicht mehr so eng an einander, lyrisch, feurig; die Gcsellschafts-
länzc nehmen überHand. In Frankreich conversirt man während
solcher Tänze, in Wien ist das Conversiren noch in den Kinder¬
schuhen. Warum beginnt man mit den Füßen und nicht mit den
Köpfen Frankreich zum Muster zu nehmen? — Gegen Tengoborsky
und seine Darstellung der österreichischen Finanzen ist die Polemik bei
weitem noch nicht zu Ende. Ein hiesiger Advocat bereitet ein Haupt¬
werk zur Widerlegung vor: es wird den Titel führen: Die russische
Kunst zu rechnen; der Verleger soll abermals Hoffmann und Campe
sein. — Karl Weck, der sich zwei Jahre unthätig in Oesterreich her¬
umgetrieben, reist wieder in's Ausland. Er hat eine neue Sammlung
lyrischer Gedichte zum Druck bereit. — Der „Preistarif der Zeitun-
gen und Journale", welchen die hiesige Postamtsexpcditivn alljährlich
publicirt und worin die erlaubten ausländischen Journale angegeben
sind, hat dieses Mal lange auf sich warten lassen und erschien erst
nach dem Neujahr. Hier folgt das nicht uninteressante Verzeichnis;
der erlaubten Journale und Zeitschriften Deutschlands; man kann da¬
durch sehen, welche verboten sind (die wissenschaftlichen und technischen
Blätter führen wir nicht an): Abendzeitung (Augsburger) — Andrer
Zeitung — Achucr Modezeitung, für deutsche Frauen — Allgemeine
Zeitung — Allgemeiner Schweizer Correspondent — Augsburger Post-
zeitung — Ausland, das — Badezcitung, allgemeine — Bayerische
Landbote, der —> Berliner Modcnspicgel — Berliner Theaterzcitnng —
Berlinische Nachrichten (Spenersche) — Berlinische privilegirte Zeitung,
Vossische — Breslauer Figaro —Camcralistische Zeitung, allgemeine —
Centralblatt der deutschen Kunstvereine — Churer Zeitung — Corre¬
spondent von und ffir Deutschland — Eiscnbahnzeitung — Erzähler,
der, von Se. Gallen — Frankfurter Obcrpostamtszeitung — Gothaer
Zeitung — Hamburger Börscnhallc — Hamburger unparteiischer
Correspondent — Hannöversche Zeitung — Heidelberger Jahrbücher
der Literatur — Historisch-politische Blätter für's katholische Deutsch¬
land — Jllustrirte Zeitung — Karlsruher Zeitung — Kölnische Zei¬
tung — Leipziger Zeitung — Leipziger Modczeitnng, mit Doppel-
kupfern — Leipziger musikalische Zeitung — Leipziger neue Zeitschrift
für Musik — Literarische Zeitung — Morgenblatt (Stuttgarter) —
Morgenblatt der auswärtigen Börsen — Münchner politische Zeitung
— Neue Pariser Mcdeblättcr mit 52 Modckupfcrn — norddeutsche
Zeitschrift für Theater — Petersburger deutsche Zeitung. — Pfcnnig-
magazin — Preußische allgemeine Zeitung — Regensburger Zei¬
tung — Schweizer Zeitung, allgemeine >— Schweizer Zeitung —
Würzburger Zeitung, neue — Zollvcreinsblatt. — Alle übrigen poli¬
tischen und literarischen Blätter sind verboten. Man hat Anfangs ge¬
hofft, es würden dieses Jahr wenigstens die belletristischen Zeitschriften
erlaubt werden; allein blos ti^ Jllustrirte Zeitung hat Gnade vor
den Augen der Censur gefunden. Man ist sogar gegen die politischen
Journale verhältnißmäßig milder, alö gegen die literarische» und halb¬
politischen Blätter, denn während die liberale Kölnische, Andrer, Voßi-
sche Zeitung bezogen werden dürfen, sind die deutsche Vierteljahrs-
schrift, Biedermanns Monatsschrift, die Grenzboten, der Freihafen, die
Elegante ». f. w. ausgeschlossen.
In Brüssel erscheint seit dem neuen Jahre ein großes politische»
Blatt in flamändischer Sprache. Für den größten Theil des deut-
sche» Lcsepnblimmö ist dieses eine gleichgiltige Notiz. Höchstens daß
bei uns einige Gelehrte sich freuen, wenn das deutsche Element im
Auslande Eroberungen macht, die Masse kümmert sich nicht darum.
Das deutsche Volk ist nicht eroberungssüchtig. Wenn es etwas erobern
möchte, so wäre es vor Allem sein Recht und seine Freiheit im In«
nem; es hat in seinem eigenen Hause noch nicht, was es wünscht,
waS es braucht, wer will es ihm verargen, wenn es sich um das, was
draußen zu erringen ist, so wenig kümmert? Indessen ist daS Erschei¬
nen eines flamändischen politischen Blattes in der Hauptstadt Bel¬
giens keineswegs so gleichgiltig hinzunehmen. Die Flamänder sind
nun ein Mal, gleich den Holländern, verkommene Deutsche, welche
die uunationale trübselige Politik des heiligen römischen Reichs auf
die unverzeihlichste Weise dem großen Ganzen entschlüpfen, entfremden
ließ. Wir, die wir in einer bewußteren Zeit leben, sollten das Ver¬
lorene nachholen und wieder gut machen. Und wir könnten es, trotz
der äußerlichen, scheinbaren Schwierigkeiten. Die Födcrativ-Basis des
heutigen Deutschland läßt die Aufnahme und den Anschluß aller
deutschen Stämme zu. Wir brauchen nicht wie Frankreich Dynastien
zu entfernen, wenn wir ein Land uns einverleiben wollen. Der deutsche
Bund hat Raum für viele Königreiche. Würde die Hauspolitik der
deutschen Fürsten nicht eine so egoistische sein, dann würde Holland
bald an der Seite jener Nation stehen, deren Blut, deren Sprache,
deren Geschichte noch heute in seinen Adern fließen. Und Belgien
mit deu zwei Drittheilen seiner norddeutschen Bevölkerung, mit seinem
deutschen Könige, mit seinen Wünschen nach einem deutschen Handel,
mit seiner Furcht vor dem beutelustigen französischen Nachbar, wäre
gewiß nicht allzuspröde, wenn ihm der deutsche Bund die Hand reichen
wollte. Frankreich weiß dieses gar wohl und ist nicht müßig. In
Brüssel hat die französische Politik fast alle leitenden Organe mit seinen
Getreuen besetzt. In den Provinzen regt sich noch niederdeutsches Le¬
ben; in der Hauptstadt hat Frankreich es aufgepickt. Darum hat das
plötzliche Auftauchen eines flamändischen Journals in der Hauptstadt
seine gute Bedeutung. In Belgien entstehen die Journale nicht aus
bloßer Privatspcculation, aus den Kosten eines Buchhändlers. Dort
ist Alles Partei und diese trägt Sorge für die Erhaltung ihres Or¬
gans. An der Spitze des neuen Blattes, das den Titel das „vlaem-
sche Belgie" führt, steht ein junger feuriger Schriftsteller Herr ,1»-
I^t, dessen Sympathien für Deutschland unzweideutig sind und der
auch einer der leider wenigen flamändischen Autoren ist, die mit
deutscher Sprache und Literatur sich bekannt gemacht haben. Ein sol¬
ches Journal bedarf der Unterstützung und der Aufmunterung v-on
deutscher Seite. Wird die preußische Gesandtschaft in Brüssel dieses
Mal wieder sich so lange besinnen, ob sie das Journal nach Deutsch¬
land lassen darf, wie sie es bei dem Journale des Herrn CorrcmanL
gethan hat, wo die Erlaubniß erst anlangte, als nach Verlauf eines
Jahres das Blatt bereits zu große Opfer gebracht hatte, um weiter
erscheinen zu dürfen? Oder wird das „vlacmschc Bclgic" daS Schick¬
sal der Grenzboten finden, denen (zur Unterstützung ihrer patriotischen
Absichten!) der Eingang in Preußen nicht gestattet wurde? —
''
— Mit Widerwillen sieht man sich gezwungen, fortwährend von
Rußland zu reden; denn eS gibt nichts Peinlicheres, als gegen einen
solchen Feind die Formen der Höflichkeit und des Auslandes beobachten
zu müssen. Die Nachrichten aus dem slavischen Osten klingen wie die
Sagen von Bampvrcn und Währwölfen. Doch sind es keine Sagen.
Ein sehr gewiegter und besonnener Korrespondent der „Deutschen All¬
gemeinen" rollt uns (in der Nummer vom 29. Januar) ein Gemälde
des polnischen Elends auf, dessen Details wir nicht wiedergeben wollen.
Nußland zertritt die letzten zuckende» Reste polnischen Nationallcbcuö
und man weiß nicht, was bei diesem Verfahren gräßlicher ist: der
Zweck oder die Mittel. Selbst der rohe Constantin war gegen die
zartere polnische Natur nicht ganz so russisch wie gegen seine Russen;
jetzt aber wirft man sich, mit thierischer Lust an dem Ekel und Ent>
setzen seiner Beute, auf das wehrlose Volk, vor dessen Heldenmuth man
einst gezittert. Ingrimmig sieht man die großmüthige Schonung, de¬
ren die polnische Nationalität in Preußen genießt. Leider wirb die
Wiedereinführung des Cartelö von selbst nothwendig werden. Ru߬
land will aber mehr; russische Spione kommen, als Ueberläufer mas-
kirt, nach Posen und suchen das Volt zu Excessen und Emeuten zu
verhetzen, um der preußischen Regierung jene Schonung zu verleiden;
hoffentlich wird das nicht gelingen. Wir sind überzeugt, daß unsere
deutschen Regierungen das russische Nachevcrfahrcn entschieden verwer¬
fen. Und doch, warum hört mau von keiner diplomatischen Interven¬
tion, von keiner christlichen Verwendung? Ist Rußland so mächtig,
um dergleichen vornehm zurückweisen zu dürfe«? — Dazwischen tönen,
wie zum Hohn, die Hochzcitstrompctcn, täglich eine neue russisch-deut¬
sche Fürstcnvcrmählung verkündend. Das deutsche Volk ist uicht so
svusiblv, wie das französische, aber ein gutes Gedächtniß hat dasselbe.
Langsam bildet sich ein unauslöschlicher Haß und — er wird Früchte
trage».
— Georgi, Wcidig's Inquisitor, beginnt sich vor der öffent¬
lichen Meinung zu vertheidigen und bringt ein Actenstück vom Jahre
>837 bei, worin das Obcrappcllationsgcricht die ärztlichen Zeugnisse,
die Georgi für krank (am äeliriu», ti-emvn«) erklärten, als nicht voll-
giltige gerichtliche Beweise gegen Georgi'S AmtSfähigkeit verwirft.
Dieses Actenstück zeigt aber nur, daß man sich nicht viel Scrupel
darüber machte, ob Inquirent das al-Iirim» habe oder nicht. Man
untersuchte nicht weiter; die Krankheit ist zwar wahrscheinlich, man
kann moralisch von ihr überzeugt sein, allein die Beschwerdeführenden
haben blos einige ärztliche Zeugnisse beigebracht, welche die Sache nicht
erledigen. Wir wünschten, man hätte die politischen Verbrecher nach
demselben Princip behandelt; man hätte Jndicicn oder Zeugenaussagen
wider sic, die nicht an sich vollgiltige gerichtliche Beweise waren, eben
so leichthin verworfen, eben so wenig beachtet, wie jene ärztlichen Zeug¬
nisse über den Inquisitor.
— Gratsch hat in Petersburg eine Anstellung erhalten, die dem
preußischen Berichtigungsbüreau nachgeäfft ist: er soll Alles widerlegen,
was gegen Rußland geschrieben wird. Möge Nußland nie einen bes¬
sern .ulova-den« l1i.->.drü gewinnen. In Paris hat man sich über ihn
lustig gemacht. Zu Neujahr wurden in den vornehmsten Häusern von
unbekannter Hand Visitenkarten abgegeben mit der Aufschrift: (ZietscK,
Premier e8ava lie la Kussie.
— In Köln eristirt ein exemplarischer Censor, Namens Wenzel.
Streichen heißt jetzt dort Wenzeln. Dieser Angstmcnsch hat sogar Frei-
ligrath ein Gedicht an das Jahr 1844 weggcwcnzelt. Das Obcrcen-
surgcricht hat das Gedicht freigesprochen; nun wird's zu Neujahr 1845
erscheinen. Es wird wohl noch Passen, da sich Deutschland in einem
Jahre nicht verändert.
— Gutzkow's Zopf und Schwert soll in Wien glücklich die Cen¬
sur passirt haben. — Sowohl in Dresden als in Frankfurt a. M.
und in Nürnberg, den drei Orten, wo das Stück gegeben wurde, hat
es entschieden gefallen. —
Durch einen zufälligen Uebergang kam die Rede auf Mlle. Sonntag
und den erhöhten Beifall, der ihr seit ihrer Rückkehr von Paris zu
Theil wurde. Sie verdiene ihn durchaus, wurde behauptet, sie habe
dort ungemein an Ausdruck und Grazie gewonnen und sei jetzt eine
vollkommene Meisterin. Ich weiß nicht mehr, wer dies bestritt und
dagegen meinte, sie sei nur vollkommener geworden in der musikali¬
schen Koketterie, denn die Gunst des Publicums zu gewinnen, habe
noch Niemand so gut verstanden. Man erinnerte an das Wort der
Catalani, die von Mlle. Sonntag, nachdem sie dieselbe zum ersten
Male singen hören, gesagt habe: „I^IIe est Krimpe ckuix son Ac»re,
ains so» Kovro «se n«tit." Man führte satyrische Zeilen von Lud¬
wig Robert an, der diesen Ausspruch noch gehässig verstärkt hatte.
Der Tadel gewann nun weit die Oberhand, und besonders wurde
Gans, der Musik und Gespräche über Musik nur mit größter Unge¬
duld ertrug, jetzt aufs Neue laut und wollte wiederholen, was er in
französischen Blättern kürzlich über Mlle. Sonntag gelesen hatte.
Aber Frau von Varnhagen bezeigte großes Mißfallen und wollte
das Gespräch in dieser Wendung nicht weitergehen lassen; sie rief
mit guter Laune und komischer Heftigkeit dem Sprecher zu: „Lieber
Gans, kommen Sie her, Ihnen muß man Mlle. Sonntag als poli--
tisches Ereigniß erklären, und das will ich thun! Dann werden Sie
einsichtig und also gerecht über sie urtheilen. Sehen Sie einmal den
Charakter und Gang unserer Welt im Allgemeinen an, seit der fran¬
zösischen Restauration; betrachten Sie die Ideen, den Geschmack, die
Tonart, die seitdem an Höfen, in der höchsten Gesellschaft — und
also unbewußt auch in der niedrigsten — herrschen und gefallen,
was finden Sie? Ueberall ist das Große und Erhabene geschwun¬
den, das Mäßige, das Anmuthige ist an die Stelle getreten; jenes
ist unbequem, wir vertragen es nicht, es macht uns zu klein, unsere
Gesellschaftswelt mag nicht erschüttert werden, sie will geschmeichelt,
geliebkost sein, die Talente sollen uns und unsere vielseitige, aber
schwache Bildung ausdrücken, nicht blos künstlerische Meisterschaft,
sondern ein Gemisch von Allem, — ein artiges Betragen, gefällige
Eleganz, sittsame Zurückhaltung bei gehöriger Lebhaftigkeit, eine selbst¬
bewußte Bescheidenheit, — kurz, die leibhafte Mlle. Sonntag; und
so ist sie denn ein Ausdruck des politisch-socialen Eklekticismus un¬
serer Zeit, die Künstlerin, wie unsere Zustände sie hervorbringen,
tragen, erlauben. Verstehen Sie, was ich meine? — Vollkommen
versteh' ich Sie und gebe Ihnen vollkommen Recht! versetzte Gans,
ja, so ist eS, und ich wundre mich nur, daß ich das nicht längst ein¬
gesehen! —
Man lächelte über dies letztere Bekenntniß, und Ludwig Robert
meinte, das sei recht wie Gans, der keine seiner Schwächen je zu
verhehlen wisse und darin wahrhaft liebenswürdig sei. Gans aber
war von der neuen Erkenntniß sichtbar angeregt und bearbeitete sie
in seinen Gedanken weiter; nach einer kleinen Weile neigte er sich
zu Frau von Vamhagen und sprach leise mit ihr, doch nicht so leise,
daß ich nicht Alles deutlich gehört hätte. Recht gerne, lieber Gans,
und mit vielem Danke dazu, es wird mir eine große Ehre sein!
sagte Frau von Vamhagen freundlich und drückte ihm die Hand.
Er hatte sie nämlich gebeten, ihm den eben ausgesprochenen Gedan¬
ken abzulassen, er wolle ihn gern weiter entwickeln und einen kleinen
Aufsatz daraus machen; dergleichen müsse öffentlich ausgesprochen
werden. Wie auch geschah; denn wir lasen bald nachher in der
musikalischen Zeitung einen mit Eduard Gans unterschriebenen Artikel,
der in bekannter Weise darzuthun suchte, Mlle. Sonntag sei kein In¬
dividuum, sondern eine Begebenheit! —
Noch vieles Musikalische wurde besprochen; die Verdienste
Spontini's kamen zur Erörterung; von ihm wurde gesagt, er sei der
Komponist der Zeiten Napoleons, und je weiter uns die Kaiserzeit
entschwinde, desto fremder werde uns Spontini, bis er endlich mit
ihren Erinnerungen werde zur Ruhe gesetzt werden. Ueber Rell-
stab's feindselige, grausame Kritik wurde geklagt, daneben im Allge¬
meinen sein Talent der Auffassung und Charakterisirung gerühmt,
wie er eS namentlich in den Artikeln über Paganini bewiesen habe,
ferner seine rüstige Tapferkeit, seine rasche Entschlossenheit, denn er
horche nicht erst ängstlich umher nach andern Urtheilen, sondern das
seinige trete gleich entschieden hervor und sei geschrieben und gedruckt,
ehe andere Kritiker sich noch besonnen hätten, was sie sagen wollten.
Von Zelter sagte Robert, er sei mehr Berliner, als Musiker, und da¬
durch eben der rechte Berliner Musiker! Der Geschmack Berlins in
der Musik, ja in Künsten überhaupt, wurde heftig angegriffen und
eben so vertheidigt, es kam bis zu der Behauptung, die Scheinheilig-
keit sei tief in die Musik eingedrungen; es gebe viele Leute, die sich
für Händel, Sebastian Bach und auch noch für Gluck und Haydn
in derselben Art passionirten, wie für Goßner und Hengstenberg, und
sich oft genug für ihre doppelte Heuchelei durch doppelte Langeweile
straften! Genug, über diejenige Kunst, deren Wesen am meisten Zu¬
sammenstimmung und Eintracht fordert, sielen die Meinungen gerade
am verschiedensten und feindseligsten aus, und in der That, keine an¬
dere hat jemals so erbitterte, so hartnäckige Streitigkeiten gehegt!
Von den musikalischen Parteien hatte man nicht weit zu den
politischen; sie fanden sich in der kleinen Gesellschaft hinlänglich ver¬
treten, vom äußersten Ultra durch viele Mittelglieder bis zum äußer¬
sten Liberalen. Da seit vierzig Jahren der Zustand von Frankreich
Stoff und Maß und Ton für alle politischen Erörterungen gibt, und
alles sonstige politische Interesse seiner Natur nach in diesen Wirbel
fällt, so war bald von dem Fürsten Polignac die Rede. Fast ein¬
stimmig hatte man große Befürchtungen. Frau von Varnhagen er¬
zählte, wie ihr den Sommer vorher in Baden-Baden der kluge Ben¬
jamin Constant den Gang dieser Dinge vorausgesagt, und wie bis¬
her noch Alles so ziemlich nach seiner Verkündigung eingetroffen, der
letzte Entscheidungskampf aber noch bevorstehe. Jemand sagte, der
Fürst von Polignac werde dreist genug sein, denn er sei kurzsichtig
und übermüthig, und solche Leute brauche man zu Staatsstreichen.
Cordova bemerkte dagegen mit höhnischem Lächeln, die Franzosen
verstünden Revolutionen zu machen, aber nicht, sie zu beendigen, darin
könnten sie von den spanischen Nachbarn etwas lernen! — Aber ist
denn die spanische Revolution schon beendigt? — fiel der alte Reden
lebhaft ein, — mit blutigem Gemetzel ist es in solchen Fällen nicht
abgethan, sondern mit weiser Lenkung, und Spanien hat den guten
Rath der andern Mächte leider stets verschmäht! Graf Münster schrieb
mir neulich noch, ja er schrieb, daß das englische Ministerium vor Kurzem
aufs Neue..., das Weitere vernahm nur der Nächststehende, und Cor¬
dova hatte sich bereits entfernt. Nun wunderte man sich, was Alles man
ihm habe sagen dürfen; aber es hieß, ihm sei gar Nichts an politischen
Grundsätzen gelegen, er werde jeder Negierung seines Landes dienen,
die seinen Ehrgeiz nähre, und hier, in dieser Entfernung von Hause
halte er es nicht der Mühe werth, seine Gleichgiltigkeit zu verbergen.
Frau von Varnhagen rechnete es ihm zu Ehren an, daß er nicht
mehr als nöthig heuchle, daran erkenne man noch den letzten Rest
des Guten im Menschen, daß er des Schlechten nicht mehr thue,
als es sein Zweck unumgänglich erfordere: die völligen Schufte, die
aber immer auch die Pfuscher seien, thäten Alles gleich im Uebermaße,
in der Meinung, dann am sichersten zu gehen, doch daraus erfolge
ihnen gewöhnlich erst recht das Unheil. Schade, — rief der preußi¬
sche General, — daß Sie nicht fechten und Schach spielen; den leis¬
tenden Grundsatz für Beides haben Sie! —
Mehrere Personen hatten sich schon verzogen, als noch spät
Alerander von H. . . eintrat, und durch ihn die Gesellschaft neues
Leben empfing. Er kam aus dem Hofkreise, hatte dort „den In¬
famen", wie er scherzweise den jungen Herrn von Rothschild nannte,
gesehen und wichtige Neuigkeiten von Paris vernommen. Der Fürst
von Polignac setzte den Kampf gegen die Mehrheit der Deputaten-
kammer eigensinnig fort, und der Widerstand in der Nation wuchs
gefahrdrohend an. Es kam die Rede darauf, wiefern das katholische
Pfaffenbemühen in Frankreich wohl mit dein protestantischen in Deutsch¬
land eine Verbindung eingehen könne oder vielleicht schon habe? —
Keine Verbindung, wurde erwiedert, als nur die in der Gunst der
Jahreszeit liegt; mannichfaches Ungeziefer wird von demselben Son-
nenschein geweckt, das sich aber unter einander anfeindet und auf-
frißt; übrigens vergleiche man nur nicht unser armes, vereinzeltes,
mel)r widerwärtiges als gefährliches Frönunlerwesen mit dem furcht¬
baren, allverzweigten, nachhaltigen Vordringen römischer Hierarchie!
Jenes hat gar keinen eigenen Boden; indem es anwächst, fällt es aus
einander und wird höchstens dadurch etwas, daß es zu dem alten
Stamm hinübergeht, wozu alles protestantische Frömmeln von je¬
her Neigung hat, — zum Katholischen. Herr von Varnhagen
stimmte der letzten Meinung bei, nicht aber der ersteren ; er hielt die
römische Hierarchie nicht für gefährlich, oder höchstens in protestan¬
tischen Ländern, in katholischen sei ihre Macht gebrochen, und in
Frankreich selbst, wo sie jetzt am mächtigsten scheine, habe sie blos
den Hof, aber nicht Staat noch Volk für sich. -- Man wandte das
Umsichgreifen der Jesuiten ein, die nicht blos in Frankreich, sondern
in den Niederlanden, in der Schweiz, in Oesterreich und sogar in
England geheim und offen stets mehr Boden gewännen; aber dem
wurde entgegengesetzt, daß die Jesuiten selbst nicht mehr das seien,
noch werden könnten, was sie einst gewesen; diese Behauptung
wurde durch ein Wort erhärtet, das ein alter Erjcsuit in Rom gegen
Wesfenberg geäußert ; dieser nämlich hatte gefragt, ob eS ihn denn nicht
freue, die Erneuerung des Ordens erlebt zu haben, und ob er nicht
dadurch zu frischer Thätigkeit ermuntert worden? Da sei der Gneis,
hieß es, wie verjüngt aufgefahren und habe feurig ausgerufen: Blut
und Leben für unsern alten Orden! Aber für dieses alberne Nach-
gebild keinen Pfifferling! — Min erzählte darauf mancherlei Scherz¬
haftes, um die Unschuld des hiesigen Pietismus zu bezeichnen; als
ganz kürzlich vorgefallen, wurde folgendes Geschichtchen verbürgt: In
der Familie eines angesehenen Frommen wollte man alles Lügen,
auch das blos formelle und eigentlich nichtssagende, auf das strengste
abschaffen, und hatte zu diesem Zweck auch die Kinder und besonders
die Dienerschaft genau verständigt; eines Abends sitzt man beim
Thee und spricht erbaulich oder schweigt auch, da wird ein störender
Besuch angemeldet, doppelt störend, weil er als ein weltlichgesinnter
bekannt ist, und die Dame des Hauses entschließt sich kurz und flü¬
stert dem Bedienten zu: Sag' Er, wir seien nicht zu Hause! Der
kluge Diener aber, schon gut eingelernt, versetzt demüthig: Verzeihen
Ew. Gnaden, da würde ich ja lügen! Die Dame, betroffen und
ihres Mißgriffs eingeständig, faßt sich und sagt mit sanftem Tone:
Nun, so sag' Er, es würde uns recht angenehm sein! — Damit geht
der Bediente ab, ist aber kaum hinaus, so sagt ein kleiner Knabe
ganz unschuldig: Aber Mutter, Du lügst ja wieder! — In solche
Klemme, sagte der Erzähler, geräth man, wenn man das Aeußerliche
zur Herrschaft erhebt und Wesen und Gehalt ihm unterordnet. —
H..., der die Gabe besitzt, den tiefsten Ernst in ein anmuthiges
Gewand zu kleiden und bald als beißende Anekdote, bald als wissen¬
schaftliche Erkenntniß, bald auch als erheiternden Witz vorzutragen,
war unerschöpflich in Angaben der mannichfachsten Art, aus denen
der Gegenstand in immer neuem Lichte sich abspiegelte; die verschie¬
denen Gattungen der Frömmigkeit, welche er in allen Sphären seiner
umfassenden Weltkunde beobachtet, bei Anglicanem, Quäkern und
Methodisten, in Paris unter Napoleons Concordat und am Hofe
Karl's X., bei spanischen Katholiken, unter Wilden am Orinoko und
am Mississippi, alle classificirte er, wie ein Botaniker seine Pflanzen,
nach bestimmten charakteristischen Zeichen und begehrte die des Ber¬
liner Frömmclns näher zu erfragen, um darnach Geschlecht und Ord¬
nung sicher auszufinden; aber am Ende schien er alle Sorten nur
für Spielarten, künstliche und verderbte, einer unscheinbaren Pflanze
zu halten, die in ihrer echten ursprünglichen Art nur an einsamen,
stillen Orten zu finden sei! —
Die Gesellschaft minderte sich; nach einer Weile sah ich auch
Herrn von H... nicht mehr, der doch sonst aller Orten fast immer
einer der Letzten wegging; um so lebhafter aber wurde nun sein
Ruhm verkündet; Frau von Varnhagen stellte seine edlen Eigen--
schaften, die man um seiner glänzenden willen zu oft übersehe, in das
hellste Licht; sie verbot geradezu, bei bedeutenden Menschen sich an
ihre Schwächen oder persönlichen Kleinigkeiten zu halten, die man
jedem Andern zu verzeihen bereit sei, nur grade einem großen Manne
nicht, dem doch allein sie zu verzeihen wären. —
Wir waren noch ungefähr sechs oder sieben Personen, und das
Gespräch zog sich mehr zusammen, indem es zugleich lebhafter und
traulicher wurde. Gans warf sich mehr und mehr als Beherrscher
desselben auf, aber auch Frau von Varnhagen ließ ihren Antheil nicht
vermissen. Ich betrachtete mit Wohlgefallen ihre Art einzuwirken und
zu beleben; erkannte darin ein wahrhaftes Talent und fragte mich im
Stillen, auf welche Gaben und Kräfte der Seele wohl vorzugs¬
weise dieses Talent sich gründe? Der Geist war es nicht allein, die
Güte allein auch nicht, sogar die Vereinigung von beiden schien nicht
gerade diese besondern, eigenthümlichen Wirkungen hervorbringen zu
müssen. Einigen Aufschluß gab mir die Wahrnehmung, die sich mir
plötzlich darbot; ich glaubte nämlich zu entdecken, daß ein großer Theil
der geselligen Stärke dieser Frau darin liege, daß die Menschen,
welche sie sah, ihr nicht wesenlose Schatten waren, sondern daß jeder,
wenigstens für den Augenblick, ihr ein wirkliches Interesse darbot,
und nicht nur ein allgemein menschliches, sondern auch ein individuel¬
les, was freilich nur durch Einsicht und Eingehen in das Wesen
jedes Einzelnen möglich war. Eine eben so gütige als blitzschnelle
Menschenkenntniß gab ihr die Leichtigkeit, an jedem Menschen auf
der Stelle seine vortheilhafte Seite zu finden, die sie dann zum Lichte
hervorzuwendcn und zu beleben wußte, wodurch die unvortheilhaften
Seiten von selbst im Schatten blieben. Sie hatte auf diese Weise
mit jedem einzelnen eine persönliche Beziehung, stand mit ihm auf
irgend einem Punkt in echtem Verhältniß, das natürlich in den man-
nichfachsten Richtungen und Graden sich schied und abstufte. Hier
war also ein wirkliches Zusammensein, keine blos hergebrachte leer«
Form, und das Wesentliche ist immer fruchtbar. Mit ihrem Willen
war es nie, daß irgend Jemand, sei es Mann oder Frau, sich als
leere GesellschaftSdccoration, als leblose Salonkaryatide hielt; dagegen
ich in anderen Kreisen oft gesehen, daß, weil die Leute mit ihren
Wirthen eigentlich durch Nichts zusammenhingen, Nichts mit ihnen
gemein hatten, sogar die sonst bedeutendsten Menschen nutzlos gleich
den geringsten zu bloßer Zimmerfüllung dienten.
Gans konnte nicht lange reden, ohne wieder in die Politik zu
gerathen, und die Sachen in Frankreich standen allerdings in so
wichtiger Krisis, daß Jedermann die Spannung theilte, wie der Zu¬
schauer eines Dramas, das seiner Katastrophe entgegeneile. Man
erörterte die Hoffnungen des Hofes, das Begehren der Nation und
wog die Kräfte beider gegen einander ab. Gans besprach mit Heller
Sachkenntniß die Stellung der französischen Kammern, der Gerichts¬
höfe, der Minister und der Verwaltungsbehörden; er hoffte das Beste
von den Gerichten und meinte, der Hof werde bei deren Widerstande
nicht weiter gehen. Aber dieser Ansicht stellten sich andre entgegen.
Selbst Benjamin Konstant, der bei allen diesen Dingen so nahe be¬
theiligt war, hatte im letzten Sommer gegen Frau von Varnhagen
das offene Bekenntniß abgelegt, er werde für die gesetzliche Freiheit
kämpfen bis zum letzten Hauche, ob er und seine Freunde aber siegen
würden, das sei mehr als zweifelhaft, der König wolle ihre Köpfe und
vielleicht werde er sie bekommen. Diese Aeußerung machte auf Gans
nicht geringen Eindruck; er schien auch Köpfe zu wollen. —
Hiemit im Gegensatz, nach einer kurzen nachdenklichen Pause,
die der Ernst der Sache in uns Allen bewirkte, sagte Frau von
Varnhagen mit der ausgemachten Gewißheit, die keiner höheren Be¬
tonung bedarf: Ich werd' es nicht erleben, aber, gebt Acht, die
Bourbons bleiben nicht! — Das mein' ich ebenfalls, rief Gans, und
die Geschichte hat den Gang der Dinge schon ganz vorgezeichnet, es
wird in Frankreich gehen, wie vordem in England; man wird den
faul>en Theil der Dynastie wegwerfen und den gesunden bewah¬
ren, Orleans wird auf den Thron kommen. — Aber Frau v. Varn-
Hagen schüttelte den Kopf und sagte: Das wird wenig helfen. Auch
der Theil, den Sie den gefunden nennen, ist den Franzosen schon
ein angefaulter. Auch Orleans kann nicht bleiben. Allen Franzosen
— lehrt sie mich nicht kennen! — liegt die Republik in den Glie¬
dern, und Republik werden sie werden. Ob ihnen zum Heil oder
Unheil, das ist hier gleich; ich halte auch die Konstitutionen, nach
denen Alles verlangt und strebt, in ihrem Erfolge für gar nicht so
gewiß: sie können vielleicht das größte Unheil sein, aber das hindert
nicht, daß wir hinein und hindurch müssen, es ist kein ande¬
rer Weg in die Zukunft. Wie für uns Constitution, ist für die
Franzosen, die ja immer voraus sind — mein Vorvolk, wie ich sie
„nun, — Republik unvermeidlich. Der frühere Versuch war zu
kurz, um durch sein Mißlingen etwas zu entscheide-,, aber stark ge¬
nug, um zu immer neuen Versuchen anzureizen, bis einer gelingt.
Und es kann gelingen ; denn je mehr ich mir die Franzosen ansehe,
desto mehr drängt sich mir die Ueberzeugung auf, daß sie vor allen
anderen Nationen zur Republik geeignet sind, in jedem von ihnen
steckt etwas von Selbstherrlichkeit, jeder unterwirft sich am liebsten el^
nem Abstractum, und wo das Ansetzn der Person nicht mehr gilt,
ist man der Republik ganz nahe.— Indem sie dies sagte, mußt' ich
über den Ausdruck erstaunen, den ihr Gesicht angenommen hatte;
die kleine, bisher so mild und bescheiden einwirkende Frau war ernst,
grundernst geworden; ihr Blick — noch sanft und beinahe der ge<
wohnliche — hatte etwas eigenthümlich Festes, ihre Züge sprachen
Entscheidung und Entschlossenheit, ein fast herrscherlicher Trotz bezeugte
den tiefsten Glauben an das, was sie sagte.
— Sie glauben also nicht, daß Orleans regieren wird? fragte
nach einer Weile Gans mit erhöhtem Eifer. — Regieren? —
versetzte Frau von Barnhagen — warum nicht? Wer kann alle
Zwischenscenen berechnen! Aber die großen Ereignisse von auf-
haltender geschichtlicher Gestalt gehen darüber hinweg und
machen daraus den Staub ihres Weges.
Das letztere Bild hatte etwas schauerlich Großes und war ganz
in der Eigenthümlichkeit der Sprecherin. Auch erregte ihr Ausspruch
eine besondere Spannung; aber die Prophezeihung klang doch etwas
abenteuerlich und wir glaubten ihr keineswegs. Noch saßen die
Bourbons in aller Macht auf dem Thron, noch war Orleans nur
der demüthige Agent, und hier wurde nicht nur der Fall von jenen,
sondern auch schon von diesem, der noch erst erhöht werden mußte,
frischweg verkündigt. Jedoch wenige Monate später war der erste
Theil der fabelhaften Weissagung bereits erfüllt, und in den seitheri¬
gen Ereignissen ist Nichts, was der Möglichkeit widerspräche, daß
auch der zweite Theil in Erfüllung gehen könnte! —
Der Gang deö Gesprächs und unserer Betrachtungen wurde
unterbrochen durch die Anmeldung, der Fürst von Pückler komme.
Die späte Zeit — es war nah an Mitternacht — war für ihn
eitle gewöhnliche und es schien nichts Auffallendes, daß er zu solcher
Stunde käme; wohl aber wunderte sich Frau >on Varnhagen, daß
der Fürst in Berlin sei, da er eben erst aus Muskau geschrieben
habe. Als wir mit einiger Spannung seinem Eintritt entgegensahen,
öffnete sich die Thüre nur ein wenig und ein artiger Kopf bog sich
durch die Spalte schalkhaft hervor, gleichsam das Terrain prüfend;
es war Bettina von A..., der sogleich Frau von Varnhagen mit
lebhaftem Willkommen entgegenstürzte und die halb Widerstrebende
an der Hand hereinführte. — Gelt, ich hab' Euch erschreckt? sagte
Frau von A..., aber ich wollte nur sehen, was Ihr für Gesichter
macht, wenn Ihr denkt, der Fürst Pückler kommt; und ich glaube
doch fast, er wäre Euch lieber gewesen, als ich. Alle Einrede ab-
lehnend, fuhr sie fort und bewies, man habe Recht, alles Mögliche
auf den Fürsten zu halten, er sei in unsern Tagen der wahre Ge¬
niale und es käme mir auf die Gelegenheit an, daß er vor aller
Welt groß dastände. Sie richtete darauf an Gans eine merkwürdige
Anrede, sie wisse wohl, daß er in das Lob des Fürsten nicht so vol,
lig einstimme, allein er thue Unrecht darin, er selber sei ja auch ein
ausgezeichneter Geist, und alle solche müßten einander bereitwillig
anerkennen und stützen, wie die Könige auch untereinander thäten,
wenn sie auch sonst nicht immer die besten Freunde wären; er solle
nur Nicht werden wie andere .Rechtsgelehrte, die vor Stolz und
Würde ganz blind und taub würden und gar Nichts mehr in der
Welt kennten, als sich selbst und ihre todte Gelehrsamkeit; er solle
frischen Geistes bleiben und dazu müsse man auch den Fürsten Pückler
lieben. — Von Gans ging Frau von A... zu dem General über,
von diesem zu Herrn von Varnhagen und sagte jedem etwas Lau¬
niges, spöttisch Belehrendes, aus dem hin und wieder auch etwas
Spitziges hervorstach. Aber vergebens wollte man ihr antworten;
die beredtesten Männer verstummten vor diesem glänzenden Bilder-
ström, auf welchem Witz und Gedanke muthig dahinschifften; kaum
daß Frau von Varnhagen, mittelst der ihr eigenen Naschheit und
Kürze, noch wohl einen Spruch einschob, aller sonstigen Nedefäden
hatte sich die wunderbare Zauberfrau bemächtigt und hielt sie gleich
Zügeln in den Händen, bald rechts- bald linkshin lenkend, bald
gradaus ihre beschwingten Gedankenbilder zu vollem Lauf auslassend.
In der That, Niemand sprach jetzt noch, als nur sie; aber so schön,
so reich, so bezaubernd, daß wir Alle hingerissen und nur noch mehr
zu hören begierig waren. Diese Phantasien, Ideen, Einfälle, Witz¬
worte, Launen, Alles beflügelt in raschem Wechsel vorübereilend und
doch zu Einem großen Sinn und Zwecke sich sammelnd, sann ich nur
der wunderbaren Musik ihres Lieblings Beethoven vergleichen und
mir war wirklich zu Muthe, als vernähme ich eine von seinen herr¬
lichsten Symphonien. Von dergleichen Vezauberungömacht des be<
sackten Wortes hatte ich vorher keinen Begriff gehabt. Frau v. A...
schien ihre Leute zu kennen und zu wissen, daß sie hier ihre besten
Gaben nicht zurückzuhalten brauche, daß diese hier gut aufgenommen
und Nicht verschwendet seien. Vergebens aber würde ich unterneh¬
men, hier den reizenden Flug ihrer Laune und Seltsamkeiten nachzuer-
zähle», oder die Tiefe und Anmuth ihres schöpferischen Geistes zu
schildern; dazu bedürfte ich ihrer eigenen Feder und würde auch dann
nur ein schwaches Abbild der Genialität wiedergeben, welche voll
staubig darzustellen nur ihre persönliche Gegenwart vermag.
Genug, dies war das Bouquet des reichbelebten Abends, den
ich bei Frau von Varnhagen zubrachte, und mir ist nach diesem
Schlüsse Nichts weiter mehr erinnerlich, als daß wir uns spät ge¬
trennt und ich unter der Gewalt dieser letzten Eindrücke mich fröhliche
müde dem süßen Schlaf und den bilderhellcn Träumen überließ, die
wie ein Sternenhimmel sich immer gedrängter und glänzender über
mir ausbreiteten.
Ich sah Frau von Varnhagen noch öfters wieder, auch in an¬
dern Häusern, bei Reden's, bei Frau von Helvig, bei der Fürstin
von Hatzfeldt, und immer und überall war sie dieselbe heitre, er¬
freuende Erscheinung, belebt und belebend, aufrichtig, klar, freundlich,
immer und überall übte sie ihr angeborenes Talent des edelste»
Menschenumgangs, nicht vordringend, aber auch nie zurückgezogen,
sondern recht eigentlich gegenwärtig, mit gutem Willen und reger
Seele. Doch hatte sie bei sich zu Hause noch den Borzug, daß die
unbestrittene Verpflichtung der Fürsorge für alle Anwesenden ihren
wohlthuende», Eifer nur erhöhte und ihn auch in unscheinbaren Din-
gen wirksam eintreten ließ ; dagegen sie auf fremdem Boden sich mehr
enthielt, so lange nicht ein auffallender Anlaß ihr reizbares Gefühl
zum Besten des Ganzen oder Einzelner in lebhaftere Thätigkeit setzte.
Dann konnte auch sie mit aller Geistesmacht hervortreten und mit
schöner Leidenschaft und rücksichtslosem Muthe das Unrecht bekämpfe»,
die Vcrk»drehen berichtigen und anmaßlichen Unsinn durch das volle
Licht der Wahrheit in seine Nichtigkeit auflösen. — So war sie denn
freilich noch etwas mehr, als eine vortreffliche Dienerin der Ge¬
selligkeit, wozu meistens eine gebildete, feine, wohlmeinende Nega-
tivität ausreicht: sie war zugleich eine Meisterin der Gesell¬
schaft, welche derselben das Gute mit muthiger Entschlossenheit ge-
waltsam aufzuerlegen, ihr das Schlechte schonungslos abzustreifen nie
niüde wurde. —
Rußland scheint bemüht, den Marquis de Custine, den man li¬
terarisch nicht gut widerlegen kann, durch praktische Beweise lind durch
täglich sich wiederholende Beispiele -ni »I,«»,dum zu führen. — E6 ist
wahr, der den Nüssen eigenthümliche Pechgeruch rückt uns immer
näher; eben darum ist es aber hohe Zeit, zu beweisen, daß es eigent¬
lich kein Pech- sondern ein Ambra- und Wohlgeruch sei. Wozu gäbe
es sonst Objectivetät und Gründlichkeit in Deutschland? Custine
hat nicht übertrieben, aber er hat die Thatsachen falsch aufgefaßt.
Wir wollen an einigen neuern russischen Vorfällen, die wir den jüng-
sten Zeitungen entlehnen, dies nachweisen. Diese Vorfälle scheinen
crasser, als Alles, was Custine erzählt, doch braucht man sie nur
recht objectiv inS Auge zu fassen, und sie werfen ein ganz anderes,
ein verklärendes Licht auf das morgenländische Kaiserthum.
In der Petersburger Militärschule, wo die Kinder von Offizieren
und Adeligen großmüthiger Weise auf Kosten des Kaisers erzogen
werden, erfrechten sich die undankbaren Schüler, ihren Professor zu
verhöhnen. Warum? ist unbekannt, aber jedenfalls gleichgiltig. Der
Professor, der den Generalsrang hat, beklagt sich darüber höhern
Orts. Der Kaiser, empört über dies Jnsubordinationsverbrechen,
welches ein um so Schrecklicheres Symptom ist, weil von unreifen
Knaben begangen, verfügt sich selbst in die Anstalt und bedroht die
ganze aufrührerische Classe mit exemplarischer Bestrafung. Ein Cu¬
stine würde vielleicht schon dies kleinlich schelten und bespötteln, wäh¬
rend es doch wohlthuend zu sehen ist, wie der Selbstherrscher von
sechszig Millionen Seelen sich gleich einem Hausvater um die
gute Zucht der künftigen Staatsbürger kümmert und sein schweres
Weltzepter in Nebenstunden als Schulruthe gebraucht. Die Jugend
erstarrt bei dem Anblick des weißen Czaren, fünf Schüler treten frei-
willig hervor und geben sich alö die allein Schuldigen an, um die
Strafe von den Uebrigen abzuwenden. Wer weist, ob sie nicht gar
den Kaiser belogen und so ein neues Verbrechen begangen haben;
denn der Mensch ist böse von Natur und die Jugend zur Lüge und
Frechheit geneigt, während das reifere Alter durch heilsame Knuten-
hiebe schon mehr von den ursprünglichen Schlacken gereinigt ist.
Nicolaus durchschaut diese Komödie der Großmuth und läßt
seinen Sinn für Gerechtigkeit nicht beirren, sondern verurtheilt jeden
der fünf Rädelsführer zu fünfzig Stockstreichen und zum Dienst als
gemeiner Soldat im Kaukasus. In welchem andern Lande wird
das verletzte Ansehen des Priesters der Wissenschaft so nachdrücklich
gerächt? Welcher Professor sehnte sich nicht, wenn er dies hört, nach
einem russischen Lehrstuhl? Ein Custine, bei seiner koketten Empfind¬
samkeit würde das Urtheil hart nennen. Allein man bringe in An¬
schlag, daß kein Herz dabei mehr gelitten haben kann, als das des
Kaisers; denn, der Czar wird von den Russen als ihr Vater ange¬
sehen, sie schließen ihn in ihre Gebete ein und er selbst redet die
Soldaten „Meine Kinder!" an. Den ältern Brutus preist man,
hier aber will man das Opfer nicht anerkennen, das ein noch grö¬
ßerer Vater dem Staatswohl und der Gerechtigkeit bringt. Außer¬
dem zeigt dieser Fall von einer seltenen Gleichheit vor dem Gesetze:
denn die Schuldigen waren von Adel und wurden geprügelt wie
Leibeigene. Doch — unsere Schreier wollen den wahren Liberalis¬
mus niemals da sehen, wo er wirklich ist.
Ebenfalls in Petersburg hatten sich zehn leibeigene Dienstboten
an ihrem Herrn, einem reichen Edelmann, thätlich vergriffen. Wohl¬
gemerkt, Leibeigene! Diese hängen mit ihrer Herrschaft inniger
zusammen, als die Miethlinge in jenen Ländern, wo die Bande der
Sittlichkeit und Treue längst aufgelöst sind und das Geld allein re¬
giert. Der russische Leibeigene genießt mehr materielles Glück, als
der englische Fabrikarbeiter, da sein Besitzer schon im eigenen Interesse
ihn nicht verhungern lassen wird — es sei denn zur Strafe —in
geistiger Hinsicht aber führt er ein so paradiesisches Leben, daß man¬
cher Freiheitsheld ihn darum aufrichtig beneiden dürfte. Alle Verant¬
wortlichkeit, alle Sorge, alle Sehnsucht und Arbeit des Geistes ist
von ihm genommen; er hat sich nicht zu kümmern, was er werden
soll. Der Herr bestimmt ihn zum Handwerker, zum Kutscher, zum
Musiker und er wird eS in unglaublich kurzer Frist, ohne innere
Mühe, blos durch körperliche Bearbeitung: ein russischer Leib
eigener hat noch nie seinen Beruf verfehlt. Ebenso wenig kennt er die
Qualen der Liebe; sein Herr ist zart genug und wählt für ihn; er
befiehlt ihm zu heirathen und er heirathet. Er befiehlt ihm, sein
Weib zu verlassen, hundert Meilen weit zu gehen und dort Geld zu
verdienen? er thut eS und wird reich, denn ein Segen ruht auf Al¬
lem, was sein Herr befiehlt. Allein er kennt nicht die Sorgen des
Reichthums, nicht die häßliche Leidenschaft des Geizes, da er weiß,
daß der Reichthum nicht ihm gehört. Der Herr befiehlt ihm, nach
Hause zu gehen, ein Kind zu erzeugen und wiederzukommen: er thut
eS, er kennt weder die Pein der Eifersucht, noch die Lasten des Fa¬
milienvaters oder die Bürde der Kindererziehung; alle diese Pflichten
erfüllt sein Herr für ihn. Ja sogar die Pflicht der Selbsterhaltung
und die Furcht vor irdischen Gefahren kann ihm nie das Dasein
verbittern, denn sein Leben geht ihn Nichts an, sein Herr hat dar¬
über zu wachen. So genießt er eines doppelten Glückes; erstens
kann er sich sorglos wie ein Kind seinen Träumen überlassen und
ist also im Besitze der wahren Freiheit, zweitens wird er unwill¬
kürlich ein vollkommener Christ, von Jugend auf werden alle
Leidenschaften in seinem Herzen ausgerottet, und da sein Herr alle
Verantwortlichkeit für ihn auf sich nimmt, so bleibt seine Seele sünden¬
rein und kommt unfehlbar in den Himmel. Mit Recht heißt es da¬
her: Graf Soundso hat zehntausend Seelen auf seinen Gütern; denn
es sind keine sündigen Menschen, diese Leibeigenen, da sie schon hie-
nieden den Leib weggegeben haben; eS sind pure Seelen, die am
jüngsten Tage gewiß nicht unter den Böcken, sondern zur Rechten
des Heilandes unter den unschuldigen Schafen stehen werden.
Müssen eS nicht wahre Ungeheuer, oder von ausländischer Teu¬
felei verführte Seelen sein, welche dieses süße Joch der Geistesfrei-
heit abschütteln und dafür die zügellose Knechtschaft des bürgerlichen
Lebens auf sich nehmen wollen? Die sich durchaus loskaufen d. h.
durch schnödes Geld die gemüthlichen Bande zerreißen wollen, mit denen
sie an ihren Herrn, Ernährer und Bater geknüpft sind? Und die, weil
ihr Herr sie nicht verstoßen will, sich an ihm vergreifen? — Die Schul
tigem wurden verhaftet und standrechtlich gerichtet. Hier beachte nur
den Unterschied zwischen Rußland und andern Ländern. Der inssi-
sche Leibeigene steht gesetzlich auf derselben Stufe, w,e ver Neger-
sclave in Nordamerika, in den französischen und ftüher in den eng¬
lischen Colomen. Allein die Sanftmuth und die Weichheit des russi¬
schen Charakters ist groß. In Rußland gibt es keine Todesstrafe,
selbst für den Leibeigenen nicht-,— er wird blos geprügelt; wenn er es
nicht aushalten kann, so ist das seine Schuld, so ist das ein Unglück,
aber keine Grausamkeit. So mußten auch die zehn Leibeigenen blos
durch fünfhundert Mann Spießruthen laufen; einige waren zu ver¬
weichlicht, um die Züchtigung zu überleben, andere fielen sogar hin,
ehe sie die verordinirte Anzahl Hiebe erhalten hatten. Sie wurden
aber nicht aufgegeben, sondern wohlmeinend in ein Spital gebracht,
wo man ihre Wunden so weit heilen wird, daß sie den Rest der
vorgeschriebenen Prügelmedizin einnehmen können. Sterben sie, dann
ist dies ein Zeichen des Himmels, daß sie ihre Schuld abgebüßt
haben; wo nicht, wird man sie zur vollkommenen Heilung in den
sibirischen Bergwerken beschäftigen. Und mit unbedingter Oeffentlich-
keit, in Anwesenheit aller Leibeigenen von Petersburg, auf einem
Militärparadeplatzc wurde das Urtheil vollzogen; mit einer so ver-
nünftigen Justiz darf jeder Staat Parade machen. —
Ich frage aber: beurtheilt Custine, beurtheilt die deutsche Jour¬
nalistik so unbefangen die russischen Zustände? Ist man so billig, sich
auf den Standpunkt dessen zu stellen, den man kritisirt, sich in seine
Lage und Anschauungsweise hineinzudenken, ganz Russe zu sein in
russischen Angelegenheiten? Leider nicht. Wir haben feit einiger
Zeit die gerühmte deutsche Objectivetät schmählich verläugnet. Ueberall
nimmt man die Partei der „hirnlosen Polen," wie sie der Russe
treffend nennt, überall räsonnirt man über die schrecklichen Maßregeln,
welche die russische Regierung gegen die polnische Nationalität er¬
greift. Niemanden aber sällt der Gedanke ein, welch ein wahnsinni¬
ges Volk dies sein muß, das sich lieber lebendig schinden läßt, als
es nachgibt; gegen das man so grausenhafte Mittel anwenden muß,
um es zur Selbstverläugnung zu bringen und zu vernichten. Doch
ich will nicht an das Princip der Gerechtigkeit, nur an das der Klug¬
heit appelliren. Wäre es etwa ein Glück, wenn der polnische Reichs¬
tag noch jetzt im neunzehnten Jahrhundert fort deltrirte? Glaubt
man, die deutschen Kammern würden nicht auch von dem revolutio¬
nären Typhus, von der Cholera der Anarchie ergriffen werden, wie
es beinahe Anno 1831 geschehen wäre? Wär' eS nicht möglich, daß
Polen wieder einen unserer Fürsten auf seinen gleißenden Thron ver¬
lockte? Und wenn z. B. der Herrscher Preußens, Oesterreichs oder
Sachsens die dornenvolle Königskrone Polens tragen müßte, wie wollte
er dabei die Regierungöpflichten im eigenen Lande erfüllen? — Die
Journalistik, dieser blinde Maulwurf, wühlt ebenso ungeduldig und,
glücklicherweise, ohnmächtig im Boden des Vaterlandes, so oft eine
russische Prinzessin ein deutsches Fürstenkind heimführt. Man denkt
nur an die Ansprüche, die Nußland einst bei uns geltend machen
dürste. Als ob dem Weltherrscher daran liegen könnte, einen Brocken
Dänemark oder ein ärmliches Stück Hessen zu erwerben. Man
vergißt, daß der Czar dadurch auch Pflichten auf sich nimmt; denn
man kann erwarten, daß er als unparteiischer, weil ganz unbe-
theiligter Schiedsrichter, unsere kleinlichen Uneinigkeiten schlichten,
daß er jedes Land, und sei es noch so klein, gegen ausländischen
Einfluß oder Angriff in Schutz nehmen werde. Die russische Ge¬
schichte ist uns eine Bürgschaft dafür; der Czar hat selbst die rohe
Walachei, das unbedeutende Serbien, das undankbare Polen, die un¬
gelehrige Türkei und das junge Griechenland nie im Stich gelassen.
Die deutschen Völker aber mit dem tiefen Gemüth und dem friedli¬
chen Sinn erregen seine besondere Theilnahme; er ist zärtlich besorgt
um sie, wie um die Zukunft eines Kindes, das zu gut ist für diese
schlechte Welt. Und Deutschland ist wirklich zu harmlos ehrlich, um
allein der wälschen Perfidie und dem englischen Egoismus zu trotzen;
es bedarf eines so klugen und mächtigen Urwalds; es ist ein Glück,
wenn Deutschland, die idealische Zauberinsel unter den Ländern, mit
so vielen Ketten als möglich an den festländischen Koloß sich fest¬
klammert, um nicht von den Sturmwogen der Weltgeschichte hinweg¬
gerissen und verschleudert zu werden. Wollte Gott, man machte eS
jedem deutschen Fürsten zur Pflicht, durch eine verwandtschaftliche
Allianz mit den Romanows seinem Lande den Frieden zu sichern.
Denn wenn wir einmal Rußland angehören und diesem die ganze
Welt gehorcht, so sind wir ja gegen die ganze Welt geschützt. Dann
würde der deutsche Bund nicht nöthig haben, Festungen zu bauen
und stehende Heere zu erhalten; der Ueberschuß an Geld- und Men¬
schenkräften könnte auf Wissenschaft und Kunst verwendet werden;
wir brauchten uns auch nicht so viel mit Politik zu beschäftigen; die
Mißgeburten der negativen Poesie und der atheistischen Theologie
würden von selbst verschwinden, unsere Literatur, unsere Philosophie,
unsere Philologie würde dann zur vollkommenen Reinheit gelangen.
Jeder Deutsche würde ein Gelehrter, und zum tiefsinnigen Weltverbessern
hätten wir alle die gehörige Ruhe und Muße. Die Freiheit des deutschen
Geistes wird dabei nicht leiden. Die Romanows sind ja selbst deutschen
Geblüts und haben das große Slavenreich nur uns zu Ehren gestiftet;
wie die Heroen einst zur Bekämpfung von fabelhaften Ungeheuern,
so zogen sie zur Civilisirung der barbarischen Slavenstämme aus.
Noch jetzt thun sie dies mit unseren Waffen; die wesentlich deutschen,
altheiliger Errungenschaften, das, „was uns bleibt, wenn Alles schwin¬
det", Censur, Geheimpolizei u. s. w. sind von uns entlehnt; die besten
Censoren in Warschau, die intelligentesten Polizeiagenten und Diplo¬
maten in Rußland sind Deutsche. Wir werden dann erst recht zur
Weltherrschaft kommen. Die Slaven sind bekanntlich bloßer Erdstoss,
weich, bildsam, anschmiegend; sie werden sich an uns erwärmen und
durchgeistigen, also unbewußt verdeutschen. Sie werden uns alle
niedere materielle Arbeit abnehmen, zu der wir ohnedies nicht taugen,
damit der deutsche Geist sich freier und idealischer entwickele. Man
wird nicht sagen können, ob Nußland, ob Deutschland herrsche; auf
den Namen kommt es ja nicht an. Rußland wird uns hüten als die
ewige Flamme, die den Erdkreis erleuchtet; und wie jetzt Einzelne als
Hofmeister nach Petersburg kommen, so wird Deutschland als Imso»
mator des Menschengeschlechts in russische Dienste treten; Nußland wird
unsere Ideen ausführen, es wird unser Harnisch und Schwert, unser
Bakel und Korporalstock sein. Wenn es erst festen Fuß an der Nordsee
gefaßt hat, wird es gewiß den Traum von der deutschen Flotte ver¬
wirklichen. Seine Geschwader werden den Erdball umkreisen und
von fernen Küsten uns seltene Conchilien, Mammuths, alte Hand¬
schriften, Antiquitäten aller Art heimbringen; das Cotta'sche „Aus-
land" wird wöchentlich dreimal so viel Tert enthalten, unsere Mu¬
seen und Naturaliencabinette werden sich füllen. Rußland wird uns
Asien aufschließen, unsere Gelehrten werden in Sibirien botanisiren
und auf dem Kaukasus — halt, da fällt mir ein, wie kurzsichtig
unsere Freiheitssänger sind, die sich für die Tscherkessen begeistern.
Auf dem Kaukasus wohnen eine Masse kleiner Völker, die Nichts
lernen wollen. Sie möchten nur bequem ihr freies Bergleder fort-
führen, und wenn darüber die wichtigsten wissenschaftlichen Entdeckun¬
gen ungcmacht blieben. Heißt das nicht sich dem Fortschritt der
Cultur, der Erfüllung höherer geschichtlicher Zwecke aus Eigennutz
widersetzen? Gegen diese ungezogene Völkerjugend kämpft Nußland
seit langen Jahren mit entsetzlichen Verlusten. Und für wen kämpft
es als für uns? Denn ist der Kaukasus erstürmt, dann macht Ru߬
land einen erhabenen Lehrstuhl daraus, auf dem unsere Humboldts,
Ritters u. s. w. den Völkern Asiens Mythologie, Heraldik, Numis-
mathik, Geologie und Christallographie u. s.w. vortragen können. Welch
ein Beruf! Freut sich denn Niemand über diesen hohen Standpunkt,
der unsern Hochschullehrern vorbehalten ist? Ja, dann erst wird der
arme Prometheus losgebunden werden und die utopischen Träume,
deren Erfüllung man sich vom Pariser Communismus verspricht, werden
durch Rußland in Erfüllung gehen. — Noch Eins. Rußland hat die Mis¬
ston, uns an Rom zu rächen, das erst unsere Hohenstaufen ruinirte
und dann die Spaltung Deutschlands verschuldete. Ein neues heiliges
Retchs-Kaiserthum wird entstehen, wenn Konstantinopel erobert ist,
und ein edleres, da es seine Weihe von Griechenland haben wird.
Die Römer waren am Ende doch nur Barbaren! Da wird es sich
zeigen, wozu die vielverleumdete Philologie noch gut ist. Wer ver¬
steht die Alten so richtig wie wir? Nußland mag also in Griechen¬
land und Deutschland herrschen; es wird nur die Copula sein, wel¬
che zwei Weltfactoren vermählt. Der germanisch-hellenische
Geist, von dem die beschaulichen Götheaner träumten, wird so, mit
Hilfe der Kosaken und zum Heil der Welt, eine Wahrheit werden!
Die gewöhnliche Meinung, die man in der Welt von der Wie¬
ner Kunst hat, ist die, daß Wien wohl mehrere ausgezeichnete Techniker
z. B. Ammcrling, Gaucrniann, Krichnbcr, Nanftl, Waldmüller u. s. w.,
allein keinen einzigen Künstler besitze, der durch daS von Gott ihm an
die Stirne geschriebene Wort „Genie" Respect einzujagen vermöchte,
und das ist auch so ziemlich die Wahrheit. Als den Mittelpunkt des
Kunstzustandcs einer großen Stadt darf man, wenn sonst keine zweite
Partei von einiger Bedeutung da ist, Wohl mit Recht ihre Kunst¬
schule und deren Richtung betrachten. Und das ist hier der Fall.
Der erste und vielleicht einzige Künstler (Hut ab vor dem Worte), den
Oesterreich bis jetzt auszuweisen hat, ist »och immer Heinrich Fug er.
Unter diesem tiefdenkenden, gcnievollc» und wissenschaftlich gebildeten
Manne nahm die Wiener Kunstschule vor fünfzig Jahren einen sehr
ernstlichen Anlauf. Er starb. Was ist daraus hervorgegangen? Die
neuere Wiener Genre-Malerei; eine Malerei, die wohl viele recht hüb»
sehe Bilderchen zur Welt bringt, allein die bei Leibe nicht im Stande
ist, sich das Prädicat: Kunst im höheren Sinne deS Wortes zu erobern.
Anstatt Fügcr's Geistesrichtung zu verfolgen, Meß man sich an seine
kleinen technischen Fehler und glaubte dnrch Ausbildung der schöne»
Form in Zeichnung und Farbe allein der Kunst einen Gefallen zu
thun. Die historische Makart'unse wird gegenwärtig in Wien fast
durchgängig durch Männer vertreten, die entweder aus der Wiener oder
Präger Akademie hervorgingen. Was die Schule Kabul'ö in Prag
sür die neuere historische Kunst gethan hat, kann Jedermann begreifen,
der da weiß, mit welcher Wuth dieser Mann gegen Stiles, was nicht
aus dem Evangelio stammt, eiferte. nicht viel besser geht es in
Wie» noch jetzt zu. Die Vorsteher und Professoren der Akademie
sind zu Allem auf 5er Welt mehr geeignet, als zu Vorstehern und
Professoren einer so mächtigen Anstalt. Um uns übrigens den Leser»
gegenüber vor dem Verdachte einer Verleumdung zu bewahre»,
lassen wir bei allen österreichischen Künstler», die wir hier an¬
führen, statt des Lobes oder Tadels, ihre Werke selbst sprechen;
der eine, ein sehr einflußreicher Man», malt seit mehrere» Jah-
reir Nichts als AhaSvcrnssc. El» Anderer macht lauter 49 bis W
Fuß hohe „Mariä Himmelfahrt." Um den Mangel an Neuheit, Er¬
findung, Großartigkeit, Tiefe und Poesie bei ihnen am deutlichsten
zu fühlen, muß man in Wien eine Atclicrsschau vorgcnommc» habe»,
und hierauf das Gesehene berichten und aufschreiben wollen. Wenn
man auch in den Ateliers oft wirklich sehr Viel n»d Vieles zu scheu
glaubt, und man ist aus dem Hause fort, und wird gefragt: Was hast
Du gesehn»? so weiß man Nichts zu sagen, alö: Bei habe ich
ein schönes Gesicht und schöne Hände, bei L. einige schöne Bäume,
bei einige recht lebendige Figürchen gesehen.
Als eine angenehme Neuigkeit ist zu berichten, daß der Zwang,
den die Wiener Akademie ihren Zöglingen bisher angelegt hat, morsch
zu werden anfängt, und daß die starke Natur einiger, durch die frische
freie, aus dem Auslande hereinwchendc Luft begeisterten jungen Oester-
reicher die beengenden Schranken einer blinden Nachtrcterci der alten
Italiener bereits triumphirend durchbrochen und auf dem imposan¬
ten Schlachtfelde der Geschichte und dramatischen Kunst, kühn ihr ju¬
gendliches Panner aufzuschlagen anfängt. Die Akademie ist nicht mehr
ini Stande, diese Scharte ihrer crzkatholischen Richtung auszuwetzen,
und die untereinander sympathisirenden freien Vögel der jungen Künst-
lerwelt wieder in ihrem alten Käfig einzufangen.
'
Wenn je Schillers Worte: Kein Augustisch Alter blühte u. s. w.,
an ihrem Platze Ware«, so sind sie es in Bezug auf die bildende Kunst
in Oesterreich. ES ist wahrlich betrübend, wie wenig Oesterreichs für
die Seinen sonst so besorgtes Kaiserhaus in diesem Fache thut, höch¬
stens daß es einige Pensionäre nach Rom schickt und alle drei Jahre
den sogenannten Kaiscrprcis aussetzt, zu den, es aber den Stoff selbst
«»gibt — der gewöhnlich von der Akademie vorgeschlagen wird und
anch immer gut akademisch aussieht.
Was eine bedeutende Ursache des „Langsam voran" der öster-
reichischen Kunst war, ist die geringe wtsseuschaftlichc Grundlage ihrer
Künstler und derjenigen jungen Leute, die sich der Kunst widmeten.
Sehr glücklich können in dieser Beziehung jene jungen Leute wirke»,
welche, wie in neuester Zeit oft geschah, nachdem sie mehrere Jahre an
der Wiener Hochschule studirten, aus Noth einer seit frühester Jugend
beibehaltenen Vorliebe für die Kunst nachgeben, indem sie in die Aka-
benie treten*). Solche Künstler werden wohl in der Technik noch
längere Zeit brauchen, bis sic mündig sind, allein ihr anStudicn ge¬
wohnter Geist treibt sie zu Compositionen, denen ein gewisser geisti¬
ger Gehalt nicht abzusprechen ist. »
Um auf die Wiener Akademie zurückzukommen, so erkennen wir
den Hauptfehler derselben darin, daß sie in einem jeden ihrer
Professoren ein ganz anderes Ziel verfolgt. ES ist keine
Einheit ihres Strebens sichtbar, wie wohl bei der Münchner und Düs¬
seldorfer Schule. Mit heiterer Theilnahme kann man daher in den
Sälen der Wiener Akademie, die oft mit aller Hitze geführten Ge¬
spräche zweier Parteien belauschen, Streitigkeiten, welche von den „Mo¬
dernen" (so heißen die Gegner derKlosterknnstlcr) gegen diese gewöhnlich
mit vielem Aufwand- von Witz und Satyre geführt und gewonnen
werden. Die „Klosterkünstlcr," was sind das eigentlich für Helden?
wird man fragen: rav sind diejenigen, die als unwürdige Nachfolger
und Partei eines der Professoren ohne die „Gnade Gottes" Nichts
thun — die, ihren Meister blos in seinen Fehlern nachahmend, oft ihr
wirkliches Talent zu Grunde richten, und nur Feste und Messen ver¬
anstalten, wenn sie ein „verlorenes Schaf" wieder zurückgeführt und
gerettet haben. Ihr Oberhaupt, ein übrigens in früherer Zeit im
Heiligcnsiylc sehr bedeutender Künstler, dessen Blüthe jedoch vorbei ist,
um nicht wiederzukehren, hat in neuerer Zeit eine Lehrkanzel der Kunst-
theorie und Kompositionslehre erhalten"); wir sprechen es hier un¬
umwunden aus, zum größten Nachtheile der bildenden Kunst in Oester¬
reich. Um vor Allem nur Eines anzuführen, was von dem Ton die¬
ses Mannes einen Begriff gibt, sagen wir, daß er, anstatt seine Schü¬
ler auf den Fortschritt des Auslandes aufmerksam zu machen, oder
denselben ein gutes Buch anzurathen, mit ihnen eine Wallfahrt nach
Maria-Zell macht und öffentlich mit der Procession einzieht, wobei
der von jedem der Seinigen getragene Blumenstrauß den „Modernen"
ein willkommenes Schauspiel ist. Unter dem Vorwande, dem Fran-
zoseuthumc cntgegenznaröcitm, verbannen sic alle Wahrheit, Kühn¬
heit, allen Geschmack, kurz Alles, was nicht „heilig"(!) ist, aus dem
Bereiche der Kunst. O ihr weisen Daniele! ahntet ihr doch lieber
die Franzosen in ihrer leichten Grazie und kecken Freiheit nach, statt
unaufhörlich über ihre Co^uctteric zu schimpfen. Seht doch den für
ewige Zeiten im Kirchcnstyle unerreichbaren Raphael an, wie wenig er
von jener lichtscheu«, Klosterbigotteric an sich trug, wie heiter er die
bien und tiefsinnigen Mysterien des Katholicismus darstellte.
Ein Gegensatz zu den „Klostcrkünstlcrn" ist die Lehre eines an¬
deren „Professors der Malerei'/ dieser schwarzgalligc, unbeschreiblich
eitle und unwissende, aber sonst sehr beliebte und wirklich ausgezeich¬
nete Genremaler (und waS wir hier sagen, wissen alle Wiener Künst¬
ler) pflegt Alles, was nicht Genre-Malerei ist — sei es alte oder neue,
italienische oder deutsche Historienmalerei mit dem Prädicate „Schaam"
abzufertigen und zu belegen. Ist eine Schule nicht zu bedauern, die
einen solchen Professor hat? Also die besten Werke eines Raphael,
Rubens, Corrcggic, Dürer, Fügcr, Kaulbach, Lessing, Schmorr, Hess
u. s. w. sind „Schaam?"
Ein eigenthümliches Ereignis) war vor einem Jahre die Erbitte¬
rung einiger Maler gegen die Kritiker der Tageblätter, die ihnen et¬
was stark die Wahrheit sagten. Einen „Professor'' an der Spitze, ver¬
schworen sich diese, nie mehr etwas in eine Ausstellung zu geben.
Zeigt schon der Umstand, daß die genannten Herrn nicht über
eine leichte Recension erhaben seien, von ihrer kleinlichen Bildung, so
ist es desto lächerlicher, sich als öffentlicher Charakter darüber auf¬
zuhalten, zumal man ans einer jeden Kritik etwas profitiren
kann. Die Professoren der hiesigen Akademie denken hierüber ganz
anders. Sie beschwerten sich bei ihrem hohen Protector, daß die Kri¬
tik sie bei ihren Schülern lächerlich mache und ihren materiellen In¬
teressen schade. Wirklich wurden die Wiener Redacteure sämmtlich zum
Polizeipräsidium eingeladen und ihnen aufgetragen, bei der kommenden
Kunstausstellung milder und aufmunternder gegen die Künstler sich zu
zeigen und im Falle eines scharfen Tadels wenigstens die Namen aus¬
zulassen. Zu gleicher Zeit erschien jedoch in der Augsburger allgem.
Zeitung (!) von hier aus ein Artikel über die Ausstellung, der scho¬
nungslos über dieselbe das Urtheil sprach. Indem der geistreiche Fürst
den Malern die locale Blamirung ersparen wollte, hielt er es grade
für seine Protector-Pflicht, sie durch ein auswärtiges Blatt die Wahr¬
heit hören zu lassen.
Um aber auch vou Allem zu sprechen, was einer Erwähnung
werth ist, so dürfen wir den Wiener Künstler Joh. Ney. Geiger nicht
übergehen, der, wenn auch kein philosophischer oder poetischer Kopf sich
doch zu einem der allerersten historischen Zeichner unserer Zeit hin¬
aufgeschwungen, der in seinen, mit der Feder gezeichneten Bilderchen
den Gipfel einer geistreichen Technik erreicht hat und hierin vivu kei¬
nem anderen Künstler übertreffen wird. Man sehe sein neuestes gro¬
ßes Wer! „Scenen aus der Geschichte Oesterreichs." Er ist der Stolz
und daS einzige Muster des unbefangenen kecken Nachwuchses. Wir
haben wohl noch einige Historienmaler, z. B. Dittcnbcrgcr, Schmorr,
Kraft u. s. w., doch das sind keine reformirend einwirkende Köpfe.
Weit höher als alle genannten, und gleich dem Stephans-
dome in der Monarchie hinanfragcnd steht Havez, ein junger Mailän¬
der Maler da, der, obwohl Italiener, doch als österreichischer Unterthan
zu den unsrigen zu rechnen, vor einigen Jahren aufgetreten ist. Sein
in der neuen deutschen Schule im Belvedere hängendes Bild „Der
Doge Foocari" ist das beste Kunstwerk das in Wiens Ringmauern
eristirt. Auch besitzt der Graf Kolowrat ein ausgezeichnetes histori¬
sches Bild (der Feldherr Pisani) von dem junge» Meister.
Vieles und Interessantes wäre noch über hiesige Kunstzustände
zu melden. Ich bewahre es mir für meine nächsten Briefe. Frän-
kl's Sonntagsblättcr bringen reiche und mannichfaltige Notizen über
unsere Maler und ihre Arbeiten.
Wir wünschten, daß er jene Schärfe, die er in allgemeinen Ar¬
tikeln hat, auch im Einzelnen gegen die betreffenden'Individuen an¬
wenden möge. Die Sonntagsblättcr würden dann noch erfolgreicher
in der Entwickelung unserer Kunstzuständc eingreifen.
— Wir haben aus der Beurtheilung von Halm'S Sampicro (im
vorigen Hefte) eine, durch Zufall weggebliebene Bemerkung nach¬
zutragen: So hat Halm Sampiero's und Vanina's Schicksal aufge¬
faßt und wiedergegeben. Sehen wir, was die Geschichte sagt von die¬
ser Beiden Charakter und Verhängnis). Sie erzählt: Sampicro war
der Brutus CorsicaS. Er und seine Freunde gelobten ewigen Haß den
Genuesern, ihren Unterdrückern, und schwuren Tod demjenigen, der je
eine Unterhandlung mit jenen anzuknüpfen nur versuchte. — Dieser
Schwur war ihr Gesetz. Vanina, Sampicro's liebende und geliebte
Gattin, unterhandelte mit Genua, um ihrem Gatten den Frieden zu
geben. — DaS wußte man nicht, daß es so kommen werde, Vanina
wußt- ja um den Schwur, der den Corsen Gesetz war. — Und der Ge¬
setzgeber mußte, die ihn retten wollte, nach dem eigenen Gesetze rieb-
te». Das ist eine Tragödie, größer und trauriger, als die Geschichte
jenes älter» Brutus. — Man darf übrigens nicht übersehen, daß diese
Beurtheilung des Stückes von Halm von unserem (Pseudonymen) Kor¬
respondenten nach der ersten Aufführung geschrieben wurde. Wir be¬
halten uns vor, eine zweite Beurtheilung nach der zweiten Aufführung
nachzutragen, da der Dichter große Veränderungen mit seinem Drama
vorgenommen haben sott. Man muß schon Halm dieses Mal mehr
Theilnahme als gewöhnlich schenken, weil ein gewisses Mißgeschick sich
an seine Fersen gehängt hat. Nach der abgeschmackten Verleumdung,
die ihn traf, fügt es der Zufall, daß er in Prosa ein Stück schreibt.
Am Abend der ersten Aufführung stirbt eine kaiserliche Erzherzogin,
wodurch das Theater für die nächsten drei Tage verschlossen blieb, und
da es in Wien Sitte ist, daß jedes Stück, welches nur halbwcg ge¬
fallen hat, gleich am nächsten Abend wiederholt wird, so hat es das
Ansehen, als sei das Stück total durchgefeilten, obschon nur eine ganz
äußerliche Veranlassung die Darstellung verschieben ließ. —
— Wie kommt es, daß man von vielen Mitarbeitern der Augs-
burger allgemeinen Zeitung die Beschwerde hört, daß die Redaction
selten auf einen ihrer Briefe antworte? Sehr oft benutzt die Augs-
burger Monate, ja Jahre lang die Einsendungen eines Korrespondenten,
die Cottaschc Buchhandlung zahlt ihm prompt sein Honorar, ohne
daß die Redaction während der ganzen Zeit auch nur
Einen seiner Briefe beantwortete. Die Redaction eines gro¬
ßen Blattes hat mehr zu thun, als auf alle Briefe zu antworten; dies
wissen wir ganz gut. Indessen ist die Klage gegen diesen Mangel an
der nothwendigsten Höflichkeit gegen ihre Mitarbeiter uns von so vielen
Seiten bekannt geworden, daß wir der Curiosität willen sie ein Mal
laut aussprechen wollen.
'— Von Karl Beck, der seit den zwei Jahre», die er in Oester¬
reich lebte, ganz verstummt war, erscheint nächstens eine größere Dich¬
tung unter dem Titel „Tricolore." Beck las diese Dichtung vor Kur¬
zem in einer größeren literarischen Gesellschaft bei Lenau vor, und
Alles war von dem kühnen Schwung derselben hingerissen. Die Dich¬
tung wendet sich mit glühenden Worten (in ungereimten Versen) an
die einzelnen Classen der Gesellschaft, an die Fürsten, Priester, Ade¬
ligen, Gcldmcnschc» u. s. w. — Im Februar gedenkt Beck, die ihm
unbehagliche Wiener Luft zu verlassen uno vorläufig uach Berlin sich
zu begeben, obschon Berlin eben nicht mehr Sitz ,der politischen Be¬
haglichkeit ist, alö die österreichische Kaiserstadt.
— Die zahlreichen Freunde des früh verschiedenen Gaudy
werden sich freuen, daß endlich eine Ausgabe seiner sämmtlichen Werke
(Berlin, bei Karl I. Kleemann) veranstaltet wird. Gaudy war im
Leben und als Dichter eine jener liebenswürdigen, keck ritterlichen
Gestalten, die immer seltener werde». Es war nichts studirtes, nicht»
Gemachtes an seinem Wesen. Freisinnig, aus frischemNanirdrang und
freiem Lebensmuth, vereinigte er scharfe Entschiedenheit der Gesinnung
mit einer naiv heitern Weltanschauung, der alle Sentimentalität wie
all« Bitterkeit fremd war. Eine Zeit lang war er das Haupt, ge¬
wissermaßen Hauptmann, eines jugendlichen PoetcnkreiseS, der in wild-
genialer Opposition gegen die Convenicnzen und Tendenzen des resi-
dcnzlichen Bcrlinerthnmö lebte. Ohne irgend große, nach Einer Rich¬
tung hin bahnbrechende Kraft, war sein Talent dafür um so frucht¬
barer und vielseitiger. Seine letzten Lieder gemahnen an Beranger,
dessen Chansons er mit Chamisso sehr glücklich nachbildete; seine No¬
vellen und Reisebilder sind ein ganz originelles Genre, reizend durch
schalkhaften Humor, klare, gcmüthötiefe Heiterkeit und wnndcrlaunige
Phantasie; Hackländer'ö Federzeichnungen erinnern in Etwas an Gau-
dy's Manier. Der Herausgeber und Freund des Dichters, Arthur
Mueller, der den literarischen Nachlaß geordnet hat, bemerkt, „daß
dieser nicht, wie so mancher andere, aus verschollenen, der spätern
Ausbildung des Dichters unwürdigen Jugendarbeiten oder aus zusam¬
mengerafften Schreibcpults Papieren bestehe, sondern vielmehr die
reifsten und vollendetsten Arbeiten Gaudy'ö enthalte, der in seiner letz¬
ten Lebenszeit damit beschäftigt war, einen neuen Band Gedichte, zwei
Bände Novellen, eine Sammlung von humoristischen Aufsätzen und
die Früchte seiner zweiten italienischen Reise zur Herausgabe vorzube¬
reiten." Das Inhaltsverzeichnis) kündigt sieben neue Novellen, fünf
neue poetische Erzählungen, drei noch »„gedruckte neue Lustspiele in
Versen und einen ganzen Band italienischer Reisebilder, unter der»
Titel: Portoga tu an; außerdem neue Lieder und humoristische Auf-
sähe. Gewiß wird man Gaudy durch diese Gesammtausgabe von
mancher neuen, vielleicht überraschenden Seite kennen lernen.
— In Leipzig wird jetzt für denselben Buchhändler, der die
Uebersetzung von Cnstinc's „I^s Kuh«le co 1839" verlegte, sThomaö)
eine Widerlegung Custine'ö gedruckt. Der neue Kämpfer für das Cza-
renreich ist ein Deutscher. Er muß Nußland freilich genau ken¬
nen, denn er war länger dort als Cnstinc, ja so lange schon, daß er
wohl gleich lebenslänglich dort bleiben wird. Der Mann heißt Grimm,
ist ein Arzt, der in Rußland seine Praxis gefunden hat, und war, wie wir
hören, vor kurzer Zeit als Begleiter einer russischen Gräfin in Leipzig.
ES ist gut, das zu wisse», damit man die Glaubwürdigkeit dieses
„unparteiischen" Deutschen richtig zu würdigen im Stande sei. —
— Mehrere Zeitungen deuten an, daß auch Erzherzog Ste¬
phan, der neue Statthalter Böhmens, einer russische» Kaisertochter
bestimmt sei. Wir können diesem Gerücht keinen Glauben schenken;
vielleicht rührt es daher, daß Rußland, Unterhandlungen angeknüpft
hat, die, wie man hört, abgebrochen worden sind. Mögen sie ab¬
gebrochen bleiben und die heirathslustige Diplomatie von Se. Peters¬
burg ihren Korb behalten.
— In Augsburg hat wieder ein deutscher Mann vor dem O e l-
bilde des Königs von Baiern knieend Abbitte thun müssen und ist
dann aus die Frchnveste geführt worden. „Das haben wir auch einem
Preußen (Feuerbach) zu verdanken," sagte ein Baier, als er mir mit
echt deutscher Seelenruhe umständlich den ganzen Hergang dieser Ab¬
bitte schilderte. Ich hatte es, aufrichtig gesagt, bis dahin stets für
eine Fabel, eine böswillige Erfindung gehalten, die, einmal von eine»!
schwarzgallige» Pessimisten ausgesprengt, im Munde des Volks geblie¬
ben sei und wie die große Seeschlange, als periodische ZeitungStradilivu,
dann und wann umgehe. Zwar erwähnt Börne einmal, in nicht sehr
glimpflichen Ausdrücken, einer solchen Abbitte, allein, dachte ich, das
wird eins von jenen politischen Gerüchten gewesen sein, die in jenen
aufgeregten Zeiten auf dem Wege von Baiern bis an das Ohr eines
deutschen Flüchtlings in Paris ins Brobdignagsche vergrößert wurden;
vielleicht war'S auch ein AnsnahmSfall. Jetzt weiß ich eS besser; es
ist ein Strafgesetz. Wer aber ist im Stande/Sinn, Zweck oder Be¬
deutung dieses Gesetzes einzusehen? Ist die Majestätsbeleidigung
(wofür jene Abbitte dictirt wird) ein Vergehen gegen den Staat,
nämlich nicht gegen den König als Person, sondern gegen die politi¬
sche Idee, welche der König vertritt, gegen die Würde, die Majestät
seiner Stellung, so muß der Staat sie strafen, aber des Königs Per¬
son darf dabei nicht ins Spiel kommen und beim Gericht auftreten;
noch weniger der Schatten von des Königs Person: sein Porträt.
Vielleicht wird man dies als der poetischen, pcrsonnifieircnden Phantasie
des katholischen Landes angemessen erklären wollen. Der Katholik
verehrt freilich das Bild seines Heiligen, indem er beim Anblick des
Bildes an die Tugenden und den frommen Lebenswandel dessen den¬
ken soll, den es ihm vorstellt. Aber gewiß thut er dies nur, weil
der Heilige nicht mehr auf Erden ist; sonst würde er gewiß lieber zu
dem lebendigen Heiligen gehen, um sich von ihm belehren, strafen
oder trösten zu lassen. Doch, das versteht sich von selbst. Die Ab-
bitte überhaupt ist unbegreiflich. Abbitte ist Neue. Kann ein Gesetz
Neue befehlen, oder gar als Strafe dictiren? Hat befohlene, gezwung¬
ene Neue einen Werth !! Ist sie nicht mehr als eine moralische De¬
müthigung, nämlich eine unmoralische, weil sie zur Heuchelei zwingt?
— Nehmen wir aber an, daß das Majestätsverbrechen für eine B»
lcidigung des Königs als Menschen angesehen wird, so wird er sich
doch nicht eine Beleidigung abbilde» lassen, wenn er sie nicht ver-
zeihe» will, sondern den Beleidiger von den Criminalgerichtm bestra¬
fen, auf die Frohnveste schicken läßt. Nimmt doch der gewöhnlichste
Privatmann eine Abbitte nur unter der Bedingung an, daß er die
ihm angethane Kränkung vergeben will. —
— Eine Berliner Zeitung vergleicht die Erneuerung des Schwa-
ncnvrdenS mit der Verkündigung der frohen Botschaft (des Evan¬
geliums) und spricht überhaupt in sehr hochklingenden, mysteriösen
Nebclqualm- und Wcihrauchphrascn von diesem Ereigniß, welches den
Eintritt in eine funkelnagelneue „Epoche," eine neue „Aera" :c. be¬
deute. Für das profane Volk wirft der Berliner Prophet übrigens
die Bemerkung hin, daß der Schwancnorden eine That sei, deren
Bedeutung selbst dann, wenn die Statuten auch veröffentlicht sein
würden, schwerlich von irdischen Geistern schon in diesem Zeitalter,
ja vielleicht auch von der Nachwelt noch nicht verstanden oder gar er¬
gründet werden dürfte. Das heißt, man solle sich ja kein vorwitziges
Urtheil über diese neue Offenbarung erlauben. Wir nehmen also den
Zeitungsschreiber, der hoffentlich ein irdischer Geist ist, beim Wort und
glauben, daß er von der Sache auch Nichts versteht, Bon andern
Seiten hört man, daß die Realisirung des SchwcrncnordenS bis auf
Weiteres verschoben sei.
— Der Karneval in den Rheinstädten soll dieses Jahr etwas
trübselig ausfallen; man flüstert sogar von büreaukratischen Einflüssen,
welche in den moussircndcn Becher der Freude niederschlagende Pül-
vcrchcn, Ahnungen künftigen Katzenjammers hätten fallen lassen. Nur
die „Narrhalla" (von Kalisch in Mainz) scheint sich von diesen Win-
tcrncbcln nicht anfechten zu lassen. Sie ist voll göttlicher Narrheit,
ein guter Witz jagt den Andern, und bei aller politischen Keckheit ist
ihr bis zur vierten Lieferung nichts Menschliches oder vielmehr Poli¬
zeiliches passirt.
— In der Unterhaltungsliteratur lautet die Losung noch
immer: Geheimnisse! Angekündigt sind seit einiger Zeit Geheimnisse
von Wien, von Berlin, von London von Neu-Uork, von Moskau,
von Konstantinopel :c. Wer die Mysterien von nur einer dieser
Städte enthüllen könnte, hätte viel gethan. Ein Berliner Schriftsteller
will die Geheimnisse der Schelling'sehen Philosophie herausgeben.
Wirkliche Geheimnisse wären jetzt in Posen zu entdecken, wo man
trotz aller berichtigenden, beruhigenden, läugncnden und erklärenden
Zeitungsartikel über die letzten Verhaftungen noch immer nicht weiß,
woran man ist.
— Gestorben ist Sir Francis Burdctt, einer der berühm¬
testen ,Fiocl»mwender" Englands. — Bernadotte, der glücklichste von
Napoleon? Helden, ist erkrankt. Man erwartet stündlich das Ende
des 82jährigen Königs.
— „Die Göttinger gelehrten Anzeigen während einer hundert¬
jährigen Wirksamkeit ze. „von Heinrich Albert Opp ermann (Hanno¬
ver, 1844, bei L. F. Kius) machen mit Recht allgemeines Aufsehen.
Es gehört ein seltener Fleiß zur Ausgrabung dieses verschütteten Schachtes
von dreihundert dicken Bänden, den weder Gervinus noch Hofmeister
». A. berührt haben; außerdem aber ist die Geschichte dieses Senats
von gelehrten Kritikern lichtvoll geordnet und gruppirt und das histo¬
rische Urtheil des Herausgebers selbst überall billig, voll bescheidener
Achtung vor dem Inhalt der Dinge, und doch, wo es nöthig ist,
hinlänglich scharf. Für den raisonnircndcn Beobachter, für den Jour¬
nalisten ist diese Geschichte der Göttinger Anzeigen eine Fundgrube;
wir wollen diesmal uns mit einem Citat begnügen, werden aber öfters
auf dies Buch zurückkommen, das für alle Licht- und Schat¬
tenseiten der deutschen literarischen Welt die charakteristischsten
Beispiele liefert. S. 73: „Unter Hcycns Redaction der G. A. war
es eine Herablassung, wenn man sich mit der Literatur befaßte; der
„akademische Gelehrte" stand unendlich höher, als die ungründliche
Belletristik.....Z. B. Bei der Anzeige des Oberen heißt es, er liege
nicht innerhalb des Kreises der G.g.A. (1780.) Noch im I. 1800
fängt eine Anzeige von Schiller's Wallenstein mit der Bemer¬
kung an, „so wenig auch Anzeigen von gewöhnlichen Theaterstücken
für diese Blätter gehören, so können wir doch :c." Die G.g.A. . . .
hatten kurz vorher ein Buch über Zuckcrvcrfälschung, ein Haushal-
iungöjournal, dann ein Werk des Kaspar Monge über Zubereitung
des Parmesankäses und eine Anweisung zum Brauen des Weißbiers
besprochen!" —
— Hofrath Murhard, der rühmlich bekannte Publicist in
Cassel, the wegen eines politischen Artikels in Welcker's StaatSlcrieon
in Untersuchung gezogen worden. Gegen 6000 Thaler Caution ist
er provisorisch auf freiem Fuß gelassen worden; doch wird der alte,
allgemein geachtete Mann trotzdem noch von einem Polizeisergeanten
überwacht. Der verbrecherische Artikel heißt: Staatsgerichtöhof. Hof¬
fentlich wird man vor Deutschland kein neues Jordansspiel aufführen
wollen. —
Es gibt nicht leicht eine Stadt, die für den Fremden in der
ersten Zeit unheimlicher wäre, als Berlin. Um in Berlin seines Le¬
bens froh zu werden, muß man es erst lange kennen gelernt und sich
durch seine ersten Eindrücke hindurchgearbeitet haben, wie durch die
ersten langweiligen Kapitel eines interessanten Buchs. Besonders
wird sich der Kleinstädter, der seine Ansprüche an Gemüthlichkeit und
an freundliches Entgegenkommen mit hierher bringt, mehr als in je¬
dem andern Orte unangenehm berührt finden. Denn die sogenann¬
ten höhern, gebildetem, d. h. vermögenden Classen der Gesellschaft
verstehen es durchaus nicht, menschlich zu sein und zu leben, jeder
Einzelne umgibt sich da mit einer so steifen Glasur, die jede freie
Bewegung hemmen und jede Annäherung an ihn fast unmöglich
machen muß. Was ist z. B. natürlicher, als daß zwei Menschen,
wenn sie sich auch gegenseitig nicht kennen, bei irgend einer Begeg¬
nung mit einander zu sprechen anfangen? In Berlin ist es mehr
als auffallend, ja ein Verbrechen gegen Schicklichkeit und guten Ton,
mit einem Unbekannten oder Jemand, der Einem nicht in aller
Form vorgestellt ist, ein Gespräch anknüpfen zu wollen; man riskirt,
mit Verwunderung angesehen zu werden und kurze, höhnische Ant¬
worten zu erhalten. Zwei Leute können in einem öffentlichen Local
stundenlang an demselben Tische neben einander sitzen, sind vielleicht
Beide ohne Gesellschaft, gähnen und langweilen sich Beide, und es
wird ihnen doch nicht einfallen, sich gegenseitig zu nähern. So kalt
und gemessen als möglich steht der Eine dem Andern gegenüber und
sieht den Fremden, der sich vielleicht freundlich ihm nähern will, mit
mißtrauischem Auge an; es ist dies so ein Stück Pvlizeigeist, der
jeden Unbekannten von vorn herein gleich für einen Beutelschneider,
Betrüger oder Dieb hält und einen unverzeihlicher Mangel an aller
öffentlichen Gastfreundschaft erzeugt.
Wir haben eS für nöthig gefunden, diese kurze einleitende Be¬
merkung der hier folgenden Erzählung voranzuschicken. Dieselbe
ist dem Tagebuche eines Freundes entnommen, der, durch sein
erstes Mißbehagen an Berlin gerade in weniger allgemein bekannte
Kreise der Hauptstadt getrieben, in eine Menge interessanter Ge¬
schichten eingeweiht worden ist, von denen wir die nachfolgende, wie
wir sie aus seinen skizzenhaften Aufzeichnungen zusammengetragen, hier
mittheilen wollen.
Es war im Spätherbste des Jahres 1838, als ich zum ersten
Male nach Berlin kam. So großartig in den ersten Tagen der
Anblick der prächtigen Stadt auf mich wirkte, so fühlte ich mich doch
bald unwohl unter diesen ungeheuren Steinmassen, in diesen gerad-
linigem, weiten Straßen mit ihrem ohrzerreißenden Geräusch und
Getöse, diesem ewig lärmenden Menschengewühl, aus dem kein freund¬
lich bekanntes Gesicht mir entgegenblickte. Die Jahreszeit so wie der
durch den unaufhörlichen Hcrbstregen noch vermehrte Koth und
Schmutz auf den Straßen, all die unzähligen kleinen Unannehmlich¬
keiten des Berliner Winters trugen nur dazu bei, meinen aufkeimen¬
den Unmuth zu erhöhen und so sah ich mich denn, nach dem ersten
überraschenden Eindruck, allein und verlassen unter mehr als dreimal-
hunderttausend Menschen, deren Leben und Treiben ich nicht ver¬
stand und von denen ich noch Nichts gesehen hatte, als ihr trockenes,
verständiges, habsüchtiges Wesen und ihre gleichgiltigen, höhnischen,
prätentiösen Gesichter. Ich hatte mich noch nie so durch und durch
unglücklich gefühlt. Ein Landsmann, der sich mehrere Monate hier
aufgehalten, hatte mir sein freundlich meublirtes, aber etwas düsteres
Zimmer in der Aleranderstraße abgetreten und mir die Wirthsleute
als brave, redliche Menschen empfohlen. Doch obwohl ich schon
vierzehn Tage da wohnte, hatte ich von ihnen Nichts gesehen, als
die Firma an ihrer Thür: „Thümmel, Damenkleidermacher" und
Madame Thümmel — eine lange, hagre, schon etwas ältliche Frau,
deren verdrüßlichen Ernst ich mit aller Freundlichkeit nicht besiegen
konnte — täglich zweimal mit einem kurzen guten Morgen und gu¬
ten Abend. Keiner bekümmerte sich um mich (eigentlich eine Eigen¬
schaft Berliner Wirthsleute, die man später schätzen lernt), oder er¬
kundigte sich, ob ich etwas bedürfe, und da saß ich denn ganze Tage
und Abende allein, las und studirte und betrachtete zur Abwechslung
die Droschken auf dem Platze oder das große schwarze Gefängni߬
gebäude (das Arbeitshaus, Ochsenkopf genannt) schräg gegenüber.
Aus den öffentlichen Vergnügungsorten und den Theatern hatte mich
eine mir jetzt unerklärliche Langeweile fortgetrieben, und Bekannte, die
ich hätte besuchen können, hatte ich noch nicht. Ich war also an das
Zimmer gefesselt und konnte nur tausendmal bereuen, nach Berlin ge¬
gangen zu sein und in langen Briefen an meine Freunde meinem
gequälten Herzen Luft machen. Ich ermahnte sie förmlich, ja nie
hierher zu kommen, in dies weite, steinerne Grab, in diese große
Welt, aus der Einem der kalte Hauch des Todes entgegenwehe.
So zurückgeschreckt und eingeschüchtert, hatte ich es gar nicht
der Mühe werth gehalten oder vielmehr nicht gewagt, noch speciellere
Erfahrungen zu machen, und daher in meinem Unmuth alle mitge¬
brachten Empfehlungsbriefe an Familien, Gelehrte, Künstler und Pro«
fessoren bei Seite geworfen. Als ich mir jedoch eines Morgens
meine fatale Lage lebhaft vorstellte, ermannte ich mich endlich zu dem
Entschlüsse, sie wieder hervorzuholen, den ersten besten blindlings zu
ergreifen und einen Versuch damit zu wagen; ich war fest entschlos¬
sen, mir von heute an Berlin zu einem erträglichen Aufenthalt zu
machen oder in der nächsten Woche abzureisen. Der Brief war an
den Rentier C. Als eS zwölf Uhr war, setzte ich mich, lionmäßig
gekleidet, in eine Droschke und fuhr an dem Hause des Rentiers
vor. Die barsche Frage des Portiers: „wohin wollen Sie?"
so wie die vornehme Malice im Gesicht des Bedienten, der mich
meldete, ftappirten mich schon etwas. Doch trat ich muthig ein und
wurde von Herrn und Madame C. in einem höchst eleganten, von
allerhand Parfümen duftenden Zimmer mit feierlicher Artigkeit em-
pfcmgen. Beide waren schon in voller Toilette, Herr C., ein kleiner,
untersetzter, sehr beweglicher Mann, Madame C., eine im zweiten
Stadium befindliche Schönheit. Das Gespräch war nach einigen
überwundenen Schwierigkeiten so ziemlich im Gange; ich wurde Dies
und Jenes gefragt, nach meiner Heimath, wie mir Berlin gefalle, ob
ich schon Bekanntschaften gemacht, ob ich gern tanze und Gesellschaf¬
ten besuche; sie stellten mir ihre Kinder vor, präsentirten mir ihr ehe¬
liches Glück, indem sie sich gegenseitig „mein Herz" und „mein En¬
gel" titulirten, erzählten mir, wie es für anständige Leute durchaus
nicht schicklich sei, die öffentlichen Locale, von denen ich sprach, zu be¬
suchen, wie fein und nobel man hier in den häuslichen Kreisen lebe,
wie man sich da genugsam amüsire, und luden mich beim Weggehen
ein, sie heute Abend gleich zu einer kleinen Gesellschaft zu besuchen.
Ich kann nicht sagen, daß die Leute einen schlechten Eindruck
auf mich gemacht hätten; hatte auch die Glasur nicht gefehlt, so war
sie doch durch die eigene Behausung und den Empfehlungsbrief et¬
was verwischt; und ich war durch meine fortwährende Einsamkeit in
zu trüber Stimmung, als daß mich nicht ein freundliches Wort auf
Augenblicke hätte erheitern sollen. In der frommen Hoffnung also,
der Familie bald näher zu rücken, verfügte ich mich des Abends in
die Soiree des Herrn C.
Ich kam zu früh in dem elegant erleuchteten Salon an. Herr
C. war noch mit den Arrangements beschäftigt, Madame C. stellte
mich mit feierlicher Gesellschaftsmiene zwei etwas ältlichen Jungfrauen
vor, die, nachdem ich mich gesetzt hatte, sogleich ihr früheres Gespräch
wieder fortsetzten und sich über die besondern Eigenthümlichkeiten der
zu erwartenden adligen und hochadligen Gäste anstießen. Die Toi¬
lette des einen sei geschmackvoller, als die des andern, dieser sei da¬
für liebenswürdig und gar nicht stolz, der habe etwas Fürstliches in
seinem Wesen, jener sei geistreich und charmant. Ich saß natürlich,
da ich diese Leute nicht einmal dem Namen nach kannte, stumm auf
meinem Stuhl. Madame C., die mich wahrscheinlich unterhalten
und mir brillante Aussichten eröffnen wollte, sagte: „Sie werden diese
Herren noch alle heute kennen lernen." Bald öffnete sich auch die
Thür und, von Herrn C. geführt, erschienen mehrere dieser Grafen
und Barone in feinster Salontracht. Wer, der einmal längere Zeit
jn Berlin gewesen, kennt nicht von Kranzler oder sonst einem fashio-
nahten Local aus alle diese zierlichen, feinen Herrchen, diese Zöglinge
und Schooßkinder der noblen Berliner Gesellschaft, innerhalb ihrer
bekannt und mit einer Wichtigkeit genannt, als seien es berühmte
Namen? Dieser Art waren die Männer, mit denen Herr C. auf so
vertrautem Fuße stand, daß sie nicht blos seine Gesellschaften, sondern,
wie ich vernahm, auch mehrere Male in der Woche sein Haus be¬
suchten. Das erste Thema ihres Gesprächs war ein gestriger Ball
bei einem Gesandten, von dem sie viel Ausführliches zu erzählen
wußten. Unterdeß war die übrige Gesellschaft angelangt, fast lauter
vornehme Ausländer, auch verschiedene Mütter mit Töchtern, und
wir saßen nun, wohl achtzehn Personen, in einem großen Halbkreis
um Sopha und Tisch herum. Man sprach von allerhand mir unbe¬
kannten Verhältnissen und Personen, von Moden, Toiletten und Meu-
beln, wobei Herr C. seine bewundernswerthe Kenntniß der weiblichen
Toilette entwickelte und, begeistert durch das Lob, welches man dem
neuen Pariser Mantel seiner Frau spendete, sich mit Wärme über
Schnitt und Stoff desselben verbreitete. Alles war übrigens, wie
um ein seltenes Gericht, um die vornehmen Herren beschäftigt, in de¬
ren Nähe man auch die jungen Damen placirt hatte; um mich, der
ich wohl ein Fremder, aber kein Franzose oder Engländer war und
nothwendig bei diesen Gesprächen eine schlechte Rolle spielen mußte,
bekümmerte sich Niemand. Das Gespräch fing bald an zu stocken
und Herr C., der ewig geschäftige, liebenswürdige Wirth, setzte sich
ans Clavier, sang mit noch ziemlich kräftigem Baß eine Arie
und spielte darauf mit einer jungen Dame, die man durch das Lob
ihrer französischen Aussprache schon vorher in die Verlegenheit ver¬
setzt hatte, ihre Bescheidenheit zu zeigen, die Ouvertüre zu den Hu¬
genotten. Man zollte seinen enthusiastischen Beifall und schickte sich
nun zu einem Contretanz an, führte, als auch dieser vorüber war,
noch einige französische Sprüchwörter auf, setzte sich dann zu Tische
und empfahl sich gleich nachher. Als ich das Haus hinter mir hatte,
stand ich, noch ganz verwirrt, still und athmete zum ersten Male wie¬
der auf. Das wären also die Amüsements der noblen Berliner
Bourgeoisie! Ich hatte eine Gesellschaft von Menschen erwartet und
Nichts gefunden, als ein Paar adlige Puppen, um die sich der übrige
Kreis mit wahrhaft hündischer Zuvorkommenheit bewegte, einige ge¬
putzte arrogante Weiber, die Unsinn schwatzten, und junge Mädchen,
hinter deren erkünstelter Bescheidenheit sich die Anmaßung und der
rohe Dünkel des Geldes schlecht verbarg, glänzende Toiletten, präch¬
tiges Geschirr, guten Thee, auch gute Speisen und Weine, aber kein
einziges vernünftiges Wort, kein Wort von allgemeinerem geistigem
Interesse (wenn man nicht einen kurzen Streit, ob es Augenbrauen
oder Braunen heiße, dahin rechnen will), nicht einmal, wie man in
solchem Zirkel doch gewöhnlich erwartet, ein schiefes Urtheil über
Musik oder über Theater und Literatur.
Man denke sich nun die Lage eines blutfrcmden jungen Mannes,
der, an eine heitre und gediegene Geselligkeit gewöhnt und mit na¬
türlicher Lebhaftigkeit begabt, plötzlich in solchen Kreis hineingefahren
wird und mehrere Stunden hintereinander steif und stumm fast auf
einem und demselben Stuhle zubringen muß, nicht aufstehen, kein lei¬
ses Zeichen seines Unbehagens äußern, nicht einmal verstohlen gäh¬
nen darf. Mit Sturmschritten eilte ich nun durch die Straßen. Jün¬
ger und daher auch reizbarer gegen solche Eindrücke, war meine ganze
Menschlichkeit empört; hätte ich einen Ort gewußt, wo ich in der
wildesten Lust mich für die ausgestandene Vornehmthuerei hätte ent¬
schädigen können, ich wäre noch eine Meile weit gelaufen, aber ich
war ja fremd und unbekannt in der großen, weiten Stadt. Meine
einsame Wohnung schien mir jetzt ein Paradies. Dort angelangt,
fand ich meine Stube verschlossen und mußte daher an der Thür
meines Wirths klingeln, in dessen Fenstern ich vom Flur aus noch
Licht sah. Da hatte ich das Vergnügen, Herrn Thümmel zum ersten
Male zu erblicken, eine kleine, dünne, reinliche Schneidersigur in Ne¬
glige. Er bat mich freundlich, doch einen Augenblick näher zu tre¬
ten, da seine Frau den Schlüssel verlegt habe und schon lange suche.
Durch die Küche trat ich in ein kleines reinliches Zimmer, wo ich
die Familie Thümmel, die Mutter und drei Töchter, obwohl es
bald Mitternacht war, noch fleißig nähend beisammen fand. Das
Stübchen war nicht sehr reich meublirt und halte nicht einmal ein
Sopha. Die Damen erhoben sich bei meinem Eintritt etwas ver¬
legen, fingen an zu suchen und baten mich, mich doch einstweilen bei
ihnen niederzulassen. Ich folgte, da ich erschöpft war und Zeit genug
gehabt hatte, die von meinem Landsmann gerühmte Schönheit der
drei armen Bürgermädchen zu bewundern, dieser Einladung nicht un¬
gern. Solche Blumen, dachte ich, blühen also hier unbemerkt in den
ärmlichen Hofwohnungcn, während ich dort in jenem glänzenden Zir¬
kel nur häßliche, verkümmerte Gesichter sah! Auch in der einfachen
Kleidung der Mutter bemerkte ich eine edle Reinlichkeit und in ihrem
Gesicht und Wesen eine Anmuth, die das Alter noch nicht ganz ver¬
wischt hatte. Als der Schlüssel längst gefunden war, konnte ich mich
noch immer nicht trennen; ein begonnenes Gespräch mit Herrn und
Madame Thümmel entschuldigte mein Bleiben. Die Leute erzählten
mir von ihren Verhältnissen; wie ihre Arbeit sonst besser gegangen,
wie sie nicht hätten nöthig gehabt, zu vermiethen, wie sie unter der
überaus gehäuften Concurrenz leiden und alle ihre Kräfte anstrengen
müßten, nur durchzukommen; daß Charlotte und Therese, die beiden
ältern Töchter, dem Vater helfen müßten und Auguste (Juste ge¬
nannt) in einem Putzgeschäft arbeite, von wo sie des Abends um
sieben Uhr zurückkehre, um die Ihrigen noch einige Stunden bei der
Arbeit zu unterstützen, die so schlecht bezahlt werde. Die Mädchen
schwiegen natürlich bei diesen Erzählungen bescheiden still und ant¬
worteten auf meine wenigen Fragen kurz und nett. Als es schon
längst zwölf Uhr war, empfahl ich mich erst und. ich kann wohl sa¬
gen, daß ich in dieser armen Familie meine erste gemüthliche Stunde
in Berlin verlebte. Von nun an wurde ich nach und nach ihr täg¬
licher Gast, Vertrauter und Freund. Die Alten wurden mir immer
gewogener und auch die Mädchen mit der Zeit unbefangener, so daß
ich jetzt den Genuß hatte, den besondern Reiz und die Liebenswür¬
digkeit ihres Wesens freier hervortreten zu sehen. Besonders war
mir Charlotte in ihrer einfachen Familienumgebung eine fesselnde Er¬
scheinung ; eine hohe, schlanke Gestalt mit reichem dunklem Haar und
glühendem Auge, stets ernst bescheiden und von einem innern Werthe,
den die reichen Damen, denen sie die neuen Kleider anprobirte, wohl
kaum in ihr vermutheten. Die Lectüre guter Bücher, von ihren er¬
sparten Groschen aus der Leihbibliothek bezogen, war in ihren weni¬
gen Mußestunden ihre einzige Erholung, und ich hatte oft genug
Ursache, mich über ihren Geschmack und über manches richtige Ur¬
theil, das ich von ihr hörte, zu wundern. Sie wußte, wie die mei¬
sten Berlinerinnen, gut und gewandt zu sprechen, aber in dem Ton
ihrer Stimme so wie in ihrer ganzen Art und Weise lag ein gewis¬
ser Stolz, der fast wie Kälte aussah, wenn nicht ihr Blick und ihre
bewegten Züge die innern Regungen eines leidenschaftlichen Gemüths
verrathen hätten. Charlotte war das Orakel der Familie und, ob¬
wohl selbst erst im zweiundzwanzigsten Jahre, die strenge Wächterin
ihrer beiden Schwestern, von denen Therese mehr weltlustig, leichtern
Temperaments, eine witzige Blondine und der Liebling der Mutter
war. Auguste, ein ganz junges Kind von rührender Schönheit, sprach
nur selten und wenig, saß ewig still und zeigte nur in der durchsich¬
tigen Zartheit ihre» Gestalt so wie durch den sehnsüchtigen Blick ih¬
res großen blauen Auges die ungetrübte Reinheit eines weichen, et¬
was sentimentalen Herzens. Und da saßen denn die armen Mäd¬
chen fast den ganzen Winter über in der engen Stube und konnten
kaum einmal auf einem Geschäftsweg frische Luft schöpfen. Das
war dann aber auch ein ordentliches Fest, von dem man schon Tags
zuvor sprach. Da sie stets beschäftigt waren, mußten sie auch ihre
Freundinnen vernachlässigen und Monate lang ihre Jugend fast nur
in Gesellschaft der Mutter vertrauern, die ihre Liebe unter einer
griesgrämischen Strenge verbarg. Auch Herr Thümmel ging fast
nie, außer in Geschäften, aus; und hatte er dann gerade Geld ein^-
cassirt, so brachte er. auch wohl seiner Familie ein Paar frische Pfann¬
kuchen oder sonst was Gutes mit. Herr Thümmel war das Ideal
eines Ehemannes und liebte seine Töchter sehr. — Was hilft es aber,
sagte er zu mir, ich habe kein Vermögen, daß ich meinen Töchtern
eine Aussteuer geben könnte, wir konnten Nichts thun, als sie gut
und brav erziehen. Wer will aber heutzutage ein armes Mädchen
heirathen? Einen rohen Tagelöhner können sie doch nicht nehmen,
und ein Anderer, der Vermögen hat oder welches braucht, der nimmt
sie nicht. Bei uns war es umgekehrt. Ich war ein armer Kerl
und meine Frau hatte ein Kapitälchen. Sie sollte mich darum auch
durchaus nicht heirathen und der deshalb eingetretene Bruch mit ih¬
ren Verwandten hat sich bis dato noch nicht zugezogen. Als wir
nun durch mancherlei Unglück gezwungen waren, die Paar Thaler
anzugreifen und aufzuzehren, denken Sie sich, da haben sie ihre ver¬
mögenden Brüder und Schwestern in der greulichsten Tinte sitzen
lassen. So sind die Menschen! —
Die meisten Abende in der Woche brachte ich nun bei Thüm-
mel'S zu; ich hatte noch einige Empfehlungsbriefe abgegeben, auch
manche angenehme Verbindung angeknüpft, fühlte mich aber immer
am wohlsten, wenn ich im Schlafrock, die Cigarre im Munde, in
dem Schneidcrstübchen saß, mir von Herrn Thümmel seine Wander¬
geschichten, von Madame Thümmel von den Kriegszeiten, von der
russischen und französischen Einquartierung in ihrem elterlichen Hause
erzählen ließ oder mit den Mädchen eine Unterhaltung führte. So
viel in meinen Kräften stand, suchte ich ihnen auch die langen Abende
und die langweilige Arbeit zu verkürzen, las vor, erzählte, machte auch
wohl eine Bowle Punsch und hatte so zuweilen die Freude, sie auf
Augenblicke ihre Sorgen vergessen und die stille Gedrücktheit ihres
Wesens abwerfen zu sehen. Einst — es war an Charlottens Ge-
burtstage — saßen wir heiter beisammen, als plötzlich heftig die
Klingel gezogen wurde. Charlotte, die mir gegenüber saß, schrack
heftig zusammen, als sei ihr dieser Ruf bekannt. Sie ging schnell
öffnen; ein Mann, in den Mantel gehüllt, tritt hastig ein; er schlägt
den Kragen zurück: der Herr Baron! ruft die ganze Familie mit
freudigem Erstaunen. Der Mann — das sah ich gleich — mußte
hier eine wohlbekannte, gar freundliche Erscheinung sein, mit so ver¬
ehrungsvoller Herzlichkeit begrüßten sie ihn alle. Ich erfuhr, als er
sich zu uns an den Tisch gesetzt hatte, daß er lange Zeit das Zim¬
mer, das ich jetzt inne hatte, bewohnt, daß er seit einem Jahre aber
verreist gewesen und gestern nach Berlin zurückgekehrt sei. Er war
ein Mann von etwa vierunddreißig Jahren, groß und ziemlich stark
gebaut, von leichter, aber doch imponirender Haltung. Sein bleiches,
etwas aufgedunsenes Gesicht zeigte deutlich die Spuren früherer wü¬
ster Leidenschaften und nobler Passionen und erhielt nur noch durch
eine gewählte, höchst geschmackvolle Toilette, so wie durch einen gro¬
ßen blonden Schnurrbart, der den Mangel an Zähnen ziemlich ver¬
deckte, Ausdruck und Leben. Er erzählte viel von seinen Reisen, er¬
kundigte sich nach speciellen Verhältnissen, nannte die Mädchen bei
ihren Vornamen, stellte Betrachtungen über ihre Veränderungen und
ihre Haartracht an, näherte sich darauf mir, knüpfte eine Unterhaltung
über Berlin an und empfahl sich endlich, nachdem er verschiedene
kleine Geschenke ausgekramt und den kleinen Kreis in eine wahrhaft
ausgelassene Fröhlichkeit versetzt hatte. Charlotte nahm das Licht,
ihn hinaus zu geleiten. Herr und Madame Thümmel ergossen sich
nun in Lobreden über den Herrn Baron, welch ein gar nobler, fei¬
ner und bescheidener Herr er sei, in welchem freundlichen Verhältniß
sie immer mit ihm gelebt und wie gern er ihnen immer gedient habe.
Freilich, sagte Herr Thümmel in seiner reflectirenden Manier, habe
ich in den ganzen vier Jahren nichts Näheres über sein Leben und
Treiben erfahren können. Er war manchmal vierzehn Tage über
gar nicht zu Hause und kam dann mit einem Male mitten in der
Nacht an, um mehrere Wochen gar nicht aus dem Zimmer zu ge¬
hen. Da lag er dann den ganzen Tag über auf dem Sopha aus¬
gestreckt und sah so bleich und erschöpft aus, als habe er sich von
großen Strapazen auszuruhen. Dann hörte ich ihn wieder ganze
Zeiten hindurch erst dös Morgens um drei oder vier Uhr nach Hause
zurückkehren. Nie habe ich ihn schlecht wirthschaften sehen und doch
schien mir das Geld manchmal knapper, manchmal vollauf bei ihm
zu sein. Doch, dachte ich mir immer, und meine Frau hat dasselbe
gesagt, das Treiben solcher vornehmen Leute versteht Unsereins ein¬
mal nicht, die Herren haben alle ihren eigenen Zuschnitt. — Welchen
vorurtheilsvoller Respect die sogenannte niedere Bürgerclasse Berlins
noch vor dem adligen Namen hat! Hätte Herr Thümmel dieses
Treiben bei einem Bürgerlichen gesehen, sein frommer Philistersinn
hätte sich empört, er würde schon näher nachgeforscht und den Mann
vielleicht einen reichen Faullenzer und Herumtreiber genannt haben.
So aber war es ja ein Herr Baron! Doch blieb mir der feine ad¬
lige Herr in seinem Verhältniß zu der armen Arbeiterfamilie eine
interessante Erscheinung und ich nahm mir vor, ihn und dieses Ver¬
hältniß in der Folge näher kennen zu lernen.. Nachdem ich ihn meh¬
rere Male bei Thümmel s gesehen, sprach er auf meine mehrmalige
Einladung auch eines Abends bei mir ein. Ich konnte eS mir nicht
verhehlen, der Mann hatte ein gewinnendes Wesen und wußte die
norddeutsche schroffe Verständigkeit mit dem Schein einer gewissen
Gemüthlichkeit zu umgeben, der mich, neben seiner geistreichen Ma¬
nier, zu erzählen, beinahe bestochen hätte, wenn mir nicht durch alle
diese Liebenswürdigkeit dennoch die aristokratische Barbarei, jene vor¬
nehme Lebensmanme des löblichen Junkerthums: „Alles zu meinem
Genuß und Vergnügen, zur Unterhaltung in meiner Langeweile!" hin¬
durchgeschienen hätte. Diese adlige Philosophie des Herrn Baron
sollte mir noch klarer werden, als ich später durch ihn in das öffent¬
liche Leben und Treiben Berlins eingeführt wurde. Hier sah ich ihn
bald in seinem eigentlichen Elemente, als raffinirten Weltmann und
Lüstling. Ueberall war er bewandert, wie der hinkende Teufel, überall
wurde sein Name von einer Suite junger adliger Elegants mit Ver-
ehrung genannt. Wir stiegen manchen Abend von den glänzendsten
Localen in die niedrigsten Kneipen, durch Kaffeehäuser, Weinstuben
und Restaurationen auf den Maskenball, in's Opernhaus, von da
noch in's Colosseum u. s. w. Ich stürzte mich mit jugendlicher Lust
in diese mir noch ungewohnten Vergnügungen, vergaß aber nie, mei¬
nen Begleiter zu beobachten. Doch so viele Mühe ich mir auch gab,
ich konnte nichts Näheres über ihn erfahren, als daß er früher Offi¬
zier gewesen, dann große Reisen gemacht und sich in den verschiede,
nen Hauptstädten Europas aufgehalten habe, auch daß er in Pom¬
mern geboren, altadligen Geschlechts, aber ohne Grundbesitz und von
Hause aus ganz ohne Vermögen sei. Dies stimmte freilich nicht zu
seiner Lebensweise. Manchmal war er mir wie unter der Hand
verschwunden, ich sah ihn dann oft mehrere Wochen nicht, dann er¬
schien er eben so plötzlich wieder bei Thümmel's, oder bei mir, um
mich abzuholen. Ueber sein Verhältniß zu der Schneiderfamilie sprach
er sich stets sehr kurz und oberflächlich aus. Was war eigentlich der
Zweck seiner Besuche? War es Ermüdung von einem wüsten Leben,
oder doch eine bestimmte Absicht auf eines der Mädchen? Er war
mit allen Dreien nur gleich freundlich und herzlich und die Eltern
schienen durchaus frei von jedem Argwohne dieser Art. Auch hielt
er sich ja nie lange bei ihnen auf. War er seines Fanges schon
sicher, oder lauerte er, wie ein geübter Jäger, nur noch auf seine
Beute? — Zuletzt erschien mir das Verhältniß ganz unbefangen, etwa
wie das eines alten Onkels zu seinen Nichten. Alfred — so hieß
der Baron — dem Herr Thümmel wahrscheinlich seine traurigen
Verhältnisse entdeckt hatte, schien ihm etwas unter die Arme zu grei¬
fen und ich hatte im Stillen meine Freude daran, wie die Leute nach
und nach wieder aufzuathmen anfingen. Die Mädchen brauchten
nicht mehr ewig bis spät in die Nacht zu arbeiten, sie konnten mit
ihren Eltern am Sonntag Nachmittag im Thiergarten spazieren oder
einmal gegenüber in's Concert zu Faust gehen. Davon wußte dann
Therese immer eine ganze Woche zu erzählen. Auch Charlotte war
heitrer geworden und schenkte sogar manchmal Theresens Witzen ih¬
ren Beifall; beide sprachen oft und mit Interesse von dein Baron;
ob dies aber Dankbarkeit oder Neigung war, konnte ich nicht ent¬
decken, besonders da der Baron ihre unbefangenen Huldigungen im-
mer so onkelhaft entgegennahm. Juste war noch immer das stille,
liebe, schweigsame Kind, nur machte mir die Weichheit ihres We¬
sens, so wie das ewig sehnsüchtige Schmachten ihres Blickes manch¬
mal bange für ihre Zukunft. Sie war selig, wie sie mir erzählte,
daß sie nicht mehr, wie früher, jeden Abend von der Arbeit gleich
nach Hause zu kommen brauche, sondern immer auf dem Wege noch
ihre Herzensfreundin besuchen könne. —- In diesem veränderten Zu¬
stande verließ ich die Familie im Frühjahr, um mich auf eine län¬
gere Reise zu begeben.
Ich kam nach Berlin zurück, zog in ein anderes Stadtviertel,
kam in ganz andere Verhältnisse, nahm mir anfangs vor, täglich
nach der Aleranderstraße zu gehen, ließ mich aber immer wieder durch
den weiten Weg und tausend andere Störungen davon zurückhalten.
ES ging mir wie mit allen Dingen, die man zu vernachlässigen an-
fängt: man schiebt sie so lange auf, bis die Vernachlässigung zur
Gewohnheit wird. So vergaß ich die armen Leute, die mein erster
Halt- und Stützpunkt in Berlin waren, als ich verlassen und ver¬
zweifelt in ihrem gemüthlichen Stübchen liebevolle Aufnahme fand.
Manchmal freilich regte sich in mir das Gewissen und auch das
Interesse und die Neugier, aber ich vertröstete mich dann auf echt
großstädtische Weise, vielleicht einmal Einem von ihnen auf der
Straß« zu begegnen. Aber vergebens; ich sah nicht einmal meinen
sogenannten Freund, den geheimnißvollen Baron, so daß bald meine
ganze Bekanntschaft mit ihm und der Schneiderfamilie nur noch
manchmal als ein dunkles Bild der Erinnerung in mir auftauchte.
Als ich nun im vorigen Sommer, also vier Jahre später,
eines Abends unter den Linden spazierte, sah ich eine hohe Frauen¬
gestalt in elegantem Sommercostüm, allein und langsam vor mir
herschreiten. Ich weiß nicht mehr, waren diese Umrisse mir gleich
bekannt, war es eine aufflammende Erinnerung, oder bloße Neugier,
ich folgte unwillkürlich nach. Am Opernhause schlüpfte ich leise an
ihr vorüber und drehte mich im Scheine der Laternen um, unsere
Blicke begegneten sich, eS war Charlotte. Ihre Kleider deuteten auf
eine Veränderung ihrer Stellung hin und etwas verlegen, wie ich
sie anreden sollte, blieb ich einen Augenblick stehen; dann trat ich
näher und fragte, ob sie mich noch kenne. Sie freute sich gleich
herzlich, mich wieder zu sehen, und sprach bald so viel lind so ha¬
stig, daß ich mit meinen Fragen nicht zu Worte kommen konnte. So
war ich mit ihr bis zur Schloßfreiheit gegangen, wo sie in eine
Droschke stieg und sagte: Sie werden so Manches verändert finden,
besuchen Sie uns einmal, wir wohnen in der Louisenstraße. Sie
nannte mir noch die Hausnummer und fuhr davon. Ueberrascht
stand ich da, die liebe Erscheinung hatte zu unerwartst vor mir ge¬
standen und war mir zu schnell wieder entschwunden. War es noch
dieselbe blühende Charlotte, oder täuschte mich der Abend, daß ich
in ihren Zügen den Ausdruck geheimen Leidens las? Am anderen
Morgen machte ich mich auf den Weg nach der Louisenstraße. Ich
fand Charlotte allein in elegantem Neglige in einem prächtig einge¬
richteten Zimmer. Sie empfing mich, ganz nach ihrer früheren Weise,
ich mußte mich ihr gegenllbersetzen und konnte nun auch beim hellen
Tageslichte den Vergleich anstellen. Sie war noch dieselbe, ihr
Gesicht hatte nur seine blühende Frische und ihr Auge den blenden¬
den Glanz nicht mehr, sie war bleicher, und fast möchte ich sagen,
schöner geworden; ihre Haltung ernst und stolz, aber in ihrem Wesen
etwas Gebrochenes, Wehmüthiges, das mit ihrer reichen Umgebung
auffallend contrastirte. Ich saß ihr zerstreut und fast stumm gegen¬
über und betrachtete sie nur. Sie bemerkte meine Verlegenheit und
hob endlich nach einem langen tiefen Seufzer an: „Sie fragen mich
nicht nach meinen, nach meiner Familie Verhältnissen. Sie wollen
nicht zudringlich scheinen und ich ehre Ihr Schweigen. Doch weiß
ich, daß Sie früher ein aufrichtiges Interesse an uns genommen,
unser treuer Hausfreund waren. Nun, so nehme ich auch gar keinen
Anstand, Ihnen ohne Hehl mein und mein»r Familie Schicksal zu
erzählen. Bald nachdem Sie fort waren, traten bedeutende Verän¬
derungen bei uns ein. Der Baron war wieder zu uns gezogen und
eine Neigung, die ich schon seit Jahren für ihn gefühlt, aber immer
unterdrückt und tief in mir verschlossen hatte, fing mit einem Male
an, zu so Heller leidenschaftlicher Flamme aufzuschlagen, daß ich sie
nicht mehr bemeistern konnte. So viele und schreckliche Dinge gegen
ihn sprechen mögen, ich kann sagen, <r hat mich aufrichtig geliebt
und das nahe Beisammenwohnen ließ bald ein festes Einverständnis;
entstehen. In dem engen Stübchen meiner Eltern auferzogen, hatte
ich die Leidenschaft nicht gekannt und mich stark gegen sie geglaubt,
jetzt von ihr bezwungen, folgte ich ihr blindlings nach. Doch wußte
ich sie, da ich mich ja ihrer schämen mußte, so geheim zu halten,
daß selbst meine Schwester Therese Nichts merkte, in der ich, zu mei¬
nem größten Schrecken, bald dieselbe leidenschaftliche Liebe entdeckte.
Sie war zu lebhaften Temperaments, um dies verbergen zu können,
und ich hatte nicht mehr den Muth, sie schulmeisterlich zurecht zu
weisen. Da Alfred übrigens gegen uns Beide gleich freundlich war,
konnte Keiner mein Verhältniß zu ihm errathen. Noch heut aber
kann ich beschwören, daß meine Liebe weder dem Baron, noch dem
reichen Manne in ihm galt. Doch will ich Ihnen hier nicht die
Geschichte meiner inneren Leiden und Kämpfe erzählen. Alfred ver¬
langte endlich das höchste Opfer von mir, ich sollte ihn auf einer
Reise begleiten, da er Berlin schnell verlassen müsse. Meine Eltern,
arme, aber ehrbare Leute, hätten dies nie zugegeben, ich mußte also
heimlich mit ihm entfliehen und in dem Zusammenleben mit dem
Geliebten den einzigen Trost für meinen nagenden Gram suchen. Ich
schrieb in«hrere Male an meine Eltern, bat sie unter heißen Thränen
um Verzeihung, erhielt aber keine Antwort. Wir gingen nach'Carls¬
bad, als der Sommer vorüber war, von da nach Wien und lebten
so abwechselnd zwischen beiden Städten drei Jahre lang. Alfred hatte
mich mit allem Glänze seiner Verhältnisse umgeben, brachte mich
aber nie mit Jemand von seinen Bekannten in Berührung. Die
Nächte saß ich oft ganz allein und erwartete ihn mit der heißesten
Sehnsucht. Wenn er bleich und verstört des Morgens in'S Zimmer
trat, und ich ihn fragen wollte, wo er gewesen, blickte er mich ge¬
wöhnlich so finster an, daß ich verstummte. Ich hatte in den be¬
schränkten Kreisen meiner Jugend die Welt zu wenig kennen gelernt,
um sein Treiben errathen zu können und in seiner Nähe vergaß ich
Alles, was mich in seiner Abwesenheit betrübte, selbst mein trauriges
Verhältniß zu ihm; ich hatte während dieser Jahre kaum einen Mer>
schen außer ihm gesprochen, noch von meiner Heimath, von meinen
Lieben etwas erfahren, doch war mir, als hätte ich Nichts verloren
und Alles, das Höchste gewonnen. Doch sollte mir dies Glück bald
grausam vernichtet werden. Hören Sie! Einmal Nachts — in Carls¬
bad — saß ich, wie gewöhnlich, noch wachend auf, als aus den
unteren Zimmern des Hotels, in dem wir wohnten, ein verworrenes
Geräusch zu mir heraufdrang. Der Lärm verbreitet sich über
die Straße, ich unterscheide Männerstimmen, höre Alfred's Namen
rufen. Mit Blitzesschnelle stürze ich die Treppe hinunter, in das
Zimmer, woher der Lärm dringt. Verlangen Sie nicht, daß ich Ihnen
die Scene schildere, die ich hier erblickte: einen großen grünen Tisch,
auf dem Gold und Spielkarten umhergestreut lagen, und Alfred, der
sich am Fußboden mit blutender Stirn unter den Mißhandlungen
einiger Männer wand. Ich stürzte mich unter die Wüthenden und
glaubte ihn schon gerettet in meinen Armen, da erschien die Polizei.
Er war ein falscher Spieler. Halb wahnsinnig stand ich da, einer
der umstehenden Herren nähert sich mir mitleidsvoll, befiehlt seinem
Bedienten, den Arzt zu rufen, und führt mich auf mein Zimmer, wo
ich nach einer vierstündigen Ohnmacht endlich zur schrecklichsten Ver¬
zweiflung wieder erwachte. Seit jener Nacht habe ich Alfred nicht
wieder gesehen, noch etwas von ihm gehört. Man hatte ihn fest-
gesetzt und mich, da ich mich weder durch meinen Paß, noch sonst
legitimiren konnte, in Gesellschaft von allerhand Gesinde! über die
Grenze geschafft. In Dresden, wo ich erkrankte, war mir das wenige
Geld ausgegangen, das ich noch besessen; ich wollte eben zu einem
Juwelier gehen und meinen Schmuck verkaufen, als ich auf der
Brücke demselben Herrn begegnete, der mir in jener Nacht so hilf¬
reich war. Er begrüßte mich achtungsvoll und freundlich, ich faßte
Zutrauen und erzählte ihm in meiner Angst mein Schicksal. „Dem
ist bald abzuhelfen", antwortete er, „wir sind ja Landsleute, ich bin
auch aus Berlin und fahre so eben mit Ertrapost dorthin. Wenn
Sie meine Begleitung annehmen wollen, so fahren Sie mit mir."
In diesem Augenblicke wäre Sprödigkeit nur Dummheit gewesen, ich
mußte mich, auf gut Glück, dem fremden Manne anvertrauen. Ich
kann Ihnen meine fürchterliche Angst während dieser Reise nicht mit
Worten schildern. So sollte ich nun plötzlich wieder nach Berlin
kommen. Wohin aber in meiner Lage dort gehen? An wen mich
wenden? Natürlich an meine Eltern. Werden sie mich aber auf¬
nehmen? Und wenn sie es nicht thun, wie und wovon dort eristiren?
Dies Alles schwirrte mir wie ein wirrer Traum unaufhörlich vor der
Seele und wurde zur wahren Verzweiflung, als ich, in Berlin ange¬
langt, nach der Aleranderstraße komme. Das Haus hatte einen an¬
deren Besitzer, war von ganz anderen Leuten bewohnt, man kannte
den Namen Thümmel nicht mehr. Der fremde Herr hatte mich am
Thore abgesetzt und in einer Droschke hierher fahren lassen, ich wußte
weder seineu Namen, noch seine Wohnung, er hatte versprochen, mir
meine Sachen hierher zu schicken und ich mußte die fremden Leute,
die mich ganz verwundert ansahen, flehentlich bitten, sie nur in Em¬
pfang zu nehmen. Der Abend war hereingebrochen, und ich lief,
obdachlos und ohne Geld, wie eine Verzweifelte, Rasende, durch die
Straßen meiner Vaterstadt. So war ich wohl schon eine Stund»
planlos umhergeirrt und noch dazu von jungen und alten Lassen ver¬
folgt worden, als mir auf dem Schloßplatze ein junges Frauenzimmer
entgegenschritt, deren Gestalt mir schon von Weitem bekannt schien.
Ich traute anfangs meinen Augen nicht, sie war großer und schlan¬
ker geworden, aber sie war es, Auguste, meine jüngste Schwester.
Welch ein Wiedersehen! Wir lagen so lange laut schluchzend Mund
an Mund, daß die Vorübergehenden stehen blieben und einen Kreis
um uns bildeten. Wir mußten uns erst erholen, um weiter gehen
zu können. Auguste ging schweigend neben mir her und ich war so
betäubt, so zerrissen, daß ich weder fragen noch erzählen konnte. Ich
ließ mich mechanisch von ihr fortziehen und erwachte nach einigen
Stunden in einem freundlichen Zimmer. Vor dem Bett, in dem ich
lag, saß Auguste und weinte. „Wo ist der Vater, die Mutter und
Therese" rief ich, „sie wollen mich nicht sehen, sie verachten mich?"
Auguste seufzte wieder tief und schwieg; ich konnte sie kaum durch die
heftigsten Bitten bewegen, mir die traurige Antwort auf meine Fra¬
gen zu geben. Bald nachdem ich fort war, war mein Vater heftig
erkrankt. Dadurch geriet!) die Arbeit ins Stocken, und die bitterste
Noth trat ein. Mein Vater wurde in die Charitv gebracht, wo er
nach einigen Tagen starb. Wo sein Grab ist, weiß ich nicht. Mei¬
ner Mutter wurde nun, da der Wirth ihr Elend sah, die Wohnung
gekündigt. Meine Mutter mußte sich nun zum ersten Male an die
Armenverwaltung wenden, und es wurde ihr nach genauer Prüfung
der schrecklichen Verhältnisse monatlich ein Thaler bewilligt. In dieser
Zeit war es, wo sie mir die Gelder zurückschickte, die ich ihr heim¬
lich übersandt hatte. Was ich Ihnen jetzt noch erzählen könnte, ist
eine Reihe der fürchterlichsten Leiden, ein Gemisch von Unbarmher-
zigkeit, Treulosigkeit und Gemeinheit. Sie wissen, daß Auguste sehr
schön war, und ahnen vielleicht schon, daß ich sie allein in einem
meublirten Zimmer fand. War ich das Opfer eines Mannes gewor-
den, den ich nur durch seine Leidenschaften, durch seine Erziehung un¬
glücklich, Nie aber schlecht nennen kann, so war sie das eines Gecken.
Sie erinnern sich vielleicht, daß sie damals oft später als sonst nach
Hause kam. Jene Freundin, die sie zu besuchen vorgab, war ein
hiesiger Banquierssohn, der sich auf ihrem Heimwege zu ihr gesellt
hatte und dem es nicht viel Mühe kostete, in ihrem schwärmerischen
Gemüthe eine Leidenschaft für sich zu erwecken. Die Bekanntschaft
wurde längere Zeit heimlich fortgesetzt, bis er sie, zur Zeit der höch¬
sten Noth, von der Mutter wegnahm und bald darauf verließ. Sie
wollte zur Mutter zurück, mit ihr hungern und darben, für sie Tag
und Nacht arbeiten, aber diese stieß sie von sich in das Elend. Fra¬
gen Sie nicht, wo sie jetzt ist.
— Wo aber ist jetzt Ihre Mutter und Ihre Schwester Therese?
frug ich endlich.
Sie ist sehr krank und wohnt bei einer armen Arbeiterfamilie.
Therese will Nichts von mir wissen, sie soll erzittern, wenn sie meinen
Namen hört, und geäußert haben, ich sei ihre Schwester nicht. Warum
sich das arme Mädchen von mir hintergangen glaubt, werden Sie
erfahren, wenn Sie sie einmal sprechen. Es ist mir unmöglich, Ihnen
auch dies noch zu erzählen. Sie wäscht und strickt für mehrere unserer
alten Kunden und ernährt sich ganz kümmerlich. Doch besuchen Sie
sie einmal. Sagen Sie aber nicht, daß Sie von mir kommen, mein
Name darf dort nicht genannt werden, ich darf mich nur Abends
spät hinschleichen nach dem kleinen Hause in der Hamburger Straße,
um oft lange oder vergebens auf ein Kind zu warten, bei dem ich
ein Paar ärmliche Erkundigungen einziehen kann.
Nun aber bin ich Ihnen, von dieser Eleganz umgeben, el»
Räthsel. Hören Sie mein weiteres Schicksal und richten Sie mich
dann mit Ihrer Vernunft und Ihrem Herzen. Ich war bei meiner
Schwester geblieben, hatte Alles nach und nach verkauft, was ich
noch besessen, und mir während der Zeit Mühe gegeben, Arbeit für
uns Beide zu schaffen. Als dies nicht gelang, wollte ich nur irgend
eine anständige Stelle suchen. Da ich mich aber über mein bishe¬
riges Leben nicht genügend ausweisen und Leuten, die dies nicht
verstanden und gefühlt hätten, nicht sagen konnte, daß ich durch Liebe
unglücklich geworden sei, wurde ich von den Hallsfrauen., als zwei¬
deutig, zurückgewiesen. Ich bot mich zu der schwersten, gröbsten Ar-
bei! an, die ich gewiß nicht mehr ertragen hatte, aber die Leute sahen
mich verwundert an und sagten, daß sie Mädchen, die so vornehm
aussähen, nicht brauchen könnten. Auch Augustens Bemühungen
waren fruchtlos, und sie wurde bald von der Polizei in das Arbeits¬
haus gebracht. Von da ist sie dorthin gewandert oder vielmehr ver¬
schachert worden, wo sie jetzt ist. Ich war bald dem fürchterlichsten
Elende Preis gegeben und lief, als ich endlich die Wohnung ver¬
lassen mußte, wieder einen ganzen Tag lang, obdachlos durch die
Straßen von Berlin, da traf ich — nicht zu meinem Glücke — den
reichen Herrn, der mich von Dresden hierher gefahren. Er erkannte
mich gleich wieder, obwohl ich, durch Hunger und Elend entstellt, in
diesem Augenblicke kaum noch wanken konnte. „Ich habe Sie schon
längst aufgesucht", sagte er, „um mich nach Ihnen zu erkundigen,
konnte Sie aber, trotz aller meiner Bemühungen, nirgends finden.
Ich danke dem Schicksale, das mich Ihnen heute entgegenführt, kom¬
men Sie nur mit mir, ich kann Ihnen helfen." Er reichte mir seinen
Arm und führte mich in ein großes Haus zu einer schon ältlichen,
etwas sehr umfangreichen und geputzten Dame, die uns herzlich em¬
pfing und auf seine Bitte, sie möchte mich ein Paar Tage bei sich
logiren, da sein Haus schon mit Gästen besetzt sei, mit Vergnügen
einging. Ich stärkte und erholte mich wieder etwas in den hellen
freundlichen Räumen und war schon freudig von dem Antrage der
Dame überrascht, ihre Wirthschaftsgchilsin zu werden, als mir durch
verschiedene Zufälle ihr Charakter klarer zu werden anfing. Eine
fürchterliche Angst ergriff mich, ich wollte bei Nacht heimlich entflie¬
hen. Wohin aber? Auf die Straße hinaus, um der Polizei in die
Hände zu fallen? Ich war gezwungen, Alles zu ertragen und konnte
nur Pläne machen, wie ich den schändlichen Ort bald verlassen könne.
Der Herr besuchte uns öfter, und seine anfangs schüchternen, leisen
Anträge fingen an zudringlicher zu werden; ich wies sie mit Verach¬
tung zurück. Da kündigte niir Madame Stelle und Wohnung und
so — hier horte Charlotte auf, noch leichenblaß von der langen,
angreifenden Erzählung; wir hörten Fußtritte auf der Treppe. „Sie
dürfen nicht länger hier verweilen", sagte sie, indem sie schnell auf¬
stand und einen grünen Vorhang auseinanderzog, der eine Thüre
verdeckte, welche zu einer Hintertreppe führte. Ich folgte schweigend
dieser Pantomime. Doch konnte ich meine Begierde nicht unterdrük-
la, mich noch einmal umzuwenden und auf den eben Eintretenden
einen Blick zu werfen. Es war der Herr Rentier C., der glückliche
Familienvater, der „Engel seiner Frau", der Mann, der Anständig,
keit halber keine öffentlichen Locale besucht, der so edle, uneigennützige,
großmüthige Wohlthäter eines armen, verzweifelten, durch ihre reine
Liebe unglücklich gewordenen Weibes.
Nun aber drängte es mich, die Mutter und Therese aufzusu-
chen; ich hatte mir die Hausnummer genau gemerkt und ging gegen
Abend hin. Ich trat in ein ziemlich großes, aber niedriges und fin¬
steres Zimmer. Ein Mann in Hemdärmeln saß auf einem hölzernen
Stuhl und rauchte, eine Frau, wahrscheinlich die seinige, war eben
damit beschäftigt, Kartoffelstückchen in einen Tiegel zu schneiden. Auf
dem Fußboden saßen mehrere schmutzige Kinder, die einen betäuben¬
den Lärm machten. Oben am Fenster stand ein Bett, darin lag ein
entstelltes, schon halbtodtes weibliches Wesen, das Gesicht verzerrt,
die dürren, zitternden Knochenhände auf der dünnen Decke. Das
war Madame Thümmel. Vor dem Bette saß eine bleiche, abge¬
zehrte Hungergcstalt, auf ihrem Schooße einen etwa dreijährigen
Knaben, den sie immer an sich drückte und küßte. Das war die,,
muntere, lebenslustige Therese. Die Mutter, schon ganz stumpf und
abwesend, konnte sich meiner nicht mehr erinnern, Therese aber lä¬
chelte gleich, und es fuhr über ihre immer noch schönen Züge wie
ein freudiger Strahl der Erinnerung an eine bessere, glänzende Zeit.
Hier erfuhr ich auch, was mir Charlotte nur andeuten wollte. Das
Kind auf Theresens Schooße war das ihrige und der Sprößling ei¬
nes Verhältnisses mit Alfred. Sie trug es unter ihrem Herzen, als
er mit Charlotten heimlich abreiste. Dies ist die wahre Geschichte
dreier armen Berliner Mädchen, die es sich hatten einfallen lassen,
der freien Neigung ihres Herzens zu folgen.
Jedermann weiß, daß in der französische» Malerschule ein offe-
nes Schisma ausgebrochen ist. Zeichnung und Kolorit, diese beiden
rivalisirenden Seiten der Malerei, sind durch zwei ausgezeichnete
Männer vertreten, die sich ebenso durch ihre Vorzüge, wie durch ihre
Fehler von einander unterscheiden. Ihr Gegensatz ist vollkommen,
aber er datirt sich nicht von gestern und ist auch nicht der Malerei
eigenthümlich, sondern findet sich in allen Zweigen der menschlichen
Erkenntniß; es ist der ewige Gegensatz des Geistes und deS Fleisches,
deS Idealen und des Realen, deS symbolischen und des Wirklichen,
er herrscht eben so gut zwischen Plato und Epikur, wie zwischen der
römischen und flamändischen Schule; Raphael und Rubens sind
in der heutigen französischen Malerei durch Ingres und Dela-
croir repräsentirt. Diesen beiden Parteihäuptern stellt sich ein drit¬
ter Meister zur Seite, der mit einem mehr oder weniger glücklichen
Mektizismus, ohne geradezu Raphael oder Rubens nachzuahmen, die
beiden sich gegenüberstehenden Schulen in eine gemischte und unent¬
schiedene Manier zu versöhnen strebt: dies ist Delaroche. Außer¬
halb dieser drei gesonderten Lager steht ein gewandtes, kühnes, geist¬
reiches Talent, welches zu allen und zu keiner Fahne schwört, wel¬
ches mit gleicher Lebhaftigkeit ein historisches Bild, ein Schlachtstück,
ein Genreftück, eine Marine und ein Porträt matt und, was es an
Tiefe verliert, an Vielseitigkeit gewinnt. Dieser kühne Jmprovisa¬
tor auf der Leinwand, dieser so vorzugsweise französische Maler, die-
ser glückliche Halblaie, dem die Popularität nach Gebühr anheimfällt,
denn er bringt jedes Jahr Gemälde in dem Ueberfluß hervor, wie
ein Apfelbaum Aepfel, ist Horace Verner, den wir bereits ge¬
ildertaben.
Als es David, dem berühmten Maler des Schwures der Ho-
ratier, endlich gelungen war, Boucher und Watteau zu entthronen,
folgte die französische Malerei der Hinneigung zur antiken Kunst mit
aller Uebertriebenheit einer Reaction. So wie man Reifrock und
Perücke, Dinge, die mit der neuen Zeit des Jahres 1793 in so gro¬
ßer Disharmonie standen, verlassen hatte, warf man sich mit Leiden¬
schaft auf daZ Nackte. Ich glaube selbst, daß der SanScülottismuö
weiter Nichts war^ als eine Reminiscenz der antiken Kunst. Die
neue französische Kunst glich der griechischen wie eine schöne, geist¬
reiche und gewissenhafte Uebersetzung; es fehlte Nichts, als der grie¬
chische Himmel und die Zeit des Perikles. Sie war eine schöne,
ausgegrabene Leiche, die gleich dem Rosse Roland'S keinen anderen
eleratte als dae todt war.
,
David, der damals den Raub der Sabinerinnen vollendet hatte,
wurde als der König der Malerei ausgerufen, und zahlreiche Schü¬
ler strömten aus allen Gegenden Frankreichs in sein Atelier. Unter
den hoffnungsvollsten seiner Schule war Einer, den er wegen seines
Eifers, wegen der Schnelligkeit seiner Fortschritte und der frühen Fe¬
stigkeit seiner Hand vorzüglich auszeichnete.
Dies war ein Jüngling aus dem südlichen Frankreich, mit
schwarzen Augen, lebhaft, begeisterungsfähig und entzündlich — es
war Inres.
Jean Auguste Ingres, dessen Vater Zeichnenlehrer in Toulouse
war, war 1781 in Montauban geboren und zeigte schon in seiner
Kindheit eine entschiedene Neigung zur Malerei. Sein Vater hatte
jedoch beschlossen, einen Musiker aus ihm zu machen, und der junge
Ingres lernte das Violon spielen, mit dem stillen Vorbehalte, doch
ein Maler zu werden. Endlich gelang es ihm auch, seinem Vater
die Einwilligung, seinen, Geschmack zu folgen, abzubringen, und er
machte sich in seinem sechszehnten Jahre nach Paris auf den Weg.
Kaum befand sich der Schüler zwei Jahre in dem Atelier des
Meisters, so fühlte er auch schon seine Begeisterung abnehmen; die
mythologische Kunst konnte seine Seele nicht ausfüllen. Eine innere
Stimme sagte ihm, daß daS Schöne wo anders zu suchen sei, als
in der Nachahmung der kalten griechischen Formen, lind in den ta¬
dellosen Conturen von David's Schule suchte er vergebens nach
Gefühl, Bewegung und Leben. Mit dem ganzen Ungestüm eines
Gaöcogners machte der junge Ingres kein Hehl aus der ketzerischen
Richtung seines Geschmackes.
Im Jahre 1800 gewann er den zweiten großen Preis der Ma¬
lerei und im nächsten Jahre den ersten, und wurde nun nach Rom
geschickt.
So wie der junge Künstler den Boden Italiens berührt hatte,
entwickelte und befestigte sich in seinem Geiste das Ideal der großen
Meister des 16. Jahrhunderts, das er schon von Kindheit an ver¬
ehrt hatte. Von diesem Augenblicke an hat sich dieser Künstler, au-
ßer im Unwesentlichen, weder in seiner Technik, noch in seinem künst¬
lerischen Glauben geändert. Diese Unbeweglichkeit Ingres' ist viel¬
leicht die charakteristischste Seite seines Talentes. Zwanzig Jahre
lang ist er einsam, unverstanden, verkannt, ausgesetzt allen Versuch¬
ungen der Noth und des Tadels, aber immer sest und ungestört
seinen Weg gegangen. Endlich hat ihn seine Zeit anerkennen müs¬
sen, ohne daß er ihr eine einzige Concession gemacht hätte, und das
Haupt der heutigen französischen Schule kann auf seinen Weg zu¬
rückblicken, ohne einen Tag seiner Vergangenheit verläugnen zu müssen.
1804 hatte Ingres ein Porträt Napoleons für den Saal des
gesetzgebenden Körpers zu malen. Dies Bild fand wenig Anerken¬
nung. Die David'sche Schule genoß noch einer ausschließenden
Herrschaft, und Ingres' Versuch, eine neue Manier einzuführen, wurde
nicht günstig aufgenommen. Man verkannte sein überwiegendes Ta¬
lent als Physiognomiker, welches von den glänzenden und augenfäl¬
ligen Äußerlichkeiten der militärischen Schule in Schatten gestellt
wurde, und sah in ihm noch Schlimmeres als einen Neuerer: einen
Abtrünnigen.
In den Jahren von 1805—13 gingen nacheinander aus seinem
Atelier hervor: Oedipus und die Sphinr, eine Schlafende, eine Frau
im Bade, Jupiter und Thetis, die Odaliske, für den König von
Neapel, Virgil, die Aeneide dem Augustus und Octavian vorlesend,
Ossians Schlummer, die sirtinische Kapelle; und mehrere Porträts,
darunter das des Herrn Norvins, damals Chef der Polizei des Ki»
chenstaates, ein Bild, in dem Ingres das schöne physiognomische Ta¬
lent zeigt, welches wir später an andern Porträts bewundern werden.
1814, als die französischen Truppen den Kirchenstaat geräumt
hatten, trat für Ingres eine Periode großer Entbehrungen und Leiden
ein. Ohne andere Hilfsmittel als sein Talent, kämpfte er mühselig
gegen die Widerwärtigkeiten des Lebens.
Doch gerade in solchen Perioden brachte Ingres seine Haupt¬
werke hervor. Die Noth hat das Gute, daß sie zur Thätigkeit zwingt;
und so wie es manche Naturen gibt, die nur in freiwilliger Thätig¬
keit nach der Verwirklichung des Schönen streben können, so gibt es
andere, die auf dem Wege äußerer Nöthigung dasselbe Ziel erreichen.
Aus dieser Zeit stammen die Gemälde: Raphael und Fornarina, der
Marschall von Berwi-et, Christus übergibt die Schlüssel des Himmels
dem Se. Petrus (für die Kirche l^-init-t ack meinte- in Rom); Fran-
cesca ti Rimini; Don Pedro de Toledo; Papst Pius VII., Messe
lesend; Karl's V. Einzug in Paris nach der Vertreibung des Herzogs
von Burgund; der Tod Leonardo da Vinci's; Heinins IV., mit seinen
Kindern spielend.
Trotz verschiedener Sendungen in den Salon, war JngreS,
schon so berühmt in Rom, 1824 seinem Vaterlande noch fast unbe¬
kannt, als er zur Ausstellung das Gelübde Ludwig's XIII. schickte.
Der Zeitpunkt war ein sehr glücklicher. Die Glanzepoche der Da-
vid'schen Schule war vorüber; man war des Basreliefstyls müde;
die Farbe, so lange von der Zeichnung unterdrückt, strebte wieder
nach der Herrschaft; man schwur nur noch bei Titian und Paul
Veronese, Rembrandt und Rubens; der Mensch fing an in Stoffen
und Waffen zu verschwinden; das Gold, die Seide, das Eisen und
der Sammet vertraten die Stelle der Gedanken und der Begeisterung;
uno man war aus der kalten Nachahmung der Antike in die schim¬
mernde und kleinliche der venetianischen und flamändischen Schule
verfallen, als Ingres mit einem seiner schönsten Werke in den Schran¬
ken erschien. Als Zeichner ebenso correct und streng wie David,
hatte er Italien die Idealität der Konturen, die Reinheit der Formen,
das schöne Leben zu verdanken, welche er aus der beständigen Be¬
trachtung der Meisterwerke der römischen Schule geschöpft hatte.
Das Gelübde Ludwig's XIII. machte ein außerordentliches Aufsehen;
es war ein schlagendes Argument zu Gunsten des Spiritualismus
und zwei Jahre später besiegte das Hauptwerk des Künstlers, die
Apotheose Homers (im Louvre), in dem sich die plastische Schönheit
der Griechen mit der idealen Schönheit der Neuern vereinigt, auch
die hartnäckigsten Widersacher. Ingres trat fast mit einem Schritt
aus der Dunkelheit in den glänzendsten Ruhm und wurde in das
Institut aufgenommen.
Die Bewunderung hatte noch zurückwirkende Kraft, und man
fand jetzt auch die Schönheiten der frühern, wenig beachteten Ge¬
mälde Ingres'; man erkannte an, daß Ingres als Porträtmaler eine
wahre Revolution hervorgebracht habe; und da er später bei dem
Porträt des ältern Berlin bewies, das; man mit einem einfachen
Ueberrock, einem schlechten Sessel, und einer hübschen Gestalt ein
Meisterwerk malen könne, ohne seine Zuflucht zu Sammt und Spitzen
zu nehmen, rief man einstimmig, daß Niemand besser als Ingres
die wahre menschliche Schönheit, die Schönheit der Seele, begriffen
und auf der Leinwand festgehalten habe.
Jedoch glaubten die Coloristen noch nicht an ihre Niederlage;
nicht zufrieden, Ingres' Fehler — sein oft graues Licht, ein hartes
und kaltes Colorit a.-zugreifen, beschuldigten sie ihn auch, Nichts als
ein sklavischer Nachahmer Raphael'S zu sein.
An das Märtyrerthum des heiligen Svmphoricm (ausgestellt
1834) knüpfte sich ein lebhafter Kampf der Kunstkritiker über Ingres'
Künstlerweg; das Bilo wurde vom Neid auf das brutalste begeifert,
und von dem Publicum nicht verstanden. Die Menge stieß sich an
den zwei Lictoren im Vordergrund des Gemäldes; sie lachte über
diese überkräftige Muskulatur, diese ungeheuern Köpfe und über¬
menschlichen Beine; die Kritik fiel ebenfalls mit Leidenschaft über
diese beiden Lictoren her, und das Ensemble des Bildes blieb fast
unberücksichtigt. Vielleicht hat die französische Schule kein kühner
ausgeführtes Gemälde aufzuweisen. Es scheint fast, als habe Ingres
zeigen wollen, daß ihm Energie und Leidenschaft nicht fremder seien,
alö Schönheit und Grazie.
Die, welche diese verwickelte Composition nicht verstanden, IM
ten es offen sagen sollen; sie fanden es aber angemessener, den
Künstler mit Schmähungen zu überhäufen. Ingres ist gegen die
Kritik sehr empfindlich; er ist ein wahrer Typus des leichtvcrletzlichen
und entzündlichen Künstlergeschlechts. Ein Gelehrter, dessen Namen
ich vergessen habe, sagte mir eines Tages: „Ich bin ein Schwamm
für das Lob, und eine Wachsleinwand für den Tadel/' Ingres ist
aber ein Schwamm für Lob und für Tadel; anstatt die Schmähungen
der Unwissenheit und des Neides mit der überlegenen Ruhe, der
geeignetsten Waffe des Genies, anzuhören, hat er die Schwäche, sich
dadurch zu betrüben, und dle'noch größere, sich entmuthigen zu lassen.
Ich habe mich oft gefragt, wozu die Kritik, wie sie heut zu Tage
beschaffen ist, überhaupt nütze,.'.und ob sie nicht auf manche Men-
schen geradezu schädlich wirke. Ursprünglich der Dollmetsch zwischen
dem Publicum und dem Künstler, die Auölegerin der Gedanken des
Letztern, hat sie sich bald von diesem Amte losgemacht; anstatt bloße
Berichterstatterin zu sein, ist sie Richterin geworden, und was das
Echo sein sollte, ist jetzt die Stimme, und was die Stimme, das
Echo geworden. Von diesem Augenblick an gibt es eigentlich kein
öffentliches Urtheil mehr. Eigentlich hätten Publicum und Künstler
bei dieser Veränderung gewinnen müssen, wenn die Leiterin der öf¬
fentlichen Meinung die Wissenschaft und die Unparteilichkeit des Rich¬
ters gehabt hätte. Aber in ihrem Tadel eben so maßlos wie in ih¬
rem Lobe, sieht der Künstler in ihr nur eine ihm günstige oder un¬
günstige Parteistimme, und achtet sie entweder zu viel oder zu wenig.
Auch auf Ingres hat sie einen nur nachtheiligen Einfluß geübt;
er läßt sich zu leicht von ihr entmuthigen und hört ganz oder fast
ganz auf zu schaffen, was zugleich ein Unglück für die Kunst und
den Künstler ist.
1835 wurde JngreS zum Nachfolger Horace Vernet's als Vor¬
steher der französischen Academie in Rom bestimmt, eine Stelle, die
er mit Vergnügen annahm, um sich an den Werken Raphael'S, sei¬
nes göttlichen Meisters, für die Verkennung seiner Zeitgenossen trösten
zu können. Die Frucht dieses Aufenthaltes in Rom war die Stra-
tonice, welche er im Auftrage des Herzogs von Orleans malte.
Bald darauf verließ JngreS abermals Rom und kehrte nach Frank¬
reich zurück, wo er seitdem von dem Herzog von Luynes beauftragt
worden ist, die Galerie des Schlosses Dampierre zu malen. Dem
Vernehmen nach wird ihn diese Arbeit mehrere Jahre lang beschäf¬
tigen.
Die Hauptschwäche unsers Künstlers besteht in dem schlechten
Colorit, welches sich vorzüglich in der Färbung des Fleisches und dem
trüben Lichte verräth. Ingres hat eine Ansicht von der Kunst, die
von der gewöhnlichen weit abweicht. — Ich kann nur malen, was
ich nicht gelernt habe, sagte er eines »Tages zu einem Freunde. Sein
ganzer künstlerischer Charakter zeigt sich in diesem Ausspruch; hieraus
läßt sich die oft schroffe Ve^achtur/g gegen die materiellen Mittel der
Kunst erklären, jener Despotismus Keö Gedankens in der Anordnung
der Komposition, jene Nachlässigkeiten «oder Uebertreibungen in der
Anatomie, wohl auch Verletzungen Aer Gesetze der Perspektive, wie
im Se. Symphorian, wo die Mutter d<s Märtyrers so steht, daß
der Sohn sie unmöglich sehen kann. Doch ^können so leichte Flecken
einen so gerechten Ruhm nicht verdunkeln. Hat doch jedes Genie
die seinigen!
Eine andere, jetzt seltene Eigenschaft Ingres' ist seine Uneigen-
nützigkeit und sein edler Künstlerstolz. Der Maler der Apotheose
Homers ist arm; er hätte reich sein können, sehr reich, aber er wollte
es nicht. Vergebens sieht er rings um sich die Kunst zum Hand¬
werk werden, vergebens hat die Spekulation an seine Thür geklopft
und ihm Gold geboten: er hat der Versuchung widerstanden, seinen
Pinsel zu entheiligen und aus seinem Ruhme Gewinn zu ziehen.
Inmitten dieser Menge, deren Treiben kein anderes Ziel kennt, als
den klingenden Beifall des Haufens, ist Ingres seiner Kunst treu
geblieben und hat ihr heiliges Feuer in seinem Herzen wie in einem
Allerheiligsten verschlossen. Jedes seiner Werke ist reif überdacht und
gewissenhaft ausgeführt; oft hat er die Fabel der Penelope selbst ge¬
spielt; oft selbst hat man dem Künstler ein schon längst vollendetes
Gemälde entreißen müssen, daS er mit immer neuer Sorgfalt retou-
chirte und das er sich nicht entschließen konnte, aus den Händen
zu geben.'
Was den allgemeinen Charakter Ingres als Künstler betrifft,
so ist er durchaus nicht ein so fanatischer Verehrer Raphael's, wie
man ihm nachsagt. Er liebt die antike, namentlich die griechische
Kunst, aber zwischen ihm und der David'schen Schule findet 'der
große Unterschied statt, daß David in der Antike das Schöne suchte,
während Ingres in der Natur die Antike und das Schöne sucht.
Ihm ist nicht das Ideale eine Schöpfung außerhalb der Natur; es
ist ihm das zu seinem reinsten Ausdruck gebrachte Schöne in dom
Wahren, und das ist es, was Ingres an Raphael bewundert.
Als Mensch wird Ingres trotz seiner südlichen Lebhaftigkeit von
Allen geliebt, die ihn kennen; sein Charakter hat das Gepräge der
Kraft und der Ueberlegenheit. Man kennt den unwiderstehlichen
Einfluß, den er auf seine Schule ausübt; doch ist dieser vielleicht
eher nachtheilig als nützlich. Sein Lehrer David wußte jeden seiner
Schüler auf den für ihn am besten geeigneten Weg zu führen; da¬
her die Selbständigkeit seiner Schüler, sobald sie selbst ausübende
Künstler wurden. Die Manier aller Schüler von Ingres, mit zwei
oder drei Ausnahmen, ist ein und dieselbe. Sie kommen nicht aus
einer sklavischen Nachahmung ihres Meisters heraus, in der die Feh¬
ler übertrieben sind, aber die Vorzüge fehlen; und so ist es zu fürch¬
ten, daß, bei all den glänzenden Eigenschaften, JngreS als Haupt ei¬
ner Schule doch kein anderes Andenken zurücklassen werde, als
seine eigenen Werke.
Der neue Theaterintendant, Landgraf von Fürstenberg, wurde an,
2. Februar dem gesammten Personale des Hofburgthcaterö feierlich vor¬
gestellt. Herr von Holbein behält zwar seinen Titel als Theaterdircctor,
erhält jedoch nun einen obersten Herrn, den er bei Besetzung und An¬
nahme von Stücken in letzter Instanz zu Rathe ziehen muß. Der
Mann, der als unbeschränkter, selbständiger Chef an die Spitze eines
geachteten imponirenden Kunstinstitutcs berufen wurde, hat es durch
seine Aengstlichkeit und ungeschickte, übclangcwandtc Diplomatie dahin
gebracht, daß man ihm von Unten wie von Oben, unter den Schau¬
spielern wie im Publieum, die Capacität zu seinem Amte absprach.
Nun hat er einen Herrn, da er doch ein Mal durchaus Diener sein
wollte, und allgemein ist man damit zufrieden. Der Landgraf von Für-
stenberg ist ein Greis von siebzig Jahren, aber rührig und mit dem
Aussehen eines Fünfzigers. Er hielt eine hübsche warme Antrittsrede
und sagte am Schlüsse, er hoffe, die deutschen Bühnendichter würden
den ausgezeichneten Talenten des Burgthcaters Gelegenheit gebe», in
vielen neuen Stücken ihre Kraft zu entwickeln. >— Neue Stücke thun
dem Burgtheater in der That Noth. Kotzebue und Jffland sind seit
langer Zeit sein tägliches (altbackenes) Brod. Halm'S Sampiero ist
leider nicht glücklich ausgefallen, obschon er bei der zweiten Vorstellung
bedeutende Abänderungen gemacht hat. Beim ersten Male wurde Sam¬
piero, nachdem er seine Frau erstochen, alsogleich von ihrem Bruder
niedergemacht. Dieses Gemetzel machte, statt eine tragische, eine komi¬
sche Wirkung und war theatralisch ganz unglücklich. Bei der
zweiten Aufführung ließ der Dichter seinen Helden om Leben, und
nachdem er aus Egoismus und leeren Schönrednereien seine Gattin er¬
mordet, geht der Mörder, von keiner Nemesis erreicht, ganz gemüthlich
ab, waS den nothwendigen dramatischen Schluß des Stückes ganz
vernichtet und einen empörenden Eindruck hinterläßt. Auch ist mit
einer Abänderung des Schlusses dem Drama nicht zu helfe», da die
Hauptkrankhcit desselb«, in der verfehlten Charakteristik der beide» Haupt-
Personen liegt Merkwürdig ist dabei folgender Umstand. In dein
ursprünglichen Entwürfe Halm's blieb Sampicro (der Geschichte gemäß)
am Leben. Aber die Censur machte im Interesse der Tugend Einwen¬
dungen und verlangte vom Dichter Bestrafung des Mörders. Der
Dichter gab nach und strafte. Aber nun machte d-is Publicum Ein¬
wendungen und lachte ob des plötzlichen Gemetzels. Der Dichter be¬
schwor die Censur und diesmal gab diese nach und erlaubte, im In¬
teresse des theatralischen Effects, daß der Mörder am Leben bleibe.
Er blieb am Leben. Nun aber kommt die Kritik und macht Einwen¬
dungen im Interesse der dramatischen Gerechtigkeit und daS Publicum
macht Einwendungen im Interesse seines sittlichen Gefühls und die
Censur ruft: Haben wir'S nicht vorausgesagt? Der arme Dichter sieht
sich von allen Seiten verlassen. —
Ein kleiner Geisterspuk macht in den hiesigen Salons viel Re¬
dens. Beim Grafen Traun ist eine fröhliche Gesellschaft versammelt.
Man spricht von Ahnungen, Gespenstern :c. — Wenn ich an Ahnun¬
gen glauben sollte — sagte ein hier sehr bekannter Cavalier, dessen
Gattin seit einiger Zeit verreist ist — so müßte ich denken, meiner
Frau sei ein Unglück widerfahren, da ich in voriger Nacht unwillkür¬
lich erwachte und meine Frau vor mir stehen sah. Glücklicherweise
glaube ich an Nichts. — Am andern Tage kam die Nachricht, die er¬
wähnte Dame sei gestorben. - Die Oeffentlichkeit, mit der der erwähnte
Cavalier seine Bision vorauscrzählte, hat die Geschichte in Aller Mund
gebracht.
Die Nachricht von den Verhaftungen in Posen hat aus nahe
liegenden Gründen hier große Aufmerksamkeit erregt. Indessen sind
gleichzeitig aus Lemberg Versicherungen eingelaufen, daß dort auch nicht
eine Spur aufzufinden sei, die auf irgend ein EinVerständniß oder eine
Gcsammtbcwcgung der Polen schließen ließe. Man hält in diplomati¬
schen Kreisen den ganzen Lärm für eine, von Zeit zu Zeit in Gal-
lizien, eben so gut wie in Posen sich erneuernde List russischer Agenten,
die durch solche ManönvrcS Regierung und Negierte im Mißverständ¬
nisse zu Hetzen suchen, indem sie erstere zu strengen Maßregeln zwingen
wollen, damit die Polen unter deutscher Herrschaft sich nicht glücklicher
fühlen sollen als unter russischer; andererseits aber, indem durch solche
Maßregeln den Slaven das russische Prstectorat als eine willkommene
Sache erscheinen möge. Bei uns hat man dies Spiel längst durch¬
schaut; ob mau auch in Preußen offene Augen dafür haben wird, soll
die nächste Zukunft lehren.
Der Artikel in der Vicdcrmannischcn Monatsschrift über Kübeck
und die österreichischen Finanzen macht hier ein ungewöhnliches Auf¬
sehen. Es sind auf dem Ncvisionsamt allein über hundert Exemplare
des fraglichen Heftes ausgeliefert worden.
In seiner Noth um neue Stücke kramt Herr von Holbein die
allerältesten hervor. Im Laufe dieser Woche kommt der alte Ccisario
von Wolf, neu aufgeputzt, in die Scene. Eine der besten Qualitäten
des Herrn von Holbein ist sein glückliches Gedächtniß; leider spielt ihm
selbst diese gute Eigenschaft manchen schlechten Possen. Da erinnert
er sich z. B. daß dieses alte Stück von Wolf vor dreißig Zähren
sehr gefallen hat, und ganz in jenen glücklichen Zeiten schwelgend, wo
er noch in Prag Thcaterdirector war, hält er das Jahr 1844 für das
Jahr 1814 und tractirt uns mit den Früchten, die dem Publicum von
damals schmeckten. Nun wir wollen sehen, ob er Recht hat und ob
dreißig Jahre in dem Geschmacke der Nation keine Aenderung hervor¬
brachten.
Paris Hut nun ein Monument mehr, um welches Deutschland es
beneiden muß: die Statue Moliüre's. Wohl gemerkt, nicht das Stück
Bronze, daS man in menschlicher Form in der uno KiciMvu aufgestellt
hat, sondern den Tribut, den eine dankbare Nation einem Dichter schenkt
und zu schenken Ursache hat, der den socialen Geist der Nation conso-
lidiren half. Frankreich ist eher um die Statue MoMre'ö zu beneiden
als um die Vendomesäule. Diese verewigt eine fieberhafte Epoche der
französischen Geschichte, die vorüberging, wie sie gekommen; jene aber
repräsentirt den Geist der Nation, wie er sich in einem seiner Haupt-
dichter verkörperte und befruchtend wieder in die Nation zurückfloß und
sie weiter bildete, Deutschland hat die Vendomesäule und ihre Sie-
gcöprahlcrcicn durch Rückeroberungen zu einem leeren Ausrufungszeichen
gemacht, hinter dem man den Satz, auf welchen es sich bezieht, aus¬
gestrichen hat; aber die Statue Molidre's kann -ö nicht zum Lügner
machen: die Eroberungen, welche die französische Gesittung, die franzö¬
sische Gesellschaft und Geistesrichtung bei uns gemacht, find nicht mehr
auszulöschen. Nicht, daß der wirkliche MoMre bei uns eine Bedeutung
»och hätte, gehört er doch selbst in Frankreich mehr der Literaturge-
schichte als de» Gegenwart an; aber die Richtung, die er angegeben,
hallt in allen Bühnendichtern der modernen Zeit noch nach und das
deutsche Lustspiel (?) sucht seinen Altvater in Paris, wie man den Alt¬
vater unseres Trauerspiels in London suchen muß. Die Bestrebungen
der jungen dramatischen Dichter in Deutschland verdienen gewiß alles
mögliche Lob und jede Aufmunterung; daß sie aber eine nationale
Bühne zu schaffen im Stande sein werden, daran erlauben Sie mir
zu zweifeln. Das deutsche Theater hat zu viel fremdes Blut in sich,.
»
um von seiner Bastardnatur sich je befreien zu können. Wie der
deutsche Bund ein eklektisches Gewimmel von Verfassungen uno Rech^
im ist, so wird auch das deutsche Theater stets eine potric!», von
französischen, englischen und spanischen Elementen bleiben. Politik und
Bühne sind zwei genau zusammenhängende Dinge. Ich fürchte,
Deutschland wird noch russische Dramen auf seiner Bühne sehen müs¬
sen, ehe es sich selbst findet.
Die Emigration deutscher Literaten nach Paris nimmt immer
mehr und mehr zu. Ich könnte Ihnen ein hübsches Häuflein mit
Namen aufzählen, wenn es überhaupt Namen wären. Leider sind eS
meist Mittelmäßigkeiten und oft noch viel weniger als solche, die aben¬
teuerlich hier ihr Glück suche», ohne durch Kenntnisse oder Talent eine
Berechtigung auf ein solches zu haben. Zählen Sie die Schriftsteller,
die seit Börne und Heine hier angekommen, und überschauen Sie die
Productionen. zu welchen diese Stadt voll ununterbrochener Anregun¬
gen sie gestachelt hat. In Gegenwart der modernsten und prodnctiv-
stcn Bühne der Welt — hat ein Einziger von ihnen zu irgend einer
ausgezeichneten dramatischen Dichtung den Geist gefunden? In Mitte
der raffinirtesten Romandichter der Neuzeit, in der Nähe der Sand, an
der Werkstätte Balzac's, welches deutsche Talent hat sich hier entzündet,
ja welcher glückliche Nachahmer ist von hier ausgegangen? Der deutsche
Schriftsteller zieht nach Paris, wie der Maler nach Rom zieht; aber
statt ein Rom zu finden, findet er ein Capua. Ungewohnt des gro߬
städtischen treibenden Lebens, sinkt er in seine Wellen, ohne den
Strom bemeistern zu können. Betäubt folgt er dem Genuß, der Zer¬
streuung, Frankreich wird ihm interessanter alö Deutschland und wenn
er sich nach dem langen Taumel aufraffen will, ist es gewöhnlich zu
spät. Der frische ursprüngliche Geist in ihm ist verdampft; er ist eine
Kohle geworden. Ich spreche hier »och von den Besseren, deren Glncks-
und Gcistcöumstäude sie nicht von vorn herein zu Handlangern und
Tagelöhnern verdammte. Und doch ist die Zahl der Letzten die über¬
wiegende. Welch ein Heer von Uebcrsetzcrn und Corrcfpondcnzfabri-
cantcn brütet dieser Sand aus. Wüßte mau in Deutschland, aus
welchen Quellen die Zeitungen oft ihre Nachrichten schöpfen — ich will
diese Wunde nicht aufdecken; die deutsche Journalistik leidet ohnehin
eben nicht an Ueberfluß von Achtung. Gewissenlos aber ist es von
gewissen deutschen Redactionen, die ihre Korrespondenten wie eine über¬
müthige Hausfrau ihre Dienstboten wechseln und dadurch Manchen in
Noth und Elend versetzen, der, sich auf ihre Zuschrift verlassend, seine
andern Beschäftigungen aufgegeben hat. Derlei abgedankte und ver¬
lassene Correspondenten hat namentlich die Augsburger viele auf ihrem
Gewissen, und sie kann zu ihren stillen Sünden auch die zählen, die
Verzweiflung manches jungen Deutschen in Paris veranlaßt zu haben.
Gerade sie, die conservative, ist in dieser Beziehung am wenigsten con-
servativ. Nicht Jeder hat einen Contract wie der Ritter Eckstein lobe?
sam. Vielleicht hat sie gerade dieses Beispiel abgeschreckt, neue Eon-
tractc abzuschließen. Aber was rächt sie sich nun dafür an andern?
Diese papierene Lorelcy setzt sich hin und coquettirt mit ihren Reizen
und lockt junge Männer an, um, nachdem sie solche eine kurze Zeit
abgenützt, in den Abgrund fallen zu lassen. Wohl dem, der die In¬
dustrie so versteht wie Herr Bernstein, der mit jeden, Finger für zwei
Journale correspondirt und, wenn ihn daS eine verläßt, sein Spinnrad
darum doch nicht stocken sieht. Handwerk hat einen goldenen
Boden! Eine schöne Devise in der Literatur! Ein Herr Lippmann aus
Prag, ein Lyriker, der für seine Gedichte keinen Verleger und für seine
Stücke keine Bühne finden konnte, erschoß sich hier vor wenigen Tagen.
Wäre der Mann ein Handwerker gewesen, er lebte wohl noch. Lipp¬
mann kam vor ungefähr vier Jahren hier an. Ein bedeutendes Pri-
vatvermögen setzte ihn in den Stand, anständig seinen Neigungen zu
leben. Er war Jude und ging zur christlichen Religion über. Als
junger Mann von reizbaren Nerven und aufgeregter Phantasie, fiel er
der Propaganda in die Hände; heute Skeptiker und morgen Schwär¬
mer, uneinig mit sich selbst, unaufgemnntert als Poet, mit Bußen be¬
legt vor dem Beichtstuhl, war er im Begriffe, Franciscaner zu werden,
ein verzweiflungsvoller Moment überraschte ihn und er legte Hand an
sich selbst.
Die „Narrhalla" von L. Kalisch in Mainz, deren blühende
Gesundheit wir noch im vorigen Hefte bewunderten, ist plötzlich vom
Schlage gerührt worden. Auch eine gründliche Narrheit wird in
Deutschland nicht geduldet. Wahrscheinlich hat sich diese lustige Riva¬
lin der Walhalla ihre Unterdrückung durch ein unsinnig sinniges Ge¬
dicht auf einen deutschen Fürsten zugezogen, welches mir O! — endigt
und dessen Fortsetzung bei günstiger Witterung versprochen wurde. Die
Nase, welche der „Nichts gemerkt habende" Censor bekommen haben
wird, kann sich gewiß mit der berühmten Nase Wahl'S messen. —
Berichtigung. Eine Korrespondenz aus Prag in Ur. 5 der
„Grenzboten" schlägt mit einem Male die Hälfte des ganzen böhmi¬
schen Volkes todt; durch eiuen Druckfehler natürlich, denn weder der
Redacteur dieser Blätter, noch unser Correspondent aus Prag ist solch
ein Feind seines Vaterlandes. Böhmen hat über vier Millionen Ein¬
wohner und nicht zwei Millionen, wie eS dort hieß.
Die Ausbildung der politischen Wissenschaft ist der herrschende
Charakterzug des gegenwärtigen Zeitgeistes. Es gab Zeiten, wo die
Gelehrten das Heil der Völker in der Astrologie suchten und die
Zukunft ganzer Länder und Nationen, wie die einzelner Menschen,
aus dem Sternenwandel prophezeihen wollten; wieder wollten sie aus
dem Tiegel der Alchymie die Wölker mit Gold überschwemmen und
glaubten, dieselben würden im Reichthume trotz des drückenden Joches
des Feudalismus, unter dem sie gekrümmt waren, glücklich sein; ein
anderes Mal wollten wieder die Rechtsgelehrten, umherirrend im
Labyrinthe der Pandecten und Digesten, aus diesen die gesellschaftliche
Wohlfahrt der Völker schöpfen; des Zeitraumes des religiösen Fana¬
tismus gar nicht zu gedenken, der ebenfalls viele Jahrhunderte aus¬
füllte. — Und während dieses Alles auf der Erde vorging, verwüste¬
ten Waffen die Länder und bedeckte Blut die Erde! Die italieni¬
schen Freistaaten legten sich auf die bildenden Künste oder trieben
Handel und überließen die Politik einigen Gelehrten, während deren
Forschen die freien Bürger sich verfolgten und ihre Freiheit unter¬
gruben. Später zog sich die ganze Weisheit der Politik in die Höfe
der Fürsten zurück und wurde von einigen Höflingen als ein Mo¬
nopol betrieben, und der hatte den Kulminationspunkt dieser Wissen-
schaft erreicht, der die wirksamsten Mittel zur Sicherung und Erhal¬
tung der Willkür zu finden und anzurathen verstand.
Unter solchen Umständen begann die zweite Hälfte des 1Am
Jahrhunderts. Der Fluch ewiger Kriege kam über die Völker. Die
Völker erwachten und fingen an, den hohen Werth der Menschheit
zu fühlen. Die gegenseitigen öftern Berührungen erweckten Nach¬
denken und eiferten die Lauern an. Und so hörten die politischen
Wissenschaften auf, verbotene Waare zu sein. Man begann die Phi¬
losophie der sociellen Verhältnisse zu cultiviren und fand in der An¬
erkennung und Hochhaltung der ewigen Menschemcchte die feste
unerschütterliche Basis, worauf man die Sicherheit und Haltbarkeit
der Staaten und der soeiellcn Bande, so wie die Sicherheit der
Person und des Vermögens, das Glück Einzelner und ganzer Völ¬
ker — gründete! Da wurde jede andere Wissenschaft als Hilfs¬
quelle dem mächtigen Ziele zugeleitet, die Philosophie und Historie,
die Mathesis und Rechtswissenschaft, selbst die Theologie wurde zu»
Unterstützung der Politik verwendet. Unterstützt von solchen Hilfs-
Wissenschaften verbreitete sich die Politik so sehr, daß man den allge¬
meinen unverkennbaren Charakter der letzten Jahre des achtzehnten
und der ersten des neunzehnten Jahrhunderts überhaupt in dem all¬
gemeinen Streben fand: die sociellen Verhältnisse, von den Schlacken
des mittelalterlichen Feudalwcsens gereinigt, der künftigen Generation
zu übergeben, daß sie das Ziel — welches zu erlangen Jahrhunderte
vergebens bemüht waren, sicher erreiche, oder, ist dieses auf Er¬
den unmöglich, sich wenigstens demselben nähere und diesen höchsten
Grad socieller Glückseligkeit genieße.
Wer dieses Alles berücksichtiget, wird sich nicht darüber wun¬
dern, daß bei uns die Politik beinahe ganz die Intelligenz und die
Nationalkraft für sich in Anspruch nahm. Es ist nur zu bedauern,
daß die Alles umschließenden Polypenarme der Politik eher zu uns
gelangten, bevor die übrigen Hilfswissenschaften jenen GraD der
Ausbildung erreicht hatten, in welchem sie der Politik eben so nütz¬
lich als nöthig sind. — Dieses allein ist unser Unglück. Die, eine
schöne Gegenwart und noch eine schönere Zukunft verheißenden po¬
litischen Wissenschaften rissen jedes sich nur ein wenig hervorthuende
und nutzbare Talent in ihren Strudel; die Leichtigkeit, mit der man
diese sich — freilich nur oberflächlich — eigen macht, der Nimbus,
in dem ihre Jünger unwillkürlich vor den Augen der Welt erscheinen,
die Zaubergewalt, die ihre Priester vermöge ihrer Grundprin¬
cipien auf die Völker ausüben, verleitet uns Ungarn; und nicht
beachtend, daß das Bereich der Philosophie für uns noch eine l'ol-i-ii
iiicvA nu ist, daß wir die Geschichte im Allgemeinen und besonders
die unsrer Nation — um sie auf die vorzunehmenden Verbesserungen
der sociellen Verhältnisse anzuwenden, — noch gar wenig erforscht
haben, daßZ die Wissenschaften der Mathematik, die keine Nation
bei der Ordnung ihrer sociellen Verhältnisse ungestraft vermied, bei
uns noch in Windeln liegt; daß die ungeheuern Folianten unserer
Gesetze zwar zur Zerrüttung und Verwirrung der Privatangelegen¬
heiten, aber nicht zur Lösung der öffentlichen Angelegenheiten benützt
werden — dieses Alles nicht betrachtend, ja aus Unmacht, dem völ-
kerbezwingcnden Geiste zu widerstehen, warfen wir uns der Politik
in die Arme und beeilten uns, mit Vernachlässigung der nöthigen
und unentbehrlichen Hilfswissenschaften, den Wettlauf mit jenen Na¬
tionen der civilisirten Welt zu beginnen, die an dein Faden vieler
Hilfswissenschaften zu der mit denselben vielfach verflochtenen Politik
gelangten, auf welche alle Kraft, alle in dem bürgerlichen Leben
vorhandene Thätigkeit, wie nach einem Ziele, gelenkt werden muß.
Der Weg, die politischen Wissenschaften am wirksamsten und
zugleich am schnellsten zu verbreiten, ist — die Presse. Diejenige
Branche der Presse aber, welche sich ausschließlich mit dem periodi¬
schen Verbreiter der Wissenschaften beschäftigt, nennen wir Jour¬
nalistik. Doch ist dieses mir im engern Sinn des Wortes zu
nehmen, denn im weitern Sinn des Wortes versteht man ja unter
Journalistik jedes Blatt, jedes Buch ohne Rücksicht auf den Inhalt,
wenn dessen Erscheinen an eine gewisse Zeit gebunden ist.
Die Wanderung der Nachrichten und Raisonnements aus dem
öffentlichen Volksleben in die Presse und von da wieder inS Volks¬
leben zurück, bildet bei uns die Pulsader der politischen Journalistik.
Und da diese Wanderung seit einigen Jahren bei uns sich lebhafter
zu zeigen begann, war es eine ganz natürliche Folge, daß sie alle
Aufmerksamkeit und alles Interesse für die öffentlichen Angelegenhei¬
ten in Anspruch nahm und jedes andere literarische oder Privat-
Jnteresse in den Hintergrund drängte. Das ist eine der Hauptur-
sachen der von vielen Seiten geäußerten Klage: daß nämlich die
aus den ComitatSsälen in die öffentlichen Blätter, und aus diesen
wieder zurück wandernde Politik gleich einem bodenlosen Abgrunde
jede andere Wissenschaft absorbirt und tödtet.
Viele halten diese Wanderung der Erscheinungen des öffentli¬
chen Lebens nicht blos für schädlich und nachtheilig, weil dadurch der
Zustand unserer Wissenschaft immer mehr verwaist wird, sondern auch
weil sie befürchten, daß diese immer lebhaftere Wanderung nach und
nach jede Ordnung, jede Institution in ihren Grundfesten erschüttern,
die Bande der sociellen Verhältnisse lockern und uns endlich in den
Abgrund der Anarchie hinabziehen wird____ Aber diese Frommen
stammen noch aus jenen alten Zeiten her, wo sich drei bis vier prak¬
tische Assessoren mit dem Vicegespan versammelten und unter der Auf¬
schrift „vos solus el. o7-«ii»l>»" im Namen deS ganzen ComitatS
Beschlüsse faßten und anücabiliter die öffentlichen Angelegenheiten
manipulirten und dies größtentheils — im Dunkeln! Indessen wird
sich die Zahl dieser Frommen von Tag zu Tag in dem Grade ver¬
ringern, in welchem die Liebe zur Oeffentlichkeit und zur Aufklärung
bei den Einzelnen der Nation erwachen und zunehmen wird. Die
nächste Generation wird kaum mehr solche Catilinarien gegen die Poli¬
tik hören, die in der Furcht vor einem rührigeren Leben, vor der Zer¬
streuung der Finsterniß, ihr Hauptmotiv haben. Diese Furcht, so na¬
türlich sie übrigens auch scheint, beurkundet nicht unsere scythische Ab¬
stammung. Eben von diesem Verkehre zwischen dem Leben und der
Presse, wovon diese Leute aus den guten alten Zeiten so Vieles
fürchten, eben Von diesem ist, wenn er klug geleitet wird, eine all¬
gemeine Abhilfe für unsere vielen Mängel zu erwarten.
Die Verbreitung der Politik auf dem Wege der Presse ist bei
uns nicht alt, ist selbst bei jenen Völkern nicht alt, bei denen die
Journalistik einen Hauptrang einnimmt. DaS verflossene Jahrhun¬
dert begann ihre Entwicklung, und der Ruhm, sie entwickelt zu ha-
ben, gehört dem Jahrhundert, in welchem wir leben.. Es ist zwar,
bei uns in dieser Hinsicht seit den letzten Jahren das Meiste gesche¬
hen, doch bei Weitem nicht fo viel, daß nicht noch ein weiterer Fort¬
schritt zu wünschci, wäre. Doch wird dieser Fortschritt bei uns viel
langsamer geschehen, als z. B. in Frankreich und England. Die
Ursache hiervon ist — außer unserem isolirten Zustand — die be¬
schränkte Presse, und überdies noch die Municipalverfassung un-
Serer Comitate, die der politischen Journalistik den größten Theil ih¬
res Ncchrungöstoffes entzieht, denn bei uns kann sich die öffentliche
Meinung im Comitatsleben bilden und ausbreiten und ist daher
weniger auf die Presse beschränkt, als bei andern Nationen, wie z. B.
bei den Franzosen, wo öffentliche Versammlungen und Congregatio-
nen gesetzlich verboten sind. Bei diesen gibt es keine andere öffent¬
liche Meinung als die der Presse.
Ein anderes, nicht minder mächtiges Hinderniß zur vollkomme¬
nen Entwicklung und Verbreitung der Journalistik bei uns ist die
Unfeitigkeit unserer Schriftsteller, und dann die Theilnahmlosigkeit,
welche von der schriftstellerischen und journalistischen Bahn Viele und
vielleicht eben die Tauglichsten zurückschreckt.
Diese Hindernisse sind theils solche, deren Wegräumung der
Magyare gar nicht wünschen kann, als die Comitatsverfassung,
theils derartige, auf deren baldige Beseitigung wenig Aussicht vor¬
handen ist. — So lange unser Erziehungssystem nicht radical ver¬
bessert, so lange der Grundsatz, daß dem Verdienste allein nur Aus¬
zeichnung und Lohn in der Gesellschaft gebührt, so lange dieser Grund¬
satz nicht allgemein anerkannt und ausgeübt wird, so lange in un¬
serem Vaterlanve wie jetzt die Namen: Gelehrter — Schriftsteller
..... Journalist u. s. w. Schimpfnamen zu sein nicht aufhören und
diejenigen, die die Sache des Landes mit ihren Schriften zu verthei¬
digen bemüht sind, nicht höher geschätzt werden, so lange wird die
höhere Vervollkommnung und Entfaltung der Journalistik ein punu
«leÄälji'i»,» bleiben.
Trotz dieser Hindernisse aber hat die politische Journalistik doch
in den letzten Jahren einen bedeutenden Aufschwung genommen, wor¬
über alle diejenigen sich herzlich freuen müssen, die wie ich in der
Politik ein nützliches und unentbehrliches Hilfsmittel zur Verbesserung
der sociellen Verhältnisse erblicken. Vorher spielten eine Zeitlang un¬
sere öffentlichen Blätter die Rolle der Sprachmaitres oder beschränk¬
ten sich nur auf Beschreibung feierlicher Schmäuse und der bei den¬
selben ausgebrachten Toaste und füllten ihre formlosen, leer gebliebe¬
nen Spalten und Lücken mit ausländischen Nachrichten; sie waren
daher Alles, nur nicht Repräsentanten des Volkslebens, Alles, nur
nicht Dolmetscher der Volkswünsche, nur nicht Organe der öffentli¬
chen Belehrung. Jetzt ist es anders. - Die politische Journalistik
beschäftigt sich meist mit heimischen und zwar öffentlichen Interessen
und richtet ihre Aufmerksamkeit nur i» so fern auf das Ausland, in
wiefern sie es für nöthig erachtet, das lesende Publicum mit den dor¬
tigen politischen Ereignissen und mit allen, im Gebiete der Wissen¬
schaft und Industrie gemachten Entdeckungen, zur Belehrung und
Aufmunterung unserer Mitbürger, bekannt zu machen; oder vielleicht,
um die ausländischen Blätter so viel als möglich entbehrlich zu ma¬
chen und die bedeutenden Summen, die für dieses Bedürfniß nach
dem Auslande gehen, in unsern, gcldar^.im Lande zu behalten.
Bei dein gegenwärtigen Zustande unserer Journalistik stellt sich
noch die Frage heraus: ist die politische Journalistik bei uns die
Schöpferin und Leiterin der öffentlichen Meinung oder ist sie nur das
Organ derselben?
In Großbritannien, dessen Institutionen den unsrigen wenigstens
in einigen Stücken gleichen, sind die Zeitungen (><?vo!z-p^>t!r-5i) Or¬
gane der öffentlichen Meinung, sie betreten ihre Bahn und verfolgen
ihre spüre»; in Frankreich hingegen schaffen, bilden und leiten die
politischen Blätter die öffentliche Meinung. Die Ursache des ver¬
schiedenen Zustandes der Journalistik in diesen zwei Staaten liegt
darin, daß bei den Engländern öffentliche Versammlungen (Meetings)
statthaben, welche die Bereitung und Leitung der öffentlichen Mei¬
nung ganz absorbiren. Als Beispiel dazu dient die jüngste Agitation
O'Council s in Irland. Die Tagesblätter, meist nur GeschäftSunter-
uchmungen und von besoldeten Redacteurs manipulirt, sind nur als
Magazine der bittern Kämpfe, der vollkommen entwickelten politischen
Parteiansichten, der Tageöbegebenheiten oder sonstigen Annoncen zu
betrachten, aus welchen die gelehrten Raisonnements' ganz ausgeschlos¬
sen find. Die sogenannten „leitenden Artikel" (l^Mu^' iuticlvs)
werden nicht aus der Ursache, weil sie etwa ausschließlich der Erör¬
terung der Parteimeinringen gewidmet wären, so genannt, sondern
weil sie gleich Leithammeln dem unendlichen Haufen mehr oder min¬
der wichtiger Vorfälle, Neuigkeiten und Annoncen voranstehen. Die
wissenschaftliche Journalistik in England hat sich in die Wochen- und
Monatsschriften zurückgezogen, deren es eine enorme Menge gibt und
die mehr Abnehmer als die Tagesblätter haben. — In Frankreich
gibt eS, die Sitzungen der Kammern ausgenommen, nirgends ein öf¬
fentliches Nationalleben, und daher gibt es auch kein anderes Mittel
zur Bildung und Leitung der öffentlichen Meinung, als die politischen
Zeitungsblätter. Es gibt zwar auch in Frankreich bei der Manipu¬
lation Derselben mercantilische Ingredienzien, aber die Geranten sind
meist Männer von politischer Bedeutung, lie auch eben darum durch
Auseinandersetzung ihrer eigenen politischen Meinungen einflußreich
auf die Nation sind, weil sie allenthalben als politische Notabilitäten
geachtet werden und ihnen die höchsten Staatsämter offen stehen.
Bei uns in dieser Hinsicht für jetzt schon etwas Bestimmtes
und Allgemeines zu sagen, ist sehr schwierig. Ich meinerseits bin ge.
ncigter zu glauben, daß unsere politische Journalistik nur das Organ
deö öffentlichen ComitatslebenS und daher mehr Dollmetscherin als
Leiterin oder gar Schöpferin der öffentlichen Meinung ist. Ich weiß
wohl, daß Viele daS Gegentheil behaupten, und halte durchaus nicht
derlei Behauptungen für unstatthaft; doch glaube ich, die jüngsten
Vorfälle in den Comitaten überzeugen jeden unbefangenen ungari¬
schen Publicisten, daß diese entgegengesetzte Ansicht bei Weitem
nicht so fest sei, daß man eine sichere Ueberzeugung darauf bauen
könne.
Was übrigens den Einfluß, den unsere politische Journalistik
ans unsere Wissenschaft im verflossenen Jahre ausübte, betrifft, haben
wir, so sehr erfreulich die Entfaltung dieser Branche der Journalistik
auch sein mag, doch nicht wenig Ursache, darüber traurig zu sein, daß
diese nicht nur die Büchcrwissenschaft im Allgemeinen in den Hinter¬
grund drängte, sondern sogar die wissenschaftliche Journalistik, ganz
absorbirte! — DaS „^liäDMiii^n« ^ü^»u>») " (wissenschaftliche
Sammlung) scheint nach kurzem Bestehen ganz eingegangen zu sein;
die „5!?>>in!v" (Revue), eine vortreffliche Nachahmung der englischen
„Review-Journalistik", fand schon in der Wiege ihr Grab. So er¬
ging es auch der ein besseres Loos verdienenden „Themis"; das
^ruilmnimvtik-" (Magazin der Wissenschaften) wird nur mit großen
Opfern von der Aeademie erhalten, wenn überhaupt ein so kümmerli¬
ches Leben auch ein Leben ist. Jüngst verlor das „Athenäum", nach
der Aeußerung seines sehr thätigen Redacteurs, durch die allzuver-
breitete politische Journalistik Werth und Bestand.
Vor Kurzem las ich Folgendes von einem französischen Publi¬
cisten: ES wäre thöricht, den Einfluß, den die Tagesblätter auf die
menschliche Gesellschaft ausüben, zu läugnen; unsinnig, den cillgemei-
nen Nutzen derselben in Abrede zu stellen, und ungerecht, die Talente,
die sich auf dem undankbaren Felde der Journalistik oft entwickeln
und selbst aufzehren, zu verkennen: aber nicht minder ungerecht, un¬
sinnig und thöricht wäre es, den nachtheiligen Einfluß der Journa¬
listik auf die Wissenschaft unberücksichtigt zu lassen.
Spricht ein Franzose so, was sollen gar wir Ungarn, bei denen
fast jede Branche der Wissenschaft noch in den Windeln liegt, sagen?
Und, ist seine Bemerkung über die Journalistik gegründet, um wie
viel mehr ist sie es bezüglich auf die ungarische, die mit den wenigen
literarischen Recensionen, die sie bringt,, nur einen kleinen Tropfen in
das große Meer der Wissenschaft leitet, welcher bald spurlos unter
den Fluthen verschwindet.
Die politische Journalistik bringt in die Literatur alle Fehler
und Gefahren der Improvisation; und es läßt sich gar nicht fordern,
daß sie gelehrt sei, nachdem es ihr an Zeit gebricht zu lernen; es
läßt sich nicht fordern, daß sie reflectire, da ihr Gedächtniß und Ge¬
sicht so kurz ist! Die Deutschen und noch mehr die Engländer, die
Geistesrichtung der heutigen Journalistik wohl auffassend, eröffneten,
um von dieser Richtung nicht abzuweichen und dem Uebel so viel wie
möglich doch abzuhelfen, Wochen- und Monatsschriften, und zwar mit
mehr Glück als wir Ungarn, bei denen — wie wir sehen — solche
Unternehmungen nicht gelingen wollen! In diesen Revuen vereinigen
sie mit sehr glücklichem Tacte die flüchtige Berührung der vorzüglich¬
sten Tagesbegcbenheiten und die Erörterung der wichtigsten herleiten
Lebensfragen; in diesen ersetzen die kritische Würdigung und die sach¬
kennerische und wissenschaftliche Recension der bedeutenderen literari¬
schen Erscheinungen die meist spitzfindigen wirkungslosen Besprechun¬
gen der Tagesblätter. Die Aufsätze, welche in solchen Zeitschriften
erscheinen, können mit mehr Fleiß und Studium ausgearbeitet wer¬
den, weil die Verfasser derselben nicht an heute oder morgen gebun¬
den sind und daher ihre Arbeiten besser durchsehen und corrigiren-
können.
Es wird vor Allem einer Erklärung darüber bedürfen, warum
mich Dingelstedt's schwierige Lage nicht abhält, das Licht der Oeffent-
lichkeit darauf hinzuleiten. Indem ich mit meinen politischen Grund¬
sätzen mich zur äußersten Linken bekenne, konnte ich hierauf das Recht
zu schonungslosem Verfahren gründen, mindestens denen gegenüber,
welche mit mir einen Kriegszustand zwischen den politischen Parteien
und damit auch die Rechte des Kriegs anerkennen. Allein diesen
Grund hier geltend zu machen, ist nicht meine Absicht. Vielmehr
halte ich mich in meinem Gewissen verbunden, auch dem Feinde
gerecht zu sein und da, wo mit den Forderungen - der Politik die
Pflichten der Partei aufhören, die Humanität gewähren zu lassen.
Diese Pflichten werden nicht unter einander leiden; und da Dingel¬
stedt's Schicksal ein lehrreiches ist, so wird ein Wort darüber am
Platze sein.
Kaum begann der Lärm, welchen Dingclstedts Wiener Briefe
in der Augsburger Allgemeinen aufgeregt hatten, sich wieder zu legen,
so kam die Nachricht, Dingelstedt habe sich beim Hofe in Stuttgart
anstellen lassen. Das Murmeln, welches diese Nachricht in den
Blättern sowohl, als unter den Leuten begleitete, ging bald in offenen
Angriff über: Dingelstedt ward fiir gesinnungslos erklärt. Und das
ist er, formell, unzweideutig. Denn ein politischer Charakter, will er
grsinnungsfest sein, hat nicht blos die Verpflichtung, seinen Glauben
zu bewahren, sondern auch ihn zu bekennen. Was haltet Ihr von
dem Christen, der eisenfest am Buchstaben des Evangeliums hängt,
aber, um dem Spott ungläubiger Freunde zu entgehen, mit ihnen
<'
über die unbefleckte Empfängnis), über die Göttlichkeit und Wunder
Christi sich lustig macht? Wie hoch schlagt Ihr die Philosophie an,
welche den Glauben an eine geoffenbarte Religion entschieden der--
wirst, allein ihre Feder gleichwohl an die Orthodoxie des Staates
vermiethet? Mit seinen Liedern eines kosmopolitischen Nachtwächters
hat Dingelstedt vor ganz Deutschland dem Privilegium und Vorur¬
theil in jeder Gestalt seinen Fehdehandschuh hingeworfen, sich aber
gleich darauf beeilt, ihn selbst wieder wegzunehmen. An einem sol¬
chen Wiederruf, geschehe er ausdrücklich oder stillschweigend, im Leicht¬
sinn oder aus Gemeinheit, pflegt die Reputation zu sterben.
Hätte Dingelstedt brausende Freiheitslieder gesungen, schwär¬
mende Ideen hoch wie wandernde Schwalben über dem Getreide deS
Tages in unsern Straßen hinziehen lassen, so konnte man die An¬
nahme seiner jetzigen Stellung weniger anstößig finden. Dingelstedt
hatte dann eben der in jedem gesunden Jünglingshcrzen ausgährcn-
den Begeisterung Sprache gegeben, poetische Symbole gefunden; nach¬
dem der Jugendraufch verflogen, war das Leben zu seinen nüchternen
Ansprüchen befugt, und der gerettete Niederschlag von Idealen über¬
stieg dann schwerlich das Maß, welches man auch dem Staats- oder
Hofdiener zu gestatten pflegt. Kurz, Dingelstedt's Rückzug hätte nicht
mehr Aufsehen gemacht, als der so Vieler, die mit allgemeinen Phrasen
erst sehr laut waren, dann mit nahender Gefahr immer leiser und
leiser wurden, bis sie in irgend einem Collegiengebäude oder Pfarr¬
hause den Augen des Publicums entschwanden. Allein Dingelstedt's
Fall war ein andrer. Mit klugem Verstände und feiner Bildung,
mit Witz und plastischem Talent ausgestattet, stellte er sich, als er in
der politischen Poesie auftrat, nicht als ein gaukelnder Schmetterling
dar, welcher sich aus dem lyrischen Gärtchen in die politische Wild-
niß verloren hat, sondern als ein bewußtes, also für sich, seine
Schöpfungen und deren Consequenzen verantwortliches Talent. Er
schwärmte nicht für die Freiheit, sondern er kannte sie theoretisch,
seine Liebe zur Freiheit verkündigte sich nicht als blos pathologisches,
sondern als Denkresultat.
Beantworte sich nun Jeder selbst die Frage: Wenn ein Mann
von classischer Bildung^, erzogen in freien Verhältnissen, entwickelt
durch das öffentliche Leben seit 1830, seinen geistreichen Spott treibt
mit falschem Nimbus und Vormtheil und sich nun plötzlich dazu
versteht, ein Verhältniß einzugehen, das ihm nicht nur das fernere
Lautwerden seiner Ueberzeugung verbietet, sondern ihn auch zwingt,
seine Lebensweise dem bekämpften Herkommen gemäß einzurichten:
ist dies möglich, ohne daß er sein geistiges Bedürfniß, sein besseres
Wissen verläugnet, gewonnene Erfahrungen im Stiche läßt? Hat
er sich nicht einem Cultus unterworfen, an den er nicht glaubt? Ge¬
stattet nicht jedes Ceremoniell, jede conventionelle Lüge, wozu er sich
bequemt, sich in ihm gleichzeitig zu einem Epigramm, das er ver¬
schluckt halten muß? Wird er nicht, wenn er sich in einer nachdenk¬
lichen Stunde spiegelt, über seine Maske erst lachen und dann er¬
schrecken müssen, weil er sie nie mehr ablegen kann? Dies ist
Dingelstedt.
Wenn ich in den Windeln schon Fürst bin, wenn mir der aristo¬
kratische Sinn mit dem Blute in meinen Adern vererbt wurde, wenn
Erziehung und e'rclusive Gesellschaft, Lehre und Beispiel diesen Sinn
mit Sorgfalt entwickeln und grundsätzlich ausbilden, bis die Ge¬
wohnheiten sich zu Vorurtheil und Neigung, die Eindrücke sich zu
Mariner verhärtet haben, so mag man meine Gesinnungen und
Schritte anfeinden; aber es wäre sonderbar, wollte man mich für
das verantwortlich machen, was Geblüt, Beispiel, Erziehung an mir
gethan hätten. Ja man muß es sogar natürlich finden, wenn ich
mich in denjenigen Mechanismus von Nichtigkeiten einlasse, welcher
dem philosophischen Geist eine lästige Zeitverschwendung, doch für die
Sphäre, in der ich nun einmal lebe und gelte, eine Art, Religion, ja
mitunter selbst Lebensbedingung ist.
Anders bei Dingelstedt. Ein Kind des neuen Bewußtseins
hatte er keine Vorurtheile abzustreifen, sondern aufzusuchen, nicht klar zu
werden, sondern aufzuklären; er mußte dem Fortschritt ein Banner
tragen, denn er hatte keine Tradition, kein Privilegium, keine theure
Illusion zu vertheidigen.
Man wird Dingelstedt'S politischen Fehltritt in eine positive
und in eine Unterlassungssünde eintheilen können. Nachdem er so
wohlgezielte, scharfe Bolzen geschossen, durste er sich nicht auf eine
Stellung einlassen, die mit seinen früheren Angriffen schlechthin un¬
verträglich scheint. Wer der kosmopolitische Nachtwächter gewesen,
kann seinem radikalen Menschen nicht ohne-Versündigung die silber-
bordirte ^-»ofrathsuniform anziehen. Dies war das positive Ver-
gehen. DaS negative, und wie mich taucht, ungleich schwerere Un¬
recht besteht darin, daß Dingelstedt sich durch seinen Schritt gezwungen
Hot, auf seine politische Mission zu verzichten und, ob auch noch so
unabsichtlich, das Vertrauen der Station in ihre Vertreter zu gefähr¬
den. Dem Volke steht ein Recht zu auf seine Männer. Wer sich
vorangestellt, sich bemerkbar gemacht hat, übernimmt dadurch die
Verantwortlichkeit eines Führers; weicht er aus seiner Stellung, so
verbreitet dies weit mehr Kleinmuth, Argwohn, Verwirrung, als
wenn sich ein obscurer Mensch aus dem Staube macht. Der Führer
belastet durch Abfall oder auch nur durch dessen Schein sein Genüssen
nicht blos mit seiner eigenen That, sondern auch mit den Fehltritten
derer, welche sein Beispiel verlockte, mit dem Hafi derer, welche, treu
geblieben, hierunter leiden, und mit der Schuld des verlängerten
Kampfes. Es ist schön, aber gefährlich, Führer zu sein. Kugeln
und Verrath zielen am Ersten auf sie. Im Gefecht nimmt man vor
Allem die Offiziere aufs Korn, in heimlichen Unterhandlungen be¬
sticht man sie, sei es mit Geld oder mit Täuschung. Dingelstedt
hat über seine Zukunft, die nicht mehr ihm allein, sondern der Nation,
an die er appellirt hatte, nicht minder gehörte, auf eine Art verfügt,
welche die politische-Moral unbedingt mißbilligen muß.
Es liegt nicht in meinem Zweck, diese Seite der Sache, von
welcher aus man Dingelstedt schwerlich entschuldigen kann, noch wei¬
ter zu verfolgen. Treten wir auf den psychologischen, rein menschli¬
chen Standpunkt, wohin sich Angriffs - und Vertheidigungslinien der
Politik nicht erstrecken, so können wir uns vielleicht zu einem milderen
Urtheile verstehen.
Fassen wir Dingelstedt's Persönlichkeit ins Auge. Er hat einen
regen, ausgebildeten Sinn für Eleganz im weitesten Begriff. Er
liebt das Propre, Glänzende, Herausgekehrte, die Feinheit in der Le¬
bensweise und im Umgang. Dabei beriefen ihn Talent und Kennt¬
nisse zu umfassenderen Aufgaben, als denen der Lehrerstelle im ein-
samen Fulda. Er reiste, und das Gewaltige, was in den Welt¬
städten, wie Paris, London, Wien, auf den Sinnenmenschen über¬
wältigend, auf den gebildeten Geist aber so gedeihlich wirkt, mag in
Dingelstedt die Unlust, in die Klemmer des Spiesibürgcrthums zu¬
rückzukehren, vollendet haben. Dazu das gerechte Selbstbewußtsein,
welches ihm der Ruhm seines Nachtwächters - des Schnippchens,
welches er dem Staatsdienste schlug — verschaffte. Das Reisen,
das Correspondiren wirkt endlich ermüdend; die treibende Feder des
Geistes, die producirende Feder des Korrespondenten erlahmen, und
Dingelstedt war wohl zu klug, als 'daß er geschmiert hätte, wo er
nicht mehr zu schreiben wußte. Was thun? Vom heimathlichen
Staatsdienst hatte er sich losgerissen. Das Publicum liebte seine
Muse, hatte jedoch keinen Anlaß, sich mit seinen Enstcnzsorgen zu be¬
fassen. Und doch war ihm der Umgang mit feinen Leuten, die Be¬
wegung in netten gesellschaftlichen Formen längst Bedürfniß gewor¬
den, hatte ihn geistig und materiell verwöhnt. Jetzt mußte er wählen
zwischen dem Entschluß der Entbehrung,, der angestrengten, häufig
undankbaren Arbeit einerseits, der ruhigen, seinen Neigungen entspre¬
chenden, seinen Studien förderlichen Lage andrerseits. Wollte er auch
jenen harten Entschluß fassen, so mußte er noch über eine wichtige
Frage mit sich zu Rathe gehen.
Fühlte er sich den Anstrengungen gewachsen, womit ihn jene
Wahl bedrohte? Wer kennt nicht das Schwankende der Volksgunst?
Wo findet der Neid keine Poren, der Haß keine Waffen? Ist nicht
das Publicum, so lange nicht ein ganz offenbares Märtyrthum sein
Mitleiden erweckt, ein unersättlicher Magen, kaum hat es einen ersten
Band verschluckt, so lechzt es nach dein zweiten, vergißt den ersten?
Gönnt es einem Schriftsteller, welcher an den Interessen des Tages
arbeitet, Ruhe, wenn er der Ruhe bedarf? Gestattet es ihm, auf
seiue Vergangenheit zu verweisen? Nein, die Zeit und das Be¬
dürfniß stürmen fort, die Organe an ihrer Spitze immer vorwärts¬
drängend und versagt ihnen die Kraft, so wirft der Andrang sie nieder,
geht über sie hin, läßt sie vergessen zurück.
Freilich rechtfertigt daS Alles nicht die Schwachheit, seinen Be¬
ruf zu verläugnen. Wer der Freiheit dient, darf sein Schwert nicht
um der Volksgunst willen tragen: die Freiheit ist Selbstzweck, lebt
sie doch als Ideal im Bewußtsein der Welt von Geschlecht zu Ge¬
schlecht und fällt für die geläuterte Anschauung zusammen mit der
Religion. Also nicht die Popularität, sondern der Grund, worauf
die Popularität ruht, muß uus leiten; nicht für die Menschen, sondern
für ihre Bestimmung, wie sie dem Einen weniger, dem Andern mehr
klar ist, müssen wir arbeiten. Mögen die Menschen unserer Umge¬
bung, welche eine politische Ueberzeugung mit uns theilen, uns nach
ihrer sonstigen Persönlichkeit noch so zuwider oder wenigstens gleich-
giltig sein: das gibt uns durchaus kein Recht, die Freiheit zu ver¬
lassen und überzutreten auf einen Punkt, wo zwar liebenswürdige
Menschen und Sitten uns vergnügen, aber weder freies Denken, noch
freies Handeln ihre Stätte haben. Man darf sich nicht auf Kosten
seines Berufs amüsiren.
Aber war Dingelstedt's frühere Sphäre auch wirklich sein Be¬
ruf? Konnte er seiner Natur nach in der Polemik ausdauern und
fortschreiten? .Wuchs seine Fähigkeit mit den Erwartungen? Dingel¬
stedt wird sich diese Frage ohne Zweifel verneint haben. Ob mit
Recht, wage ich kaum zu entscheiden. Um an unserer ledernen, durch
Nachgeben widerstehenden Zeit zu arbeiten, bedarf es nicht allein ei¬
nes guten, sondern auch eines scharfen Willens, zu dem nicht Jeder
das Metall hat. Guter Wille fehlt Dingelstedt gewiß nicht, wohl
aber das Zeug zur Charaktcrhärte, die moralische Energie. Sein
Nachtwächter, so vollendet in der Form, so trefflich von Inhalt, zeigt
gleichwohl von einem gewissen Dilettantismus und hinterläßt den
Eindruck, daß Dingelstedt auch in der Politik Schöngeist blieb, daß
er die Politik nicht als Beruf erkannte, sondern als anregendes
Thema für seinen Humor benutzte, daß er nie Anlage hatte, Tyr-
täus zu werden.
Ich spreche hier meine Ueberzeugung aus, wie sie mir auch durch
Beobachtungen in früherem Umgänge mit Dingelstedt bestätigt ist.
Möglich, daß ich mich irre. Ich komme hiernach zu folgendem Re¬
sultat. Als Dingelstedt seinen Nachtwächter herausgab, nahm er die
beste Gelegenheit wahr für seine Poesie, ohne eine Haltbarkeit für
die Konsequenzen übernehmen zu wollen, die er ziemlich übersah. Als
Dingelstedt die Stelle bei Hofe annahm, geschah es, weil er sich
nicht stark genug fühlte, seine Neigungen und seinen Vortheil den
Rechten der Nation auf Festigkeit ihrer Führer zu opfern und sich,
falls er nicht mehr im bisherigen Geist zu wirken wußte, in 'das
Privatleben zurückzuziehen. Auch bei diesem Schritte hat er die nach-
theiligen Folgen, wenigstens in dem jetzt eingetretenen Umfange, sehr
schwerlich sich klar gemacht.
Er mochte es sich hübsch ausmalen, wie er, in einer ciusgezeich-
ncten und doch reservirten Stellung, nicht mehr werde berührt wer¬
den von dem Zwange der Monats- und Wochencorrespondenzen für
Augsburger Allgemeine, Morning Chronicle und Morgenblatt, von
denHonorarermittlungcn, kurz von allen Mühen eines auf seine Feder
allein angewiesenen deutschen Autors; wie ihm die Muße bleibe für
neue Entwickelungen seines Talentes; wie er, ohne seine Principien
aufzugeben, doch deren Princip beschränken könne. Vielleicht ging
er auch weiter und gedachte, seine Stellung in vermittelnder, wohl¬
thätiger, humboldt'scher Weise zu benutzen und allerdings ist ein aufge¬
klärter Mensch nirgend zu viel, wenn er aufrechtem Weg angelangt ist.
Aber es ging Vieles ganz anders. Dingelstedt hatt« wohl nicht
hinlänglich erwogen, daß er von seinem Studirzimmer bis zum kö¬
niglichen Kabinet die Mißgunst der AntichambrcS zu passiren hatte,
wo man, die Lieder des Nachtwächters in der Hand, dein vorbei-
schreitenden Parvenu mit stillem Grimm nachsah. Ebenso dachte er
sich schwerlich, daß ihn auch die Bürgerlichen anfeinden werden, schon
weil er aristokratische Formen hat und in blaßgelben Handschuhen
spazieren geht. Was die demokratische Partei betrifft, so brach diese
rasch und entschieden mit ihm und that damit, was ihre politische
Pflicht erforderte.
Vergeblich sucht Dingelstedt die Schwierigkeiten zu überwinden.
Nähert er sich den Höflingen, so machen sie schweigend ihm Platz —
sie weichen ihm aus. Er ist dort, wenige Personen abgerechnet, ge-
mieden: das ist ihm wohl selbst und hinter seinem Rücken noch bes-
ser bekannt. Ebenso wenig wird sich sein Verhältniß zum Publicum
ändern. Nirgends weniger als in Würtembe-rg verzeiht man Incon-
sequenz, wäre sie auch nur der Schein von Verrath. Man versteht
es hier nicht, sich bei Jemand mit seinen liebenswürdigen Reden zu
begnügen und auf den übrigen Menschen zu verzichten, moralische
und politische Sünden zu vergessen. — Und indem Dingelstedt, statt
sich unscheinbar zu machen, in seiner ganzen Erscheinung gegen den
Stuttgarter Ton absticht, lenkt er die Aufmerksamkeit immer wieder
auf sich, auf seine Person.
'
Dies ist Dingelstedts Lage, eine unglückliche, fast unhaltbare.
Wie wird sie sich entwickeln? Ein Rücktritt zur alten verlassenen Fahne
ist aus inneren und äußeren Gründen unmöglich, von Dingelstedt
auch schwerlich beabsichtigt, selbst wenn er den gethanen Schritt
bereuen sollte. Er wird vorerst bleiben müssen; Hofleute und was
daran hängt, werden ihm nach wie vor ein Bein stellen, wo man es
höheren Orts nicht bemerkt; das Publicum wird sich fern halten und
die Opposition ohnehin bei ihrem Spruch beharren. In einem ge¬
meinen Epikuräismus den Schmerz über sein Schicksal verfaulen und
Schmarotzerpflanzen darauf wachsen zu lassen, das würde Dingelstedt
schon bei seinem Ehrgeiz und seinem Sinn für geistige Schönheit nicht ge¬
lingen, selbst wenn er wollte. Was bleibt ihm übrig? Wird er im
Groll über die ihm die ihm widerfahrene harte Behandlung, zu den
Interessen der Gegenpartei übertreten, ihr seine Feder zur Verfügung
stellen? Oder wird er, gewarnt durch seinen Schiffbruch, sein Gewis¬
sen als Compaß, die Männlichkeit am Steuer, ohne an den Klippen
seiner Umgebung zu scheitern, sich aus dem windigen Scheerenkessel,
wohin eine leichtfertige Stunde ihn geworfen, wieder herausfinden in
ein Fahrwasser? Sein Schiff hat gelitten: noch jetzt scheint es plan¬
los und gefährdet zu irren; aber verloren ist es noch nicht und wird
auch der Leck immerhin sichtbar bleiben; reparirte Schiffe sind darum
noch nicht die schlechtesten.
Dies veranlaßt mich schließlich noch zu einer Bemerkung. Ver¬
dammen ist leicht, selbst für Diejenigen, welche nur Zufall vor glei¬
chem Fehltritte bewahrte. Dennoch zwingt uns die Unvollkommen-
heit der menschlichen Einrichtungen, hart zu sein. Fällt eine Hand^
lung unter den und den Artikel des Strafgesetzes, so spricht der Rich¬
ter sein Erkenntniß, ohne den vielfach verschlungenen Knäuel von
Erziehung, Zufall, Macht des Beispiels, Temperament, Gewohnheit,
Affecr, Krankheit, welcher den Anfangöknoten jenes verbrecherischen
Willens etwa bildete, lösen oder berücksichtigen zu können. So muß
auch die politische Moral nach bestimmten Gesetzen eine That ver--
urtheilen, den Thäter strafen. Traurig aber ist es, zu sehen, wie
nicht nur Mancher, dem es gelang, seine auf den gemeinsten Grün¬
den beruhende Apostasie unvermerkt zu bewerkstelligen, sondern auch
Der und Jener, dessen Charakter von lange her anrüchig ist und der
im Liberalismus speculirt, wie ein Anderer in Korn oder Metalli-
aues, jetzt als gleißender Pharisäer Entsetzen und Empörung über Din¬
gelstedt heuchelt, dessen Fehltritt ein großer, dessen Natur aber noch heute
hundertmal edler ist, als die jener Menschen. Wen es angeht, der wird mich
verstehen. Lieber vogelfrei, wie Dingelstedt, als ein Verfolger wie Jene!
Schon lange ist es die allgemeine Klage in Deutschland, daß der
dramatische Schriftsteller so geringen Ehrenscld !sür seine Werke findet
»ut erhält, während in Frankreich sich die Schausvicldichtcr Häuser
kaufeir, Landhäuser bauen und noch außerdem von ihren gangbaren
Werken eine jährliche Rente von 20, 50, 80—100,000 Franke«, ja
auch darüber, wie Seriba, beziehen. Ihr Undankbaren! wen» Euch
das Hosburgtheatcr 100 Stück Ducaten, das Berliner Hoftheater 50
Ducaten, jedes der übrigen deutschen Hoftheater 15 und 12 Ducaten,
ferner die Provinzialbühncn jede 6 Ducaten für ein neues Stück be-
zahle» (welches bei einem neuen Stücke, das ans einer der Hauptbüh¬
nen gegeben worden ist und gefallen hat, auch der Fall ist, wenn Euch
anders diebische Copisten und Souffleurs nicht dann» bestehlen), was
wollt Ihr denn mehr? Hort die Geschichte »reiner „Schweizerfamilie"
nud Ihr werdet Euch Krösusse bunte» im Gegensatze zu mir.
Ich darf das Buch dieser Oper mit Recht nie in Werk nennen;
denn daß mir ein kleine» französisches Vaudeville, betitelt: „panvrv 5»-
,nos", die erste Idee und Nichts weiter als die Jona dazu gab, ver¬
schlägt hier Nichts, sonst würde es bei näherer Untersuchung wohl we¬
nig Originalwerke in der Welt geben. Personen, Charakteristik dersel¬
ben, Sccucurcihe, Dialog, Situiruug und Ausführung der Musiktertc,
Alles dies ist mein Eigenthum.
Diese „ Schweizerfamilie" hatte eS nun im größeren Maße der
vortrefflichen, ja classischen Musik Weigi's, aber doch auch nebenbei
meinem Buche zu danke», daß sie eine» europäischen Ruf erhalten hat.
Es ist keine, wenn auch noch so kleine Bühne in Deutschland, auf der
sie nicht gegeben worden ist und wo sie nicht gefallen hätte. Lange
war Emmeline ein Steckenpferd aller Sängerinnen, die sich zutrau¬
ten, daß sie nebenbei auch Schauspielerinnen seien. In Wien allein
ist diese Oper über hundertmal gegeben worden. Sie ist in das Fran¬
zösische, Italienische und Russische übersetzt worden, und was hab' ich
für mein Buch eingenommen? Rathet! — Nein, Ihr könnt es nicht
errathen I Also vernehmt und schaudert: ich habe für das Buch mei¬
ner „Schweizerfamilie" in Allem, Summa Summarum im Conven-
tionsfuße 8 si. (ich muß es aber schon mit Buchstaben schreiben, sonst
könntet Ihr glauben, der Setzer habe ein Paar Nullen weggelassen),
sage also acht Gulden C.-M. Honorar erhalten.
Ihr wundert Euch, Ihr lächelt, Ihr traut meinen Worten nicht,
Ihr fragt, wie daS möglich sei. Ich will's Euch auseinandersetzen,
wie das möglich war:
Es war im Jahre 18(17, als diese Oper zum ersten Male auf¬
geführt wurde. Ich erhielt dafür von der Direktion des Kärnthner-
thorrhcatcrs ein Honorar von einhundert Gulden in Bancozetteln.
Ich glaubte schon ein reicher Mann zu sein, als ich diese hundert
Gulden in einer Tasche hatte; denn ich lebte damals noch sehr küm¬
merlich, und mein Schneider und Schuster freuten sich mit mir. Nun
dividirt mit 5 in diese Hundert, so findet Ihr 20, und wieder mit 2^
in die 20, so ergibt sich das von mir angegebene Facit pr. 8 si. C.-M.
Drucken ließ ich meinen Text anch gleich bei der ersten Aufführung,
und zwar bei Wallishanscr, und verlangte als Honorar Nichts als
25 Freiexemplare. Lieber Himmel! ich war ja ohnehin der cillcrglück-
lichstc Schriftsteller, ich besaß 109 si. und genoß die Ehre, mich ge¬
druckt zu sehen, und konnte hier ein Exemplar an Fräulein Zt. und
dort eins an Dlle. A verschenken, die von nun an einen außerordent¬
lichen Respect vor dem großen Dichter hatten. Ach! waS ging ich da,
besonders an Tagen, wo mein Name an allen Straßenecken angeschla¬
gen war, mit emporgestreckten Kopfe auf dem Kohlmarkt und Graben
herum, und meinte, Jedermann sehe es mir an der Nase an, daß ich
der hochberühmte Verfasser der Schweizerfamilie sei. Wozu hätte ich
noch Geld bedurft, da ich des Ruhmes genug — mir einbildete. Weigi
hat dann seine Musik zur Schweizerfamilie oft und an alle Theater
verkauft. Mein Buch ging, versteht sich, mit in den Kauf, da es für
30 kr. gedruckt zu haben war. Walliöhauscr hat von diesem Buche
bereits die sechste Auflage gemacht, und ich habe kein Honorar
mehr gesehen, und daS mit Recht, da ich bei der ersten Auflage keines
forderte und auch keine Bedingungen für die folgenden festsetzte.
Und so blieb es denn bei den ausgewiesene» acht Gullvcn.
Der Schaum von Ehre ist nun verflogen, obwohl ich mir noch
immer einbilde, in meiner Schweizerfamilie eines der besseren Opcrn-
büchcr geliefert zu haben, aber manchmal ärgert es mich doch noch,
daß ich von einem so allgemein beliebten Werke so wenig Nutzen ge¬
zogen habe, und diesem Aerger habe ich durch diese wenigen Zeile» Lust
machen wollen.
Werfen wir einen Blick auf unsere Zeitschriften-Literatur; wir
haben manchen erfreuliche» Fortschritt zu signalisiren. Zuerst ist zu
bemerken, daß in den Blättern, die seit zwei, drei Jahren neu ent¬
standen sind, ein gewisser Ernst überwiegend ist, den man i» früheren
Perioden keineswegs in Zeitschriften gesucht und gefunden hätte. Die
neuen Redactionen haben nicht wie die früheren zumeist daS weibliche
Publieum im Auge oder die weibischen Leser, die nur mit Bonbons
und Knacknüsscn gefüttert sei» wolle«. Dieser Fracticn der Lesewelt
sind in letzterer Zeit wenig neue Altäre errichtet worden. Die meisten
jungen Blätter zeigen durch Stoff und Haltung, daß sie sich an Män¬
ner wenden. Hervorgerufen durch die positive ferisse Richtung der Zeit,
findet diese Journalistik auch noch durch einen äußern Umstand eine
Begünstigung: durch die immer zahlreicher werdenden Lesevereine oder
sogenannten Museen, die von der Elite der gebildete» Männer in
großen und kleinen Städten gestiftet werden. Früher lag das Loos
der Zeitschriften in den Händen der Leihbibliotheken, der Kaffeehäuser
und Conditoreien. Der Lcihbibliothekar wollte lange Novellen, der
Kaffcticr und Conditor kurzes Naschwerk, das nicht länger Muße braucht,
als die Mocca-Tasse dampft und die t-u-le- -l !>->, Li^me verzehrt ist.
Der Vüchervcrlciher mit seine» grünen Staubärmcl», der Kaffeeschcn-
kcr mit seiner weißen Schürze waren die Richter, die Wähler, die Au¬
tokraten der Zeitschriften, und sie sind es in vieler Beziehung noch.
Durch das Entstehen solcher Lesevereine, wie das Museum in Dresden,
Leipzig, der historisch-politische Verein in Wien u. s. w. ist den bes¬
seren Journalisten ein Asyl geöffnet worden, daS sie aus der Gewalt
der rohe» Menge r«etat. Der Kreis ist kleiner, aber würdiger: die
Redactionen, de»c» ihre Tendenz, die Verbreitung ihres geistigen Wol-
lens mehr gilt, als der massenhafte materielle Gewinn, haben nun ei¬
ne» Spielraum gewonnen, und daß es an solchen nicht fehlt, beweist
die Zahl der neu entstandenen Blätter, wie die Bicdcrmannschc Mo¬
natsschrift, die Jahrbücher der Gegenwart, der Sprecher, das Vaterland,
die Zcitintercssen u. s. w., sowie der Aufschwung, den manche andre
Journale genommen haben.
ES verbreitete sich im Laufe dieser Woche das Gerücht, der Graf
Sedlniczky wolle seine Stelle als Polizeiminister niederlegen und der
Staatsrath Weiß werde an seinen Platz treten. Der Herr Staatsrath
Weiß soll einer noch mehr als conservativen Richtung angehören und
man war im Publicum recht froh, als man horte, daß das Gerücht
ein grundloses sei. Auch von dem Präsidenten der Hoftammer, Ba¬
ron Kübeck, heißt es, daß er zum Staatsminister ernannt werde. Eine
Veränderung des Titels und keine Veränderung der Function, obgleich
dieser Staatsmann gegenwärtig mancherlei harten Tadel sich zugezogen
hat. Auf der Börse namentlich hat ein Anschlag, der den Handel in
Livorno-Pisa'sehen Eisenbahnactien verbietet, Allarm erregt. Die Re¬
gierung hat zwar schon in früheren Jahren gewisse ausländische Pa¬
piere verboten (wie namentlich polnische Loose), indessen ist es jetzt
das Erstemal, daß man den Handel in Judustricpaptcrcn verbietet,
oder mit anderen Worten, daß man den österreichischen Kapitalisten
untersagt, nach Belieben bei jener oder dieser industriellen Unterneh¬
mung deS Auslandes sich zu betheiligen Man will diese Maßre¬
gel vom Standpunkte der Politik dadurch vertheidigen, daß der öster¬
reichische Staat, indem er das Opfer brachte, die Eisenbahnen auf seine
Kosten zu erbauen, dabei auf die Beihilfe der Kapitalisten des Landes
rechnen müsse und nicht gleichgiltig zusehen könne, wenn die inländi¬
schen Capitalien sich in ausländischen Unternehmungen zersplittern. In--
dessen ist "eine solche Politik grade in unserer Zeit nicht sehr zu loben,
in einer Zeit, wo man bemüht ist, die Zollschranken für deu Waa-
renhandel so weit als möglich niederzureißen, will man da neue er¬
richten für den Geld-, oder was fast gleichbedeutend ist, für den Pa-
pierhandel? Will man dem Kapitalisten verbieten, seine Fonds da un¬
terzubringen, wo er einen besseren Zinsertrag für sie hoffen darf? Man
verbietet heute die Livorncscr Actien, mit demselben Rechte könnte man
morgen die preußischen Eisenbahnactien verbieten — eS heißt sogar,
dies werde geschehen. — Wenn nun dieser Grundsatz sich feststellte
und eine Reciprocität bei anderen Staaten hervorriefe, wohin käme es
mit dem österreichischen Staatscredit?
Allgemein ist dagegen der Beifall, den Baron von Kübeck durch
seine strengen Maßregeln gegen das Schnnigglcrwescn sich erworben
hat, das in Oesterreich, wie noch kann i» einem anderen Staate, sy¬
stematisch betrieben wurde. Daß der Wagen eines reichen Baro»S,
der bisher ungehindert mehrmals durch die Stadtlinicn aus- und ein¬
fuhr, endlich ein Mal genau durchsucht, und als ein großes Behältniß
zum Einschmärzc» von Tabak erkannt wurde, haben Sie in öffentli¬
chen Blättern bereits gelesen. Weniger bekannt dürfte es sein, daß
ein großer Theil des SchmuggclhandelS an der böhmischen Grenze
durch Bergleute befördert wurde. Man behauptet, daß ganze unter¬
irdische Gänge zu diesem Behuf gegraben oder benutzt wurden; sicher
ist, daß die größten Depots eingeschwärzter Waar«n in Schachten und
Gruben sich vorfanden. Die Ausbeute dieser Bergwerke war ungeheuer.
Der hiesige Musikverein mit seinem Conservatorium —- das ein-
zige Institut dieser Art in Wien — drohte bankerott zu werde«, und
der Verein beschloß, um sich aus seinen Nöthen zu helfen, daS große
Haus, das er erbauen ließ, durch eine Lotterie auszuspielen. Da nun
aber die berüchtigten österreichischen Güterlottcricn durch einen Befehl
des Kaisers fernerhin nicht gestattet werden solle» (blos einige, die vor
dem Verbot ihre Concession erlangt hatten, werden noch stattfin¬
den), so beschloß der Präses des MusikvcrcinS, Herr Landgraf von
Fürstenberg als Begünstigung für den schönen Zweck des Vereins ihm
eine Ausnahme von dem allgemeinen Verbot zu erwirken. Allein
kaum wurde dies bekannt, so beschloßen sogleich mehrere Wohlthätig,
kcitsanstaltcn, sich gleichfalls mit einem ähnlichen Gesuche an den Mo¬
narchen zu wenden. Landgraf Fürstenberg gab also seinen Plan auf,
stellte aber dem Kaiser die betrübte Lage des Instituts vor und erwarb
demselben einen jährlichen Zuschuß von dreitausend Gulden aus der
kaiserlichen Privatchatoulle, so daß jetzt das Schicksal des Vereins ge¬
sichert ist.
Morgen kommt das fast vergessene Stück CSsario von Pius A.
Wolf, wieder neu aufgegraben, in die Scene. Eine Notiz in der letz¬
ten Nummer der Grenzboten verdient eine Berichtigung; nicht Herr
von Holbein brachte dieses Stück in Vorschlag, sonder» der Befehl kam
ihm vom Hofe zu, wo man erst beabsichtigte, dasselbe von Dilettanten
spielen zu lasse», durch die Hoftrauer aber unterbrochen wurde und
nun den Wunsch äußerte, es auf dem Burgtheater zu scheu. Unter
den Novitäten, die demnächst zur Aufführung vorbereitet sind, befindet
sich ein Stück von Otto Prechtlcr, betitelt: „die Kronenwächtcr" (nach
Arnim's Novelle) und die Lucrcce von Ponsard (!) nach der Ueber-
setzung von Gabriel Seidl. Was die Lucrcec aus einer deutschen
Bühne soll, das wissen nnr die Götter, die ohnehin so viel dummes
Zeug von uns wissen. In Frankreich gefiel das Stück, weil es an
das alte classische Drama erinnerte, an die Bühne Racine's und Cor-
mente's, die in der französische» Literaturgeschichte von großer Bev
deutung ist und ihre Anhänger Kotz des Drei-Einheiten-Zopfs noch
heute hat. Aber tvaö ist uns Deutschen die Bühne Racine's? Was
sind uns die drei Einheiten? In Frankreich lobte man den schönen
klappenden Alexandriner Ponsard'ö; was soll uns aber bei den über¬
setzten Jamben des Herrn Gabriel Seidl reizen? Oder will man uns
»vieler in die trübselige Zeit Gottsched's zurückversetzen?") Halm's Sam-
piers wird, trotzdem daß sein Erfolg blos ein «nov»« Ä'esUilil- war,
dennoch bereits zum siebenten Male bei vollem Hause gegeben. Lernen
Sie daraus unser Burgtheater schätzen. Nach Berlin hat Halm sein
Stück nicht gesandt, da er dort keinen passenden Darsteller für seinen
Helden weiß. Er ist bereits hinter einer neuen Arbeit her; abermals
ein fünfactigcs Stück; Atti la. Dies ist nun der zweite Wiener Dich¬
ter, der sich an diesen Stoff macht, da bekanntlich Zacharias Werner
auch einen Attila geschrieben hat.
Carnevalsneuigkeiten weiß ich nicht zu melden, fühle auch kei¬
nen Beruf, an diesem Gegenstände zum Historiographen zu werden.
Die hiesigen Journale füllen ohnehin ihre Spalten mit ellenlangen
Berichten über die Bälle beim spert, beim Sträuße! und wie die
großartigen Salons alle heißen, wo die hiesigen „Referenten" mittelst
eines Gratisbillcts Zutritt erhalten, um dann in das Horn der Fama
zu stoßen. Ueber die Bälle und Soireen, die allenfalls eine Art po¬
litisches Interesse haben, wegen der Personen, die man da zu Gesicht
bekommt, wie beim Fürsten Metternich, beim französischen Gesandten,
beim Grafen Scchcnv liest man allerdings sehr wenig d. h. keine
Silbe, denn dahin werden die Herrn „Referenten" nicht geladen. ES
ist auch nicht viel verloren. Aber man sollte auch über das Uebrige
schweigen, denn das alte Lied-:
Und beim spert
Sitzt a Heri
weiß schon ganz Wien auswendig. Einen komischen Eindruck macht
es übrigens, wenn man auf diesen Volksbällen, wo nur der Commis
und die Grisette tanzen, den Fürsten Milosch von Serbien on ^liiinlv
nnrncie umhcrstcigen sieht, ein halbes Dutzend Sterne auf der Brust und
den Nischan Jftahar um den Hals, oder wenn man auf der Redoute den
bildhübschen türkischen Gesandten von allerhand leichtfüßigen, cnga-
gementSlustigcn Masken umschwärmt sieht, die alle wünschen, im
Abendlande Sr. Excellenz eine Fortsetzung seines orientalischen Sc-
railö zu bieten.
Uebrigens bietet der Wiener Carneval manches eigenthümliche Bild,
welches einer bessern Feder würdig wäre als die, welche für die hiesi¬
gen Blatter die sogenannten „Humoresken" schreiben. So z. B. fin¬
det man während des ganzen Faschings an jedem Sonnabend vor
einem Gasthofe deS Glacis (zur Stadt Belgrad) ein Gedränge von
fünf bis sechshundert Menschen, mit Geigen, Clarinetten, Blas- und
Streich-Instrumenten bewaffnet, und zwischen ihnen eine Menge An¬
derer, die gcsticuliren, schreien, Handschlag geben u. s. w. Es sind
nämlich dies die Musikanten der Stadt Wien, die hier für die ganze
nächste Woche engagirt werden. Hier completiren Strauß und die
andern „Walzcrhcrocu" ihre durch die vielen Strapazen defect gewor¬
denen Orchester, hierher kommen die Hauthofmeis.er der verschiedenen
Palais, um sür diesen oder jenen Battabcnd die gehörigen Truppen
zu werben; hierher endlich die Wirthe aus den umliegenden Dörfern,
um den nöthigen Bedarf an ,,Vratelgcigcrn" ein Paar Meilen weit
zu entführen. Da wird denn geboten, überboten, gefeilscht, abgeführt;
Quartetten, Quintetten, Sextetten. ES ist ein musikalischer Sklaven¬
markt, ein Bazar, der seines Gleiche» sucht.
Vor dem Abgänge dieses Briefes ist noch meine letzte Prophe-
zeihung in Erfüllung gegangen, daS Lustspiel „Cäsario" ist auf eine
solche eclatante Weise durchgefallen, wie selten noch ein Fall vorkam.
Das Publicum begnügte sich nicht damit, das Stück auszulachen, son¬
dern es verhöhnte es förmlich. Als der eine Schauspiel:r sagte:
„Will man uns hier mit Phrasen massacrircu?" da brach Alles in
ein lautes Hallo aus, rief „Bravo! gut gesagt!" und als vollends
Madame Naumann später zu sagen hatte: „Wann wird diese Ko»
noble denn endlich ein Ende nehmen?" da ging der Spektakel erst
recht los. Und dieses im Burgtheater, wo man nur die Elite des
Publicums findet. Dies ist ein schlimmes Zeichen für eine Anstalt,
die sonst einen großen Nimbus hatte. Es wird die Direktion leh¬
ren, daß man der Zeit nicht trotzen darf, indem man alle
längst vergessenen Stücke aus dem Grabe heraufbeschwört und daß
die Bühne nur durch Förderung junger Kräfte gedeihen und sich er¬
halten kann.
Einen wichtigen Erfolg hatte übrigens der unglückliche Ausgang
des Cäsario darin, daß der Minister Herr Graf Kolowrath, der sich
für das Hofburgthcatcr ganz besonders interessirt, dem Kaiser einen
Plan vorlegte, nach welchem den dramatischen Dichtern
aller mögliche Vorschub geleistet werden soll und sie,
so weit äußere Aufmunterung das Talent fördern kann,
durch erhöheten Ehrensold und Auszeichnungen aller
Art (nicht zu vergessen Censur-Erleichterung!) bestimmt werden ins-
gen, sich der nationalen Bühne zuzuwenden. Denn, und
dies sind buchstäblich die eigenen Worte des Ministers, jeder Stand
will seine Ehre und jedes Streben will seinen Lohn.
Der Dichter, der von der Bühne herab Tausende erheitert
und erhebt, soll nicht trocknes Brod essen müssen!!-
Worin nun der Plan besteht, womit man von Wien aus der nationalen
Bühne unter die Arme greifen will, ist im Detail noch ein Geheim¬
niß. Da aber Nichts als die kaiserliche Bestätigung dem Plane fehlt
und diese, wie zu erwarten ist, nicht ausbleiben wird, so kann das
Ganze nicht lange mehr ein Geheimniß bleiben. Glücklicher als das
Hoftheater mit seinen zwei letzten Novitäten war das Kärnthncrthvr-
Thcater mit einer neuen Oper von einem jungen deutschen Ccmponi-
stcn: „Die Heimkehr des Verbannten" (in drei Acten) von Otto
Nicolai (Kapellmeister dieses Theaters). Die Bezeichnung „deutscher
Komponist^ kommt Nicolai blos hinsichtlich seiner Geburt und
Landsmannschaft zu; hinsichtlich seiner musikalischen Richtung ist er
Italiener; improvisirend, leichten Genres, weniger nach Tiefe als nach
augenblicklichem Effect suchend — letzteren aber durch wirkliches Ta¬
lent erringend. Die Oper gefiel sehr und erlebt vielfache Wiederho¬
lungen. Nicolai ist ein geborener Berliner; rin junger Mann von
dreißig Jahren, der frühzeitig nach Italien kam und in->,v»w> «l, <»-
n<-Ils, an mehreren italienischen Bühnen war. Zur Charakteristik der
hiesigen Censur und Thcatcrzuständc diene hier die Notiz, daß Herr
Nicolai vor der Aufführung seiner neuen Oper in einer Audienz beim
Polizeiminister Herrn Grafen Scdlniczkv (der ein Hauptbeschützcr der
Oper ist) darum nachsuchte, daß die Censur sein Werk gegen die Kri¬
tik der Journale in Schutz nehmen möge! Zu solchen Mitteln darf
ein Künstler in Oesterreich seine Zuflucht nehme», ohne sich der Ge°
fahr auszusetzen, von der öffentlichen Meinung verhöhnt zu werden.
— In Dresden hat das Publicum den Sommernachtstraum sehr
gleichgiltig aufgenommen, Einige behaupten sogar, mit Zischen. So
viel ist gewiß, daß nicht Shakspeare ausgezischt wurde, sondern die
Verkehrtheit, gerade ein Stück, das vor allen andern Shakspeare'schen
Dramen in der eigenthümlichen Bildung und in dem verkünstelten
Hofgcschmcick seiner Zeit wurzelt, aus unsere Bühne zu bringen.
Shakspeare freilich konnte selbst ein zeithnldigendeS Gclcgenheitsspiel
nicht schaffen, ohne es mit einem Anflug seines unsterblichen Humors
zu übcrhauchcn. Aber „das Bleibende" in Shakspeare ist beim Som-
mernachtstraum nur für den Leser sichtbar, nicht für ein modernes Pu-
blieum darstellbar. Ein tiefer Verehrer und Kenner Shakspeare'S
schreibt uns über das Dresdener Experiment mit dem Svmmcrnachtö-
iraum-. DaS Stück ist wirtlich mit widersinnigen Raffinement zusam¬
mengeflickt. Alle Zonen habe» beigesteuert, um diese humoristische
Narrcnjackc zu Stande zu bringen. Diese gespreizten Figuren mit der
galanten und manierirten Antitheseujagd, in der Sprache der Höflinge
zur Zeit der Elisabeth, sollen Hellenen vorstellen, nennen Hercules ih¬
ren Retter, haben mythologische Verwandtschaften und riechen nach dem
Bisam der königlichen Jungfrau, während Spanien ihnen die Mäntel
liefert; sie treten wirklich in spanischem Costüm auf. Die Geister des
Mittelalters liefern ihre Dämpfe, ihre Feen- und Elfensagcn. Das
Märchen will hier mit Gewalt dramatisch, Musik sichtbar sein, aber
man gibt sich dem kaum hin, so werfen sich die Rüpel aus der Vor-
stadttabagie von London über uns her und zwingen uns, ihre Plump¬
heiten für Humor zu halten. Um nun das Alles, John Bull und
Jaques Pudding mit ätherischer Mythologie, die Hofschranzen von
England mit den Thaten des Hercules, die Elfen und spanischen Män¬
tel/Einfachheit der Shakspeare'sehen Bühne und alles Raffinement von
Kindcrballett und heutiger Oper zusammenzubringen, muß endlich ein
Deutscher kommen und diese widerstrebenden Ingredienzien mit Musik
in einander rühren I Daraus wird ein recht widerliches Gemengsel. Die
Musik Mendelssohn's ist an sich so schön, fein, zart, so von Elfcnfit-
tigcn getragen, daß man wünschen muß, sie im Concertsaal zu hören,
damit sie nicht so sehr verloren gehe. Die Töne stören die Agircndcn,
und das Spiel stört die Musik. DaS Ballet stört beides, Spiel und
Musik. Nur die Rüpel lassen sich nicht stören. DaS ist denn auch
das Hervorstechendste.
— Kühne's „Kaiser Friedrich in Prag" ist in Mannheim mit
sehr großem Beifall gegeben worden. Die Darsteller von Friedrich,
Mar und Wlasta wurd»n mehrmals gerufen. Außerordentliche Wirkung
machte das Lied der deutschen Studenten: Germania, von Marschncr
componirt. So viel wir wissen, hat Kühne dies Drama, nach der
ersten Aufführung desselben in Hannover und Magdeburg, wesentlich
und, wie sich nun erweist, sehr glücklich umgearbeitet. Man führe nur
auf, was jüngere Dramatiker schreiben. Ein wirkliches Talent wird
durch die Darstellung seiner eigenen Stücke schneller zu Bühncnkennt-
uisscn kommen, als durch die Jeremiadcn und oft anmaßenden Bor¬
würfe von Theaterintendanten, Direktoren und Regisseuren.
— Vermischte Nachrichten. In Frankreich wankt das Ministe¬
rium Guizot, in England das Ministcruim Peel; denn während der O'Con-
nellprozeß die irische Frage gewiß nicht lösen wirr, erhebt sich im Herzen
Altcnglands die Anticornlawlcaguc und verspricht neue Parteibildungen,
die zu naturwüchsig sein könnten, um gleich in daS parlamentarische Gleise
zu passen. In England und Frankreich, namentlich in letzterem, sind die
Ministcricnwcchsel eine Art politischer Weticrhahn; dieser dreht sich aber
nur zu oft beim leiseste» Lüftchen, so das, man sich nicht selten über
die Größe kommender Erschütterungen tauscht. Zu friedlichen Deutsch¬
land fehlt solch ein Wettcrzcichen, ein deutsches „Ministerium erzittert
nicht"; man kann sich bei uns umgekehrt täuschen. — Die politische
Einsicht dringt immer breiter in die Massen, und damit wird hoffent¬
lich der moralische Muth kommen, der noch gar schwach ist. Sehr
dankbar sollte man daher für die Offenheit sein, mit der manche Re¬
gierungen von ihren Ncprcsfivmaßregcln Gebrauch macheu. Die kin¬
dischen Illusionen verschwinden immer mehr; zwar klagen die Patri¬
archalischen, daß die vertrauensvolle Gemnthlickkeit zwischen Völkern
und Regierungen aufhöre; aber man glaube nicht, daß die Deutschen
darum an Gemüth verlieren werden. Wo es gut angewendet ist, wird
es sich doppelt geltend machen. — Zur politischen B.ilduug muß der
Grund zeitig gelegt werden; es ist daher natürlich , daß Studenten,
junge, wissenschaftlich angeregte Männer von 2t)—25 Jahren, sich um
Gesetz und Verfassung kümmern, besonder«, wo es sie selbst betrifft.
In dem Maße, als die Studcntcnvcrsammluug«» durch den Mangel
aller Gcheimthucroi und Renommage einen ernsten gesetzlichen Sinn
verrathen, sollte anch die Strenge der Ueberwachung, Verbote und,
Hemmungen nachlassen. Man will aber wohl nur überall die politi¬
sche Entwicklung auf die Probe stellen? — Ein preußischer Advocat
forderte seine College» auf, den, wissenschaftliche» Verein deutscher
Advceatcn in Mainz beizuwohnen. Der Justizminister Muster pro-
clamirt darauf ein Verbot, dieser gesetzwidrigen Aufforderung Folge zu
leisten und citirt einen.Paragraphen des sonst nicht immer giltigen Land-
rcchts. Es wird gewundene Artikel darüber regnen, wie immer. Die Deut¬
schen sind in solchen Fällen wie dn Mann in der bekannten Anekdote, der
da fragte: Soll das vielleicht eine Anspielung sein? Auch hier will
man nur die politische Reife erprobe» und fördern. — Der Ver¬
fasser des Buches über Weidig ist Dr. Schulz in Zürich, der
die ischöne und gehaltvolle Schrift: „Bewegung der Production"
geschrieben hat. — Alle polnischen Emigranten, die in der letzten
Revolution gegen Rußland gefochten und sich seitdem im Großherzog-
thum Posen angesiedelt, zum Theil verheirathet haben, sollen binnen
14 Tagen das Land verlassen!! ! — Das neue preußische Ehc-
schcidungögcsetz» dessen Entwurf die ganze deutsche Presse in Feuer
und Flammen versetzte, soll im Wesentliche» unverändert nächstens
veröffentlicht werden; ebenso das neue, Jndengcsetz, welches die jü¬
dischen Unterthanen Preußens als eine Innung auffaßt. — Her-
wegh'ö Gedichte haben so verletzt, daß auf den Lebendigen
gefahndet werden soll, wann und wo er sich auf preußischem Boden
betreten lassen sollte, waS er gewiß bleiben lassen wird. So meldet
die „Mannheimer »Abendzeitung". Bis jetzt ist diese Nachricht noch
nicht widerrufen oder berichtigt. — Die Zeitungen haben letzthin viel
von einem Verein für Emancipation der Juden gesprochen, der,
auf Anregung des »>- Freund in Berlin von Christen und Juden ge¬
stiftet, Leipzig zum Centrum seiner Wirksamkeit machen wolle. Den
erste» Nachrichten wurde lheils geradezu widersprochen, theils wurden sie
dahin berichtigt, der Plan sei noch nicht reif und überhaupt noch nicht
entschieden, ob er rcalisirbar sei. Auch französische Blätter meldeten
das Gerücht. Jedenfalls wäre der Verein ein so schönes und erfreu-
liches Zeichen der Zeit, daß man wünschen muß, die Nachricht bestä¬
tigt zu sehen. So viel wir gehört haben, betrachtet der Verein die
Emancipation der Jude» nickt als eine blos jüdische, sondern als eine deut¬
sche Nationalsache. Diese Auffassung ist nicht nur in» Sinne der vcr-
söhnentstcn, religiösen Menschlichkeit, sondern sie steht anch politisch auf
dem einzig richtigen Standpunkte. Man kann nicht von allen Ge¬
bildeten, nicht einmal von manchen Liberalen verlangen, daß sie so.
human sein sollen, um aus eigenem Antriebe sich um das Schicksal
ihrer jüdischen Landsleute zu kümmern. Diese Praktiker pflegen mit
wenig Wiv und viel Behagen zu bemerken: „die Juden werden sich
schon selbst emancipircnals ob die Anregung zu einem solchen Ver-
rein nicht eben anch ein Versuch der Juden wäre, „sich selbst^ zu eman-
cipiren. Welche unmittelbare Macht haben denn die Juden, um für
sich zu wirken? solle» sie ihre Emancipation decretiren? Es ist ge¬
rade, als ob eine Regierung auf eine Petition um Preßfreiheit ant¬
wortete: „die Presse wird sich schon selbst befreien." Der Indolenz
dieser Partei wäre aber durch die Tendenz des angeregten Vereins im
Voraus begegnet. Der Verein scheint nämlich anzuerkennen — Was
man längst hätte einsehen sollen— daß der Nation selbst daran gelegen
sein muß, die Juden zu emancipiren. Sind die Juden wirklich, wie
ihre Gegner fortwährend betheuern, ein so gemeinschädliches, gefährli¬
che» oder gar bösartiges Element, so glaube man doch nicht, daß dies
Element durch Druck, Beschränkung und Kränkung minder schädlich
und krankhaft werde. Der Verein wollte sich, wie es hieß, nicht
etwa blos mit äußerlichen juristischen Bemühungen zu Gunsten der
Juden beschäftigen, sondern vorzugsweise mit Berathung der Mittel,
»in dle der Emancipation im Wege stehenden socialen Uebelstände zu
hebe» , nothwendige Reformen des jüdischen Cultus vorzuschlagen, Auf>
schlüssa und authentische Darstellungen der jüdische» Zustände in den
verschiedensten Theilen Deutschlands z» sammeln, »ut durch den
Druck zu veröffentlichen n. s. w. Ohne von dem außer» Erfolg dieser
Bemühungen zu reden, so wäre dieses einträchtige Zusammen -
wirken aufgeklärter Juden und aufgeklärter Christen zu einem humanen
Zwecke an sich eine Erscheinung, deren moralische Wirkungen kaum zu
übersehe», aber jedenfalls wohlthuend, erhebend und segensreich wären.
— O'Connell ist von der protestantisch-irländischen Jury, wie zu
erwarten war, trotz seiner vortrefflichen Vertheidigungsrede, trotz d,'r
überwiegenden Aussagen zu seinen Gunsten, schuldig gefunden wor¬
den. Die Times äußert sich, als ob das Urtheil nicht zur Vollstrck-
kung kommen würde. Will ihn die Königin vielleicht aus freien
Stücke» begnadige»? O'Connell wird gewiß nicht um — Gnade
bitten. Wen» Daniel gefangen sitzt, so ist es »in die Ruhe Irlands
geschehe» und ans der gesetzlichen Agitation wird offene Rebellion.
Vielleicht suche» die Hochtories diesen Ausgang planmäßig herbeizuru-
fen, um den irischen Knoten mit dem Schwert zerhaue» zu können.
Die ganze grüne Insel ist bekanntlich seit wcniqcn Monaten wie eine
Festung vcrgarnisonirt. — Indessen hat O'Council verkündet, er
werte Formfehler in dem Processe nachweise», ist mit seinen Söhnen
nach London gereist und wirv bei den Verhandlungen des Unterhauses
über die irischen Zustände seine Donner loslassen. Der Attornevgc-
ncral, der den Proceß einleitete, soll in Anklagestand versetzt werden,
und wer weiß, ob der Regierung nicht ein Stein vom Herzen fällt,
wenn daS gegen Daniel gefällte Urtheil nichtig erklärt wird. — Ein
allerliebster Gegensatz zu diesem Prcecssc ist der des Publicisten Mur-
hard in Kassel. Die germanische Verwandtschaft zwischen England
und Deutschland ist in die Augen springend. Murhard ist 3 Tage
lang verhört, seine Diener, seine Freunde und Bekannten alle ver¬
nommen, über seine mündlichen Aeußerungen ausgeforscht, seine Pa¬
piere versiegelt und endlich eine Anklage gegen ihn erhoben worden,
die ihn als Hochverräter mit Eisenstrafe zu belegen trachtet. Und
warum? Hat er Rcpeal gepredigt, hat er sieben Millionen Hessen auf¬
geregt, hat er Deutschland von Kassel losreißen wollen? Nichts von
dem Allen. Allein er hat im Wetter'sehen Staatslexicon gesagt, dass
ein deutscher StaatSgerichtshof — den er nicht nannte — zum Theil
durch die Einmischungen der Regierung das Vertrauen verloren habe,
das er in frühern Jahren besessen.
Der so eben zum Mitgliede der französischen Academie ernannte
Se. Marc Girardin veröffentlichte vor Kurzem Vorlesungen über
dramatische Literatur (oder über die Benützung der Leidenschaften im
Drama), die mit aller Eleganz und geschmeidigen Feinheit seines
Styls geschrieben sind, der vielleicht dazu beitrug, ihm Ansprüche auf
den eben eingenommenen Sitz in.der Academie zu erwerben; dessel¬
ben Styles, der in dem letzten den Kammern vorgelegten und so hef¬
tig debattirten Adresse-Entwurf vielleicht zum ersten Male gezwungen
war, ein ungeschicktes und brutales Wort aufzunehmen. Wirklich ist
es nur der Styl, die Art und Weise der Darstellung, was in Frank¬
reich so viele Bildung unter das überhaupt lesende Publicum drin¬
gen läßt und die ernstesten Fragen des Staates und der Wissenschaft,
in so fern'sie französische Interessen berühren, klar und anschaulich vor
den Sinn der Nation bringt. Französische Schriftsteller kennen den
lächerlichen deutschen Ehrgeiz nicht, Wenigen verständlich zu sein und
sich gleich den indischen Priestern durch unenträthselbare Worte und
Geberden vor der Menge mit einem täuschenden Nimbus zu umge¬
ben. In Frankreich geschieht, politisch zum Scheine, literarisch aber
in Wahrheit Alles für das Volk, wodurch es möglich sein wird,
eine Zeit des Verständnisses und der allgemeinen Aufklärung herbei
zuführen, in der Alles durch das Volk geschehe.
Das vorliegende Buch, das Nichts enthält, was nicht schon von
deutschen Aesthetikern gründlicher untersucht und umfassender ausge¬
sprochen worden wäre, und das überdem, wie es sich von einem
Franzosen von selbst versteht, für den Alles, was nicht in Frankreich
besteht, werth ist, „daß eS zu Grunde gehe", fast ausschließlich auf
das französische Drama Rücksicht nimmt, und auf das fremdländische
nur in so fern, als dasselbe in Bezug auf jenes zu bringen ist, muß
dennoch bei Deutschen vielfaches Interesse anregen, nicht nur aus der
Mode-Ursache, weil es erstens nicht deutsch und weil es zweitens
französisch ist, sondern auch, weil es mit einer über dem Rheine nicht
täglich zu findenden Mäßigung und Einsicht den Stab bricht über
den Dämon der Uebertreibung, den die neuere französische Literatur
nicht besitzt, von dem sie besessen wird. Zudem kommt, daß' uns diese
öffentlich gehaltenen Vorlesungen auf die sociale Wichtigkeit hindeu¬
te!' können/ die in Frankreich dem Theater beigelegt wird und die
uns denkenden Deutschen nicht einfallen will, denen das Theater
weder eine Manifestation des öffentlichen Geistes, noch eine Tribune
für die Bestrebungen der Zeit, noch ein sorgfältig zu pflegender und
zu begünstigender Zweig der Literatur ist, sondern nur eine Erho¬
lungsart für genußmüdc Aristokraten, ein Spaß, eine veredelte Seil-
tänzerbudc.
Der Gedanke, der den Verfasser zu diesen Vorlesungen anregte,
war, zu zeigen, auf welche Art die älteren Autoren, und besonders die
des siebzehnten Jahrhunderts, die dein menschlichen Herzen natürlich,
sten Gefühle und Leidenschaften, wie Elternliebe, Eifersucht, Liebe,
Ehrgeiz ausdrückten und wie dieselben Gefühle und Leidenschaften in
unseren Tagen zur Anschauung gebracht werden. Und so sagt er
unter Ander»,: Im Theater gibt es nichts Wahres, als das Allge»
meine? und das, was alle Welt nachempfindet. Von allen dramati¬
schen Leidenschaften ist die Liebe nur deshalb die rührendste, weil sie
die allgemeinste ist. DaS Herz wird nur ergriffen von Bewegungen,
die allen Herzen gemein sind; die Seltsamkeiten, Bizarrerien und Aus¬
nahmen können es nicht erschüttern. Und hierin schon liegt ein we¬
sentlicher Unterschied zwischen dem alten und modernen Theater; je¬
nes stellte die Gefühle so einfach dar, als sie aus der menschlichen
Natur hervorbrechen, während dieses die Seltsamkeiten und krankhaf¬
ten Steigerungen mit demselben Eifer hervorsucht, mit dem das äl¬
tere Theater sie vermied. Als das Drama die Erschütterungen er¬
schöpft hatte, die z. B. aus der Schilderung der Liebe in ihrer Ein¬
fachheit entsprangen, warf es sich auf die Ausmalung der seltsamen
und raffinirten Liebe. Mit welcher Vorsicht und Zlnückhaltting Nta-
eine dabei zu Werke ging, als er die ehebrecherische und fast blut¬
schänderische Liebe Phädra's vorführte, ist bekannt; kühner war Cam-
pistron im Tiridate, da er die Liebe, des Bruders zur Schwester auf
die Scene brachte, Duciö ahmte ihm, ohne ihn zu erreichen, im
Abufar nach und Chateaubriand machte aus dieser Liebe die Schuld
und die Strafe seines Rene. In der That besitzt Ren.! jenen un¬
ruhigen und träumerischen Charakter, den Lord Byron nach dein
Beispiele Chateaubriand'S seinen Helden zu geben wusste, und der
seitdem zu einer Schule in der Literatur wurde, nur deshalb^ weil er
in seine Seele eine seltsame und schuldvolle Leidenschaft gleiten ließ.
Die Nachahmer in Auffindung uimatürlicher und raffinirter Passio¬
nen fehlten bis auf unsexe Zeit nicht, nur tritt dabei der Unterschied
hervor, daß in der älteren Literatur Phädra, Tiridate, Abusar, Reiw
über ihre Verirrungen errötheten und in dieser Neue darüber sich
die Regel wieder geltend machte, während gegenwärtig die Leiden¬
schaft kein Crröthen, sondern nur den Aufruhr gegen die Pflicht
kennt, und die Regel vom Throne stoßend, die Ausnahme an ihre
Stelle setzen möchte. Bei diesem Verfahren aber erscheinen zwei
große Fehler als unvermeidlich: die Monotonie und die Uebertrei¬
bung. Jene, weil jede Bizarrerie sich immer in demselben Kreise
bewegt und außerdem leicht nachahmbar ist, — welche Leichtig¬
keit der Nachahmung in der Poesie wie in der Malerei die Strafe
dessen ist, was man Manier nennt, diese, weil der dramatische
Autor bei der Darstellung von Seltsamkeiten und Ausnahmen sich
nicht wie bei der Schilderung allgemeiner Leidenschaften an ein be¬
stimmtes Maß und an seine Kenntniß menschlicher Zustände halten
kann, sondern, gezwungen, in seiner Einbildungskraft zu finden, was
ein Mensch dieser Art thut und soll, sich immer mehr von den allge¬
meinen Empfindungen, das ist von dem einzig Wahren entfernt. In,
Glauben, niemals gewaltig genug wirken zu können, überschreitet
er das Ziel, aus Furcht, es nicht zu erreichen. Dabei sehen wir
mehr eine Wirkung auf die Sinne, als auf den Geist, beabsichtigt
und erreicht, und hören in den Leiden der modernen Tragödie mehr
den Schrei des gemarterten Körpers als die Klage der gequälten, aber
endlich siegreichen, weil unsterblichen Seele; diese ist mannigfaltig un^d
wechselnd, der Körper weiß Nichts als zu sterben, dies ist daS ganze
Ziel, der ganze Umfang seines Leidens. Die Griechen hatten, um
dramatisch bewegt werden zu können, kaum ein die Illusion äußerlich
herbeiführendes Theater nöthig, und dies ist es, was die Ursache
ihrer Größe in der dramatischen Kunst ausmacht. In Rom hinge^
gen brauchte das Volk, um angeregt zu werden, plumpe und mate¬
rielle Schauspiele, die harmonischen Klagen von Philoktet und Oedi-
pus erschütterten nicht mehr die römischen Herzen, die Illusion war
ihnen nicht genug, sie brauchten den Schrei der sterbenden Gladia¬
toren. Rom verachtete die kleinlichen Schrecken der griechischen Tra¬
gödie, es wollte Männer sehen, die sich schlagen, verwunden und
tödten, eine von Blut überströmte Arena, deren Sand von den Con-
vulsionen der Sterbenden aufgewühlt wird, wirkliche Agonien, wirk¬
lichen Tod und wirkliche Leichen. So verstanden die Römer die
dramatische Wirkung, drum hatten sie auch keine Theater, sondern
nur einen Circus und jede Anregung des Geistes ging unter in der
ausschließlichen Befriedigung der Sinne.
Es sei uns erlaubt, den französischen Autor hier zu unterbre¬
chen. Auch das deutsche Theater nähert sich immer mehr dem Cir¬
cus und die Anrechte des Geistes müssen verstummen vor der sinn¬
lichen Befriedigung. Zwar weiden wir uns nicht an den Zuk-
kungen verbindender Athleten, aber der große Raum, den wir auf
der Bühne den musikalischen Productionen einräumen, macht die
Sache um Nichts besser. Träg und gedankenlos lassen wir die Me¬
lodie an unserem Ohre vorüberschleichen, und gewöhnt daran, verlie¬
ren wir allmälig im Theater die Aufmerksamkeit des Geistes und
die psychische Empfänglichkeit für das Wort des Dichters. Die große
Vorliebe für die Oper ist kein Zeichen von Kunstsinn, sondern nur
daS Lechzen der Sinne nach raffinirtem Genusse. Der Musik, die,
selbst wenn sie die gute ist und nicht die gegenwärtig am meisten
frequentirte, nur aus der Empfindung hervorgeht und blos auf die¬
selbe wirkt, gebührt nicht mehr der theatralische Vorrang, in unserer
Zeit, wo die Empfindung überall, in der Lyrik wie in der Philoso,
phie, sich zum Gedanken verklären muß und der Geist allein sein
siegreiches Banner schwingt. Man sollte wenigstens ernstlich darauf
antragen, daß, wie vielleicht jetzt nur in Berlin und Wien, auch in den
übrigen deutschen Städten das recitirende Schauspiel nicht mit der
Oper dasselbe Haus ;u theilen habe; daß daS erstere zur täglichen
Darstellung komme und der letzteren ein minder hervorragendes Locale
angewiesen werde. Das Schauspiel, dadurch zu doppelter Anstrengung
getrieben, muß endlich dahin kommen, das Publicum zum Besuche
zu zwingen, nicht nur, wenn eS, wie er der Oper, Nichts zu denken
und Viel zu hören und zu schauen gibt, sondern wenn es sich um
den Geist und die nationalen Bestrebungen der Literatur handelt.
Auch in Frankreich wird, wie Se. Marc Girardin gesteht, dem Geiste
wenige? gehuldigt, als der sinnlichen Aufregung, aber wenigstens ge¬
schieht dies nicht durch eine unverhältnißmäßige Bevorzugung der
Oper, und die Darstellungen, die sinnlich wirken wollen, müssen we¬
nigstens unter einer Form erftheinen, die für den Gedanken und die
Se le berechnet ist. Mag der Moralist gegen manche Scene im
Vaudeville zu eifern haben, mag der Aesthetiker mit dem Arzte in
Gemeinschaft untersuchen, ob die Convulsionen einer Victor Hugo'-
schen Heldin mehr Nervenzufälle als psychische Leiden darstellen, der
Zweck ist doch immer ein geistiger. Die Oper aber mit ihren Bei¬
gaben an prachtvoller Ausstattung und reizende,» Tänzerinnen in
schönem Costüm und in partienweisem Mangel an Costüm, wird in
Deutschland das Theater immer mehr zu einem Phantasie-Harem
für blasirte Wüstlinge machen.
Wir kehren zum französischen Autor zurück. Nachdem er unter¬
sucht hat, wie im älteren sowohl, als im modernen Theater, die
vier oder fünf hauptsächlichsten Empfindungen, die der Vorwurf für
dramatische Kunst sind, ausgedrückt werden, gelangt er zum Resultat,
daß das moderne Theater die Wahrheit einbüßte, gewaltsam und
überttieben geworden ist. Der Schmerz hat sich in Melancholie, die
Zärtlichkeit in Empfindsamkeit, die beschauliche Betrachtung in brü¬
tende Träumerei verwandelt, überall hat, so zu sagen, der Schat¬
ten der Dinge ihre eigentliche körperliche Wesenheit ersetzt, der Schat¬
ten, der sie freilich in's Uebertriebenc vergrößert darstellt, aber doch
nur immer vag, unbestimmt und leer bleibt. Und er setzt die Frage
hinzu: ob die Alteration in der Darstellungsweise, im Ausdruck ein
Zeichen dafür sei, daß die menschlichen Empfindungen überhaupt hef¬
tiger, gesteigerter, alterirter geworden sind. Ob die Menschen von
heute das Leben feiger und weichlicher lieben, als die von ehemals,
weil Caterina im Tyrann von Padua weniger ergeben sich zum
Tode bereitet, als die Iphigenia des Euripides oder Racine? Ob
ES gibt Organisationen in der physischen und moralischen Na¬
tur, welche nur bei gewissen ungewöhnlichen ErschüttcrungSpcrioden
entstehen oder sich zu entwickeln vermögen. Große Ueberschwemmun-
gen, Lavaströme, Waldbrände, Erdbeben, Stürme, — bezeichnen mei¬
stens ihre Gegenwart durch gewisse eigenthümliche Naturproducte, die
in später Nachwelt der Beobachter nicht mit jenen, welche die in ihre
gewöhnliche Bahn zurückgetretene Natur darbietet, in dieselben Kate¬
gorien setzen kann, und die man als fabelhafte Erscheinungen, als
räthselhafte Phänomene anstaunt.
Auch in der geistigen Welt scheint ein analoges Verhältniß
stattzufinden. ES gibt Charaktere, welche einer besonderen Kata¬
strophe bedürfen, um in ihrer ganzen Eigenthümlichkeit hervorzutreten.
— Wäre Napoleon in der Mitte oder gegen das Ende deö acht¬
zehnten Jahrhunderts in irgend einer deutschen Reichsstadt geboren
worden, so wäre seine kriegerische Genialität uuentfaltet geblieben, oder
er hätte es höchstens zu einem erträglichen Regiments-Commandeur
gebracht, — und ein Raphael, im dreißigjährigen Kriege lebend, hätte
schwerlich eine Madonna erschaffen. Bei Revolutionen, Bürgerkrie¬
gen und ähnlichen Gelegenheiten entwickeln sich gewisse Charaktere,
treten Individualitäten hervor, deren Dasein man sonst kaum geahnt
hätte. Derlei Beispiele gibt uns die französische Umwälzung, sowohl
im Lager als im Staatsleben; zahlreiche, aber eben so viele und
eben so interessante Erscheinungen bieten die spanischen Bürger¬
kriege dem Beobachter dar. Sowohl im sogenannten Jnvasionskampfe
als in den letzten Ereignissen traten Charakterbilder in Fülle hervor,
welche Jahrzehente oder Jahrhunderte geregelter Staatsverhältnisse
nicht erzeugt hätten.
Sonderbar aber ist es, daß, während sich bei allen Parteien ein
Palafor, Nomana, Riego, Mina, El Pastor, Zumala Carrcguy,
Cabrera, Espartero, Merino, Tristany, Espana, Larjo del Capons,
Don Diego Leon, und so viele andere auf mancherlei Art einen Grav
der Berühmtheit erlangt haben, dieselben durchaus nur immer unter den
Schaaren der Guerillas oder in den Feldlagern der Heere, sei eS un¬
ter den Fahnen der Independenz, der Carlisten oder Christinos, ge¬
sucht werden müssen, während auf der Rednerbühne und dem Schlacht¬
felde der parlamentarischen Taktik die Nation durchgängig durch
Individualitäten repräsentirt wurde, welche (mit Ausnahme eines als
politischer Quacksalber und zweiter Dulcamara unerreichbaren und
in seiner Art unübertrefflichen Gauklers, — Mendizabal —) sich nie
über die Mittelmäßigkeit herausheben und kaum ihren Worten im
übrigen Europa genügsame Aufmerksamkeit verschaffen konnten, um
den Thaten, welche damit in Verbindung standen und allgemeines
Interesse erlangten, zum Commentar oder Erklärung zu dienen.
Vielleicht liegt eben darin der Beweis, daß die spanische Natio¬
nalität in den Kammern keineswegs wirklich dargestellt, daß diese nur
eine fingirte Repräsentation seien, denen sowohl das Mandat als die
Kraft und Würde zu dessen Vollziehung abgebe, und daß das eigentliche
Volk, oder dessen Kern wenigstens, sich selbst, sei es in christinischcn
Feldlagern, oder bei den carlistischen Schaaren, feine Vertreter suche;
nach seinem richtigen Instinkt längst die Ueberzeugung hegend, daß
es sich nur hier und nicht bei der Puppenkomödie in Madrid in
seinen Wünschen, Besorgnissen, Bedürfnissen und Leidenschaften reprä-^
sentirt finde.
Der sogenannte livi's ^t»t, nämlich die Aristokratie der Bil¬
dung und des Besitzes, hat im Gegensatz mit dem Adel der Ge¬
burt, oder jenem der materiellen Kraft, welche beide letztere
Eigenschaften den Feudaladel und den Proletarier bezeichnen, in
der letzten Zeitgeschichte eine große, ja tyrannische Superiorität er¬
worben. Dies geschah um so leichter, als beide rivalisirende Elemente
durchaus strcitunfähig waren. Der Geburtsadel, materiell und
oft geistig entnervt und ruinirt, suchte sich durch Concessionen zu red-
ten, bot nur in der Minorität die Spitze, war größtentheils dem ei¬
gentlichen Volksleben entfremdet, und wurde, wo er widerstand, ge¬
schlachtet, nachdem er verhöhnt und mit den Ruthen deö Spottes
gepeitscht worden war. — Das Volk, dessen Leidenschaft man anregte,
dessen materiellen Bedürfnissen man schmeichelte, und dem, während man
es mit der Hoffnung, sein Elend zu verbessern, köderte, man die Augen
verband, bot willig seine starken Arme, um daS Staatsgebäude um-
zureisien, hoffend, in den Trümmern Speise gegen den Hunger, Schutz
gegen den Frost zu finden. Es war aber nicht wenig erstaunt, als
die Machthaber aus dem niedergebrannten Palast, aus den Ruinen
der Kirche, aus dem Schutt des Schlosses sich saubere große Fabri¬
ken, gemächliche Wohnungen für zahllose Staatsbeamte und Bazars
für die Waarenlager der Kaufherren erbauten, und der Proletarier sah
sich wie vor und eh' ausgesperrt. Wie vor und es' nagte er am
Hungertuche, während hinter Krvstallfcnstern die Lampen glänzten und
der Champagner sprang, nur daß jetzt Kaufmann, Advocat lind Bü^
reaukrat dahinter saßen, wo früher Bischof oder Graf getafelt hatten.
Der einzige Unterschied bestand darin, daß der feiste gutmüthige Bi¬
schof und der leichtsinnige ritterliche Graf zuweilen die Brosamen vom
Tischs des Reichen in die Hütte des Armen fallen ließen, während
die neueren Erwählten des Plutus zu erfahrene Jünger utilisirender
Sparsamkeit und philisterartiger Wirtschaftlichkeit waren, um nicht
auch die Ueberreste, den Abfall des Ueberflusses mit kluger Sorgsam-
keit zu benützen zu wissen.
Als das Volk nun unter den Trümmern der Zeit seine Altäre
suchte, um wenigstens bei denselben Trost un? Hoffnungen für ein
besseres Jenseits zu schöpfen, waren auch diese umgestürzt, aus den
Steinen allerhand nützliche staatswirthschaftliche Gebäude aufgeführt
worden, und es blieb Nichts als die trostlose Oede einer materiellen
Staatsvegetation! Es steht nun dahin, ob und wie lange der jetzige
,imm»ut, das heißt der Nichtgenießende, sich diesen Zustand
der Dinge wird und mag gefallen lassen, ob man ihn ent¬
weder mit parlamentarischen Declamationen oder mit Kartätschen be¬
schwichtigen, oder ob La Mennais das Schlagwort ausgesprochen
hat, womit der dritte Act der neuen großen Staatenkomödie beginnt.
Der erste wurde in die Scene gesetzt, als Ludwig XIV. auf die
silberverbrämte Brust schlug und sagte: „Q'Kt.-et, e'.,>Li >»ni!" — Der
zweite fängt mit der bekannten Antwort Mirabeau'S an: „41-
1er äiro ü vvtro iniutrs s^lo nous «ommvs le» p»r ki» volcmtö et»
^en^lo et ^no n(ins it'en «ortirovL <in« ultr I.l toicv <le> K-t^onue-
tos," — und vielleicht brüllt der Chor La Mennais' Ruf: „xuorrv
»ix rickes^ — zur Entwicklung und Schlußkatastrophe deS drit¬
ten Actes nach.
In Spanien aber standen die Elemente der Gesellschaft sich in
einem ganz verschiedenen Verhältnisse gegenüber. Mr's Erste gab es
dort nie eine Feudalität in dem Sinne, wie dieser Begriff im übri¬
gen Europa gilt, denn in diesem gründet sie sich auf das Verhältniß
des Besiegers zum Besiegten, und so umgekehrt. In Spanien
aber bestand dieses nicht, denn da die Besiegten, nämlich die
Mauren, schließlich entweder ausgerottet oder vertrieben waren, so
gab es nur Sieger; dergestalt, daß die ganze Bevölkerung mit
aristokratischem Selbstgefühl auf ihre Vorfahren zurückblickte und sich
in die ererbte Glorie theilte. Hierzu brauchte man nur «im^no n»rü
zu sein, d. h. weder von Sarazenen noch Juden abzustammen, und so¬
mit sind die Spanier wirklich ein Volk von Edelleuten. Reichthum,
Titel, Würden haben auf diesen Begriff keinen Einfluß, und ein na-
varresischer Arriero oder ein asturischcr Wasserträger würde mit Stolz
auf einen Grand von Spanien blicken, könnte er denselben der Bei¬
mischung arabischen oder hebräischen Blutes verdächtigen. Es erhellt
hieraus, wie nahe diese Ansicht mit der strengen katholischen Recht¬
gläubigkeit verschmelzen mußte, da ein Ungläubiger und ein Unadeli-
ger beinahe identische Begriffe waren. Deshalb, trotz der blutigen
und häufigen Reactionen der verschiedenen Parteien, hat man nie den
Haß gegen die höheren Stände bemerkt, und Niemand wurde meines
Wissens je als Aristokrat füsilirt, denn der Spanier, wenn er auch
haßt, ist zu stolz, um irgend Jemand zu beneiden, — folglich
fällt der Hanptbeweggrund der Verfolgungssucht gegen den Geburts-
adel, nämlich der Neid weg. Aber eben dieser Stolz äußert sich
dagegen in anderer Beziehung und trägr mit anderen Gründen viel
zu dem Mißtrauen und der Abneigung bei, womit der Spanier im
Allgemeinen den Reichthum, ungewöhnliche Bildung und
fremde Gesinnung und Sitte verfolgt und verachtet. Seit langer
Zeit bestand eine stillschweigende Gleichheit der Ansichten über diesen
Punkt zwischen dem Hof, den Klöstern und dem Landvolke,
welche gegen den Reichthum und den Mittelstand, gegen den
Lehr stand und Nechtsgcl ehrten, auch theilweise gegen die
Weltgeistlichen gerichtet waren. Ein Grund davon ist der ange-
bome Stolz des spanischen Volkes, welches auf jeden Vorrang eifer¬
süchtig ist. Man möchte beinahe seine Anhänglichkeit an das Mönch-
thum darin bezeichnet finden, daß es in den, aus seiner Mitte her¬
vorgegangenen, die eigenthümliche Physiognomie des Volkscharakters
tragenden Mönchen (^».^les), seine Repräsentanten in der Intelli¬
genz, seine Ausleger in Religion und Wissenschaften lieber sucht, als
in den ihm entfremdeten, fein gebildeteren Weltgeistlichen oder Rechts-
gelehrten (i^el-ni-lui«). Degen und Feder sind Waffen, welche das
Volk am liebsten in der Hand seiner Verwandten und Genossen ehrt
und schätzt, und welche ihm oft Mißtrauen einflößen, ist es nicht in
der Gewohnheit, die Hände, welche sie führen, vertraulich zu schüt¬
teln. — (Auch in Nordamerika hat sich dieses Mißtrauen gegen eine
den höheren oder reicheren Ständen ausschließlich zukommende grö¬
ßere Ausbildung der Intelligenz durch Erziehung und Schulunter¬
richt, noch neuerlich ausgesprochen.)
Wie gesagt also ermangelte die neuere constitutionelle Tendenz
in Spanien einer Haupteigenschaft, nämlich des volksthümlichen Cha¬
rakters, indem sie nach dem Beispiele von England und Frankreich,
lediglich die gebildeten und bemittelten Classen als Repräsentanten
des VolksthumeS erwählte, dagegen Elemente ausschloß, welche dort
noch in ihrer vollen ungestörten Kraft leben, während jene, welche
es an ihre Stelle zu setzen versuchte, theils gar nicht vorhanden, theils
erst in ihrer Entwickelung begriffen waren. So z. B. würde das
Landvolk in Spanien nie sich in die Suprematie gefügt haben, welche
sich in den neueren konstitutionellen Formen die großen Städte an¬
eignen, der Unbemittelte nie jene ausgesprochene des Reichen, der
Ungebildete die des Gebildeten anerkannt haben. Ferner ist ein
Hauptzug der neueren konstitutionellen Formen, die Centralisation,
durchaus im Gegensatz mit der in Spanien vorherrschenden Tendenz
zur Jsolirung und Municipalitäts-Verfassung. Provinz, Gemeinde,
Familie, Individuum, — Alles strebt sich unabhängig und vereinzelt
darzustellen und in seiner selbständigen Individualität zu erhalten.
Dies hat auch auf die Natur der Administration und des Krieges
selbst in diesem Lande einen wesentlichen Einfluß, denn eS ist un-
möglich, wie in anderen Ländern, durch Besitz einiger wenigen wich-
tigen Operations-Objecte die Mittel zu finden, den Knoten zu allen
Fäden politischer Verwaltung und militärischer Bewegringen in Hän¬
den zu haben, wodurch man sich anderswo den Besitz eines Landes
sichert und es, wie man sich militärisch auszudrücken pflegt, occupirt.
Die Franzosen hatten Andalusien und Castilien besetzt, während in
Arragon und Navarra die Jnsurrection sogar die Gränzen Frank¬
reichs beunruhigte und selbst im Rücken der französischen Heere sich
entfaltete.
Deshalb ist auch dieses Land, im Widerstand unbesiegbar, im
Angriff ohnmächtig. Es ist die Schlange, welche, zehnfach zerstückt,
in jedem Stücke fortlebt. Ist man auch Herr der ganzen Halbinsel,
so dürfte dies die Unterwerfung einer einzelnen Provinz noch keines¬
wegs unbedingt mit sich bringen, — man muß eine jede derselbe»
und in der Provinz wieder jede einzelne Stadt oder Flecken bezwin¬
gen, jede Gemeinde wird dann noch einzeln ihre eigenthümliche Mei¬
nung verfechten, und so wird man bis auf die Familie, bis auf das
einzelne Individuum sein Augenmerk richten müssen, denn ist endlich
auch Provinz, Stadt, Dorf und Haus erobert, ,o protestirt, die Flinte
in der Hand und die Navaja im Gürtel, jeder Einzelne hinter dem
nächsten besten Busche noch gegen die aufgedrungene Gewalt. Des¬
halb, hätte Don Carlos auch Madrid wirklich erreicht, so wäre des¬
sen Besitznahme weit wichtiger durch den Eindruck, welchen sie im
Auslande gemacht, und durch die daraus entstehenden Konsequenzen ge¬
wesen, als durch die unmittelbare Wirkung, welche ein solches Ereigniß
in Spanien selbst hervorgebracht hätte, wo Cadir, Saragossa, Bar-
celona, Valencia keineswegs von dem Schicksale und dem Beispiele
Madrids, welches weit mehr Residenz als Hauptstadt ist, abhängen.
Demnach, als Don Carlos in den Provinzen erschien, gruppir¬
ren sich um seine Fahnen in ganz Spanien nicht allein die reinen
Anhänger der Legitimität, sondern auch alle Verfechter der alten spa¬
nischen, nationalen Volksthümlichkeit, alle Gegner — und dies bezeichnet
in Spanien keine geringe numerische Anzahl, — fremder eingeführt
ter Sitten und Gesetze. In den Provinzen, in Arragon, in Catalo-
nien, in Andalusien, in Valencia, vereinigten sich unter demselben
Banner sehr verschiedenartige, ja widersprechende Elemente, welche
aber weit weniger durch eine gemeinsame Anhänglichkeit für die
Sache des Don Carlos, als durch einen gemeinsamen Haß gegen
die sogenannte Constitution vereinigt wurden.
Kein Land hat vielleicht in seinem Staats-Organismus der
MunicipalitätS-Verfassung einen größeren Spielraum gelassen, als
dies ehemals in Spanien der Fall war. Es bedürfte der Niesenfaust
eines .Nmenes, der Macht eines Karl V. und der Konsequenz seiner
Nachfolger, um diese National-Repräsentation wenigstens in der Form
zu zerstören. Vielleicht straft die Vorsehung die spanischen Könige
jetzt für den damals verübten Mißbrauch der Gewalt der Krone,
indem man das, was damals zerstört wurde, durch neue Aftergebilde
mühsam zu ersetzen sucht, und die Legitimität in den Trümmern der
MunicipalitätS-Verfassung, welche sie damals nicht zu vernichten ver¬
mochte, nämlich in den baskischen Fueros, in dem Provinzialgeist von
Catalonien und Arragon, die Elemente suchte, bei welchen sie ein
Asyl fand. Sonderbar, daß in Frankreich beinahe dasselbe Phäno-
men stattfand und während der Revolution gerade der Westen,
welcher seit Cardinal Richelieu bis zu Ludwig XV. am starrsinnig¬
sten sich dem Mißbräuche der königlichen Gewalt widersetzt hatte,
hinwieder am beharrlichsten die Rechte der Krone vertheidigte und
die Anhänglichkeit an die Dynastie mit seinem Blute besiegelte.
Dein Cardinal Richelieu, Ludwig XIV. und seinen Nachfolgern
war aber die Aufgabe der Centralisation weit umfassender gelungen
als den spanischen Königen. Die baskischen Provinzen hatten ihre
Privilegien und Municipalitäts-Verfassungen unangefochten erhalten,
— Catalonien lind Arragon erinnerten sich an ihre ehemalige Un¬
abhängigkeit, — kurz als die französische Dynastie nach dem blutigen
Successionskriege ihren Lilien-verbrämten Mantel über das Land aus¬
breitete, lebte unvermerkt das alte, mittelalterliche Spanien unter des¬
sen Schatten fort; wenn auch Madrid an dem Hofe von Versail¬
les seine Musterbilder suchte, so blieb desto unversehrter der Natio¬
nalcharakter in jeder Function des Staatslebens, wohin nicht die
unmittelbare Einwirkung der Negierung gelangte, und dies geschah
oft, da der Arm derselben nicht sehr stark und ihr Auge nicht über¬
aus hellsichtig war. Der -ü,«<>I>ito mochte wohl gegen den Hof,
die Granden, den Adel und die Einwohner der Residenz in dem
Verhältnisse eines orientalischen Despoten stehen, - so waren aber
seine Launen nie drückend für die entfernteren Landstriche, wo jeder
GeneralcaMn, jeder Alkalde, jede Gemeinde im Gefühl ihrer relati¬
ven Unabhängigkeit handelte. Als daher der Ruf erscholl: „vio-l ol
ni,»o!nec»", vertheidigten jene, die ihm folgten, nicht allein dessen
Unverletzlichkeit, als auch jene ihrer eigenen Gesinnungen, Gebräuche
und Sitten. — Der Krieg vom Jahre 1803 war der Sturm, wel¬
cher den geborgten französischen purpurgestickten Königsmantel hin¬
wegwehte, und man war erstaunt, unter demselben das alte Spa¬
nien, welches man längst begraben und vermodert glaubte, das mit¬
telalterliche, glühende Land, mit allen seinen Eigenthümlichkeiten un¬
versehrt wieder erstehen zu sehn. Das Mittelalter, welches sonst
überall sich überlebt hatte oder geschlachtet war, lebte hier in voller
Regsamkeit fort. Alle Erscheinungen, welche dessen Physiognomie so
charakteristisch bezeichnen, traten nunmehr in ihrer vollen Kraft her¬
vor. Die Jsolirung der Korporationen und Municipalitäten, die
Abneigung des Landvolkes gegen die Städte, das Hervorleuchten ein¬
zelner Persönlichkeiten und Charaktere, unbedingte Aufopferung, starre
Consequenz, aber Mangel an Einheit und Zusammenwirken, Unord¬
nung, aber Ausdauer, rührende Treue und Anhänglichkeit neben blin¬
dem fanatischem Haß, Heldenmut!) und Grausamkeit, religiöse Be¬
geisterung und wilde Rohheit bezeichnen diesen Kampf, wie jene des
Mittelalters, welches, wie gesagt, damals noch unbemerkt inmitten
der Institutionen neuerer Zeit, durch welche es wohl überdeckt, nicht
aber verdaut war, fortlebte. Es ist aber ein bestehendes Gesetz der
Natur, daß wohl eine Zeit die andere, wie ein organisches Wesen
ein anderes, verschlinge; aber nur dann, wenn das letztere vollkom¬
men todt ist und ausgelebt hat, kann der Assimilationsprozcß vor sich
gehen, der das Verschlungene mit dem Verschlingenden verschmilzt.
Das war in Spanien nicht geschehen. Gebühren, Todten, Speisen
und Erzeugen sind Functionen, welche in der geistigen Welt, wie in
der physischen, nie ohne besondere Sensationen vorübergehen!
väterliche oder mütterliche Liebe egoistischer, weniger edel und glühend,
weil Lucrecia Borgia und der „>>öl-<- Koi-lok" ihre Kinder weniger
rein und erhaben lieben, als Me-rope und Don Diego? Ob es kei-
nen wahren und doch einfachen Schmerz mehr gibt, weil sich rings
die falschen Verzweiflungen ergießen? Mit einem Worte, ob die Li¬
teratur von heute auch der Ausdruck der Gesellschaft ist?
Wollte man die Literatur zum Maßstabe nehmen, so wären die
Leidenschaften nie mehr in Ehren gewesen, als gegenwärtig, unsere
Theaterhelden gefallen uns nur dadurch, daß sie auf die größte Ener¬
gie der Empfindungen loslegen, wir beten die glühenden, pasfionirten
Charaktere an und vergöttern selbst daS Laster, wenn es eine stolze
und kühne Miene anzunehmen weiß. Im Romane sind die Lieben¬
den immer enthusiastisch und eraltirt, die jungen Mädchen träumerisch
und melancholisch. Und trotzdem schließen sich in der Welt die Ehen
immer mehr aus Convenienz und Interesse, die Gesellschaft handelt
auf die eine und schreibt auf die andere Art, und das sicherste Mit¬
tel, sie nicht kennen zu lernen, ist, sie nach ihren Neven zu beurthei¬
len und sie beim Worte zu halten.
Dieser Zwiespalt zwischen der Gesellschaft, die schreibt, und jener,
die handelt, ist eine reiche Quelle von Irrthümern und Widerwär.
tigkeiten; denn die Gesellschaft lacht ganz im Stillen über den Nar¬
ren, der dem gewöhnlichen Leben die glühende leidenschaftliche Moral
anpassen möchte, die sich im Lesecabinet so gut macht. Ja sie erkennt
ihm, wenn er in seinen Handlungen der wahren Moral zu sehr wi¬
derspricht, ohne Zögerung die Buße aus dem Strafcoder zu uno
züchtigt im Leben am meisten das, was sie in der Literatur am eif¬
rigsten ermuthigt. Und somit weit davon entfernt, daß die moderne
Literatur ein Bild der Gesellschaft sei, wäre man beinahe versucht,
zu glauben, die Gesellschaft wolle sich umgekehrt darstellen, so sehr
verläugnet sie die Literatur durch ihre Sitten und Handlungen.
Man kann wohl ohne Uebertreibung behaupten, daß Kiel der
Mittelpunkt ist für alle Bewegungen, welche in irgend einer Weise
in den Herzogthümern Schleswig und Holstein, oder Schleswig-
Holstein, sichtbar werden. Altona gehört kaum unserem Particular-
Vaterlande an; es ist eine privilegirte Stadt, fast eine freie Reichs¬
stadt zu nennen, und schließt sich daher mit seinen Privatinteressen
von dem Gcsammtstaate mehr oder minder ab; Flensburg mag
hinsichtlich seines kaufmännischen Verkehrs bedeutender als Kiel sein,
aber der Handelsgeist ist auch der einzige, der eS beseelt. Kiel ist
eine Handelsstadt und in fortwährender direktester Verbindung mit
dem Hauptplatz des deutschen Handels, mit Hamburg, zu wel¬
chem es bald durch seine Eisenbahn in eine noch größere Nähe ge¬
rückt wird: mit dem Norden hat es den raschesten Verkehr, vermit¬
telst Dampfschiffe, schon lange; Kiel ist durch seinen jährlichen, soge¬
nannten Umschlag (im Januar), an welchem die jährlichen Geld¬
zahlungen von sämmtlichen Geschäftsleuten und Grundbesitzern ge¬
schehen, nicht blos der Centralpunkt des Schleswig-holsteinischen
Geldwesens, sondern auch eben dadurch der Sammelplatz der Gcld-
und wissenschaftlichen Aristokratie, welche letztere hier ihre solennen
Sitzungen hält und durch den hier residirenden Herzog von Glücks¬
burg (verheirathet mit einer Tochter des letztverstorbenen Königs von
Dänemark) noch einen interessanteren Anziehungspunkt findet. Kiel
ist aber auch eine Universitätsstadt; und dadurch aufs Engste
an das übrige Deutschland geknüpft, findet es eben darin seine
festeste Garantie für deutsche Gesinnung und Entfremdung von jedem
einseitigen Provinzialgeist. Die Universität Kiels mag für die deutsche
Wissenschaft den Gelehrten mehr oder weniger unerheblich scheinen,
für die Herzogthümer Schleswig und Holstein ist sie von der höch¬
sten Wichtigkeit gewesen, sogar in politischer Hinsicht, indem sie, trotz
allen Andringens der Dänen, der geistigen Entwicklung des Landes
ein entschieden deutsches Gepräge ausdrückte. Doch ist dies nicht die
einzige polnische Wirkung der Universität geblieben. Freilich kann
man nicht sagen, daß das Streben eines Volkes nach freisinnigen
Institutionen eine Universität brauche, um hervorgerufen zu werden,
vielmehr liegt ein solches Streben in der fortschreitenden Entwicklung
eines Volkes von selbst begründet, und nicht mit Unrecht hat man
es der deutschen Gelehrsamkeit oft genug nicht zu ihrem Ruhme nach¬
gesagt, daß sie die höchsten praktischen Fragen des Lebens nicht ge¬
hörig zu beantworten wisse; aber unsere Universität hat, besonders
seit den Freiheitskriegen sich stets auf eine höchst freisinnige und wirk¬
same Weise bei den politischen Bewegungen unseres Landes bethei¬
ligt, und in ihr kann noch immer der Schleswig-Holsteiniömus eine
seiner Hauptstützen und Beförderer sehen. Von der Universität hat
dieser ganz besonders und zunächst sein Gepräge erhalten, obgleich es
selbst in ihrer Mitte nicht an Antagonisten fehlt, und sogar zwei
Professoren, der Eine Däne von Geburt, der Andere Däne aus
freier Wahl, in ihrem Bestreben nicht ermüden, wenigstens die
Nordschleswiger zu Dänen zu machen. Aber auch für die dritte po¬
litische Partei in unserem Lande, die sogenannte Neuholsteinische,
ist Kiel Geburtsort und Heimath, indem sein wichtigstes politisches
Journal, das Corresp ondenzblatt, sie gebildet hat und noch
fortwährend vertritt.
Doch wenn ich gesagt habe, daß in Kiel alle Interessen deS
Landes ihren Centralpunkt finden, so habe ich wenigstens noch Eins
vergessen, das Christenthum. Und hier brauche ich nur einen
Namen zu nennen, wodurch allein, auch ganz abgesehen von der hie¬
sigen theologischen Facultät, mein Ausspruch bewahrheitet wird. Harms
ist nicht blos eine Berühmtheit in Schleswig und Holstein, man
kennt und verehrt ihn weiter, als die Grenzen Deutschlands reichen.
Er hat einst dem altersschwachen Rationalismus mit jugendlicher
Kraft den Todesstoß gegeben, und daS Alter hat weder diese Kraft,
noch den Geist, mit welchem er sie anzuwenden weiß, zu lahmen ver¬
mocht. Er gehört freilich nicht zur höchsten geistlichen Behörde un¬
seres Landes, vielleicht eben wegen seiner Energie, aber als das Haupt
der Geistlichkeit kann man ihn wohl sonst in jeder Rücksicht bezeich,
nen, und eS möchte diese kein anderes Vorbild aufstellen können,
welches diesem Manne an feuriger, erbauender und zugleich geistvol¬
ler Beredsamkeit gleich käme. Daß ihm, dem streng Orthodoxen als
solchem, gar Viele abhold sind, ist natürlich; daß man ihn aber auch
als einen intoleranten Frömmler, als einen jener kurzsichtigen und
einseitigen Pietisten, deren es allerdings genug gibt, verschreit, ist
geradezu einfältig. Freilich kann ein ganz entschiedener Charakter und
ein festgewurzelter Glaube unmöglich jede beliebige Meinung, die ihm
entgegengesetzt wird, ertragen, aber eine Toleranz, die das vermag,
ist gewiß Nichts, als Indifferenz und Charakterschwäche, und selbst
diejenigen, welche sie für Glaubenssachen prätendiren, pflegen sie eben
so entschieden in der Politik zu verachten.
Von der Literatur ist nicht viel zu sagen; sie ist besonders
thätig hinsichtlich der speziellen Landesangelegenheiten, aber die¬
ses Thema wird jetzt fast ausschließlich von den vielen in den Her-
zogthümern erscheinenden Wochenblättern, welche fast sämmtlich in der
letzten Zeit einen bedeutenden Aufschwung genommen haben und sich
zum Theil eines ehrenvollen Rufes erfreuen, behandelt, indem sie
die hier sonst ziemlich reiche Brvschürenliteratur überflüssig machen.
Unter diesen periodischen Blättern behauptete in Kiel früher das
Correspondenzblatt, welches sich als ein politisches den libe¬
ralen Bewegungen seit der Julirevolution voranstellte, einen ent¬
schiedenen Vorrang, aber seitdem es der sogenannten Neuhvlfleini-
schen Theorie huldigt, hat es einen großen Theil seines Einflusses
verloren, und die neu erstandenen Neuen Kieler Blätter, ob¬
gleich von Schleswig-Holsteinern redigirt, vermögen dem Kieler Jour¬
nalismus, da ihr politischer Standpunkt unklar und zu wenig ent-
schieden ist, das Uebergewicht nicht wieder zu verschaffen. — Anders
steht es mit den Schleswig-holsteinischen Kunstbestrebungen. Wenn
von solchen überhaupt die Rede sein kann, so beschränken sie sich fast
ganz auf Kiel, sind aber noch von ganz neuem Datum. Besonders
aus Betrieb des bekannten Archäologen, Prof. F orchha in in er, hat sich
hier ein Comitv aus mehreren Mitgliedern der Universität und eini¬
gen wohlhabenden Bürgern gebildet, welches ein Museum für Mei¬
sterwerke der plastischen Kunst bereits gegründet hat und durch Ge¬
winnung von freiwilligen Beiträgen im ganzen Lande immer mehr
zu bereichern strebt. Der Anfang ist gemacht dnrch Erwerb von Ab¬
güssen eines Theils der Elgin'sehen Sammlung im britischen Museum
in London . B. deS panathenäische» Festzuges u. s. w.), dazu sind
mehrere Abgüsse von Statuen und Basreliefs Tho rwal them's und
Bisson'ö gekommen, wodurch ein zu guter Grund gelegt ist, als
daß man nicht ein Zunehmen dieses Institutes wünschen sollte; aber
wir Norddeutschen diesseits der Elbe sind nicht so leicht begeistert,
um das Erste, was Noth ist, Geld herzugeben. — Auch für Ma¬
lerei hat sich neuerdings el» Verein gebildet und schon einige recht
gute Ausstellungen bewerkstelligt. Aber auch hierbei fehlt es an je¬
nem Nothwendigen noch zu sehr, um ausländischen Künstlern Be¬
deutendes bieten zu könne», indeß fehlt es uns auch nicht an
einheimischen Künstlern; die beiden Hansen, Vater und Sohn, so
wie der hiesige Universitäts-Zeichnenlehrer haben sich in der Kunst¬
welt einen ehrenwerthen Namen erworben.
Soll ich nun noch des A uno O der meisten Journale, des
Theaters erwähnen? Früher eriftirte bei uns ein sogenanntes Schles-
wig'sches Hoftheater, welches Kiel aus ein oder zwei Monate
alljährlich beglückte. Aber da dessen Eristenz aufgehört, hat sich Kiel
auch des Schleswig-holsteinischen Theaters bemächtigt. Zwei hiesige
bemittelte Bürger kauften das alte, zerfallene Schauspielhaus an sich,
bauten ein neues recht hübsches wieder hin und haben nun kürzlich,
nachdem ein Unternehmen des in der Theaterwclt sehr bekannten
Grafen Hahn fehlgeschlagen war, selbst die Direktion übernommen,
So erfreut sich um Kiel eines eigenen, sich so nennenden Stadt-
theaters, welches indeß, trotz dieses Namens, nur vier bis fünf
Monate am hiesigen Orte spielt und während der Sommermonate
einige der größeren Städte unserer Herzogthümer bereist. Trotz der
schlimmsten Prophezeihungen scheint sich dieses Unternehmen doch el--
ner soliden Grundlage zu erfreuen, da die Direction viele Geschäfts
kenntniß und die nöthigen Geldmittel besitzt; sie kann daher den
Schauspieler» gegenüber sich als strengen Contrahenten hinstellen, weil
sie immer solvent ist und es an Gage nicht fehlen läßt; dem Pub-
licum sucht sie sich durch Aufführung der namhaftesten neuen Stücke,
besonders freilich Lustspiele, beliebt zu machen. Daß sich das höhere
Drama nicht immer gleicher Sorgfalt erfreuen kann, obgleich auch
Tragödien mitunter nicht ohne Glück gegeben werden, ergibt sich von
selbst, wenn man erwägt, daß auch eine Oper zu unterhalten ist
und diese Vergleichungsweise, auch wenn sie nur sehr mäßig ist, zu
viele Opfer an Geld und Kräften in Anspruch nimmt; denn unsere
Bühne muß durch sich selbst bestehen und erhält durchaus keine hö-
here Unterstützung. Indeß fehlt es auch nicht an außergewöhnlichen
Erscheinungen, und wie uns früher Herr Kunst lind die Madame
Walter durch Gastspiele erfreut haben, thut es gegenwärtig Ham¬
burgs jetzige erste Sängerin Temoiselle Evers. Unter den enga-
girten Darstellern ist besonders ein Herr v, Sternwaldt zu nen¬
nen, dessen eigentlicher Name einer ausgezeichneten Familie unserer
einheimischen Aristokratie angehören soll, der ihr aber als Schau¬
spieler— wenn das in der Welt überhaupt für möglich gehalten wird —
durchaus keine Schande macht, da er — er hat sich besonders in Charakter-
und feineren Rollen gezeigt — wirklichen Künstlerberuf zusahen scheint.
So habe ich denn ungefähr die Elemente angegeben, welche
das Kieler Leben bilden, und vielleicht nur noch Eius vergessen, weil
es gerade Winter ist, nämlich die schöne Lage unserer Stadt und
deren anmuthige Umgebungen. Aus dem Obigen mag man aber
schon schließen, daß sich hier zu Vieles vereinigt, als daß unsere
Stadt für ein „altes Nest" gelten könnte, in dem Alles in seinem al¬
ten Schlendrian ein Jahrzehent nach dem anderen ungefähr auf die¬
selbe Manier fortgeht. Vielmehr ist Kiel ein Ort der Bewegung,
der steten Spannung, fast Unruhe. Stets gibt es etwas Neues,
welches das Interesse in Anspruch nimmt, warum gekämpft, gezankt,
gejubelt, gezahlt wird. Immer wird gehofft, gehofft von einer Zu¬
kunft, welche unfehlbar in reichem Maße das einbringen soll, waS
die Gegenwart entbehrt, und daher sucht man oft auch mehr, diese
froh zu überwinden, als in ihr den klugen, aber mürrischen Haus¬
halter, der an künftige trübe Tage denkt, zu spielen.
Der letzte Landtagsabschied der Rheinprovinz hat wieder viel be¬
trübte Herzen noch betrübter gemacht, — so glaube ich, muß man
seinen Eindruck bezeichnen; denn das Zähneknirschen der Opposition
hat hier wie anderwärts aufgehört; — man klagt ganz leise, oder
man schweigt. Schweigen ist auch Reden. Es ist ein seltsam Ding
um den angestammten Charakter eines Volksschlags; es rächt sich
schwer, wenn man ihm zu nahe tritt, und das dürste wohl eins der
schwierigsten Kapitel in der (IiLcij>>in» arc-nil unserer Regierungskunst
sein, keine Individualität anzutasten und doch aus den vielen Einzel-
körpern eine recht einmüthige Gesammtheit zu bauen. Zum allermin-
desten ist .man in diesem Betracht in Berlin oft unvorsichtig
gewesen. Zwei Dinge wiegen besonders schwer in den Rhein-
landen: die angeborne Freimüthigkeit und Thatkräftigkeit des Volkes
und seine Begeisterung für den Katholicismus. Anscheinend sehr
heterogene Elemente, aber das ist auch bloßer Schein. Seit den
Tagen, da Heinrich in Canossa kniete, hat die Hierarchie fast immer
einem volksthümlichen Liberalismus die Freundeshand gereicht; denn
beide hatten Einen gemeinsamen Erbfeind zu bekämpfen — den mo¬
narchischen Absolutismus. Daß die Hierarchie mit dem Liberalis¬
mus sich alliirie, blos um ihn nachher in ihre eigenen Bande zu
schlagen, thut Nichts zur Sache; es ist die Fabel vom Schäfer, der
dem Wolfe das Schaf abkämpft, um Wolle und Fleisch nicht zu
verlieren. Kommt nun aber Angesichts dieser Allianz das monarchi¬
sche Interesse in Conflict mit dem kirchlichen, so wird sich die Be¬
geisterung für Kirche und Clerus bis in'S Faradische steigern, und
das haben wir erlebt bei den erzbischöflichen Unruhen und in gerin¬
gerem Maßstabe bei den Hermesianischen Streitigkeiten. Man macht
sich schwerlich einen Begriff davon, welch ungünstige Stimmung ge¬
gen die Hermcsianer Braun und Achterfeld eine Mehrzahl beherrscht.
Ein seltsamer, aber charakteristischer Vorfall möge zum Beleg dienen.
Bor einiger Zeit war eine Kirche in der Nähe Borns eingestürzt;
die Gemeinde war arm, die Geistlichkeit forderte zu milden Beiträgen
auf. Allein ich glaube, es ging anfangs nicht viel ein. Da gerieth
Jemand auf den Einfall, seiner Gabe die Worte beizufügen: „Ehe
ich einen Katechismus von Achtcrfeld kaufe, gebe ich 10 Gr. für die
Kirche in L." Kaum las man dies im Bonner Wochenblatt, als
auch schon eine bedeutende Zahl von Beiträgen gezeichnet wurde, alle
mit derselben Aufschrift. Achterfcld rcmonstrirte dagegen, es sei doch
gar undelicat, daß man zu solchen Persönlichkeiten schreite. Allein
nun wurden die Beiträge noch reichlicher als vorher, indem ein An¬
derer, der seine Gabe mit den Worten einleitete: „Ehe ich einen —
kaufe, gebe ich :c." Hunderte von Nachfolgern fand. — Ganz anders
ist hier das Verhältniß der protestantischen Geistlichkeit zum
Staate; ihr ist der Landesherr summus «z^iscsimis, sein Interesse
verknüpft mit dem ihrigen, und wenn Friedrich Wilhelm IV. bei je¬
der Gelegenheit erklärt, nicht weiter gehen zu wollen, als seines in
Gott ruhenden Herrn Vaters Majestät, so hat dieser Passus aus
guten Gründen gewiß sehr lieblichen Klang in den Ohren der evan¬
gelische,? Theologen. Außerdem mag auch die allem Anscheine nach
in Preußen projectirte Gründung einer protestantischen Hierarchie viel
Reizendes und Verbindendes für die Geistlichkeit haben. Allein sehen
wir ganz ab von diesen Einzelheiten, sehen wir ab von der Gegen¬
wart, stellen wir unsere Frage an die Vergangenheit, an die Geschichte,
so werden wir Protestanten gestehen müssen, wenn wir in Aufrich¬
tigkeit die Hemd auf's Herz legen, daß von Alters her kein Stand
mit größerer Devotion dem monarchischen Absolutismus die Hand
geküßt hat, als gerade unser Clerus. — In der Rheinprovinz sind der
protestantischen Gemeinden »venige und sie liegen zerstreut auseinander
(soll doch jüngst auf einer Synode allen Ernstes der Antrag gestellt wor¬
den sein, für unvorhergesehene Fälle einen reitenden Candidaten
zu besolden!) — dies bedingt naturgemäß eine Opposition gegen die
umwohnenden Katholiken, woher es denn kommt, daß die Protestan-
ten hier zu Lande ungemein gut preußisch gesinnt sind. Der freiere
Geist der katholischen Bevölkerung hingegen sucht sich i» meist harm¬
losen Humor Luft zu machen, wie z. B. die Narrenlappen des dies¬
jährigen Kölner Carnevals eine ergötzlich karritirende Persifflage der
neuen preußischen Pickelhauben sind.
Noch ein Paar Züge zur Charakteristik deS niederrheinischen
Volkes. Es liegt etwas ungemein DerbeS, UngcnirteS in seiner
Sinnesart, ganz natürlich — niam lebt hier in der Regel weder von
Schwarzbrod noch von Weißbrod, sondern von Pumpernickel. Schon
oft nämlich kam mir der närrische Gedanke, den Westen Deutschlands
folgendermaßen abzustufen, nach Speis und Trank: Im Süden ißt
man Graubrod und trinkt Wein; in der Mitte Schwarzbrod und
Bier; im Norden gibt es Branntwein und Pumpernickel. Es liegt
viel Charakteristisches in dieser Einteilung. Hier also Pumpernickel!
Ich glaube darum, daß der Wirkungskreis, welchen sich Gutzkow als
Hauptmitarbeiter des Feuilletons der Kölnischen Zeitung ausersehen, an
Ort und Stelle wenigstens nicht so umfassend sein wird, wie sich's
von dem bedeutenden journalistischen Talente dieses Schriftstellers er¬
warten ließe. Gutzkow, dieser feine geistreiche Mann, dessen Pointen
meist halb verschleiert liegen und eben darin so großen Reiz haben,
Gutzkow, der in Kritik und Polemik nicht mit Flegeln drein drischt,
sondern leise und unbemerkt die schwache Seite des Gegners zu fas¬
sen weiß und dann mit ätzender Schärfe den Scheidungsprozeß des
Guten vom Schlechten beginnt, Gutzkow wird in den Rheinlanden
wenig nach Würden beurtheilt, selten mit vollem Behagen gelesen
werden. Wenn dagegen Roderich Benedir, der Verfasser des Doc-
tor Wespe, im Kölner Theater von der Katheder eines Weinfasses
herab Carnevalsvorträge hält über das Pantoffelregiment voll derber
Witze und localer Anspielungen, so fühlt sich das Publicum recht in
seinem Element; wer die Kölner enthufiasmircn will, der muß ihnen
vorerst etwas zu lachen geben. Ich glaube, in keinem Theater der
Welt wird so viel gelacht als in Köln. Es niest Jemand auf der
Galerie - man lacht; eine ganz platt komische Scene — man lacht
eine höchst pathetische Stelle — man lacht; König Philipp im Don
Carlos tritt auf — man lacht; Herzog Alba — gewaltiges Gelächter!
Warum? El, weil der Mann vom Kopf bis zu den Füßen roth und
schwarz gekleidet ist und einen grimmigen Schnurrbart trägt, natur<
lich, das ist doch zum Lachen! Ich wollte wetten, wenn' die Decke
des Theaters plötzlich einstürzte und alle Zuschauer zerschmetterte und
begrübe, im Moment würden sie gewiß noch einmal in ein allgemein
mes Gelächter ausbrechen über das unerwartete Intermezzo. — Noch
Eins siel mir im Kölner Theater auf. Vor Beginn des Stückes
behält natürlich Alles den Hut auf dem Kopfe. Blos in der ersten
Rangloge wird das von Seiten des Parterres nicht geduldet und
durch stürmisches Hutab!-Schreien strenge Justiz geübt. Wer sich
nämlich in seinem aristokratischen Range zeigen zu müssen glaubt,
dem will der demokratische Sinn der Uebrigen auch das Unbequeme
der nobeln Etikette nicht schenken. Ist das nicht echt kölnisch?
Wenn Köln ein klein Paris der Rheinprovinz ist und in poli¬
tischen, kirchlichen, mercantilischen Dingen tonangebend, so bildet Bonn
dagegen einen Centralpunkt der Wissenschaft von echt preußischer
Färbung, der mit dem übrigen rheinischen Treiben wenig zu schaffen
hat. — Bonn ist gegenwärtig von dem Unglück betroffen, ein Paar
recht ausgezeichnete Docenten zu besitzen unter vielen recht unbedeu¬
tenden ; — ein Unglück, weil der allzustarke Einfluß Eines, auch des
genialsten Mannes, nur zu starrer Einseitigkeit führen kann. Man
betrachte z. B. die evangelisch-theologische Facultät: hier ist Nitzsch
lind — nun ja, damit sind wir zu Ende. Kein Wunder, daß also
fast alle Studiosen der Theologie auf einem einseitig orthodorcn
Standpunkte stehen, Missionsvereine bilden, im Huttcms und Fla<
eins Illyriens lesen, auch wenn Herr Professor Sack keine Hilfs-
truppen schickte, die mit Gnade und Gerechtigkeit, Durchbruch und
Versiegelung gewappnet sind. - Nach dem Apostel Paulus ist ja die
Gottseligkeit zu allen Dingen nütze, folglich ganz gewiß auch zur
Erlangung einer Bonner evangelisch-theologischen Professur. G> Kin¬
kel, ein verdienter hiesiger Privatdocent, steht nicht gerade auf Nitzsch-
schem Standpunkte; kein Wunder, daß man ihm die Thüre vor der
Nase zuschlägt und einen anderen Lehrer der Kirchengeschichte beruft,
damit dieser vor leeren Bänken lesen könne, während Kinkel die Zu¬
hörer hat. Risses's höchst bedeutende Persönlichkeit imponirt; die
ganze Fülle und Tiefe seiner Gedanken wirkt durch,sie noch blenden¬
der und hinreißender: dabei besitzt Nitzsch die seltene Eigenschaft, auch
den Gegnern gerecht sein zu können, und das ist wohl eins der be¬
sten Zeugnisse wahrer Wissenschaftlichkeit. Sein Aeußeres trägt eine
gewisse feierliche Würde, die weit entfernt ist von der gewöhnlichen
Pastorensalbung. Um so ärgerlicher macht sich der nämliche Habitus
bei Sack, wo er zur offenbaren Karrikatur verzerrt wird. Sack ist
ein echt preußischer Patriot, was sich ja bekanntlich mit Orthodoxie
ganz gut vereinigt. Den Fürsten Blücher möchte er um's Leben gern
canonisiren; weil der wilde Reitersmann aber doch durchaus nicht
nach Vorschrift der lutherischen Symbol« gelebt hat, so abstrahirt er
von dessen Persönlichkeit und meint, der Held sei blos als Werkzeug
in der Hand Gottes zu betrachten. — Wer die Bonner evangelisch-
theologische Facultät kennt, wird übrigens erst das rechte Licht er¬
halten über viele sehr witzige, doch versteckte Anspielungen in Bruno
Bauer'S Posaune, so wie er sich's überhaupt wird erklären können,
wie dieser Philosoph gerade durch seine hiesige Stellung unter lau¬
ter Hyperorthodoren — aus. Opposition — in so crasse Extreme
sich schrauben konnte.
Unter den alten Bonner Celebritäten sind zwei des Contrastes
wegen neben einander zu stellen — Arndt und A. W. von Schle¬
gel. In dem Einen das Bild des frisch und fröhlich in beinahe
jugendlicher Kraft noch fortgrünenden Alters, der Andere die trau¬
rige Figur eines geistig verschrumpften, abgestorbenen, vertrockneten
Menschen, den all seine früheren Tugenden verlassen haben, um ei¬
ner einzigen Untugend, der Eitelkeit, Platz zu machen. Die Roman¬
tiker haben doch fast sammt und sonders ein trauriges Ende er¬
lebt! Bei dem alten Arndt zu hospitiren ist eine wahre Freude.
Unter dem schneeweißen Haar schauen noch immer frische Wangen
und ein glänzendes, freundlich lächelndes Auge hervor, daß es Einen
unwillkürlich an seine Verse gemahnt:
„Dem Treue fest im Herzen sitzt
Und Freude hell im Auge blitzt!"
Sein Vortrag ist ungemein lebendig und nachdrucksvoll. Er liest
in gegenwärtigem Semester ein Publicum über vergleichende Völker
geschichte, und es ist ein schönes Zeugniß von der Pietät der Bon¬
ner Studenten, daß er immer viele Zuhörer hat. Dahlmann
dürfte wohl der eigentliche Heros der hiesigen Hochschule sein, doch
wollen wir uns in der flüchtigen Weise dieser Skizzen nicht an solch
eine Persönlichkeit wagen; wir behalten uns vor, vielleicht später ein¬
mal ausführlich von ihm zu reden.
Der bekannte Aristokratismus und Kastengeist der Bonner Stu¬
denten hat sich jetzt wenigstens so weit gebrochen, daß nach dem
Vorgange anderer Universitäten auch hier in jüngster Zeit ein allge¬
meiner Studenten-?eseverein zu Stande gekommen ist.
Erfreuliches! Zur Belebung der dramatischen Literatur in
Deutschland ist hier endlich ein wichtiger Schritt geschehen und
wir wünschten, daß Oesterreich überall auf gleicher Weise die Initia¬
tive ergreifen möge. Durch ein Handbillet des Kaisers ist
in Zukunft das Honorar der Schriftsteller, deren Stücke
am Burgtheater zur Aufführung kommen, folgender
Maßen bestimmt: Für ein Stück, welches den ganzen
Abend füllt, zehn Procent als Tantieme von der Brnt-
to-Einnahme; für ein Stück, welches zwei Dritttheile
des Abends füllt, sechs Procent und für k in in er c S t ü etc
drei Procent. Diese Tantieme wird dem Dichter von
je d er V o röte llung g cza h l t u ut die Erben desselben er¬
halten diese Nutznießung bis zehn Jahre nach seinem
Tode. Da der größte Theil der Logen und ein Theil der Sperrsitze
abonnirt ist, so wird der Betrag dieser Abonnements auf drei hundert
fünfzig Gulden für jeden Abend angerechnet, und der Dichter erhält
hiervon gleichfalls seinen Antheil. Uebrigens ist es Jedem frei gestellt,
für das angenommene Stück ein Honorar Pauschalitcr im Voraus zu
verlange«. In diesem Falle bleibt jedoch der Honcrarsatz wie bisher
auf 300 bis 400 Gulden Cvz. angesetzt. Rückwirkend hat dieses neue
Thcatcrgcsctz keine Kraft und nur solche Stücke, die nach der Bekannt¬
machung desselben zur Aufführung kommen, werden fortan nach diesem
Maßstabe honorirt. Man hat ausgerechnet, daß Halm für seinen Sohn
der Wildniß, nach dem neuen Maßstabe honorirt, bereits an dreitausend
Gulden C.M, empfangen hätte. Auch enthält diese neue Theatcrord-
nung einen Paragraphen, welcher festsetzt, daß jedes zur Aufführung
angenommene Stück innerhalb eines Jahres zur Darstellung kommen
müsse. Der ganze Plan dieser Anordnung geht von Herrn von Hol¬
den aus, der sich in dieser Beziehung gewiß ein großes Verdienst »in
die deutschen Thcaterzuständc erworben hat. Denn obgleich wir nicht
der Meinung sind, daß Geldbelohnungen ein Haupthebel zur Bele¬
bung unserer schüchternen dramatischen Literatur sein können, daß viel¬
mehr günz andere Wunden geheilt, ganz andere Hindernisse gehoben
werden müssen, wenn der Quell reich und frisch hervorsprudeln soll,
wie er einer großen Nation würdig ist, so wird doch wohl Niemand
läugnen, daß manches praktische Talent bisher der Bühne den Rücken
zuwendete, weil es selbst im günstigsten Falle keinen Lohn für seine
Bemühungen ersah. Herr von Ho l dein hat sich gleichzeitig an den
Generalintendanten von Küstuer gewendet, um ein Ucberciustimmcn der
Berliner und der Wiener Hofbühnc zu erwirken. Herr von Küstuer
soll jedoch eine Tantieme von zehn Procent sür die Berliner Verhält¬
nisse zu hoch gefunden haben und so ist das Burgtheater seinen Weg
allein gegangen. Auch eine Schattenseite der neuen Anordnung muß
hervorgehoben werden. Der Dichter hat nämlich nicht das Recht, die
Wiederholung eines Stückes zu verlangen; er kann sich weder auf
den Beifall deö Publicums, noch auf die starke Einnahme bei der letz¬
ten Vorstellung berufen, sondern er bleibt in dieser Beziehung ganz
dem Ermessen/ d. h. der Willkür des Directors heimgestellt, und was
noch schlimmer ist, der Willkür des Schauspielers, der aus Caprice, oder
weil er die Rolle undankbar findet, 'darin nicht weiter auftreten will
und nur eine Krankheit zu fingiren braucht, um den Dichter um sein
wohlverdientes Einkommen zu bringen. Die französischen Theatcrgc-
setzc haben für solche Fälle Vorsichtsmaßregeln und Zwangsmittel; hier
vermissen wir sie leider und wenn auch Hr. v. Holbein persönlich die redlich¬
sten Absichten haben mag, so hätte er doch für einen einstigen Nach¬
folger oder als Beispiel für andere minder honett geleitete Bühnen
diese Vorsicht nicht unterlassen sollen, um sein lobenswerthes Werk
complett zu machen. Graf Kolowrat, der den Plau des Herrn von
Holbein mit Lebhaftigkeit aufgegriffen und unterstützt hat, würde wohl
auch hierin keine Schwierigkeiten gefunden haben. Wie es heißt, soll,
sobald das kaiserliche Handbillet erst officiell bekannt gemacht werden
wird, auch eine indirecte Aufforderung an die ständischen Theater in
den Provinzen ergehen, sich dem Beispiele des Hofburgthcatcrs anzu¬
schließen und so eine complete Reform der schriftstellerischen Rechte in
den deutschen Ländern der ganzen Monarchie herbeigeführt werden.
Dies wäre vielleicht ein Anfang zur Regulirung der schriftstellerischen
Eigenthumsrechte in Deutschland überhaupt und der Bundestag könnte
die Anregung und das Beispiel Oesterreichs in einem größeren und
eompletcrcn Maßstabe ausführen. Leider ist das er/vähntc Handbil¬
let bis jetzt noch nicht publicirt; wir wollen hoffen, daß die Publica¬
tion nicht so lange ans sich warten läßt, wie die eines anderen
Handbillets, in welchem die Künstler und namentlich die Professo¬
ren der Academie aufgefordert wurden, die Mittel anzugeben, durch
welche die historische Malerei in Oesterreich zu fördern wäre. Dieses
Handbillet ist bereits vor eilf Monaten vom Kaiser erlassen und doch
ist es bisher uoch nicht den Malern mitgetheilt worden. Für Diejeni¬
gen, welche den Ausdruck Handbillet nicht kennen, müssen wir hinzu¬
setzen, daß damit dasjenige bezeichnet wird, wäg man in Preußen eine
Cabinetsordre nennt. Gutzkow's „Schwert und Zopf", dessen Auffüh¬
rung im Burgtheater man hoffte, ist nicht erlaubt worden. Es hatte
die gewöhnliche Censur glücklich passirt, aber die Staatskanzlei fand
es unpassend, ein Stück, wodurch ein befreundeter Hof sich unangenehm
berührt fühlt, an der hiesigen Hofbühne zur Aufführung kommen zu
lassen. Für die Provinzthcatcr sott das Stück, wie ich höre, erlaubt
sein; wenigstens kündigt ein Präger Schauspieler es zu seinem Bcnc-
fice an. Ob anch da Einspruch geschehen wird? Unsere Diplomatie
ist von einer Galanterie ohne Gleichen. In Berlin macht man sich
nicht den mindesten Scrupel daraus, Bücher und Journalartikel drük-
ken zu lassen, Stücke aufzuführen, worin weit herbere und unangeneh¬
mere Dinge für Oesterreich vorkommen, als Schwert und Zopf für die
preußische Rcgentcnfamilie bietet. Warum siud wir gerade so galant?
Warum sind wir gerade so großmüthig, Gleiches mit Gleichem nicht
vergelten zu wollen? Sachsen hat auf Preußen sicherlich mehr Rück¬
sicht zu nehmen als Oesterreich. Warum wurde Zopf und Schwert
nichtsdestoweniger in Dresden gegeben?
Zwei kleine Notizen unseres vorigen Wiener Briefes bedürfen ei¬
ner Berichtigung: daS neue Drama, an welchem Halm wieder arbei¬
tet, heißt nicht Attila. Das Burgtheater und die Regisseure siud vou
ihrem Vorhaben, die Lncreee von Ponsard zu ihrem Beresina zu gel¬
ben, abgekommen; obschon die Rollen des Stückes (Löwe den Bru¬
tus; die Rettich — Luerece) ausgetheilt sind.
In der Literatur ist wie gewöhnlich wenig Neues. Schumacher
hat seinen österreichischen Novellen-Almanach trotz der vorgerückten un¬
günstigen Jahreszeit doch erscheinen lassen. Fürst Friedrich Schwar-
zenberg, der bekanntlich unter dem Namen eines verabschie¬
deten Lanzenknechts schreibt, hat eine Reihe pikanter Auf¬
sätze unter dem Titel: Aus dem Wandcrbuche eines verabschiedeten
Lanzenkncchts erscheinen lassen; das kleine interessante Buch ist «ur
als Manuscript gedruckt und an Freunde vertheilt worden, in den
Buchhandel ist es nicht gekommen. Der Fürst hat dieses Buch seinen
beiden Brüdern „dem Grenadier und dem Kürassier" gewidmet.
— Die Literatur über Nußland wächst mit jedem Tage. Seit
Gratsch sind» noch Tolstoi und ein gewisser Grimm für Rußland auf¬
getreten. Tolstoi, ein französisch belletristisch drcssirtcr Cavalier, ver¬
beißt sich in die Aeußerlichkeiten des Custine'sehen Buchs, sucht den
Marquis persönlich lächerlich zu machen und die gewichtigsten Fragen
als Bagatelle wegzuschcrzcn. Dies gezwungene Lächeln, diese endlosen
Witzeleien und die entsetzliche Frivolität, die dem Allen zu Grunde
liegt, verrathen eine faule Sache. Grimm vertheidigt sein geliebtes
Reich auf eine Art, daß man sich in Petersburg wohl nicht sehr
freuen wird. Der Mann ist seit dreißig Jahren russischer Militärarzt
und kämpft für sein Fortkommen in Nußland. Diese traurigen Pa¬
ladine lassen sich auf einen Kampf «in, dem sie nicht gewachsen sind;
die politischen Begriffe und die Gesinnungen, die sie dabei bekennen,
sind so hvpcrboräisch, daß sie selbst unwillkürlich gegen Rußland schrei¬
ben. Aber es scheint, daß jeder „Rubel auf Reisen" es für eine
Pflicht der Selbsterhaltung ansieht, laut als aävooat»« rlisboli aufzu¬
treten, wenn er auch von der Sache Nichts versteht; denn er stellt sich
damit jedenfalls ein Zeugniß seiner loyalen Furcht aus und sichert sich
gegen mögliche Verdächtigungen durch die zahllosen russischen „Beob¬
achter" beiderlei Geschlechts, die Europa durchschwärmen. Lächerlich
sind die Uebertreibungen der Leute. Wollte man Gratsch und den
Andern nur den dritten Theil des Glaubens schenken, den sie verlan¬
gen, so wäre Rußland nicht nur kein barbarischer, sondern ein hypcrscnti-
mentalcr Staat, wo Diebe und Mörder besser behandelt werden, wie
anderswo die ehrlichen Leute; Sibirien aber ein Garten, wo die Ver¬
wichenen itäglich durch sanfte Waldhornklänge aufgeweckt und, wie der
Fürst Trubczkoi, blos zum „Blumcnbegicßcn" angehalten werden. Lei¬
der gibt es einige Kleinigkeiten, die sich nichr gut wegschcrzcn lassen,
z. B. die russische Geschichte. Auch der russische Katechismus und
mehrere Ukase sind in Europa ziemlich bekannt geworden. — Wclp's
Petersburger Skizzen führen, bei aller Schlichtheit der Darstellung,
im Wesentlichen zu denselben Resultaten, wie Custinc's Briefe. Freilich
ist es für einen Deutschen platterdings unmöglich, das tiefe russische
Wesen zu begreifen, ehe er selbst vollständig verrußt ist und, will man
unseren Nachbarn glauben, so hat noch nie ein frei gebliebener Aus¬
länder ein wahres Wort über Rußland gesprochen. Hoffentlich wird
aber doch aus den vielen Schriften für und wider etwas Wahrheit an
den Tag kommen und eine Helle, eine Art von Nordlicht über den
liebenswürdigen Coloß verbreiten, das, bei allem Glanz, ihm selbst
unangenehm sein dürfte. So wichtig übrigens die Kenntniß der inne¬
ren Zustände Rußlands ist, weil sich daraus auf seine äußere Poli¬
tik schließen läßt, so sehr wäre zu wünschen, daß in dieser letzteren
Beziehung mehr gethan würde. Unsere Staatsmänner und Diploma¬
ten aber sind zu vertrauensvoll und patriotisch, um der Nation etwas
von den Maßregeln zu sagen, die unsere Regierungen gegen die uiitcr-
minircnde Politik des Nordens treffen. Sehr wichtig wird ein Buch
von der tapfern Hand deS berühmten Magyaren Wcssclcnyi sein,
das sich mit Rußlands äußerer Politik beschäftigt und wovon eine
deutsche Uebersetzung angekündigt ist.
— DaS hätte sich der fromme König David auch nicht träumen
lassen, daß seine Lieder einst in den Augen der russischen Censur keine
Gnade finden würden. In einem Exemplar der Psalmen (gedruckt
bei Landau in Prag), das auf Bestellung nach Rußland geschickt
wurde, riß der russische Censor mehrere Blätter heraus. Vielleicht glaubte
er, es stehe etwas gegen die Ukase zur Verweisung der Juden darin.
— Eben so wurden in einer arabischen Ausgabe der Tausend und
Einen Nacht (Habicht in Breslau), von Leipzig aus nach Nußland
verschrieben — ..wegen Obscönitatcn" — auf's Gerathewohl mehrere
Blätter herausgerissen. Das ist die Censur auf dem Gipfel der Voll¬
kommenheit. Wir haben diese interessanten Censurrisse aus sehr guter
Quelle: von einem in Leipzig lebenden Gelehrten, der für einen Freund
in Rußland jene gefährlichen Bücher besorgt hatte.
— Im russischen StaatSkalcndcr wird der Czar „regierender"
Herzog von Holstein und Schleswig genannt, während der König von
Dänemark blos als Herzog aufgeführt ist! Dieser StaatSkalcndcr er¬
scheint unter der Redaction und Aufsicht der Petersburger Academie
der Wissenschaften. Ein Brief von der Eider in der Augsburger All¬
gemeinen enthält darüber närrische Conjuncturcn und Datenzusammcn-
stcllungcn. Der Kieler Hafen, sagt man, kann die ganze russische Flotte
fassen und die englische dazu (?). In Deutschland ist überhaupt viel
Platz und doch nicht immer Raum für ein grcidcö Wort. — Die
Sippschaftsverhältnissc, in die wir durch unsere zahlreichen kleinen Für¬
sten mit aller Welt kommen, werden nachgerade so verzwickt, daß sich
die Genealogen einmal die Köpfe zerbrechen werden. Die Erbfolgrechte,
die sich daraus ergeben, sind haarsträubend. Das wird einst noch ein
gordischer Knoten, den nur das Schwert zerhauen kann.
— Die Deutsche Allgemeine Zeitung bewies unlängst klar und
deutlich, daß die kurhessische Regierung, durch den Hofrath Murhard
angehängten Prozeß, die bundestäglichcn Preßgesetze verletzt hat.
Nach der Preßgcsctzgcbung von 1819 mußte sich die kurhcssischc Re¬
gierung erst an die sächsische wenden, mit deren Censur das Welker'sche
Staatslexikon und der darin enthaltene Tadel des Kasseler Staatögc-
richtShvfS gedruckt ist. Erhielt sie von Sachsen, wie zu erwarten,
keine Genugthuung, so konnte sie beim Bundestag auf Untersuchung
und gerichtliches Verfahren gegen das Wetter'sehe Staatslexikon antra¬
gen. Durchaus kein Recht aber hatte sic, sich an den, durch die Ver¬
antwortlichkeit der sächsischen Censur geschützten Verfasser zu halten.
Sic aber hat sogar, ohne einen der erwähnten gesetzlichen Schritte zu
thun, gleich und lediglich den Verfasser gepackt, weil er zufällig ihr
Unterthan und ein freisinniger Mann ist.
— Eine originelle Erscheinung ist der Taschenspiclkünstlcr L. Win¬
ter, der in Leipzig zwei Vorstellungen gab und allgemeines Interesse
erregte. Die Kunststücke, die er macht, sind sehr hübsch und könnensich
wohl mit denen Döblcr's messen; neu und ein sehr guter Einfall ist, daß
Winter damit politische Improvisationen in Vers nud Prosa verbindet.
Die Erläuterungen, mit denen er seine Stückchen begleitet, zeigen, daß
Diplomatie und Taschcnspiclercl sehr oft verwandte Künste sind; er
treibt die Sache o»n -unorv und mehr aus Passion, als zum Lebens¬
unterhalte. Leider ist der ekelhafte Polizcigeist immer bei der Hand,
wo er einen anmuthigen und im Grunde harmlesen Scherz verderben
kaun. Winter war kaum in Leipzig, so folgte ihm von Halle aus
eine Denunciation, in Folge deren seine Vorstellung sehr beeinträchtig!
und dem Publicum der rechte Genuß verkümmert wurde. Zuletzt wird
man wirklich noch, wie in China, herausgeben ein: „Lexikon der Witze,
welche gemacht werden dürfe».,,
— Von welchen Zufälligkeiten hängt doch oft das Schicksal ei¬
nes Buches, das Glück eines Autors, die Gunst oder Ungunst deö
Publicums abi Unsere RoinannbersetzungSdanipfmaschinenfabrikett lie¬
fern jährlich ganze Ale.vandrinischc Bibliotheken Untcrhaltungsfuttcr und
die nachtheiligen Folgen davon sind oft genug beklagt, wenn anch
nicht immer richtig bezeichnet worden. Unser Publicum lief't nicht zu
viel stande Literatur! aber es lief't zu schlecht; ohne Geschmack und
Auswahl schlingt es in sich hinein, ivaö Buchhändlcrspceulation, An--
bersetzcrnoth und Mode ihm auftischen. Vom eiuer ganzen Reihe aus¬
ländischer Erzähler, die nach einander unser Publicum beherrschten, hat
Walter Scott allein den ungeheueren Lese-Enthusiasmus verdient, den
er erregte. In der Regel ist jeder Vielschreiber Mode geworden; wes¬
sen Romane eine kleine Bibliothek bilden, reizt auch eher die Unter¬
nehmungslust des deutschen Buchhändlers. James und Ainsworth sind
mehr gelesen worden, als der classische Irving; und während Cooper,
Marryat, Bulwer eine Zeit lang die Götzen des Tages waren, ist
mancher vortreffliche englische Roman, wie „Anastasius" von Hope
oder „Tom Cringlc's Log" von Michael Scott u. a. in. unbcach-
tet geblieben. So erschien im Jahre I84t eine Uebersetzung von
„Tylncy Hall" von Thomas Hood. Hood, der Herausgeber des
„!l<»»I's »vn" und des „l?i> ille Kliinv" einer der originellsten, auch
rcnommirtesten Schriftsteller Englands, hat außer Tvlney Hall keinen
Roman geschrieben, in diesem Buch aber durch derben Humor, meistere
hafte Charaktcrschöpfung und eine seltene Auffassung des altenglischen
Lamp- und Junkerlebens die meisten seiner Zeitgenossen übertroffen. In
der „Gesellschaft" spielt dieser Roman allerdings nicht, doch ist er reich
an all jener gesundem Romantik, die sonst den Appetit der Menge
nicht abstößt. Die Zigcuncrkönigin, der Creole, der Sonderling Sqnirc
Und, die zarte Graec und die beiden Tyrrels, so wie die erschüt¬
ternden Katastrophen, welche den humoristischen Verlauf der spannen¬
den Handlung unterbrechen und beschließen, entschädigen hinlänglich
für die Breite des ersten Bandes, an die man übrigens bei den Eng¬
ländern gewöhnt ist. Aber einige kleine Zufälligkeiten sind gegen Tho¬
mas Hood; es ist sein einziger Roman; und die Uebersetzung (von
Robert Grant, in Bnutzen, Wetterhahn Buchhandlung) ist in einer
Ausstattung erschienen, die heutzutage nicht eben Mode ist.
— Italien steht diesmal am der Spitze der Malcontenten Euro¬
pas und man muß zugeben, daß es in den kleineren Staaten nichts
weniger als an Grund zur Unzufriedenheit fehlt. ,Jn der ganzen Halb¬
insel soll es zusammenhängende geheime Gesellschaften geben; es ist so¬
gar ein Ausbruch vou drei Punkren aus auf Nächstens verkündet. Die
gewaltsam unterdrückten Bewegungen aus den Zwanziger Jahren haben
diese Drachcnsaat ausgesäet. Man spricht gern von der Feigheit der
Italiener und führt an, wie leicht die früheren Aufstände unterdrückt
worden. Damals war es die Aufklärung, der Liberalismus der Ge¬
bildeten, der losbrach, damals waren es Führer ohne Volk; jetzt schein«
es die Noth zu sein, die Aufruhr predigt; im Gefolge des materiellen
Elends sino die liberalen Ideen der Gebildeten unter die Massen ge¬
drungen, jetzt haben diese die Initiative ergriffen; der natürliche Lauf
der Dinge. Uebrigens sind Die päpstlichen Truppen auch nicht die
tapfersten. DaS junge Italien soll sich mit der Hoffnung schmeicheln,
daß eine auswärtige Macht nicht wieder ihre Bajonncte den Unter¬
drückern leihen werde, bevor die nothwendigsten Reformen garantirt
wären. (?) Der Kirchenstaat, Neapel in,d besonders das kleine terro¬
ristische Modena haben die Zeit zur friedliche» Reform müßig vorbei¬
gehen lassen. Diese Herren mochten ihre eigenen -Fehler und das Un¬
glück des Landes immer nur mit Galgen und Rad gut machen.
Die dänische Poesie hat Ähnlichkeit mit einem jungen Mädchen.
Wir haben sie als blasses, scheues Kind gekannt und haben uns
seitdem kaum um sie bekümmert; sie schien uns nicht bedeutend ge¬
nug, ihr unsere Aufmerksamkeit zu widmen. Kehren wir jetzt zu ihr
zurück, so finden wir, überrascht, eine volle, feurige und schöne Jung¬
frau wieder, die sich in reicher Blüthe entfaltet hat und nur mit
halbem Ohr nach unseren Schmeicheleien hört. — Früher, als Jens
Baggesen sich so in die deutsche Poesie stürzte, daß er darüber fast,
seine Muttersprache Vergaß; als Friederike Brun, gleich einer emsigen
Brieftaube, herüber und hinüber flatterte; als Oehlenschläger, ein
poetischer Dualist, für Dänen und für Deutsche dichtete, da knüpfte
ein festes Band die Literaturen beider Völker an einander. Längst
ist das Band morsch geworden, und wir wissen wenig mehr
von dänischen Schriftenthum in Deutschland. Nur aus einer ein¬
samen Literaturzeitung klingt hin und wieder ein tobendes Wort, ei¬
ner Stimme in der Wüste vergleichbar, und wissen wir auch genügende
Auskunft zu geben über russische, indische, persische und samojedischc
Poesie, so wurde uns doch der Reichthum unserer Stammverwand-
ren fremd. Bringen auch die Uebersetzer mitunter ein einzelnes Stück,
so ist ihre Einsicht doch keineswegs ausreichend, um die wichtigsten,
bezeichnendsten Leistungen zu wählen und uns dadurch einen vollen
Ueberblick des Fortschritts zu verschaffen.
Es wird aber wahrlich nochwendig, daß wir ernstlich anfangen,
auf die schönwissenschaftlichc Literatur der Dänen unser Augenmerk
zu richten. Haben doch selbst die Franzosen, denen wir so gern ih-
ren Indifferentismus in Bezug auf Fremdes vorwerfen, bereits be¬
gonnen, sich mit derselben vertraut zu machen. Marmier eröffnete
ihnen eine Perspective auf die Geschichte jener Literatur und suchte
deren Bedeutung durch Uebersetzungen in helleres Licht zu setzen. Wie
lückenhaft und änfängerisch seine Versuche nun auch sein mögen, so
waren sie doch immer ein erster lobenswerther Schritt, der sich reich
belohnte. Denn die dänische Poesie ist ein duftiger Rosenzweig, der
auf den starken Eichstamm deutscher Dichtkunst gepropft ward und
der nun Blüthen von ganz eigenthümlicher Farbe und Frische tragt.
Der Uebergang von der alten zur neuen Schule ist bald bezeich¬
net, denn er geschah plötzlich. Jens Baggesen lehnte in ruhi¬
gem Behagen auf dem Thron der Poesie; seine Werke, ein Abdruck
französischer Liebenswürdigkeit und Eleganz, galten für das erfüllte
Ideal poetischer Schönheit und er wurde „der Sänger der Grazien"
genannt. Jetzt machen Baggesen's Gedichte zwar den Eindruck eines
Putzzimmcrs im Rococogeschmack, aber dennoch kam ihm jener Name
zu. Denn zwischen den goldenen Muschclschnörkeln, zwischen den
antiquirten Göttern und Nymphen, lauschen auf glattem Porzellan
gar liebliche, farbenheitcre Bilder, mit feinem Pinsel ausgeführt. Bag¬
gesen war immer graziös, selbst wenn er schilderte, wie seine Hel¬
dinnen sich ein Fußbad machen.
So saß er also auf dem Thron, ein überaus milder Herrscher.
Mit Szepter und Krone hielt er sein Mittagsschläfchen, nicht träu¬
mend, daß es Jemandem einfallen könnte, ihn zu verdrängen. Da
trat Oehlcnschläger still und anspruchslos aus. Baggesen freute
sich seiner, lobte seine Gedichte und hätschelte ihn, so lange er ihn
für gefahrlos hielt. Plötzlich schleuderte aber der junge Titan den
^Aladdin", diesen orientalischen Zauberberg voll klingender Goldadern,
in die Welt; er schrieb die wunderbar schöne „Helge", und ein be¬
geistertes Hosiannah wurde ihm von Dänemarko Jugend zugerufen.
Sie jauchzten, als der Zopf gefallen war, als sie statt des franzö¬
sischen Puderstaubs nun freie deutsche Bergluft athmeten. Aber
Baggesen runzelte die Stirn, sein Auge umwölkte sich und mit ge^
«waldigen Blitzen wollte er den kühnen Dtchtcrjüngling niederschmet¬
tern. Er richtete deshalb das kritische Schwert zunächst wider Och-
lenschläger's Singspiele, welche freilich nicht auf der Höhe des guten
Geschmacks stehen, allein das genügte ihm keineswegs und er suchte
noch andere Lücken der Rüstung, um seine Waffe hindurchbohren
zu können. Solche Lücken fehlten nicht ... es macht den Oehlen-
schläger eben so liebenswürdig, daß er bei seinem großen Talente
auch eine gute Menge von Achillesversen hat.
Derselbe war damals an der Kopenhagner Universität wohl¬
bestallter Professor der Aesthetik geworden, ein Amt, zu dem er etwa
eben so gut paßte, als wenn man einen Professor der Aesthetik als
Dichter anstellen wollte. Oehlenschläger, der ein wahrer, wirklicher
Dichter ist, besitzt gar keinen philosophischen Fond, ja er erklärte selbst,
es fehle ihm aller Sinn für Philosophie. Auch die scholastische Kunst,
sich in antiken Sprachen auszudrücken, ging ihm ab und doch nöth¬
igte ihn seine Stellung jetzt, hin und wieder vor öffentlicher Ver¬
sammlung lateinische Reden zu halten. Da kamen denn nicht selten
die spaßhaftesten Sprachschnitzer vor und Baggesen hörte mit feinem Ohr
Md schrieb mit beißender Feder Satyren darüber. Der Professor hatte
nnmal von einem gemeinen Soldaten reden wollen und hatte ihn
miles 8in,s»Iex genannt, weshalb sein Gegner, in sarkastischer Kritik,
einen Offizier, zum Unterschiede, alios compositus nannte. Aber die
Studenten hingen mit feuriger Liebe an Oehlenschläger, und mehrere
schrieben in eben dem hastigen und beleidigenden Style gegen Bag¬
gesen, der seine Angriffe auf Oehlenschläger bezeichnete. Unter diesen
jungen Kämpen befand sich mancher Name, dessen Klang später sieg¬
reich durch Dänemark zog, z. B. Johann Carsten Hauch. Sie for¬
derten auch Baggesen, der sich so breit auf dein Lotterbett seiner
classischen Sprachbildung hinstreckte, zu einer lateinischen Disputation
heraus, aber er war klug genug, den Handschuh liegen zu lassen.
Baggesen's Mond verblich immer mehr, je strahlender Oehlen-
schläger'ö Sonne emporstieg. Dieser schüttete nun ein ganzes Füll¬
horn von Dramen über daS dänische Land aus, und ich brauche
darüber nicht speciell zu sprechen, denn sie sind bekannt genug unter
uns. Obgleich er auf reine Tragödienform gar kein Gewicht legte,
obgleich vor einer Masse von romanttschci, und sententiösen Blumen
die Charaktere nicht in Blut und Leben gehen, so übt doch Oehlen-
schläger's genialische Behandlung stets einen sehr frischen und innigen
Reiz. Dieser Reiz wirkt aber doppelt in Dänemark selbst, denn es
ist nicht genug zu loben, daß er fast immer vaterländische Stoffe
wählte. Darum sind die Stücke so kräftig verwachsen mit der däni¬
schen Bühne, daß man sie alljährlich wieder und wieder bei vollen Häu¬
sern spielen kann. „Dina", des Dichters neuestes Trauerspiel, hat
den Grafen Uhlfeld zum Helden, den Liebling Christian IV., der
ihm seine Tochter, die schöne Eleonore, zur Gattin gab. Das Stück
ist jugendlich frisch, in den colossalen Vorzügen sowohl, als in den
colossalen Fehlern. Da tönt noch jene anmuthige Diction, da glüht
noch jene feurige Phantasie, die den Dichter stets bezeichnet haben
— da wuchert aber auch noch jene Ueberfülle von Blumen, worum<
ter man fast ersticken muß.
Die Dänen waren entzückt, als „Dina" auf der Bühne erschien;
der Jubel wollte gar kein Ende nehmen. Die Alten sahen ihre beste
Jugendzeit noch einmal wiederkehren und die Jungen verloren das
Grauen vor dem Altwerden ... sie kamen zu der Erkenntniß, das
Genie altere nicht. So machte die Tragödie unerhörtes Glück, und
hatte Oehlenschläger auch die Kränze mit Frau Heiberg, der unver¬
gleichlichen Künstlerin, welche die „Dina" gab, zu theilen, so wuchs
des Lorbeers doch eine solche Fülle, daß er hinreichte, sie beide zu
krönen.
Schweden bleibt in der Bewunderung des Dichters hinter sei¬
nem eigenen Vaterlande nicht zurück und man erklärt dort
Oehlenschläger unumwunden für den größten lebenden Dichter. Die¬
ser Euphemismus ist vorbereitet worden durch Esaiaö Tcgn<-r und
er hat Wurzeln geschlagen in den Spalten der skandinavischen Fel¬
sen. Was dort aber einmal steht, wird so leicht von keinem Sturm¬
winde ausgerissen. Einige Zeit vor Göthe's Tode beging nämlich
die Universität Lund eine große Feierlichkeit. Oehlenschläger war
dazu eingeladen, er kam und man empfing ihn mit jenem phraseolo¬
gischen Pompe, worin die Schweden unübertrefflich sind. Tegiwr
setzte ihm öffentlich die Dichterkrone aufs Haupt, hielt ihm eine Fest¬
rede in Hcrametevn und nannte ihn:
„Erbe deö Thrones im Reiche der Dichtkunst — der
Thron ist an Göthe."
Oehlenschläger hat seine Werke größtentheils auch deutsch verfaßt und
gehört somit unserer Literatur an; aber es ist immer gewagt, in sol¬
chem Dualismus sich behaupten zu wollen. Deutschlands Literarhi-
storiker erwähnen seiner mir so obenhin und unsere höhere Kritik hat
sich fast gar nicht mit ihm beschäftigt. Nun zürnt er den Deutschen
und glaubt sich zurückgesetzt. „Sie wollen mir keinen Ehrenplatz an,
Tische anweisen" ist sein gewöhnliches Wort darüber. Freilich nimmt
Dänemark regeren Antheil ans einen poetischen Leistungen; hier ist er
der Mittelpunkt alles dichterischen Seins und der einfachste Bürger
besitzt seine Schriften.
Eine so ungestüme Anerkennung ist jedoch in Deutschland, bei der Fülle
von überwiegenden Litcraturschätzen, billigerweise nicht zu verlangen,
Dänemarks Poesie ist noch im Frühling und man jauchzt der ersten Lerche
entgegen, doch die Nachtigallen kommen und dann kühlt sich jener
Enthusiasmus ab. Nach dreißig oder vierzig Jahren wird man auch
dort gewiß andere Büsten vor Oehlenschläger's stellen. Mich be¬
schleicht beim Niederschreiben dieser Worte eine gewisse Wehmuth,
aber ich sage das, weder um Oehlenschläger's Talent, noch um die
Pietät der Dänen zu beleidigen. Ich sage es, weil ich es sagen
muß, und keine leere Prophezeihung ist es, sondern innerste Ueberzeug¬
ung. Dänemarks Poesie wird nicht stehen bleiben, da sie bereits
angefangen hat, mit muthigen Schritten fürbaß zu gehen.
Uebrigens haben wir doch manches Merk von Oehlenschläger
nur sehr unzureichend durch Uebersetzungen oder gar nicht kennen ge¬
lernt. Zu dem Bedeutendsten gehört sein episches Gedicht: „Nordens
Guter — die Götter Nordens", welches uns Lcgis in trefflicher
Sprache wiedergab. Dasselbe kam beim Erscheinen in eine Zeit hin¬
ein, wo die Academie der Wissenschaften zu Kopenhagen eben die
Frage angeregt hatte: „Sind die nordischen Gottheiten ein Stoff für
moderne Poesie, oder nicht?" Oehlenschläger antwortete bejahend durch
sein Epos, das er zugleich als Argument beibrachte. Hierdurch scheint
mir aber der ästhetische Zweifel noch keineswegs erledigt zu sein,
denn die Gestalten der skandinavischen Mythe nehmen sich, wie sie so
wohllautend auf den Stelzen südlichen Versbaues einherschreiten,
recht entfremdet und verweichlicht aus. — Wofür wir in Deutschland
dem Dichter noch ganz besonders dankbar sein müssen, das ist die
Uebertragung der Holbergischen Lustspiele. Darin liegt ein wahrer
Schatz von Humor, von sicherer Charakterzeichnung und dramatischer
Lebendigkeit. Das glüht und sprüht, das webt und athmet heute noch so
munter, das trifft und geißelt noch so scharf, wie vor 140 Jahren.
Seine Werke glättet und felle Oehlenschläger mit großer Sorglichkeit
und in den neuen Ausgaben treten sie immer saubrer vor's Publicum. Aber
der Polirstahl vertilgt nicht selten das schönste Gold und wischt die
feinsten poetischen Linien aus. Es ist die jugendkecke Romantik ab¬
gefallen! aus ihrem wilden, üppigen Baumwuchs sollen kunstreiche
Hecken entstehen und der Verstand, ein Gärtner mit scharfer Scheere
und plumpen Händen, stutzt sie zu. Verstand ist stets weniger Oeh-
lenschläger'S Sache gewesen, als Phantasie; und es ist übel, daß ihr
nun jener in's Handwerk pfuschen soll. Der poetische Ungestüm, die
reine Unmittelbarkeit war just eine der schönsten Zierden, welche seine
Gedichte zu verlieren hatten. Nur Ein Beispiel mag hier stehen, wie
Oehlenschläger verbessert. In seiner lieblichen Romanze: „der Ritter
an der Elfenhöhe" kommt ein ritterlicher Jüngling in später Nacht
zu einem Hügel, legt sich dort nieder und schlummert ein. Drei luf¬
tige Jungfrauen nahen sich, umschweben und küssen ihn und Mor¬
gens ist er todt. So schloß vormals das Gedicht. Jetzt aber hat
der Poet noch einen Vers hinzugefügt, worin erzählt wird, daß die
drei aus Nachtluft und Thau gebornen Wesen Nichts anders als
Erkältung, Schnupfen und Rheumatismus waren. Klingt das nicht
gerade wie Parodie?
Oehlenschläger war nicht daheim, ich bekam ihn also nicht zu
sehen und kann von seiner Persönlichkeit nur mittheilen, was mir
Andere sagten. Er hatte nämlich eine Sommerfahrt nach Norwegen
hinüber gemacht, wo seine Tochter in Bergen verheirathet ist. Sonst
bewohnt er während des Sommers ein Landhaus in Frederiköberg,
dessen waldstiller Park mit seinen prächtigen Baumgruppen und mit
den blauen Wasserspiegeln, die dazwischen ruhen, recht zum Sinnen
und Dichten geeignet ist. Wenn der Winter kommen will, zieht er
nach der Stadt, fuhrt dort ein behagliches, genußreiches Leben und
möchte keinen Abend das Theater versäumen. Volk und Fürst brin¬
gen ihm Lorbeerkränze in Hülle und Fülle dar; Oehlenschläger freut
sich ihrer und nimmt sie dankbar an. Diese Dankbarkeit ist ein her¬
vorstechender Zug seines Charakters und sie muß um so ehrenvoller
anerkannt werden, je seltener sie bei berühmten Männern ist. Oft
stachelt Eitelkeit dieselben zur Unzufriedenheit; Alles erscheint ihnen zu
gering als Lohn ihrer immensen Verdienste und ein mürrischer Ton
verstimmt die Harmonie ihres Wesens. Ruhe und Wohlbehagen
aber haben den Oehlenschläger jung erhalten; er sieht wie ein Fünf¬
ziger aus, obgleich er vier und sechszig Jahre zählt. Kräftig und
elastisch ist sein Körperbau, volles schwarzes Haar bedeckt sein Haupt
und aus dem Auge flammt ihm ein schöner Strahl — der Götter,
Strahl des Genius.
Oehlenschläger hatte den Zündstoff ausgeworfen lind poetische
Blüthen loderten nun reichlich hervor, eine glühende Flora. Zunächst
stand Steen Seeufer Buch er auf, der am I j. October 1782 ge¬
boren ist. Anfangs führte er den Namen Spentrup, den er von
seinem Pfarrdorfe in Jütland entlehnte und erst später nahm er den
eigenen an. Zwar hat Bucher auch Gedichte herausgegeben, doch
in der Prosa ruht seine eigentliche Kraft. Seine Novellen sind hei¬
mathlich, ursprünglich und wahrhaft bedeutend. Wenn er Jütlands
Kreideufer malt, an denen die Wellen der Nordsee branden, — die
öden, spärlich bewohnten Haiden und Moräste, wo sich nur hin und
wieder grasreiche Sahvanncn finden — wenn er die armen Bewoh¬
ner zeichnet, die kraftvoll und fleißig sind, wenn er beschreibt, wie sie
unter fortdauernden Mühen und Gefahren sich ihre Nothdurft erwer¬
ben, dann steht er auf dem Gipfel des Styls, dann reißen seine
naturwahren Schilderungen den Leser hin, dann verdient er den Na-
men eines dänischen Walter Scott. Aber Bucher ist ein autochtho-
nischer Poet; die Muse hat ihm uur Jütlands Steppen zum Eigen¬
thum gegeben; sobald seine Phantasie darüber hinaustritt, irrt sie kraft-
und heimathlos durch die Lande. Charakteristisch für seine Leistungen ist
es, daß er zu den wenigen dänischen Dichtern gehört, welche nie von
Italiens Südlust umweht wurden.
So war der junge Bucher, mit dem der alte kaum eine Ähn¬
lichkeit hat. Er erinnert an Glaukos. Gleich diesem lebte er fried¬
lich an einem Gestade, das noch kein fremder Fuß betreten, dessen
Grasufer »och niemals abgemäht worden, aber dämonische Mächte
lockten ihn in die Tiefe hinab. Da wuchs ihm ein struppiger Bart
und die Schenkel gestalteten sich zu einem häßlichen Fischschwanz.
Auch Bucher hat sich hinuntergestürzt in die schmutzigsten Tiefen der
Tagesereignisse und taugt nun so wenig für die Poesie, als für den
geistlichen Stand. Er ist ganz gesunken, ganz verloren. Bor einiger
Zeit gab er ein Buch heraus und bat öffentlich, man möchte doch
subscribiren, damit er vom Erlös seine Schulden bezahlen könne. Und
der Mann ist fast sechszig Jahre alt.
Ein anderer Geistlicher, welcher in der dänischen Literatur eine
hervorstechende Rolle spielt, ist Nicolai Frederik Severin Grundt¬
vig, den 8. September 1783 zu Abby in Seeland geboren. Er
lebt als Priester in Kopenhagen und ist ein kleiner Mann, unter
dessen gebleichten Haaren ein geistvolles Apostelgestcht hervorschaut.
Grundtvig hat mit rechtem Feuereifer für das Studium altnordischer
Geschichte angeworben; glühende Vaterlandsliebe leitete ihn dabei
und er war es, der das Augenmerk der Dänen auf die Chronikbü-
chcr Saro's und Snorro's zu lenken wußte. Seine Worte fielen in
frischen, guten Boden, man gewann Theilnahme und nun brachte
Grundtvig den Landsleuten zwei Quartbände einer Uebersetzung des
Saro Grammaticus. Früher schon hatte er auch die Mythen des
Nordens in dichterischer Form behandelt und zwar auf so sprudelnd
geniale Weise, daß er mit Oehlenschläger um den Lorbeer stritt, Saft-
»ut kraftvoll war seine Sprache, tieser Ernst und Jdeenreichthum
lagen, wie edle Perlen, unter der rauschenden Meerfluth seiner
Verse und freudig empfing man Alles, was er dichtete.
Aber ein stürmischer, ungezügelter Eifer riß ihn zur wilden Po¬
lemik hin. Er schrieb die „Weltchronik" und fand ein Genügen
daran, die Fackel des Streits in Theologie und Literatur zu schleu¬
dern. Nun verunstaltete sich seine poetische Ausdrucksweise durch
bizarre Symbolik und angestrengte Originalität — er wurde Zelot
und büßte viel von der allgemeinen Theilnahme ein. In den spä¬
teren Gedichten mischt Grundtvig das nordische Heidenthum und die
christliche Religion so chaotisch durch einander, daß die Produktionen
wunderlich und wüst werden. Dies ist wohl der Grund, weshalb
sein Name gelöscht wurde aus den Reihen populärer dänischer Dich¬
ter, zu denen er durch Talent, Begeisterung und innige Vaterlands¬
liebe ursprünglich gehört.
Auch Bernhard Severin Inge manu hat einen Theil des Ruh¬
mes zugesetzt, der ihn einst in voller Springflut!) überströmte. Inge-
mann wurde den 28. Mai 1789 zu Thorkildstrup auf der Ostsee¬
insel Falster geboren und studirte die Rechte. Aber es ging damit
nur schwach, denn fortwährend kam der ernsthaften Jurisprudcntia
die heitere Muse des Gesanges in die Quer und trug endlich über
ieme alte kalte Dame den Sieg davon, wie Jngemallil dies selbst in
anmuthigen Verse» beschrieben hat. Der Sieg brachte reiche Lieder¬
früchte, und diese erschienen in zwei Bändchen 1811—1812. Och-
lenschlägcr's Beispiel und Muster spiegelte fich^ deutlich darin ab; und
konnte des Jünglings Phantasie auch nicht auf Adlerschwingen zum
Himmel emporziehen, so schwebte sie doch auf weißen Taubenfittigen
leicht und schön im Abendroch daher.
Ingemann bekam schnell eine» Ruf. Bei seinem tiefinnige»
Gefühl und seiner trefflichen Sprachbehandlung würde ,dieser auf
sicherem Fundamente geruht haben, hätte nicht eine weichliche Senti¬
mentalität, gleich dem Schwamm im Hause, die Mauern zerstört.
Weil seine allegorischen Poesien besonderen Anklang gefunden, schrieb
er eine große romantisch-allegorische Epopöe: „de sorte Riddcre —
der schwarze Ritter" in neun Gesängen. Die Allegorie ist aber im¬
mer ein Gemachtes, ein künstlich Erfundenes, und je mehr sie in die
Länge gedehnt wird, um fo grellerfühlt sich das heraus, darum kam
der schwarze Ritter, trotz wahrhaft poetischer Einzelheiten, ohne Le¬
benskraft zur Welt.
Im Drama versuchte er sich gleichfalls, und nachdem seine er¬
sten Trauerspiele fast spurlos vorübergegangen, machte 1815 „Masa-
niello" bedeutendes Glück. Noch in demselben Jahre erschien die
Tragödie „Blanea" und erhielt sich lange als ein Lieblingsstück schwär¬
merischer Mädchen und hysterischer Frauen auf den Brettern. Die
folgenden Dramen entsagten theils dem Theater, theils mußte das
Theater ihnen entsagen. Ingemann gab noch eine Zgrößere Er¬
zählung „die Unterirdischen" und machte dann in de» Jahren 1818
bis 1819 eure Reise durch Deutschland, Frankreich und Italien. Seit
1822 ist er als Professor der dänische» Sprache an der Nitteracademie zu
Soroc angestellt und dort schrieb er mehrere umfangreiche historische Ro¬
mane, als: „Waldemar Seier", „Erik Mendvid Barndom" :c. Damals
hatte er in Dänemark großen Ruhm und die deutschen Uebersetzer lauerten
wie Wegelagerer auf seine Werke. Aber die Zeit eilt und die Sen¬
timentalität ist nicht »richtig genug, um mitgenommen zu werden.
Als Heiberg seine anstophanische Komödie „WeihnachtSschcrz und
ReujahrSpossen" schrieb, als er darin Ingemann'S sentimentale Lie-
besschwärmerci und seinen seufzenden Platonismus, wie er sich na
merklich in „Bianca,, breit macht, ergötzlich parodirte, da lachte man
der unmännlicher Weichheit und die meisten Anhänger des Dichters
fielen von ihm ab. Ueber dem Matten vergaß man aber auch das
Treffliche, was er geschrieben, und nur ein Kreis von Frauen bewun¬
dert ihn noch.
Ingemann ist ein freundlicher, anspruchsloser Mann, und Alle
die ihm nahe stehen, verehren seine Persönlichkeit. Es geht ein poe¬
tischer Dust durch sein Leben. Er hat dieselbe Dame als Gattin
heimgeführt, der seine schmachtenden Elegien gewidmet waren; zwar
besitzen sie keine Kinder, doch sind sie selbst Kinder geblieben, und
ihre Ehe ist ein reines, liebliches Idyll. Darum weiß der Dichter
auch, wie unschuldige Herzen zum Himmel beten und in seinen
„Psalmen für Kinder" weht ein wunderbar inniger Ton.
Neben Ingemann lebt in Soroe Johann Carsten Hauch, ei¬
nen Lehrstuhl für Naturhistorie bekleidend. Er wurde zu Friedrichs¬
hall in Norwegen am 17. März 1791 geboren und stammt aus
adeliger Familie. Sein Vater war Excellenz und ärgerte sich von
frühe an, daß der Sohn sich ganz den Wissenschaften und der Poesie
hingab, denn er hätte ihn lieber mit dem Kammerhermschlüsscl, als
mit der Dichterkrone schmücken lassen. Aber die Freiheitsgöttin hatte
schon in der Wiege Hauch's Herz und Auge geküßt und so war er
nicht zu verwenden für das glatte Parquet des Hoflebens. Niemals
hat er seinen Namen mit dem Abzeichen des Adels versehen, doch
wenn er denselben auch wie ein nutzloses Gerüth in die Rumpel¬
kammer warf, so war er doch in allen ritterlichen Künsten wohl er¬
fahren; und sein Geist, seine Seele drückten stets den wahren, echten
Männevadel aus.
Von Jugend auf ein eifriger Verehrer Oehlenschläger's, stand
Hauch in der vordersten Reihe derer, welche für ihn gegen Vaggesen
stritten. Er kämpfte, dichtete und liebte, Als er nach Italien ging,
ließ er dem Mädchen seiner Wahl den Verlobungsring zurück. Auf
Eapri hatte er das Unglück, ein Bein zu brechen, und es mußte ihm
amputirt werden. Hauch, der so gern tanzte, ritt und voltigirte, er,
der Meister in des Körpers kühner Grammatik, war nun ein Krüppel und
daheim wartete seiner die blühende Braut. Verzweiflung ergriff ihn,
allein bald kehrte ihm der Muth zurück; sein Mädchen blieb ihm
treu und als er das Vaterland wieder sah, wurde er am Altare
mit ihr verbunden.
In reichster Fülle sprudelte ihm nun der poetische Born und zwei
kräftig schöne Trauerspiele, „Bajazet" und „Tiber" entstanden (1828)
schnell nach einander. Tieck sagte: eS wären die besten Dramen der
Neuzeit, und dies Urtheil paßt hauptsächlich auf den Bajazet, wenn
Ulan nämlich von einem Drama nicht verlangt, daß eS bühnengerecht
sein müsse. Hauch'S Tragödien verlieren sich viel zu sehr in eine
stolze epische Breite und ihr begeistert fluthendcr Strom läßt sich nicht
in die engen Coulissenräumc einschachteln. Er hat viele Reisen ge¬
macht, aber zu wenig in Residenzen gelebt, darum kennt er den klei¬
nen Mechanismus des Theaters nicht genug. Die Bühne ist wie
ein kokettes Weib; sie verlangt jcchrela ge Hingebung, aufmerksames
Studium ihrer verstecktesten Launen, wenn sie ihre Gunst dem Dich¬
ter schenken soll. Weil Hauch ihr jene Aufmerksamkeit versagte, woll-
ten seine dramatischen Poesien bei der Darstellung keinen Anklang
finden. Wohl staunte das Publicum die Schönheit ihrer Sprache,
die Größe ihrer Charakterzeichnung an, doch eS blieb kühl und be¬
schaulich; eS wurde nicht hingerissen von unwiderstehlicher Gewalt.
Seitdem schrieb Hauch noch mehrere Dramen, in denen die
Hand deö Meisters waltet, allein er sandte sie gar nicht mehr zur
Aufführung ein. Von denselben müssen besonders das Drama „Don
Juan" und das aristophanische Lustspiel: „den babiloniste Taarn-
bygning i Mignature" anerkannt werden. Später wandte er sich
mehr dem Romane zu; „En polst Familie" ist wahrhaft classisch, und
auch gegenwärtig beschäftigt ihn ein neues Gebilde in derselben Form.
Als Lyriker besitzt Hauch wohl kühne, begeisterte Kraft, aber ihm fehlt
jener rhythmische Schmelz und Duft, welcher der Poesie ihren eigen¬
thümlichen Reiz verleihen muß.
Wir stehen jetzt an der Grenze eines neuen Abschnittes der dä¬
nischen Poesiegeschichte. Bisher herrschte tiefer Frieden in dein Dich-
terwald; seit Baggesen'S Zeit hatte kein kritischer Sturm die Wipfel
mehr geschüttelt. Elstern und Spatzen wiegten sich so ungestört wie
Nachtigallen und Turteltauben auf den grünen Zweigen, sie zwitscher¬
ten oder sangen und saßen brütend auf ihrem Nest. Der Staar
nannte den Wiedehopf einen begeisterten Minnesänger und der Wie¬
dehopf pries dagegen die treffliche Sprache des Staars. ES war
eine so zünftige Gemüthlichkeit, daß man sie von der Kameraderie
kaum unterscheiden konnte. Auch Deutschland hat nach dem zweiten
Pariser Frieden eine ähnliche Periode durchgemacht, in der viele süße
Worte, aber wenig Thaten erklungen sind. Zu dieser Zeit trat Jo¬
hann Ludwig Heiberg auf, ein durchaus feiner Geist, der wohl
fühlte, daß die Literatur keine Lobversicherungö - Anstalt sei. Wie
Apoll trug er die Leier des Gesanges in der Hand, während aus
seinem Rücken die silbernen Pfeile der Satyre klirrten. Er wollte
keiner blind anerkannten Große trauen, wenn er sie nicht selbst mit
kritischem Barometer gemessen hatte; seine reiche, ästhetische Bildung
berechtigte ihn vollkommen dazu, und er brachte die edlen Pflanzen
zur besseren Blüthe, indem er das Unkraut niedertrat.
Heiberg, der Sohn eines ausgezeichneten Elternpaares, wurde
am 14. December 1791 zu Kopenhagen geboren. Als er achtzehn
Jahre zählte, widmete er sich dem Studium der Medizin, doch wurde
ihm bald klar, daß er zu einer anderen Anatomie berufen sei, als zu
der, welche ihr Messer in menschliche Leiber senkt. Nun geriet!) er
in's Schwanken und wußte nicht, ob er Dichter, Musiker oder Na¬
turforscher werden sollte. Talent und Wissenschaft fehlten ihm zu
allen diesen Fächern nicht. Doch der innerste Drang zog ihn auf
die Bahn der Poesie und gab ihn so derjenigen Kunst zurück, für
welche ihn recht eigentlich die Natur geschaffen hatte. Einige seiner
dramatischen Jugendarbeiten weckten bedeutende Hoffnungen und Hei¬
berg stieg, mit den Fruchtbergen der Klassicität gründlich vertraut,
nun auch zu den kühnen Felsenklippen südlicher Romantik empor.
Ein Schauspiel: „Dristig vovct halv er vundet — Frisch gewagt ist
halb gewonnen" und eine höchst geistreiche Dissertation: i>ne-
«vos «le-itMiltikii,« ^«znore Iilsu.mico et ni'ne««!! ein <Jo I'eerr <^,'et-
«Zt-rouo »Zo Il>, Litt-c-i", waren die Ausbeute dieser Wanderung. Für
die letztere Arbeit wurde ihm 1817 der Doctorgrad ertheilt. Noch
in demselben Jahre erschien ein mythologisches Schauspiel: „Psyche'S
Weihe" und eine aristophanische Komödie: „Julespog og Nytaars-
löcir — Weihnachtsscherz und Ncujahrspossen", welche eine Fülle
von sprudelndem Humor, dichterischer Anmuth und treffender Satyre
verrieth.
Heiberg ging nun nach Paris, lebte dort von 1814—1822 in
den angenehmsten Verhältnissen und machte das französische Theater
zum Mittelpunkt seiner Beobachtungen. Als er heimkehrte, wurde
ihm zu Kiel eine Professur der dänischen Sprache übertragen. Hei-
berg, ein Mann des Lebens und der Kraft, schwankte nicht lange in
idealer Ungewißheit, sondern faßte sein neues Amt von vornherein
mit muthigem Griffe an und schrieb eine brauchbare Sprachformen¬
lehre. Aus einer Reihe von Vorlesungen entstand auch die „Nor¬
dische Mythologie", welche mit dem feinen Auge des Naturforschers
die Göttersagen anzuschauen und ihre Entwicklung so klar darzustellen
weiß, daß man sie gleich Krystallen in nothwendiger Bildung um
einen bestimmten Kern anschießen sieht.
Heiberg verließ indeß 1825 den akademischen Lehrstuhl und
kehrte nach Kopenhagen zurück, um freier und kräftiger eingreifen zu
können in Leben und Literatur. Die Bedeutung der Bühne warm
empfindend, konnte er es nicht ruhig mit ansehen, wie die Oper im¬
mer breiter Platz gewann, das Drama verdrängend. Er suchte den
Zeitgeschmack und die nationale Komödie gegenseitig zu vermitteln
und dies durch Vaudevilles, deren er beinahe zwanzig schrieb. Die¬
selben haben die dänische Bühne viele Jahre lang beherrscht und da¬
bei trefflich eingewirkt, denn jede Nachahmung der Franzosen lag ih¬
nen fern, ein schöner heimathlicher Reiz umwebt sie. Auf localen
Grund find Volkscharaktere mit sicheren, treuen Farben gezeichnet;
das Publicum sitzt vor dem Spiegel, wenn es diese Vaudevilles sieht
und so wissen sie sehr geschickt das Volkslustspiel zu ersetzen. Eine
heitere, angenehm verwebte Intrigue verschlingt die Situationen, und
schöne lyrische Blüthen duften in dem frischen Kranz.
Im Jahre 1824 war Heiberg in Berlin gewesen, hatte dort
Hegel, den Philosophen des Jahrhunderts und dessen System kennen
gelernt. Wie wach Heiberg's Seele war, jeden Athemzug des Fort¬
schritts zu belauschen, das zeigte bereits seine Schrift: „Ueber die
menschliche Freiheit", welche 1824 erschien. Mit dem Jahre 1827
aber gründete er „die fliegende Post", ein ästhetisches Wochenblatt,
und Alles staunte ihn an, denn so war die Kritik bisher in Däne--
mark noch nicht gehandhabt worden. Oehlcnschläger hatte, vermöge
seines frischen Talents, einen sehr unmittelbaren, dreist romantischen'
Ton in der Literatur angegeben. Seine Einfachheit, sein blühender
Muthwille schienen leicht nachzuahmen; alle Spatzen, alle Zaunkönige
wollten zwitschern, wie er sang, und eine sichere, prüfen deKritik war
sehr nothwendig geworden.
Da kam Heiberg hinzu, der Mann von edlem Geschmack, ge-
läutertem Urtheil und sprühendem Witz. Die fliegende Post brachte
eine Reihe Kritiken über Oehlenschlciger, welche, auf festen ästheti¬
schen Standpunkten fußend, das Wesen der Poesie besprachen und
eben so, wie sie des Dichters Schönheiten hervorhoben, auch seine
Fehler zeigten. Oehlenschlciger zieh den braven Heiberg, etwas kin¬
disch, des Undanks, „weil er dessen Singspiele immer so gern gese¬
hen und stets belobt habe", aber außerdem fiel ein ganzer Wespen-
schwarm über ihn her. Ihn störte das nicht: mit überschwänglicher
Laune handhabte er die Fliegenklatsche, und auch auf Hauch fiel
mancher tüchtige Hieb. Je mehr die Literaten vor dem Blatte zit¬
terten und auf dasselbe schimpften, mit um so größerer Lust wurde es
im Publicum begrüßt, und seine scharfsinnigen Kritiken, welche stets
die reine Kunstschönheit zu ermitteln strebten, haben einen namhaften
Einfluß auf die Geschmacksbildung der Nation geübt.
1833 schrieb Heiberg: „Ueber die Bedeutung der Philosophie
für die Gegenwart" und gab sich dadurch offen als Anhänger He¬
gel's zu erkennen, lebhaftes Interesse für ihn in Dänemark erweckend.
Heiberg hat das unbestrittene Verdienst, die Wunderblume jener Phi¬
losophie in seinem Vaterlande acclimatisirt zu haben. Als Mitstre¬
bender stand ihm dabei Martensen treu zur Seite, der jetzt Pro¬
fessor der Theologie und auch in Deutschland durch sein Buch:
„Ueber Lenau's Faust" rühmlich bekannt ist. Hierauf schrieb Heiberg
eine treffliche Einleitung zur Logik und gab seit 1837 die Viertel-
iahrsschrist „Perseus" heraus. Dies Journal sprach gleich im Titel
als Tendenz aus: die ideenlose Meduse des Empirismus niederzu-
werfen und Andromeda — die barbarisch gefesselte Idee — zu be¬
freien. Diese Zeitschrift erschien nicht lange und Heiberg redigirt nun
seit 1842 das „Intelligenzblatt."
Von seinen dramatischen Werken fordern besonders noch fol¬
gende Erwähnung. Das Schauspiel „Nina" (1824) hat einen sehr
schwierigen Stoff, denn die Heldin wird aus Liebe wahnsinnig, und
es gehörte ganz die Feinheit Heiberg's dazu, um einen so grellen
Zustand zur harmonischen Anschauung zu bringen. Eines wahren
Sturmes von Beifall hatte sich das romantische Drama: „Elverhöi
...... der Elfenhügel" zu erfreuen, als es 1828 auf der Bühne erschien,
und nahe an hundert Mal wurde es bei gedrängt vollem Hause
aufgeführt. Die Sage vom Elfenkönig auf dem Stcvcnögcbirge ist
der Zauberkrystall, auf dem die liebliche» Gestalten vorüberziehen und
unter ihnen auch Christian lV., der wackere Dänenkönig, dessen Name
wie der eines Gottes im Volke lebt. Reiche, blühende Diction um¬
schlingt das Werk und schone Volkslieder sind, gleich seltenen See-
blumcn, in den anmuthsvoller Strauß hineingeflochten. Der Elfen¬
hügel ist in's Deutsche übersetzt und — wenn ich nicht irre — zu
Immermann's Zeit auf der Düsseldorfer Bühne gespielt worden.
Grabbe sagt jedoch: „die Uebersetzung hat den Trab zweier Ham¬
burger Milchgaule; im Lyrischen.sitzt sie ganz im nassen Sande".
Dagegen bezeugt er, es sei ihm noch kein Mystisicationsstück vorge¬
kommen, das solche Frische, so keck gezeichnete Figuren und Situatio¬
nen hätte.
Heiberg's „Prinzessin Jsabelle" wurde 1829 nach einem Stoff
Lope de Vega's gedichtet; es ist ein festliches Prachtstück, aber der
Feenglanz seiner Sprache überstrahlt Alles, was Malerei und Mu¬
sik für ein Drama irgend wirken können. Vor zwei Jahren gab
Heiberg „Neue Gedichte" heraus und darunter befindet sich eine apo¬
kalyptische Komödie: „die Seele nach dem Tode", welche recht in's
moderne Leben eingreift und mannigfache literarische und philosophi¬
sche Fragen berührt. Tief und innig ist die Himmelsdecke des Hu¬
mors über diese Dichtung ausgebreitet, uno auf ihrem nachtblauen
Grunde funkelt, goldenen Sternen gleich, der strahlendste Witz.
Wenn man von Heiberg spricht, darf man nicht versäumen,
eines anonymen Schriftstellers zu gedenken, den er in die Literatur
eingeführt hat. Die fliegende Post brachte nämlich eine Novelle:
„En Hverdags-Historie — eine Alltags-Geschichte" betitelt, die durch
Form und Geist ein ungemeines Aufsehen machte. Andere Erzäh¬
lungen folgten ihr, doch wie goldig auch das Lob am Angelhaken
blinkte, der Autor ließ sich dadurch nicht bestimmen, aus der undurch¬
schaubaren Fluth seiner Anonymität hervorzutreten. Man rieth hin
und her, man zerbrach sich den Kopf und die jungen Schöngeister,
die sonst Alles wissen, kamen völlig in Verzweiflung, denn diesmal
waren sie nicht im Stande, die brennende Neugier ihrer Gastfreun¬
dinnen zu stillen.
Drei Bände von jenen räthselhaften, wie aus einer anderen
Welt kommenden Novellen gab Heiberg heraus, und noch sieben oder
acht Bände folgten ihnen »ach. An Tieck's beste Novellen mahnen
diese sauberen poetischen Gebilde, und wenn in den späteren auch die
Frische und die volle Blüthenkraft der Phantasie einigermaßen im
Abnehmen ist, so athmet doch auch hier noch eine dichterisch vered-
lcnde Auffassung des Alltagslebens. Ihr Verfasser ist von Rechts,
wegen der Vater Frederika Bremer's, doch er würde gewiß sein Kind
verläugnen, wie die unnatürliche Mutter des Richard Savage. Die
feine, fast mikroskopische Beobachtung unscheinbarer, aber tief psycho¬
logischer Züge in den Erzählungen läßt auf eine Verfasserin schlie¬
ßen, während die krystallreine Form und die hohe Intelligenz andeu¬
ten: eine Männerhand müsse ordnend und ausführend über die schönen
Skizzen hingegangen sein. In der Kürze entwickelt, sind das die
Gründe, welche man dafür angibt, daß Heiberg's Mutter die Schö¬
pferin jener lieblichen Gebilde sei, denen ihr Sohn dann noch die
blitzenden Lichter und die gedankentiefen Schatten hinzugefügt habe.
Man zeihe mich nicht der Indiskretion, man denke nicht, ich
»volle den dichtgewebtem Schleier irgend einer seltenen Bescheidenheit
zerreißen, sondern ich erzähle nur, was man in Kopenhagen allge¬
mein darüber sagt. Und wohl mag es sein, daß man hier das
Rechte getroffen hat, denn die Gräfin Gyllenborg gehört unstrei¬
tig zu den merkwürdigsten Frauen unserer Zeit. Sie hat das Leben
geschaut in allen seinen prismatischen Abspiegelungen; tausendfältig
sind ihrem scharfen Auge die interessantesten Charaktere entgegenge¬
treten, und sie hat einen Schatz von Erfahrungen gesammelt. Schriebe
sie ihre Memoiren, so müßten dieselben von höchster Bedeutung sein,
denn seit mehr als fünfzig Jahren eristirte keine Berühmtheit in
Dänemark, der sie nicht persönlich nahe gestanden hätte.
Sie war zuerst an den Lustspieldichter und Politiker Peter An¬
dreas Heiberg (geb. 1758) vermählt, der jedem Dänen unverge߬
lich ist. In seinem Hause verkehrten Baggesen, Münter, Rahbeck,
Weyse und andere geistreiche Männer jener Zeit. Er gehörte aus
inniger Ueberzeugung zur liberalen Partei, und Alles, was er aus-
sprach, war so feurig, so gründlich und so wahr, daß es manch zar¬
tes Trommelfell sehr unangenehm berührte. Heiberg wurde durch
richterlichen Spruch aus dem Vaterlande verbannt, ging nach Paris
und bekam unter Napoleon eine Anstellung im Ministerium des Aus¬
wärtigen. Zwar glaubte er, daß seine Gattin ihm folgen würde,
allein si? trug auf Trennung an, was ihn tief betrübte. Als Na-
poleon Frankreich verlassen mußte, forderte er seinen Abschied und
erhielt eine Pension von dreitausend Francs, bis er im Jahre 1841
starb.
Bald nachdem seine Frau von ihm geschieden war, kam der
schwedische Graf Gyllenborg, der in die Revolution verwickelt und
des Landes verwiesen worden, nach Kopenhagen, und Frau Heiberg
vermählte sich mit ihm. Derselbe gab eine Zeitung in französischer
Sprache heraus, allein je vorzüglicher die Artikel waren, die darin
gegeben wurden, um so sicherer fühlte man sich überzeugt, daß nicht
er, sondern seine Gattin sie geschrieben habe. Nun war ihr Haus
abermals der Brennpunkt, welcher alle geistigen Strahlen vereinigte,
denn die Noblesse der RefugiLs aus Schweden und Frankreich sam¬
melte sich dort, und die Gräfin Gyllenborg stand hochverehrt in ihrer
Mitte.
Als Gyllenborg starb, wurde der Wittwe Sohn ein berühmter
Schriftsteller, ihre Schwiegertochter war eine gefeierte Künstlerin und
wiederum sah sie sich in einem Zirkel der ausgezeichnetsten Leute.
Man kann aber auch wahrlich nirgendswo ein Trifolium gottbcgab«
ter Menschen so eng vereinigt finden, als hier. Die Matrone
selbst, welche beinahe siebenzig Jahre zählt, ist eine stille und sehr
bescheidene Frau; sie sträubt sich, eine öffentliche Rolle zu spielen und
lehnt deshalb die Autorschaft der Novellen auf's Bestimmteste ab.
Dazu nun ihr Sohn, der Professor Heiberg, der ein geborner Ari¬
stokrat der Schönheit ist. Sein hochgebildeter Geist wiegt sich aus
den rhythmischen Wellen des Ebenmaßes und der Vollendung, und
das prägt sich nun auch deutlich in seiner ganzen äußeren Erscheinung
aus. Es ist Mes edel und schön an ihm; man merkt es gleich,
daß ihn jedes Rohe und Unschöne recht innerlich verletzen imiß. Sein
geniales Auge glüht voll Wohlwollen und so scharf satyrisch sich >Hei-
berg oft in seinen Schriften erweist, eben so mild und versöhnlich
findet man ihn im Umgange.
Die dritte Zacke des liebenswürdigen Kleeblattes bildet seine
Gemahlin. Im Jahre 1832 vermählte er sich mit einer jungen
Schaltspielerin, Johanne Louise Pätges, welche sehr viel versprach
und sich nun zu einer dramatischen Künstlerin entwickelt hat, wie es
wenige gibt. Es umweht eine solche Wahrheit und Unmittelbarkeit
alle Charaktere, die sie darstellt, daß auch die kältesten Zuschauer
fortgerissen werden in das Reich der Phantasie. Die fremden Diplo¬
maten, die am Hofe zu Kopenhagen leben, versäumen das Schau¬
spiel fast nie, sobald Frau Heiberg auftritt, und wenn sie auch kein
Wort von der dänischen Sprache verstehen.
Diese drei seltenen Erscheinungen bilden eine Familie. Sie be¬
wohnen im Sommer eine Villa vor dem Thore, im Winter aber
einen Palast in der Stadt) und Alles, was Kopenhagen an Geist, Schön¬
heit und Rang besitzt, vereinigt ihr Salon an traulichen Abenden.
— Wir sind zur Stelle, Herr, sagte mein Führer, der Gebirgs¬
jäger Jakob E ..., als wir aus dem Walddunkel hervortraten und
am Ende der grünen, mit Blumenschmelz verbrämten Wiese das kleine
Jägerhäuschen vor uns liegen sahen. Gott sei Dank! stöhnte ick/
von einem mehrstündigen Pürschgange über Fels und Klippen, durch
Gesträuch und Wald erschöpft, und lüftete den grünen Hut, steckte
den Alpenstock in den Boden, legte Stutzen, Waidmesser und Jagd¬
tasche daneben und streckte mich in das duftige Gras, derweil Jakob
vorausging, unsere Ankunft im Hause zu verkünden. Als er so rüstig
und frisch, den ausgewaideten Gemsbock, die heutige Jagdbeute, über
der Schulter tragend, wie unser Einer ein Nebhuhn, dahinschritt, — der
noch junge kräftige Waidmann, von dem angestrengten Marsche kaum
ermüdet, ärgerte ich mich über meine Mattigkeit. Das ist freilich ein
eiserner Kerl, der Stahlfedern statt Muskeln in seinen Gliedern hat,
brummte ich, aber vielleicht erkauft sich diese dauerhafte, unzerstörbare
physische Natur nur durch geistigen Stumpfsinn und Apathie. Was
denkt, was fühlt so ein Kerl in seiner Jahre lang einförmigen Exi¬
stenz, während unsere Nerven durch die maimigfaltigen Eindrücke und
Anregungen unseres Lebens beständig in Anspruch genommen werden?
- aber eben darin liegt ja die eigentliche Lebensfülle. Der Schnee
terling lebt endlich doch intensiver, als die Schnecke, der Bogel i»
der Luft anders, als der Hamster. Wer weiß, ob ein solcher Mensch
die Zauberkraft der Liebe, den Nausci, des Ehrgeizes kennt, ob er
einen Begriff von der bunten Marionettentragödie, welche die Leiden¬
schaften in unserer Brust täglich aufführen, die Benesice- und Ertra-
vorstellungen ungerechnet, hat. So lispelte Muhme Eitelkeit: aber
wenn ich dem Jakob nachsah, wie seine nackten Kniegelenke sich bei
jedem Schritte streckten und dehnten, wenn ich seine breite, gewölbte
Brust, das Ebenmaß seiner kräftigen, gesunden Glieder, sein gutmüthi¬
ges, freundliches Gesicht, den treuherzigen Blick seiner kaiserblauen
Augen, die braune Lockenfülle betrachtete; — wenn ich mir die man¬
nigfaltigen Beweise von muthiger Entschlossenheit, welche er an Wild¬
schützen und bei den mancherlei Fährlichkeiten der Gebirgsjagd so oft
erprobte, — wenn ich mich erinnerte, daß sein kräftiger Arm, als ich
schon im Abfahren ^) begriffen war, mich am Rande des Abgrundes
erhalten hatte, so mußte ich mir doch gestehen, daß er in jeder Hin¬
sicht ein Mann, ein tüchtiger Mann sei, und daß ich und so man¬
cher Andere geschmeichelt sein könnten, uns mit ihm in mehr als ei¬
nem Artikel auf dieselbe Stufe setzen zu dürfen.
Bald kam Marie, die'schmucke Jägerin, welche seit vier Jahren
aus dem nahen Städtchen vom braven Jakob heim- oder vielmehr
hinausgeführt worden war und seine Waldeinsamkeit theilte; sie kün¬
dete mir an, daß das Mittagsmahl bereitet, auch mein Begleiter
Lord M. .. schon seit zwei Stunden von der Frühpürscht und zwar
sehr ermüdet heimgekehrt sei und im tiefen^ Schlummer ruhe. Ich
folgte ihr in das Haus und trat in die Stube. Da lag auf Stroh
mein lieber Lord und ruhte sanft. Es war ein tüchtiger Jäger und
in den Geländen Englands, vielleicht auch in den Haiden Hochschott¬
lands ganz eingeübt. Aber die Steige an und über der Felswand,
das Kriechen durch Urwald und Felsengestripp war ihm doch eine
ungewohnte und somit schwere Aufgabe. Das englische Jagdkostüm
war zerrissen und zerfetzt, das scharfe Steingerölle hatte die Sohlen
der Patentschuhe zerschnitten, die Füße waren wund und blutig ge¬
worden, den runden, weißen Hut hatte der Wind in den Abgrund
geführt, die Handschuhe waren durch Domen zerrissen, kurz der, Mann
war as cont,ne. Sein sehr kostbares, schönes Gewehr, dessen
Preis mehr betrug, als der Bedarf dreier Gemsenjägerfamilien in
einem Jahre, war ihm unnütz geworden, da es nicht fein genug zu¬
sammengerichtet war, und die Gemse, welche er als ein trefflicher
Schütze glücklich erlegt hatte, war mit dem unscheinbaren Stutzen des
Iägerjungm geschossen, dem er dafür an Trinkgeld mehr gab, als
sein Stutzen werth sein mochte. Eben so sehr von der ungewohnten
Anstrengung ermattet, als in der britischen Nationaleitelkeit gekränkt,
hatte er sich zur Ruhe gelegt.
Die kleine Jägerstube, — in welcher das Hausgeräthe der Fa¬
milie, ein Paar hölzerne Stühle und Schemel, ein großer, eichener
Tisch, Stockuhr, Spinnrocken, eine buntgemalte Kiste mit den Kleidern
der Frau, ein Schrank mit einigen Tellern und Gläsern und eine
leere Wiege stand: dann ein warmes Winterwamms, ein grüner Hut
mit Gemsbart und Federn, ein kleiner, zinnerner Weihwasserkessel, das
Bild des heiligen Eustachius und der eingerahmte Lehrbrief des Jä¬
gers hingen air der Wand, welche nebstbei noch ein Paar Hirsch-
und Rehgewcihe verzierten, während ober der Thüre ein kleiner Gems-
bock, aus Holz geschnitzt, mit wirklichen Geweihen ganz klug in die
Stube hineinguckte, — war mit einer zahllosen Quantität von Büch¬
sen und Büchslcin, Flaschen und Fläschlein, Schachteln und Schäch¬
telchen, Bürsten, Scheeren und Waschschwämmen, welche, zur Toilette
des Lords vorbereitet, auf den Bänken, Stühlen und dem einzigen
vorhandenen Tische umherlagen, beinahe und ganz ausgefüllt.
Wenn ich diese Menge unnützer Nothwendigkeiten mit dem ein¬
fachen Hausgeräthe der Familie verglich, mußte ich mir die Frage
stellen: ob die Civilisation, durch welche eine solche Unzahl von Be¬
dürfnissen geschaffen wird, daß ein Mensch zum Bedarf einer Stunde
beinahe mehr braucht, als eine ganze Familie durch ein ganzes Jahr,
eine Wohlthat sein könne? Zur wahren inneren Freiheit und Unab¬
hängigkeit gehört vor Allem, daß man wenig bedürfe, was man sich
nicht selbst schaffen kann. Deswegen ist meines Erachtens wahrhaft
frei nur der Beduine in der Wüste und der Indianer im Urwalde,
und der braucht hierzu keine geschriebene Charte, keine Oppositions-
presse und keine Jury. —
Ich war nicht grausam genug, meinen Freund aus seinem
Schlummer zu wecken. Ich bewundere die Engländer als Nation
und kann sie auch als Person einzeln wohl leiden; allein es ist ge¬
wiß, daß der Stmikshlendampf, mit dem sie sich ihre Langweile und ihren
Lebensüberdruß, ihren Eigennutz und ihre GeschäftSgier, ihre Spccula-
tionSwuth und ihren Kastengeist überall hindampfen, im Kleinen oder
Großen jede Poesie tödtet! Wie der Rauch die Bienen, so vertreibt
die Dampfwolke eines Dampfschiffes oder eines Locomotivs die Gei¬
ster der Vergangenheit und die goldgeflügelten Libellen der Phantasie.
Die Sylphen und Dryaden, die Waldgeister und Seefräulein, die
g.anze funkelnde Zauberwelt zerstiebt, und es bleibt die nackte, ange¬
rauchte, dampfberußte Wirklichkeit. Das Feenschloß ist zerfallen und macht
dem ziegelgebauten Fabriköhause Platz, in welchem kaum Platz bleibt,
um an den Wänden einige Andenken der Vergangenheit als unnüz^-
zen Zierrath anzubringen. Die Bilder unserer Ahnen, die ererbten
Schwerter oder Schilde, die Kränze der Liebe und des Ruhmes, sie
sind alle unnützer Plunder geworden, der nur in die Rumpelkammer
taugt. In dem Fabriksgebäude selbst ist dann wohl reges Treiben,
man lebt und webt und müht sich emsig ab, und am Ende frägt
sich's erst, wozu man eigentlich gelebt und besonders, wofür man ge¬
storben ist? Wer weiß, ob die frei im Morgenduft sich horrende,
summende Mücke nicht in dein großen Weltauge des Schöpfers so
großen Werth hat als der riesenmäßigfte Ameisenhaufen mit all sei¬
ner winzigen Thätigkeit? Gewiß aber ist eS, daß, seitdem Dampf¬
schiffe und Engländer überall hingelangen, kaum ein Plätzchen zu
finden ist, wo man mit seiner Geliebten, der Phantasie, ungestört ko
sen kann, ohne von unserer eifersüchtigen Hausfrau, der prosaischen
Wirklichkeit, welche in Gestalt irgend einer Jnsulanergruppe sich dar¬
stellt, überrascht zu werden.
Am Fuße der Memphis^Säule oder der Pyramiden reitet ein
podagrischer Gentleman auf seinem Pony umher; aus dem Rigi oder
auf dem Berge Sinai, wenn man an die Schweizermänner oder an
die Gesetztafeln Mosis denkt, trifft man auf hagere, blondlockige,
kurzberockte und langbefußte, grünverschleierte Misses; am Kapitol
steigen statt der Scipionen und Gänse Nichts als englische Touristen
„traf'U'v F«z»ol-i8 umher; im Alhambra und an den Klippen Nor¬
wegens dampft der englische Theekessel, umgeben von lebenSübcrdrüft
Sigm Lords, gezierten Ladies -oder sparlustigen Stockjobbers; am
Olymp und an der Hyppokrene schlürfen sie Soda-Water und, lesen
die Papers, welche ihnen Kunde bringen vom Parlament und Fas-
hion, Handel und Wandel, i-u:es oder Geldwechsel. Wie der letzte
Mohikaner muß sich der Verfolgte, der seinen Gott Marien, das ist die
Poesie des Lebens, mit sich im Herzen trägt, fortflüchten über Wäl¬
der und Flüsse, Seen und Gebirge, will er noch irgendswo ein Bis¬
chen Urleben, ohne Thee und Misses, ohne englische Regenschirme
und Zeitungen finden.
Mein Gefährte machte eine Ausnahme von dem sonst gewöhn¬
lichen abgeschlossenen Wesen seiner Landsleute. Er war ein heiterer,
lebenslustiger Geselle. Ich hätte nicht gerne ohne ihn unser Mahl
eingenommen, und doch war ich nicht grausam genug, ihn aus sei¬
nen Träumen zu wecken. Vielleicht hatten sie ihn ins Clarendon
Hüt«! zu einem guten Diner, wo man etwas Anderes, als Milch und
Knötel bekommt, oder nach Epsom, wo das Zufußgehen kaum dem
Namen nach bekannt ist, versetzt. Gewiß war der Fall aber nicht
umgekehrt, und in den Marmorhallcn Londons oder auf Melton
Mowbray's grünen Fluren hätte er sich sein jetziges Gebirgsleben
mit Accompagnement von Milchsuppe und blutigen Sohlen nicht
träumen lassen, dessen Anstrengungen und Entbehrungen er übrigens,
ich muß es gestehen, mit aller, den britischen Charakter so ehrenvoll
bezeichnenden Ausdauer und Gleichmut!) ertrug.
Ich ging also wieder vor das Haus; auffallend war mir die
Stille in demselben, denn ich erinnerte mich wohl vor ein Paar Jah¬
ren durch Kindcrgejauchze oder mütterliches Schelten in meiner Mit¬
tagsruhe gestört worden zu sein. Vor dem Hause saß Jakob und
rauchte sein Pfeifchen, Marie handthierte in der Küche. Ich blickte
hinüber nach den Gletschern und Felswänden, welche wie eine krystallene
Zauberburg im Sonnenglanze herüberstrahlten, und dachte mir, wie
schwindelnd man oft auf diesen gefährlichen Stegen und Wegen wan¬
deln müsse, wenn verlockt durch Jagd- oder Wanderlust man sich in
den Granittempel, wo die Natur ihr Allerheiligstes webt und schafft,
hineinwagt. Dort wohnt die flüchtige Gemse, blüht und duftet das
heilende, würzige Kraut; aber sie lassen sich freilich nur dort und
nicht auf der betretenen Erde finden; dafür wagt aber der, welcher
nach der seltenen Beute sucht, auch zuweilen Hals und Kragen, und
so ist's ja mit Allem in der Welt; wer das Edle sucht, muß das
Beste daran setzen. Spatzen schießt man vom Dache, Kiesel und
Quarz liegen am Wege; aber nur hoch in den Lüsten schwebt der
Reiher, uno das Gold glüht nur im tiefen Schacht.
Ich sprach mit Jakob über die verschiedenen schwierigen Stellen
und Wege, welche durch und über das Gebirge führen. Er war
auf den höchsten Gipfeln gewesen, auf schwindelnden Wegen hatte
er Gemsen und Wildschützen verfolgt, war in den Abgründen, am
Stricke sich thurmhoch herablassend, dem räuberischen Lämmergeier
bis in sein Nest nachgedrungen. Und von All dem sprach er, als
handle es sich um eine Promenade auf das Wasserglacis oder über
den Kohlmarkt und Graben, während unser Einem der kalte Schalter
dabei über den Rücken lief und blos vom Zuhören schon zu schwin¬
deln anfing. Endlich frug ich ihn, ob der schmale Steig über den
„Höllriegel" gefährlicher sei, als jener am „Schönbrett", oder durch
die Krautgarten, beim todten Hund, oder am Schafberg in der Vei¬
gerlplan, oder in der Hetz oder gar am heilen Oertl, wo man auf
einer Felsenkuppe, welche wie ein Dachgiebel auf beiden Seiten zwei
senkrechte Felswände von der Hoppelten, Höhe des Stephansthurmes
krönt, etwa fünfzig Schritte ->, <-kipp->,l fortrutschen muß. Er behaup¬
tete, im Sommer sei dies sehr leicht und gefahrlos, desto gefährlicher
im Winter, weil der Felsen glatt sei (ich aber nahm mir fest vor, zu
keiner Jahreszeit mich dort betreten zu lassen, ob nun der Felsen glatt
oder rauh sei; eben so leicht und gerne möchte ich auf der Galerie
des Stephansthurmes balanciren, wenn es nicht eben eisglatt ist).
— Welches aber ist der Gang, mein lieber Jakob, der Euch am
schwersten gefallen ist, seit Ihr in diesen Gebirgen umhersteigt? —
Jakob dachte lange nach, plötzlich ward er ernst und blickte mich
wehmüthig an. — Meinen schwersten Gang, lieber Herr, den habe
ich voriges Jahr gemacht, am Kreuz-Erhöhungstage wird es ein
Jahr, da bin ich hinabgestiegen in den Pfarrhof nach W . . ., und
als ich wieder heraufkam, da, glaubte ich, würd' ich das Haus nim¬
mer erreichen, meine Kniee brachen zusammen und meine Augen wa¬
ren so trüb, daß ich kaum den Weg noch finden mochte!
Verwundert blickte ich ihn an. Aber Jakob, warum ist denn
der Weg so schwer gewesen? Ich begreife wohl, daß es im Winter,
wenn der Schnee den Fußsteig verweht, zuweilen gefährlich und be¬
schwerlich sein mag, hinab- oder heraufzukommen; aber am Kreuz-
Erhöhungötage, da ist es ja schön und heiter im Gebirge, wie konnte
Euch denn der Weg so schwer vorkommen, wenn Ihr nicht etwa ein
Maßel Bairisches zu viel getrunken hättet? — Nein, lieber Herr.
das war es nicht; — ich mußte hinab, um mein todtes Kind zu
begraben. Sie wissen ja, die kleine Resi, mit der sie vor zwei Jah¬
re» noch so freundlich spielten? nun, die wurde uns krank; — sie
bekam den Fricsel und den zweiten Tag war sie gestorben. Einen
Doctor konnte ich nicht herausbringen, aber der junge geistliche Herr,
der Kaplan aus dem Pfarrhofe/ der ist mit mir heraufgestiegen, weil
er auch studirt hat und manchmal etwas weiß, was dem kranken
Menschen hilft. Da war aber nicht zu helfen. Die Rest mußte
sterben, weil unser Herrgott daraus einen Engel im Himmel machen
wollte, und sie soll einst in unserer Sterbestunde für uns beten, da
sie Nichts drüben abzubüßen hat, wie wir andern sündigen Menschen; so
meinte der junge, geistliche Herr, und das tröstet auch die Marie und mich.
Als das Kind verstorben und der geistliche Herr fort war,
weinte meine Marie sehr und bat mich, ich möchte das Kind hinab¬
tragen, damit es in geweihter Erde ruhe! Des andern Morgens leg,
ten wir's in einen kleinen Sarg, den mir die Frau auf die Kraren
band, und so trug ich es hinab in den Pfarrhof. Der hochwürdige
Herr Pfarrer hat es selbst eingesegnet, und da liegt es auf dein
Kirchhofe, sehen Sie dort unten? Es steht auch ein schönes Kreuz
und ein Rosenstrauch auf dem Grabhügel, aber es ist zu weit, um
es von hier zu sehen. — Nun sehen Sie, lieber Herr, fuhr Jakob,
sich eine Thräne aus dem Auge wischend, fort, sehen Sie, als ich
Abends wieder heraufstieg zu meiner Marie, in das einsame Haus,
da wankten meine Kniee und ich vermeinte, sie könnten mich kaum
herauftragen. Das, Herr, das war mein schwerster Gang! —
Ich war, ich gestehe es, tief gerührt; ich kenne viele Männer
mit sehr unmännlicher physischen und geistigen Qualitäten, die nie
weinen, außer man tritt ihnen auf die Hühneraugen, oder gibt ihnen
eine Zwiebel zu riechen; um so mehr ergreift es mich, wenn ein ech¬
ter Mann weint; eine echte Männerthräne ist eine unschätzbare, sel¬
tene Perle, aus dem Schmelztiegel eines tiefen Gefühles hervorquel¬
lend. Ich wollte etwas entgegnen und, wie es bei derlei Gelegen¬
heit gewöhnlich geschieht, ich sagte etwas Unpassendes, indem ich ganz
stupid bemerkte: Lieber Jakob, es war ja doch minder schwer, her¬
auf zu gehen, als hinab, wo Ihr noch die traurige Last zu tragen
hattet. — Da blickte mich Jakob mit einem trüben, ich möchte sagen
strafenden Blicke an, als wollt' er mir meinen Mangel an Zartgefühl
verweisen, mit einem Blicke, der beiläufig bedeutete: ach Du Stadt¬
mensch, Du verstehst mich nicht, bei Euch handelt es sich wohl nur
um Beine und Lungen oder Magen, wenn Ihr von Leiden sprecht,
wie's um's Herz steht, das kümmert Euch wohl wenig — und sagte:
Ach Gott erbarm's! hinab ging es ja noch leicht, da fühlte ich ja
noch mein geliebtes Kind auf den Schultern, da wiegte ich es noch
auf den Achseln, wie hätte ich die geliebte Bürde schwer finden kön¬
nen, ich, der ich den schwersten Gemsbock meilenweit im Tragriem
fortbringe! aber hinauf, als das Kind schon in der Erde ruhte, hin¬
auf, da ging's schwer. Es schien mir, als frugen die kleinen Vöge¬
lein, die lustig zwitscherten, um die kleine Gespielin, als blühten die
Alpenrosen und Moosblumen mir zum Hohne! und, als ich vollends
von weitem meine Hausthür offen sah, aus welcher sonst das frische,
kleine Mäderl mir bei meiner Heimkehr entgegensprang, da, lieber Herr,
da wankten meine Kniee und ich meinte schier, das Herz müsse brechen.
Ich kann Sie versichern, lieber Herr, das war mein schwerster Gang!
Marie hatte das Ende des Gespräches gehört, denn sie wischte
sich mit ihrer Schürze die Augen aus und brachte stillschweigend den
dampfenden Suppentopf. Ich aber wußte nun, daß der starke Jakob
auch ein fühlendes Herz in der breiten, kräftigen Männerbrust trage.
Ich setzte mich mit dein britischen Gefährten zu Tische. Auch mir
fehlte jetzt das freundliche, herzige Kind ganz besonders. Als wir nack
Tische abzogen, drückte ich dem Jakob die Rechte, mein freigebiger
Engländer schenkte de? Marie ein Paar Dukaten. Als sie die blan¬
ken, vielleicht nie gesehenen Goldstücke ihrem Gatten zeigte, meinte er:
wenn unser Reserl noch lebte, könnten wir ihm recht hübsche Klei¬
derchen anschaffen und gute Strümpfe, statt -sie so schmutzig und bar¬
fuß umherlaufen lassen zu müssen. Nun, jetzt kleidet sie der liebe Herr-
gott selbst! — Marie nahm wieder die Schürze vor'S Gesicht; sie kann
sie aber doch nicht immer davor gehalten haben, denn als ich das
nächste Jahr wiederkehrte, schrie mir aus der damals leeren Wiege
ein kleiner Schreier entgegen, dessen Taufpathe ich wurde, Gott hat uns
einen Engel genommen und wieder einen andern geschickt, lispelte Ma-
rie aus den, Bette heraus. Ich aber stieg mit Jakob zur Taufe den Weg
nach W . . - hinab, und als wir heraufstiegen, schien uns der Gang
recht leicht und bequem.
Was ich in meinem letzten Briefe als bevorstehend angekündigt
habe, bringt die heutige Wiener Hofzeitung endlich officiell: die Ein¬
führung der Tantimne für die Dichter, deren Stücke am Vurgthcatcr
zur Aufführung kommen*). Selten hat eine Maßregel so allgemein
H. 1. Der Verfasser eines Originalwcrkes erhält ohne Rücksicht, ob das¬
selbe gedruckt oder noch im Manuscript sei, aus Lebenszeit, von der bei den
Borstellungen seines Productes auf dem k. k. Hofburgrheater sich ergebende»
Brutto-Einnahme, zu welcher auch der von dem jährlichen Abonnement auf
den Theaterabend entfallende Quotient gerechnet werden wird, nachbcnannre
Antheile:
§. 2. Nach des Verfassers Tode beziehen dessen Erben noch durch zehn
Jahre die gedachten Antheile-s-
§. S. Die Tantieme-Zahlungen sind, nebst amtlich legalisirten Einnahm
Auswcisen, vierteljährig, und zwar am 1. Januar, I. April, I. Julius. I.
October, gegen Quittung und Lebenszeugnis! des Verfassers, oder von dessen
Erben gegen glaubwürdigen Nachweis über den Todestag des Verfassers und
über das Erbrecht des Empftmgnrhmers zu erheben, tonnen aber auf keine
Weise cedirt oder mit Schuldvormerkungen belastet werden.
den Beifall der Betheiligten gcfunvcn, wie diese. Alle hiesigen Schrift¬
steller und Litcratnrftcunde applaudiren einstinimig dieser neuen Ein¬
richtung, durch welche dein dramatischen Dichter endlich das Recht ge¬
zollt wird, das man ihm bisher in Deutschland vorenthalten hat. ES
heißt, daß Herr von Holbein anderthalb Jahre an der Vorbereitung
dieser Maßregel gearbeitet hat, die mancherlei Schwierigkeiten und Op¬
position namentlich bei jenen Beamten fand, die ihr Gutachten über
die pecuniären Verhältnisse deS Hoftheaters abzugeben haben. Seine
Beharrlichkeit verdient den Dank der ganzen Literatur. Man hatte
Herrn von Holbein über manche Dinge bitter getadelt, die sich jci)t
zu seinem Vortheile aufklären. Man hatte ihn einer allznklcinlichcu
Sparsamkeit angeklagt, da er nach dem Antritte seiner Direction man¬
cherlei strenge Oekonomie einführte, die Honorare für Uebersetzungen
.
H. 4. Die Wiederholungen des aufgeführten Stückes bleiben dem Ermes.
sen der k. k- Hoftheater-Direction gänzlich überlassen, da derselben allein die
Beurtheilung zustehet, in wie ferne diese dem Vortheile des Institutes und
den Wünschen deö Publicums zusagen.
H. S. Übersetzungen und Bearbeitungen werden nach Übereinkunft hono-
rirt; wenn sie jedoch einer schon vorhandenen Dichtung so frei nachgebildet sind,
daß ihnen von der Direction die wesentlichen Eigenschaften eines Originales
zuerkannt werden, sind sie ebenfalls als Originalwerke zu behandeln.
§. 6. Die Entscheidung über jede aus obigen Bestimmungen zwischen Di¬
rection und Verfasser entspringende Differenz bleibt der k. k- obersten Hofthca,
ter-Direction anheim gestellt, welche gegenwärtige Bestimmungen aus freiem
Antriebe ertheilte und den dramatischen Schriftstellern stehet außerdem keine
Art Recurs oder Appellation zu.
H. 7. Die Direction behält sich das Recht vor, diese Bestimmungen, welche
mit dem Tage der Bekanntmachung derselben in Wirksamkeit zu treten haben,
nach drei Jahren zu verändern, oder gänzlich erlöschen zu lassen, wenn sie
nach ihrem Ermessen die gehöhlten günstigen Resultate nicht herbeiführen soll¬
ten. Doch dauern die Antheile der in diesem Zeitraume gegebenen Dichtungen
ungeschmälert, der übernommenen Verpflichtung gemäß, fort.
H. 8. Es bleibt den dramatischen Schriftstellern freigestellt, die bisher
üblichen Honorarzahlungen den oben bestimmten Antheilen vorzuziehen.
Da übrigens vorausgesetzt wird, daß jeder Einsender einer dramatischen
Arbeit für den Fall, daß dieselbe auf dem k. k-Hofburgtheater zur Aufführung
gelangt, sich den hiermit ausgesprochenen Bestimmungen unbedingt im Vor¬
aus unterzogen habe, würde Derjenige, welcher sich damit nicht zufrieden stel¬
len, sondern die Zahlung des gegenwärtig bei dieser Hofbühne üblichen Hono¬
rares vorziehen wollte, hiervon gleich bei Einsendung der Dichtung der k. k.
Hoftheater-Direction die schriftliche Anzeige machen und sich seinerzeit über die
Annahme seines Begehrens mit einer schriftlichen Zustimmung gedachter Di-
rection ausweisen müssen.
Von der k. k. Hoftheater-Direction.
. und weniger bedeutende Stücke herabsetzte, die Freibillets decimiren u. s. w.
Jetzt zeigt es sich, daß der kluge Bühnenleiter dabei einen bestimmten
und wohlgemeinten Zweck verfolgte, und indem er nach Abschluß der
Iahresrcchnuugcu Ueberschüsse auftveiscu konnte, eroberte er sich und
seiner Administration den Credit, den er zur Durchführung seines Tau-
twmcnplancs nöthig hatte. Man hatte vor Allein gegen diesn? den
Einwurf gemacht, daß die Theaterkasse, indem sie dem Autor allabend¬
lich zehn Procent von der Brntto-Einnahme zuwiese, sich zu einer Aus¬
gabe engagire, die sie in ein großes Deficit bringen könnte. Herr v.
Holbein mußte es also vor Allem dahin bringen, daß er nicht in den Ruf
eines leichtsinnigen Rechners komme, und dies ist ihm gelungen. Auch
soll der Plan, den er vorgelegt, so klar und evident nachweisen, daß,
weit entfernt, die Kasse deö Burgtheaterö in Schaden zu bringen, die
neue Tantieme vielmehr die Einnahmen erhöhen müsse, daß er endlich
vollständig damit durchdrang. — Eine hübsche Seene fand in Folge des¬
sen bei der letzten Versammlung der Concordia (eine Gesellschaft, i»
welcher sich an jedem Samstag Abend die meisten hiesigen Schriftstel¬
ler und Componistc» versammeln) statt. Bauerufcld brachte einen glän¬
zenden Toast auf Herrn von Holbein ans. Dieser ersuchte darauf die
Gesellschaft, in einen gleichen auf Generalintendant von Küstner in
Berlin cinzustimuie», der sich mit gleiche»! Eifer der Sache angenom¬
men habe und der in wenigen Tage» vielleicht schon mit einem glei¬
chen Publicandum hervortrete» werde. Einer der anwehe»den Opern-
componisten (der Kapellmeister Nicolai) äußerte hierauf, daß, so sehr er
sich über den Fortschritt freue, zu dem er den dramatischen Autoren
gratuliren müsse, so sei es jetzt doch um so schmerzlicher, daß der
Opcrndichtcr sich nicht eines ähnlichen Rechtes erfreue. Herr von Hol¬
bein machte hierauf der Gesellschaft die angenehme Eröffnung, daß man
in Berlin, wo Oper und Schauspiel uuter einer und derselben Admi¬
nistration ständen, wirklich beabsichtige, die Tantumic sowohl für den
Dichter, als für den Componistc» einzuführen. Dieses sott übrigens
auch bei der hiesigen Oper statt finden. Der Contract, den der Im-
pressario Balochini am Kärnthncrthorthcatcr hat, geht zu E»de und
unter den Bedingungen, die ma» dem neue» Pächter vorlege» wird,
soll auch die sein, daß der Componist jeden Abend seine Tanti>mie
beziehe.
Nachträglich noch Einiges vom Fasching. Man sollte glaube»,
daß in Wie», das ohnehin bei jeder Gelegenheit sich gerne ein Avr«
thut, der Fasching ganz Außerordentliches hervorbringen müßte, Dem
ist aber nicht so. Der Wiener Fasching hat nicht die mindeste Eigen¬
thümlichkeit und steht jedenfalls den CarnevalSbclnstigungcn in Köln,
Mainz und überhaupt den Rheinstädten in Allem nach,'waS Charak¬
ter und originelles Gepräge heißt. Man liebt bei uns den Cha¬
rakter nicht, selbst wenn er eine Narrenjackc trägt. Es
zeigt sich überhaupt, daß ma» in Deutschland die Oeffentlichkeit nicht ein¬
mal zum Spaße liebt. Frankreich hat am FastuachtSdienstcig seine öf¬
fentliche» Maskenzüge beim boviik alt- in->,all A,^, die Niederlande
habe» ihre vermummte» Cavalcade» a» diesem Tage. Italie» sogar
erlaubt öffciitliche Mummereien, nur Deutschland ist auch an solche»
Tage» still u»d philisterhaft, ohne Volksschauspiel „ud öffentliche
Straße»freuten. Nur die Rheinlande in ihrer Nachbarschaft mil Frank¬
reich und den Niederlanden machen eine Ausnahme. Im übrigen
Deutschland hat man die Essenz der CarnevalSfreiidcn in einen großen
Wassertopf gegossen, der dadurch nur el» diei» we»ig roth gefärbt
wurde und a»ö dem man das Vergnügen homöopathisch genießt. Hier
in Wie» concentrirt sich der ganze Fastuachtöspaß auf den Besuch der
Dieustagrcdoutc, die aber durch die Ueberfüllung von mehr als 4VW
Menschen außer allem Spaße ist, sondern ganz ernsthafte Schweißtro¬
pfen und Rippenstöße kostet. Die anständige Welt besucht diese Re-
doute daher erst gage» Mitternacht, weil da die Musik aufhört und
der große Haufe sich allmälig verliert. Dazu kömmt auch, daß je¬
desmal am Faschingsdienstag ein Ball bei Hofe ist, und da dieser noch
vor Mitternacht endigt (er beginnt schon um 7 Uhr), so strömt die
Hofwelt noch nachträglich den: Redoutensaale z». Der diesjährige Hof¬
ball am FaschingSdicnstagc hatte eine kleine politische Färbung. Es ist
nämlich Regel, daß zu diesem Balle keine Fremden, sondern nur Oester-
reicher geladen werden und von den Gesandtschaften nur die sogenann-
ten Familie>igcsaudtc» Einladungen erhalte». Diesmal wurde jedoch
zu Gu»ste» des anwesende» russische» Brautwerbers, des Grafen Or-
loff, eine Ausnahme gemacht und er sowohl als auch der russische Ge¬
sandte wurde» geladen. Fast hätte diese Einladung zu ernste» Hän¬
deln Anlaß gegeben. Der galizische Fürst Z., der in dem polnische»
Aufstande mitgefochten und dessen Bruder gcfanqe» wurde und eilf
Jahre ein, Kaukasus schmachtete, war bei dem Hofball in seiner polni¬
schen Nationaltracht, worüber sich der Gesandte des Czaren nicht wenig
ärgerte. Es scheint, daß schon der Anblick einer polnischen Uniform
den zarten russischen Nerven Zuckungen verursacht. Graf Orloff machte
eine satyrische Bemerkung, welche die Freunde des Fürsten Z. nicht
hinnehmen wollten. Es bildeten sich förmlich zwei Parteien, wovon
die eine russisch und die andere polnisch gesinnt war. Jndcssc» kam
cL nicht zur Schlacht und kein Ostrolxmka beendete den Feldzug. Daß
der Erzherzog Stephan um die russische Olga anhalten wird, unter¬
liegt kaum einem Zweifel mehr. Die russische Prinzessin, die de»
starken Geist ihres Vaters besitzen soll, wird sich aber in Böhmen ge¬
wiß nicht alö U»tcrdrückerin des Panslavismus zeige». — Die Ezechc-
«namen werde» sich gratuliren. Aber Oesterreich? — —'
(Brieflich aus Dresden.) Eine angenehme Ueberraschung war
uns hier tels plötzliche Erscheinen Karl Beck'ö, den man im „Capua
der Geister" traumverloren und gcnußvcrsnnkeu wähnte. Er will ans
einige Zeit nach Süddentschland wandern und dort einen neuen Roman
in Versen vollenden. Wahrscheinlich wird aber schon zu Ostern eine
Dichtung von ihm erscheinen, die in mehreren Kreisen, wo er sie vor¬
las, sehr großes Aussehn erregte. Der scchöundzwanzigjährigc Dichter
hat sich seit dem Wiedersehen seiner Heimath wesentlich verändert; die
Leiden und Freuden, im bürgerlichen und geistigen Leben, die eine ly¬
rische Natur in unserer Zeit so heftig bestürmen, haben nur zu seiner
reifern Entwickelung beigetragen. Die erwähnte Dichtung ist ein Fort¬
schritt, den Viele nicht, wenigstens so bald nicht, von ihm erwartet
hätten. ES ist nicht der Glanz der Sprache, der Schwung der Phan¬
tasie, die flammende Bildcrmalcrei, was darin überrascht, sondern, daß
bei diesen schönen Eigenthümlichkeiten eine so viel tiefere Anschauung,
eine so viel edlere Einfachheit und Männlichkeit herrscht, wie in sei¬
nen ersten Productionen. Das Gedicht ist aus dem innersten Herzen
der Zeit geschrieben und gleicht in Nichts jener Art politischer Lieder,
die, wenn auch scharf und geistvoll, von den Aeußerlichkeiten und Ein-
zclnhcttcn der Tagesgeschichte erfüllt sind. Wir glauben, daß Karl
Beck recht eigentlich jetzt erst zu dichten anfängt.'
— Wir haben die neuen Gedichte Herweghs gelesen, aber durch¬
aus nicht den Horror empfinden können, der so viel treue und ehrliche
Seelen darüber ergriffen hat. nannten doch gewisse Blätter und Blätt-
chen den Dichter einen Banditen und Pasquillcmtcn!! — Hat Heine
nicht Recht, wenn er singt: „Ein schimpfender Bedicntcnschwarm:c.",
Wir hätten blos das Duett Geldt'S und Freiligrath'ö weggewünscht.
Sonst, glauben wir, hätte Herwegh besser gethan, die Genien allein
herauszugeben und mit einer zweiten Lieferung von Gedichten zu war¬
te». Es frappirte das Publicum, so wenig neue Lieder zu finden,
und es wollte doch sehen, ob sein Fortschrittssänger auch in der Poesie
Fortschritte gemacht. Genien übrigens, das ist zu bedenken, müssen
an und für sich grausam und rücksichtslos sein. Wer einmal Genien
schreibt, setzt sich der Gefahr aus, kleinlich zu werden und oft einen Witz
nicht unterdrücken zu können. Darüber fallen dann die am meisten
her, die keinen Witz zu unterdrücken haben. Die jetzige Bitterkeit
Herwegh's erklärt sich aus seinem Grundfehler; dieser ist, wie es scheint,
der Wahn, im Leben selbst, persönlich, als Agitator auftreten und
wirken zu können. Aus diesem Glauben wurde er uicht sehr scho¬
nend geweckt. Allein dieser Grundfehler ist zugleich der größte Vor-
zug, den er vor ander», geistig begabtern Dichtern seit; denn er gibt
seinen Liedern die Kraft und den Nachdruck eines ernstgemeinten und
gefühlten Thatendurstes. Das Schlußgedicht hat großartige Züge.
— Freiligrath singt in der Kölnischen:
„Am Baum der Menschheit drängt sich Bluts' an Blüthe,
Nach co'gen Regeln wiegen sie sich drauf -c."
und dieses trübselige Lied hat er noch durch das Oberccnsurgcricht den
Klauen der Censur abjagen müssen. Wir haben nie zu denen gehört,
die von jedem Baume dieselben Früchte verlangen; die Freiligrath einen
Vorwurf daraus machten, daß-er nicht politische Poesie trieb. Wir
fanden diesen Vorwurf vielmehr abgeschmackt und recht handwerksmä¬
ßig. Daß aber Freiligrath diesem Geschrei nachgibt und sich forcirt,
ausgesprochene politische Gedichte zu machen, die sehr abgestanden sind,
ist ein schlechtes Zeichen und könnte irre machen an seinem innersten
Beruf, der ohne ein gewisses, in manchen Dingen untrügliches Selbst¬
bewußtsein und Sickselbstkcnncn niemals da ist. Seine „irische Wittwe"
war in viel besserem und edleren Sinne politisches Gedicht, als die
Sentenzen, die er jetzt zusammenschmiedet.
— Man erinnert sich noch zweier Berliner Korrespondenzen, die
in hochbürcaukratischcm Tone geschrieben, allem Anscheine nach von
wohlunterrichteter Feder, in der „Deutschen Allgemeinen" vor mehr
als drei Monaten eine nordische Allianz zwischen Rußland, Preu¬
ßen, Skandinavien und vielleicht auch Oesterreich in Aussicht stellten
und als Tendenz derselben die „Emancipation" des östlichen Europa
voni Einfluß des westlichen! anpriesen. Man wollte diese Nabcnstim-
inen sür pin (Jo,>ii<Z,'i'i!l irgend eines stehen gebliebenen Hofraths vom
alten Regime halten. Darauf kam eine Periode der Polemik gegen
Rußland. Während dabei einige alt- und stockprcußische Zeitungen,
wie die „Königsberger Allgemeine", Nußland sccundirten, häuften
sich die Reibungen mit dem slavischen Nachbar und gingen einzelne
jener pi-» desiäeria in Erfüllung. Die Nothwendigkeit, das russisch-
preußische Cartell wieder herzustellen, wurde fortwährend aufs Tapet
gebracht; dann kam die Nachricht von der russischen Heirath des even¬
tuellen Kronprinzen von Dänemark; endlich die von einer verwandt¬
schaftlichen Verbindung zwischen Rußland und Oesterreich. Die Po-
sener Schußgeschichtc, wöbet die preußischen Behörden unablässig dienst
eifrig einen polnischen Czarcnmördcr suchten, der gewiß gar nicht
eristirte, war die Einfädclung zu einem neuen Knoten. Ein Kor¬
respondent in der „Deutsche» Allgemeinen", zugleich wohl Unterrichtet,
tief blickend und gut deutsch gesinnt, warnte fortwährend vor den rus¬
sischen Insinuationen, wies deutlich »ach, daß russische Spione, als
Ucbcrläufor maskirt, die Posener compromittiren und bei der preußi¬
schen Regierung verleumden wollten. Aehnliches wurde zur selben Zeit,
ohne Erfolg, in Galizien versucht. In Preuße» gelang die List und
eine Folge daven war die traurige Maßregel gegen die polnischen
Emigranten in Posen. Jetzt endlich, um gleichsam das Geschehene
nur auszusprechen, krächzen die Naben schon wieder, bald von einem
Handelsvertrag, bald von einer Allianz zwischen Preußen und Ru߬
land. Letzterem ist allerdings an einer „Emancipation^ vom Einfluß
des Westens gelegen, an einer Fernhaltung jenes Geistes, der früher
oder später auch in Rußland eindringen muß. Deutschland kann in
dieser Hinsicht ein Bollwerk für Rußland werden ; wenn es seine Zu¬
kunft opfern, in seiner politischen Entwickelung stocken will, wird es
ein schlechter Leiter deö sogenannten westlichen Einflusses und kann die
geistige Invasion aus eine längere Zeit von Nußland abhalte»; zu¬
gleich bekäme die Riesenschlange Muße, um den polnischen Edelhirsch,
dessen Haupt ihr noch ans dem Rache» häugt, ganz in sich aufzuneh-
men. Vorzüglich aber muß dem Czaren an Berlin gelegen sein,
weil ein Hemmschuh in Preußen ein Hemmschuh für Deutschland ist.
Wir wollen nicht dem Ausland zuschreiben, was vielleicht von selbst
geschehen wäre; aber häufen sich nicht gewisse Maßregeln, die man
als Wendepunkte in der innern Politik Preußens ansehen kann, z. B.
der Ton der Landtagsabschiede, die Beschränkungen der Lehrfreiheit,
daS Project einer Univcrsitätcnuuiformirung, die Studcntcnuntcrsu-
chungeu, daS Verbot der Mainzer Advokatcnvcrsammlung und die
Ausweisung der polnischen Emigranten, gerade jetzt so auffallend? —
Ist es nicht kostbar, daß officielle Publicisten, aller Erfahrung und
Geschichte, allem gesunden Menschenverstande hohnsprechend, uns auf¬
schwatzen wollen, dynastische Heirathen hätten keine politische Bedeutung?
Sie führen als Beispiel Napoleons und Marie Louisens Verbindung
an, die doch von den gewichtigsten Folgen war und erst, als Alles
auf dem Spiele stand, im letzten Augenblicke, schwer zerrissen wurde.
Alles auf den letzten Augenblick ankommen zu lassen, Alle« sich plau¬
sibel zu machen! Die letztere Gabe ist für den deutschen Philister be¬
sonders bezeichnend. Damit macht man aus der höllischsten Noth eine
himmlische Tugend und dünkt sich frei in Sklavenfesseln. Während
man aber einerseits die politische Bedeutung dynastischer Heirathen
läugnet, redet man sich doch mit süßer Zunge gar liebliche Vortheile
ein, die Stephan's und Olga's Verbindung haben würde. Rußland
werde, in seiner bekannten Großmuth, etwas für die Donaumündungen
thun und Deutschland glücklich luacheu — gerade wie an der ostpreußi-
schen Grenze. Also hätte eine solche Heirath doch politische Fol¬
gen! Also das, was man als gutes Recht verlangen- kann und soll,
das möchte man als ein Geschenk der Dana er erhoffen! —
— Nußland hat nun alle Aussicht, den Kaukasus zu erstürmen.
Ein Reisender am schwarzen Meere erzählt in der „Angsb. Allgemei¬
nen", daß es am östlichen Theil der kaukasischen Gebirge eins jener
kleinen Forts, die jeden Augenblick von den Bcrgsöhnen genommen
werden, durch den prahlerischer Namen: „Wlady-Kawkas — Zwing-
KaukasuS" uneinnehmbar gemacht habe. „Mit diesem Häuslein wollt
Ihr Uri zwingen?" fragt die Augsb. Allgemeine. Die Tschetschcnzcn,
welche diesen Theil der Berge bewohnen, sind den Russen furchtbarer
als die Tscherkessen, weil ihr islamitischer Fanatismus sie eher zur
Vereinigung unter einem Haupt und Heerführer bringt, wie neulich
die Fahrten des Alten vom Berge, Schamyl, bewiesen haben. Der¬
selbe Reisende betrachtet den Kaukasus als eine jener „Weltbürger, für
freie Naturvölker", die nie erobert werden. So ist die Maina weder
von Römern, noch von Türken oder Venetianern bezwungen worden.
Der Kaukasus ist sicherer als die Schweizerberge oder das Mainotten-
land; Nußland läßt sich zwar gern mit Rom vergleichen und gleicht
ihm vielleicht auch in dem ausdauernden Lauterburger. Das macht
aber die Russen noch nicht zu Römern.
— Mohamed schilderte das Unheilvolle innerlicher Zerwürfnisse
und Bürgerkriege, indem er sagte: „Unruh ist ärger als Todtschlag."
Dieser Spruch ist bei den Türken eine Sanction der Palastmordc und
Metzeleien, die bei der Thronbesteigung der Sultane vorzufallen pfle¬
gen. Man erwürgt bekanntlich, um Crbfolgcstrcitigkcitcu vorzubeugen,
alle möglichen überflüssigen Prinzen. In diesem Wahnsinn ist
doch Methode.
— Werner, Pseudonym Jastram Snitgcr, Verf. des unter sächsi¬
scher Censur gedruckten Buches: „An die von Hamburg und vom
Gebiet", seit einem Jahre in Haft und Untersuchung, ist endlich von
den Hamburger Uebcralteu wegen Hochverrates peinlich in Anklage¬
stand versetzt worden. Die Anklage trägt erst auf Todesstrafe an! —
daS ist mehr als lächerlich — dann auf fünfjährige Zuchthausstrafe
und daS ist crust. Das Erkenntniß erster Instanz ist vielleicht schon
in vier Monaten zu erwarten. Es kann immer noch ein hübscher
Proceß von zwei, drei Jahren werden.
— Die Vorlesungen des Privatdocenten or. Nauwerk in Berlin
sind plötzlich, durch eine höhere Verfügung, geschlossen worden. Er
las über die verschiedenen Systeme der Staatsphilosophie oder, wie die
„Preuß. Allg." es nennt, er ließ sich auf unwissenschaftliche Erörter¬
ungen über Politik ein. Eine Unzahl von Studenten und anderem
Publieum brachte dem N>. Nauwerk gleich, nachdem das Verbot ge¬
meldet ward, eine Serenade. — In Halle sind wegen öffentlicher
Studentenversammlungen Untersuchungen eingeleitet und Strafen ver¬
hängt worden. Auch in Berlin wird wegen allerhand Toaste und
Vivats! fleißig untersucht. Einige freche und böswillige Blätter be¬
haupten, diese Vorgänge hätten beim Publieum keinen angenehmen Ein¬
druck hervorgebracht; die wohlmeinenden Journale sagen, sie wären
ohne politische Bedeutung. Von den Journalen ist dies leider wahr.
— Pastor Mcinhold in Usedom ist ein wahrer Hexenmeister.
Mcinhold hat fromme Dichtungen geschrieben, die kein Gluck machten.
Wie wird man berühmt? fragt er sich. Er gibt eine „wahre" Hcx-n-
geschichte heraus, die sogenannte Schwcidler'sche Chronik; ein Lecker¬
bissen für eine gewisse Sorte von Romantikern, die in den krankhaf¬
ten Ausartungen des Mittelalters eine Medizin gegen den modernen
Unglauben suchen. Die Geschichte ist aber zu novellistisch reizend, >um
Chronik zu sein, sagt die literarische Kritik, und die Historiker sind
schon im Begriffe, die Mystifikation aufzudecken, da tritt Mcinhold ge¬
schwind auf, erklärt die Geschichte für reine Dichtung ohne Wahrheit
und triumphirt, daß er die ganze Welt mystificirt habe — was nicht
wahr ist. Das ist aber nicht genug. Nicht eine unschuldige Mysti¬
fikation, wie die Chattcrton's und Macpherson's, will Meinhold be¬
gangen haben, nein, er will sie gethan haben, um die Echtheit des
Evangeliums zu beweisen! Weil im neunzehnten Jahrhundert sich die
Welt (angeblich) mystifieiren lassen, sei es unmöglich gewesen, sie im
zweiten oder dritten Jahrhundert zu mystifieiren! So erklärt er in ei¬
nem Schreiben an die A. A. Z>, das voll von jener süßlich widerli¬
chen, pfäffischen Hoffart und Frömmigkeit ist, die in aller Demuth
mit dem Christenthum romantische Kunststückchen machen möchte. Jetzt
kommt auch ein Brief an den Tag, in welchem der listige Pfarrer den
David Strauß zu einer historischen Kritik seines Buches verlocken
wollte. Aber Strauß ließ sich nicht auf das Glatteis führen. Genug,
über die sonst so reizende Hercngcschichte hat sich jetzt ein übler Geruch ver¬
breitet. Wir denken übrigens, Laube hat Recht, wenn er behauptet,
die Geschichte könne nicht baare Erfindung sein, und es müsse ihr
irgend etwas Historisches zu Grunde liegen; doch scheu wir nicht ein,
von welcher Bedeutung dies für Laube's dramatische Bearbeitung der
Bernstcinhexe sein soll. ES wird immer nur darauf ankommen, mit
welcher Freiheit und wie der Dichter den Stoff behandelt hat.
— Von Lenau haben wir nächstens einen Band neuer Gedichte
zu erwarten, der wieder viel Ausgezeichnetes enthalten soll. Darunter
ist auch der Cyclus „Ziska", aus welchem diezwei schönen Gedichte: Zis-
ka'S Blindheit und Ziska unter der Eiche bei Trocznow bereits' bekannt
sind.
- Anastasius Grün's „Schutt" hat die sechste Auflage, sein „letz
der Ritter" die dritte Auflage erlebt.
— Gutzkow hat in Leipzig der Aufführung seine» „Zopf und
Schwert,, beigewohnt und wurde lebhaft gerufen.
Wir haben jetzt mit einer neueren, jüngeren Dichterschule zu
thun^ und da muß denn, nächst Heiberg, Christian Winther ge¬
nannt werden, der am 29. Juli 1796 zu Fensmark geboren ist. —
In Kopenhagen liegt ein großes, etwas antiquirtes Gebäude, „die
Negenz" genauen, das für hundert Studirende freie Wohnungen ent¬
hält. Eine ungemeine Sauberkeit sieht man über die ganze Anstalt
verbreitet; hinter großen spicgelklaren Fensterscheiben schimmern recht
freundliche Zimmer, rothwangige Musensöhne schauen heraus und
blasen den Rauch ihrer langen Pfeifen durch die Luft. Die Regcnz
bildet ein Viereck, im Innern einen geräumigen Hof umschließend,
und mitten auf dem letztern steht ein uralter Lindenbaum, unter des¬
sen breitem Wipfel die lustigen Commerce gehalten werden.
In diesem Hause wohnte vormals auch Winther, als ehrsamer
Candidatus Theologiae, obgleich er weder Lust noch Anlage zur Got-
tesgelahrtheit in sich verspürte. Reisen, dichten, lieben und träu¬
men wollte er, dazu hatte ihn die Natur geschaffen, aber sein Vater,
der Bischof auf der Insel Laaland war, wollte durchaus einen Prie¬
ster aus ihm machen. Winther lebte sich zurück in eine frühere, kind¬
lich poetische Zeit; er sang, was die Erinnerung ihm in's Herz flü¬
sterte und so entstanden seine„Traesnit — Holzschnitte", eine Samm¬
lung reiner, nationaler Gesänge. Keiner hat gleich ihm den wun¬
derbaren Ton der Volkslieder wieder getroffen, und seine Gedichte,
die anfangs nicht genügend beachtet wurden, schlugen nach und nach
immer tiefere Wurzel in der Nationalität. Sie sind jetzt der dänische
Kuhreigen geworden. Wohl eilt der Däne gern zum Süden hin,
doch wenn er draußen, weit draußen in Italien ein Winthcr'sches
Lied vernimmt, dann denkt er an die grünen Buchenwälder und an
die blauen Mädchenaugen seines Vaterlandes und er kann weinen
vor Heimweh.
Zwar folgte nun bald eine Ausgabe dieser Lieder der anderen,
doch trugen sie dem Dichter wenig goldene Früchte ein, und er litt
beinahe Mangel. So war er im Jahre 1829 eines Tages allsge¬
gangen, um eine kleine Anleihe zu machen, und als er nach Hause
kam, fand er ein Schreiben mit stattlichem Gerichtssiegel auf seinem
Tisch. — Winther hatte 25,000 dänische Thaler geerbt. Unverzüglich
reiste er nach Italien ab, wohin ihn seine Sehnsucht seit lange schon
gezogen hatte. sparen und Rechnen ist jedoch nicht Sache deS Ge¬
nies, und als Winther ein Jahr später nach Kopenhagen zurückkehrte,
war sein Kapital auf weniger als die Hälfte zusammengeschmolzen.
Auch der Rest schwand bald in alle Winde, und statt der Dukaten
strömten ihm neue Lieder zu. Er gab neue Poesien heraus und
wenn diese einen minder großen Eindruck machten, so liegt der Grund
wohl darin, daß die Holzschnitte ganz primitiv waren, während sich
in die späteren Gedichte erkünstelte Sentimentalität und wüste Roman¬
tik nachtheilig einmischen.
Winther war einmal nahe daran, Renegat zu werden und sich
der deutschen Poesie zuzuwenden. Als er nach Italien ging, ver¬
weilte er nämlich längere Zeit am Rhein und dort klangen ihm un¬
sere Volksweisen so voll und warm in die Seele, daß er noch im
römischen Lande ihre bald heiteren, bald wehmüthigen Klänge vernahm.
Es schwebten leicht im blühenden Hain
Der Lorbeern und Cypressen
Die kleinen Lieder von Lieb' und Wein,
Von Erinnern und Vergessen.
Spitzohrige Faune guckten hervor
Aus dunklen Hecken und Lauben;
Es sammelte sich der Nymphen Chor
Mit Tamburinen und Trauben.
Ein poetischer Drang, ein Gelüsten nach deutschem Ruhm er¬
griff ihn, und er begann ein lyrisch-episches Gedicht, das die Historie
der „Judith" zum Stoffe hatte. Aber kaum war er wieder am hei¬
mischen Strand, da tauchte eine zürnende Gestalt aus der Meerfluty
herauf und rief ihm zu:
Laß ab, Verwegner! o fühlst Du es nicht.
Daß mehr als den fremden Zungen
Stehst Du den Tönen in heiliger Pflicht,
Die an Deiner Wiege geklungen!
Da ließ ich den Kranz, wonach ich gezielt,
Dem eitlen Herzen zu fröhnen —
Ein Freund hat das Lied mir nachgespielt
In vaterländischen Tönen.
Dieser Freund ist H. P. Holst. Mit einer dänischen Ueberhebung
von ihm erschien die „Judith" 1837 als Fragment, und Fragment
blieb sie auch. Darum läßt sich nichts Abschließendes über das
Gedicht sagen; man findet jedoch einzelne poetische Schönheiten darin
und muß bekennen, daß Winther die deutsche Sprache für einen Aus¬
länder mit vieler Gewandtheit zu behandeln weiß. Namentlich wo
es einen sinnlichen Zauber gilt, gerathen ihm die Bilder sehr gut,
und eS blüht wirklich ein gewisser orientalischer Farbenreiz aus dem
Liede hervor.
Winther ist ein Mann mit angenehmen Zügen und einem wei¬
chen schwärmerischen Blick; sein Embonpoint steht ihm nicht übel. Er
liebt immer und sühlt sich dabei immer unglücklich. Denn ehe er
erhört wird, reibt ihn die heiße Sehnsucht beinahe auf, und wenn
ihn Amor mit dem Rosenkranz des Sieges krönt, dann fühlt er sich
so enttäuscht, so öde, daß er nur noch Klagen und Schmerzen kennt.
Dieser Zustand dauert fort, bis er sich von Neuem verliebt. Obgleich
sieben und vierzig Jahre alt, hat er doch viel Glück in der Liebe,
und darum kommt er aus dem Unglück gar nicht heraus.
Als der Kronprinz von Dänemark sich im Frühjahre 1841 ver¬
mählte, wollte seine junge Gemahlin den Versuch machen, die Sprache
ihres neuen Vaterlandes zu erlernen, und Winther wurde die an-
genehme, ehrenvolle Stellung, ihr Lehrmeister zu sein. Zwar hörte
der Unterricht bereits nach einem Jahre wieder auf, allein Winther
behielt den Professortitel und ein lebenslängliches Jahrgehalt von tau¬
send Thalern.
Haben wir in Winther einen genußsuchenden Lebemann kennen
gelernt, so wenden wir uns jetzt einem poetischen Einsiedler zu. (5s
dämmerte ein klarer, schöner Augustabend empor, als ich mit einem
Freunde von Charlottenlund nach dem königlichen Thiergarten hin¬
schritt. Die Sonne sank eben zum Meere hinab, und ihre Strahlen
ließen den Thau, der die Wiesenfläche bedeckte, wie Rubinen und
Granaten schimmern. Weit umher lag die tiefste Stille ausgebreitet
und über den dunklen Buchenwaldungen des Thiergartens stieg bereits
der goldene Mond empor. Da begegnete uns ein kleiner Mann im
dunkeln Ueberrocke. Mein Begleiter redete ihn an und stellte uns
einander vor . . . es war Henrik Hertz. Sein Gesicht war bleich,
aber voll, es hatte etwas Gedunsenes, Krankhaftes, und die Augen
versteckten sich hinter einer schwarzen Hornbrille. Ani die schmalen
Lippen schwankte ein nervös-satyrischer Zug; seine Sprache tönte
klanglos, wie es bei Schwerhörigen oft der Fall ist, und Hertz hört
nicht gut. Aus der persönlichen Erscheinung des Dichters lernt man
sein Schriftstellerleben begreifen, und man muß mit seiner Biographie
vertraut sein, um die Persönlichkeit nicht mißzuverstehen — sie com-
mentiren sich gegenseitig.
Hertz ist am 25. August 1798 in Kopenhagen geboren. Seine
Elrern waren Juden und erzogen den Sohn in ihrer Religion. Er
studirte Jura, gab aber daneben, ohne seinen Namen zu nennen, seit
1826 mehrere Lustspiele heraus. Dieselben zeigten vom Studium
Holberg's und von dramatischem Geschick, machten jedoch keinen be¬
sonderen Eindruck. Da erschienen im Jahre 1830 „Geisterbriefe, oder
poetische Episteln aus dem Paradies" und brachten eine große Auf¬
regung in die dänischen Literaturintcressen. Sturmglocken schallten;
auf allen Bergen loderten Feuerzeichen; die sichere Ruhe war gestört.
Baggesen'S ganze Eigenthümlichkeit wurde im Ton der poetischen
Briefe treu wiedergegeben, doch das Buch glich jenen Diaphanbil-
dern, die sich verwandeln, sobald man sie gegen das Licht hält. Sah
man es nämlich genauer an, so bemerkte man, daß hinter der zier-
lichen Rococo-Maske ein moderner Genius, eine kräftige Individua¬
lität stecken müsse. Die Episteln berührten alle tiefsten Eleusinien der
Literatur und stöberten jeden Schlupfwinkel auf, allein ein trefflicher
Humor milderte das Grelle und wußte selbst das Gemäuer der Klo¬
aken mit grünen Ranken zu umspinnen. Alles Andere war hierüber
eine?Zeit lang vergessen, und man sprach nur von den Geisterbriefen,
obgleich ihr Verfasser unbekannt blieb.
Derselbe gab um eine „Anonyme Neujahrsgabe für 1832" her¬
aus, in welcher ein schönes Lehrgedicht: „Naturen og Künsten" ent¬
halten war. Den bedeutendsten Beifall aber fand ein Prolog: „Die
Schlacht auf der Rhede", der auf der Bühne am Vorabende jenes
Tages gesprochen wurde, wo dreißig Jahre früher die Engländer
seeräuberisch über Kopenhagen herfielen. Endloser stürmischer Jubel
begrüßte das glühende Poem; Hertz war nicht im Stande, vor den
eifrigen Nachforschungen seine Verschleierung zu bewahren und
mußte aus der Wolke hervortreten. Nun schüttete sich ein so schwel¬
lend reiches Füllhorn von Ruhm und Ehren über den Dichter aus,
als ob es ihn erdrücken und ersticken wollte. Hertz bekannte sich da¬
mals zur protestantischen Kirche, und der König gab ihm ein Sti¬
pendium, um nach Italien reisen zu können, was in Dänemark stets
zur öffentlichen Anerkennung eines Poeten gehört.
Von der dauernden Begründung seines Ruhmes überzeugt, machte
er sich auf und durchzog, ein froher Wandervogel, den Süden. Als
er aber wieder zur Heimath kam, fand er Alles kühl und kalt; laute
politische Fragen hatten sein Andenken übertönt, er sah sich fast ver¬
gessen. Hertz ließ einige sehr gelungene Poesien drucken, doch man
gab nicht Acht darauf. Nun schrieb er 1837 ein Buch: „Stemmin-
ger og Tilstande — Stimmungen und Zustände" betitelt, das ganz
geeignet war, neues Aufsehen zu machen. In Romanform schilderte
es das Leben und Treiben der liberalen Partei und bohrte so, mit
scharfer Satyre, in ein volles Wespennest hinein. Anfangs waren
die Blätter, welche zur Fahne der Angegriffenen gehörten, ganz still
über die Schrift; ihre Redacteure hatten wahrscheinlich den Plan
verabredet, durch Nichtbeachtung das Spottbuch in den Lethe zu ver¬
senken. Aber die konservativen Journale brachten nun lange Excerpte
daraus, die schwüle Stille war unterbrochen und das Gewitter brach
los. Hertz wurde von hundert Blitzen getroffen, und Nichts konnte
die Zürnenden wieder versöhnen, auch nicht sein liebliches Drama-
„Svend Dyring's Haus", das bald darauf erschien. Dasselbe hatte
Ton und Geist aus einem altdänischen Riesenliede geschöpft; es führte
Volk und Helden der frühesten Zeit lebendig vor's Auge, und die
glühende Frische, womit dies geschah, gab dem Werke einen ganz
eigenen, unmittelbaren Zauber. Oft und mit immer neuem Beifalls-
rauschen ging es über die Bretter; die Dänen fühlten stolz ihre
Verwandtschaft mit jenen treuen, kräftigen und freien Gestalten, und
so wirkte das Stück erhebend auf das Nationalbewußtsein. Aber
die Partei der Gegner blieb unversöhnlich; sie jagte den Versehmte»
so lange umher, bis er müde, todtmüde wurde. Jetzt sieht man ihn
krank, mürrisch, hypochondrisch, und auf abgelegenen Pfaden macht
er einsam seine Spaziergänge.
Unter denjenigen Schriftstellern, welche Hertz in den Geisterbrie-
fcn mit der Momusgeißel traf, war auch Hans Christian Ander¬
sen. Dieser ist jedenfalls ein sehr origineller Charakter und muß
schon deshalb mit Aufmerksamkeit betrachtet werden, weil seine Werke
in Deutschland berühmter sind, als selbst in Dänemark, im kleinen
Dänemark, dem es doch wahrlich nicht an Muße fehlt, den Kreis
seiner Autoren sorgsam zu würdigen. Außer Oehlcnschläger ist An¬
dersen der einzige dänische Dichter, der bei uns eine Popularität ge¬
wonnen hat, während jenseits der Ostsee andere Poeten weit über
ihn gestellt werden. Daraus geht hervor, daß entweder der Geschmack
drüben eine andere Richtung nahm, als bei uns, oder daß wir, durch
künstliche Mittel getäuscht, eine Ungerechtigkeit begehen. Zu breiten
kritischen Untersuchungen fehlt mir der Raum, und so will ich denn
einfach die Lebensgeschichte des Dichters erzählen; vielleicht gelingt
es dem Leser, so die Lösung jener schwierigen Frage selbst zu finden.
Andersen wurde am 1. April 180» zu Odense auf Fünen ge¬
boren, und er hat so manche Specialitäten aus seiner Kindheit mit¬
getheilt. Seine Großeltern besaßen früher ein eigenes Landgütchen,
doch verarmten sie und ihr Sohn mußte Schuhmacher werden. Der¬
selbe verheirathete sich; das junge Paar war sehr bedürftig und
kaufte zum Ehebette das Trauergestell, auf welchem kurz vorher ein
gräflicher Sarg geprangt hatte. Manches Jahr später sah man noch
die schwarzen Leisten und die Wachsflecken daran, allein dies hin¬
derte nicht, daß Hans Christian Andersen darauf zur Welt kam.
Früh starb sein Vater, die Mutter hatte wenig Zeit für ihn, und er
genoß nur den kümmerlichsten Schulunterricht. Nachdem er confir-
mirt war, sollte er zu einem Schneider in die Lehre, da prophezeihte
ihm die Kartenlegerin, er würde sehr berühmt werden, und man würde,
ihm zu Ehren, einst die Stadt Odense illuminiren.
Nun reiste er nach Kopenhagen, um eine Anstellung beim Thea¬
ter zu suchen. Seine Kasse bestand aus dreizehn Reichsthalern, und
er erreichte an einem Septembermcrgen 1819 die Residenz. Ueberall
wies man ihn zurück, seine Baarschaft schwand dahin, und er machte
den Versuch, bei einem Tischler zu arbeiten, gab ihn aber bald wie¬
der auf. Weil er eine helle, wohlklingende Stimme besaß, ging er
zum Professor Siboni, einem gebornen Italiener, der damals Direk¬
tor des königlichen Conservatoriums war; ihm wollte er sein Schick¬
sal vertrauen. Dieser hatte just eine muntere Tischgesellschaft bei sich,
worunter sich auch Baggesen und der joviale Komponist Weyse be¬
fanden. Man ließ Andersen ein und lachte anfangs über den un¬
schönen Knaben, der zu declamiren und zu singen anfing. Als er >
jedoch mit Thränen im Auge seine traurige Geschichte vortrug, da
wurden Alle ergriffen. Weyse brachte durch eine Collecte sogleich
siebzig Thaler für ihn zusammen, und Siboni versprach, seinen Ge¬
sang auszubilden.
Zwar verlor Andersen die Stimme während des Unterrichts,
doch wohlthätige Menschen nahmen sich seiner an. Der Dichter
Gnldberg gab dem vernachlässigten Knaben Unterricht in der däni¬
schen und deutschen Sprache, der Schauspieler Lindgren ertheilte ihm
Anleitung zur dramatischen Kunst und ein Solotänzer führte ihn in
die Tanzschule. Er trat in einigen Ballets auf, sang auch im Chöre
mit und schrieb nebenbei noch Trauerspiele. Der Conferenzrath Col-
lin, ein vortrefflicher Mann, wurde Theaterdirector und merkte bald,
daß Andersen mehr Anlage zum Dichter, als zum Schauspieler hatte.
Er brachte ihn auf's Gymnasium, wo der siebzehnjährige junge Mensch
neben kleinen Knaben sitzen mußte, doch gelangte er im Jahre 1828
zum Eramen und wurde Student.
Mit einem kleinen humoristischen Gemälde: „Die Fußreise nach
Anack" begann er nun die literarische Laufbahn; bald steigerte sich
die Theilnahme für seine Leistungen, und die lyrischen Gedichte (1830)
sowohl, als die Phantasien und Skizzen (1831) fanden lebhaften
Anklang. Andersen unternahm eine Reise nach dem Harz und der
sächsischen Schweiz, wobei er die Bekanntschaft mehrerer deutschen
Dichter machte. Auch Chamisso war darunter, und dieser sagte von
ihm: „Mit Witz, Laune, Humor und volksthümlicher Naivetät be¬
gabt, hat Andersen auch tieferen Nachhall erweckende Töne in seiner
Gewalt. Er versteht besonders, mit Behaglichkeit aus wenigen, leicht
hingeworfenen treffenden Zügen kleine Bilder und Landschaften in's
Leben zu rufen, die aber oft zu örtlich eigenthümlich sind, um den
anzusprechen, der in der Heimath des Dichters nicht selbst heimisch
ist." — Andersen beschrieb seine Fahrt, und diesem Büchlein folgten
mehrere einzelne Gedichte-und Opernterte. Im Jahre 1833 wirkten
ihm angesehene Männer vom Könige ein Reisestipendium aus; er
ging zuerst nach Paris, dort freundliche Verhältnisse mit Victor Hugo
und Heinrich Heine anknüpfend, begab sich dann nach der Schweiz
und zog über die Alpenkette, um Italien zu erreichen.
Als Ergebniß dieser Reise ist der zweibändige Roman „Jmpro-
visatoren" zu betrachten, ein Buch, das nicht auf dem Gipfel poeti¬
scher Schöpfung steht, aber doch anzieht durch lebensvolle Schilder¬
ungen und ein reich schimmerndes, italienisches Colorit. Unter den
bunten Südfarben liegt deö Verfassers Silhouette; er hat das eigene
Jugendleben beschrieben und die Familienkreise seiner Kopenhagener
Wohlthäter. Dies Hervorstellen seines auf irgend eine phantastische
Art aufgeschmückten „Ich" ist überhaupt ein Vorwurf, von dem An¬
dersen nicht freigesprochen werden kann, und es läßt uns auf eine
behagliche Selbstgefälligkeit schließen.
Dem Jmprovisator folgte 1837 der Roman „O. T.", welcher
uns in das stille, wechsellose Leben und Weben deö Nordens führt.
Weder hier noch drüben hat das Buch Glück gemacht, und wahrend
die Deutschen glaubten, es müsse den Dänen besser gefallen, waren
diese überzeugt, es werde in Deutschland den rechten Anklang finden.
Jetzt kommen wir zu des Dichters vorzüglichsten Werke, dem
er, in unbegreiflicher Verblendung, einen geringeren Werth als den
Romanen beilegt. Es sind dies seine Kindermärchen — Eventyr,
fortalte for Born" — von denen sechs Hefte erschienen sind. Hier
weht Frische und Absichtslosigkeit, reine, freie Phantasieschöpfungen
lachen uns mit ihren sinnigen, blauen Kinderaugen an und der Vor¬
hang, der uns von den dunkeln Feenmärchen unserer frühen Jugend
trennt, rollt noch einmal empor. Jeder Mensch, der nicht ganz als
Philister zur Welt kam, hat ja seine tausend und eine Nacht durchlebt
und träumr sich gern dahin zurück. Dies träumerische Sein, das auf
einem Blüthenhain wohnt, der, von der Erde abgelöst, in Lüften
schwebt, ist Andersen'S eigentliches Feld. Dort sollte er verweilen und
uns holde Wundergeschichten herniederrufen.
Den schönen Märchen folgte wieder ein Roman: „Kur en
Spillemand — Nur ein Geiger" betitelt. Auch hier steht des Ver¬
fassers Persönlichkeit in der Mitte, er selbst ist der Held, seine Er¬
lebnisse und Schicksale werden geschildert. Man muß aber von aller
Eitelkeit Abschied genommen haben oder man muß blind vor Eitel¬
keit sein, wenn man sein innerliches Leben auf solche Weise zur Schau
stellen kann. Dieser Geiger, dieser Christian ist ein Mensch ohne
Wissen, ohne Thatkraft, ein wahrer Waschlappen von einem Charak¬
ter, der trotzdem ein berühmter Mann werden will. Das gelingt
ihm nicht, weil er gar keine Anlage dazu hat) er wird nun fromm,
liest in der Bibel und stirbt endlich. Die eigentliche Heldin des Bu¬
ches ist Naval, und ihre Gestalt biegt sich allein mit warmen Athem¬
zügen aus dem Roman hervor. Alle übrigen Gesichter sind von Wachs,
ihre Augen von Glas, und man wird so rastlos auf wüst-romantischen
Zuständen hin und her geworfen, daß es den Eindruck macht, als
ließe man sich schaukeln.
Im Sommer 1837 besuchte Andersen das benachbarte Schwe¬
den. Sein nächstes Erzeugnis war das „Bilderbuch ohne Bilder",
worin der Mond den. Dichter kleine Geschichten erzählt. Eine recht
lieblich poetische Idee. Aber die Ausführung ist noch nicht unbe¬
fangen, nicht objectiv genug. Der Mond kann nur sehen, er darf
niemals reflectiren, das ist seiner ganzen Natur zuwider, und wenn
er es doch thut, so lacht man ihn aus, weil er über Dinge redet,
von denen er gar Nichts versteht.
Andersen ging 1840 abermals nach Rom, dann nach Griechen¬
land und Konstantinopel, und auf dieser Reise gewann er sich wie¬
der ein zweibändiges Werk: „En Digters Bazar" betitelt. Es sind
flüchtig hingeworfene Reiseskizzen eines flüchtig Reisenden, doch manche
schöne Phantasicblume mischt sich in den Kranz der einzelnen Bilder
und Träume. Er hat das Werk in zehn Bücher abgetheilt und je¬
des Buch einem anderen Freunde dedicirt. Alle diese Letzteren aber
sind berühmte Leute, gerade als ob unberühmte nicht zu Freunden
taugten, und da klingen denn stolze, hochgefeierte Namen, Oehlen-
schlägcr, Prokesch-Osten, Thalberg u. s. w.
Ohne bitter zu sein, darf man wohl sagen, das Motiv solchen
Verfahrens sei Eitelkeit, lind eitel ist Andersen über die Maßen. Das
Lob gehört ihm zur Lebenslust, jeder Tadel verletzt ihn schneidend.
Auf dieser Sandbank strandete seine Fortbildung, und auch sein Ta¬
lent wird darauf zu Grunde gehen, wenn er sich nicht ändert. Er
kennt all die Toilettenkünste der Literatur, macht sich den theatrali¬
schen Apparat gehörig zu Nutz und weiß sogar mit seiner romanti¬
schen Lebensgeschichte zu kokettiren. Einst wurde ein neues Buch von
ihm gedruckt, und eine schwedische Zeitung brachte die Notiz: „das¬
selbe habe die Kopenhagener entzückt, denn es übertreffe fast noch
seine früheren Werke an Interesse." Aber unglücklicherweise hatte es
in der Druckerei eine nicht erwartete Verzögerung gegeben, und das
interessante Buch war noch gar nicht erschienen.
Andersen's vielfache Reisen in'ö Ausland haben gleichfalls dazu
beigetragen, seinen Ruf verbreiten zu helfen, und diese Reisen brach¬
ten ihm noch einen anderen Gewinn. Sein poetischer Springquell
ist nicht reich und stark genug, um dauernd aus demselben schöpfen
zu können; es müssen sich von außen Bilder und Erzeugnisse abspie¬
geln auf seiner Fluth — Andersen'S Phantasie bedarf eines Anhalte¬
punktes. Seine hauptsächliche Gabe besteht darin, gegebene Zustände,
und wenn sie auch sonst ziemlich kahl wären, mit poetischem Auge
anzuschauen. Dann umweben die Elfen sie mit dem Farbenglanz ih¬
rer Perlmutterschwingen und es taucht ein Gemälde, blühend und
anmuthsvoll, aus dem Chaos hervor. Was man im prosaischen
Leben Uebertreibung und Lüge nennen würde, das gereicht seinen
dichterischen Gestaltungen zum Ruhm.
In diesen Schranken muß Andersen sich aber auch halten; eilt
er darüber fort, so geht'S ihm wie Noah'S Naben: er findet nirgends
Rast auf der großen Wasseröde. Seit Jahren verkünden die däni¬
schen Journale, er arbeite an einer gigantischen Welttragödie: „Ahas-
verus", welche uns in fünf Dramen den ganzen Raum der christli¬
chen Zeitrechnung und darin die totale Fortbildung des Menschen¬
geschlechts vor Augen führen solle. Aber das ist eine Aufgabe, welche
weit hinausfliegt über die gegebene Norm künstlerischen Maßes, und
nur ein Goethe'scher Riesengeist würde vielleicht sie zu bewältigen im
Stande sein. Andersen's hübsches Talent müßte sich aber die Jka-
rusflügel daran versengen, und wenn er sie nicht aufgibt, stürzt er
gewiß in's Wasser hinab.
Wir verlassen nun Andersen und wenden uns zu zwei anderen
Dichter», die man in Deutschland nur wenig kennt, obgleich sie doch,
nach dem Urtheile der Dänen, den Ersteren überragen an poetischer
Kraft. Sie traten beide zugleich in die Literatur. Die „Gesellschaft
zur Beförderung der schönen Wissenschaften" hatte nämlich im Jahr
1830 einen Preis auf die vier besten Romanzen ausgesetzt; Qehlen-
schläger gehörte zu den Richtern, und mehr als siebenzig Kämpen
drängten sich zum Wettstreit heran. Zwei junge Poeten wurden ge¬
krönt, sie hießen Holst und Paludan Müller, und man täuschte
sich nicht, als man glaubte, sie würden entschlossen vorwärts streben
auf der betretenen Bahn. Ihre Namen haben jetzt einen guten Klang
im dänischen Lande.
Frederik Paludan Müller ist am 7. Februar I8den zu Kjer-
teminde geboren. Er studirte Jura, doch ohne rechten Drang; die
Göttin der Poesie sang ihm ihre Sircnenlieder, er mochte wachen
oder träumen. Durch jene gelungenen Romanzen in die Literatur
eingeführt, schrieb er andere Gedichte, und eine Sammlung derselben
ist unter dem Titel: „Trochäer og Jamber" erschienen. Immer stellt
die Form sich tadellos dar, ein sehr gebildeter Geschmack waltet in
diesen Poesien und läßt für den Leser einen ungetrübten Genuß dar¬
aus erwachsen. Hierauf lächelte ihm die dramatische Muse freund¬
lich lockend, und er schuf ein Schauspiel „Kjärleghed vnd Hoffet —
die Liebe am Hofe", das im bunt romantischen Style gehalten ist.
Laune und Pathos flattern darin, wie neckende Kolibris und ernst¬
hafte Pfauen, durcheinander.
Schon immer hatte Lord Byron einen unläugbaren Einfluß auf
Paludan Müller geübt, und das Studium dieses Dichters, verbunden
mit inniger Liebe zu demselben, brachten ihm ein schönes Resultat.
Es war ein größeres lyrisches Epos: „Danserinden — die Tänzerin"
(1834), das, ohne irgend nachzuahmen, wahlverwandt an Childe
Harold erinnert. Die phantasiereiche Ausführung sowohl, als die
fein behandelte ottavische Form, gewannen dem Gedichte die allge¬
meine Gunst, und auch in's Deutsche ist es übertragen worden. Das
folgende Werk von Paludan Müller war ein mythologisches Drama -
„Amor und Psyche" betitelt. Es bildet die Blüthenkrone seiner bis¬
herigen Schöpfungen, und mit vollem Rechte scholl ihm begeisterte
Anerkennung entgegen. Form und Sprache sind hier Eins gewor-
den; moderne Bildung und griechische Göttersage umschlingen sich
grazicnhaft und das Ganze läßt den wohlthuendsten Eindruck zurück.
Ich würde mehr über das classische Werk sagen, aber ich höre, daß
Herr Bennet — der sich bereits durch die „Dcmia" bekannt ge¬
macht hat — mit dessen Ueberdichtung beschäftigt ist, und da möge
denn das deutsche Publicum selbst lesen und sich erfreuen,
Paludan Müller erhielt jetzt ein königliches Stipendium, und im
Jahre 1837 trat er die übliche Wallfahrt nach Italien an. Eine
bestimmte Ausbeute von diesem Römerzuge gab der Dichter nicht.
Sein letztes Buch erschien 1841; es heißt „^«im» klenn" und ist
ein episches Gedicht. Da der zweite Theil desselben bisher noch fehlt,
so läßt sich darüber kein abschließendes Urtheil fällen, aber man kann
wohl sagen, daß die Darstellung — wenn sie auch hin und wieder
gar zu sehr in's Breite greift, — mit ihrer plastischen Schönheit im-
ponirt. Leider wird die glänzende Sprache durch Obscönitäten ver¬
unstaltet, häßlichen Schmutzflecken gleich, die das reine Weiß einer
Alabastergruppe entstellen. r
Paludan Müller hat eine schöne, jugendlich schlanke Figur, eine
hohe Apollostim, und in seinem edlen' Profil lebt der Geist des Dichters.
Hans Peter Holst ist am 22. October 1811 zu Kopenhagen
geboren. Er besuchte die „Schule für Bürgertugend", und mit sieb¬
zehn Jahren kam er zur Universität. Nachdem seine Romanzen 1830
den Preis erhalten, wurden sie gedruckt, gefielen sehr und haben sich
so fest in der Gunst des Publicums behauptet, daß noch vor KurMn
eine neue Auflage nöthig war. Durch das laute Lob, das man ihn:
so frühzeitig spendete, wurde Holst übermüthig; alle literarische Pro¬
duktion schien ihm nur ein heiteres Spiel, er achtete der eigentlichen
Künstlersorgfalt nicht. Gedichte und Novellen gab er heraus, worin
die Sprache zwar leicht und gewandt behandelt war, allein sie flat¬
terten gar zu ungebunden, beinahe liederlich, daher, ivie bunte Bän¬
der, die um einen Maibaum fliegen. Außerdem machte man ihm
den gerechten Vorwurf, daß sich Reminiscenzen aus Oehlenschläger
in seinen Erzeugnissen fänden, denn lag ihm die Absicht der Nach¬
ahmung auch fern, so löste sich sein poetisches Streben doch oftmals
in eine fremde verehrte Individualität auf, weil ihm jede bestimmte
Richtung mangelte.
Sein ausgezeichnetes Sprachtalent blieb indessen nicht ohne die
verdiente Anerkennung. Drei und zwanzig Jahre alt, wurde Holst
als Lector der dänischen Sprache und Literatur bei der Lcmdkadetten-
Academie zu Kopenhagen angestellt, und er hatte Schüler, die älter
waren als er. Damals vermählte er sich mit einem schönen und
liebenswürdigen Mädchen; das freundlichste Familienleben entfaltete
sich ihm und immer angenehmer wurden feine Verhältnisse. Man
fand keinen Preis zu hoch für seinen Sprachunterricht; Gold und
Ehre strömten ihm in Fülle zu.
Doch das Glück machte ihn vorsichtig, und sein Heller Geist em¬
pfand deutlich, was ihm noch fehle. Deshalb hielt er sich mit einer
gewissen Blödigkeit von Schöpfungen zurück, ließ nur eine dänische
Anthologie drucken, die auf dem Gymnasium als Grundlage zum
Vortrag der Literaturgeschichte benutzt wird, und gab vier Jahre
nach einander einen Musenalmanach heraus. Unermüdlich trieb Holst
in dieser Ruhezeit das Studium moderner Sprachen und Literaturen:
Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch und schwedisch sind ihm
vertraut wie seine Muttersprache, und jetzt liegt er mit Eifer dem
Spanischen ob, denn heiße Sehnsucht zieht ihn nach Sevilla und
Cordova hin.
Während Holst nun solchen Reichthum in sich aufnahm, wäh¬
rend er sich in die Dichtungen so verschiedener Völker ver¬
senkte, ging ihm die wahre Formenschönheit auf. Krystallrein und
eben wurde sein Styl, wie die Fluth des Oceans, wo wunderbare
Koralleninseln mit Muschelthürmen und Polypenbäumen in den Tie¬
fen ruhen. Nur eines Anstoßes bedürfte es, daß er siegend aus
der Zurückgezogenheit hervortrat. Da starb am 3. December 1839
Friedrich VI., Dünemarks geliebter König, und Holst dichtete ein
kleines Lied auf seinen Tod, das, weil es recht aus vollem Herzen
kam, auch recht in die Herzen drang, Vielleicht hat nie ein einzeln
nes Gedicht solches Aufsehen gemacht, als diese fünf Verse — Bek-
ker's Rheinlied allenfalls ausgenommen. Nicht allein in viele lebende
Sprachen, sondern auch in's Lateinische, Griechische und Hebräische
wurde es übersetzt, und eine stürmische Begeisterung für den Sänger
durchzog ganz Dänemark. Henrik Steffens gedenkt derselben aus¬
drücklich in seiner Selbstbiographie (Band 2. Seite 65.). Um des
dänischen Volks Empfänglichkeit für Poesie zu bezeichnen, schildert er
die mächtige Bewegung, welche das Holst'sche Trauergedicht im Lande
hervorgerufen, und fügt die schönen Worte hinzu: „Es erinnert fast
an jene alte nordische Sage von dem Skiald, der durch einige Verse
zum Lobe des allgemein geliebten mythischen Dänenkönigs Frode selbst
König und sein Nachfolger ward."
Auf den Thron machte der bescheidene Holst freilich keine An¬
sprüche, doch benüyte er den günstigen Moment zur Herausgabe sei¬
ner Gedichte, die denn auch in wenigen Wochen vergriffen waren,
Ueberall hatten sie Beifall gefunden, und der König von Dänemark,
mit feinem Auge über die Künste wachend, verlieh ihm 1840 ein
Stipendium zur italienischen Reise. Holst ging über München dort¬
hin, kehrte über Paris zurück und blieb fast zwei Jahre von der
Heimath fern. Im Süden mußte seine poetische Kraft zur vollen
Blüthe und Reife kommen, und er lebte namentlich auf Ischia und
Sicilien ein recht freies Dichterleben. Italien ist ein Stück von sei¬
nem Dasein geworden, und ungern läßt er den treuen Palmstock aus
der Hand. Holst ist ein schöner Mann von kräftigem und doch
schmiegsamen Wuchse, dunkelblondes Haar umwallt ihm die hohe
reine Stirn, und es wohnt viel Freude und Lust in seinen feurig
blauen Augen.
Als erstes Ergebniß der Reise erschien 1843 ein Buch: „Ade
og hjcmme — Draußen und daheim", das von Kritik und
Publicum sehr dankbar empfangen wurde. Es besteht aus Poesie»
und prosaischen Skizzen, bunt durch einander gewürfelt, wie sie dem
Dichter eben erblühten. Klare Südluft wallt durch diese Blätter;
Orangenhauch und Meeresfrische mischen sich mit ihr, und Italien
steigt in unmittelbarer Schönheit vor uns auf. Mir fehlt der Raum,
um jedes treffliche Stück anzudeuten, doch zeichnet sich unter den poe¬
tischen Gaben besonders das reizende Phantasiebild? „Pokal und
Traube" aus. Ein anderes anmuthiges Gemälde: „Der sterbende
Fechter" entstand beim Anschauen jener berühmten Antike und macht,
gleich ihr, den Eindruck reinster Classicität.
Auch die prosaischen Aufsätze, sowohl „Rosa Taddei" als „Is¬
chia und die Jöchiataner" sind höchst gelungen. Holst hat seine Fe¬
der in die glühend brennenden Farben des Südens getaucht; solch
Ultramarin und Gold, solchen Purpur und Azur kennt der kalte Nor¬
den nicht. Die Krone des Ganzen aber bleibt die Novelle: „Reisc-
kameraden", und man kann sich wahrlich kaum etwas Lieblicheres
denken, als dieses Genrebild. Voll warmen Lebens lachen alle Ge¬
stalten daraus hervor: der junge, eitle, gutmüthige Franzose; die holde,
liebende Maria-Grazia: die italienische Wirthin mit ihren originellen
Sprüchwörtern, und die bereuende Theresina. Leicht und sicher sind
die südlichen Bilder hingehaucht; da ist weder Absicht noch Zwang
— es macht sich Alles wie von selbst. Das scheint mir aber im¬
mer die beste Bürgschaft für den Werth einer Novelle, wenn man
gar keine Novelle zu lesen glaubt, und Heiberg sagte auch: Der
Rcisekamcrad dürfe in keiner dänischen Anthologie fehlen, wo es sich
um Musterformen handelt. Holst hat sich jetzt mit ganzem Eifer der
Novelle zugewendet; er arbeitet an sicilianischen Novellen und man
erwartet Ausgezeichnetes davon.
Weil wir eben von dieser Dichtungsart sprechen, so muß des in
Deutschland wohlbekannten Erzählers Karl Bernhard gedacht wer¬
den, dessen wahrer Name Se. An bin ist. Im Verein mit den
Professoren K. C. Kannegießer und O. L. B. Wolfs — zwei tüch¬
tigen sprachkundigen — hat er seine Werke selbst in'S Deutsche über¬
setzt, und die Reihe derselben wird gern gelesen. Es sind Lebens¬
bilder aus Dänemark, welche nicht verkennen lassen, daß der „Ver¬
fasser einer Alltagsgeschichte" als Pathe an ihrer Wiege stand. Be¬
dauern muß man nur, daß der blumenreine Sinn dieses Musters
allzusehr verloren ging, denn Bernhard's Erzeugnisse haben sich im
Schlammbade der neufranzösischen Romantik zuweilen arg bespritzt,
sonst wohnt aber eine muntere, lebhafte Charakterauffassung darin,
welche seine Novellen über die der Bremer, Flygare und anderer Da¬
men erhebt, so daß sie den Beifall wohl verdienen, der ihnen zu Theil
ward.
Ehe ich den freilich lückenhaften Aufsatz abschließe, will ich noch
eines Buches gedenken, das erst 1843 erschien und den Titel: „En¬
ten-Eller — Entweder oder" führt. Der Verfasser hat sich nicht
genannt; er heißt Kierkegaard, ist Licentiat der Theologie und
vom Haupte bis zur Sohle Hegelianer. Das Letztere documentirt
sich denn, wie in den Lichtpunkten, auch in den Schattenseiten seines
Buches, welches aus zwei starken Bänden besteht und Novelle, Aest¬
hetik, Philosophie und sonstige Ingredienzien so kaleidoskopisch zusam¬
menrüttelt, wie es bisher noch kaum gesehen wurde. Der erste Band
ist negativ; darin wird Alles verhöhnt und niedergerissen, was Jahr-
laufende an Sitten, Moral und Formen aufgebaut haben. So bil¬
det z. B. „des Verführers Tagebuch" den anatomisch getreuen Ab¬
druck der Seele eines Wüstlings, dem die Ehe als ein Institut er¬
scheint, das aus Dummheit und Köhlerglauben entsprungen, und der
das Heiligste mit systematischer Nichtswürdigkeit untergrabt, um einen
flüchtigen Sinnenkitzel zu gewinnen.
Der andere Theil des Werkes bemüht sich nun, den zertrümmer¬
ten Dom wieder aufzurichten, das tief verletzte Gefühl wieder aus¬
zusöhnen, und so steht jenem Tagebuch ein schön geschriebenes Capi¬
tel: „die ästhetische Berechtigung der Ehe" gegenüber. ES ist ein
breiter philosophischer Apparat benutzt worden, um massenhaft zu im-
poniren, doch während man des Verfassers tüchtige Studien und
bedeutende Lebensanschauungen schätzen lernt, wird man durch die
Selbstgefälligkeit, mit der er sein Ich fortdauernd hervorblitzen läßt,
unangenehm berührt. Aus dem ernsten Ganzen sprühen oft über¬
raschende Witzfunken, und von den vielen schönen Aphorismen setze
ich nur folgende hierher: „Es ist immer lächerlich, wenn Einer des
Glückes Thür gewaltsam stürmen will, denn dieselbe geht nicht nach
innen auf, sondern nach außen." — Das Buch sollte jedenfalls in's
Deutsche übertragen werden.
Wenn ich meine Skizze nun beendige, so weiß ich, daß man sie
in Deutschland lang und langweilig finden, während man ihr in
Dänemark flüchtige Oberflächlichkeit zur Last legen wird. Der letz¬
tere Vorwurf wäre wenigstens gegründeter, als der erste, denn es
ließe sich noch viel über das moderne Schriftenthum unserer Nach¬
barn sagen. Allein ich denke, man darf dem Publicum nicht gleich
so schwerfällig entgegenrücken, wenn man bei ihm Interesse für einen
Gegenstand erwecken will. Im unsicheren Clairobscür muß man die
neue Landschaft zeigen, damit sich die Romantik der Neugier regt.
Wir sind es den Dänen schuldig, uns ihre Literatur zugängig zu
machen, denn kein Volk hat reiner und feuriger, als sie, Deutschlands
Poesie in sich aufgenommen. Nun läßt sich freilich nicht fordern,
daß wir schnell die dänische Sprache lernen und somit zum Genuß
der Originalwerke gelangen sollen. Dazu fehlt es uns an Zeit.
Pflicht scheint es mir nur, uns die ganze Reihe wichtiger dänischer
Literaturerscheinungen in guten Uebersetzungen zu vergegenwärtigen,
und diese Pflicht wurde bisher allzusehr verabsäumt. Nicht als ob
so wenig von den poetischen Leistungen jener Nation in deutsche
Laute gekleidet wäre — nein! aber die Übersetzungen liegen einzeln,
in hundert Maculaturwinkeln vergraben. Es ist keine Folge, keine
Auswahl, kein Zusammenhang darin; mit einem Worte, es sehlt an
System. Ich null hier ein Verzeichnis) geben, welche Schriften der
genannten Verfasser bereits deutsch eristiren:
Skandinavische Bibliothek, enthaltend eine Auswahl des Anzie¬
hendsten aus der dänischen, schwedischen und norwegischen Literatur.
Redigirt von J> B. v. Schepelern und A. v. Gabler. Zwei Hefte,
Kopenhagen 1837. — Die Harfe des Statten, von Julius Thom^
son. Berlin 1838. — Dania. Auswahl von Gedichten. Aus dem
Dänischen übersetzt von Emil Bennet. Leipzig 1841
Andersen. Umrisse einer Reise von Kopenhagen nach dem
Harze, der sächsischen Schweiz und über Berlin zurück. Herausge¬
geben von vn. Gerede. Breslau 1832. — Jugendleben und Träume
eines italienischen Dichters. Von L. Kruse. Zwei. Theile. Hamburg
183». — Der Jmprovisator (dasselbe Werk). Von 1)r. A. E. Woll--
heim. Miniaturbibliothck der ausländischen Classiker, 14.—18. Band-^
chen. Hamburg und Leipzig. — O. T. Roman. Uebersetzt von W. C.
Christiani. Zwei Theile, Leipzig 1837. — Nur ein Geiger I Ori¬
ginalroman. Uebersetzt von G. F. v. Jennssen. Drei Theile, Braun-
schweig 1838. — Märchen und Erzählungen für Kinder. Vom
Major v. Jennssen. Braunschweig 1839. — Mein Bruder Arthur.
Eine Novelle Jnconigto. Miniaturbibliothek d. a. B. 37. und 38.
Bändchen. Hamburg und Leipzig. — Bilderbuch ohne Bilder. Von
L. M. Fouquv. Berlin 1842. — Eines Dichters Bazar. Von Chri¬
stiani. Zwei Bände. Leipzig 1843.
-i- Bernhard. Das Glückskind, eine Novelle. Kopenhagen
1837. — Sämmtliche Werke. Leipzig 1840—1843. (Inhalt der
erschienenen zehn Bände: I. Die Hospitalverlobung, II. Eine Familie
auf dem Lande. III. Der Eilwagen. Ein Sprichwort. IV. Die
Deklaration. V. Der Commissionär. Tante Franziska. VI. Der
Kinderball. VII.—X. Schooßhunden.)
Bucher. Die Juden auf Halt. Novelle. Von Kruse. Leip¬
zig 1831. — Das Mädchen von Rhodos. Von demselben übersetzt.
Leipzig 1832.
Grundtvig. Kurzer Begriff der Weltchronik. Deutsch von
Volkmann, mit Anmerkungen von Nudelbach, Nürnberg 1837.
-i- Hauch. Die Belagerung Maestrichts. Trauerspiel. Leipzig
1834. — Tiberius, der dritte Cäsar. Tragödie. Ebert. 1836. —
Der Goldmacher. Historischer Roman. Deutsche, vom Verfasser mit
zwei neuen Kapiteln vermehrte Ausgabe. Von Christiani. Kiel 1837.
— Eine polnische Familie, oder die verlorenen Kinder. Nach dem
Manuscript. Zwei Theile. Leipzig 1840.
Heiberg. Der Zufall, aus dem Gesichtspunkte der Logik
betrachtet. (Als Einleitung zu einer Theorie des Zufalls.) Kopen¬
hagen 1825. — Die nordische Mythologie, aus der Edda und Oeh-
lenschläger's mythologischen Dichtungen dargestellt. Schleswig 1827.
— Ein Jahr in Kopenhagen. Novelle. Von Kruse. Zwei Theile.
Leipzig 1836. — Maria. Siehe: Verfasser einer Alltagsgeschichte.
Hertz. Das Haus Svend Dyrings. Romantische Tragödie.
Uebersetzt 1839. Hamburg. — Amor's Geniestreiche. Nach der Ori¬
ginaldichtung deutsch bearbeitet. Kiel 1840.
Holst. Der Neisekamerad. Novelle. Von Eduard Boas. Grenz¬
boten, Jahrgang 1844, Novellenbibliothek.
Ingemann. Bianca. Ein Trauerspiel. Metrisch übersetzt von
Lewctzow. Kopenhagen 1815. — Der Hirte von Tolosa. Trauer¬
spiel. (Von Scholz.) Schleswig 1819. — Märchen und Erzäh¬
lungen. Frei übersetzt von Lotz. Leipzig 1821. — Dasselbe Buch
unter dem Titel: Abenteuer und Erzählungen in Callot-Hoffmann'-
scher Manier. Von Bartels. Leipzig 1826. - Die Unterirdischen.
Roman. Von Lotz. Hamburg 1822. — Der Löwenritter. Tragö¬
die. Metrisch übersetzt von Lange. Altona 1825. — Tasso's Befrei¬
ung. Dramatisches Gedicht. Von Garthausen. Leipzig 1826. —
Dasselbe Werk. Von A. Dietrich. Als 18. Bändchen des classischen
Theaters der Ausländer. Leipzig. — Waldemar der Sieger. Histo-
rischer Roman. Von Kruse. Vier Theile. Ebert. 1827^ — Die
erste Jugend Erik Menveds. Von Kruse. Vier Theile. Ebert. 1829.
— König Erik und die Geächteten. Drei Theile. Kiel 1834. —
Prinz Otto und seine Zeit. Von Kruse. Leipzig 1835
Oester schlag er. Briefe in die Heimath auf einer Reise
durch Deutschland und Frankreich. Von Georg Lotz. Zwei Bände.
Altona 182». — Erich und Abel. Trauerspiel. Von Lewetzow.
(Vergleiche des Dichters eigene Ueberdichtung im 9. Bande seiner
Schriften.) Schleswig 1821. - Die Dichter im Leben. Von Lotz.
Stuttgart 1821. — Die Blutbrüder. Trauerspiel. Frei übersetzt von
Lotz. Leipzig 1823. — Tordenstiold. Drama mit Gesängen. Von
demselben. (Siehe Oehlenschläger'ö dramatische Dichtungen Band 1.)
Kassel 1823. — Die Götter Nordens. Episches Gedicht in drei
Büchern. Uebertragen und mit einem mythologischen Wörterbuche
versehen von Glückselig (Gustav Thormud Legis.) Leipzig 1829. —
» Schriften. Ausgabe letzter Hand. 18 Bändchen. (Inhalt: 1—2.
Selbstbiographie. 3—5. Dramatische Märchen. 6—10. Trauer¬
spiele. 11—14 Lust- und Singspiele. 15. König Hroar. 16. No¬
vellen. 17. Märchen. 18. Gedichte. Breslau 1829—1830. Neue
Ausgabe 1839. — Morgenländische Dichtungen. Zwei Theile. (I. die
Fischerstochter. 2. Die Brüder von Damast.) Leipzig 1831.
Dramatische Dichtungen. Zwei Theile. (I. Tordenstiold. Der falsche
König Olaf. 2. Die italienischen Räuber.) Hamburg 1835.
Palud an-Müll er. Die Tänzerin. Aus dem Dänischen
übersetzt. Kiel 1835 (Hamburg).
Verfasser einer Alltagsgeschichte. Novellen. Von Chri¬
stian!. (Inhalt: Eine AlltagSgeschichte. Traum und Wirklichkeit.
Der magische Schlüssel. König Hirsch.) Leipzig 1835. — Erzäh¬
lungen aus der Kopenhagener fliegenden Post. Von Kruse. Drei
Theile. (I. Eine AlltagSgeschichte. Clara's Selbstbekenntnisse. II. Die
Nattern am Busen. Käthchen. Das Kaninchen. IIl. Die hellen
Nächte. HeirathSgesuch.) Ebert. 1834—1835. — Maria, eine
Novelle. Herausgegeben von Joh. Ludw. Heiberg. Uebersetzt von
Christiani. Ebert. 1839.
» Winther. Judith. Bruchstücke eines Gedichts, nebst däni¬
scher Uebersetzung, von H. P. Holst. Kopenhagen 1837.
Man zeihe mich nicht der Trockenheit, denn alle Blumen der
Sprache reichen nicht aus, um einen bibliographischen Katalog dar¬
unter zu verstecken.
Ich bin überzeugt, der Leser wird hier mehr dänische Werke in
Uebertragungen gefunden haben, als er irgend erwartete, und es ist
ihm der Weg angedeutet, auf dem er lustwandeln und bequem die¬
jenigen Früchte pflücken kann, die seinem Geschmack am meisten zu¬
sagen. Hat er nur erst eine kurze Strecke zurückgelegt, dann kehrt er
gewiß nicht wieder um. Den Uebcrsetzern zeigen sich aber recht deut¬
lich die störenden Lücken, und sie werden fühlen, wie ehrenhaft es
sei, dieselben auszufüllen. Mehrere vorzügliche Geister sind noch ganz
vernachlässigt worden, und ihre Namen werden von anderen über¬
tönt, die ein Monopol erlangt haben, mit allen ihren Productionen
vor's Publicum zu treten. Kann dies nach Recht und Wahrheit
richten, wenn es nur die Eine Partei gehört hat? Dagegen sträubt
sich deutsche Redlichkeit und Treue!
Während noch die Veröffentlichung des richterlichen Verfahrens
gegen den Pfarrer Weidig die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich
zieht, haben wir schon wieder einen interessanten Beleg für die Art
und Weise unserer Prozcßverhandlungcn erhalten. In einem so eben
(Charlottenburg, Verlag von Egbert Bauer) erschienene» Buche: „Aus¬
geübter Kinderraub gegen einen preußische» Unterthan
unterm Schutze der Gerichte der freien Stadt Frankfurt"
übergibt Herr v. Fabcck die Acten seines merkwürdigen Prozesses und
in ihnen eben die Geschichte desselben, der Oeffentlichkeit eine höchst
tragische Geschichte, die uns nicht blos einen tiefen Blick in un¬
sere öffentlichen, sondern auch in das Wesen unserer socialen, unserer
ehelichen und Familienverhältnisse thun läßt. Ein Mann, dem es das
Höchste ist, ein Familienvater zu sein, dem die Familie sein Gott, sein
Alles ist, der keine Opfer und Anstrengungen scheut, für das Wohl
der Seinigen, für die er nur lebt, zu sorgen, der diese Sorge bis zu
einer Eonsequenz forttreibt, daß sie zu einer wahren Tyrannei der Liebe
geworden ist; einen solchen Mann sehen wir hier, dieser mißgc-
deutetcn Eonsequenz wegen, mit der er sein Recht als Gatte und Va¬
ter geltend macht, durch eine scheußliche Intrigue nach und nach seiner
Frau, seiner Kinder, seines Vermögens, kurz seiner ganzen Häuslichkeit
beraubt und dadurch eben in seinem Wesen vernichtet. Nach dem An¬
trag seiner Frau auf Trennung c^un-ni tuorum opus-tin und nach
dein Verhör der von ihr vorgeschlagenen Zeugen, verfügt das Stadt¬
gericht der freien Stadt Frankfurt, ohne sich um den Beklagten zu be¬
kümmern, ohne ihn zu vernehmen, die sofortige provisorische Trennung
beider Eheleute, verfügt es ferner die Wegnahme der Kinder, die nur
mit Gewalt und unter Wehklagen und Weinen von dem Vater ge¬
rissen werden können, ja es verweigert demselben, trotz seiner immer
wiederholten dringenden Eingaben und Vorstellungen, seine Kinder auch
nur einmal scheu und sprechen zu dürfen. Und so geht denn der einge¬
leitete Prozeß vom August 1841 fort bis zum 23. October 1843, an
welchem endlich das Oberappcllationsgcricht zu Lübeck entscheidet, daß
die früheren Erkenntnisse der Frankfurter Gerichte, insoweit dieselben
der Frau eine abgesonderte Wohnung zu beziehen gestatteten, wieder
aufzuheben und, um diese Aufhebung noch näher zu motiviren, die „von
dem Beklagten in gegenwärtiger Instanz noch beigebrachten neuen
Gegenbeweise gar nichr nöthig seien". Lange vor diesem Erkenntniß
aber — das sie und ihre Aovocatcn und Rathgeber von einem ent¬
fernten, unparteiischen Gerichtshof wohl erwarten mußten — im Mai
1842 war die Klägerin schon heimlich nach England entflohen und so
Herr von Fabeck, trotz der erfolgten günstigen Entscheidung dennoch
und vielleicht auf immer seiner Kinder beraubt, deren gegenwärtigen
Aufenthalt er bis zu diesem Augenblick noch nicht erfahren hat. Doch
muß man daS Buch selber lesen, um einen deutlichen Begriff von dem
ganzen inneren Verlauf dieser scheußlichen Geschichte, von diesem In-
trigucuspiel, in dem besonders der Advocat Ol. von Guaista und der
Herr Pfarrer Appia ihre Rollen vortrefflich gespielt haben, von dieser
Kleinlichkeit, Gemeinheit und Rohheit socialer Verhältnisse zu erhalten.
Das sind die echten Geheimnisse unseres socialen Lebens, die besonders
in den Zuständen der freien Stadt Frankfurt a.d. O. eine ganz eigen-
thüiulichc Färbung und Gestalt zusahen scheinen.) Herr von Fabeck hat
die fromme Absicht, „das Mangelhafte,, dieses Gerichtsverfahrens auf¬
zudecken , damit es gerechten „Reformationen" unterworfen" werden
möchte: er weiß aber vielleicht nicht, daß er durch die Herausgabe sei¬
ner Acten nur einen höchst wichtigen und interessanten Beitrag zur
Zeitgeschichte geliefert hat. Unmittelbar — wie Manche träumen mö¬
gen — wirkt man dadurch gar Nichts, die Vernünftigen wissen eS
längst, und daß die Dummen, die Halben und Jllusionsvottcn nicht
zu bekehren sind, diese Erfahrung ist längst gründlichst gemacht.
Mit einer Spannung ungewöhnlicher Art sieht man dem Aus¬
gang entgegen, welchen die Vcrmählungsangelegenhcit des Erzherzogs
Stephan mit der russischen Prinzessin Olga nehmen wird. Im
Publicum geht das Gerücht, die Unterhandlungen würden sich zerschla¬
gen. Was man wünscht, das glaubt man gerne. Die russischen
Agenten in Wien werden jetzt Gelegenheit genug haben, den Russen-
Haß zu schildern, den man in Wien findet. Mit Ausnahme eines
kleinen aristokratischen Kreises, der in Nußland die einzige Rettung
gegen die demokratische Kraft der Zeit erblickt, ist die Abneigung gegen
die Russen allgemein, beim Bürger wie beim Adel, im Militär- wie
im Beamtenstande. In der kaiserliche» Familie soll — wie es heißt
— die Vermählung auch auf ein Hinderniß anderer Art stoßen. Die
Mitglieder des österreichischen Kaiserhauses sollen nämlich unter einan¬
der die Uebereinkunft getroffen haben, nur katholische Ehen in Zukunft
zu schließen. Nun kann man der Prinzessin Olga nicht zumuthen,
daß sie zur katholischen Kirche übergehe. Nichtsdestoweniger werden in
Schönbrunn Vorbereitungen zum Empfang des Czaren getroffen, der
im Mai schon hier eintreffen soll. Nun, der Kaiser von Rußland ist
ein erfahrener Geschäftsreisender — er wird hier manchen profitabel»
Handel abschließen. Schon sein Abgesandter, der General Orloff, der
in einer außerordentlichen Mission hier verweilte, hat manche arme
Seele gekapert. Während der vierzehn Tage seines hiesigen Aufent¬
halts war er der Löwe des Tages, um den sich alle Konversation drehte.
General Orloff ist ein eigener TvpuS von Diplomaten. Im Gegen¬
satz von Andern, welche gewöhnlich die Sammtsciie herauskehren,
sucht er vielmehr hinter seiner militärischen Außenseite jeden Anstrich
von Schlauheit zu verbergen. Er kokettirt mit seinem Mangel an
Schulkcnntnisscu. .Is in'in it^n tu in.-,,!» j'ni bL-in<xmzi vu sagt er oft und
laut in großer Gesellschaft, und man hat volle Ursache, ihm Beides
zu glauben. Das athletische dominirende Aeußere des General Orloff,
seine ungeheure Körperkraft (er zerdrückte einen Silbcrtcllcr mit einer
Hand, wie man einen Bogen Papier zerknittert), daS Gebieterische in
seinem Wesen imponirte einem Theil unseres Hofadels nicht wenig;
einige junge Herren, die nächstens als Gesaudtschaftssecretäre zu figu-
riren hoffen, setzen schon den Hut ganz a, I-i, Orloff auf, strecken den
Leib, um einen halben Zoll an Länge zu gewinnen, und reiben sich
vergnügt und hoffnungsvoll die Hände, daß man ein geschickter Diplo¬
mat werden ?omne «-ins avuir rio» In.
Noch immer gibt die Tantieme viel zu sprechen. Baucrnfcld hat
die Register des Hofbnrgthcaters aufschlagen lassen, und es stellt sich
heraus, daß die zahlreichen Aufführungen seiner Stücke ihm nach dem
neu eingeführten Maßstabe Gulden Conventionsmünze einge¬
bracht hätten, während er kaum das Fünftheil dieser Summe bezogen
hat. Der erste Schriftsteller, der in Deutschland die Tantieme erhält,
ist Töpfer. Sei» Lustspiel „Canova's Jugendleben", welches künf¬
tige Woche zum Bcnefiee der Regisseure am Burgthcator zur Auffüh-
rung kömmt, ist die erste Novität seit der Einfichrung der neue» Hv-
norirungsmcthode.
Lenau arbeitet gleichfalls an einem dramatischen Gedicht: „Don
Juan". Doch ist es nicht für die Bühne bestimmt. ES sind Scenen,
in denen der Opern „Don Juan sein Leben abspinnt, lose und sprung¬
weise an einander gereiht, aber mit einer Poesie, wie sie dieser viel-
bchandcltc Stoff noch nicht gefunden hat; selbst Byron nicht ausge¬
nommen. Nach den Bruchstücken zu urtheilen, die Lenau uns vorge¬
lesen, wird diese Dichtung seine beste werden.
Die neue Oper eines englischen Komponisten (PaSqual Bruno
von Master Hatten), welche Staudigl zu seinem Benefice im Kärnt-
ncrthortheater zum Erstenmale gab, ist schmählich durchgefallen. Der
Komponist, der seit sechs Monaten hier lebte, um die Aufführung z»
betreiben, war im Ganzen noch glücklicher, als mancher berühmte
deutsche Meister, der seine Opern hier gar nicht anbringen kann.
— Die deutsche Einheit macht Fortschritte. Wir meinen dies
nicht ironisch, da eine gewisse Einheit wirklich vorhanden ist; eine ge¬
wisse Harmonie der verschiedenen Polizcigcwaltcn im Verdicken, Unter¬
suchen und Verfolgen. Ein prcußischcrMinistcr verbietet den preußischen Ju-
stizeommissären den Besuch der Mainzer Advocatcnversammlung und gleich
erfolgt dasselbe Verbot in einem Lande, das man sonst für den ge¬
schworenen Antagonisten Preußens hielt, in Baiern. Ist das nicht
herzstärkend? Hoffentlich werden auch andere Regierungen diesem Bei¬
spiel folgen. Andererseits hat Baiern den Gustav-Adolphvcrcin ver¬
boten, zu dessen Mitgliedern deutsche Könige gehören; und arme bai-
risch motestantischc Gemeinden dürfen nun, dem westphälischen Frie¬
den zum Trotz, keine Unterstützung vom Gustav-Adolphvercin anneh¬
men. Dies Beispiel wird doch auch collegialische Nachahmung finden?
-In Preußen fand es sie wenigstens darin, daß, wie der preußische Protestan¬
tismus überhaupt sich vom andern zu unterscheiden strebt, so auch die preu¬
ßische Gustav-Adolphstiftung mit den übrigen Zweigen derselben nicht
zusammenhängen soll. Die Stndcntenuntcrsnchungcn »ut Lcsevcrbote
i» Berlin und Halle haben in Leipzig ihre Nachahmung gefunden und
in Gießen ist vor Kurzem den Studirenden ebenfalls die Gründung
eines Lcscmuseums untersagt werden. Welch ein laues Mitglied des
deutschen Bundes die dänische Regierung ist, sieht man daraus, daß in
Kiel den Studirenden ihr revolutionäres Lesen, Versammeln und Ver^
einen ungeahndet hingeht. So ist man einig im Zerreißen und Aus-
einanderhalten. —
— Höchst sinnreich ist die Einrichtung der modernen, nach nord-
amerikanischen Muster gebauten Gefängnisse mit einsamer Absperrung.
Während nämlich die Gefangenen völlig isolirt und abgesperrt sind, so daß
sie selbst beim Spazierengehen einander weder sehen, noch höre», stehen
die Gefängnißanfsehcr und Büttel, durch gewisse Corridore und Gale¬
rien, fortwährend in der genauesten und unmittelbarsten Verbindung.
Jeder einzelne derselben kann nicht nur alle Verbrecher belauschen und
beobachten, ohne von ihnen gesehen und gehört zu werden, sondern
auch durch den leisesten Wink sich seinen Genossen mittheile». Da ist
Einheit und Einigkeit bei der größten Uneinigkeit. Freilich gibt es in
diesen Gefängnissen — keine Eisenbahnen.
— Sehr treffend zeichnet ein Korrespondent der „Deutschen All¬
gemeinen" daS NcqicrungSsvstcm eines großen deutsche» Staates. Erst,
sagt er, rufe ma» mit der Jdccnlarmtrommel die Menge auf den
Markt zusammen, dann suche man durch Püffe und Fahndungen sie
auseinanderzujagen. Man mag diese Politik unklug und unweise nen¬
nen: etwas romantisch Geniales, etwas humoristisch Kavalieres hat sie
jedenfalls.
— Hoffina»» v. Fallersleben wurde aus Berlin verwiesen, das
er auf kurze Zeit besuchte, weil er zu einem de» beide» Grimm ge¬
brachten Fackelzug kam, und von den Studenten — iionibilv clivtu!
— auch el» Vivat erhielt! Die berühmten Brüder Grimm fühlten sich
dadurch schrecklich compromittirt und gaben in den Zeitungen unnöthi¬
ger Weife eine Erklärung, wie sie nur „ein Hase mit acht Füßen"
geben kann. Welch ein Winde» und Drehen, um die Harmlosigkeit
ihres Verhältnisses zu Hoffmann zu beweisen, um sich zu entschuldigen,
daß sie mit ihm, der als Kenner altdeutscher Literatur ihnen schätzbare
Dienste geleistet, dessen Tendenzen sie aber ja nicht theilten, daß sie
mit diesem fürchterlichen Hoffmann noch bekannt sind! Und wie zart
ist die Versicherung, er (Hoffmann) müsse selbst fühlen, wie viel Ver¬
druß er ihnen durch sein unerwartetes und ungelegenes Erscheinen ver¬
ursacht habe. Zum Schluß aber domuit die Doctrinc, das Beste von'
Allen,. Man solle doch nicht „an ihnen rütteln" (l), sie hielte» es für
leichtsinnig und unbesonnen, jeden Augenblick seine Gesinnung „preis-
zugeben!" — DaS heißt, man soll seine Gesinnung vorsichtig bei
sich behalten und hüten wie ein seidenes Tüchlein, welches sich leicht
abnutzt, wenn man zu oft Gebrauch davon macht. Darum singt Heine:
Nur im innersten Gemüthe ein deutscher Mann die Freiheit hegt. —
So reden zwei von den Sieben! Solch eine Trennung ist in Deutsch¬
land noch zwischen dem Gelehrten und dem Man»! Selbst die Gesin¬
nung ist ihnen nur wie die Kenntniß einer todten Sprache. Wir wollen
kein Gewicht legen auf Vivats und ähnliche Demonstrationen, noch
verlangen, daß ältere Männer etwa dergleichen für eine That halten;
aber, wenn einmal die Jugend sich in sanguinischer Weise Luft macht,
gleich kaltes Wasser über sie gießen und sich, mit solcher Verläugnung
aller Conscquenzc», die Hände in Unschuld waschen— das würde kein
französischer oder englischer Gelehrter in solcher Stellung bei einem
solchen Falle. Die beiden Grimm sind als Männer der Wissen¬
schaft der höchsten Verehrung und Liebe würdig, aber daß auch sie
Professoren vom alten Schlage sind, haben sie durch ihre Erklärung
bewiesen.
— ES ist wohl zu beachten und anzuerkennen, daß in Berlin
die Universität selbst sich weigerte, Nauwerk'S politische Vorlesungen zu
schließen, indem sie in denselben nichts die Grenzen der Lehrfreiheit
Ucbcrschreitcndce- sah. Da erließ Herr Eichhorn kraft seiner unmittel¬
baren Ministcrialgcwalt das Verbot gegen Nauwerk. Eben so verhält
es sich mit der, schon früher angekündigten und von wohlmeinenden
Bcrüchtigungöfedcrn in Abrede gestellten Maßregel gegen die politischen
Vorlesungen des Hallenser Professors Hinrichs. Diese Vorlesungen
sind nun wirklich verboten worden; und zwar auf den unmittelbaren
Befehl des Herrn Eichhorn, welcher dem Professor Hinrichs die „wis¬
senschaftliche Befähigung", dergleichen Vorträge zu halten, absprach.
'Wenn, wie man sagt, in Zukunft nur vom Ministerium die Privatdo-
centen und außerordentlichen Professoren ernannt werden sollen, so kann
man sich denken, mit welcher Elle man die Fähigkeiten der akademi¬
schen Lehrer messen wirdXHintcr all den Studeutcnuntcrsuchnngcn und
Lehrvcrbotcn scheint doch ein tiefer gehender Plan gegen die jetzige
Verfassung der Universitäten zu stecken. Wäre eS sonst nicht kleinlich
von einer, mit europäischen Dingen beschäftigten Staatsgewalt, so viel
Polizei- und andere Maschinerie in Bewegung zu setzen gegen ein
Paar Vivats!, ein Paar Jünglingsrcdcu, überhaupt gegen eine rein
geistige Bewegung, die man doch gern als unreifes Raisonnement und
Larifarilärm darstellen möchte? Hat ein großer Staat nichts Größeres
zu thu», als Stunde für Stunde jedes unreife Wort eines Studenten
offiziell zu berichtigen? Daß eine ernstere Absicht im Hintergrund der
Bureaus schlummere, haben selbst die beiden Grimm in ihrer Erklä¬
rung angedeutet. Aber welchen Rath knüpfen sie an ihre Voraussag-
ung? Still zu s"n, sich ruhig zu halte», keine» Vor wand zu gebe».
Recht großmüttcrlich. I» rer „Deutschen Allgemeinen" ivird sehr
wahr bemerkt, daß es zu keiner Zeit weniger als jetzt an Anlässen zur
Beschränkung der aeademtschen Freiheit gefehlt habe; daS Studenten-
thum war stets turbulenter als jetzt, ohne daß man ans den sprudeln¬
den Jugendübermuth ein Recht zur Dämpfung des Jugcndmuths ge¬
gründet hätte. Wenn man aber will, kann man die Gelegenheit von
jedem Zaune brechen; Männer, wie Grimm, müßten ein freies, keckes
Wort sprechen in solchen Fällen; wer soll reden, wenn es die
gefeierten Helden nicht thun?,,Wenn Leute, ohne ehrwürdige Autorität,
die Wahrheit sprechen, nennt man sie ja Narren und Schreier. Ein
Stoßseufzer über die inj»na t,-in>in,'um aber, ein frommes Händefalten
und eine Ermahnung, wie sie die Henne den Entenküchlein gibt, das
heißt nicht reden, nicht männlich handeln für eine Sache, deren gutes
Recht so offen und klar ist.
— Tolstoi suchte in seiner Schrift gegen Custinc die Russcnfurcht
zu pcrstffliren. Das ist von einem russischen Agenten klug und na¬
türlich. Sollte man aber glauben, daß es Deutsche gibt, die, vor ei¬
tel Gutmüthigkeit, die Russophobic lächerlich finden und sich über die
antirussischeu Schildcrhcbungen der deutschen Presse wundern? Diese
Gemüthlichen sehen keine Gefahr, bis sie ihnen als Faustschlag in's Gesicht
kommt. Man kann die Russeufurcht lächerlich machen, wenn sie aus
phantastischen Träumen von einer „unifvrmirtcn Völkerwanderung",
einer kosakischon Weltherrschaft entspringt. Es ist aber anders und
Russeufurcht ist nicht das rechte Wort für die Empfindungen, die in
Bezug auf Se. Petersburg herrschen. Man wird sich hoffentlich nicht einbil¬
den, daß wir den Heldenmuth, den überwiegenden Geist und die moralische
Kraft der großen und freien russischen Nation fürchten. Die offen zuschlagende
Bärentatze würde man nicht scheuen, wohl aber die sammtweiche, heim¬
lich kratzende, diplomatische Katzenpfote. Nicht als ehrlicher Feind wird
Rußland gefürchtet, sondern als Hausfreund, als Ohrenbläser, als An¬
Hetzer, als Beobachter und als Sämann jeder Art von Mißtrauen
und Zwietracht. Haben die deutschen Universitäten, die deutsche Presse,
die deutschen Verfassungen nie was von dem nächtlichen Fcosthauch
des nordische» Einflusses verspürt. Oder ist es nicht genug, daß wir,
schon russische Berüchtigcr haben, die mit euphemistischer Feinheit die
russische Barbarei zu beschönigen, plausibel zu machen und den deut¬
schen Widerwillen vor russischer Denkungsart abzustumpfen suchen? —
Davon abgesehen, gibt es bekanntlich auch materielle Punkte, wo man
Rußland auf die Finger zu sehen hat.
— Schuselka ist, auf russische Requisition, wegen seines Buches:
„Die orientalische d. i. die russische Frage" in einen neuen Prozeß ver¬
wickelt worden. Oesterreich soll also einen Schriftsteller, der Oester-
rcichs Interessen in loyaler und würdiger Weise gegen Rußla"^ "er¬
focht, auf dessen Wunsch bestrafen. Das wird wohl nicht geschahen.
Aber schon die Zumuthung ist empörend. Die Schuld liegt d,er
übertriebenen Strenge der österreichischen Ccnsurgesctze, die eine Schrift
ohne das ü»,n'imij.tur der österreichischen Behörde im Auslande drucken
zu lassen verbieten. Schusclka's Schrift ist in Hamburg bei Hoffmann
und Campe erschienen. Rußland brauchte ihn also nur bei der Wie-
ner Censur zu denunziren und auf die Anwendung der österreichischen
Gesetze zu dringen.
— Ein neues Buch über Nußland: „Mvstsres as !->, Kussie oder
I^s, Ku»si>-, I-r kravos et I'^IIemnxn«, reSiKves für los notss ä'un vieux
,Ils>I»»i!>!ez von I<"»iirni>'r, wird nächstens in deutscher Uebersetzung (bei
Gutsch in Karlsruhe) erscheinen.
— Wer an der französischen Nation verzweifeln möchte — sagt
Dahlmann in der Einleitung seiner so eben erschienenen Geschichte der
englischen Revolution — weil sie nach ihrer größere» Umwälzunq v?n
nun bald zwei Menschenaltern noch immer keine Ruhe wieder finden
kann, dein soll man nur vorhalte,,, daß das englische Volk zwei Jahr¬
hunderte brauchte, um die seine zu vollbringen, ihre Früchte zu sam¬
meln und von ihr zu genesen. Denn schon unter den Tudors nimmt
sie in der Kirche ihren Anfang, drückt gewaltig von oben nach unter,
bis dann uuter den Stuarts ein unqcstümcr Gegendruck erfolgt. —
Die Machthaber in Deutschland, die so gerne auf die Stammcögcmcin-
schaft zwischen Deutschen und Engländern hinweisen lassen, um
uns vor französischen Sympathien ein Gegengift einzugeben, können
ans Dahlmann'ö Buch mit großem Nutzen sich belehren, daß auch in
England Druck und Gegendruck naturgemäß einander folgten. —
— Ruge hat seine Pariser Revue damit begonnen, daß er den
deutschen Geist als solchen „niederträchtig" nennt. Ist das eine Albern¬
heit ,ulmi oder s pciswi'wii? Börne, dem viclverlästcrtcn, läßt sich
keine Plattitüde der Art nachweisen; durch sein schwärzesten Verwün¬
schungen geht doch ein Ton des gerechten Schmerzes und der Leiden¬
schaft, leuchtet doch eine Flamme des Geistes, die mit ihm versöhnt und den
Fluch in Segen wandelt. Wenn er daS deutsche Volk verkannte, so geschah
es inVcrzwciflnng, und in seinen bittersten Pillen war stets ein Gran Hellc-
borus. Man glaubte sonst, nur ein deutscher Jude könne so hart über das deut¬
sche Volk urtheilen; nun, Rüge ist ein Deutscher von Race, ein echt deut¬
scher philosophischer Haudegen Von altem Schrot und Korn. Und er
bricht in trockenem Kathcdcrton den Stab über seines Volkes Geist.
Vielleicht waren Börne's Anklagen nur darum so verletzend, weil sie,
selbst beim blindesten Zorn, noch etwas Treffendes hatten.
— Der Berliner GucMstner sin Glasbrcnncr'ö Berliner Volks-
scenen XX. Heft) verbreitet sich wieder sehr ergötzlich über Europäische
Politik, über die griechische Revolution, über die Legitimisten und den
Herzog von Bordeaux, über die Jesuiten in der Schweiz, den deut¬
schen Bunocstag u. s. w. Und das Alles ans offener Straße, vor
ein Paar Gassenjungen und einem Schneidergesellen; kein Minister
beschränkt diese Lehrfreiheit, nur der „Jcnsdcirm" treibt ihn um zehn
Uhr nach Hause. Manche gute Lehre wird dabei wiederholt. Wenn
'ne Nation wat will, sagt er, oder wenn 'ne Nation wat will,
dann ist Alles durchzusetzen. Wäre doch in Berlin so viel Weisheit
bei Geheimräthen. und anderen großen Herren, als bei Eckenstehern und
Guckkästnern Witz'ist!
— Das Geheimniß der vielen „Geheimnisse", die uns jetzt be¬
stürmen? Wer etwas wirklich Neues sagt, entdeckt immer Geheimnisse;
jedes gute Buch enthält Mysterien, die vor Aller Augen liegen uno
die Niemand sieht. Es ist für jedes ausgezeichnete Buch daher gewiß
der treffendste Titel. Jetzt regnet es aber von allen Seiten so viel ge¬
niale, echt deutsche Werke dieser Art, daß man mit dem Mann in
der Carricatur des Pariser Charivari, der, durch eine enge Gasse gehend,
von einem Mvstcricnregcn getroffen wird, rufen möchte: Gibt es doch
Parapluies und Parasols", warum gibt es keine ParaimMrcs?
-— In der griechischen Nationalversammlung stellte der russisch
gesinnte Zographos den Antrag, man möge beschließen, daß die Re¬
genten künftig griechischer Religion sein müßten; worauf die Häupter
der französischen und der nationalen Partei, Kolcttis und Maurokordatos,
erwiederten, daS sei nicht zu verlangen, denn in der ganzen Welt gebe
es kein Regentenhaus von griechischer Religion, als das russische, und
man werde die Könige Griechenlands doch nicht zwingen wollen, blos
russische Prinzessinnen zu heirathen > Ein anderer Deputirter sprach sich
sogar für die bürgerliche Berechtigung der Juden aus. Als künftigen
König Griechenlands bezeichnet man, im Fall der Entfernung Otto's,
einen Enkel Louis Philipp's, der, nach der „Dorfzcitung", schon fünf
Jahre alt und durchaus nicht abgeneigt ist, die Zügel der Regierung
zu ergreifen.
— Die Königin Pomare auf Taiti hätte bald einen Weltkrieg
hervorgerufen. Frankreich und England, d. h. Guizot und Peel, lagen
sich beinahe schon in den Haaren. Pomare scheint die Franzosen per¬
sönlich mehr zu lieben, die englischen Kanonen aber mehr zu achten.
„Der Mensch ist ein Narr, und ich Sir ein Mensch", sagt Rahel
in einer Anwandlung ihrer Mercutiolaune. Leider fand ich nur zu
oft Gelegenheit, diesen Satz an mir zu bewahrheiten, doch will ich
hier nicht von meinen speciellen Verrücktheiten sprechen, sondern von
einer, die ich mit dem größten Theil meiner Mitgeschöpfe gemein
habe. Sie besteht darin: nach den Freuden und Genüssen, die uns
zugänglich wären, nicht froh begehrend, heiter dankend die Hand aus¬
zustrecken. Wenn wir klug genug wären, aufzunehmen, was sich uns
darbietet, wir fänden kaum noch Zeit, über Mangel zu klagen. Aber
nein! stumpfsinnig und verdumpft bleiben wir im Winkel fitzen, Alles
scheuend, was das Einerlei unserer Tage unterbräche, und spinnen
uns immer tiefer in diese unselige Indolenz ein, in der wir aber statt
zum Schmetterling zur Raupe werden.
Ein Paar Beispiele zur Erläuterung werden nicht schaden:
Sommerlang bist Du in der heißen Stadt gesessen; von Bin<
men hast Du nur die armen, halbverschmachteten gesehen, die man
auf den Markt hereinbringt, von Bäumen sahst Du nur die staub¬
bedeckten, verkümmerten, die, wenn sie Beine hätten, gewiß vernünf¬
tiger wären als Du, und nicht an dieser Stelle blieben. Endlich
hast Du einen nothwendigen Besuch auf dem Lande zu machen, kurz
Du mußt hinaus und, ergrimmt über dieses Ungemach, das Deine
gewohnte EMenz unterbricht, steigst Du in den Wagen. Du hast
die Barriere und die der Stadt zunächst gelegenen Ortschaften Pas-
sirt; wie wird Dir auf einmal? Was belebt Dein staunend Auge
so plötzlich? Was durchströmt deine Adern mit dem seligen Gefühl
des Seins? — Das war's, was mir fehlte, rufst Du entzückt, das
war's, wornach ich mich ziellos sehnte! Diese Luft, die mich wie der
Flügelschlag seliger Geister umrauscht; diese kühngeschwungenen, grün¬
laubigen Bäume, denen ihre verkrüppelten, bettelhafter Stadtvettcrn
Mitleid einflößen müssen; dieser Aether, der von Qualm und Dampf
so wenig weiß, wie eine große Seele vou Gemeinheit — o wie
schön, wie herrlich, wie heilig! Thor, der ich war, diese Himmels¬
güter bis jetzt zu entbehren! Aber ich will es gut machen, aufthauen
will ich und aufblühen, mich weihen und segnen lassen von dem gro¬
ßen liebevollen Geist. Morgen zieh' ich aufs Land, morgen —
— Ganz gut, unterbricht Dich hier eine dünne, scharfe, jeden Cho-
ral der Begeisterung übertönende Stimme, nur vergiß nicht, daß wir
morgen den zwanzigsten September haben, und daß in drei Wochen
die ganze Herrlichkeit, die Du jetzt anstaunst, vorüber sein wird.
Warum bist Du nicht früher so klug gewesen? Für dies Jahr haft
Du nichts Anderes zu thun, als die Doppelfenster bald einhängen zu
lassen, den nöthigen Holzvorrath zu bestellen und Dich nach den
neuen Wintermoden zu erkundigen. Wenn Du mit der Natur schwär¬
men willst, so fange ein anderes Mal früher als Ende September
damit an. Inzwischen vertröste Dich bis zum nächsten Frühling.
— Bis zum nächsten Frühling? Und wer sagt mir, daß ich ihn
erleben werde?
Oder:
Du hast einen Freund in einer altbekannten Stadt; nach langer
Abwesenheit kehrst Du dahin zurück. Dein Herz sehnt sich darnach,
den Freund zu sehen, in den alten treuen Augen zu lesen, daß, wenn
Alles zusammenbrach, hier etwas Festes, Ewiges blieb. „O, wenn
er käme!" ruft es in Dir, aber Du thust nicht das Geringste, um
ihn kommen zu machen. Und er? Ach Gott! wenn er nicht gerade
Zvllvisitator oder im Paßbureau angestellt ist, so kannst Du lange
in der großen Stadt sein, ohne daß er um Deine Anwesenheit erfährt.
Warum rufst Du den Freund nicht herbei? Weißt Du nicht, daß,
was Dich jetzt belastet, in ein vergessenes Grab hinabstürzte, wenn
Du weinend an seine Brust sänkest? Was hindert Dich? — Ich
will Dir's sagen: Dich hindert, daß Du, wenn es sich darum han¬
delte, durch das Aufheben eines Fingers Dein Leben zu retten, zu
indolent, zu verdrossen wärest/ ihn aufzuheben. Endlich überwindest
Du Dich, wirst wieder einigermaßen, wie ein Wesen mit einem mensch¬
lichen Antlitz sein soll, Dein ganzes weh- und wonnetrunkenes Herz
zittert in einigen Zeilen zu Deinem Freunde hin. — Und wenn er
sich nun zum Kommen eben so Zeit ließe, wie Du zum Rufen?
Doch nein! sieh, sieh! da ist er. O stürze ihm nur entgegen, um-
schlinge ihn mit den beiden bebenden Armen, presse ihm die ganze
schwere Vergangenheit in ein einziges Wort zusammen, das der Bann¬
spruch sei, der Deine Seele befreie, erlöse. Und dann umschlinge ihn
noch fester, sage ihm, wie Du Dich uach ihm gesehnt, wie Du ge¬
schmachtet in dem Kerker Deines eigenen Ichs, wie aber jetzt Alles
lichtvoll ausgeglichen sei und Euere Tage vereint hinfließen sollen in
den Strom Gottes. — Man trennt uns nicht mehr, rufst Du, wir
bleiben beisammen für immer, nicht wahr? — Da schüttelt Dein
Freund leise das Haupt, still blickt er Dir in die hoffnungstrahlen-
den Augen, dann spricht er:
— Nein, wir bleiben nicht beisammen, denn ich muß morgen rei¬
sen. O warum warst Du mir lange so nahe und ließest mich Deine
Nähe nicht wissen. Gehe die versunkenen Tage durch und erwäge,
was Du uns an Glück geraubt! —
Er scheidet und Du bleibst allein zurück, allein mit dem Bewußt¬
sein Deiner Thorheit, Deiner Unwürdigkeit. Dein armer Trost ist's,
auf die Zukunft zu hoffen. Und wer ersetzt Dir die Vergangenheit?
Wer belebt und verschönt die Stunden, die Du ungeschminkt ver¬
sargtest? Du machst tausend Plane, wie Du, wenn Du dein Freunde
wieder begegnest, es anders, besser machen willst. Und wer sagt Dir,
daß Du ihn wiedersehen wirft? —
Nun komme ich zu meiner Specialität-
Ich liebe die Kunst als deö Lebens Erstes und Höchstes, viel¬
leicht als sein Heiligstes, denn indem sie uns erfreut und entzückt,
macht sie uns auch größer und besser. In welcher Form sie sich
offenbaren mag, sei'S als Gedicht, als Gemälde, als marmornes
Götterbild: immer ist sie mir der Engel, vor dem sich meine Kniee
unwillkürlich beugen. Nun höre mich, um meine Blödsinnigkeit zu
bestaunen:
Den ganzen Sommer über, den ich fern von der Stadt zuzu-
bringen pflege, sehne ich mich nach Genüssen der Ku> se, vor Allem
nach Gemälden, vergegenwärtige mir jene, die ich am meisten liebe,
verlange nach ihnen, wie man in tiefer Winternacht nach Morgen-
licht verlangt, und wenn ich dann im Spätherbst nach der Stadt zu¬
rückkehre und nur ein Paar Straßen weit zu gehen brauchte, um
meine Sehnsuchtsträume zu verwirklichen — thue ich es dann? Nein.
Ehe ich mich dessen versehe, sind alle meine Stunden eingeschachtelt,
ich kann keine mehr zum besonderen Gebrauch herauskriegen. Die
Galerien sind nur Vormittags geöffnet; da bilde ich mir nun aus
alter Gewohnheit ein, ich müsse schreiben. Lächerlich. Wenn ich be¬
denke, womit ich die Zeit vollgeschrieben habe, möchte ich mit reui¬
gem Bedauern seufzen: Warum bin ich nicht lieber — ich will nicht
einmal sagen, in Galerien — nein! Nur ganz einfach spazieren ge¬
gangen! Was schrieb ich? Lieder, die einen feurigen Kreis um mich
zogen, in den Niemand zu treten, den ich nicht zu verlassen vermag;
dunkle Sagen von der Liebe Glück und Ende; Märchen, womit ich
meine Seele trösten wollte und sie noch trostloser machte; Briefe, in
die ich voll heiligen Vertrauens jedes Geheimnis; meines Wesens
niederlegte und die dann als meuchlerische Waffe gegen mich ge¬
braucht wurden. Ja, bei Gott! es wäre klüger gewesen, spazieren
zu gehen.
Ich muß mich aber nun wirklich zusammennehmen, sonst komme
ich vom Hundertsten in's Tausendste und spreche am Ende vom Da¬
lai-Lama, statt von dem schönen Bilderschatz, den ich hier in Wien
entdeckte.
Ein sehr theuerer und sehr edler Freund erwähnte in meinem
Beisein der Gemäldesammlung Sr. Excellenz, des Ministers Grafen
voi: Kolowrat. Nun kann ich von Bildern nicht sprechen hören,
ohne, wie Friedrich's des Großen Schlachtpferd, wenn eS Trompeten^
schall vernahm, die Ohren zu spitzen. Ich fragte weiter nach und
mein Interesse für die Sache bemerkend, bot mir mein Freund seine
Vermittlung an, um mir die Erlaubniß zur Besichtigung zu verschas-
fen. Allein bringe ich mich fast nirgends hin und habe immer tau¬
send Votwände, um mein träges Versäumen vor mir selbst zu Mi-
schuldigen, doch wenn man sich meiner so zu sagen bemächtigt und
mir Tag und Stunde finrt, kann man sich darauf verlassen, daß ich
zuhalten werde. Als an dem bezeichneten Tage mein freundlicher
Beschützer mich abzuholen kam, fand er mich bereit, und wir traten
den Weg nach dem Hütel des Grafen Kolowrat an.
Meine Absicht ist nicht, einen Katalog dieser Gemäldesammlung
zu liefern, jedes einzelnen Stückes derselben zu erwähnen; aber nicht
versagen kann ich mir's, einzelne Bilder ausführlicher zu besprechen
und den Eindruck zu schildern, den sie auf mich machten.
Bei dem Eintritt in den ersten Saal fielen mir vor Allem zwei
große wunderbar schone Landschaften in's Auge. An diesem Meere,
dieser Luft, diesem in phantastischen und doch weichen Formen em¬
porstrebenden Strand mußt Du den Süden erkennen. Das ist keine
Veduta, kein abgeklatschtes Porträt einer schönen Gegend: eine hei¬
lige Offenbarung der Natur ward hier erfaßt, festgehalten und in
ernster Treue vor das Auge des Betrachtenden gebracht. Das eine
dieser Bilder stellt die Küste von Amalfi dar in seltsamer, eigenthüm¬
licher Morgenbeleuchtung: glühend flammt es um die Hohen, die
Strahlen spiegeln sich in der Meeresfluth, das Wasser zittert, als
wandle der Geist Gottes darüber hin. Da ist die Unermeßlichkeit
des Oceans aufgerollt, nicht weil uns ein großes Stück Meer ge.-
zeigt, sondern weil die Seele entfesselt wird, die Unermeßlichkeit zu
begreifen. Künstlerische Illusion muß immer nur eine höhere Wahr¬
heit sein, sonst ist sie eitles Blendwerk sür Kinder und Thoren. —
Ueber die ebene Meeresfläche gleitet ein Schiff hin; die Gestalten,
die es bevölkern, sind südlich wie die Natur, die sie umgibt. Alles
ist hier im Einklang, Alles groß und still. Richt der Zauber der
sichtbaren Erscheinung ist es, was Dich hier beschleicht: dieser Ernst,
diese Weihe gehen weit über alles Sinnliche draus; was auf ande¬
ren Gemälden letzter Zweck» das ist hier nur Mittel, und die Schön¬
heit der Darstellung der strahlende Leib des Gedankens. — Auf dem
zweiten Bilde erblickst Du gleichfalls eine ^italienische Landschaft,
Vico bei Sorrent. Im Hintergrunde ragt der rauchende Vesuv; wie¬
der dehnt sich die unabsehbare Meeresfläche hin, wieder bilden Ge¬
stalten aus Neapels Volk die Staffage, und doch wie anders! Tiefer
Frieden, selige Klarheit und Nuhe lächeln Dir hier entgegen, wäh¬
rend sich Dir dort das geheimnißvove Reich der Ahnung erschloß.
Wie warm, wie heiter ist dieser Himmel; ob den Stürme und Ge¬
witter wohl heimsuchen können? Wie weich, wie kosend spielt das
Wasser um die Glieder der Badenden! Wie der kleine Junge, der
darin herumplätschcrt, sich seines, ich mochte sagen heimathlichen Ele¬
mentes freut! Wie hier Natur und Menschen die Wonne am
Dasein zu empfinden scheinen! Ach ja! ich mag's gerne glauben,
daß, wer dieses Land gesehen, nie wieder ganz unglücklich werden
kann; den Dust solcher Erinnerung kann das Gemüth nie wieder
verlieren. Sich nur, wie sorglos diese Menschen sind, wie kräftig,
wie froh! Und warum sollten sie sich auch kümmern? Gott liebt sie
gewiß, da er sie hier geboren werden ließ. — Newbell hieß der Mei¬
ster, der diese beiden Bilder malte. Der Name ist Dir unbekannt?
Er ist es wohl Vielen, und doch war der Künstler, der ihn trug,
einer von denen, die im flammenreichcn Herzen eine Welt von Schön¬
heit hegen. Deutschland! für wie reich mußt Du Dich halten, um
solche Begabung unbeachtet zu lassen.
Laß uns nun vor dem Bilde des Mailänders Hayez verweilen.
Das Sujet desselben will ich Dir mit wenigen Worten erläutern.
Vittore Pisani, bis dahin der lorbeerreiche Führer von Venedigs
Schaaren, verlor im Jahre 1379 bei Poln in Jstrien eine Seeschlacht
gegen die Genueser; sein Unglück wurde ihm als Schuld angerech¬
net oder vielmehr: die Republik, an Niederlagen nicht gewöhnt, be¬
argwohnte den Helden eines Einverständnisses mit Genua, berief ihn
zurück und ließ ihn in'S Gefängniß werfen. ES war dies ein Wüthen
gegen sich selbst, denn Pisani war durch keinen Andern zu ersetzen;
so geschah es denn, daß der Feind Vortheil über Vortheil errang, in
die Lagunen eindrängt Chiezza nahm und Venedig in solcher Nähe
bedrohte, daß Rettung unmöglich schien. Die einzige, letzte Hoffnung
der Republik war auf das Volk gestützt; die Bürger wurden bewaff¬
net, Alle, die den Seedienst kannten oder ihn zu erlernen bereit wa¬
ren, aufgerufen. Als Antwort auf diese Aufforderung tönte es aus
allen Reihen des Volkes entgegen: 8v v»i vvletu c!le -mäl-imo i»
Eitler», l1»decl it museo cnriitim», I^essei-Vittorio k'i-z.'mi, all'6 i„
I>ri<;in,ete. Das Volk war seinem alten Helden treu geblieben, und
vielleicht um so mehr, je bitterer es ihn von der Signoria gehaßt
sah; Pola war vergessen, man gedachte nur mehr der Siege in Dal¬
inarien und bei Aelina. Pisani war der Einzige, zu dem das Volk
Vertrauen hatte.
Wohl war die venetianische Negierung nicht daran gewöhnt, sich
von der Menge Gesetze vorschreiben zu lassen; als aber das Volk
die öffentlichen Plätze bedeckte, den herzoglichen Palast umstürmte, die
Lüste mit dem Ruf: Es lebe Pisani! erfüllte, da sah sich der Senat
zum Nachgeben gezwungen, und Pisani feierte den schönsten Triumph:
zurückberufen zu werden als der Einzige, der fähig, das Vaterland
zu retten.
Der Maler hat den Augenblick erfaßt, wo das Volk seinen Lieb-
ling begeistert die Riesentreppe hinanträgt, an deren oberen Ende ihm
der Doge Andrea, Contarini, von der Signoria umgeben, entgegen¬
tritt. Dem Befreiten nach drängt sich eine dichte Menschenmasse, und
ringsherum ist die Volksmenge geschaart, die Pisani'S Geschick zu
ihrem eigenen gemacht hat. Die Composition ist von bewunderungs¬
würdiger Klarheit, was bei so zahlreichen Figuren schon an und für
sich als ein großes Verdienst gelten mag. Aber wie herrlich ist zu¬
gleich die Individualisirung jeder Gestalt, der Ausdruck jedes Kopfes,
wie wahr und warm das Colorit! Sieh den greisen Pisani mit dem
edeln, selbstbewußten Antlitz, das doch so ganz ohne Stolz, ohne Ue-
berhebung ist! Du liesest in seinen Zügen die Worte, die er nach Sa-
bellico's Zeugniß damals sprach: Nie kann die Rede von einem Un¬
recht der Republik gegen einen ihrer Bürger sein. — Ihm gegenüber
steht der Doge, ernst und fest wie ein marmornes Standbild, die
Hoheit des Hauptes der Republik auch in diesem Augenblicke nicht
verläugnend. Er scheint zu sprechen: Du wardst der Freiheit beraubt,
weil Du Venedigs Flotte verlorst; wir geben Dir die Freiheit wie¬
der, um daß Du Venedig rettest. So zeige uns nun, welche von
beiden Entscheidungen die gerechte war. — Betrachte nun die Sena¬
toren, besonders den zur Linken des Dogen, die Nobili, das umdrän¬
gende Volk — dämmern Dir dabei nicht Gentile Bellini's Bilder
auf, Scenen aus des Künstlers Tagen schildernd? Das sind Vene-
tianer, nicht etwa blos in Gewandung und nachgepinseltcr Aeuße»
klebten, nein! Venctigner bis in's innerste Herz hinein. Wäre nicht
die größere Freiheit der Ausführung und eine gewisse Jdealisirung
der Frauengestalten, die bei dem alten Meister etwas steif und tlo-
steriles, Du würdest wahrhaftig glauben, vor einem Bellini zu stehen.
Im ersten Moment ist man versucht, zu glauben, das Bild müsse
große Studien gekostet haben; im zweiten fühlt man: Nein! Ein
begnadeter Augenblick brachte es vor den Geist des Künstlers, da
war es fertig. Er brauchte sich dann nur noch die Mühe zu nehmen,
es zu malen.
Siehst Du dort das märchenhaft schöne Frauenbild mit dem
hellen Turban und den lang herabwallenden schwarzen Locken? Es
ist Ammerling's Orientalin. Sind diese Züge auch nicht eben orienta¬
lisch (dazu fehlt ihnen meines Erachtens das Ernste, Großartige des
morgenländischen Typus), so bleibt es doch immer ein entzückendes
Antlitz. Das Bild ist im Kupferstich so allgemein verbreitet, daß es
überflüssig wäre, eine ausführliche Schilderung desselben zu geben;
nur Eins möchte ich bemerken: Hier ist ein Körper nicht blos auf
magische Art beleuchtet, nein! er saugt das Licht ein, er erglüht da¬
von, wie eine Blume. Es ist eine Transfiguration.
Die „zwei Schwestern" von Schiavone gehen mir nicht so
nahe an, obgleich ich ihnen ein gewisses Verdienst durchaus nicht
bestreiten will. Mir aber ist Schiavone zu sehr Mann der Conve-
nienz. Er hält Eleganz für Anmuth. Die beiden Frauenköpfe, die
da aus ihren Nahmen herauölächeln, sind mir zu kokett. Ich glaube
weder an die Unschuld der Einen noch an die Liebesträumerei der
Andern. Wir wollen sie verlassen und hintreten zu dem trauern¬
den Sulioten, von Lipparini mit unübertroffener Kraft und Herr¬
lichkeit gemalt. Tempelruinen im Hintergrund, gestürzte, zertrümmerte
Säulen, sinkender Tag — — ja, es will Abend werden! Und die
Trauer um dies Sinken, Scheiden und Vergehen, wie spiegelt es sich
in dem ernsten, gramvollen Antlitz des Sulioten. Er steht tief in
sich versunken, mit gesenktem Haupt und dunkelglühenden Augen, tra¬
gisch ruhig und erhaben. Dies mag der Ausdruck von Sparta's
Söhnen gewesen sein, als sie bei Thermopylä dem Tode sich weihten.
Das ist kein Theaterheld wie die französischen Parodien der Antike:
ein Mann ist's, ein starker, kühner Mann, dem Sklaverei tief in die
Seele schneidet, so tief, daß er gewiß nichts Großes zu thun glaubte,
wenn er sein Leben hinopferte, um sein Land von den Todten zu er¬
wecken. Rührend mild, versöhnungsreich und hoffnunggebietend war
Lipparini's Idee, die alten Trümmer mit frisch treibenden Ranken zu
überbreiten. Ich gedachte dabei Grün's schöner Worte von der
Natur:
„Sie läßt den grünen Teppich niedergleiten
Auf allen Moder der Vergangenheiten!"
Und dieser ewig regencrirenden Kraft wollen wir unser und der
Welt Geschick vertrauen! —
Wir kommen nun zu einem Gemälde Müller's (Feucrmüller
nennen ihn die Münchner). Es Ist eine Scene aus dem Tyroler-
krieg. Bon dem Widerscheine des in Flammen auflodernden Dorfes
beleuchtet, stehen oder knieen Landleute auf dem Dach ihres Hauffe
und schießen auf die Blauen, die in einiger Entfernung kämpfend
sichtbar sind. Unübertrefflich ist der Ausdruck im Kopf deS Alten,
der so besonnen, ruhig und sicher zielt und seinen Mann gewiß nicht
fehlen wird. Eben so ausgezeichnet ist der kleine Junge, der mit
dem ausgestreckten Finger dem älteren, neben ihm knieenden Bruder
deutet, wohin er zu zielen habe. Das stehende Mädchen, das an
dem Kampfe gleichfalls Theil nimmt, ist eine schöne, jugendkräftige
Gestalt, nur vielleicht im ! Ausdruck nicht so einfach und unbe¬
fangen, wie es zu wünschen wäre und wie es die Uebrigen auch
wirklich sind. Ungemein gelungen ist die Färbung des Bildes; die¬
ses Gemisch von Rauch, Pulverdampf und Flammenwiderschein kann
nicht treuer und wirksamer gegeben werden.
Zwei Bilder von Canella darfst Du ja nicht übergehen; es sind
Ansichten von Prag, „der alten, der wunderschönen Stadt", wie eS
im Schwerinliedc heißt. Die eine derselben ist von der Kleinscite,
die andere von der Färberinsel aufgenommen. Der königliche Hrad-
schin schwebt wie eine Krone über der herrlichen Stadt, der ihre vie¬
len, mitunter so seltsam geformten Thürme und Kuppeln ein nicht¬
europäisches, phantastisch schönes Gepräge geben. Stark, fest und
kühn wie die Zeit, die sie erbaute, schwingt sich die Moldaubrücke
von einem Ufer zum andern. Welche Erinnerungen drängen sich
hier auf, welche Schicksale und Kämpfe wurden hier ausgcfochte» !
Mir ist die alte Brücke in Prag das, was mir in Venedig der
Marcusplcch ist. Canella hat die eigenthümliche Physiognomie Prags
aufgefaßt, wie dies von einem Maler feines Ranges zu erwarten
stand. Das Einzige, was mir nicht ganz richtig scheint, ist die Farbe
des Wassers, das ich zu blau, zu durchsichtig finde. So ist weder
die Moldau, noch ein anderes nordisches Gewässer überhaupt. Wahr¬
scheinlich wurden beide Bilder in Prag entworfen und erst später in
Italien ausgeführt. So läßt sich's leicht erklären, daß der Maler
die Farbe seiner heimathlichen Ströme auf den Strom einer nördli¬
cheren Gegend übertrug.
Nun kommen wir zu einem hübschen Gemälde Eberle's: eine
Schafheerde, in die ein Paar gar grimmige Wölse hereinbrechen.
Das arme geängstigte Schasvolk'hat sich zu einem wirren Knaul
geballt und stürzt in Hast einem AbHange zu, von dem der Vorder¬
mann oder eigentlich das Vorderschaf, ont»« Leithammel, auch schon
hinabkollcrt. Die Verfolger sind dicht hinterdrein, sie sehen so ver¬
zweifelt ausgehungert aus, daß auf keinen Pardon zu hoffen ist, ja
der Eine ist schon im Begriffe, ein Lamm zu erfassen. Diese bedräng¬
ten Schafe, was für Angst mögen die ausstehen, wie mögen die ar¬
men Thierherzen fliegen lind hämmern! Aber gottlob! dort kommt
der Hirt herbeigeeilt, er trägt einen derben Knüttel — wenn er nur
noch zur rechten Zeit kommt, wenn der Knüttel nur ausreicht! Eins
von den Thieren wird gewiß geopfert werden müssen, und ich wüßte
nicht, welches ich dem blutigen Verhängniß weihen möchte, so un¬
schuldig dumm und unglücklich sehen alle aus. Ich habe von jeher
ein großes, mit Rührung vermischtes Faible für alle Dummheit ge¬
habt, notabene für solche, die nicht sprechen und mich folglich nicht
langweilen kann. Nur sprechende und schreibende Dummheit habe
ich en tiorreur.
Sieh diesen Pferdestall von dem Münchner Adam; steh Dir vor
Allem die Pferde recht genau an, denn die werde ich Dir nicht be¬
schreiben. Ich bin eine gar zu schlechte Hippologin; ich habe Pferde
zwar ganz lieb, wenn sie meine Trägheit im Wagen weiterziehen,
aber sonst befasse ich mich nicht mit ihnen. Dagegen habe ich eine
um so größere Passion für Hunde; nicht für die kleinen Kläffer, die
den Eintritt in manches Zimmer unleidlich machen, sondern für schnell-
kräftige, kampffreudige Jagdhunde und dann für die armen, verach¬
teten, nur selten durch einen fetten Bissen getrösteten Stallhundc.
Jene liebe ich, weil sie die Helden, die Anderen, weil sie die Pro¬
letarier ihres Geschlechtes sind; nur der eier-8 owl ist mir zuwider.
Die Familie, die ich Dir hier vorstellen will, besteht ans einer Mama
und vier oder fünf Kindern, „aus dem Volke." Die Pferde spelta-
kuliren im Stall, darüber ist die Alte, die als gute Mutter Alles
auf die Ihrigen bezieht, aus dem Korbe, worin sie ihr Wochenbett
hielt, muthig herausgesprmigm, um die kleine Schaar nöthigenfalls
zu vertheidigen. Von ihrer heftigen Bewegung ist der Korb umge-
schnappt und die Jungen, die sie beschützen will, rollen auf den Bo¬
den. Sie sind noch ganz klein, täppisch, unbeholfen und drollig über
alle Maßen; besonders der Eine, der auf den Rücken fiel, und nun
seine vier Füßchen kläglich in die Luft streckt, ist adorable ungeschickt.
Und die Mutter in ihrer Wuth gegen die Störer! Man glaubt ihr
zorniges Bellen zu hören, zu dein das Winseln der Jungen die Be¬
gleitung abgibt. — Adam ist wirklich der Lafontaine unter den Ma¬
lern; beobachtend, errathend, naiv, humoristisch, das Schicksal der
Thierwelt sich zu Herzen nehmend, wie der große französische Fabel¬
dichter.
Eine Gegend aus dem baierischen Oberlande von Bürkel. Wie
schön, wie schön! Der erste Frost ist hereingebrochen, der Winter
kommt herangezogen, wie ein finsterer Eroberer in ein verwüstetes
Land. Noch ist er nicht mit dem Gros seiner Armee angekommen,
aber der Reis, der sich an die Gegenstände hängt, der leichte Schnee-
anflug sind seine Plänkler, und die betrübte Erde weiß aus alter
Erfahrung, daß sie in dem Kampfe unterliegen wird. Die Bäume
wissen es auch, darum strecken sie ihre entlaubten. Aeste so jammernd
empor, und den Vögeln kann es kein Geheimniß sein, warum durch-
schwciften sie sonst so trostlos die Luft. Wie grau der Himmel ist!
da hängt Schnee in Massen. Und diese schneidend scharfe Lust! ehe
Du Dich dessen verhiesse, wird es grimmig kalt sein. Mit unendli¬
cher Treue und Wahrheit hat Bürkel diesen Augenblick des Uebergangs
ergriffen; es ist nicht mehr Herbst, es ist noch nicht Winter. Mei¬
sterwerk im Meisterwerk ist auf dem Bilde ein abgedorrter Baum,
der den anderen zuzurufen scheint: Nvmeuto mori! — Wenn eS
mir vergönnt wäre, einen Wunsch auszusprechen, so wäre es, daß
es dem Künstler gefallen möge, einen Theil der Staffage zu verän¬
dern. So wie sie jetzt ist, beleidigt sie in Etwas den Geschmack, ohne
durch besondere Naturwahrheit und Localfarbe dafür zu entschädigen.
Laß uns diese zwei allerliebsten venetianischen Genrebilder be¬
trachten. Es ist zwar bedenklich, mich auf dieses Sujet zu bringen,
denn von Venedig sprechend, fange ich leicht zu divagiren an, ja ich
habe mir oft gesagt: wenn ich an Seelenwanderung glaubte, müßte
ich mich für überzeugt halten, Jakob Foscari'S Geist sei in mich ge¬
fahren. Ich Will mich indessen anstrengen und von Venedig zu spre¬
chen suchen, wie andere vernünftige Leuten
Das eine Bild ist von Bosa und stellt die Pescaria vor. Unter
dem improvisirten Zelte von Segeln, ist das ein Getreide! Hier
feilscht eine hübsche Magd um einen Fisch; sie ist schon halb zum
Gehen gewendet, ihr letztes Anbot scheint gethan, und unschlüssig sieht
der Verkäufer drein, zweifelhaft, ob er die Prachtwaare für den Spott¬
preis lassen solle oder nicht. Ganz venetianisch, südlich reizend und
indolent ist das Mädchen, das sich an die Schulter der Feilschenden
lehnt und dein Handel zusieht. Rechts stürzen zwei Fischerjungen ei¬
ner Matrone zu, die mit prüfendem Kennerblick ihre Waare mustert;
im Hintergrunde gewahrst Du die gravitätische Gestalt eines Abbate,
mit gleicher Musterung beschäftigt. Andere haben das schwierige
Geschäft des Einkaufs schon beendigt und braten, schmoren, kochen
ihre Acquisttion an einem lustigen Feuer sur los Uoux mvmeg. Va¬
ter Neptun muß seine Kinder ernähren.
Das zweite Bildchen (ein Albumblatt) schildert eine neu eröff¬
nete Schenke. Es besteht nämlich in Venedig der Gebrauch, daß,
wer ein Wirthshaus eröffnet, drei Tage hindurch seinen Wein un-
entgeldlich ausschenken muß; daß es dabei an Zuspruch nicht fehlt,
kannst Du Dir denken. Nun sieh Dir diese erasperirte Wirthssigur
an! Man setzt dem armen Manne dergestalt zu, daß er nicht mehr
weiß, wo ihm der Kopf steht. Im Begriffe, dem Einen einzuschen¬
ken, wird er auf der anderen Seite von einem ungestümen Forde¬
rer angefallen, und während er diesen zur Vernunft, d. h. zum War¬
ten bringen will, gießt er das rothe Naß daneben, was denn wie¬
der einen verzweiflungsvollen Angriff von Seiten des dadurch Beein¬
trächtigten zur Folge hat. Nebenan sitzen Glücklichere, die sich mit
ihrer werthen Beute aus dem Getümmel gerettet haben und nun, mit
behaglicher Ruhe auf die noch Kämpfenden blickend, sich der edeln
Gottesgabe freuen.
Weißt Du, was mir beim Anblick dieser beiden Bilder einfiel?
Ich sagte mir: Was für glückliche Leute sind doch diese Italiener,
und vor Allem ihre Maler, die gerade nur wiederzugeben brauchen,
was sie täglich mit gebenedeiten Augen sehen. Denke Dir, wenn ein
deutscher Maler ähnliche Scenen aus seiner Heimath darstellen sollte ;
was würde daraus? Nun ja, er könnte, wie wir'S an den Nieder¬
ländern sehen, große Virtuosität im Technischen und getreue Auffassung
zeigen, aber könnte der Eindruck des Bildes ein poetischer sein, wie
hier? Nein und tausendmal nein! Das machten die platten, aus¬
druckslosen Gesichter, die unkleidsame Tracht, die er darzustellen hätte,
unmöglich. In welchem Vortheil steht hier der Italiener! Er braucht
sich nicht auf's hohe -Pferd zu setzen, um poetisch zu sein: er braucht
nur wiederzugeben, was ihm in jedem Augenblick entgegentritt. Sieh
diese scharfgezeichncten kühnen Gesichter mit der dunkeln warmen Fär¬
bung ; diese Gestalten, so edel, so stolz unter ihren Lumpen; dies Volk,
so geistreich in seiner Unwissenheit, so geschliffen in seiner Heftigkeit!
— Bei uns fallen die Genremaler gewöhnlich entweder in's Triviale
oder in's Affectirte, je nachdem sie die Natur treu wiedergeben oder
idealisiren wollen. Der Italiener entgeht dieser Klippe dadurch, daß er
nichts Schöneres ersinnen könnte, als was ihm täglich leib- und
wesenhaft vor Augen steht.
In einem Kabinet finden wir das Porträt des Grafen Kolow-
rat. Es ist von dem Mainzer Heuß gut gemalt und von unbestreit¬
barer Achnlichkeit. Dennoch stellt es mich nichr zufrieden; erstens
scheint mir die Stellung unglücklich gewählt und zweitens vermisse
ich hier das nil- ».ii-l'.'uti-neue Al-.mil slviAiu-iir, das den Grafen
charakterisirt. Die geistige Vornehmheit seiner Züge ist hier nicht
hinreichend ausgedrückt.
Im Nebenzimmer sehen wir ein Gemälde des Mailänders Mol-
teri. Ein kleiner Schornsteinfeger, wahrscheinlich ein Savoyarde, steht
auf der winterlichen Straße und drückt sich an ein Haus, als wolle
er sich daran wärmen. Die Luft ist bitter kalt, das Kind zieht den
einen Fuß von dem hartgefrorenen Boden hinauf und schmiegt sich
in sich zusammen. So kläglich steht der arme Junge drein! er hat
vielleicht auch Hunger — ach, man möchte ihn gleich bei beiden
Händen ergreifen und in eine warme Stube hereinziehen, wo er sich
beim Feuer und mit einem Bischen Essen wieder restauriren könnte.
Ich meine ordentlich, ich seh ihn aufthauen, lustig und guter Dinge
werden und tausend Possen treiben, denn trotz seiner momentanen
Betrübtheit blitzt ihm der Schalk aus den Augen. — An der ent¬
gegengesetzten Wand hängt ein Bild Ditterberger's: ein indianischer
Held. Ein sehr schön gedachtes Bild von ungemeiner Energie und
tiefem Ernst. Der Kopf ist scharf charakterisirt, das Kolorit vortreff¬
lich. Das ist nicht kaffee-, nicht rußfarb, welche zwei Nuancen ohne
weiteres Erinner für orientalische Köpfe so oft herhalten müssen. Die
Färbung dieses Bildes wüßte ich nur mit Victor Hugo's Worten zu
schildern, wenn er von einer schönen Orientalin sagt:
1°u n'es ni Iilrmelxz ni euivrvs,
M.iis N s^ni-is ^n'on t'a, <toi"6v
^pee um i-AZ'n» <^n «vivit.
Warm, durchsichtig, tropisch ist die Luft; das Nebenwerk, die
Haltung des Ganzen von den größten Effecten, eben darum, weil
keine Effekthascherei sichtbar.
, Noch befindet sich in diesem Zimmer eine Skizze Lipparini's:
Der Tod des Marco Bozzaris. Die Gruppe ist vortrefflich componirt.
Ohne Verzerrung, ohne theatralische Verrenkung liegt der an seinen
Todeswunden verbindende Held in den Armen seiner Getreuen. Eine
schöne, Schreck- und schmerzverstörte Gestalt beugt sich über ihn und
scheint dies fliehende Leben zurückhalten zu wollen. Ein Grieche,
Bozzaris' sinkendes Haupt unterstützend, wendet sich seitwärts; sein
Blick späht in die Ferne, als fürchte er, die nahenden Verfolger könn¬
ten die letzten Augenblicke des theueren Führers und Freundes stö¬
ren und sich der edlen Leiche bemächtigen. Ein Jüngling, Bozzaris'
Sohn, kniet zu den Füßen des Sterbenden, der ihm den Schwur
abnimmt, den Tod seines Vaters zu rächen. Tragisch erschütternd
und wahr ist die Gruppe. DaS sind Griechen, nicht Griechen aus
dem hübschen Ballet till-an-et-i, «II ni8«t»l»»»l>i, das ich in Trieft
sah, sondern wahrhaft Söhne von Hellas, Klephten, die hinziehen auf
den freien Bergen, den blauen Himmel zum Dach, die treue Flinte
zur Geliebten. Man fühlt die Wahrheit dieser Localfarbe. Kein
Wunder! Lipparini lebt in Venedig, und Venedig ist eine halb orien¬
talische Stadt. Was die Ausführung bis in's kleinste Detail hinein
betrifft, so möchte ich gar sehr wünschen, daß sie auf jedem prätentiö¬
sen Bilde unserer Maler nur halb so vollendet wäre, wie auf diese»',
das Lipparini selbst nur eine Skizze nennt. Da ist eine Freiheit,
eine Großheit, eine Farbenpracht, die man nicht genug bewundern
kann.
Wir treten nun in einen andern Saal. Worauf soll ich Dich
hier aufmerksam machen? Die Wahl ist so schwer! Bedenklich ist sie
indessen nicht, denn worauf wir auch aufmerksam machen mögen, wir
dürfen gewiß sein, nur auf Treffliches zu stoßen.
Zwei Bilder des herrlichen Canclla: Honflcurs in derNorman-
die und Palestrina im Venetianischen. Wie scharf hat der Künstler
hier Nord und Süd, die grüne, tiefernste Nordsee, die blaue lachende
Adria zu charakterisiren gewußt: Wasser, Land und Luft, die Men¬
schen, ja ich mochte sagen die Thiere selbst haben auf den zwei Bil¬
dern ein durchaus verschiedenes Gepräge. Diese bepackten, feilschen¬
den, schwerfälligen NormandS, und dagegen diese heiteren, sorglosen,
mit dem Leben spielenden Kinder des Südens! Ueber Honflcurs liegt
eine schwere, dicke Atmosphäre ausgebreitet, ein Paar befrachtete Last¬
träger klimmen einsam den Quai hinan, die Leute sehen alle aus,
als seien sie nur, um zu arbeiten, auf die Welt gekommen; dort bei
Palestrina wölbt sich der blaue Himmel entzückt über die lachende
See, den lieblichen Strand; der Schiffer, der mit seiner Barke über
das Wasser hingleitet, scheint eS zu seinem Vergnügen zu thun; die
Leute am Ufer kümmern sich nicht viel um Arbeit, sie stehen lieber
beisammen und führen ein vergnügliches Gespräch. Rankengewinde
um alle Häuser, Blumen an allen Fenstern (daneben auch Wäsche,
zum Trocknen aufgehängt; das thut aber Nichts), unten auf dem
Boden der Segen Gottes, in Gestalt von prachtvollem Obst und
Gemüse reichlich aufgeschüttet. Ein Paar Kinder spielen ganz dicht
am Meere; es fällt keinem Menschen ein, zu denken, daß sie hinein¬
fallen könnten, so freudig ist der Südländer, so ferne liegt seiner Na¬
tur unser Sorgen, Grübeln, nach Apprehensionen Jagen. Alle diese
schönen Dinge sind unser Erbtheil. Im Süden ist Leben des Lebens
Zweck, bei uns muß man sich umbringen, um leben zu können. Dort
gibt es wildes, heißes Weh, Verzweiflung, in der das Herz verzehrt
emporlodert wie auf einem Holzstoß. Sei's darum! wer wird
denn ewig leben wollen? Nur mit der langsam unterwühlenden, läh¬
menden, zersetzenden nitor^, die in geographischen Lehrbüchern den
nordischen Produkten beigezählt werden sollte, kann ich mich nicht
vertragen.
Und doch (bei all meiner Abneigung gegen den Norden muß
ich'S bekennen): welch schönen, tiefeinsamen Wald hat der Holländer
van Haaren hier gemalt! Der Winter naht seinem Ende; zwar
deckt noch Schnee den Boden, Mein das Thauwetter ist nahe, schwer
hängen die feuchten Wolken nieder und die bläuliche Farbe, die der
Schnee hie und da hat, verheißt sein baldiges Schmelzen. Jäger
haben sich in dem Wald gelagert und bereiten an einem lodernden
Feuer ihr frugales Mahl. Einer ihrer Hunde, wahrlich der Cato
der Schaar, nimmt von dem zu erwartenden Genusse keine Notiz,
sondern schnuppert eifrig im Schnee, der Spur eines Wildes nach¬
spürend. Wenn Du ein Paar Schritte zurücktrittst, wie wird Dir?
Meinst Du nicht in's Unabsehbare hineinzuspähen? Glaubst Du nicht
um jeden dieser Bäume herumgehen zu können? Fühlst Du nicht die
Sannntweichheit des Mooses an den Stämmen? Betrachte einmal
diesen Baumstrunk, der querüber liegt, diese Fußtapfen im bald zer¬
schmelzendem Schnee, die grauschwarzen, regcnschwangeren Wolken,
die Jäger mit den derbkrästigen Gestalten und den Gesichtern, deren
Nüance nur mit dem englischen: vvvlltli<-l--l,e?let-i» zu bezeichnen ist!
Dieser van Haaren ist ein großer Maler.
Nun folge mir zu Gauermann's: der verendende Hirsch. Ich
weiß dies Bild nur eine Thiertragödie zu nennen. Dicht an
einem grünen, von Felsen umschlossenen Alpensee, den es wahrschein¬
lich so eben durchschwamm, liegt das sterbende Thier. Der rothe
Schweiß quillt aus den klaffenden Wunden, der letzte Kampf wird
bald vorüber sein. Auf einem nahen Felsenvorsprung sitzen Alpen¬
geier, die sich lüstern zum bevorstehenden Mahle anschicken. Wie sie
die Schnäbel wetzen, wie sie mit den breiten, dunkeln Flügeln schla¬
gen, wie schon ein vierter Geier aus der Ferne herbeieile — o die
gräßlichen, unheimlichen Thiere! Und der königliche Hirsch liegt tra¬
gisch ruhig; sein halbgebrochenes Auge hat etwas Menschliches, so
still, so ernst blickt es. Doch nein! ein Mensch würde hier viel
Wesens machen, während das Thier, näher, unmittelbarer mit der
Natur verbunden, sich von der großen Strömung fortreißen läßt, ohne
an Widerstand zu denken. Und ich? O ja, gerne wollt' ich am grü¬
nen Alpensee verbluten! Aber dann von Geiern zerfleischt werden,
das würde mich schrecken. Thörin! Thörin! Du würdest es ja nicht
fühlen. — Die Geier, die, weil Du noch lebst, Tag für Tag ein
Stück von Deinem Herzen reißen, die Geier: Haß, Verleumdung,
Undank, die fühlst Du Dich zerfleischen und magst noch andere
fürchten? ^
Weg von Gauermann'ö düsterem, herzerstickendem Werke und
um wieder froh zu werden, laß uns den Blick auf recht Heiteres
richten. Wir können dazu nichts Besseres wählen, als des in Rom
lebenden Pollak: Mädchen mit dem Lamme. Ist das ein frohes,
horniges, lieblich leichtsinniges Bild! Gott weiß, wie sich die allerliebste
Kleine mit ihrem Lamme herumgetummelt und abgetollt haben muß,
denn jetzt liegt sie ganz athemlos, vor Lust und Uebermuth glühend,
hingestreckt. Wie die kleine Brust fliegt, wie warm der Hauch des
halbgeöffneten Mundes ist! Du liebes, wundes, weiches Kind mit
den großen schwarzen Augen, den Pfirsichwangen, den brennenden
Lippen, wie möchte man Dich herzen und küssen! Indem ich Dich
betrachte, gedenke ich der kleinen Milanollo, nicht des schaurig süßen
Seraphs Teresa, sondern des frohen Erdenkindes Maria. Wenn ich
sie hörte, überkam mich dieselbe Stimmung von unendlicher Lust und
Freudigkeit wie jetzt, dieses aus innerlichst durchsonnter! Seele hervor¬
gehende Lächeln, dieses Wiederaufleben der eigenen Jugend im Jubel
und Jauchzen des Kindes. — Das Lamm hat sich über seine kleine
Spielgefährtin gelagert; es ist noch nicht müde, es möchte noch fort¬
spielen und sich gern wegstoßen lassen, um die tolle Jagd aus's Neue
zu beginnen. Die Scene ist ein frischer grüner Wald; wie wohl
muß der Kleinen werden unter dem dichten Schattendach, wie muß
die Säuselluft das glühende Köpfchen kühlen! Du liebe Blume Gottes!
Da ist auch noch ein anderes Bild von Pollak: zwei römische
Mädchen, die sich mit Blumen bekränzen. O sieh die Eine mit den
schwarzen Haaren und den dunkeln Sonnenaugen, die fremd und
unirdisch blicken aus dem zaubervollen Gesicht, dessen Ausdruck un¬
säglicher, mit Wehmuth oder Sentimentalität durchaus nicht verwand¬
ter Ernst ist. Nicht eigene bittere Erlebnisse haben das noch im
Kindesalter stehende Mädchen so ernst gemacht; dazu ist es viel zu
jung und die Frische ihres Reizes zu unversehrt. Ich möchte eher
sagen, der Genius Rom's sei vorübergeschwebt und habe seinen Schat¬
ten auf dieses Antlitz geworfen. Ich möchte diese Züge nie lächeln
sehen, so feierlich ist ihre Schönheit. Ihre Stellung athmet die tiefste
Ruhe, das Auge blickt träumerisch, die Arme hangen lässig nieder;
sie sitzt tief in sich versunken, als gäbe es keine Welt um sie herum.
Ihre Gefährtin ist heiterer, vielleicht reizender, aber gewiß nicht so
schön; der Schnitt des Gesichtes minder streng und antik, das Haar
von jenem lichten Braun, das, wenn ein Sonnenstrahl darauf fallt,
wie gebräuntes Gold erglänzt. Wirklich ergießt sich das Licht auf
die reichen Flechten und Locken, daß sie wie eine Glorie schimmern.
Weniger angesprochen fühle ich mich von der Landschaft; ich
finde sie liituilsamer du.in rmnäsome, mit einem Wort etwas über¬
laden.
Laß uns an dem einzigen Aquarellbild der Sammlung nicht
vorübergehen. Es ist das Innere der von Graf Kvlowrat neu er¬
bauten Kirche zu Reichenau in Böhmen. Ein hoher gothischer Bau,
dessen Ausschmückung mit wahrhaft großartiger Munificenz bedacht
ward. Das Altarblatt, die Dreieinigkeit vorstellend, ist von Lippa-
rini mit der größten Vollendung gemalt; da ich das Bild in dem
Atelier des Künstlers sah, kann ich Dir diese Versicherung geben,
während ich mich über die zwei Seitengemälde von Dittcrbcrger (der
heilige Franziskus und die heilige Rosa), die ich nicht sah, des Ur¬
theils enthalten muß. Oberhalb des Hauptaltars befinden sich die
Landespatrone von Böhmen, um die Kanzel herum laufen die Bild¬
nisse der Apostel, nach Raphael gemalt. Auffallend schön, im reinsten
gothischen Geschmack ist das Schnitzwerk an den Bet- und nament¬
lich an den Beichtstühlen; ich konnte mich des Staunens nicht er¬
wehren, als man mir versicherte, es sei auf dem Lande, in Reichenau
selbst gearbeitet worden. — Immer hört man wiederholen, man wisse
dergleichen nicht mehr anzufertigen, die Zeiten seien vorbei, wo sich
das Handwerk bis zur Kunst erhob u. s. w. Ich aber sage: Nein!
das Geschick ist nicht ausgestorben, sondern nur die Lust, es zum
rechten Zwecke zu verwenden. Wenn Ihr, die Reichen und Vielvcr-
mvgenden, dem edeln Beispiel, das hier gegeben ward, folgend, Kunst-
zweckc im Auge hättet, statt Euerer läppischen Eleganz; wenn Euch
der leidigen Mode wegen das absurde Rococogenre nicht lieber wäre,
als die Harmonie einer wahrhaft schönen Form; wenn Ihr für et¬
was Besseres als ephemeren Reiz Sinn hättet, so würde mancher
Zweig der Kunst, den Ihr schon abgestorben wähnt, wieder frisch auf¬
blühen. Aber ein kopfwackelnder Mandarin von Kiscuit ne 8poro»
ist Euch lieber als der Apoll von Belvedere.
Um wieder auf das Bild zurückzukommen, so ist es mit großem
Fleiß und vieler Treue gemalt; nur die Anforderungen der Perspek¬
tive scheinen mir nicht vollkommen berücksichtigt. Immerhin bleibt es
ein höchst ansprechendes Gemälde, das den großen Vorzug hat, in
dein Beschauer eine Stimmung zu erwecken. Ich kann mir den schö¬
nen ernsten Tempel vollkommen vergegenwärtigen und meine, es muß
sich gar innig und trostvoll darin beten lassen.
Ich kann diesen Saal nicht verlassen, ohne noch eines Porträts
der verstorbenen Gräfin Kolowrat zu gedenken. Es ist von Frauen¬
hand, und der Name der Malerin ist Götzel-Serpolina. Da ich nicht
so glücklich war, die Gräfin zu kennen, kann ich über die Aehnlichkeit
nicht entscheiden, doch bin ich von ihr überzeugt. Wenn Du mich
um meine Gründe fragtest, so würde ich Dir antworten: weil der
Porträtmaler diesen Ausdruck von Geist, Güte und adelig seinem
Wesen nicht erfinden kann. Die Gräfin sitzt u demi -Mus^s in
einem Armstuhl, das Gesicht ist dem Beschauer zugewendet; zwischen
Auge und Mund die wohlthuendste Uebereinstimmung: der Blick lä¬
chelt eben so sanft und wehmüthig mild wie die Lippen, während auf
so vielen Porträts Auge und Mund gar Nichts von einander wis¬
sen. Das Colorit ist gut, die Behandlung des Haares ganz vor¬
züglich; man glaubt seine weiche Schmiegsamkeit zu suhlen. Der
Blondenkopfpntz, der Seidenstoff am Kleide, die Sammtmantille sind
mit großer Sorgsamkeit und Geschick ausgeführt, wie denn überhaupt
die Zusammenstellung des Ganzen von Geschmack und einem gebilde¬
ten Auge zeigt.
Einer Bemerkung kann ich mich bei diesem sonst gelunge¬
nen Bilde nicht entschlagen; Du wirst sie wahrscheinlich ganz weiber-
haft finden, aber da ich gar nicht die Prätension habe, mehr zu sein
als ein Weib, so mag ich demungeachtet damit herausrücken. Ich
finde, man sollte sich nicht mit Handschuhen malen lassen. Es liegt
in der Hand so unendlich viel Charakteristisches, daß sie recht eigent¬
lich zum Porträt angehört, Ist Dir's nie aufgefallen, wie Gro߬
muth, Niedrigkeit, Geist, Dummheit, innere Bildung und Rohheit in
diesem Gliede ihren Ausdruck finden? Mich hat es oft beschäftigt,
und über diesen Zweig des Wissens könnte ich Vorlesungen -i >»
Lavater halten. Ich spreche nicht von den sogenannten schönen Hän¬
den; bei sorglicher Pflege kann sich diese so ziemlich Jeder verschaffen.
Nicht ihre Glätte, Weichheit, Farbe haben für mich Bedeutung, son¬
dern ihre Physiognomie, der ich, zugleich mit dem Wesen eines Men¬
schen, auch seine Vergangenheit ansehe. So gibt es schmale, durch-
fichtige Hände, die mich eben so tief rühren, wie ein blasses, verwein¬
tes Antlitz; dann wieder andere, die mir mit ihren schlanken, energi¬
schen, vornehmen Fingern eben so imponiren, wie das Auge eines
geistigen Herrschers. Es ist hier nicht der Ort, dies genauer zu er¬
örtern, sondern zu meinem Ausgangspunkt zurückkehrend, will ich nur
noch bemerken: Durch das beständige Handschuhmalen verlernen un¬
sere Künstler Hände zu malen. Vergleiche die, welche man auf den
Bildern der alten, einer vorjacquemar'schen Periode angehörenden
Künstler sieht, mit denen, die jetzt gemalt werden, und diese letzteren
werden Dir kalte, abgestorbene Todtenhände scheinen. Uebrigens sind
auch die Handschuhe aus dem in Rede stehenden Porträt nicht so
gut gemalt wie der Rest.
Wir verlassen den Saal und kehren in ein Kabinet, das wir
vorhin nur flüchtig durchschritten, zurück. Mir pocht das Herz, wie
wenn ich am Christabend die Thüre des Zimmers ausschließe, in
dem Kinder ihre Weihnachtsfreude finden sollen. So freue ich mich
des Entzückens, das Deiner hier wartet. Das Kabinet ist geheim¬
nißvoll verdunkelt, nur durch eine schmale Oeffnung bricht ein Licht¬
strahl herein und zeigt Dir, auf einer Staffelei ruhend, die wunder¬
barsten Glasmalereien. Das brennt, glüht, flammt und leuchtet, das
übermeistert Dir alle Sinne, das umfluthet Dich wie Duft und
Klang, durchströmt Dein Innerstes wie ein phantastisches Gedicht und
was diese Wunder in Dir bewirkt, ist das Lichtkind Farbe. Und
wenn Du Dich dann besinnst, wenn Du Deiner selbst wieder Herr
werden willst und Dir sagst: „Du trunknes, gluthberauschtes Körper^
auge, nicht Dir allein will ich trauen: mit dem Auge des Geistes
will ich des Geistes Werk betrachten, ob es solcher Bewunderung
würdig!" — wenn Du dies sagst und Dick versenkst in der Bilder
Gedanken, Sinn, Bedeutung, da wird innere Wonne durch Dein
Herz gehen; immer Heller wird Dir's tagen, immer herrlicher wird
sich der Erdenstoff verklären, und endlich wird Dein Gefühl nicht
mehr Staunen, Bewunderung, es wird entzückte, unaussprechliche
Andacht sein. Du wirst fühlen: diese Bilder wurden nicht blos ge¬
malt, um durch Reiz und Pracht der Farbe das Auge zu ergötzen,
der Künstler schuf sie, um einen heiligen Gedanken dem Menschen-
sinn zu offenbaren.
Se. Christoph, das Gotteskind durch die Fluch tragend. Hoch-
geschürzt und rüstig schreitet der fromme Niese dahin, mit den kräfti¬
gen Gliedern das smaragdgrüne Wasser theilend, das sich hinter ihm
wieder schließt. Der Ausdruck seiner Züge ist Staunen, aber Stau-
nen ohne Bestürzung, denn Göttliches erschreckt nicht. Es scheint
seinem Geiste aufzudämmern: die ganze Fülle der Herrlichkeit Gottes
können nur Jene ertragen, die Eins werden mit ihm. Still, groß,
lächelnd, ein junger Held und Sieger, blickt das göttliche Kind; Du
wirst es keinen Moment für ein erdgebornes halten, die Hoheit des
Ueberirdischen durchschauert Dich bei seinem Anblick. Und doch ist
es ein Kind mit weichen, zarten, lieblichen Formen, ja! aber eben
ein Kind, das da weiß, es sei bestimmt, für das Heil der Welt in
den Tod zu gehen, und in diese Bestimmung willigt. Von der Ge¬
walt und Herrlichkeit dieser beiden Gestalten übermeistert, vermag ich
kaum noch andere Dinge an diesem Bilde zu erwähnen. Nur flüch¬
tig will ich Dich noch aufmerksam machen auf dies durchsichtig klare
Wasser, diesen kühn emporstrebenden Strand, an dem sich die Wel¬
len perlend brechen, dies magische Mondlicht, diese, wie ich keck be¬
haupte, von keinem Maler überbotene Perspektive. Dann sieh Dir
den bemoosten Felsen an, der rechts emporsteigt mit der Einsiedelei
oben und dem Klausner, der, sein Licht in der Hand, in die Nacht
hinausspäht. Nicht wahr, das ist schön, wahr und lieblich über al¬
len Ausdruck? Aber Deine Blicke kehren doch immer wieder zu dem
Heiligen und dem Kinde zurück. Und wenn Du dann später dieses
Bildes gedenkst, wird die Gläubigkeit und Herzensfrömmigkeit, die
darin athmet, erquickend und beseligend, Dein Innerstes aufs Neue
durchströmen.
Ich scheide von diesem Gemälde, wie von einem hohen Men¬
schen, einem Freunde, der mir wohlgethan. Ein Schmerz, eine bittere
Losreißung wär mir's, wenn ich denken müßte, ich trennte mich da¬
von für immer. Doch hierin auf die Gunst des Schicksals hoffend,
winke ich dem edlen Kunstwerk ein inniges: Auf Wiedersehen! zu
und wende mich zu dem zweiten Glasgemälde, das, wie der Mor¬
genstern, sein Licht durch das verdunkelte Gemach ergießt. — Sanct
Lucas, die Madonna mit dem Kinde malend. Unter einem Balda¬
chin von golddurchwirktem Purpur sitzt die Jungfrau, diese mensch-
gewordene Lilie. Kannst Du sie schauen und noch an Böses glauben?
Eine Unschuld, eine Heiligkeit, die mit unserer armseligen Tugend
Nichts gemein hat, thront auf dem klaren Gesichte. Es ist nicht die
ideale, triumphirende Schönheit von Raphael's Madonnen, noch ist
es die energische Hoheit und Majestät von Murillo's Himmelsköni¬
ginnen: die reinste Jungfräulichkeit, die tiefste Liebesdemuth ist es,
vor der Du hier das Knie beugst. — Unschuldig ist sie, nicht weil
sie sich von den Makeln des Irdischen rein zu erhalten gewußt, son¬
dern weil ihr innerstes Wesen der Sünde so fremd, daß diese gewiß
nie auch nur in ihren Traum einen trübenden Schatten warf. Wie
ein Schimmer von Jenseits fließt das blonde Haar um das Antlitz;
Goldstoff schmiegt sich um die Gestalt, ein Mantel von tiefem, leuch¬
tendem Blau wallt darüber hin. Vergeblich wäre eS, die Pracht
dieser Farbentöne beschreiben zu wollen; jeder von den Edelsteinen,
die den Saum des Kleides besetzen, erglüht wie von Licht getränkt.
Auf dem Schooße der Jungfrau rühr das göttliche Kind, den Blick
zu ihm emporgehoben, das eine Aermchen nach ihr ausgestreckt. Ge¬
genüber der Heilige, halb knieend, den Stift in der Hand, bemüht,
die himmlische Erscheinung festzuhalten. Welche Inbrunst, welche
Weihe, welche Andacht in seinen Zügen! Ich denke, dies muß van
Eyck's selbsteigenstcr Ausdruck gewesen sein, als er dies Bild malte.
Ja, so mögen diese alten Meister ausgesehen haben, die sich durch
Gebet und mystische Versenkung auf die Arbeit vorbereiteten. — Die¬
ser heilige Lucas scheint nur durch'S Auge zu leben; auf der weiten
Welt kümmern ihn nur diese zwei Gestalten, die nicht von dieser
Welt sind. Und wie schön ist die Ausführung! Dieser kraft- und aus-
drucksvolle Kopf mit den tiefgegrabenen Zügen, dieser nervige, durch-
furchte Hals, dieses violettne Gewand mit seinem reichen, freien
Wurf. Und nun blicke durch das Fenster hinaus in das offene Land,
durch das sich ein Gewässer in reizenden Krümmungen schlängelt,
über dem ein von leichten Silberwolkcn überflorter Himmel lächelt,
wie ein sanftes Auge; durchdringe Dich mit diesem Bilde, drücke das
Gedächtniß daran tief in Dein Herz, und Dein ward ein Gewinn
für's ganze Leben.--
Nun laß uns scheiden; es gibt Eindrücke, die selbst durch Ver¬
wandtes nicht gestört werden sollen. Mit erfrischter, erfreudigter Seele
gehen wir von hinnen, froh, im wirren, trug- und bedrängnißvollcn
Leben die ewige Wahrheit und heitere Göttlichkeit der Kunst erfaßt
zu haben, der herrlichen Beglückerin Aller, die an sie glauben. Wirf
Dich in ihre Arme, schwöre Dich zu ihrem Getreuen, und wie trüb
auch Dein Loos falle: Du wirst nie ganz elend sein und nie ganz
verlassen.
Dies Eine noch als Abschiedsgruß: Wohl Dem, in dessen
Macht es steht, sich mit einer glanzreichen Welt von Schönheit zu
umgeben; aber mehr noch: Ehre Dem, der inmitten eines vielbe-
wegten, von ernsten Arbeiten angefüllten Lebens das Bedürfniß nach
Schönheit, die Liebe zur Kunst treu in sich bewahrt hat; und endlich:
Dank Dem, der auch der Fremden den Genuß seiner Schätze so
gütevoll verstattete.
Unsere Theaterintendanz verdient in ihrem rastlosen und glückli¬
chen Bemühen, den Mangel des Opernhauses nicht fühlbar werden
zu lassen, aufrichtigen Dank. Die größeren Opern sind ohne merk¬
lichen Nachtheil in dem kleineren Raum des Schauspielhauses in
Scene gegangen. Döring's Gastspiel bringt uns die größeren classi¬
schen Werke zurück, für welche im Grunde sonst die Kräfte hier fehl¬
ten; Neuigkeiten haben wir ebenfalls bereits mehrere gehabt, andere
sind noch in Aussicht. Prutz' „Moritz von Sachsen" ist dem Vernehmen
nach angenommen, über „die letzte weiße Rose" von dem Redacteur
dieser Blätter hoffe ich in ganz Kurzem einen günstigen Erfolg mit¬
theilen zu können. Ein neues Ballet: „Die, Liebesinsel", mit außer¬
ordentlicher Pracht in Scene gesetzt, ist bereits vorübergerauscht, hat
aber wenig Eigenthümliches gebracht. Da es von Mitgliedern der
hiesigen Bühne (verfaßt von Taglioni, in Musik gesetzt von Gährich)
stammt, so wird es sich vielleicht länger halten. Ebenso sahen wir
in vergangener Woche zum ersten Mal Laube's „Bernsteinhere".
Ich bin Ihnen einen Bericht darüber schuldig, aber ich wünschte, ich
könnte Ihnen Besseres melden. In Wahrheit, der Erfolg war kein
glücklicher. Das Stück ist ein Mißgriff in doppelter Beziehung: in
Betreff des Stoffes, in Betreff der Behandlung. Sie müssen mir
schon erlauben, daß ich mich etwas weiter auf Motivirung einlasse,
als es eigentlich der Raum für eine Mittheilung gestattet, allein da
ich einmal die Pflicht übernommen habe, so will ich sie auch nicht
einseitig erfüllen.
Mcinhold's „Maria Schweizerin" ist durch die jesuitischen Ver¬
suche des Verfassers, das Werk bei den Einen als ..Chronik", bei
den Andern als „reine Fiction" einzuschmuggeln, vielleicht auch gro-
ßentheils durch seine hohe Protection fast zu einem literarischen „Er-
eigniß" geworden. Sein Ansehen ist keineswegs ein verdientes. Es
ist vielmehr Nichts als eine gewöhnliche Herengeschichtc, eingekleidet
in einen Lappen Ncttungsromantik, wie es in den VerlagSwcrkcn
von Fürst in Nordhausen nicht neu sein mag. Die früher und so
lange fruchtlosen Versuche des Pfarrers, einen Verleger zu finden,
sind heute eine seltene, aber eben nicht beklagenswerthe Erscheinung.
Ein schönes, unschuldiges Mädchen, verfolgt von einem lüsternen
Tyrannen, aus Rache über ihren Widerstand zum Feuertod verdammt,
zuletzt durch eine Reihe von Trivialitäten und Zufällen endlich ge¬
rettet, ein thränenreicher Sieg der Tugend über das Laster — welch
überraschende Situationen für Roman und Bühne! Und an solchem
Thema konnte sich Laube vergreifen! Aber sehen wir, was er aus
diesem Stoff gemacht. Der erste Act führt uns in die Wohnung
des Pfarrers Schweidler. Aus den Scenen des Müllers Zabel-
Birkhahn mit derW irthschafterin erfahren wir zuerst die Verhältnisse
Mariens rücksichtlich der abergläubischen Bauern, deren Vieh sie mit
ihren Besprechungen nicht mehr heilen kann, und die Besorgnisse des
alten Pfarrers weihen uns zugleich in ihre Stellung zu dem Amts¬
hauptmann und dessen Schwiegersohn ein. Dann erscheint sie uns
selbst, ein wunderbares Gemisch von Unschuld und übergeistiger
Schwärmerei. Ihr erstes Auftreten ist nicht ohne Interesse, nament¬
lich die kindliche Unbefangenheit ihres Charakters unter den Vorah-
nungen und bangen Gefühlen ihres Schicksals eine gelungene Cha¬
rakteristik. In der Szene zwischen ihr und dem Junker tritt dies am
deutlichsten hervor, nur die Erzählung der Ankunft Gustav Adolph's
ermüdet und hätte wohl ganz wegbleiben dürfen, da sie für das
Ganze unwesentlich ist. Eine düstere Vision, während Wittich und
die Kolkenlicse am Fenster lauschen, ist gleichfalls von Wirkung, um
so mehr, da man in ihr die Andeutung eines tieferen psychologischen
Interesses bei Marien erkennt. Dieses aber tritt nirgends wieder
hervor, außer in Reden und Worten Anderer. Es ist immer ein
Fehler, sowohl im Drama als Roman, wenn uns der Nimbus, der
den Helden umgeben sott, nicht selbst bemerkbar wird, sondern blos
aus den Folgen, aus Aeußerungen auf andere Handelnde hervorgeht,
hier aber ist er um so gefährlicher, als Manches in Wittich's Trei¬
ben unklar wird. Den Amtshauptmann treibt nicht, wie in dem
Roman, bloße Sinnlichkeit an die Seite Marie's, sondern ein psycho¬
logisches Motiv; er sucht die geistige Triebfeder ihres Wesens, er
„schmachtet nach ihrer Seele". Abgesehen davon, daß, wie gesagt,
dieses Interesse nirgends deutlich motivirt wird, so ist schon dieser
Grundgedanke an und für sich ein unglücklicher für die engen Schran¬
ken eines Dramas, der überall auch aus manchen Blüthen wie ein
böses Gespenst hervortritt. Hebbel hat bereits dasselbe in seiner Ju¬
dith versucht, aber auch seine wahrhaft poetische Schöpfung für die
Darstellung zu Grabe gebracht. Die philosophische Begründung einer
Entwicklung ist undramatisch, die psychologische Einheit mag durch
die Handlung, aber nicht umgekehrt die Einheit der Handlung auf
dem Wege der Psychologie erzielt werden. Der erste Act schließt mit
der Drohung des zurückgewiesenen Wittich, sich vermöge seiner Macht
durch einen peinlichen Prozeß an ihr zu rächen, wozu ihm die Kvl-
kenliese, die ihren Herenehrgeiz gehemmt sieht, bereitwillig die Hand
bietet. Die drei folgenden Acte zeigen die Fortentwickelung des im
ersten angedeuteten Hauptfadens, des Herenprozesseö, der aber nicht
als substantielle Basis einer Idee, sondern blos als Träger eines
einzelnen tragischen Geschickes erscheint. Dies ist abermals ein Mi߬
griff, in den freilich die neueren Dramatiker so oft verfallen. Laube
hätte leicht dies Drama auf den Standpunkt eines principiellen Kam¬
pfes erheben können, es gingen ihm hierzu Handlung wie Zeit zur
Hand, und er wäre der erwähnten Charakter- und Thatendesinition
überhoben gewesen. In den großen historischen Gemälden Schiller's,
Shcckspeare's und Göthe's sind die Personen Repräsentanten ihrer
Zeit; in des ersteren Jeanne d'Arc, die hier am ersten zum Vergleich
dienen mag, ist das Reale, d. h. das Geschick des Individuums, in¬
nig verwoben mit dem Idealen, der Zeit. Laube hat nur ein indi¬
viduelles Schicksal dramatisirt. Marie wird von den Bauern auf
dein Rückwege aus der Kirche verfolgt, der Amtshauptmann hat be¬
reits nach den Richtern geschickt, ihr Geliebter ist durch Vorspiege¬
lungen, Drohungen und halbe Rücksichten auf den Pflegevater von
der Hilfe zurückgehalten. Noch einmal erbietet sich Wittich zu ihrer
Rettung, wenn sie sich ihm ergeben wolle, aber sie weist ihn ver¬
achtend zurück und wird, trotz dem Protest des Junkers, dem Gerichte
zur Inquisition übergeben. Das darauf folgende Verhör vor dem
Tisch mit Crucifix und Todtenkopf ist gedehnt und selbst in sprach¬
licher Beziehung der schwächste Theil des Stückes. Auch an Ver¬
stößen gegen innere Einheit und Wahrscheinlichkeit ist der dritte Act
reich. So kommt der Müller plötzlich hinter dem Fenster hervor und
wird von den Richtern, die den Untergang Mariens beschlossen ha¬
ben, ruhig als Zeuge geduldet; der Junker und Birkhahn gehen aus
und ein, wobei sich zuweilen der Zuschauer ein Versteck und heimliche
Thüren denken muß; Wittich, der kaum noch dem Junker auseinan¬
dergesetzt, daß er „nach der Seele Mariens hasche," bethört ihn dann,
daß er sich vertrauend einsperren läßt. Auch in der Weise, wie der
Amtshauptmann den schwankenden Consul auf seine Zwecke eingehen
macht, hätte es strengerer Motive bedurft, als die so plötzlich aufge¬
griffene Hinweisung auf frühere Bestechlichkeit. Marie muß den An¬
schuldigungen erliegen. Aber diese Anschuldigungen sind so locker, so
oberflächlich, daß sie den Zuschauer theilnahmslos lassen. Von dem
Hauptinteresse der Anklage, dem Fund des Bernsteins und den nächt¬
lichen Wanderungen nach dem Berge erfährt man einzig in dem
Verhör. Mindestens hätte uns eine Zusammenkunft der Liebenden
auf dem Berge vorgeführt werden müssen; die bloße Erzählung, so
spät, so einfach, kann uns kein Interesse bei der Sache gewähren.
Marie erliegt den Anschuldigungen. Aus Furcht vor der Folter hat
sie gestanden; der Junker, ihre letzte Hoffnung, hat sie anscheinend
verrathen, der Amtshauptmann erdrückt das Neuegeständniß der Kol-
kenlicse und hintertreibt jede Anzeige in Stettin. Alles ist bereit. End¬
lich, nach manchen unwesentlichen Zwischenszenen, im fünften Act wird
der Knäuel gelöst. Aber auf welche Weife? Marie steht am Schei¬
terhaufen, der Bote, der heimlich nach Begnadigung geeilt ist, kehrt
zurück, aber die Wachen wehren dem heranstürmenden Junker den
Weg, Wittig drängt auf schnelle Vollstreckung des Urtheils und be¬
fiehlt sogar seinen Pflegesohn zu erschießen, da — erschlägt ihn ein
Blitz. In dem Roman erhält die befriedigende Lösung durch eine
fettgewichste Brücke und den Sturz des Pferdes in den Mühlbach
einen weit trostloseren Anstrich abenteuerlicher Romantik, aber gab es
für den Dramatiker kein anderes Mittel als einen Birchpfeiffer'schen Blitz?
Laube hat sich in diesem Werke übereilt, man merkt es an so man¬
chen! Unwesentlichen, was in den Vordergrund gestellt ist, an so man¬
chen Inconsequenzen der Charaktere, namentlich der Kolkenliesc und
Wittich's, wie schnell, wie flüchtig, ohne Studium und Ruhe er nach
seinein Ziel vorbeihuscht. Wir wünschen von Herzen, daß er in sei-
nem „Struensee", einem so echt dramatischen Stoff, einen besseren
Erfolg erringe und diese Bernsteinhere vergessen mache. Gespiele
wurde im Wesentlichen gut, nur Herr Nott hatte seine Rolle (Wit-
tich) nicht verstanden, wie dies bei ihm gewöhnlich der Fall ist. Die¬
ser „Künstler" sucht seine Kunst in Extravaganzen und Lärmmacher,
theils in Organ, theils in Bewegung und Mimik.
Antigone und Medea sind eingeschlafen, dafür will Tieck nun
seinen gestiefelten Kater erwecken. Indeß hat doch der hohe Sinn
für die Alten hier in einigen jugendlichen Seelen Anklang gefunden.
Einige Studirende, dieselben, welche kürzlich die böse Aufklärung und
geistige Bewegung ihrer Comilitonen durch Bälle und Zweckessen gut
zu machen suchten, haben die c.^»tivi des Plautus in der Ursprache
aufgeführt und dabei horazische Oden gesungen. Der Mäcen ist auch
nicht ausgeblieben. —
Seit einigen Tagen ist Karl Beck hier anwesend. Ob sein
neuestes Gedicht vor Ostern noch erscheinen wird, ist unzuverlässig
wegen unglücklicher Zufälle seines Buchhändlers. Hoffmann v. Fal-
lersleben hat sich nach seinem so unfreiwillig kurzen Aufenthalt von
hier nach Oranienburg begeben, wo er vorläufig durch seinen Freund
Runge die Nachforschungen in hiesigen Manuscripten fortsetzt.
Dafür sind drei Notabilitäten auf einmal hier eingetroffen: Pfarrer
Mcinhold, Bosco und E. Geibel.
— Das Cartell zwischen Preußen und Rußland ist erneuert.
Diese Thatsache steht in eigenthümlichem Zusammenhang mit einigen
Gerüchten, die in letzter Zeit umgingen. Kurz uach der Verweisung
der polnischen Emigranten aus Posen kam das Gerücht von einem
preußisch-russischen Handelsvertrag und einer Erleichterung des
Grcnzvcrkchrö; dies Gerücht wurde wiederrufen und darauf kam ein
anderes, wornach Nußland für „gewisse Zugeständnisse" einige Handclö-
vortheilc versprochen und, nachdem es die Zugeständnisse erhalten, sein
Versprechen vergessen habe. Wir wiederholen: es our ein Gerücht;
aber daß so wenig ehrenvolle, uns als unwürdige annos und Rußland
als Pfifficus darstellende Gerüchte nur möglich sind, ist schon an sich
bezeichnend. Man wird wohl bald sehen, ob die Erneuerung des
Cartells ein Handclovorthcil oder ein Zugeständnis; ist. Hoffentlich
Ersteres. Ecmcrin ist ja unser lieber Landsmann, aus Hessen gebürtig,
hat auf deutsche» Hochschulen studirt und heißt Krebs. Wegen bur-
schcnschaftlichcr Gesinnungen, wie man sagt, relegirt, wollte er anfangs
Buchhändler werdui, besann sich aber bald eines Besseren, wurde rus¬
sischer Minanzministcr, Schöpfer des jetzigen Schutzzollsystems und
rächte sich so an „des Deutschen Vaterland". Deutschland hat von
jeher viel Krebse gehabt.
— Der Minister Eichhorn hat den katholischen Bischöfen Preu¬
ßens i» einem sehr milden und schonungsvolleu Rundschreiben die Ein-
führung des protestantischen Gustav-Adolphvcrcins gemeldet und sie
über die Tendenzen desselben, die durchaus nicht gegen den Katholicis¬
mus gerichtet sind, zu beruhigen gesucht. Polemische Störungen sollen
von protestantischer Seite nicht stattfinden. Hoffentlich werden also die
katholischen Bischöfe Preußens keinen Einspruch erheben?! Wir aber
wünschten, daß Eichhorn'S Epistel lieber an den König von Baiern
gerichtet worden wäre, damit die armen bairischen Protestanten, die
doch Steine zum Kölner Dombau liefern, vom Gustav-Adolphvercin
Brod annehmen dürften.
— Der Bischof Alexander in Jerusalem soll große Eroberungen
machen. Die Zahl der Proselyten, die er gewonnen, wird bald die
der Einwohner von Palästina und Syrien übersteigen; so daß er al¬
lein für die Befreiung des heiligen Grabes mehr gethan hat, als
Gottfried von Bouillon mit Tausenden von Rittern und Knappen.
Die englischen Fünfpfündcr und Guineen sollen sich dabei alö sehr
gute Glaubcnswaffen beweisen. So melden die Zeitungen neuerdings
von einem „jüdischen Doctor", den er sammt Weib und Kind getauft
hat. Freilich wird nicht gesagt, ob dieser Doctor an der Universität
von Jerusalem, Aleppo oder Damaskus promovirt, oder ob Alexander
ihn gleich als Proselytcnparadcpfcrd aus Europa mitgebracht hat.
— Die „Jahrbücher der Gegenwart" weisen nach, was Alles zu
einem »christlichen Staat" gehöre oder eigentlich nicht gehöre. Es genügt
nicht, eine christliche Theologie oder allenfalls Philosophie zusahen; das
Wort ist eine Chimäre, wenn nicht die wesentlichsten, den Staat bil¬
denden Elemente des Lebens streng christlich und auf das Evangelium
gegründet sind. Vor Allem eine christliche Geschichte. „Weg also
mit der profanen Geschichtschreibung", die an Alles denselben Maßstab
historischer Beurtheilung legt und auch das Heidenthum als gesunde
Frucht des menschlichen Wesens bewundert! Weg mit der historischen
Kritik, denn aus ihr kommt der Zweifel, der bald auch in die heilige
Geschichte dringt. Unsere einzigen Historiker bleiben dann: Leo, Hur-
ter und Görres. Wir müssen, eben deshalb, eine christliche Philo¬
logie und Aesthetik haben; jedenfalls eine christliche Jurispru¬
denz. Schon das Sprichwort: Juristen sind schlechte Christen, er¬
innert an die Unchristlichkcit des Naturrechts und aller anderen Rechte.
„Wem die Verordnung eines Heiden, der gerichtliche Verfolgung und
Züchtigung des Beleidigers erlaubt, mehr gilt, als die Stimme des
Evangeliums, die gebietet, Dem, welcher uns auf die eine Wange
schlägt, die andere auch darzubieten", ist doch nicht sehr christlich; und
solche Menschen tragen, stützen und machen unseren Staat aus. „Daß
auch die Nationalökonomie und Finanz w lösen schaft christlich
sein sollen, ist noch von Niemand verlangt worden, aber wenn man
doch einen christlichen Staat und eine christliche Wissenschaft verlangt,
so läßt sich nicht absehen, wie irgend ein Theil der Staatswissenschaft
sich gegen die Religion gleichgiltig verhalten kann." — „Auch eine
christliche Polizei ist des jetzt nicht verlangt worden, und, was man
in der Wirklichkeit so nenne» mochte, ist eben nicht besonders christlich.
ES möchte auch schwer sein, die verschiedenen Geschäfte der Polizei, in
größeren Städte» besonders, nach christliche» Grundsätzen zu verwalten:
um so würdiger wäre es des christlichen Staats, sich an diese Aufgabe
zu wagen.,, Endlich müßten die Naturwissenschaften christianisirt
werden und vor Allem müßte gesorgt werden, daß der Arzt, bei sei¬
nem großen Einfluß auf die Menschen, ein vollkommen christlicher sei.
— (Brieflich aus Wien.) Vor kurzer Zeit enthielten mehrere
deutsche Blätter folgende Notiz: „Der deutsche Renegat Wezlar, der
vor zwei Jahren Muselmann wurde, den Grad eines Majors erhielt
und sich mit einem türkischen Mädchen verheirathete, entfloh vor drei
Wochen aus Konstantinopel mit Zurücklassung vou 6l),WV Piastern
Schulden und einer schwangeren Frau."
In Bezug auf diese Notiz ist uns eine Reclamation von einem
sehr nahen Verwandten der in Rede stehenden Fran mitgetheilt wor¬
den, worin es heißt: „Gesetzt, das Factum hätte sich buchstäblich er¬
geben, so werden Sie finde», daß die Art und Weise, in welcher es
mitgetheilt wurde, die gesammten Mitglieder einer jedenfalls hochge¬
stellten adeligen Familie, die in ihrer Mitte kaiserliche Generale und
Stabsoffiziere zählt, und die zumal noch mit mehreren gräflichen Fa¬
milien nahe verwandt ist (!), auf daS Empfindlichste compromittirt
hat." (Der erwähnte Renegat hieß, als er noch Christ war, Herr
Baron von Wetzlar-Plankenstcrn.) „Die ganze Mittheilung ist jedoch
Nichts als eine Mystification und Verleumdung." (höret) „Baron
Wetzlar, dermalen Alsace Bey, ist weder durchgegangen, noch hat er
seine schwangere Frau im Elend hinterlassen können, nachdem auf of-
ficiellen Wege, durch Vermittlung der Sultanin Valide, Baron Wetz¬
lar die achtzehnjährige Wittwe des Mustapha Pascha, eine geborene
EmirS-Tochter, also Fürstin, die zumal ungeheuer reich ist, vor zwei
Jahren geheirathet hat. Herr Baron Wetzlar, nunmehr Nehmet Sable
Bey, ist vor drei Jahren nach Konstantinopel mit obrigkeitlicher Be¬
willigung in der Absicht gereist, dort als Jnstructor in der großherrli-
chen Armee angestellt zu werden. Ein zufälliges Zusammentreffen mit
dem Sultan, dessen Wohlgefallen er durch sein Exterieur so glücklich
war, augenblicklich zu gewinnen und glänzende V ersprech ungen (I)
bewogen ihn, ganz in türkische Dienste zu treten. Reich beschenkt, zum
Bed erhoben, wurde er auf der Stelle Col-Aga, d. h. Adjutant-
Major. Drei Woche» später erhielt er den Nischan in Diamanten und
wurde Binbascha, d. h. erster Major. Bald darauf erfolgte seine Ab-
Sendung nach Syrien als Adjutant von Omer Pascha. Nach sechs¬
monatlicher Abwesenheit kehrte er nach Konstantinopel zurück, wo, wie
alle Zeitungen es berichtet habe», seine Verheirathung mit ungewöhn¬
lichem Pompe stattfand. Eben jetzt, d. h. am türkischen Neujahrstcigc
(nach unserer Zeitrechnung am 12. Januar 1844) erhob ihn der Sul¬
tan zum Kaimakan, d. h. zum Obersten, und er wurde als Beweis
des Vertrauens, welches die hohe Pforte in ihn setzt, als General-
Adjutant zum Gouverneur von Belgrad Sr. Ercellcnz Hafis
Pascha zugetheilt, allwo er factiscü am I. März eingetroffen ist, was
er mir mit der gestrigen Post berichtet hat." — Wir geben dieses
Schreiben, dessen Autograph vor uns liegt, ohne weiteren Commentar;
der Leser wird wissen, was er sich dabei zu denken hat.
— Die Tantieme ist, wie Herr von Holbein in Wien voraus¬
gesagt hat, nun auch in Berlin eingeführt. Die Zeitungen theilen die
einzelnen Punkte der neuen Einrichtung mit. Die Oper ist mit in-
begriffen; und die Tantiemes sind wie in Wien blos auf drei Jahre zur
Probe eingeführt. Die Theaterkassen werden diese Probe bestehen; da¬
von sind wir aus vielen Gründen überzeugt. Um aber unmittelbarer
auf das Drama und nicht blos für die materielle Belohnung bühnen-
gcschicktcr Dramatiker zu wirken, wäre nöthig, daß die Theater-Ccnsnr-
schccrcn etwas stumpfer würden und bei der Annahme neuer Stücke
weniger engbrüstige Rücksichten vorwalteten. Diese Reform liegt aber
freilich weder in Herrn v. Holbein's, noch in Chevalier Küstncr's
Macht.
— Raupach will dramaturgische Vorlesungen hallen; Raumer
geht nach Nordamerika, auf drei oder vier Baude; Mundt hat, wie
die Düsseldorfer Zeitung meldet, seine Vorlesungen (über Communis¬
mus und andere gefährliche Dinge) von selbst geschlossen, nachdem er
in der letzten eine Apologie Nauwerk's geliefert. Er wird wohl einen
leisen Wink bekommen haben. Nauwerk hat das Privatdoeiren auf¬
gegeben und will nach Paris gehen. Man wird bald sagen-: Er geht
nach Paris, wie man sagt: Er zieht sich auf's Laud zurück. In der
That scheint es in Paris viel ruhiger und friedlicher zu sein, wenn
eine Revolution vorgefallen ist, als in Berlin, wenn Einer VivatI ge¬
rufen hat. Die Allgemeine Berliner Weltgeschichte macht einen solchen
Lärm um Nichts, daß man sich fragen muß: Wie soll das werden,
wenn dort erst wirklich was geschieht?!
Wie man überhaupt darauf achten sollte, nationale Eigenthüm¬
lichkeiten aufrecht zu erhalten, so scheint mir dies bei Heeren und
Truppen ganz besonders wichtig zu sein. Ost hat eine so oder so
gestaltete Mütze, eine Litze oder die Form eines Rockes, eine eigen¬
thümliche Melodie oder irgend ein nationales Instrument im Augen¬
blicke der Gefahr eine Schaar mit unwiderstehlicher Begeisterung be¬
lebt, mit stolzem Selbstgefühl erfüllt. Die Bergschotten, die spanischen
Miquelets, gewisse Abtheilungen der französischen und rujsischen Gar¬
den, verschiedene preußische Truppencorps liefern in der Kriegsge¬
schichte in den neuesten Zeiten Belege zu dieser Behauptung. Aber
kein Heer in der Welt dürfte in feinen Reihen wohl so verschiedene,
jedes in seiner Art ganz besonders charakterisirte Truppengattungen
zählen, als das österreichische. Der deutsche Reiter, der Kroäk, die
Grenztruppen, der Artillerist, der Tyroler Jäger und der ungarische
Hußar sind, jeder für sich, einer eigenen militärischen Physiologie
würdige Typen des Soldatenstandes.
Insbesondere aber verdient der ungarische Hußar eine eigene
Beachtung. Trotzdem, daß man ihn nach und nach seiner Eigen¬
thümlichkeit so viel als möglich beraubt hat, bis'auf sein Kleid, —
trotzdem, daß gerade er von allen europäischen und manchen au¬
ßereuropäischen Mächten nachgeahmt worden, ist er doch in seiner
Art eigenthümlich geblieben. Auch sieht er alle fremden, seinen Na-
rionalrock tragenden Krieger mit einer gewissen Geringschätzung an,
gleichwie eine adelige Familie Fremde, welche sich ihren Namen und
ihr Wappen angemaßt hätten. Ein alter ungarischer Hußarenlieutenant
antwortete einem schönen, bunten, von Gold strotzenden Offizier, der
ihn per „Bruder Hußar" ansprach: „Bruder! ich Hußar, — Du
Hanswurst! —
Die Benennung Huszar stammt eigentlich von dem Worte
Husz, zwanzig. Man behauptet, daß zu Zeiten der Türken¬
kriege jede Gemeinde den zwanzigsten Mann zu Pferde stellen sollte,
oder daß der Adel aus zwanzigen einen zu Pferde ausrüstete. Daher
die Benennung „die Zwanzigster". — Andere aber meinen, unter
König Ladislaus, oder zur Zeit des Mathias Corvinus habe eine leichte
Reiterei als Leibwache bestanden, welche als Löhnung zwanzig Arrhen,
eine damalige Münze, empfangen habe, und daher der nach und nach
für die leichte ungarische Reiterei gangbar gewordene Name Huszä-
rok, „die mit zwanzig Arrhen Besoldeten". Dem sei wie ihm wolle,
so viel ist gewiß, daß unter dieser Benennung leichte ungarische Rei¬
ter schon während derKriege des Mathias Corvinus gleichzeitig mit den
aus Böhmen und den Resten der Hussitenheere bestehenden, von dem
berühmten Feldherrn Giökra befehligten, von ihren schwarzen Har¬
nischen und Pikelhaubcn unter dem Namen der schwarzen Legion be¬
kannten, in Sold genommenen Truppen, — genannt werden. Sie
waren damals die ungarische leichte Reiterei, gleichwie die Hai-
dukcn das geworbene, auf längere Zeit in Pflicht und Sold genom¬
mene stehende Fußvolk.
Jeder ungarische, zum Gefecht zu Roß gerüstete Krieger heißt
noch heut zu Tage „Hußar". Nach den dortigen National- und
Landesverhältnissen gibt es also auch Comitatshußaren, Leibhußaren,
— fürstliche, — erzbischöfliche, Stadthußaren. Bei der adeligen Jn-
surrection gibt es ganze adelige.Hußarenregunenter. Die zuletzt von
den Standen im Jahre 1814 auf die Dauer des Krieges gestellten
leichten, den regulirten nationalen Hußarenregimentern zugetheilten
Reiterschwadronen hießen Veliten, von dem lateinischen Worte Volles.
Der ungarische Hußar, gut geführt, ist das Muster einer leich¬
ten Reitertruppe. Ausgezeichnet tapfer, wachsam, seinem Offizier an¬
hänglich, vereinigt er in seinem halb orientalischen, halb europäischen
Wesen alle Eigenschaften, welche die ausgezeichnetsten Truppen bei¬
der Welttheile besitzen. Er ist ernst, stolz, verschlossen. Die Haupt¬
eigenschaften, um ihn zu leiten, sind: Gerechtigkeit, Unerschrockenst,
Ruhe. Man muß ihm zeigen, daß man ihm überlegen ist. Vor
dem Feinde muß er den Führer immer vor sich sehen. Einzelne
Züge von handfester Tapferkeit imponiren ihm, noch mehr kaltblütige
Ruhe bei Gelegenheiten, wo er anfängt, besorgt zu werden. Im Spi<
tal, bei Verwundeten und Kranken zeige man Theilnahme und Milde,
im Uebrigen Strenge und Gerechtigkeit. Man verurtheile ihn nie,
ohne ihn zu hören, und man hüte sich vor Schimpfworten und lei¬
denschaftlichen Ausbrüchen. Bei allen Austheilungen sehe er, daß
man sich um ihn bekümmert; beim Lagerfeuer finde er, wenn er er¬
wacht, schon den Führer gegenwärtig. Bei keiner Truppe muß der
Offizier vor Allem die Achtung seiner Untergebenen mehr besitzen,
als beim Hußaren; dann komme Furcht und hernach Liebe. Viel
Worte sind bei ihm eher schädlich als zweckdienlich, — einige wenige,
aber passende dagegen sehr wirksam. Man muß seine Sprache
durchaus sprechen; er wird eine strenge, ihm unmittelbar mitgetheilte
Sentenz leichter ertragen, als eine mildere, welche er durch einen
Dolmetsch erhält.
Sein gefährlichster Fehler ist der Trunk und daraus sich erge¬
bende Widersetzlichkeit und Raisonniren. Der Ungar, wie jede orien¬
talische Race, geht sehr schnell von scheinbarer Ruhe und Indolenz
zu plötzlicher Heftigkeit und den leidenschaftlichsten Ausbrüchen über.
Mit Zwang löst man seine Zunge nie, dagegen widersteht er selten
Motiven des Ehrgeizes und der Eitelkeit; hat man ihn einmal mo¬
ralisch magnetisirt, so kann man auf ihn rechnen, und er ist det grö߬
ten und heldenmüthigsten Thaten fähig.
Der ungarische Hußar verläßt sich hauptsächlich auf seinen Sä¬
bel, den er immer als Hieb-, fast nie als Stichwaffe gebraucht. Auch
seinen Karabiner mißt er ungerne, ob zwar er sich dessen selten mit
Erfolg bedient. Weniger wichtig sind ihm die Pistolen. Auf die
Pike hat er kein Vertrauen; er sieht sie als eine Bauernwaffe, des
ungarischen Reiters unwürdig, an.
Der ungarische Hußar wird in der Fortsetzung des Gefechtes
lebhafter als im Anfang, besonders wenn er anfängt, Blut zu sehen;
darin unterscheidet er sich wesentlich vom Franzosen.
Im Lager ist er vor Mitternacht stille, nach Mitternacht und
gegen Morgen wachsam; darin von den meisten anderen Truppen
verschieden, bei welchen das Lager vor Mitternacht lebhaft und lär¬
mend, gegen Morgen aber Alles still und in Schlaf versunken ist. -
Am Wachtfeuer erzählt gewöhnlich ein Jmprovisator Märchen,
denen mit dampfender Pfeife schweigsam und aufmerksam zugehört,
und der Erzähler mit einigen Gratisschlucken aus den Feldflaschen
der Zuhörer erfrischt wird. Der Erzähler hat dabei gewöhnlich die
schlaue Geschicklichkeit, den interessantesten Theil der Geschichte auf
das nächste Mal zu lassen, um die Aufmerksamkeit und somit auch
die Freigebigkeit seiner Kameraden für das nächste Mal zu erhalten.
Diese Erzählungen sind oft merkwürdig zusammengestoppelt aus alten
Sagen, Ereignissen, Personen, und vermischt mit neuen Regiments-
geschichten und modernen Individuen. Loudon, Friedrich der Große,
der berühmte Räuber Angyel Barby, Napoleon u. a. in. finden sich
dabei auf die sonderbarste Weise zusammengestellt.
Der Hußar ist gewöhnlich schweigsam. Oft sieht er stundenlang
mit liebendem Blick sein Pferd an und spricht mit ihm. Ihn von
seinem Pferde trennen, ist für ihn oft das schmerzlichste Ereigniß,
und es gibt Fälle, wo es ihn zum Selbstmord gebracht hat.
Er ist auch capable, Nächte lang, nachdem er die übrige Gesell¬
schaft aus der Schenke vertrieben hat, der Zigeunermusik gegenüber
ganz allein zu tanzen.
Ein General, der die Charakteristik des Hußaren durch und
durch kannte und mit wahrer Genialität aufzufassen verstand (F. M.
L. Wartensleben), reducirte die Reitkunst der Hußaren auf drei Prin¬
cipien: kurze Bügel, kurze Zügel, lange Sporen. Sind die Spo¬
ren blank und der Bart ziemlich gewichst, so ist der Mann gewöhn¬
lich ein ordentlicher Soldat, wenn auch zufällig in der Adjüstirung
sonst etwas mangelt.
Der Hußar sorgt zuerst für sein Pferd, dann erst für sich.
Trunk und Raisonniren sind seine Hauptfehler.
Als Meszuros Hußaren (später Barco, Stipsics Nro. 10.) in
den Niederlanden zum ersten Mal attaquirte, ritt der Oberst Matias-
chofsky, seinen entblößten, kurzen, breiten Säbel in der Hand, vor das
schon in den Türkenkriegen bewährte Regiment. „Fleischhacker! wollt
Ihr Fleisch hauen?" (Mesz-Lroö nämlich, der Name -des Inhabers,
heißt auf deutsch Fleischhauer) — Ein beifälliges Murmeln über die¬
ses populäre Calembourg ging durch die Reihen. — „Gut also,
ich, der Meister, werde (Such führen; Ihr, die Gesellen, werdet nach¬
helfen; hundert Prügel Dem, dessen Säbel früher blutig ist als der
meine!"
Damit wollte er das Vorprellen verbieten, deö Nachreitens war
er gewiß. Manche andere Truppe hätte diese Warnung entbehren
können, mancher andere Oberst sich aber wohl gehütet, sie zu geben.
Die Oberstlieutenants erste Eskadron (Rittmeister später F. M. L.
Geringer) desselben Regiments nahm bei Famers die feindlichen
Schanzeir ein, indem sie bei der Kehle einritt. In demselben Feld¬
zuge erhielten drei Eskadrons-Commandanten dieser Eskadron das
Theresienkreuz.
Keine Truppe ist so innig ihrem Offizier anhänglich, wenn er
mit ihr umzugehen versteht, als der Hußar. Nirgends aber ist der¬
selbe, sowohl im Feld, als im Friedensdienst, einer schärferen Kritik
unterworfen.
Bon Feinden respectirt er am meisten den preußischen Husaren
und den französischen Kürassier. Jeden Kürassier nennt er v»»»»
nometli, „einen eisernen (gepanzerten) Deutschen" — so wie jeden
Fremden „einen Schwaben".
Der commandirende General ließ bei der Campagne 1812 in
Rußland eine Schwadron von Kaiser-Hußaren in Plänkler auflösen,
um einige Gefangene zu machen, von denen man in Erfahrung brin¬
gen könnte, welches Corps man gegenüber habe, und sonstige Aus¬
künfte erhielte. Bald brachte ein alter, mit der silbernen Tapferkeit^
Medaille gezierter Hußar einen jungen Kosakenoffizier am Zügel ge¬
führt. Der commandirende General, welcher dazu befugt war, befahl
den Mann für die goldene Medaille vorzumerken, war aber, bei dem
bekannten Ehrgeize dieser Truppe, als der alte Hußar sich äußerte,
lieber für diese That eine kleine Geldbelohnung oder auch sonst nur
eine Belobung zu empfangen, darüber unangenehm betroffen, und
höchlich erstaunt äußerte der commandirende General seine Verwun¬
derung und sein Mißfallen. Der Hußar aber sagte, als man ihn
um den Grund seines Benehmens fragte: „Ich habe die silberne
Medaille bei Aspern empfangen, weil ich einen französischen Kürassier-
Rittmeister gefangen einbrachte. Man hat mich belohnt, weil ich el-
um Mann gebracht habe, der mehr war als ich. Das war begreif¬
lich; es war ein Offizier, — noch dazu ein Kürassier, —
und endlich ein Franzose. Der Bursche aber ist ein Junge, —
ein Kosak, — ein Russe, — gar kein rechter Mann und kein ordent¬
licher Soldat! Nehme ich also die Medaille, so sieht es aus, als
würde ich anerkennen, daß er mehr gilt als ich, — das kann ich
nicht! Wenn er mich finge, der ich ein alter Hußar vom Kaiser-
Regiment, ein Edelmann , und ein Ungar bin, dann verdiente er
wohl eine Belohnung, ich aber keine, daß ich einen solchen Lassen
mitbringe! Ein Schluck Wein thäte mir gut auf die Anstrengung und
etwas Seifengeist für die Hufe meines Schimmels; deswegen bat ich
um eine kleine Geldvergünstigung, auf die ich aber willig verzichte,
wenn sie nicht den hohen Herrn passend dünkt!" —
Ein zum Tode verurtheilter Hußar vom Palatinat - Regiment
begehrte, kurz vor seiner Hinrichtung, vom protestantischen zum katho¬
lischen Ritus überzutreten. Auf die Frage, welcher Beweggrund ihn
zu diesem Schritte antreibe, und die Warnung des Feldpaters selbst,
er möge seine letzten Stunden nicht etwa durch eine, in Hoffnung
der Begnadigung, oder durch sonstige irdische Rücksichten herbeigeführte
Apostasie entwürdigen, sagtcer: „Herr! ich habe in der Einsamkeit Zeit
genug gehabt, über die Zukunft zu denken; da ist mir eingefallen,
daß alle Könige von Ungarn katholisch waren; und da es ihnen schon
auf dieser Welt besser gegangen ist als anderen Leuten, vermuthe ich,
daß sie auch drüben einen guten Platz haben werden. Ich möchte
also dorthin kommen, wo die Könige sind." — Er wurde richtig ka¬
tholisch — und gehängt.
Das österreichische Heer hat in seiner Negimentsgeschichte eine
herrliche Ahnentafel und eine Fundgrube historisch-nationaler Tradi¬
tionen, von denen es nur zu bedauern ist, daß sie nicht in populä¬
rem Styl zum Gebrauche, zur Erheiterung, Belehrung und Erhebung
von Unteroffizieren und Mannschaft veröffentlicht sind.
Dampierre, später Se. Hilaire, jetzt Hardegg-Kürassier, besitzt
in Erinnerung der Beschirmung Kaiser Ferdinands die schönsten Pri<
vilegien:
Unter dem Obersten Fürsten Alfred Windischgrätz feierte dieses
Regiment im Jahre 1818 sein doppeltsäculäres Jubiläum.
Das Regiment Hardegg (Heinrich) Kürassier hat als Sachsen-
Lauenburg im dreißigjährigen Krieg gleichfalls eine ausgezeichnete
Rolle gespielt.'
Die alten Pappenheimer, später Piccolomini dArragona und La
Coruna sind das jetzige leichte Reiterregiment Karl Lichtenstein, noch
in den letzten Franzosen- und früheren Türkenkriegen unter dem Na¬
men Kinsky rühmlichst bekannt. Die so ausgezeichneten Reitergcne-
rale Tettenborn, Menödorf, Wallmoden dienten in ihrer Jugend
sämmtlich in diesem tapfern Regimente.
Eben so berühmt in den Preußen-, Türken- und Franzosenkrie¬
gen war unter dem Namen Alt Löwenstein das jetzige leichte Reiter¬
regiment Hohenzollern. Sie nahmen bei Hochkirchen die silbernen
Pauken eines preußischen Reiterregiments, hatten lange das Privile¬
gium, dieselben zu führen, und die Offiziere, silberne Sporen zu tragen.
Noch bestehr das Dragoner-Regiment Savoyen, zum Andenken
des unsterblichen Prinzen Eugen, welcher dessen Oberst und Inha¬
ber war, dessen Namen in beständige Zeiten fortführend.
Dieselbe Bestimmung besteht sür das Regiment Schwarzcnbcrg-
Uhlancn, welches als Freicorps von dem Oberstlieutenant, späterem
Feldmarschall Fürsten Karl Schwarzenberg befehligt wurde. Es hat
auch die grüne Farbe seiner Czapkas einer ehrenvollen Veranlassung
zu danken.
Das Regiment Latour-Dragoner, jetzt Windischgrätz-Chevaur-
legcrs, war in den ersten Zeiten des Nevolutionskrieges der Schrek-
ken ver Neufraicken. Es bestand durchgängig aus Wallonen, deren
Verwegenheit sprichwörtlich geworden war. , I t est bi-no«! eminent?
,i» WiiHon!" — Dies Regiment trägt an der Oberst-Standare' eine
goldene Medaille mit der Inschrift: l-l ki^kein6 et villeur «ni lie-
^imlZiit at! l)r<^n»!j vvcnnmi«; ^al- 8. IVI. I^lZin^orvur
»!t lioi. ^ — nebstbei hat das Regiment das Privilegium, nie die-
grüne Farbe seiner Montirung zu verändern (drei leichte Reiterregi¬
menter, Kaiser, Windischgrätz und Hohenzollern sind grün). — Als
das Regiment, eben neu geworben, bei Kollin die preußischen Kü¬
rassiere attaquiren sollte und der Oberst, Marquis de Se. Jgnon,
die Befehle des Feldmarschalls Grafen Daun mit gesenktem Degen
zu erbitten kam, sagte ihm dieser mit mißtrauischer Miene: „Vlms n«
loro« p»s A'undt cliose »pee.vos bi-mes l»vo8." — Se. Jgnon ritt
zurück, wiederholte dem Regiments diese Aeußerung, hinzusetzend:
„Lliuics doch, in»ullo?i s>no 1'ein soll morclre s.eilf itvoii- ils Il»
lutrbe, (muntre/. <n>o ^om- nordi-« it ne inne <>»s «les hierts vt n.l«
no In binliv!) — Der Angriff gelang vollkommen und mit glän¬
zendem Erfolge. Seitdem trägt kein Mann oder Offizier im Regi¬
ments einen Schnurrbart.
Das jetzige Regiment Erzherzog Ludwig war das vormalige, im
dreißigjährigen Kriege so bekannte Holkische Regiment.
Eines der ältesten böhmischen Regimenter, noch neulich durch
den Sturm auf die Dresdner Schanzen, auf den Ebenen von As-
pern und bei Leipzig ruhmvoll ausgezeichnet, ist De Vaur.
Bei der Schlacht bei Wagram erfocht das Regiment Erb ach,
jetzt Wellington, welches die Franzosen von den schon erstiegenen
Höhen des Nußbaches stürmend unter den Augen des Erzherzogs
Karl herabwarf, die Auszeichnung, den Grenadiermarsch zu schlagen.
Das Regiment BabocSay-Haiduken, — später Mescery, griff
bei Leuthen die preußische Kavallerie mit umgeschwungcnen Flinten,
den Säbel in der Faust, an und trieb sie zurück. (Dasselbe thaten
bei Waterloo die Bergschotten.
Es war einmal ein Zimmermeister, welchem der Himmel viel
Rechtschaffenheit, viel Talent, sehr wenig Geld und zehn Kinder ge¬
geben hatte. Eines der letzteren ward Jacques genannt; eine muthwillige
Fee nahm ihn unter ihren Schutz. Der arme Jacques wurde ein Mil¬
lionär und protegirte seine Freunde, protegirte seine Feinde, protegirte
die ganze Welt. Zu derselben Zeit gab es einen so alten, abge¬
nutzten und durch Revolutionen geschwächten Thron, daß er nur
mühsam aufrecht erhalten werden konnte. Der König vergaß eines
Tages, sich mit Behutsamkeit darauf zu setzen; er ließ sich unvorsich¬
tig darauf nieder, und der Thron brach zusammen. Es galt jetzt,
einen neuen zu bauen. Jacques, welcher das Handwerk seines Va¬
ters nicht vergessen hatte, brachte mit einem kräftigen Faustschlag die
vier mit Sammt überzogenen Bretter, welche die Grundlage des so¬
cialen Gebäudes bilden, wieder in's Gefüge. Aber das brachte ihn
in's Unglück; sein Schutzgeist wandte ihm den Rücken, seine Kasse
wurde leer wie durch Zauberei, sein Gefolge von Freunden verwan¬
delte sich in eine Schaar von Gläubigern, und wenn nicht einige
von Denen, die ihm Nichts schuldeten, ein wenig von dem Golde
gegeben hätten, welches er so großmüthig verschwendet hatte, hätte
er kein Obdach für sein Haupt gehabt. Zu dieser schwierigen Lage ver¬
lor Jacques jedoch nicht den Muth; in seinen alten Tagen begann
er von Neuem das mühsame Werk seiner Jugend und gewann fast
sein ganzes Vermögen wieder. Der reiche Jacques war bescheiden,
leutselig und gemüthvoll; der arme war edel, energisch und würde¬
voll; als reicher und als armer Mann liebte er die Ehre und sein
Vaterland, that Gutes ebenso aus innerem Trieb, wie aus Gewohn¬
heit, und wenn auch Mehrere, mit Recht oder Unrecht, ihm politi¬
sches Genie absprachen, so nannte dagegen ganz Frankreich mit einer
Stimme den Banquieremporkömmling einen Ehrenmann.
Das klingt fast wie ein Roman; aber doch ist es nur einfache
Geschichte und zwar die Lebensgeschichte des Herrn Laffitte.
Jacques Laffitte wurde am 24. October 1767 in Bayonne ge¬
boren. Ohne Herkunft und ohne Vermögen, ohne die Pergamente,
welche damals daS Gold bald herbeizogen, und ohne das Gold, welches
auch Pergamente verschaffte, betrat der junge Laffitte die kaufmän¬
nische Laufbahn, in der nur selten der Fleißige erfolglos strebt. In
seinem zwanzigsten Jahre kam er mit keiner anderen Unterstützung
nach Paris, als mit einem glücklichen Gesicht, einem offenen und einneh¬
menden Charakter, einem unermüdlichen Eifer, einem großen Scharf¬
sinn und mit dem lebhaften Geist eines Südfranzosen. Mit weniger
Vorzügen kommt man schon durch die Welt. So von der Natur
ausgestattet, trat Laffitte 1787 als Commis in das Banquierhaus
Perr6gaur. Die Revolution und Laffitte gingen in gleichem Schritt vor¬
wärts. Zur Zeit der Notabelnversammlung war er noch einfacher
Commis, zur Zeit des Schwures im Ballhause ist er schon Buch¬
halter; wie die Republik proclamirt wird, ist er Kassierer und Ver¬
trauter des Principals; unter dem Consulat ist er unentbehrlich ge¬
worden; wie Napoleon Kaiser wird, tritt der Banquier Perr6gaur in
den Senat und überläßt dem jungen Commis die Leitung seines
Geschäftes, und einige Jahre später, 1809, hat das Haus P^rrigaur
seinen Namen in Jacques Laffitte verwandelt. Der Sohn des Zim-
mermanns von Bayonne sah sich jetzt an der Spitze eines ungeheue¬
ren Geschäftes und im Besitze eines Vermögens von Millionen und
versah die Stelle eines Directors der Bank. Gegen das Ende der
Kaiserherrschaft wurde er Gouverneur der Bank von Frankreich mit
einem Gehalt von hunderttausend Francs. Die Zeiten waren schlecht,
die Bank arm; Laffitte gab der Bank ein Almosen uno verzichtete
auf sein Gehalt. Ein solches Anerbieten ist nicht häusig genug in
unseren Tagen, um nicht einige Aufmerksamkeit zu verdienen.
Bald sieht Paris die Verbündeten in seinen Mauern; die Stadt
soll eine bedeutende Kontribution bezahlen; der Schatz ist leer und
die Notabilitäten der Bank, zu diesem Zweck zusammenberufen, be¬
rathen über die Mittel, eine Anleihe zu erheben; Laffitte steht auf
und schlägt eine Nationalsubscription vor, an deren Spitze er sich
selbst mit einem bedeutenden Beitrag stellt. Dieser Edelmuth fand
keine Nachahmung und Laffitte blieb der einzige Unterzeichnete.
Nach der ersten Restauration wurde Laffitte der Banquier der
Bourbonen; und alö sich Ludwig XVIII. am 20. März plötzlich von
dem Throne und in's Erik gestoßen sah, griff Laffitte in seine Kasse
und' gab dem flüchtigen Konig vier Millionen, dem Grafen von Ar-
tois eine Million und siebenhunderttausend Francs der Herzogin
von Angouwme.
Zu derselben Zeit war ein Zug der ehrenwerthesten Uneigen,
nützigkeit die erste Veranlassung zu einer Verbindung, welche später
die ernstesten Folgen hatte. Der Herzog von Orleans, jetzt König
der Franzosen, sah sich gezwungen, ohne Geld abzureisen. Verge¬
bens hatte er verschiedenen Handlungöhäusern Papiere bis zum Be¬
trag von 1,600,000 Francs angeboten, obgleich er zwanzig Procent
dabei verlieren wollte. In seiner Verlegenheit wandte sich der Her¬
zog endlich auch an Laffitte; der großmüthige Banquier zögerte keinen
Augenblick, schlug den ihm angebotenen ungeheuern Gewinn aus
und nahm die zweifelhaften Papiere »l pari an.
Während der hundert Tage befand sich Laffitte in der Repräsen¬
tantenkammer als Mitglied der Handelsdeputation. Hier befand
er. sich unter der muthvollen Minorität, welche vor Allem das Vater¬
land vor einer zweiten Invasion retten wollte; aber Feigheit, Ver¬
rath und die Ungunst der Verhältnisse vereitelten ihre Bemühungen;
und als der einzige Mann, welcher den französischen Waffen noch
den Sieg geben konnte, den Weg nach Se. Helena einschlug, war
es wieder Laffitte, welcher die kleinen Ueberreste seines Vermögens in
seine Obhut nahm. Mai: übergab ihm fünf Millionen, und als er
dem Kaiser eilten Empfangschein darüber geben wollte, verweigerte Na<
poleon seine Annahme mit den Worten: Ich kenne Sie, Herr Laffitte, ich
weiß, daß Sie meine Regierung nicht liebten, aber ich weiß auch,
daß Sie ein ehrlicher Mann sind.
Die Restauration war endlich eingetreten und die nach der
Charte zusammengesetzten Kammern versammelt. Laffitte wurde von
dem Wahlcollegium von Paris in die Deputirtenkammer gesendet,
wo er auf der Bank der Opposition Platz nahm. Doch war wäh¬
rend dieser Sitzung seine Stellung gegen die Regierung nicht gerade
feindselig. Der Finanzmann Laffitte verweigerte zwar sein Votum
allen Neactionsmaßregeln der unsindbaren Kammer, beschränkte sich
aber sonst ganz auf sein Fach und ergriff nur das Wort, wenn ihm
eine Finanzfrage Gelegenheit gab, seine Ideen über den Gegenstand
zu entwickeln, den er so lange und gründlich studirt hatte. Schon
seine Berichte als Gouverneur der Bank hatten durch ihre Klarheit
und Gründlichkeit seine genaue Wissenschaft in Allem, was sich auf
den öffentlichen Credit bezog, bewiesen.
Beiden Wahlen im Jahre 1817 kam in allen zwanzig Sektionen
des Wahlcollegiums von Paris ein und derselbe Name bei der er¬
sten Ziehung aus der Urne; es war der Lafsitte's. Er trennte sich
in dieser Kammersitzung offen von seinen politischen Freunden, indem
er die Rentenreduction unterstützte.
Dadurch kam er allmälig auf das Terrain der Opposition,
und als das Ministerium Villele sich durch die Auflösung der Na¬
tionalgarde auf die Spitze der Unpopularität gestellt hatte, sah man
den patriotischen Deputieren einen schrecklichen Lärm auf den Bänken
der Rechten durch den Vorschlag veranlassen, die Minister in Anklage¬
stand zu versetzen.
In den ersten Reihen der Vertheidiger der Charte stehend, durch
seine Meinungen, wie durch seine fürstliche Freigebigkeit populär, sah
der reiche Banquier bald alle Notabilitäten der Presse und der Tri-
bune um sich versammelt. Wenn er seine Börse allen Unglücklichen
öffnete, die Industrie in allen Fächern unterstützte, die Wissenschaften
und Künste mit seinem Golde ermuthigte oder ungeheuere Summen
zur Unterstützung wohlthätiger Anstalten hingab: immer wußte Laffitte
mit der Größe des guten Willens die Zartheit in der Ausführung
zu vereinigen. Wir führen blos einen Zug von taufenden an.
Der General Foy war so unklug gewesen, seine ruinirten Ver-
mögensumstände im Börsenspiel verbessern zu wollen, aber da er mit
den Speculationen der Juni«so und l»!u->«e unbekannt >var, verließ
er sich blindlings aus seinen Wechselagenten und glaubte sich zu be¬
reichern, indem er sich ruinirte, oder bereicherte sich vielmehr, indem
er sich ruinirte; denn eine unbekannte Hand trug Sorge, jeden Ver¬
lust reichlich zu ersetzen, und der General ist in dem Wahne gestor¬
ben, ein glücklicher Speculant zu sein und ohne die Ahnung, daß
sein Gewinn aus Lafsitte's Kasse komme. Zu Gunsten seiner Familie
gab Laffitte auch noch bei der Eröffnung seiner Subscription für sie
hunderttausend Francs.
Schon seit langer Zeit hatte Laffitte begonnen, an der Zukunft
des älteren Zweiges der Bourbonen zu verzweifeln; in der Ueberzeug¬
ung von dem früheren oder späteren Ausbruche einer Revolution, sah er
sich nach Mitteln um, sie zum Besten des Landes zu wenden. Wir
haben bereits erzählt, welcher Vorfall die Verbindung Lafsitte's mit
dem Herzog von Orleans einleitete. Diese Verbindung wurde immer
enger und enger. Der General Foy, Benjamin Constant, Casimir
Perier, Alercmdre de Laborde und der General Gerard bildeten mit
Laffitte den vertrauten Kreis des ersten Prinzen von königlichem Ge¬
blüt. Der Herzog von Orleans, durch seine politischen Antecedentien,
wie durch seine liberale Gesinnung eine schwierige Stellung dem Hofe
gegenüber einnehmend, der ihm weder das Votum seines Vaters,
noch seine republikanische Vergangenheit verzieh, flüchtete sich in das
Innere des Familienlebens, schickte zum großen Entsetzen der Emig¬
ration seine Kinder, wie ein einfacher Bürgersmann, in das College
und folgte mit halb fürchtenden und halb hoffenden Blick dem schnel¬
len Fortschritt des Königthums zu dem Abgrund, welcher es ver¬
schlingen sollte.
Wenn der Prinz vielleicht die Möglichkeiten der Zukunft fürch¬
tete, so wünschten dagegen seine Freunde sie auf das Heißeste herbei
und Laffitte verhehlte gegen Niemand seine Abneigungen oder seine
Hoffnungen. „Zu ums soll ich Sie machen, wenn ich König bin?"
fragte eines Tages der Herzog lächelnd den Banquier. — „Monseig-
neur," antwortete Laffitte, „wenn Sie König geworden sind, machen
Sie mich zu Ihrem Narren, zu Ihrem Hofnarren, daß ich Ihnen
die Wahrheit sagen kann."'
Dieser Thron, den Laffitte so lebhaft für denHerzog von Orle¬
ans wünschte, bot sich viel früher dar, als man erwartet hatte. Alle
Welt weiß, wie aus einem Auflauf eine Revolution wurde und wie
drei Kronen in drei Tagen herrenlos wurden; unsere Aufgabe ist es
nun, Lafsitte's Antheil an den Ereignissen der Julitage zu erzählen.
Den 28., wo der Sieg des Volkes noch ungewiß war, begab
sich Laffitte, nachdem er die Protestation der Deputirten unterzeichnet
hatte, und in dem Augenblicke, wo von Se. Cloud der Befehl zu sei¬
ner Verhaftung angelangt war, mitten durch den Kugelregen, in Be¬
gleitung von Perier, Mauguin, Gerard und Lobau zu Mar-
schall Marmont, Commandanten von Paris und beschwur ihn im
Namen der Menschlichkeit und des Vaterlandes, den Schrecken des
Bürgerkrieges ein Ende zu machen und seinen Einfluß zu gebrauchen,
um die Zurücknahme der Ordonnanzen und eine Aenderung des Mi¬
nisteriums zu bewirken. Im Weigerungsfalle würde er sich mit sei¬
nem ganzen Einfluß auf die Seite der Bewegung stellen. „Die mi¬
litärische Ehre besteht im Gehorsam", murmelte traurig der Marschall.
„Die bürgerliche Ehre", antwortete muthvoll der Deputirte, „besteht
darin, die Bürger für ihre Anhänglichkeit an die Konstitution nicht
hinschlachten zu lassen." So wie sich Herr Laffitte aber überzeugt hatte,
daß von dem verblendeten König Nichts zu hoffen sei, beschloß er,
das Aeußerste zu wagen, und machte sein Hotel zu einem Haupt¬
quartier, von wo die Proclamationen ausgingen, die den Aufstand
ermuthigter, die Befehle, welche ihn regelten und das Gold, welches
ihn nährte. Aber der Banquier vergaß den Herzog von Orleans
nicht; er schickte nach Neuilly einen Abgesandten nach dem andern.
„Vermeiden Sie die Netze von Se. Cloud," schrieb er dem Prinzen
am 28. „Zögern Sie nicht länger", fügte er am 29. hinzu; „wäh¬
len Sie, eine Krone oder einen Paß". Bald darauf gingen zwei
Regimenter zu den Aufständischen über und stellten sich vor Lafsitte's
Hütel auf. Von dem Augenblicke an warder Sieg entschieden; die
Reunion Laffitte übernahm die Leitung der Bewegungen, gab dein
General Lafayette den Oberbefehl über die Truppen und dem Mar¬
schall Gerard die Leitung der militärischen Operationen. Eine Mu¬
nicipalcommission wurde im Stadthause organisirt und als d'Argout
und Semonville im Namen Karl's X. mit dem Widerruf der Ordon¬
nanzen kamen, erhielten sie zur Antwort: es ist zu spät. Karl X.
hatte aufgehört zu regieren.
Die Verlegenheit Lafsitte's war jetzt groß. Alle Geister, von der
Freude des Sieges berauscht, überließen sich den widersprechendsten
Hoffnungen; es war dringend nothwendig, eine Macht zur Zügelung
der Anarchie und zur Consolidirung des Werkes der Revolution zu fin¬
den; aber der Herzog von Orleans hüllte sich noch in Schweigen
und Räthsel. Er war in Raine» und für Niemanden sichtbar; die Krone
lag auf dem Straßenpflaster; Laffitte bot sie ihm an und er zögerte
noch, sie anzunehmen. Um seiner Unentschlossenheit ein Ende zu ma-
chen, ließ Laffitte am 30. in allen Zeitungen eine Proklamation zu
Gunsten des Herzogs veröffentlichen, rief vierundvierzig Deputirte im
Palais Bourbon zusammen und beschloß mit diesen, den Prinzen
zum Generallieutenant des Königreichs zu ernennen; zwölf dieser
Deputirten begaben sich sogleich nach Neuilly, um dem Herzog das
Ergebniß ihrer Berathung mitzutheilen. Der Prinz erschien noch nicht
und erst am Abend, als er bei seiner Rückkehr von Rainey die Pro¬
klamation las, welche ihm den Weg zum Throne öffnete, entschloß
er sich, den Rubicon zu überschreiten; er umarmte seine Gemahlin
und seine Kinder, legte eine Civilkleidung an, ging zu Fuß und nur
von einem Adjutanten begleitet nach Paris, kam um eilf Uhr Abends
im Palais-Royal an und überschickte Laffitte sogleich eine Proklama¬
tion, in der er seine Ankunft und seine Annahme anzeigte.
Am anderen Morgen kamen die Deputirten abermals in dem
Palais Bourbon zusammen; eine von Guizot entworfene Adresse
wurde genehmigt, und die ganze Versammlung begibt sich nach dem
Palais-Royal; dort führt Laffitte das Wort im Namen der Kammer.
Auf dein Wege hatte er sich beim Uebersteigen einer Barrikade ver¬
wundet und trat hinkend bei dem Prinzen ein. „Sie sind verwun¬
det, Herr Laffitte", sagte der Letztere. „Monseigneur, sehen Sie nicht
auf meine Füße, sondern auf meine Hände, die Ihnen eine Krone
bringen."
Aber um diese Krone zu erlangen, mußte man noch einige An¬
strengungen machen. Während man sich im Palais-Royal damit
beschäftigte, einen König zu machen, drängte sich im Stadthause eine
Schaar von Jünglingen um einen Greis, um ihn zum Eckstein einer neuen
Republik zu machen. Aber noch zögerte der Greis Lafayette, denn
er fürchtete die Wiederkehr jener Zeiten, wo die Macht der Preis
der Kühnheit und noch häufiger des Verbrechens war.
Die Zeit drängte und man mußte einen Entschluß fassen. Laffitte
schlug dem Herzog vor, sich die Sanction des Stadthauses selbst zu
holen. Er ergriff mit Eiser den Vorschlag, dessen Ausführung nicht
ganz gefahrlos war; der Zug setzte sich in Bewegung, das Volk öff¬
nete erstaunt seine Reihen, die Nationalgarde bildete die Gasse und
der Herzog gelangt von Barricade zu Barricade bis an das Stadt¬
haus. Dort sehen sich der Veteran der Freiheit und der Soldat
von Jemmape zum ersten Mal seit 4t) Jahren wieder und das Julikonig-
thum empfängt durch Lafayette's Umarmung die entscheidende Weihe.
Am 7. August überbrachte Laffitte dem König die Erklärung der
Kammern, welche ihn auf den Thron berief, und die Sitzung vom 9.
brachte endlich alle Wünsche des Banquiers zum Ziel; er konnte,
wie die Jungfrau von Orleans zu Karl VII., sagen: Ich war bei
den Mühen, ich muß auch beim Triumphe sein. Aber für ihn war
der Augenblick des Triumphs fast das Zeichen zu seinem Untergang.
Der Zeitabschnitt, den wir jetzt beginnen, war für ihn eine Periode
des Schmerzes und der Kämpfe. Laffitte, an den Wagen des Staa¬
tes geschmiedet, erschöpfte seine Kräfte, verlor sein Vermögen, die
Frucht vierzigjähriger Arbeit und seine für glorreiche Dienste und
zahllose Wohlthaten erlangte Popularität.
Wir werden sehen, wie dieses dreifache Unglück sich zutrug.
Das erste Ministerium des Julikönigthums war eine wahre
Mustersammlung aller Parteien. In einem Kabinet befanden sich
mit oder ohne Portefeuille Molo und Dupont de l'Eure, Laffitte und
Guizot, de Broglie und Bignon, Republikaner, Imperialisten, reine
Juli-Monarchisten, zweifelhafte Dynastische, ein Chaos, von den
Straßenemeuten und den Stürmen der Kammern hin und her bewegt
und selbst'die Maschine der Regierung nach den widersprechendsten Sei¬
ten hin in Bewegung setzend. Es war eine schwierige Epoche. Das
Prinzip der Autorität, von dem Ausbruch der Volksleidenschaft ver¬
nichtet, sing kaum noch an, sich neu zu erzeugen ; die Macht war auf
die öffentlichen Plätze herabgestiegen; der erste beste Eckstein diente
dem ersten Besten als Tribune, von der er dem Volke politische
Theorien verkündete. Der jüngere Theil der Nation, siegestrunken,
blieb unter den Waffen; er wollte mit der Vergangenheit ganz bre¬
chen, die Gesellschaft von Neuem aufbauen, alles Alte in Frankreich,
bei den Nachbarn und bei den Antipoden vernichten; und das wollte er
thun mit einem erschöpften Schatze, einem fast deöorganisirten Heere,
und mit keinen anderen Bundesgenossen, als der Propaganda und
der Marseillaise. Auf der anderen Seite standen kältere Männer
mit tiefblickenden Geiste und gebieterischer Energie wie Mol«-, de
Broglic, Guizot, denen jede Revolution ein Zufall ist, den man sich
beeilen muß zu regeln. Sie erstrebten nichts Geringeres, als die
angeschwollene Fluth sogleich wieder in ihr altes Bett zuleiten, anstatt den
tobenden Wogen ein neues anzuweisen. Das Werk war schwer und,
den Zeiten und Personen gegenüber, fast unmöglich. Die gemäßigte
und doch unpopuläre Partei des Ministeriums mußte sich zurückziehen;
ihre Stunde war noch nicht gekommen.
Der Prozeß des Ministeriums Polignac sollte bald zur Verhand¬
lung kommen; man brauchte einen populären Namen, um den blut¬
gierigen Forderungen des großen Haufens auszuweichen; Laffitte
wurde am 3. November Präsident des Conseils.
Vor der Kammer sprach Laffitte sich selbst über seine Abweichun¬
gen von der früheren Administration wie folgt, aus: Alle Welt weiß,
daß die Julirevolution'sich in gewissen Grenzen halten mußte, daß man
Europa mit ihr versöhnen mußte, indem man mit ihrer Würde eine stand¬
hafte Mäßigung verband. Ueber diesen Punkt waren wir einig, da nur
verständige Männer im Conseil sich befanden. Aber es war Unei¬
nigkeit darüber, wie die Revolution zu würdigen und zu leiten sei;
man glaubte nicht, daß sie so bald zur Monarchie ausarten dürfe,
daß man sich so bald gegen sie werde schützen müssen.
Aus diesem Programm geht hervor, daß das Ministerium Laf¬
fitte sich zugleich auf die Neuerer wie auf die Konservativen stützen
wollte. Es war ein wahres ^ufte milieu zwischen dem Fortschritt
und dem Status ano, zwischen der Polizei und der Propaganda.
Aber weil Laffitte Alle zufrieden stellen wollte, befriedigte er Kei¬
nen, und seine Stellung der Kammer gegenüber wurde von Tag zu
Tag schwieriger. Die Linke beklagte sich bald, daß man sie mit
Knauserei behandle, und warf Laffitte's Communalgesetz, welches dem
König die Finanzen der Municipalitäten gab, Illiberalität vor. Sie
brandmarkte mit dem Namen I» 6o»xivmv loi 6s l'amour das Ge¬
setz über die Preßvergehen, welches seitdem durch strengere Verfügun¬
gen ersetzt worden ist, und welches damals unter dem Vorwand, das
Rechtsverfahren abzukürzen, dem Angeklagten die Garantie einer ersten
Instanz entzog, indem sie den Kammern das Recht nahm, über die
Versetzung in Anklagestand zu entscheiden. Das Wahlgesetz mit sei¬
nem Census von 300 Francs, ein Wahlmonopol, welches Laffitte jetzt
selbst so lebhaft bekämpft) wurde von der Linken mit dem herbsten
Tadel empfangen. Im Ganzen fand sie Laffitte unentschieden und zu
wenig zum Fortschritt geneigt; sie warf ihm vor, daß er 18 Millio¬
nen Civilliste und Apanagen verlangte; daß er so oft die Nichtigkeit
der Ansprüche Belgiens auf Luremburg proclamirte.
Die Rechte war nicht viel gefügiger. Guizot, Perier, Dupin
verlangten energische Maßregeln gegen die Einmischung der Massen in
die Staatsangelegenheiten, und eine regelmäßigere und besser zusam¬
mengesetzte administrative Hierarchie; vergebens donnerte der Präsident,
um sie zu befriedigen, gegen die Friedensstörer, die man
vernichten müsse. Diese Heftigkeit in Worten, denen er durch
die That nie entsprach, entfremdete Laffitte jene schwankende Partei der
Kammern, die sich unter allen Regierungen nach Nuhe, Ordnung
und Frieden sehnt.
Eine nicht minder bedauernswerthe Spaltung zwischen dem Con¬
seilpräsidenten und dem Kriegsminister veranlaßte eine unentschiedene
und farblose, halb herausfordernde und halb schüchterne Politik dem
Auslande gegenüber.
Dem Lande gegenüber war die Stellung des Ministeriums noch
kritischer. Unruhe und Mißbehagen aller Arten; Arbeitslosigkeit, denn
die Kapitalien hatten sich zurückgezogen, wo die Emeute auf den Stra¬
ßen herrschte; die Fallissements mehrten sich mit reißender Schnellig¬
keit, und anstatt der einheimischen Industrie unter die Arme zu grei¬
fen, war der Schatz oft selbst in Verlegenheit, wie er seine Verbind¬
lichkeiten erfüllen sollte; die schwebende Schuld hatte sich bereits um
zwei Drittel vermehrt.
Nach dreimonatlicher Eristenz war das Ministerium Laffitte be¬
reits abgenutzt; die Unruhen des 14. Februar vollendeten seinen
Sturz. Ueber die Unthätigkeit des Ministeriums der Polizei bei der
Zerstörung des erzbischöflichen Palastes entstand ein skandalöser Streit
in der Kammer zwischen Montalivet und Odilon-Barrot; der Letztere
reichte seine Entlassung ein, und Laffitte zögerte nicht, ihm zu folgen.
Man behauptet, diplomatische Noten über die Intervention Oester¬
reichs in Italien seien dem Conseilpräsidenten vorenthalten worden,
und dies sei die Ursache seines Rücktritts gewesen; aber auch Laffit-
te'6 persönliche Angelegenheiten litten während seiner ministeriellen
Laufbahn. Seine Finanzverhältnisse verlangten seine ganze Aufmerk¬
samkeit; vergebens kaufte ihm der König für zehn Millionen den
Wald von Breteuil ab und gab seine Garantie bei der Bank für
eine Anleihe von sechs Millionen; als Laffitte aufhörte, Minister zu
sein, war er finanziell ruinirt.
Die Julirevolution hatte seinem Credit schon einen schweren
Schlag gegeben; sein Eintritt in die ministerielle Laufbahn, wodurch
er gezwungen wurde, die Leitung seines Geschäftes aufzugeben, voll^
endete seinen Sturz. Als Depositär bedeutender Summen sah er
sich jetzt plötzlich um deren Auszahlung gedrängt. Seit 1818 hatte
er seine Kasse erschöpft, und um den Pariser Handel zu retten, der
Bank sechs Millionen vorgeschossen. Nach den Juliereignissen stellte
er abermals seine Kasse zur Disposition der provisorischen Regierung;
jeder vermeintliche oder wirkliche Unglückliche griff mit vollen Händen
sinum; die finanzielle Krisis erschöpfte sie vollends. In dieser trau¬
riger Lage widmete sich Laffitte ganz der Liquidation seiner Geschäfte;
er bezahlte fünfzig Millionen, indem er alle seine Güter verkaufte,
und um die Bank zu befriedigen, bot er sein Hütel aus. Aber
Frankreich wollte nicht, daß das erste Asyl der Julirevolution unter
den Hammer des Auktionators falle, und eine Nationalsubscription
gab Laffitte den Besitz seines Hütels wieder.
As Laffitte in der ersten Kammersitzung nach dem Zusammen¬
treten les Ministeriums Perier vergeblich als Candidat der Präsi¬
dentschaft auftrat, nahm er seinen Platz aus den Bänken der Oppo¬
sition, b'kämpfte mit Reden und Abstimmungen alle energischen Ma߬
regeln der Verwaltung vom 13. März, unterzeichnete später das
Compte tendu, und nahm am 5. und 6. Juli Theil an den Depu¬
tationen, reiche dem König seiner Wahl die Beschwerden der Oppo¬
sition vorbgen sollten; an einem schönen Tage endlich trat er, erbit¬
tert vom Mißgeschick, auf die Tribüne und bat Gott und die Men¬
schen feierlich wegen seines Antheils ein der Jultrevolution um Ver¬
zeihung.
Seitdem, obgleich immer noch unermüdlich in den Reiben der
Opposition sümpfend, ist Laffitte zu den anfänglichen Arbeiten seines
Lebens zurükgekehrt; aber wie er unter der Restauration den öffent¬
lichen Credit gründete, so gründet er jetzt den privaten; er hat seine
Geschäfte liquidirt, sein Banquierhaus wieder errichtet, und seine Dis-
contokasse wieder gegründet, welche eine der nützlichsten Institutionell
unserer Tage bildet. Als er 1837 die Versammlung der Actionäre
dieses Unternehmens eröffnete, sprach er die schönen Worte, die wir
unseren Lesern nicht vorenthalten wollen: „Ich kann mich nicht, sagte
er, ohne Bewegung mit Arbeiten beschäftigt sehen, die mir werth sein
müssen, indem ich bereitbin, durch ein, aller meiner Anstrengungen würdiges
Unternehmen eine nützliche Laufbahn zu krönen, in der ich vielleicht
einiges Gute gewirkt habe; mir scheint, als vergäße ich in Euerer
Mitte viele vergangene Täuschungen und die Beschwerlichkeiten po¬
litischer Größe, deren Bürde ich nur um meines Vaterlandes willen
übernommen hatte. Die Zukunft bewahrt mir noch Entschädigungen
auf, und der 2. October 1837, der Tag, an dem ich meine kauf¬
männische Laufbahn wieder begonnen habe, tröstet mich über den 18.
Januar 1831, wo ich fie verließ."
Es ist ein Laffitte's ganz würdiger Gedanke, der kleinen Jndußrie
einen fortwährenden Credit zu eröffnen; der bescheidene Fabrikant,
von dem drängenden Wucherer gerettet, bekommt seine Papiere zu
billigem Preis discontirt, legt seine Kapitalien sicher und vorteilhaft
an, zieht sie wieder ein, wie es ihm gefällt, und segnet den Stifter
der Discontokasse.
Es gibt drei Menschen zugleich in Laffitte: den Privatmann,
den Finanzmann und den Politiker; seine vollkommene Güte, iebens-
würdige Einfachheit und unermüdliche Wohlthätigkeit sind bekannt,
und wir sprechen nicht davon; sein Verdienst als Finanzmann ist
ebenso unbestreitbar und unbestritten; über den Politiker Liffitte ist
man weniger einig. Ein feuriger Monarchist bei dem Beginn der
Julirevolution, steht Laffitte heute auf der äußersten Grenx, welche
den Monarchismus von dem Republikanismus trennt. In den letz¬
ten vier Jahren hat keine politische Persönlichkeit seltsamereWandlun-
gen erfahren. Als Minister fanden ihn die Radikalen zu dynastisch,
und die Dynastischen zu republikanisch, und wir können, um diese
Verschiedenheit der Urtheile zu erklären, mit keinem bessere, Ausspruche
als der Anwendung eines Wortes Napoleons schließen: Daß das
Herz eines Staatsmannes im Kopfe sein müsse, und des Laffitte zu
viel Gemüth hat, um ein Staatsmann zu sein.
Der Gustav-Adolphverein ist bekanntlich in Baiern verboten
worden. Dies aber war nur das Vorspiel. Man möchte ihn mit
Recht lieber ganz vernichten. Ein geharnischter Brief aus Baiern
in der Augsburger Allgemeinen bestreitet den Protestanten in
schwer zu widerlegender Weise das Recht zu einem solchen Vereine,
das Recht, nach einer Einheit und einem Ausammenhalt ihrer Kirche
zu streben; denn es ist wider die Bundesverfassung, wider die deutsche
Einheit. Der Katholicismus hat zwar auch gewisse Vereine, nicht
nur zur Erhaltung, sondern zur Verbreitung seiner Macht, aber die
sind geheim, wahrend der Gustav-Adolphverein öffentlich, folg¬
lich beleidigend ist; und es muß dem Katholicismus, seiner Na¬
tur nach, Manches erlaubt sein, was sich die Protestanten nicht ge¬
statten dürfen; darum haben diese in Baiern auch weniger kirchliche Frei¬
heit als die Katholiken in Preußen. Außerdem erinnert der Gustavadolph¬
verein ^an die blutige und ungesühnte Schuld, welche die ganze Existenz des
Protestantismus befleckt; an die Zerreißung Deutschlands, an den
Verrath, den er an Rom, an der Nationalität begangen. Der Ka¬
tholicismus hat sich von jeher höchstens auf ein Bischen italienische
oder spanische Politik gestützt, — und es ist noch zu beweisen, daß
die Inquisition ein ausländisches Institut war — der Protestantismus
dagegen hat, weil er in seiner verblendeten Hartnäckigkeit durchaus
bestehen wollte, einen fremden Eroberer Gustav Adolph zu Hilfe
gerufen. Nicht genug aber, daß der Protestantismus durch auswär¬
tige Allianz sich erhalten hat, will er nun sogar den Protestanten im
römisch - katholischen Baiern ihre ketzerischen Kirchen bauen helfen
und zwar im Namen jenes schwedischen Bedrückers und Erbfein¬
des von Rom. Ist das nicht Hochverrath? Heißt dies nicht den
dreißigjährigen Krieg aus dem Grabe wecken? Wie, wenn die Baiern
einen Tilly verein gründeten, — und Tilly war doch ein Deutscher,
seine Verwüstungen und Mordbrennereien in Deutschland waren
doch wenigstens national. Nachdem der bairische Verfechter der deut¬
schen Einheit diese Seite der Gustav-Adolphvereinsfrage richtig erle¬
digt hat, reißt er endlich dem protestantischen Vereine ganz die Larve
ab. Dieser Verein ist nichts Geringeres als eine Carbonariverschwörung,
ein revolutionärer Bund, um Thron und Altar zu stürzen und alle
möglichen Gräuel über das conservative Deutschland zu bringen. Mögen
sich die Könige von Preußen und Württemberg wegen ihrer Bethei¬
ligung an diesem Himmelsstürmerclub rechtfertigen, wenn sie können;
mögen sie sich reinigen von dem schweren Verdacht der heimlichen
Demagogie und des Sansculottenthums, der von nun an auf ihnen
lastet. Diese Entdeckung und diese Anklage werden nicht ohne Folgen
sein; denn es wird sich nun fragen, ob man den Protestantismus, bei
seiner Hinneigung zu solchen Umtrieben, überhaupt noch dulden soll
in Deutschland! Am wenigsten übrigens hatte man sich solcher Hin¬
terlist von der preußischen Regierung versehen, die doch seit dem Jahre
1840 dem katholischen Deutschland solche Bürgschaften der Ruhe und
der Ordnung gab und dafür so unbegrenztes Vertrauen erntete. Das
ist nun der Dank! —
— Ein Studirender in Halle beabsichtigte eine Studentenzeitung
herauszugeben, die eine Vertretung des redlichen Willens der deut¬
schen Studentenschaft, zugleich aber gegen verschiedene Einseitigkeiten
und Abstraktionen, die bei den sonst so erfreulichen Bestrebungen der
akademischen Jugend sich geltend machen, gerichtet sein sollte. Der
junge Mann hatte noch keinen Verleger, aber schon eine Untersuchung
auf dem Halse. Ein Buchhändler, mit dem er über das Project —
gesprochen, bekam polizeilichen Besuch und wurde, als er ausweichend
antwortete, vor dem Magistrat auf seinen Bürgereid befragt, ob ihm
ein solcher Antrag gemacht worden sei. Auf seine Aussage kam der
Student in Untersuchung — wegen einer projectirten Zeitung, deren
Existenz noch von der Bereitwilligkeit eines Verlegers, dann von der
einzuholenden Concession und endlich, wenn sie concessionirt war, von
der preußischen Censur abhing! Die Larifari-Politik des großen Kräh¬
winkel ist unverbesserlich.
— Schelling commentirte einmal in seinen Vorlesungen einen
Vibelvers; und da er zu schriftlicher Aeußerung etwaiger Zweifel oder
Unklarheit aufgefordert hatte, so legte ein Studirender, ein Jude,
einen Zettel auf die Katheder, worin er die Auslegung jener Bibcl-
stelle für unrichtig erklärte. Schelling antwortete, er habe früher
Theologie studirt; wenn daher seine Auslegung für unrichtig gehalten
werde, so solle man deshalb nicht glauben, daß er nicht hebräisch
verstehe; übrigens müsse er den Juden alle wissenschaftliche Befähig¬
ung absprechen. Ein Berichterstatter aus Berlin im „Orient" will
nun diese allgemeine Behauptung nicht weiter bestreiten, weis't aber
Schelling aus einigen Stellen seiner Schriften nach, daß seine Phi¬
losophie stark mit rabbinisch-talmudischer Weisheit versetzt sei.
— O'Connell ist von seinen englischen Freunden im Covent-
gardentheater durch ein Festmahl von 1v80 Gedecken gefeiert worden.
Schade, daß die vom Professor Walter in Bonn entworfene Adresse
an den irischen Agitator noch nicht abgegangen ist. In Covent-
garden, bei dem großen' Zweckessen vorgelesen, hätte sie gewiß Sensa¬
tion gemacht. Es sind darin nämlich so viel gute Lehren, Ermah¬
nungen und Verwahrungen in die wohlwollende Belobung Daniel's
eingestreut, daß man glauben könnte, O'Connell sei ein junger Stu¬
dent auf einer preußischen Universität und agicire, um ein Lesemuscum
zu Stande zu bringen.
— Den polnischen Emigranten in Posen ist eine längere Frist
zu ihrer Auswanderung gestattet worden; man glaubt sogar,' sie wür¬
den ganz bleiben dürfen. Die russischen Denunciationen über die
Umtriebe und Verschwörungen in Posen müssen also doch nicht sehr
wahrheitsliebend — euphemistisch zu reden — gewesen sein. Auch
der „Brandenburger" scheint sich unnöthigerweise erst nach London
und von da aus nach der „Deutschen Allgemeinen" bemüht zu ha¬
ben. Wenigstens scheinen die armen Flüchtlinge in Posen an C;ar-
toryski's und Krempowiecki's Träumen unschuldiger zu sein, als der
Brandenburger glauben wollte. Oder steht Preußen schon auf dem
Kriegsfuß gegen Rußland?
— Der glücklichste von Napoleons Helden, Bernadotte, König
von Schweden, ist am 8. März, 8t Jahre alt, gestorben. Sein
Sohn und Nachfolger Oscar war als Kronprinz ungemein beliebt
und machte sich durch eine kleine Schrift für Aufhebung der Todes¬
strafe auch außerhalb Schwedens bemerklich.
— Durch die Buchhandlung F H. Morin (in Berlin) ist uns
nachstehende Erklärung zugekommen:
„Für denjenigen Theil der deutschen Lesewelt, welcher meine Ar¬
beiten wohlwollend aufgenommen hat, erlaube ich mir hierdurch die
Erklärung, daß die beiden in Deutschland erschienenen Romane: Em¬
ma's Herz und Der R eich so erw eher. Schwedischer Roman ^von
Emilie Flygare-Carte-n. Aus dem Schwedischen übersetzt von
L. Tarnowski, 3 Theile (Grimma 1844) nicht von mir verfaßt
sind. Demnach ist sowohl mein früherer als mein gegenwärtiger Name
gemißbraucht worden. Des letzteren werde ich mich ausschließlich so¬
wohl für die bei Herrn F. H. Morin in Berlin nächstens erscheinende
Arbeit: das Fideicommiß als auch für meine später herauszu¬
gebenden Schriften bedienen.
— Die deutsche „politische Poesie"' hat schon mehrfach günstige
Beurtheilungen von englischen Reviewers erfahren. Ein Whigblatt
äußerte, die politische Poesie der Deutschen tauge mehr als ihre Pub-
licistik. Jetzt bespricht das Athenäum die Lieder des kosmopolitischen
Nachtwächters und Hoffmann's von Fallersleben, von denen es ei¬
nige in sehr gelungener Uebersetzung mittheilt. Hoffmann's Gedichte,
meint das Athenäum, heißen nicht mit Unrecht unpolitisch, denn
sie seien g-»va - Inimnnrvä, ganz ohne Gift und Galle, und geißeln
nicht blos die Fehler der Regierung, sondern auch die Schwächen und
Thorheiten des Volkes. (Leider besteht oft die ganze Stärke einer
Regierung in diesen Schwächen.) Endlich wundert sich das Athenäum,
daß die Liederchen Hoffmann's einem „militärischen Monarchen", wie
der König von Preußen, so „koriliiü'altke!" erscheinen konnten.
— Ein v>. Friedrich Lavritz, protestantischer Hilf- und
Strafhausprediger zu Se. Georgen bei Bavreuth singt in einer von
ihm veranstalteten Sammlung „deutscher Kernlieder,, von seinem Hei¬
land folgendermaßen:
Wie kommt es, daß die Überschrift dieses Aussatzes noch immer
im Meßkataloge fehlt? Paris und London — Brüssel und Paris —
Rom und Neapel haben ihre vergleichende Darstellung durch unsere
Schriftsteller gefunden; aber die beiden Großstädte Deutschlands stehen
noch auf keinem deutschen Buchtitel schwesterlich nebeneinander. Die deut¬
schen Lyriker spinnen seit undenklichen Zeiten das Thema von den
blauen und den schwarzen Augen ab; unsere Romandichter werden
nicht müde, die Gegensatze einer blonden und einer brünetten Heldin
zu schildern; unsere Bühnenstücke spielen noch immer mit einer pathe¬
tischen und einer naiven Liebhaberin; unsere Geschichtschreiber und
Publicisten wiegen alle Dinge mit den Waagschalen des Protestantis¬
mus und Katholicismus ab; nun denn: Wien und Berlin, schwarze
und blaue Augen, pathetisch und naiv, protestantisch und katholisch
— welche Quadrille von hüpfenden Antithesen; tour <Z« unus, !>»-
I-tneve, etain,; — spielt auf, wackere Musikanten, warum sind Euere
Geigen so stumm?
Vielleicht hat das Tonstück mehr Schwierigkeiten, als man glaubt;
vielleicht sind die Griffe delicater, als daß jede Hand sie treffen könnte.
Wir sind nicht in Verlegenheit, uns dies zu erklären.
Man spricht stets von dem Mangel an deutscher Einheit im Ge¬
gensatz zu der französischen Centralisation. Aeußerlich, was die Regie-
rungs- und Gesetzesform betrifft, ist dieser Gegensatz leider nur zu
richtig, aber innerlich, in Geist und Sitte, in Stamm und Sprache
ist das deutsche Volk viel einiger als das französische. Die meisten
Touristen lernen Frankreich nur in Paris kennen; dort allerdings ist
der französische Geist centralisirt; aber die Provinzen! Besuchet doch
die Bretagne und reiset dann nach der Provence, lernt doch den
baskischen Bauer kennen und seht Euch den elsässischen an ; Ihr wer¬
det Euch dann oft nach der tricoloren Fahne, die von dem Hause
des Maires weht, umschauen müssen, um uicht zu vergessen, daß diese
verschiedenen Völkerschaften Eine Nation bilden.
Solche schroffe Charakterverschiedenheiten sind in Deutschland
nicht aufzufinden. Auf der Lüneburger Haide und im Böhmerwald,
auf den steiermärkischen Gebirgen und an den Küsten von Pommern
werden sich die Dialekte wohl scharf von einander unterscheiden; eine
solche Scheidungslinie jedoch wie zwischen dein Nord-- und Südfranzosen,
ist auf den Gefilden Deutschlands nirgends gezogen. Darum mögen
auch die charakteristischen Unterschiede zwischen den deutschen Städten
weniger leicht zu fassen sein, weniger markirt und in die Augen sprin^
gerd hervortreten, wie zwischen Toulouse und Straßburg oder zwi^
schen Edinburg und Dublin.
Die höhere Gesellschaft hat ohnehin in dem größten Theil Eu¬
ropas ein und dasselbe Gesicht, eine und dieselbe Fratze. Da, wo
man Frack und Glacehandschuhe tragt, da ist Alles geebnet, da gibt
eS, wie auf der Eisenbahn, keine Berge und Thäler mehr; dem
Touristen bleibt höchstens zu berichten, daß man da in weicheren
Wagen sitzt und dort schneller oder langsamer fährt. Nur in den
unteren Classen, nur dort, wo die Civilisation noch nicht ihre Hände
in Alles gemischt hat, gibt es noch Naturschauspiele und mannigfache
Abwechselung zu bewundern. In einem Lande aber, wo das Volk
so wenig Einfluß hat auf das öffentliche Leben wie in den deutschen
Städten und Staaten, da sind die Studien desselben für den Leser
welliger pikant, für den Tagesschriftsteller, der nach dem augen¬
blicklichen Erfolge hascht, weniger lohnend, und die deutsche Reiselite-
ratur bewegt sich daher lieber auf fremden Gebieten als auf einhei¬
mischen.
Was von Volksleben in Wien und Berlin zu schildern ist,
hat im Einzelnen manchen geschickten Darsteller gefunden; aber gegen
einander gehalten, neben einander gestellt, treten die Physiognomien
beider Städte viel schärfer und prägnanter hervor.
Wie sie da neben einander liegen, die zwei schönsten Schwestern
in dem großen Bette Deutschland, und statt mit warmen Armen ein¬
ander zu umschlingen, sich den Rücken kehren. Die minder schöne,
aber geistvollere jüngere Schwester, voll von scharfem Ehrgeiz und Stolz,
träumt von Zukunft, Herrschaft und Ueberhebung über die ältere,
deren Glanzzeit ihr bereits als im Abnehmen, als verlebt erscheint.
Diese, nicht minder eitel, obwohl gutmüthiger, schwelgt gedankenlos
in den Erinnerungen der vergangenen Nacht und in der Hoffnung
auf noch kommende Nächte. Der Hochmuth ihrer Schwester verletzt
sie etwas; träumerisch streicht sie sich die weichen Locken von der
Stirn zurück, aus den langen Wimpern fällt ihr Blick auf ihren
blühenden Leib, der üppig und zum Genusse ladend unter der wa»
men Decke sich bewegt, und mit einem behaglichen Lächeln sagt sie
sich: Nein, noch bin ich nicht alt, noch liegt die Welt und die kom¬
menden Tage genußreich vor mir.
Wien und Berlin, Maria Stuart und Elisabeth. Wien, die
Stadt der Habsburger, der alte Sitz der deutschen Kaiser, wie gleicht
es jener Maria
„Die mit so stolzen Hoffnungen begann,
„Die auf den ältesten Thron der Christenheit
,,Berufen wurde
Schön, sinnlich, voll offener Lust und voll stiller Sünden; wie jene
Stuart im katholischen Glauben erzogen und fest an ihm haltend, wie
sie, selten über sich nachdenkend,
„ein Kind
„Des Leichtsinns, der gedankenlosen Freude.
„Und in der Feste ewiger Trunkenheit
„Vernahm sie nie der Wahrheit ernste Stimme."
Im scharfen Gewahrsam gehalten, in jeder Freiheit beschränkt, fehlt
es Wien, wie einst der schottischen Maria, doch nicht an Anbetern,
die, angezogen von seinem Neiz, von nah und fern ihm zuströmen.
Dieser Ritter Paulet, der „Hüter der Maria" gibt sich viele unnö¬
thige Mühe.
„Bom Schlummer jagt die Furcht mich auf, ich gehe
„Nachts um, wie ein gequälter Geist, erprobe
„Des Schlosses Riegel und der Wächter Treu." —
Aber man weiß doch, woran man mit ihr ist; sie sagt's gerade heraus,
ohne Hinterhalt. Und Wien kann von seinem Leichtsinn, wie von seinem
Trübsinn, von seinen sittlichen -Zuständen wie von seinen politischen,
mit jener Maria rufen:
„Ich habe es nicht
„Verheimlicht Und verborgen, falschen Schein
„Hab' ich verschmäht, mit königlichem Freimuth.
,,Das Aergste weiß die Welt von mir, und ich
„Kann sagen, ich bin besser, als mein Ruf."
Berlin aber ist der volle Gegensatz von Wien, wie Elisabeth
von Maria. Berlin ist sein Ruf das Höchste. Die Geschichte weiß
zu erzählen, wie es um die Jungfräulichkeit der Elisabeth stand; aber
äußerlich wußte sie den Namen zu behaupten; ein Verstandesweib, schlau,
standhaft, bewundernswerth, aber unliebenswürdig, heuchlerisch, pro¬
testantische Strenge erkünstelnd und innerlich voll wilder Lust. Was
Berlin, was Preußen zu einer großen Stadt, zu einem großen Staate
macht, das ist die öffentliche Meinung, dieselbe, die einst die Elisa¬
beth groß gemacht. Einst konnte Friedrich II. wie jene Königin
sagen:
„Umgeben rings von Feinden, hält mich nur
„Die Volksgunst auf dem angcfochtncn Thron.
„Mich zu vernichten streben alle Mächte
„Des festen Landes. Unversöhnlich schleudert
„Der ron'sehe Papst den Bannfluch auf mein Haupt.
„Mit falschem Bruderkuß verräth mich Frankreich.
„So steh' ich kämpfend gegen eine Welt.
,,— — — Mit hohen Tugenden
„Muß ich die Blöße meines Rechts bedecken.
Diese „hohen Tugenden" will das deutsche Volk an Berlin und
an Preußen immer sehen, wenn es nicht fragen soll, warum es sich
überhebe über die Anderen. Mißtrauisch legt es daher stets daS Ohr
auf den Boden, ob nicht noch eine andere Stelle jenes Monologs
von Berlin hertönt, wo Elisabeth ruft:
„O Sklaverei des Volksdienstö! schmähliche
„Knechtschaft — Wie bin ich's müde, diesem Götzen
„Zu schmeicheln, den mein Innerstes verachtet!
„Wann soll ich frei auf diesem Throne stehen'?
„Die Meinung muß ich ehren, um das Lob
„Der Menge buhlen, einem Pöbel muß ich'S
„Recht machen, dem der Gaukler nur gefällt.
Was Berlin vor Wien voraus hat, das ist seine Zuversicht zu
sich selbst, das Vertrauen auf sein eigenes Glück. Friedrich Wilhelm I.
sagte an einem schönen Morgen zu sich selbst: Ich will mein kleines
Land zu einem Königreich erheben; ich habe zwar weder so viel Un¬
terthanen wie der König von Frankreich, noch so viele Gebiete'wie
der König von England, ja manch kleiner König wird über mein
winziges Königreich spotten — aber dem Muthigen hilft das Glück.
Es gilt den Anfang, das Weitere wird sich finden.
Und dao Weitere fand sich! —
Wir müssen eine große Residenz anlegen, sagten die Erbauer
des neuen Berlin. Zwar liegt die Stadt in einer ärmlichen, sandi¬
gen Gegend, sie bietet keinen Durchgangs- und Ruhepunkt sür einen
großen Welthandel — aber machen wir die Straßen nur immerhin
so groß und breit, als ob sich eine ganze Provinz darin ansiedeln
wollte. Die Einwohner werden sich schon einstellen.
Und sie stellten sich ein.
Wie durch eine Wünschelruthe erfüllte sich, was die Begrün¬
der des preußischen Staates und seiner Hauptstadt kaum in ih¬
ren kühnsten Träumen erhofften. Dieses Gelingen seiner Unterneh¬
mungen gibt Berlin ein Selbstvertrauen, das oft in widerliche Arro¬
ganz ausartet, das aber doch ein Keim großer, kräftiger Erfolge ist.
Wie die meisten Emporkömmlinge, ist Berlin eitel, hochmüthig und
oft sich überschätzend, aber es hat auch wie die meisten, die ihre Stel¬
lung durch Fleiß, Ausdauer und Kühnheit errungen haben, das
Bewußtsein, daß es die elastische Kraft in sich trägt, die seinem Ehr¬
geiz zu weiteren Zielen und seinen geheimen Wünschen zur endlichen
Erfüllung helfen kann.
Wenn Berlin auf solche Weise dem modernen Bürger gleicht,
der sich durch Thätigkeit und geschickte Benützung des Augenblicks
über den Privilegium Adel emporgeschwungen hat, indem er ihm
seine Bordseite allmälig aus der Hand gewunden, so gleicht Wien
im Gegensatze gerade einem jener alten aristokratischen Majorats¬
herren, die seit Jahrhunderten gewöhnt sind, im Wohlleben zu schwel¬
gen und die daher mit Indolenz jedem kommenden Tag ent¬
gegensehen, an dem ihr Kammerdiener sie wieder ankleiden wird, an
dem sie wieder vortrefflich diniren, zu Hofe fahren, in'ö Theater ge¬
hen werden oder höchstens durch ein neues Reitpferd, eine neue
Maitresse, ein neues Jagdgewehr einige Abwechselung erhoffen kön¬
nen — Ergreifendes, Außergewöhnliches kann ihnen der nächste Tag
nicht bringen. Wien hat manche große Erbschaft gemacht und auch
manchen schweren Familienkummer erlebt. Aber es hat nie v-t ki.n>^i,<!
gerufen; es war nie wie Berlin vor der Schlacht von Dennewitz und
Großbeeren der Gefahr ausgesetzt, Alles mit einem Schlage zu ver¬
lieren wie ein Kaufmann, dem der Bankerott droht. Vielmehr
wüßte Wien selbst in seiner schlimmsten Zeit, als die Franzosen in
seinen Mauern hausten, daß man seine Güter wohl eine Zeit lang
sequestriren könne, daß eS aber endlich wieder in den ruhigen Besitz
derselben zurückkehren werde. Wien ist nicht arrogant, weil es seinen
Reichthum nicht von gestern besitzt; es hat die angenehmen, abgeschlif¬
fenen Manieren der Aristokratie, die gewohnt ist, in großartigen
Verhältnissen zu leben und das Leben sich leicht zu machen; aber es hat
auch Nichts von jener Spannkraft, Nichts von jener' jugendlichen
Streitlust, die, im Bewußtsein ihrer strotzenden Fülle, den Tag her¬
beiwünscht, wo sie noch erobern und Hemmnisse aller Art abschüt¬
teln konnte.
Was Berlin und Wien gemein haben, das ist der Um¬
stand, daß die meisten Sommitäten, die sie in Politik, in Kunst und
Wissenschaft besitzen, keineswegs der Stadt selbst angehören, sondern
aus den Provinzen des Gesammtstaates ihr zugeströmt sind. Große
Städte sind wie große Salons. Der Hausherr, die Frau vom Hause
sind oft die unbedeutendsten Menschen von der Welt. Aber die
Candelaber sind angezündet, die Divans dehnen sich einladend, der
Thee dampft, die Domestiken reißen dienstfertig die Thüren auf, die
Hausfrau lächelt freundlich vom Sopha und die Gäste ziehen ein,
der bequeme Mittelpunkt lockt sie heran. Der eingeborne Großstäd¬
ter ist zu verweichlicht, um sich dem schweren Dienste des Fleißes zu
unterziehen. Er gibt den Boden her; die Colonisten bebauen ihn.
Man hat in Wien oft genug Witze gerissen über die große Anzahl
von Böhmen, die man in allen Gebieten der Administration, des
Lehrstandes u. s. w. in unverhältnißmäßigen Maßstabe findet. Ein
Gleiches konnte man in Berlin von den Schlesien: sagen. ES lohnte
sich wohl einer näheren Untersuchung, warum Böhmen und daS ihm
in vieler . Beziehung verwandte Schlesien mit ihren halbslavischcn Ele¬
menten in den beiden größten Städten Deutschlands eine so wichtige
Rolle durch ihre geistigen Repräsentanten spielen.
Ein Unterschied spaltet jedoch diese Aehnlichkeit. Berlin, mit der
Schärfe des Nordens, hat die fremden Nationalitäten überwunden
und gewissermaßen aufgezehrt. Die südliche Weichheit Wiens hat
diesen Sieg nie errungen. Die ersten Kolonien, die Berlin zu seiner
jetzigen Größe verhalfen, waren ausgewanderte Franzosen und Bos--
man. Und doch findet man nur wenige Spuren der Nationalität
ihrer Vorfahren bei den jetzigen Generationen. Sie sind germanisirt,
sie sind Berliner von so echter Race geworden, wie nur je welche
Spreewasser getrunken. In Wien dagegen gehen die Colonien der
Ungarn, Italiener, Griechen, ja sogar die Böhmen noch in ihrer
ganzen fremden Eigenthümlichkeit neben dem Oesterreicher her; eS
sind Einwohner Wiens, aber es sind keine Wiener. —
Wenn man daS Aeußere der beiden Städte mit einander ver¬
gleicht, so findet man, daß Berlin eine vollständige Repräsentantin
der Philosophie ist, ein Abbild jener Wissenschaft, die Alles »
construirt. Berlin ist -l i»>-lo>i gebaut. Die Straßen sind von vorne
herein so breit gedehnt und langgestreckt worden, daß Alles, was
im Lause der Zeit kommen mag, darin Platz, Bewegung, Entwicke¬
lung finden kann. Die Berliner Straßen wie die Berliner Philo¬
sophen kann Nichts in Verlegenheit bringen. Die Wagen und Sy¬
steme können voir den entgegengesetztesten Richtungen gegen einander
fahren; es ist immer Platz genug da, um neben einander zu bestehen:
Althegel, Neuhcgcl, Schelling — Droschken, Vereinsdroschken, Hof-
Wagen, Alle finden ihren breiten Weg, auf dem sie gemächlich dahin-
rollcn können. Wien im Gegensatze ist eine wahre Repräsentantin
jenerPolitik, die nur das kickt accnmj>Il überall gelten läßt. Die Erbauer
Wiens haben nicht wie die Erbauer Berlins einen festen Plan vor
Augen gehabt, sie hatten sich nicht vorgesetzt: Hier wollen wir be¬
ginnen und dort wünschen wir zu enden; hier wollen wir uns eine
Grenze setzen, um dort desto mehr Spielraum zu haben — nein, der Eine,
ein Privilegirter, baute seinen Palast mitten auf einem freien Platz,
ein Anderer baute sich links an, ein Dritter schief, ein Vierter ge¬
rade. An die Folgen dachte man wenig, die augenblickliche Bequem¬
lichkeit entschied. Wenn Verlegenheiten entstanden, so flickte man,
half sich hier und dort durch einen finsteren Durchgang und ließ
lieber die Straßen immer mehr und mehr verengen, als daß man
eingerissen hätte, was im Wege stand. Nun zeigen sich die Fol¬
gen. Wo die Circulation am stärksten ist, wo der Volksfleiß, das
Lebensbedürfniß, der natürliche Weg, seine Ausgänge sucht, da ist die
Stadt verstopft. Am Lugeck, am Haarmarkt, an der Ecke des Kohl-
markteö und der Herrengasse fahren die Wagen aus den entgegen¬
gesetztesten Richtungen einander in die Nippen. Der vierspännige
Wagen der Aristokratie und der flinke bürgerliche Fiaker drohen ein¬
ander über den Haufen zu rennen, der Fußgänger sucht schreiend dort und
da durchzuschlüpfen, und nicht jeder kommt Mit heiler Haut davon.
Vergebens sinnt man auf Mittel, um abzuhelfen; le s-ut s'est -^c-
cnmpli! Es ist nun einmal so! Man muß durch Geschicklichkeit,
durch Warten, durch Ausweichen und behende Wendungen durchzu¬
kommen suchen. Man hat Polizeisoldaten auf allen Ecken aufge¬
stellt, um den Zudrang in Schranken zu halten, um den Naschen
in die Zügel zu fallen. Wohl dem, der im Wagen sitzt; ihm ist
wenigstens die Hälfte erspart, er kann in seinen weichen Polstern ge¬
mächlich warten und zusehen. Aber der Fußgänger, der Proletarier,
ist der Gefahr, dem Koth, der Grobheit des Polizisten und der Bru¬
talität der kutschirenden Livrve ausgesetzt, die in ihrer Bedicntennatur
sich gegen die Untenstehenden roher und grausamer zeigt, als wohl
Der Herr, der drin sitzt, ihr aufgetragen hat.
Wie viel Zeit brauche ich für Berlin — fragt der Reisende,
der blos die äußeren Physiognomien der Städte kennen lernen will.
— „Sechs bis acht Tage" ist die Antwort. — Und für Wien? —
„Drei Wochen zum wenigsten."
Woher dieser Unterschied? Allerdings hat Wien eine doppelte
Einwohnerzahl; allein die Zahl der Einwohner gibt hier nicht den
Allsschlag. Es ist ganz gleich, ob man fünfzig Pariser oder deren
hundert gesehen hat. Kunstschätze hat Berlin allerdings nicht in so
großartigen, zahlreichen Sammlungen wie Wien. Allein um Galerien
zu studiren, reichen drei Wochen eben so wenig aus als acht Tage.
Eine Hauptursache, weshalb Wien nicht mit einem so flüchtigen
Blick abgethan werden kann, wie Berlin, liegt in der größeren Man¬
nigfaltigkeit des Wiener Volkslebens und der Wiener Gesellschaft.
Die militärische Erziehung, die Einheit der Gesetzgebung, der Sitte,
des Volkscharakters gibt Berlin eine nützliche, aber unangenehme
Monotonie^ es ist eine schöne Uniform, eine prächtige Kaserne, in
welcher der Berliner steckt. Wien, ursprünglich in einem Walde er¬
baut, hat nicht nur in seiner Umgebung, sondern auch in seinen Be¬
wohnern Manches von dem ursprünglichen Waldcharakter conservirt.
Da draußen stehen die Bäume und Berggruppen noch in ihrer schö¬
nen Frische, und drinnen hüpft das Wild, gezähmt zwar und von
Förstern überwacht, in lustigen Kapriolen bunt durch einander, böh¬
mische Hirsche, ungarische Böcke, steyrische Gemsen, polnische Wild-
schweine° österreichische Hähnerl — gruppiren sich mannichfaltig im
frischen Natursinn, verschiedenen Trieben und Gelüsten folgend und
für den Beobachter daher interessanter und ergötzlicher.
Das Volksleben in Berlin hält in keiner Beziehung einen Ver-
gleich mit dem Wiener aus. Nicht blos, weil dieses in seiner äußeren
Erscheinung reicher und abwechselnder ist, da eS eine Mosaik der
verschiedensten Nationalitäten bildet; nicht blos, weil man im Wiener
Prater die ungarischen Husaren bei dem Cimbal der Zigeuner ihre
Nationaltänze tanzen sieht, im Lerchenfeld den steyrischen Jodler und das
österreichische Fliuserl singen hört; nicht, weil man im Parterre der
italienischen Oper die schwarzäugigen Söhne des lombardisch.-venetia-
nischen Königreichs ihrer ganzen nationalen Musikfurie sich überlassen
sieht; nicht, weil im „Elisium" der Wurstel österreichisch improvisirt;
nicht, weil in der Brigittenau Costüme, Gesten und Sprachen der
hunderttausendköpsigen Volksmasse so babylonisch durch einander sich
mengen — fondern weil das innere Leben des Volkes liebenswür¬
diger, gemüthvoller und südlich wärmer ist. Wagt es ein Mal, im
anständigen Nock, als wohlgekleideter Patrizier in eine jener Kneipen
Berlins zu treten, wo der Arbeiter bei Schnaps und Weißbier seine
sonntäglichen Orgien feiert! Die erhitzten Gesichter aller Anwesenden
werden sich bald auf Euch richten. Ein rauflustiger Bengel wird
bald ein Schimpfwort für Euch wissen, und wehe Euch, wenn Ihr
nicht in der Ecke Euch still zu halten versteht; Euer Rock wird nicht
so ganz den Schauplatz wieder verlassen, wie er ihn betreten, und
wohl Euch, wenn Euer Rücken nicht ein gleiches Schicksal hat. —
Oftmals habe ich Berliner nach jenen Volksgarten Wiens geführt,
wo das Proletariat der untersten Stufen sich wohl thut bei sau¬
rem osterrcichcr Wein und schmalen Wiener Würsteln, und fast jedes
Mal horte ich die Fremden ihre Verwunderung über die ungestörte
Art ausdrücken, mit welcher wir solche Orte besuchen. Nicht etwa,
daß man den wohlgekleideter, den höheren Ständen angehörenden
Mann mit mehr Höflichkeit oder wohl gar mit Kriecherei empfinge:
im Gegentheil« man beachtet ihn nicht. Der Wiener ist in dieser
Beziehung bis tief in die unterste Classe Großstädter. Costüme und
Manieren werden nicht krähwiicklerisch von ihm begafft. Alls allen
öffentlichen Plätzen herrscht eine vollständige Gleichheit der Stände,
nicht als Resultat einer politischen Bildung wie in Paris, sondern
als Folge eurer gewissen Herzensbildung, einer heitern und versöhn¬
lichen Gemüthsstimmung. Der Berliner mit seinem schärferen ätzen¬
den Verstände faßt das Drückende des Proletariats heftiger auf. Er
rächt sich höhnisch an Euch, wenn Ihr in seine Kreise kommt, dafür,
daß Ihr ihn aus den Eurigen ausschließt. Der Wiener Volksmann
ist beschränkter in seiner Auffassung, aber biederer in seinem Wesen;
er macht die Ansprüche nicht wie sein norddeutscher Bruder, weil er
weniger eitel ist und weil Euer schönerer Rock und Euere besseren
Stiefel überhaupt nicht so sehr der Gegenstand seines Neides, seiner
Wünsche sind. Zudem gesellt sich noch der Umstand, daß der ge¬
meine Mann in Wien weit öfter in Gesellschaft der vornehmeren
Classen lebt als der Berliner. Die reizende Lage der österreichischen
Hauptstadt, die Naturschönheit der Umgebungen, die bedeutend mildere
Luft versetzen einen großen Theil der gesellschaftlichell Freuden ins
Freie. In keiner Stadt Deutschlands gibt es so viele öffentliche
Garten und Unterhaltungen im Grünen wie in Wien. Auf dem
Wasserglacis, im Prater, in Döbling, Hietzing, Meldung, wo beim
ersten und letzten Strahl der Sonne die Wiener Heiterkeit sich con-
centrirt, gibt es keine Kastenunterschiede. Hier sitzt der Handwerker
neben dem Staatsrath, der Hausmeister neben dem Aristokraten in
gleicher Ungebundenheit. Was Gesetz und Vorurtheil bei verschlosse¬
nen Thüren trennt, das findet sich in der offenen Natur fröhlich zu¬
sammen. In Berlin, wo die Natur so kärglich sich gezeigt hat, wo
die Luft schärfer, die Sommerfreuden spärlicher sind, concentrirt sich
die öffentliche Erholung in Kneipen, Kaffeehäusern und Casinos. Der
gemeine Mann ist. dadurch mehr und länger von den gebildeten
Ständen getrennt und ist daher auch roher und erbitterter.
Ich muß hier zu Gunsten des österreichischen Volkscharakters ein
Argument geltend machen, das mir etwas schwer vom Herzen geht,
das aber doch seine Würdigung verlangt. In den letzten Kriegen
mit Frankreich haben sich die preußischen Truppen während ihrer
dortigen Anwesenheit einen so schlimmen Ruf erworben, daß les
Lo8!diz>le8 et les I'i'ussien« auf eine Stufe gestellt wurden. Noch
heute ist das Wort un ?rü8Sion in ganz Frankreich mit sehr unan¬
genehmen Nebenbegriffen verbunden. Alle Deutschen, welche sich län¬
gere Zeit in Paris aufhalten, erfahren allmälig, welche Vorurtheile
die Nationalerinnerung an dieses Wort knüpft, „r^es ^uti-ielii<-,i8
t;t.lie>in cle8 Kons em-in8°, nuÜ8 ces «ji,it)le8 <Ich?rü8hier8" — und
gleich darauf tischt man Euch eine ganze Reihe von Anekdoten, wahre
und erfundene, auf, in welchen immer die Barbarei oder die Roh¬
heit irgend eines preußischen Soldaten mit pechschwarzen Farben
geschildert wird. Daß die Wunde, die Frankreich zu jener Zeit ge¬
schlagen wurde, noch heute in allen diesen Geschichten ihren Eiter
spritzt, ist freilich offenbar: daß aber leider auch viel Wahrheit jenen
Erzählungen zu Grunde liegt, kann man trotz alles deutschen Patrio¬
tismus nicht abläugnen. Die Preußen hatten an Frankreich Viel zu
rächen; aber die Oesterreicher nicht minder. Warum zeigte sich der
österreichische Soldat versöhnlicher und milder? Consequent beleuchtet
trägt dieses zur Charakteristik Wiens und Berlins Manches bei.
In so großem Vortheile nun das Wiener Volksleben dem Bar>
tirer gegenüber steht, in so großem Nachtheile steht das Leben der
höheren Gesellschaft Wiens im Vergleiche zu dem Berlins. Die Haupt¬
stadt Preußens, der Mittelpunkt deutscher Wissenschaft, der Versamm-
lungsplatz so vieler glänzenden Namen in Literatur und Kunst, die
Führerin des Zollvereins, verhältnißmäßig mit einer weit größeren
Oeffentlichkeit und Redefreiheit begabt, hat alle Elemente in sich, um
durch die verschiedenartigsten Fragen und Urtheile ihre Gesellschaft
zu beleben. Der wache Sinn, das schärfere Urtheil, der höhere Ehr¬
geiz, die gründlichere Bildung machen die Berliner Salons zu den
interessantesten in Deutschland. Wie abgestanden, ledern, langweilig
sind die Wiener dagegen, trotz ihres größeren Reichthums in Costü-
men und Tapeten. Nimmt man einige diplomatische Salons aus,
wie klein ist der Spielraum, auf welchem sich die Conversation der
sogenannten Gesellschaft in Wien bewegt. Du hast Empfehlungs¬
schreiben all verschiedenartig gestellte Personell, an einen Gelehrten,
an einen hohen Adeligen, an einen Banquier, an einen hochgestellten
Beamten. Du gibst sie alle ab, in der Hoffnung, die Stadt aus
den verschiedenartigsten Gesichtspunkten keimen zu lernen. Wie bitter
bist Dn getäuscht. Ueberall dieselbe Leier, die wie die Drehorgel
auf den Straßen, nur zwei oder drei Stücklein enthält: das, gest¬
rige Stück im Theater und das morgige Stück, die Oper, allenfalls
etwas von Ungarn, von der Censur, von den Actienspeculationen
auf der Börse, ein Geschichtchen von der geheimen Polizei, eine
Mordthat, eine (Um-um^ne sann^illeuse; aber von den großen Ta¬
gesfragen in Wissenschaft und Kunst, von Diskussionen über vergan¬
gene und zukünftige Geschichte — wie spärlich verirrt sich ein solcher
Ton in diese Kreise. Und wie unbedeutend und stereotyp sind diese
Gesichter. Immer dieselben hier und dort. Wenige wissen etwas
Bedeutendes zu sagen und die es könnten, hüten sich doppelt davor
und werden durch ihre affectirte Schweigsamkeit doppelt unausstehlich.
Der geistige Mensch lebt in Berlin ein zweifaches Leben, wie der
materielle in Wien ein verdoppeltes lebt. Was gewinnt man in
Berlin nur an Zeit durch die vielen schlechten Bücher, die man zu
lesen erspart, weil man in Gesellschaft sie discutiren und analysiren
hört. In Wien muß man Alles lesen, weil man sich selbst sein Ur¬
theil bilden muß, weil man in der Gesellschaft nicht erfährt, was zu
lesen nothwendig und was zu ersparen, was gut, was jchlecht ist.
Man hört oft im deutschen, Buchhandel, daß Oesterreich noch den
Hauptabsatz des Büchermarktes bildet. Sollte die Ursache, warum die
Oesterreicher so viel Bücher kaufen, ohne Unterschied, ob schlechte oder
gute, nicht so eben angedeutet worden sein? —
Es ist charakteristisch, daß man keine zwei Seiten über Berlin
lesen kann, ohne auf die Namen Hegel und Schelling zu stoßen,
während man in Wien sogleich an Strauß und Lanner denkt. Die
beste Eigenthümlichkeit Berlins liegt im Kreise des Gedankens, im
Bereiche seiner Bildung; die Eigenthümlichkeiten Wiens liegen im
Bereiche der Sinne, des Genusses. Dort ist die höhere Gesellschaft
Repräsentant der Stadt, hier ist es das Volk, die bunte Menge.
Zwischen Strauß und Lanner einerseits und Hegel und Schelling an ¬
dererseits ist übrigens der Unterschied nicht so groß, als der Dünkel
der Philosophen sich einbildet. Von oben herab benützt man sie
doch zu Einem Zwecke; wenn auch die Form verschieden ist, die Ma-
rionetten dienen doch zu einem und demselben Stück, der Hand, die
sie am Drahte hält. In Wien begünstigt man die Geige der Wal¬
zerdichter, um bei „Bratel" und Hopser das Volk zu zerstreuen und im'
fröhlichen Rausche von anderen Dingen abzuwenden, die es sich sonst
vielleicht zu Gemüthe führen könnte. In Berlin sind es die Systeme
brütender Philosophen, die von oben herab begünstigt werden, um
bei Thee und Oellampe die Köpfe in abstracten Herentänzen zu er¬
müden, damit sie nicht des Teufels werden und in jene praktischen
Fragen ihre Nase stecken, über die man ihnen keine Lust hat, Ant¬
wort zu geben. ^)
Worin liegt da, in politischer Hinsicht, der ganze Unter¬
schied? Summa Summarum haben die Wiener einen Vortheil: sie
haben sich wenigstens amüsirt und haben „Bratel" gegessen. —
Am 21. April 1814 bot der Sitzungssaal der französischen Aka¬
demie ein merkwürdiges und imposantes Schauspiel; Ereignisse von
weltgeschichtlicher Wichtigkeit hatten stattgefunden. Seit einundzwan¬
zig Tagen waren die Verbündeten in Paris, vor zehn Tagen hatte
Napoleon die Abdankungs-Acte von Fontainebleau unterzeichnet,
und die Sieger verlangten von dem Besiegten noch weiter Nichts,
als einen ehrenhaften Frieden. Man hatte dem Grafen Artois das
hübsche Bonmot in den Mund gelegt: Es gibt nur einen Franzosen
mehr, und Ludwig XVIIl., in Calais lautend, versprach dem ge-
demüthigten und des Despotismus und der Kriege müden Frank¬
reich, seine Wunden zu heilen und eS für den blutigen Ruhm der
Schlachten mit dem Genuß der Ruhe und der Freiheit zu entschädigen.
Inmitten dieser Hoffnungen, die noch durch keine Täuschung,
durch keine Tyrannei der Waffen, durch keine politische Reaction ge¬
trübt worden, hatte die französische Akademie zu ihrer jährlichen öf¬
fentlichen Sitzung die Könige und Generale des verbündeten Euro¬
pa eingeladen. Ein junger Mann von zweiundzwanzig Jahren sollte
das Wort führen, und so seinen Namen mit einer der denkwürdig¬
sten Perioden der Geschichte verknüpfen.
Diese Sitzung war so merkwürdig und die Gefühle der dama¬
ligen Generation von denen der jetzigen so verschieden, daß es nicht
uninteressant sein wird, wenn wir einen Bericht des Journal des
Debats (22. April 1814) hier mittheilen:
„Eine zahlreiche und glänzende Versammlung erwartete die Sou-
verains; zwei schmucklose Sessel standen für sie bereit. Aller Augen
wandten sich ohne Aufhör nach der Thüre, durch welche die Fürsten
eintreten sollten. Alles, was mit ihnen in Berührung stand, erregte
Enthusiasmus. Der erste Beifallssturm brach aus, als Baron Sacken,
Generalgouvemeur voll Paris, in den Saal trat. Bald folgten ihm
der Kaiser von Nußland und der König von Preußen mit seinen
drei Söhnen. Die Rufe: Es lebe Alerander! Es lebe der König
von Preußen! Es leben die Verbündeten! ertönten von allen Seiten.
Von einer unwillkürlichen Regung der Hochachtung, der Theilnahme
und der Neugier getrieben, erhob sich die ganze Versammlung; die
Monarchen grüßten mit bewegter, liebenswürdiger und herablassender
Miene.
„Als sich der Rausch der ersten Begeisterung ein wenig gelegt
und der laute und lang andauernde Sturm deö Beifalls dem Schwei¬
gen Platz gemacht hatte, ergriff der Präsident der Akademie daS
Wort, um mit sehr merkbarer Rührung zu versuchen, den Gefühlen
der Versammlung Allsdruck zu geben."
Nachdem der Berichterstatter eine Analyse der Rede des Präsi¬
denten gegeben hat, fährt er fort:
„Als der junge, von der Akademie gekrönte Redner auftrat, rich¬
teten sich die Blicke der beiden Monarchen mit lebhaftem Interesse
und einem sanften Lächeln des Beifalls auf den noch so jugendlichen
Sieger. Dieser richtete mit dein ganzen Feuer seines Alters, mit
jener Lebhaftigkeit des Geistes, die seine ganze Gestalt zu beseelen
schien, mit einer natürlichen Offenheit der Sprache und mit achtungs¬
vollen und festem Tone eine Rede an sie, die nicht eine leere Form,
sondern der Ausfluß eines mit den Gefühlen seiner Mitbürger ver¬
trauten erzens war.,,
Wir fügen hier die Rede ein, mit der Villemain seine gekrönte
Abhandlung über die Vortheile und Nachtheile der Kritik einleitete.
„Meine Herren, wem: alle Herzen sich an die hohen Anwesen¬
den richten, so muß ich um Verzeihung für meinen Versuch bitten,
Ihre Aufmerksamkeit auf einen anderen Gegenstand zu lenken. Wel¬
cher Contrast zwischen dem schwachen Versuch, der Ihnen geboten
wird, und einer solchen Zuhörerschaft! Ahnden die Funden des Nor¬
dens, welche in früheren Zeiten in diese Versammlung traten, daß
ihre Nachkommen einst durch den Krieg hierhergeführt werden wür¬
de-, ? So wechseln die Schicksale der Reiche! Aber auf edle Seelen
übt die Macht der Künste immer dieselbe Wirkung. Vor dem Bilde
der Kunst bleiben die bewaffneten wie die reisenden Monarchen ste¬
hen. Sie achten sie in unseren Denkmalen, in dem Genie unserer
Schriftsteller, in dem Weltruhm unserer Gelehrten. Die Beredsamkeit
oder vielmehr die Geschichte wird diese schützende Großmuth feiern,
diesen Krieg ohne Ehrgeiz, diesen unverletzlichen und uneigen¬
nützigen Bund, dieses königliche Opfer der theuersten Gefühle, der
Ruhe der Nationen auf dem Altar eines europäischen Patriotismus
gebracht.
„Der tapfere Erbe Friedrich's hat uns gezeigt, daß das Mi߬
geschick der Waffen einen echten König nicht vom Throne stürzt, daß
er sich wieder erhebt durch den Arm seines Volkes und unbesiegbar
ist, weil er geliebt wird. Alexanders Großmuth zeigt unseren Augen
eine jener antiken, für den Ruhm begeisterten Seelen. Seine Macht
und seine Jugend sichern Europa einen langen Frieden; sein Helden¬
muth, geschmückt durch den ganzen Glanz der modernen Civilisation,
ist würdig, die Herrschaft derselben fortzusetzen, würdig, das Bild des
philosophischen Monarchen, wie es Marcus Aurelius war, zu er¬
neuen und zu verschönern, und uns auf dem Thron die Weisheit zu
zeigen, begabt mit einer Macht, so groß, wie die Wünsche, die sie
für das Glück der Welt hegt." —
„Während dieser Rede", fährt das Journal fort, „sah man oft
die Augen des Königs von Preußen sich auf seine Söhne wenden,
als wolle er sie aufmerksam machen, was die zarteste Jugend errei¬
chen könne, wenn Wissenschaft und Fleiß die glücklichen Anlagen des
Geistes unterstützen. Die Blicke der Zuhörerschaft richteten sich bald
auf die Monarchen, bald auf den jungen Redner oder auf seine
Mutter, deren Freudenthränen ein rührendes Schauspiel waren. Als
die Sitzung zu Ende war, sah man die Fürsten nicht ohne Rührung
mit dem jungen Gelehrten sprechen, den die Akademie gekrönt hatte,
ihre Lorbeeren zu den seinigen neigen, und der Welt das erhabene
Schauspiel einer Macht geben, die prunklos die ersten Triumphe ei¬
nes jungen Talentes ehrr. Thränen flössen aus Aller Augen. Es
lebe Alexander! Es lebe der König von Preußen! tönte es ans allen
Herzen, und die Greise der Akademie, die Nestoren unserer Literatur
schienen zu frohlocken, daß sie noch lebten, um Zeugen eines Schau¬
spiels zu sein, welches alle ihre Erinnerungen in Schatten stellte."
So Andern sich, sage anch ich mit dem lorbeergekrönten Jüng¬
ling des Jahres 1814, die Schicksale der Reiche! Dachte der Jüng¬
ling Villemain, als er sich beauftragt sah, den Häuptern des großen
europäischen Kreuzzuges gewissermaßen die Honneurs zu machen, daß
man ihm, dem Minister einer neuen Regierung, auf den Thron ge¬
rufen durch den Haß der Franzosen gegen die Erinnerungen der In¬
vasion, später diese damals mit so großer Begeisterung gehörte Rede
vorwerfen werde? — Man muß hier die Zeiten wohl zu unterschei¬
den wissen: Frankreich wurde von zwei Invasionen betroffen, deren
Folgen sehr verschieden waren. 1814, als die Verbündeten Frank¬
reich die Grenzen von 1792 ließen und ihm selbst die Hälfte von
Savoyen gaben, machte sich das verletzte Nationalgefühl noch.nicht
in patriotischen Protestationen Lust. Damals konnte man noch mit
Beranger sagen, vie öffentliche Meinung sah Napoleon ohne Schmerz
fallen und vertraute den Versprechungen der Bourbons, in der Hoff¬
nung einer schöneren Zukunft. Aber nach den hundert Tagen, als
die abermals gestürzte Dynastie im Gefolge der deutschen Armeen
zurückkam, begann für Frankreich eine Reihe von Demüthigungen,
deren Spuren noch jetzt nicht verwischt sind. Damals hätte Ville¬
main gewiß nicht so gesprochen.
Abel Fran^vis Villemain ist in Paris am 11. Juni 1791
geboren; seine Mutter, eine sehr geistreiche Frau, flößte ihm frühzei¬
tig den Geschmack für wissenschaftliche Studien ein und ließ ihn auf
das Sorgfältigste erziehen. Später kam er in die berühmte Pension
von Planche (Verfasser eines griechischen Wörterbuches), wo er sich
durch die frühzeitige Reife des Geistes auszeichnete. In seinem zwölf¬
ten Jahre, erzählt Sainte-Beuve, nahm er in der Pension an der
Darstellung griechischer Tragödien Theil; er recitirt heute noch vor
unsern ein wenig entwöhnten Ohren die ganze Rolle des Ulysses
im Philoktet."
Zu derselben Zeit, wo er in der Pension Planche den Grund
zu einer tüchtigen Bildung legte, benutzte er die Vorlesungen des
kaiserlichen Lyceums (jetzt (^nII^As s^>om8 I« 6r-,mi). Der junge
Villemain überflügelte bald alle seine Mitschüler und oft trat er aus
den Reihen der Schüler heraus und ersetzte idem Professor mit der
vollkommensten Ruhe, zur großen Bewunderung seiner Kameraden.
Der Ruf des jungen Studenten war bald so groß, daß die
Universität nicht zögerte, ihm eine Stellung zu geben. Während er den
Cursus der Jurisprudenz durchmachte, wurde er dem Minister de Mon¬
tanes vorgestellt, der ihn bald darauf als Professor der Rhetorik am
Lyceum Charlemagne planirte. Eine Rede, die er auf dem Grabe
Lancivals sprach, machte den jugendlichen Professor auch bei dem
großen Publicum rühmlich bekannt. Er zögerte nicht, als Schrift¬
steller aufzutreten. Die Akademie hatte damals einen Preis auf eine
Lobrede Montaigne's ausgesetzt, und der kaum zwanzigjährige Jüngling
nahm sich vor, den Preis zu gewinnen. In acht Tagen hatte er
seine Abhandlung geschrieben und trug damit über alle seine Mit¬
bewerber den Sieg davon. Seine Schrift wurde in der Sitzung vom
23. Mai 182Z von der Akademie gekrönt.
Zu einer Zeit, wo den Geistern jede politische Nahrung versagt
war, war ein akademischer Erfolg von größerer Wichtigkeit, als
jetzt. Der geistreiche junge Gelehrte sah sich bald in den elegan¬
testen Salons aufgesucht. Man stritt sich um die Ehre, den jungen
Professor bei sich zu sehen, der jetzt schon jenen großen Ruf als
geistreicher Salonredner zu gewinnen begann, den er heute noch
besitzt. Die Rede über die Vortheile und Nachtheile der Kritik, wo¬
für Villemain zum zweiten Mal von der Akademie gekrönt wurde,
zeigt auf das Deutlichste den großen Reichthum des Verfassers an
Eleganz, Takt und Grazie. Der Theil, in dem er die Kritik abhan¬
delte, ist etwas dürftig, und das Ganze ist eigentlich eine Paraphrase
des Verses von Boileau: „Die Kritik ist leicht, aber die Kunst schwer."
Diesem zweiten Siege folgte bald ein dritter; die Akademie
sprach in ihrer Sitzung vom 25. August 1816 Villemain den Preis
der Beredsamkeit zu. Die Preisaufgabe war eine Lobrede auf Mon¬
tesquieu, und die gekrönte Rede sing mit einem sehr glücklichen Ein¬
gang an. Villemain nähert sich seinem Gegenstande auf einem
breiten und blumenreichen Wege, und bringt so eine Arbeit von schö¬
nem Style, aber eben weiter Nichts hervor. Alle die großen Fra-
gen, an welche dieser Name erinnert, sind kaum berührt, oder wenn
es der Redner thut, so faßt er sie immer von der bekannten, selbst
abgenutzten Seite auf. Dennoch ist dies Werk anziehend durch feilte
Form, wenn auch im Grunde unzureichend.
Nach der zweiten Restauration und zu derselben Zeit, wo er den
Lehrstuhl der Beredsamkeit bei der tacultv nos lettro» erhielt, brach¬
ten ihm seine Verbindungen mit Decazes und den damaligen Doc-
trinairs als Chef der Abtheilung für die Buchdruckerei und den
Buchhandel in das Ministerium. Zuletzt zum in-nerv «I«?8 i-ecjuöt«-«
beim Staatsrath ernannt, nahm er an allen Kämpfen des Ministe¬
riums Decazes gegen die Ultras Theil.
Nach seiner Lobrede auf Montesquieu sah Villemain, seinen
akademischen Lorbeern entsagend, ein, daß Frankreich tüchtigere Werke von
ihm erwarte: er schrieb seine Geschichte Cromwells, die 1819 erschien.
Dieses Werk hat einen wohlverdienten Erfolg gehabt. Der Gegen¬
stand desselben ist großartig und war für den Autor damals gefährlich,
Villemain vermied damals mit Glück, über den Werth oder Un¬
wert!) der Principien der englischen Revolution zu urtheilen, und
begnügte sich damit, die Thatsachen und Vorfälle in ihrer ganzen
Wahrheit vor die Augen des Lesers treten zu lassen, und sie in jene
schöne Sprache zu kleiden, die er so trefflich der Würde des Gegen¬
standes anzupassen weiß. Die royalistische Partei war mit.der histo¬
rischen Unparteilichkeit Villemains nicht zufrieden; sie hatte eine hef¬
tige Anklage gegen den Protector und die englische Revolution er¬
wartet, und fand blos eine ruhige Darstellung ihres Verlaufs.
Dahlmann hat darin allerdings noch ganz Anderes geleistet.
Im Jahre 1821 wurde der Verfasser der Geschichte Cromwells
trotz seiner Jugend (er war noch nicht dreißig Jahre alt) zum Mit¬
glied der Akademie ernannt.
Die Julirevolution riß Villemain aus der akademischen Lauf¬
bahn und zog ihn ganz in den politischen Kampf. Schon Anfang
18Z0 zum Deputaten erwählt, war er unter den zweihundert einund¬
zwanzig, und als die Charte nach dreitägigen Kampfe gesiegt hatte,
wurde er zum Mitgliede der Commission für Revision der Charte
erwählt, und vertheidigte im Verein mit Dupin die Unabsetzbarkeit
der Richter, sprach sich gegen politische Vermtheilungen aus lind zeigte
sich während der ganzen Session als ein Anhänger der Mäßigung
und Freiheit; als Mitglied des kölnglichen Rathes für den öffentli¬
chen Unterricht, dessen Vicepräsident er später wurde, mußte er sich
einer neuen Wahl unterwerfen; er erlag aber, worauf ihn der König
am II. October 1832 zum Pair von Frankreich ernannte. In den
Kämpfen, welche die ersten Ministerien der Juliregierung in den
Straßen von Paris und in der Vendve zu bestehen hatten, unter¬
stützte er mit Wort und Abstimmung alle Maßregeln der Regierung;
später, als sich die oberste Macht mehr befestigt hatte, sprach er nur
lau sür die Verweisung der politischen Prozesse an die Pairskammer.
AIS nach dem Fiesckischen Attentat das Cabinet vom II. October
die Prcßgesetzgebung verändern und die Competenz der Geschwo¬
renen beschränken zu müssen glaubte, griff Villemain das vorge¬
schlagene Gesetz in einer Rede an, die große Aufmerksamkeit erregte.
Er ging darin von dem Princip aus, daß die Preßvergehen Ver¬
gehen der öffentlichen Meinung seien, also auch nur von einem Rich-
terstuhl der öffentlichen Meinung, also von den Geschworenen bestraft
werden könnten; er bekämpfte den Versuch, Preßvergehen unter den
Begriff Attentat zu classificiren; er behauptete, der ministerielle Ge¬
setzentwurf sei beschränkender, als das schlechteste Gesetz der Restauration,
und äußerte zum Schluß seines Ueberzeugung, daß die dem Pairshof
eingeräumte Competenz diesem viel mehr schaden als nützen werde.
Als sich die Koalition gegen das Ministerium Molo bildete,
war Villemain in der Pairskammer sein tapferster Vertheidiger. Die¬
ser Wortkampf brachte kein anderes Resultat hervor, als'ein Mini¬
sterium mehr, und Villemain wurde Mitglied desselben. Man weiß,
wie dies Cabinet siel; durch einen Zufall, die Emeute Barb'-ö', hervor¬
gerufen, starb es an einem anderen Zufall, der Abstimmung über die Do¬
tation Nemours. Diese plötzliche Todesart war Villemain peinlich; er
wollte großartig durch eine Principienfrage, nach einer feierlichen
Discussion fallen; aber so still und geräuschlos, durch die Stimm¬
urne getödtet, oder wie er selbst sich geistreich ausdrückte, zwischen
zwei Thüren erdrückt zu werden, das verzieh Villemain seinen Nach¬
folgern, den Ministern vom I. März (Thiers), nie.
Endlich kam auch für Villemain der Tag der Rache. Der Juli-
tractat isolirte Frankreich; es mußte vorwärts oder zurückgehen:
Thiers wollte vorwärts: die Kammern und der König weigerten sich,
ihm zu folgen, und er siel. Villemain trat wieder mit Guizot in
das Ministerium, in dem er sich noch befindet. Die Diskussionen über
die Freiheit des Unterrichts, welche Herr Villemain im Verlauf der
diesjährigen Kammersitzung zu bestehen hat, werden wohl den wich¬
tigsten Mittelpunkt im Leben dieses Staatsmannes bilden. Wir wollen
daher nicht vorgreifen und uns begnügen, ein Resum« des politischen
und literarischen Charakters, wie er bisher uns erschienen, zu liefern.
Die politischen Meinungen Villemainö scheinen sich in gleichem
Schritt mit seinen literarischen entwickelt zu haben. In beiden ist er
immer mit der Zeit fortgegangen, ohne sie zu überholen. Abenteu¬
rer und Wagehälse im geistigen Gebiete haben ihre schöne Seite
der Originalität und der Energie, aber auch ihre schwache Seite, die
sich in der Politik durch chimärische Pläne, in der Literatur durch
Absurditäten zeigt. Beides, politische Chimären, wie literarische Ab¬
surditäten, sind Villemains geistiger Richtung geradezu entgegengesetzt.
Seine lebhafte Phantasie findet einen so gewaltigen Schwerpunkt in
seinem Verstände, daß es ihm unmöglich ist, ein kühner Neuerer zu sein.
In der großen geistigen Bewegung der Zeit wird man Ville¬
main immer gleich weit entfernt von den Ungestümen und den Lang¬
samer finden. Auch in der Politik vereint er die Liebe zur Ordnung
und die Liebe zur Freiheit in einen Glaubenssatz, der sich auf die
drei Principien: Nepräsentativmonarchie, Preßfreiheit und Geschwor¬
nengerichte, gründet; und nach der Julirevolution, als der Grundlage
seines politischen Glaubens eine Erschütterung zu drohen schien, trennte er
sich von seinen alten Freunden, um auf der Tribüne der Pairskam-
mer dieselben Principien zu vertheidigen, für die er unter dem Mi¬
nisterium Villele vom Lehrstuhl des Professors und in der Akademie
gekämpft hatte, wo er eine Petition um Abschaffung der Censur ge¬
meinschaftlich mit Chateaubriand und Lacretelle redigirte. Allerdings
haben ihn die Septembergesetze nicht abgehalten, ein Portefeuille an¬
zunehmen, aber er hat sie doch wenigstens bekämpft.
Auch in der Literatur weiß Villemain, indem er sich von den Clas-
sikern und den Romantikern gleich weit entfernt hält, mit festem Schritt
zwischen Laharpe und Schlegel geht, und den geschmackvollen Styl
der alten und die Gedanken der neuen Schule sich aneignet, sich den
alten Fesseln des classischen Styls zu fügen, aber immer nur, um
dafür die Klarheit der Form zu erringen.
Wer die Frage», die ich hier nur berühren kann, gründlich stu-
diren will, dem empfehle ich, Schlegel's dramaturgische Vorlesungen
mit Villemain's Abhandlungen über die Literatur und seinen Aussatz
über Shakspeare in den Naiv^iuix mol-niA«« tÜ8de«etc>it<.>8 et liuv-
iuiic-8 zu vergleichen. Man wird hier sehen, in welchen Punkten
diese beiden trefflichen Kritiker sich nähern und in welchen sie von einan¬
der abweichen. Villemain scheint nur, wenn auch nicht unmittelbar, aus
der von Schlegel herrührenden geistigen Bewegung hervorzugehen.
Beide haben für das classische Griechenthum eine gleich lebhafte Be¬
geisterung, und beide haben es gründlich studirt. Villemain, obgleich
er Schlegel's Ansicht von dem gänzlichen Mangel an Originalität in
dem französischen Drama des siebzehnten Jahrhunderts entschieden
bekämpft und „mit Verehrung" zu dem Genie Racine's aufblickt,
spricht ihm doch das echte Gefühl für das Antike ab, und will nicht
in seinen griechisch-französischen Tragödien sein Hauptwerk sehen.
Aber indem er dem romantischen Drama und dessen Repräsentanten
Shakspeare volle Gerechtigkeit widerfahren laßt, wendet er gegen
die Neuromantik alle von Schlegel gebrauchten Gründe. Er verhöhnt
jeden Shakspearefanatismus, der nach willkürlichen Theorien die Aus¬
wüchse eines großen Genies als seine schönsten und originellsten Neu¬
erungen darstellen möchte, s-)
In seinem vortrefflichen Gemälde der Werke des achtzehnten
Jahrhunderts hat Villemain, indem er auf die glücklichste Weise
Biographie, Geschichte und Kritik verbindet, alle früheren Kritiker
weit übertroffen. Erschienen sind von diesem Werke Villemains sechs
Bände; in dem ersten, der erst neuerdings herausgekommen ist, be¬
handelt er die erste Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts; in den fünf
anderen, die nach den Vorlesungen niedergeschrieben sind, einen
Theil des Mittelalters und die andere Hälfte deS achtzehnten Jahr¬
hunderts. In dem letzten Theil befinden sich jene schönen Abhand¬
lungen über die englischen und französischen Redner, die in Paris
ein Ereigniß waren und durch stenographische Abschriften in ganz
Frankreich verbreitet wurden.
Die hiesigen Correspondenten in deutschen Blättern haben fast
allgemein die Nachricht verbreitet, das Haus Rothschild hatte die Zu¬
rücknahme der bekannten russischen Juden-Ukase bewerkstelligt. Erlau¬
ben Sie mir, Ihnen über diesen Gegenstand einige Aufschlüsse zu
geben, einerseits, weil die Zurücknahme jener grausamen Maßregel in
neuester Zeit überhaupt zweifelhaft geworden ist, andrerseits, weil ich aus
bester Quelle die Versicherung leisten kann, daß der Einfluß der Fa¬
milie Rothschild in dieser Sache ganz unfruchtbar gewesen ist. Wah¬
rend der Anwesenheit des Grafen Orloff in Wien hat der Wiener
Rothschild sowohl mit diesem Diplomaten, als auch mit dem dorti¬
gen russischen Botschafter, Grafen von Medem, ernstliche Unterhand¬
lungen gepflogen, auf welche Weise man zu Gunsten der armen rus¬
sischen Juden beim Kaiser interveniren könnte. Beide Staatsmänner
riethen ihm jedoch von jedem directen Schritte ab, indem man gerade
einen solchen als das sicherste Mittel schilderte, den Kaiser auf seinem
Entschlüsse beharren zu machen. I^'vmnei-vui- — sagte einer von
den beiden Herren — v'est un put «je lor aultre «mi <:ilium,z null-l?
vnluntv doit se! »risvl- commv »n ps,t de? toi-ro. — Auf diesen
Rath hin unterließ das Haus Rothschild in der That jeden directen
Schritt. Was die Rothschilo'sche Familie in dieser Sache thun konnte,
kam meist auf gesellschaftlichen Wege zu Stande, und dafür fand
sich hier allerdings in Paris der Mittelpunkt. Die Baronin
Rothschild, eine der geistreichsten und beliebtesten Damen der
Pariser Welt, nahm die Fäden auf und wirkte mit jener feinen
Emsigkeit, die den Frauen eigen ist, wenn sie sich für eine Sache
interessiren. Im Salon der Frau von Rothschild wurden Guizot und
der englische Gesandte für eine Angelegenheit erwärmt, die sonst ihnen
sicherlich gleichgültig geblieben wäre; eine lebhafte Korrespondenz wurde
nach London mit den einflußreichsten Personen des Foreign Office
eröffnet, Lord Aberdeen wurde in's Mittel gezogen und Anfragen aller
Art bei den Gesandtschaften in Petersburg gemacht. Allein, da der
russische Ukas nur eine innere Verwaltungsmaßregel ist, so konnte
die auswärtige Diplomatie unmöglich etwas thun. So beschränkten
sich denn allmälig diese Bemühungen darauf, daß einige dem Kaiser
nahe stehende Personen gewonnen wurden, um in geeigneten Augen¬
blicken ein Wort der Menschlichkeit und der Besänftigung dem Auto¬
kraten zuzuflüstern; ob dieses gelungen, ob nicht, ist noch sehr die
Frage und die Nachrichten, die in letzterer Zeit eingetroffen, lassen
sehr fürchten, daß alle diese feinen Fäden zerrissen. Jedenfalls aber
thun die Zeitungsberichte, die von dem ungeheueren Einfluß des Hau¬
ses Rothschild so viel trompeten, dieser Sache großen Schaden, da
derlei Correspondenzen am russischen Hofe viele offene Ohren finden
und leicht dazu beitragen können, den einen Augenblick milder ge¬
stimmten Sinn des Kaisers wieder zu.erhitzen; und um die Unabhäng¬
igkeit des russischen Thrones von einem Frankfurter Banquierhaus zu
beweisen, könnten Menschen zum Opfer fallen.
Herr On. Merz, der wegen seines Artikels über Rosenkranz (in
der Augsburger Allgemeinen Zeitung) so viele Angriffe erleiden
mußte, sandte uns folgenden Brief zu:
Ich stehe als Mitarbeiter auf dem Umschlage Ihres Journals.
Die Briefe über Kunst und Künstler in München*), so wie der
Artikel über Uhland's Herzog Ernst **) müssen Ihnen ein Recht dazu
zu geben geschienen haben. Mit einem als Ueberläufer Geschmähten
können Sie aber nicht mehr vor das Publicum treten. So eile
ich, Ihnen einige Notizen zur Erklärung und Beurtheilung an
die Hand zu geben.'
Der Einfluß von Schellings Philosophie der Offenbarung war
auf mich gerade in dem ernsten Kampfe dawider der, daß sie mich
von dem Standpunkte des Hegelianischen Denkens in Dingen der
Religion und Metaphysik ablöste. Ein mir erfreuliches Resultat.
Schelling nach seiner politischen Stellung, Schelling als der von ei¬
ner Partei gebrauchte, oder was damit identisch ist, gemißbrauchte
Philosoph geht mich Nichts an. Ich bin unabhängig von Regierung
und Partei, ich brauche sie nicht, ich bin mit meiner sehr bescheidenen
Stellung in einem praktischen geistlichen Amte abseits von allen äu¬
ßeren und weiteren Rücksichten und Einflüssen vollständig zufrieden. So er¬
kläre ich es als unwahre und ungerechte Anklage, wenn in den Jahrbüchern
der Gegenwart der Tübinger Privatdocent Zeller meine theologisch-
philosophische Entwicklung, die mich in meiner politischen und ästhe¬
tischen Richtung und Stimmung nicht im Geringsten berührt oder
gar umgestimmt, als ein Ueberlaufen zu der Partei der Mächtigen, zur
Partei der Carriere denuncirt, weil ich in einem Artikel gegen Rosen¬
kranz (in der Allgemeinen Zeitung), ohne zu diesem oder zu
Schelling in irgend einer persönlichen Beziehung zu stehen, die Un¬
gerechtigkeiten, die jener sich gegen Schelling erlaubte, nachwies. Für
unwahr und entstellt muß ich es erklären, weil Herr Zeller wohl
weiß, daß meine Privatverhältnisse, meine Gesundheit mich weit ab
von der Stellen-Rennbahn hält.
Ich weiß nicht, ob Sie sich denken können, wie ein mit Reli¬
gion und Christenthum ausgesöhnter Geist dennoch die Fragen der
Zeit und der Welt mit freiem, ja gerade darum mit freierem Blicke
zu verfolgen vermag. Nur wenn ich das Parteimachen mit und um
Schelling, wenn ich Unterdrückung der Freiheit in Wissenschaft und
Leben und nicht vielmehr allseitigste Offenbarung des modernen Gei¬
stes zur Ausgestaltung seiner wahren und bleibenden Ideen willkom¬
men hieße; wenn ich meine Ueberzeugung an Menschen oder Umstände
verkaufen könnte; nur wenn ich nicht der Alte wäre bei aller Auge«
Stallung des religiös-philosophischen Standpunktes, der im Uebrigen
nur kräftigend und reinigend auf mich zurückwirken soll — nur dann
würde ich zu einer solchen Verunglimpfung charakterloser Parteimen-
schen schweigen.
Was man über die russischen Maßregeln zur Vernichtung pol¬
nischer Nationalität und Kirche hört, das wagt selten mehr eine Be-
richtigungsfeder zu bestreiten oder zu rechtfertigen. Wie kommt es,
daß gerade das russische Verfahren gegen die Juden in deutschen
Zeitungen so viel beschönigende Federn findet? Ist die Harte gegen
die Juden unwahrscheinlicher als die gegen das unglückliche Polen?
Denken die Correspondenten von der russischen Grenze in dieser An¬
gelegenheit leichter Glauben zu finden ? Speculiren sie vielleicht auf
das Vorurtheil gegen die Juden? Da würden sie sich sehr täuschen.
Ein Vorurtheil, das so weit ginge, um das Ohr für die Stimme
der Menschlichkeit zu betäuben, gibt es nicht mehr in Deutschland.
Das Wort: Judenhaß ist vielmehr ein Vorwurf geworden, dessen sich
selbst die eifrigsten Gegner der Judenemancipation schämen und den
sie lebhaft von sich abzuwehren suchen. Das civilisirte Europa sieht
mit Unwillen in dem Schauspiel russischer Judenbedrückung ein Spiegel¬
bild eigener barbarischer Vorzeit. Doch sind noch große Unähnlich-
keiten in diesem Bilde. Die schrecklichsten Judenverfolgungen früherer
Zeit gingen fast nie von Fristen und Regierungen aus, oder sie wur¬
den ihnen durch einen fanatischen Clerus, durch den 'Aberglauben des
Pöbels, durch den blinden Haß und Terrorismus des Augenblicks
aufgedrungen: in Rußland sind sie die Consequenz kalter Politik, die
That eines Cabinets, das geistig auf einer höheren Stufe steht, als
das russische Volk. Das Mittelalter handelte darin ganz im Geiste
seiner Zeit: Nußland thut, was es thut, im Angesicht einer besseren
Zeit und einer höheren Civilisation, der es angeblich nacheifert, wah¬
rend es ihr nur die äußerlichen Gesetzformen zur Sanctionirung und
die technische Fertigkeit zur systematischen Befestigung seines Regie¬
rungswesens entlehnen will.
Oder sind die zahlreichen Berichte über den guten Willen der
Juden-Ukase übertrieben, erdichtet, lügnerisch? Nein. Wir glauben
vielmehr, daß jene Wohldienerischen Correspondenten unberufener Weise
ein Uebriges thun. Rußland bildet sich gewiß nicht ein, an zwei
Tafeln schwelgen zu können; einerseits als furchtbares Bollwerk des
Absolutismus, als „das zweite Rom", als drohendes Zwingeuropa
angestaunt und andererseits als das Land der Humanität gepriesen
zu werden. Und Kaiser Nikolaus selbst, u,v;e tot.<; c!v i',;>-, wie
sein Freund Orloff sagt, sucht gewiß seinen Ruhm eher in einer kon¬
sequenten Rücksichtslosigkeit, die den Widerstand bricht, als in
den philanthropischen Anwandlungen seines unnationalen Vorgän¬
gers Alexander. Am wenigsten wird ihm daran liegen, für
judenfrcundlich zu gelten. Während sich daher die Einen in künstli¬
chen Raisonnements abhetzen, um die Juden-Ukase zu pestalozzischen
Erziehungsmaßregeln umzudeuteln, und. die Anderen sich rührende
Wunder von allerhand Verwendungen versprechen, gibt die russische
Negierung Beiden ein Dementi nach dem anderen.
"
Die „Berlinischen Nachrichten bringen einen neuen Mas:
Juden, die sich paßlos oder mit abgelaufenem Paß über der Grenze
betreffen lassen*), sollen nach dem Gesetz über Ausreißer und Land
laufer behandelt werden ; auch wenn ihr Geburtsort bekannt und ihre
Gemeinde bereit wäre, sie zu reclamiren. Sie sind an's Militär ab¬
zuliefern, ohne Rekrutcnanrechnung, d. h. ohne daß ihre Gemeinde
darum einen Mann weniger zu stellen brauchte. Wenn sie zum
Militärdienst untauglich sind, sollen sie zur Strafarbeit Verwender,
und wenn sie auch dazu nicht taugen, mit ihren Weibern „zur An-
siedlung" nach Sibirien geschickt werden.
Wird man nicht bald von der russischen Grenze diesen Mas be¬
richtigen? Wir sind begierig, wie man dies anfängt. Wenn man
nicht beweis't, daß er eine Lüge ist oder daß russische Mase nie zur
Ausführung kommen oder daß sie das Gegentheil von dem bedeute»,
was sie sagen, so wissen wir nicht, wie man seine Wirkung auf die
Gemüther paralysiren will. Vielleicht muß Czar Nikolaus seine Mase
mit so ehernem Finger schreiben, weil er sein Volk genau kennt und
weiß, daß die „slavische Weichheit" seiner Kosaken und Gensdarmen
dieselben ohnedies in der Ausführung mildert. Freilich. Wenn
man bedenkt, mit welcher Buchstäblicher, mit welcher Willkür
gegen freie Ausländer verfahren wird, die der Grenze
nicht vorsichtig genug ausweichen**), so wird man' sich denken
können, was eine kaiserliche Ordre gegen die Juden, gegen russische
Juden zu bedeuten hat; daß sie die ganze jüdische Bevölkerung unter
polizeiliche Aufsicht stellt, daß der gemeine Muschik oder Straßnik sie
als seine gute Prise betrachten, sie brandschatzen, quälen und treten
kann nach Belieben. Das Schicksal eines Menschen vom Ablaufen
seines Passes abhängig zu machen! Im civilisirten Europa reisen
Tausende in ihrem Vaterlande ohne Paß, im Auslande mit längst
abgelaufenen Pässen. Wie kann man auch in solchen Dingen strenge
Bestimmungen treffen, wo die haarscharfe Linie des Gesetzes so leicht
überschritten ist! Der Geschäftsmann, der Arzt, der Reisende über¬
haupt, der von tausend Zufälligkeiten abhängt — ein Tag der Saum-
riß, ein Unfall, ein Erkranken, setzt ihn den ärgsten Mißhandlungen,
der Beraubung, und wenn er kein Gold hat, dem Verderben aus.
Oder glaubt man, daß er, dem humanen und gebildeten Kosaken ge¬
genüber, sich nur auf den Geist des Gesetzes zu berufen braucht?
Es scheint nicht, daß dergleichen Rücksichten in Rußland üblich sind.
Liegt doch im Ukase selbst eine charakteristische Rücksichtslosigkeit. Mit
der körperlichen Unfähigkeit, mit der Hilflosigkeit des Verbrechers steigt
ja die Schwere seiner Strafe. Er ist vielleicht zu alt, seine Glieder
sind zu steif und ungelenk, um dem Kaiser einen guten Soldaten ab¬
zugeben: man verwende ihn zur Strafarbeit. Er ist vielleicht zu
kränklich, zu schwach, vielleicht ein Krüppel; man schicke ihn nach
Sibirien. Weil er nicht zum Soldaten und nicht zum Arbeiten fä¬
hig ist, muß er fähig sein, das rauhe Sibirien zu colonisiren. Mit
seinem Weibe. Natürlich. Sie ist ja nur das Weib eines Juden;
wer wird sie erst fragen? Vielleicht hat sie einen Säugling an der
Brust, vielleicht einige Kinder; nun, sind es Knaben, so können sie
vielleicht später ihren Vater in der Armee ersetzen, die Madchen wird
man ihr wohl mitgeben. Dann trägt sie wenigstens zur Be¬
völkerung Sibiriens bei. Vielleicht ist es eine 'alte Jüdin. Was
schadet das? Unsere krankhafte Sentimentalität malt sich dergleichen
Alltäglichkeiten gleich mit schwarzen Farben aus: ein gesunder Russe
lacht blos, wenn er das komische Gespann, den schmutzigen alten Ju¬
den mit weißem Bart und die kopfwackelnde alte Jüdin, abfahren
sieht nach Sibirien. Sie können dort Philemon und Baucis spie¬
len; schon dieser Gedanke ist allerliebst.
^ Das Conversationslerikon für bildende Kunst (Leipzig, Rom-
berg's Verlag) ist, da Sulzers und Jeittelles Werke ganz veraltet
sind, ein verdienstliches und der Unterstützung des Publicums würdi¬
ges Unternehmen. So weit sich bei der noch geringen Ausdehnung
desselben (fünf Lieferungen bis Antilochus) darüber urtheilen läßt, ist
es eine sachkundige Zusammenstellung der gewonnenen Resultate in
Kunstgeschichte, Kunsttopographie, Künstlerbiographien, Mythologie,
Aesthetik, in Kunsttechnik und den Hilfswissenschaften der Kunst. Hie
und da laßt sich noch ein fester Gesichtspunkt über das, was aufzu¬
nehmen und wegzulassen ist, vermissen, wie in dem Artikel Aetolien,
der eine sehr ausführliche geographische Abhandlung über dieses Land
enthält, um dann zu sagen, von einer aetolischen Kunstschule wisse
man Nichts, und nur ein einziger Künstler dieses Landes sei bekannt;
oder Afghanistan, mit der schwerlich hierher gehörigen Erzählung der
neuesten englischen Katastrophe; auch den Artikeln Aeschylus und
Agathokles in demselben Hefte möchte man dasselbe vorwerfen können.
Andere Artikel dagegen, wie Altdeutsche, Aeginetische, Aegyptische Kunst,
mehrere Artikel über einzelne Kunstwerke entsprechen allen billigen An¬
forderungen. Die zahlreichen eingedruckten Holzschnitte lassen in
Auswahl, Ausführung und Druck wenig zu wünschen übrig.
— Böhmen ist plötzlich in Paris populär geworden. Dies Er¬
eignis; ist weder durch die Schriften der jungen Czechomanen, noch
durch den neubelebten Prager Landtag herbeigeführt worden. Die
Pariser verehren Böhmen, weil es das Vaterland der Polka ist.
Wer in Paris nicht Polka tanzen kann, ist jetzt ein verlorener Mensch.
Wenn früher die Deutschen nach Paris wanderten, um dort Sprach¬
unterricht zu ertheilen, werden die Böhmen jetzt dorthin emigriren,
um Tanzunterricht zu ertheilen. Man spricht sogar schon von Be¬
gründung eines böhmisch-französischen Journals (nach dem Muster
der Ruge-Marrschen Zeitschrift), welches den Zweck haben soll, die
Sympathien der czechischen und französischen Füße zu vereinen. Mon¬
sieur I^ritpilL und Alnnsieiir I?rim«Ms, die zwei, radikalsten Pari¬
ser Tanzmeister, haben dem Redacteur des neuen Journals ihre
Mitwirkung zugesagt. Wenn sie nur nicht nach dem Beispiele von
Lamartine und Lammenais (gegenüber von Rüge) ihr Wort zurück¬
nehmen. Die Polka hat eine große politische Bedeutung, denn sie
ist ein Bauerntanz; eine Bewegung des Proletariats, und da sie die
aristokratische Quadrille zu verdrängen droht, so fürchtet man die
Fortschritte dieser gefährlichen Propaganda; die preußische Gesandtschaft
in Paris soll bereits ernsthafte Instruktionen erhalten haben.
— Glücklich zu sterben ist ein so beneidenswerthes Loos, als
glücklich zu leben. Thorwaldsen genoß Beides.- Der Tod kam ihm, dem
dreiundstebzigjährigen Greis, so freundlich plötzlich entgegen, wie das
Glück dem dreiundzwanzigjährigen Jüngling. Man weiß die Art, wie
Thorwaldsen in Rom sein erstes Glück gemacht. Er hatte das Mo¬
dell seines Jason vollendet; aber trotz des vielen Lobes, das man ihm
spendete, fand sich Keiner, der es ausführen lassen wollte. Trostlos und der
Dürftigkeit preisgegeben, will Thorwaldsen nach Kopenhagen zurück¬
reisen. Schon am anderen Morgen will er den Wanderstab ergrei¬
fen, da führt im letzten Augenblick der Zufall den reichen Holländer
Hoppe in die Stube des jungen Künstlers; er sieht das Modell, be¬
wundert es, bestellt die Ausführung — Thorwaldsen bleibt, sein Glück,
sein Ruf ist plötzlich gemacht. So begann dieser Künstler. Und
wie endete er? In seiner Vaterstadt Kopenhagen, zum letzten Mal
an der Verehrung seiner Mitbürger sich weidend — ist er eben im
Begriffe, nach Rom zu reisen. Schon ist der Tag bestimmt; da
kommt der Tod leise und sanft und bereitet ihm das heilige Grab
im eigenen Vaterlande! — Wer sagt noch, das Glück sei flatterhaft ?
— Bekanntlich hieß es zuerst, Gutzkow's Schwert und Zopf
werde in Oesterreich erlaubt werden. Die Prager Censur ließ das
Stück wirklich durch und es ging zum Bencsice eines dortigen Schau¬
spielers in die Scene. Nach der Hand langte jedoch von Wien die
Weisung an, daß das Stück für die ganze Monarchie nicht zulässig
sei. Dabei fand, wie uns ein glaubwürdiger Correspondent meldet,
folgende kleine Anekdote statt. Der Erzherzog Karl, der vor Kurzem
einige Tage in Prag anwesend war, freute sich, eine Wiederholung
des Stückes zu sehen, wovon so viel die Rede ist; da traf plötzlich
die Weisung von Wien aus ein. Der Erzherzog, den es nur ein
Wort gekostet hatte, um die Aufführung stattfinden zu lassen, äußerte
jedoch, „daß er seinen eigenen Wunsch gerne dem Gesetz opfere." —
Dies erinnert an eine andere Anekdote, die man vom Kaiser Franz
erzählt, der eines Abends nach der Aufführung eines neuen Stückes
im Burgtheater, beim Herausgehen zu der Kaiserin sagte: I freu'
mi recht, daß ich d a s S t?ü et h e u t' g ' sehn hob, denn das
verbiete n's gewiß!
— Eine Correspondenz aus Kassel meldet uns, daß das Heft
Nro. 5. der Grenzboten, worin sich ein Artikel über die Universität
Marburg von Dr. Ernst Dronte befand, mit Beschlag belegt und
alle Exemplare im Kurfürstenthum Hessen confiscire worden sind. i>r.
Dronte, der als Advocat in Berlin lebt, ist glücklicher Weise vor dem
Schicksal gesichert, das den Hofrach Murhard getroffen hat.
— Wer sich beim Zeitungslesen einen kleinen Spaß machen
will, dem rathen wir, in den verschiedenen Correspondenzen aus Pa¬
ris die schlauen Kunststückchen zu beschleichen, mit welchen Herr Böcn-
stein sein Journal „Vorwärts" vorwärts zu bringen sucht. Diese
Eorrespondenzartikcl sprechen bisweilen von Erschaffung der Welt und
von der Arche Noah's, um richtig bei Börnsteins Journal anzugelan-
gen. So z. B. lies't man in dem einen Blatt: Ein Bericht aus
Berlin im Hamburger Correspondenten meldete kürzlich, daß die rus¬
sische Regierung sich an die deutschen Regierungen mit dem Gesuch
gewendet habe, alle deutschen Uebersetzungen der Broschüre link««"-..
.4Ill!n,!«<>'net, I^i'i'uno von Fournier zu verbieten. Wirklich wurde auch
die bei Gutsch und Rupp in Karlsruhe angekündigte und bereits im
Drucke befindliche Uebersetzung augenblicklich verboten. Auch hier in
Paris wurden, wiewohl in anderer Art, ahnliche Schritte versucht.
Russische Agenten wollten zuerst das Manuscript, dann die Auflage
ankaufen, allein diese Bemühungen scheiterten und die Broschüre be¬
findet sich bereits in der dritten Auflage im Verkauf und das deut¬
sche Journal Vorwärts liefert' eine v o l lstän d i g e U e b e r-
se ez u n g diesesBuches, von der bereits vierCapitel er¬
schienen sind." Hier müssen also der Hamb. Corresp. aus Berlin,
Gutsch und Rupp in Karlsruhe und russische Agenten zusammentreten,
um das „Vorwärts" in's Schlepptau zu nehmen. — Zwei Zeilen weiter
heißt es wieder: „Der berühmte Pianist Döhler gab am 25. hier ein
von der gewähltester Gesellschaft besuchtes Morgenconcert. Das hie¬
sige deutsche Journal Vorwärts nennt es das erste gute
Eoncerc i n d ieser Saiso n, eine blumenduftende Oase in
der musikalischen Sandwüste von Paris." — Welch ori¬
ginelle Aussprüche dieses deutsche Journal Vorwärts nicht Alles fällt.
— Ein Bericht über das deutsche Theater, welchen vor Kurzem
das I^orvigli «mnrtei-I^ ix'vio^v lieferte, setzt die Kenner deutscher
Literatur wegen der Vollständigkeit und kritischen Schärfe, mit der er
unsere dramatische Literatur von den Schicksalstragöden Werner,
Müllner und Grillparzer bis auf die neusten Erzeugnisse von Gutz-
kow und Laube, ja bis auf die Wiener Localposse (Raimund) die
Revue passiren läßt, in Erstaunen. Man hätte in der That ein Recht, sich zu
wundern, daß ein Engländer eine so detaillirte Kenntniß deutscher Litera¬
turzustände besitzt — wenn wirklich der Verfasser ein Brite wäre. Wir
glauben aber, der Mann wohntkeineSwegs in den vereinigten drei König¬
reichen, sondern sitzt still und mit der deutschen Literatur in Stutt¬
gart. Man weiß, daß Dingelstedt vortrefflich englisch schreibt und
von Wien aus für englische Reviews gearbeitet hat. Ein Urtheil
über Grillparzer stimmt mit einem ähnlichen, das man früher von
Dingelstedt äußern hörte. „Grillparzer,, — sagt der Reviewer — „ist
ein Poet, der mit dem Schicksalsdrama durch seinen ersten Versuch
zusammenhängt, aber durch Zeit und Geist Werner so wie Müllner
überragt; dieser Dichter ist viel zu sehr durch seine erste Arbeit be¬
kannt und viel zu wenig durch seine folgenden, weit vorzüglicheren
Werke. Obschon in seiner literarischen Stellung ganz isolirt und fast
vergessen von der Kritik, bleibt er dennoch unstreitig der eigenthüm¬
lichste und kräftigste Dramatiker der Jetztzeit, wenn er auch nicht der
productivste und glücklichste unter ihnen ist." — Wenn Dingelstedt
wirklich der Verfasser dieses Artikels ist , so macht es seinem Herzen
Ehre, daß trotz der Angriffe, die ihm in letzterer Zeit von allen Sei¬
ten das Leben verbitterten, er doch ein beredter und warmer Fürspre¬
cher für die Bestrebungen der jungen Literatur geblieben .ist. Der
Artikel der Review ist mit Ruhe und liebenswürdiger Eleganz ge¬
schrieben.
— In einem vor Kurzem erschienenen Werke von l)r. Rath¬
geber (Annalen der niederländischen Malerei :c.) wird Rubens der
Maler des Lichts, und Rembrandt der Maler des Dunkels genannt.
Sehr treffend.
— Die Eisenbahnen als Beförderer der deutschen dramatischen
Literatur. Ist dies nicht ein närrischer Titel für einen Aufsatz ? Aber
es ließe sich ein prächtiges Feuilleton darüber schreiben. Ohne die
Eisenbahn würde manches neue Stück unausgeführt geblieben^ sein.
Unsere Theaterdirectoren zu einem Schritt zu bewegen, bedarf es ei¬
ner Dampfmaschine. Gutzkow geht nach Berlin, um Zopf und
Schwert durchzusetzen. Laube reist nach Berlin, um über den Struen-
see Verhaltungsmaßregeln zu geben. Prutz betreibt dort die Auffüh¬
rung seines Moritz von Sachsen. Der Redacteur dieser Blätter hatte
drei Jahre ein von der Berliner Bühne angenommenes Stück dort
müßig liegen. Erst als er sich auf die Eisenbahn setzte, um selbst
dort zuzuschauen, legte man die Hand an's Werk. Wer nimmt sich
der dramatischen Autoren an, die entfernt von der Eisenbahn leben
und ihr Talent verkümmert sehen, weil sie den gestrengen Herrn Di-
rectoren nicht persönlich ihr Manuscript unter die Nase halten können?
— Der Schwanenorden wird in der Zeitungspresse bald die
Rolle einer zweiten Seeschlange spielen. Wir dachten, er sei bereits
an den Nagel gehängt und mehrere Anzeichen ließen mit Recht schlie¬
ßen, daß diese weder bei Katholiken noch bei Protestanten beliebte
Restauration im Stillen einschlafen werde; aber was sollte die schnar¬
rende Zukunftstrompete aus Berlin melden, gäbe es nicht glücklicher
Weise Schwanenorden, Sonntagsfeier und andere/mehr in's Theolo¬
gische als Politische schlagende Staatsereignisse? So heißt es denn
jeden Augenblick: „Die Statuten des Schwanenordens sollen nur noch
einmal berathen und dann veröffentlicht werden." — Gottlob, nun
sind wir ruhig. Dann wieder: „Man behauptet, der Schwanenorden
gehe einer neuen Organisation entgegen.,. Auch gut. Oder: „Die
Statuten des Schwanenordens sind in Revision begriffen." Waren
sie schon in Eorrectur? Merkwürdig bleibt es, daß die neuen Berliner
Wirren und Wehen sammt und sonders sich um's Ministerium der
geistlichen Angelegenheiten drehen. Auch die Studentenuntersuchungen,
Professorenabsetzungen :c. gehen ja vom geistlichen Ministerium aus.
O großer Friedrich!
Wenn man in Deutschland von Ungarn und seinen von dem
übrigen Oesterreich so himmelweit verschiedenen Gesetzen und Beweg¬
ungen spricht; wenn man von Wien hört und seiner fast orientalischen
Weichheit, seiner strengen Polizciüberwachung und politischen Unmün¬
digkeit, und gleich darauf wieder von der straffen, glühenden Ent¬
schlossenheit der Magyaren, von ihren stürmischen Reichstagen und
revolutionären Reden, Forderungen und Wahlerzcssen — so kommt
man auf den natürlichen Gedanken, daß Oesterreich von Un¬
garn durch unwegsame Gebirge, reißende Flüsse getrennt sein müsse,
um nicht angesteckt zu werden; daß man viele Tagreisen mit allen
Hindernissen eines scharfen Grenzweges zu kämpfen habe, bis man
von diesem ruhigen Wien endlich in dem reichötagstürmischen Pre߬
burg, von der österreichischen Idylle zu dem Grabbe'schen Drama der
Magyaren gelangt. Dies ist ein Irrthum. Von Wien nach Pre߬
burg fährt das Dampfboot — in drei Stunden. In drei friedlichen
Stunden machst Du in einem und demselben Staate einen Ueber¬
gang, der in Frankreich Jahre voll Blut und guillotinirter Menschen¬
opfer gekostet hat; auf dem Schiffe wehen dieselben Fahnen, dasselbe
Wappen, dieselben Uniformen findest Du beim Aussteigen wie beim
Einsteigen und doch, welche Revolution ist mittlerweile vorgegangen.
Als Du Dich eingeschifft, umwehte Dich die absolute Luft einer unbe¬
schränkten Monarchie; der letzte Mann, den Du an Bord sahst, war ein
Polizei-Soldat. Hüte Dich, daß Du kein unbesonnenes Wort
Dir entschlüpfen läßt, daß Dein Paß, Dein Passirschein in stren-
ger Ordnung sei. Doch jetzt ist die kurze Fahrt vorüber. Du steigst aus
Land, kein Mensch fragt, wer Du bist und woher Du kommst, über¬
all wehenDir die Zeichen der Ungebundenheit entgegen. Du bist auf con-
stitutionellen Boden; das Wort, das drei Stunden früher als Hoch -
verräth Dir angerechnet worden wär.e, der Gedanke, den Du früher
im Herzen verschließen mußtest, wenn Du nicht selbst eingeschlossen
zu werden wünschtest — hier kannst Du sie auf offener Straße aus¬
rufen. Und doch ist der Kaiser auch hier Herr, und rings umher
herrscht der tiefste Friede.
Sonderbar! Fast alle österreichischen Provinzen sind durch hohe
meilenweite Bergrücken von einander geschieden; Oesterreich, Böhmen,
Mähren, Gallizien, Steyermark, Tyrol, die Lombardei — überall hat die
Natur granitne Markscheiden aufgethürmt, um den Völkerschaften den
Verkehr unter einander zu erschweren. Nur nach Ungarn zu hat sie
die Ebene, von wenigen unbedeutenden Hügeln umpflanzt, ganz offen
gelassen. Um dem Bürgerfleiß und der geregelten Civilisation der
Deutschen den Weg nach dem halbasiatischen Ungarn zu erleichtern?
Um der Freiheit der Magyaren die Straße zu den übrigen Völkern
Oesterreichs zu bahnen? Wer erräth die geheimen Zwecke der Na¬
tur! Gewiß ist, daß das Land, welches durch Gesetze und Zoll-
schranken von der übrigen Monarchie am schärfsten abgeschlossen ist,
durch sein Territorium die wenigsten Schranken bietet, während die
durch ihr Terrain von der Natur getrennten Provinzen durch Ge¬
setz und Handel in Eins verbunden sind. Ist die Gewalt der Ge¬
schichte und der Staatskunst stärker als die der NaturF Die Zukunft
muß das beweisen. Der Staat zählt nach Jahrzehnten die Na¬
tur nach Jahrtausenden.
Die Fahrt auf dem Dampfschiff von Wien nach Preßburg,
Pesth und Belgrad ist wohl eine der originellsten, die man in Eu¬
ropa machen kann. Nicht etwa, daß die Ufergegenden so reizend
sind, wie die am Rheine von Mainz bis Bonn, oder so romantisch
wie die auf der Elbe von Tetschen bis Dresden -i-); die Fahrt bis
Preßburg ^ und von dieser allein sei hier die Rede — hat man-
eben pittoresken Punkt, ohne im Ganzen durch einen besonderen Eha^
rnkter sich auszuzeichnen. Desto mehr hat der Reisende Gelegenheit,
sich mit der Reisegesellschaft auf dem Schiffe zu beschäftigen, und diese
ist der Art, wie man sie wohl auf keinem europäischen Strome wei¬
ter findet. Wie monoton ist doch am Ende die Gesellschaft auf den Nhein-
und Elbschiffen. Schwatzhafte Weinreisende und lederne Leinwand-,
Woll- und Manufacturenhändler, sentimentale Damen mit Mopsen
und Lorgnetten, ein Paar Engländer mit langen Beinen und Fern¬
röhren, die Langeweile auf dem Gesichte und den steifen Guide unter
dem Arme, ein Professor, der ü, drei Thaler des Tags die Vacanz
genießen will, ein blonder Student mit zurückgeschlagenen Kragen, ein
brauner Handwerker mit einem dicken Knotenstock: dies sind die
sämmtlichen Figuren in diesem Kartenspiel. Ihr könnt sie alle mit¬
einander tagtäglich in Eurer Stadt an jeder Ecke sehen, und um ih¬
retwillen braucht Ihr Euch nicht auf die Reise zu bemühen. Anders
ist eS auf einem Donauschiffe. Hier schwimmt das Abendland nach
dem Orient, ein friedlicher Kreuzzug im buntesten Feldlager. Asiatische
Costüme und Gesichter mischen sich mit europäischen. Türken, Ar¬
menier, Zigeuner, in der Mitte von eleganten Wienern, von fettge-
wichsten Slovaken mit tempelherrnartigen Mänteln und runden Tel¬
lerhüten. Und dazwischen die Uebergangsmenschen, die Magyaren
und Wallachen in eigenthümlichen Bewegungen. Welch ein Gemisch
von Sprachen, Religionen, geistigen Richtungen, materiellen und pa¬
triotischen Wünschen findet sich unter diesen hundert Menschen, die
hier auf einem Brette neben einander stehen. Die an die verschiedenar¬
tigsten Himmelsstriche gewöhnt sind, finden sich hier unter der Decke
einer und derselben Kajüte neben einander. Wie verschiedenartig sind
die Interessen, die in diesen Gruppen discutirt werden. Der Handel
hat seine Repräsentanten in der zweiten Kajüte. Hier sitzt der wal¬
lachische Pferdehändler, der Slovak mit seinem Lcinwandbündel, der
türkische Jude mit seinen Rosenölen und Spezereien, der Getreide-
Händler aus Siebenbürgen, und unterhalten sich von dem Jahrmarkt
in Debreczin und Pesth. In der ersten Kajüte aber discutirt der
Magnat, der ewige Reisende auf der Donau, über Hofleben und
Unabhängigkeit, über Philanthropie und Privilegien, über Pferde und
Menschen, Maitressen und Kirchensachen. Die' weibliche Gesellschaft
ist hier seltener als auf dem Rheine und der Elbe, und vor Allem
sind die weichen kränklichen Gesichter nicht zu finden, die man auf
deutschen Reisen so oft findet. Blondinen gehören zu den Raritäten.
Hier ist das Reich der Braunen; hier ist Alles dunkel, feurig: Augen,
Haare, Teint. In diesem Punkte ist die Magyarin wie die Walla¬
chin, die Wienerin wie die Griechin sich gleich.
Es war an einem schönen März Nachmittag, als ich mich nach
Preßburg einschiffte. Die Sonne kämpfte mit ihrer frühzeitigen Wärme
eifrig gegen die kalten Winde, die aus der Gegend des Kahlenberges
herwehten. Mantel und Sonnenschirm waren fast zu gleicher Zeit
nöthig. Eine passende Introduction zur Reise in ein Land, das so
viele Widersprüche vereint, und wo die Begriffe der modernen Frei¬
heit so frühlingslustig und doch nur halbmächtig mit den Winden
und Winterrcsten mittelalterlicher Privilegien und Confusionen käm¬
pfen. Auf dem Reichstage war eine wichtige Gesetzverhandlung der
Magnatentafel übergeben worden, und viele von den in Wien lebenden
ungarischen Großen fuhren nach Preßburg, um der Sitzung des andern
Tages beizuwohnen. Ich kannte einige dieser Herren persönlich: da war
der Graf Franz Palfy, dem die eine Hälfte von Preßburg (der so¬
genannte Schloßberg) gehört; der Graf S-mdor, der berühmteste
Reiter Europas, der seinem Schwiegervater, dem Fürsten Metternich,
vor der Trauung mit dessen Tochter die Hand geben mußte, daß er
wenigstens keine tollkühne Reiterkunststücke mehr machen werde;
der geniale Fürst Friedrich Schwarzenberg, den die Leser dieser Blätter
unter der Maske des „verabschiedeten Lanzenknechts" wohl kennen,
und der — eigentlich böhmischer Standesherr — seit einiger Zeit in
Ungarn sich angekauft hat und Mitglied der Magnatentafel ist; der
Graf Joseph Esterhazy, der vor einigen Jahren im Prater einen
Polizeimann niedergeritten und darüber in einen schweren Prozeß
verwickelt wurde, der mit einem Spruch auf zwei Jahre Erik endigte;
der Domherr Wurda, Mitglied der Ständetafel (Bruder des Ham¬
burger Tenoristen), einer der freisinnigsten Geistlichen Ungarns, der
durch seine Rede über die gemischten Ehen viel Zorn von seinen
College» sich zugezogen hat. Ich erwähne diese Herren blos, um die The-
mam anzudeuten, die auf einer Reise nach Preßburg auf dem Schiffe
besprochen werden. Das Thema, um welches sich diesmal der größte
Theil der Conversation drehte, war die Besteuerung des Adels. Diese
wichtige Maßregel, ohne die Ungarn keinen Schritt zu seiner Eman-
cipation thun kann, findet weit weniger Widerstand bei den gro¬
ßen Güterbesitzern, die dadurch jährlich einige hunderttausend Gulden
von ihren Einkünften einbüßen werden, als bei dem kleineren mittelloseren
Adel. Der reiche Magnat kann leicht einen Theil seiner Rente in
die Schanze schlagen; eines Theils, weil ihn dieser Act des Patriotis¬
mus zu keinen Entbehrungen verurtheilt und andern Theils, weil es am
Ende nur eine glückliche Spekulation ist, da die eingehenden Steuern
zu Straßen und Canälen verwendet werden sollen, wodurch der Grund¬
besitz an Werth gewinnen muß, so daß, was er auf der einen
Seite opfert, ihm andrerseits verdoppelt eingeht. Aber der ärmere
Edelmann, der kaum sein Leben von seinem Besitze fristen kann, dazu
noch verschuldet ist uno weder Speculant, noch großmüthiger Patriot
sein darf, weil sein Gläubiger es nicht duldet — dem ist es leicht
zu verzeihen, wenn er als Cicero pro ninno sun, auf dem Landtage
spricht. Von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet, gewinnt die De¬
batte über die Steuerverwilligung, die uns in Deutschland jo lächerlich
erscheint, ein milderes Ansehen. Auch scheint man nicht daran zu
zweifeln, daß das Gesetz zu Stande kommen werde, ungeachtet aller
seiner Gegner.
Das letzte österreichische Städtchen, das man bei der Fahrt nach
Ungarn am Donauufer zu Gesichte bekommt, heißt Hamburg. Wer
Zeit hat, der steige hier an's Land, denn dieser kleine Platz ist einer
der interessantesten und wichtigsten Punkte der Monarchie. Hamburg
ist eine populäre Umgestaltung des Wortes Hunnenburg. In der
That stand hier die Römerfeste dieses Namens, deren noch übrigge¬
bliebene Ruinen von zahllosen Sagen im Volke belebt sind. Hier
ist classischer Boden, überall Nömerreste; das Bedeutendste unter ih--
nen der sogenannte Römerthurm mit dem Steinbilde Etzel'ö.
Wohlgemerkt, Du reisender Deutscher, hier spielt ein Theil der Nibe¬
lungenscenen. Hier an der letzten Grenze von Deutschland stehst Du
an der Wiege seiner ältesten Dichtung. Wunderbar genug pflanzt
das großartigste Epos der Deutschen an den beiden Grenzen ihres
Reiches, an den beiden Hauptflüssen desselben seine Bülme auf. An
der Westgrenze in Worms am Rheine, an der Ostgrenze in Hunnen-
burg (der Name wird im Nibelungenliede ausdrücklich genannt) an
der Donau. Es ist, als wollte das herrlichste unserer Gedichte das
Vaterland mit beiden Armen umfassen und seine Marken bestimmen.
Dieses Hamburg, diese Burg der Hunnen ist übrigens auch
noch aus einem ganz anderen Grunde interessant und zwar, weil es
noch heute seine mächtige Zwingherrschaft weit und breit ausdehnt.
Wenn auch der gewaltige Etzel längst zu seinen Vätern eingegangen
ist: sein alter Wohnsitz bleibt dennoch eine Zwingburg für den grö߬
ten Theil Oesterreichs. Hier ist nämlich die Hauptfabrik für den
österreichischen Tabak, den bekanntlich in den deutschen, böhmischen
und gallizischen Erbländern der Staat allein das Recht hat, zu fab-
riziren und zu verkaufen; ein Privilegium, welches einen Hauptzweig
des österreichischen Staatseinkommens bildet. Ueber hunderttausend
grausame Centner dieses Fabrikats stürzen sich jährlich, wie die Schaa-
ren der alten Hunnen, über die friedlichen Gefilde Oesterreichs und
zwingen ihm Tribut ab. „Schwarzer drei König", „rother drei Kö¬
nig" — der eingefleischteste Royalist könnte durch diese Könige aus dein
Stammhause Attila's zur Verzweiflung gebracht werden; nur der
patriarchalische Oesterreicher schmaucht diese Sorten (die übrigens noch
die Aristokratie des österreichischen Tabaks bilden) mit patriotischem
Behagen, ja sogar der „Ordinäre" hat unter dem Volke Popularität
errungen. Man sieht, Völker und Tabakraucher werden erzogen.
Man könnte daraus den Schluß machen, daß der österreichische Staat
auf der festesten Basis stehe, weil eine Nation, die solchen Tabak
verträgt, — unerschütterlich in ihrer Treue sein muß. Aber auch Frank¬
reich raucht Regietabak, schlechtem noch, als der österreichische ist,
und doch hat es zwei Revolutionen gemacht. Also auch nicht aus
Tabakwolken können die politische!: Auguren die Zukunft prophezeiten.
Um drei Uhr Nachmittag fährt das Dampfschiff von Wien ab
und um sechs Uhr Abends landet es in Preßburg. Ich hatte einen
Freund von meiner Ankunft in Kenntniß gesetzt, und dieser erwartete
mich gleich beim Aussteigen aus dem Schiffe, um mich uach dem
Hotel zu begleiten, wo ein Zimmer bereits für mich bestellt war.
Diese Vorsichtsmaßregel ist in Preßburg während des Landtags noth¬
wendig, da die kleine Stadt bisweilen, nicht alle Magnaten und
Fremden beherbergen kann, die bei wichtigen Fragen zum Reichstag
strömen. Die Einwohner von Preßburg haben die Verpflichtung,
die Mitglieder des Reichstags Fi-uis zu beherbergen. Die Zahl die¬
ser Mitglieder hat aber keine bestimmten Grenzen, da jeder Magnat,
d, h. jeder ungarische Fürst, Graf oder Baron Mitglied des Reichs-
tags ist, so daß die armen Preßburger häufig genug in der größten
Verlegenheit sind über den großen Segen, den ihnen der liebe Gott
an Magnaten und Deputirten beschert hat. Damit aber die Gast¬
höfe, welche Zimmer vermiethen, diesen Gottessegen nicht unchristlich
für ihre Tasche ausbeuten, hat der Stadtrath in allen Gastzimmern
gedruckte Zettel anschlagen lassen, durch die der Fremde belehrt wird,
daß für jedes Zimmer mit der Aussicht auf die Straße ein Gulden
C.M. täglich zu bezahlen ist, für jedes andere aber, das auf deu
Hof seine Fenster hat, 4? kr. (12 gGr.). Dieser geringe Preis —
und obendrein zur Zeit des Landtags — beweist schon, daß man
im Lande der Wohlfeilheit sich befindet. Pesth und Preßburg sind
die beiden theuersten Städte Ungarns. Dennoch wird sie der Fremde
billiger als jede andere deutsche Stadt finden. Die Küche in den
Gasthöfen ist freilich für keinen Gaumen, der an roctier cle ^.meat
oder an die ki-vros ^room^-ax in Paris oder auch nur an den
russischen Hof in Frankfurt und das Hotel Meinhard in Berlin ge¬
wöhnt ist. Dafür aber wird er sich am Weine entschädigen können.
Der Ungarwein hat Sorten und Lagen, die von keinem französischen
und deutschen Gebirge überboten werden können. In Frankreich trinkt
man die gewöhnlichsten Schomlauer und Erlauer Weine (der Himmel
weiß, mit welchen Ingredienzien vermischt) unter dem Collectivnamen
vin <lo 1?»K.^. Auch in Deutschland weiß man, was von dem zu
halten ist, was gewöhnlich unter dein Namen Tokayer verkauft wird.
Echten Tokay trifft man selbst in Ungarn höchstens in einigen aus-
erwählten Privatkellern. Doch genießt man wenigstens die anderen
Weine, die im Auslande unter jenem aristokratischen Namen mit ver¬
fälschten Adelsbriefen verkauft werden — echt und ursprünglich. Für
den Preis, den eine ordinäre Flasche Bordeaux- oder Rheinwein an
einer deutschen Gasttafel kostet, kann hier der feinste Schmecker seinen
Gaumen mit einem Gewächs erquicken, wie es nur in den Liedern
der orientalischen Dichter blüht, wie Hafiz und König Salomon es
besungen. Allerdings läßt sich an der Ungartraube tadeln, daß sie
sehr heiß ist. Es ist kein kalter Wein wie der deutsche; er geht in's
Blut wie Spanierwe-in und Burgunder. Genuß liegt ein guter Theil
des Geistes, der durch dieses Land geht und die Reichstage und
Wahlversammlungen so stürmisch, den Patriotismus so feurig macht, in
den schwarzen und grünen Traubenbceren, die an den Uferhügeln der
Donau und der Theiß sich hinschlängeln. Die deutschen Sauerwein-
journale haben viele kalte Weisheit und viel herben Tadel für die
tokayheiße Politik der Magyaren. Ich wollte, es käme ein Kometen¬
jahr, wo die Neben bei Würzburg und Hochhcim ihren Bocksbeutelgeist
und ihre Blumendüfte verloren und dafür mit heißem Rüster-, Ma-
gyar»der- und Villuncrsaft sich füllten; dann solltet Ihr sehen, wie
die deutschen Philistergesichter sich plötzlich verklären und entzünden
würden, wie die altkluge Magisterweisheit plötzlich in unbesonnene
Begeisterung umschlüge; wie die Sturmfässer der deutschen Geschichte
anders zu rollen anfingen; selbst der diplomatische Johanniöber¬
ger würde Concessionen machen!
„^mliatnr et iUtera p^rs."
Es ist in neuester Zeit viel gegen das deutsche Studenthum ge¬
schrieben worden. Die leichten Plänkeleien des Humors, die uns
den deutschen Studenten stets als modernen Don Quirote vor¬
führten, bezeichneten nur das Vorspiel des Kampfes, dessen sich
bald der wissenschaftliche Ernst der Kritik bemächtigte, um ihn zu
einem schnelleren und gewisseren Ende zu führen. Der das Stu¬
dententhum bisher umgebende Nimbus war bereits vor dem Hu¬
mor verschwunden, und in dichten Colonnen rückten von allen Seiten
die Gegner heran; leichtes und schweres Geschütz begann sein Spiel;
plumpe „bischöfliche" und andere Geschütze (vor Allem die scharfe
Dialektik der Hegelianer) versuchten jetzt, — freilich mit ^verschie¬
denem Erfolge — in die Bollwerke der feindlichen Burg Bresche zu
schießen. Man kann nicht läugnen, mögen auch hier wie gewöhnlich
manche Unberufene mit in die große Kriegstrompete gestoßen haben,
— viele frische Kräfte, die des Terrains wohl kundig waren, kämpf¬
ten unter den Fahnen des anrückenden Feindes. Bald glaubte man
hier, bald da die wahre Achillesferse an dem deutschen Studenten
ausgespäht zu haben. Je weniger Vertheidiger auf dem Kampfplätze
reschienen, um so weiter drang die unerbittliche Kritik, ihren leichten
Sieg verfolgend, vor, und sprach es zuletzt aus, das verhängnißvolle
Wort: Nur «ach Vernichtung aller jetzt bestehenden Formen des
deutschen Studententhums kann das wahre akademische Leben als
Phönir aus der Asche erstehen. Sollte aber wirklich dies trostlose
Resultat, welches nach einer mehr historischen Behandlung der
Frage von Scheidtler („Studentenspiegel") namentlich Fr. Saß in
den Blättern für literar. Unterhaltung auf philosophischem Wege
zu erweisen sucht, vollkommen begründet, sollte es das richtige sein?
Sollten die schwarzen Farben, in denen man uns hier das deutsche
Studententhum vorführt, der Wirklichkeit getreu entsprechen? Oder
sollten nicht vielmehr diese Schilderungen zum Theil auf die Rech¬
nung jener krankhaften, hypochondrischen Weltansicht kommen, die sich
besonders in der Ausmalung von Nachtstückeu gefällt, — einer An¬
sicht, die aus dem Gebiete der Poesie jetzt schon mehr und mehr in
das der Prosa überzugehen droht? Ich glaube doch gewiß. Wir
gewöhnen uns von Tag zu Tage mehr daran, die wunden Stellen
unseres socialen Lebens durch das Vergrößerungsglas der „NMvrvs
lie k^aris" zu betrachten. — Ich bin überzeugt, wenn der Geist un¬
seres Jahrhunderts nicht so ganz wunderungläubig wäre, so hätte
der fromme Olshausen mit seiner originellen Ansicht, daß alles Le¬
ben im Grunde krank ist und die Wunder der alleinige Gesundheits¬
zustand sind, gar Viele bekehren können! Und doch, meine ich,
sollten wir gerade in unserer „zerfahrenen und zerfallenen"
Zeit uns davor hüten, durch das Entwerfen solch düsterer Lebensbil¬
der die klaffenden Wunden noch weiter aufzureißen; gerade wir
sollten es am wenigsten versäumen, auch die Lichtseiten unserer Ver¬
hältnisse von Zeit zu Zeit hervorzukehren, damit im heißen Kampfe
unserer Zeit die Kräfte nicht verzweiflungsvoll verzagen und die
Schwingen der Thatkraft nicht noch mehr erlahmen. Von solchen
Principien scheint man aber freilich in der Besprechung unserer
Frage nicht ausgehen zu wollen. Man zeigt sich hier so unbillig,
daß man dem deutschen Studenten geradewegs allen Patriotismus
abspricht; daß ihn unter Anderm der „Telegraph" durch Hinweisung
auf den rühmlichen, von den griechischen Studenten bewiesenen
gemäßigten Patriotismus beschämen zu können glaubt (nebenbei ge¬
sagt, zu viel Großmuth gegen die Hellenen, die auf uns Deutsche
nicht so viel zu halten scheinen) —, als ob es unsere deutschen Stu¬
denten, wenn sie von der Gelegenheit begünstigt wurden, jemals an
dem äußeren Beweise solcher Gesinnungen hätten fehlen lassen. Ja,
man hat geradezu unser ganzes deutsches Studententhum für eine
bloße Karrikatur, für ein bloßes „Zerrbild" des wahren akademischen
Lebens erklärt; man behauptet ja, alle seine Formen müßten erst zur
Asche niedergebrannt werden, blos dem beliebten Bilde eines neuen
Phönix zu Gefallen. Freilich auch ich bin der Meinung, das deutsche
Studententhum soll eine Feuerprobe aushalten, aber nicht eine Probe
des Feuers, welches mit seinem sengenden Hauche nicht blos die
wenigen Giftpflanzen, sondern auch alle zarten, unschuldigen Blumen
im Ziergarten des Studentenlebens anwehe und alle Blüthen ab¬
streift, wenn sie keine ökonomischen Früchte tragen; — nein, jenes
Feuers, das mit seiner läuternden Kraft die bildsamen metallischen
Elemente durchdringt, nur die Schlacken sorgfältig aussondert und
aus der wallenden und brausenden Fluth den reinen Silberblick dar¬
stellen will. Mein Schiboleth heißt: Was zu retten ist, das rette in
dem großen Schiffbruch unserer Zeit. Ich meine, man soll nicht
Ideale ins Leben hineintragen wollen, statt dieses jenen allmälig nä¬
her zu bringen; man soll nicht einen ganzen Organismus als krank
verschreien, wenn er der gesunden Glieder noch so viele zählt; kurz,
ich will in der Frage über das deutsche Studententhum ungefähr
die Stellung behaupten, welche bei einer andern, jetzt auch vielfach
berührten Frage die Liberalen und Constitutionellen den Communisten
gegenüber behaupten. Gern würde ich mein Princip in Bezug auf
die ganze Frage hier durchzuführen suchen, wenn mir dies Zeit und
Raum verstattete. Ich beschränke mich daher auf eine Besprechung
der hervorstechendsten Erscheinungsform im deutschen Studententhum,
deren Vertheidigung man bei den heftigen, gerade hier concentrirten
Angriffen der Gegner schon auf dem Papiere aufgegeben zu haben
scheint, derselben Form, „in welche" — nach Fr. Saß — „gar kein besseres
Element hineinzubringen ist, aus der kein Heil und kein Gutes hervorge¬
hen kann." Ich meine die Corps und Landsmannschaften.
Es handelt sich nicht um eine rein wissenschaftliche, son¬
dern vielmehr um eine der Hauptsache nach praktische Frage, um
eine dermalige Form des Studententhumö. Gleich von vorn herein
muß es uns daher gegen unsere Gegner einnehmen, daß diese bei
all ihrer wissenschaftlichen Entschiedenheit und Bestimmtheit
in der Lösung des eigentlichen Problems, der Feststellung eines posi-
tiven Resultats für das praktische Leiden sich so ganz ungeschickt zeigen
und nur den gordischen Knoten zu durchhauen wissen. Man bricht über
Corps und Landsmannschaften den Stab; man verdammt nicht minder
die Burschenschaft, als in zu argem Conflict mit unsern Zeitideen stehend ;
und was will man dafür an die Stelle setzen? Oder will man das
Bedürfniß nach Verbindungen überhaupt gerade für den Abschnitt
unsers Lebens in Abrede stellen, wo die Jugend, dein conventionellen
Leben gegenüber, sich nach kameradschaftlichen Zusammenhang sehnt?
Wahrlich, nur der lächerliche Hochmuth einiger f. g. Geistreichen auf
den Universitäten kann die verkehrte Ansicht hegen, das Anschließen
an eine studentische Verbindung zeige von unselbständigen Geiste.
Läßt sich denn das Verhältniß des Einzelnen zu seiner Verbindung
nur unter dem Bilde des schwanken Epheus auffassen, welcher sich
an die stämmige Eiche hinaufrankt, — oder nicht auch unter dem
Bilde des starken Astes, der bei all seiner eigenen Stärke doch erst
als Theil eines größeren Ganzen, gebend und nehmend zugleich, seine
wahre Bestimmung erreicht? — Doch unsere Gegner wollen ja so
unbillig nicht sein; sie erkennen ja den Begriff der studentischen Ver¬
bindung an sich als berechtigt an. Sie behaupten ja, nicht über
das Was, sondern nur über das Wie streiten zu wollen. Hier
entsteht aber folgendes Dilemma. Entweder man will Verbindungen
in einer bestimmten äußeren Form, oder man will nur ideelle
Verbindungen und verwirft alle äußere Form als todten Formalis¬
mus. So unsere Gegner. Ich könnte mich hier auf die neuere
Philosophie berufen, die ja so stegreich den nothwendigen Zusammen¬
hang von Form und Inhalt nachgewiesen hat; allein ich wende mich
nur an den gesunden Verstand, an Jeden, dem das Menschenherz
keine torra iocoFinta ist. Wir sind einmal keine Engel; wir sind von
unserer innersten Natur darauf angewiesen, den Geist stets in mehr
oder weniger sinnlichem Gewände anzuschauen, und verlieren nur zu
oft mit der Form die Sache selbst. Es fragt sich daher, ob man
das Wesen des deutschen Studententhums so leichten Kaufes da-
hingehen will. Gerade die Jugend, welche vor Allen die bunte, far¬
bige Fülle des concreten Lebens liebt und dieses durch das sinnige
Symbol der gar nicht so bedeutungslosen farbigen Mütze ausspricht,
wollte man mit einem mehr als stoischen Rigorismus hinsichtlich ihrer
Verbindungen auf die reine innere Idee ohne deren äußere Seite
beschränkt wissen! Aber man wird uns am Ende auch darin nach¬
geben und nur verlangen, daß eine entsprechende, würdige Idee da¬
bei zu Grunde liege. Wenn wir uns auch hierin mit unsern Geg¬
nern einverstanden erklären, so können wir doch ihre ätherischen An¬
sichten über jene Ideen nicht theilen. Außer der Vaterlandsliebe
sollen Wissenschaftlichkeit und Sittlichkeit die alleinigen leitenden Ideen,
das einzige Band sein, welches die Mitglieder der studentischen Ver¬
bindungen umschlingt. Ohne die hohe Bedeutung dieser Ideen zu
verkennen, erlauben wir uns die Frage, ob diese allgemeinen, abstrac-
ten Ideen, welche den Menschen mit dem Menschen überhaupt
verketten sollen, genügen, um die alleinigen Principien eines spe¬
ciellen, unter ganz besonderen Verhältnissen geschlossenen Freund¬
schaftsbundes zu bilden, der um so mehr an Intensität verlieren muß,
je mehr sich seine Basis extensiv erweitert. Ich meine, es gibt außer
der allgemeinen Menschenliebe noch eine pathologische Liebe, die auf
einer individuellen Basis ruhen will. Findet man im gewöhnlichen
Leben ein Beispiel, daß ein rein wissenschaftlicher Verein, wenn
nicht besondere Schattirungen, feinere Nüancen hinzukommen, die
einzelnen Mitglieder eng mit einander verknüpfen konnte? Da aber,
wo uns ein „Tugendbund" in der Geschichte begegnet, da waren
es ganz andere, ungleich speciellere Interessen, welche den Verein zu¬
sammenhielten. Aber, wird man uns erwiedern, eben dasselbe speci¬
fische Moment des Tugendbundeö soll auch für die deutschen studen¬
tischen Verbindungen die specielle Grundlage sein, — das Moment
der Vaterlandsliebe. Und wie ist doch, fährt man fort, gerade in
der Konstitution der Corps und der Landsmannschaften,
dieses wesentliche Element so ganz unbeachtet geblieben? Freilich je¬
nen dogmatischen Patriotismus, wie er uns in der Burschenschaft
entgegentritt, welche eine ängstlich genau abgegrenzte politische Ansicht
als verpflichtendes Symbol bei der Aufnahme in ihren Bund aner¬
kennt, den sucht Ihr bei den Corps vergeblich. Solch unisone Ein¬
heit, oder richtiger gesagt, Einförmigkeit, verschmähen diese mit schö¬
nem Stolze und fordern dafür nur die unendlich höhere Einheit eines
harmonischen Zusammenklingens der verschiedensten Individuen
in einen gemeinschaftlichen, echt deutschen Grundton. Sie suchen das
eigentliche Wesen des Patriotismus nicht in solchen äußern bestimm
ten positiven Satzungen (und doch wirft man ihnen den crassesten
Formalismus vor!), sie wollen ihn, statt auf den Lippen, mehr im
Herzen tragen; sie suchen ihren Einigungöpunkt nicht in einem be¬
stimmten, mehr dem Verstände angehörenden politischen Schiboleth,
sondern vielmehr in der aus dem Herzen stammenden, gerade dem
Deutschen so eigenthümlichen, hohen Gemüthlichkeit. Wer nnr
das äußere Leben und Treiben dieser Corps betrachtet, wie sie sich
gegenseitig befehden und befeinden, und nicht zugleich ihrem inneren
Leben jseine Aufmerksamkeit zuwendet, dem entgeht er ganz, dieser
schöne echt deutsche Zug des Corpslebens. Denn himmelweit ver¬
schieden von der modernen Sentimentalität, die sich stets durch ein
sehr breites Aushängeschild ankündigt, gleicht die echte alte Gemüth-
lichkeit dem ungeschliffenen Diamant, der wegen der rauhen Außen¬
seite nur zu oft in Gefahr geräth, verkannt zu werden. Man denke
an die Gemüthlichkeit des uns von Immermann („Münchhausen") so
ganz nach dem Leben gezeichneten Westphalen. Tretet einmal ein in
die trauliche „Kneipe" eines Corps und Ihr werdet finden, wie mit¬
ten unter deutschen Kraftauöbrüchen die Gemüthlichkeit ihren Blumen¬
sitz aufgeschlagen hat. Hier könnt Ihr sie finden, jene kräftigen Cha¬
raktere, die aus einem gewissen edlen Eigensinn die Tiefen ihres
Gemüths vor aller Welt verschließen möchten, die wohl gar die Aeu¬
ßerungen des Gemüths, wo sie ihnen laut entgegenkommen, humo¬
ristisch bespötteln.
Dies ist die strahlende Lichtseite dieser Corps, die so viele mehr
als gewöhnliche Geister anziehen konnte, — und doch geht man so
weit, zu behaupten, es sei aus der jetzigen Form des Corpslebens
noch „Kein großer Mann hervorgegangen". (!) Aber man erwie¬
dert uns vielleicht: Dieser schöne Zug lebt nur noch unbewußt in
den Corps fort, gehört aber keineswegs zur Idee dieser Verbindun¬
gen. Lassen wir denn ihre eigenen Constitutionen darüber reden. Mit
klaren Worten stellen sie es hier als ihre Tendenz aus: „durch freund¬
schaftlichen, gemüthlichen Verein sich zu bilden, sowie die akademischen
Freiheiten und Gebräuche aufrecht zu erhalten," — das erstere als
Princip ihres inneren, das zweite als Princip ihres äußeren
Lebens. Eben dies ist es, was man die Quelle jenes „unseligen
Abschließungssystems" darstellen wollte, wodurch sich die deutschen
Studenten als eigener Staat im Staate constituiren wollen, anstatt
in ihm, dessen Glieder sie künftig bilden sollen, aufzugehen.
Aber liegt es denn nicht nothwendig in der Idee der Universi¬
täten, daß sie keine Staatsanstalten sein, sondern sich eine unabhän¬
gige Stellung sichern sollen? Und man wollte die akademische Ju¬
gend verdammen, wenn sie zu diesem Zwecke die in der Vereinzelung
schwachen Kräfte in Korporationen verdoppeln will? Mag auch die
Jugend hier zuweilen etwas kleinlich in der Wahrung ihrer Interes¬
sen scheinen, mag sie einmal durch optische Täuschung in einem blo¬
ßen Schattenbilde der akademischen Freiheit ihr Ideal zu erkennen
glauben, so ist doch diese Täuschung vorübergehender Natur; und
will man den Vortheil, so muß man auch diesen verhältnißmäßig
kleinen Nachtheil damit hinnehmen. Darum sind wir noch keines¬
wegs berechtigt, solche Mängel der Idee der Corps anzurechnen.
Oder will man es ihnen etwa noch zum Vorwurf machen, daß sie
die Wissenschaftlichkeit und Sittlichkeit nicht noch einmal ausdrücklich
als Principien ihres Bundes hinstellen, während sie dieselben als
stillschweigende Voraussetzungen betrachten, denen sie in ihren Sta¬
tuten nur eine speciellere Färbung gegeben haben?
Wie weit haben sich, rufen unsere Gegner, die Corps von
ihrer Idee, wenn diese so schön ist, entfernt? Tragen sie dieselbe
nicht blos auf der Stirn) um uns über ihr eigentliches Wesen oder
vielmehr „Unwesen" zu täuschen? Sind nicht vielmehr „elende re n o-
mistische Flachheit", die allen wissenschaftlichen Sinn im Keime
ersticken muß, jenes unselige Naufritterth um, aristokrati¬
scher Hochmuth, „der im spätern Leben zur Härte gegen die Un¬
terthanen, zur Kriecherei gegen Vornehme führt," der schreiendste
Egoismus, eine nur sinnliche, keineswegs aber sittliche Rich¬
tung, — sind das nicht vielmehr die eigentlichen Grundzüge des je¬
tzigen Corpslebens? Darin erkennen wir wieder ganz unsere Gegner,
die überall unheilbareKebsschäden wittern, wo es doch nur gilt, ei¬
nige leicht abzulösende Wasserreiser, einige Auswüchse zu vertilgen,
welche das gesunde Mark deö Baumes noch gar nicht angefressen
haben. Fassen wir jene Anklagen schärfer ins Auge.
Zunächst die Beschuldigung des Egoismus, dessen Gift-
Pflanze doch gewiß in dem Schooße der Corps keinen günftigenBo-
den findet. Diese Corps, welche die Aufopferung des Einzelnen für
das Ganze, die rücksichtslose Hingebung deö Einzelnen an seine
Freunde in Freud und Leid, in Ernst lind Scherz, zur ersten gesellt-
gen Pflicht machen, sie sollten — eine Schule des Egoismus sein?
Aber, ruft man, ist nicht jenes aristokratische Air, welches uns
die Corps auf den ersten Blick zeigen, jene Anmaßung einer ganz
unbegründeten diktatorischen Gewalt über die Studentenwelt, der beste
Beweis von ihrem egoistischen Hochmuth? Dieser Vorwurf beweist
am besten die Inconsequenz unserer Gegner, welche im Widerspruch mit ih¬
rem eigenen Princip die äußere Form stets als ein untrügliches Kriterium
des Inhalts ansehen. Freilich erscheinen die Corps nach außen in aristo¬
kratischer Form, in sofern sie sich besondere Privilegien und Rechte vindici-
ren, die übrigens ganz harmloser Natur sind — wer wollte ihnen aber
ein gewisses Bewußtsein ihrer Würde verargen, so lange auf ihrer Seite
die frischsten, regsten Kräfte stehen und ihre Gegner sehr schnell an
der Opposition sterben? doch in ihrem Inneren zeigen sie viel¬
mehr ein echt demokratisches Element, was uns ja ein bloßer Blick
auf ihre Organisation zeigt. Den historischen Beweis aber für je-
nen Vorwurf, daß die Corps auf den meisten Universitäten die
Pflanzstätten der eigentlichen Adelskaste seien, wird man wohl schul¬
dig bleiben, da sich vielmehr die eigentliche Adelskaste, wo es ihre
Anzahl erlaubt, stets in besondern Verbindungen zu isoliren und den
übrigen Corps entgegenzustellen pflegt. Erlaubt ihr dies aber ihre
quantitative Stärke nicht, so zieht sie sich lieber scheu und ängstlich
von dem Studententhum der bürgerlichen Corps, die nicht nach den
Ahnen fragen, ganz zurück; die Adligen jedoch, welche sich in das
Corpsleben einlassen, geben gerade dadurch den besten Beweis von
ihrer Erhabenheit über lächerliche Vorurtheile. Kindisch ist es vol¬
lends, wenn man den Vorwurf aristokratischer Jsolirung auf das
Wort Philister gründen will, das der Corpsstudent der übrigen
Welt anhängt. Klaget doch auch den Künstler, oder überhaupt den
Genius der Jugendlichkeit, der die konventionelle Welt tief unter sich
denkt, des Aristokratismus an. Es ist ein plumper Kniff, wenn man
in diesem Losungswort, das nur ein Ausbruch des jugendlichen
Freiheitsgefühls gegen alle übrige Welt und gegen die eigene Zu¬
kunft ist, eine specielle, dem Adclsgeist analoge Opposition gegen
das Bürgerthum, die Basis und den Kern des deutschen Lebens,
sehen will. Freilich will der Student eine Art Adel (vielleicht gar
erblichen?) darstellen, da sein eigener Vater und nach 3-5 Jahren
er selbst Philister ist, wie er als „ bemooster Bursche" in humoristischer
Wehmuth von sich selber singt. Es ist nicht zu läugnen, daß oft die
tollsten Häuser zuletzt maschinenmäßige Beamten, büreaukratische Kri»
eher und Despoten werden. Ich meine aber, unser bürgerliches Le¬
ben ist reich genug an verledernden Einflüssen: trotz der akademischen
Jugendzeit, nicht durch dieselbe, entstehen diese Pilze einer wässeri¬
gen Civilisation. Eher sollte man fragen: was würde, bei unserer
allgemeinen politischen Erziehung, erst aus den meisten jungen Leuten
werden, wenn ihnen nicht in der Studienzeit wenigstens eine Ah¬
nung von freierer, naturwüchsiger Männlichkeit angeflogen wäre? —
Berühren wir noch zwei Anklagepunkte, die man nicht ohne
Grund gegen das deutsche Corpsleben geltend macht. Dahin gehört
in sittlicher Hinsicht der Mißbrauch der akademischen Freiheit. Wir
sind um so eher geneigt, unsern Gegnern hier volle Gerechtigkeit wi¬
derfahren zu lassen, da sie ja namentlich, was das Duell betrifft,
durch die Anerkennung der guten Seiten desselben, seines echt natio¬
nalen Charakters, insofern sich der Deutsche im blanken Schmuck der
Waffen besonders gefällt und in ihrem blutigen Urtheil mehr als
bloßes Spiel des Zufalls erblickt, eine größere Billigkeit als sonst an
den Tag legen. Jedoch hätten sie, statt in ewige Klagen über sol¬
chen Mißbrauch der akademischen Freiheit auszubrechen, auf die
Quelle des Unheils hinweisen sollen. Dieser Pflicht unterziehen wir
uns um so lieber, da gerade der neuesten Zeit das Verdienst ge¬
bührt, jene Quelle hier und da erkannt zu haben und auf ihre Aus¬
trocknung bedacht zu sein. Dieser bedeutende Fortschritt zeigt sich in
einer freieren, liberaleren Organisation der Gymnasien, wie sie jetzt
namentlich in Hessen nach und nach in's Leben tritt, — ganz im
Gegensatze zu der sonst so beliebten Richtung dieser Anstalten. Man
will hier nicht mehr den elektrischen Stoff des Jugendfeuers sich
aufhäufen lassen, bis er früher oder später die Fesseln sprengt: man
hat jetzt der Natur die Kunst abgelernt, durch zweckmäßige Verthei-
lung der elektrischen Kraft die ungestümen Ausbrüche derselben zu
verhindern, ohne ihre wohlthätige Wirksamkeit zu schwächen. Von
jener klösterlichen Zucht, die noch vor kurzer Zeit gleich einem schwe¬
ren Alp die jugendlichen Geister auf dem Gymnasium drückte, ist
man immer mehr zurückgekommen. Man sucht jetzt die Jünglinge
auf den deutschen Gymnasien mehr und mehr an den richtigen Ge-
brauch ihrer Freiheit zu gewöhnen, damit sie ihren Boden auf
der Universität nicht als Fremdlinge betreten und gleich dem Vogel,
der lange im Käfig saß, aus einem Ertrein in's andere fallen; da¬
mit sie sich nicht nach ihrer plötzlichen Metamorphose in dem einen
Moment für selige Paradiesvögel halten (von denen man ja bekannt¬
lich früher glaubte, daß sie die Erde nie berühren), und in dem an¬
dern sich wieder als unglückliche Strauße geberden, die sich nie über
ihre öden Sandwüsten zu erheben vermögen. Seitdem die Gymnasien
diese ihre hohe Aufgabe erkannt haben, dürfen wir hoffen, daß die
Jünglinge künftig auf der Universität in dem reinen Aether ihrer sitt¬
lichen und akademischen Freiheit sich gleich heimisch fühlen und nicht
so leicht bis zum Schwindel davon berauscht sein werden. Der Jüng¬
ling wird sich nicht mehr über ernste Formen und Schranken hinweg¬
setzen, sobald man ihm nur erst die Form nicht mehr durch Forma¬
lismus zuwider macht.— Eben so wenig trifft aber auch der andere
Vorwurf, welchen man in wissenschaftlicher Hinsicht nicht ohne
allen Grund den Corps gemacht hat, die Idee der Corps an
und für sich, da Wissenschaftlichkeit und Gemüthlichkeit sich doch
gewiß im Princip nicht ausschließen. Es liegt die Schuld des un-
eligen „ Eramenstudiums " viel weniger auf Seiten der akademischen
Jugend, als vielmehr auf der Seite der Professoren. Sie sind
es, gegen die man mit bei Weitem mehr Grund die Anklage eines
leidigen „Separatismus" erheben kann, als gegen unsre deutschen
Studenten. Mit den steifen Kollegien allein ist der akademischen
Jugend nicht gedient; sie verlangt, daß die Wissenschaft mit dem
Leben verschmolzen werde. Dieses Princip scheint aber die Professo¬
renwelt leider noch immer nicht anerkennen zu wollen. Statt sich
mit dem Studententhume mehr und mehr zu amalgamiren (man un¬
terscheide dies wohl von Fraternisiren!) verharrt sie nach wie vor in
ihrem unseligen Kastengeist und vermag darum auch nicht die aka-
demische Welt mit freiem wissenschaftlichem Geiste zu durchdringen.
Und welch schöner Wirkungskreis für die Entfaltung dieses wich¬
tigsten Theils ihrer Thätigkeit ist ihnen in dem Institute der Lese¬
museen, wie es bereits auf den meisten Universitäten besteht, er¬
öffnet !
Hat sich die Form der Corps wirklich überlebt, so wird sich das
Studententhum selbst ohne fremde Einmischung eine neue, zeitgemäße
Form anzubilden wissen. Jene rein ideale Form aber (oder richtiger
Formlosigkeit), die von Seiten unsrer Gegner vorgeschlagen wird und
sich, soweit sie sich überhaupt in das Leben einführen läßt, in den
neuesten studentischen Verhältnissen den „Corps" gegenüber als eigen¬
thümliche Form geltend machen wollte, hat sich von historischer und
philosophischer Seite als durchaus ungenügend erwiesen. Nicht polizei¬
liche Maßregeln, nicht der verhängnißvolle Namen der Burschenschaft
— ich berufe mich getrost auf ihr eigenes Zeugniß — haben sie
vernichtet. Nein, sie mußte vielmehr mit ihren eigenen, in zu schwin¬
delnder Hohe über ihr stehenden Principien in Widerspruch gerathen;
an ihr mußte binnen wenigen Wochen in Erfüllung gehen, was
man den Corps schon lange prophezeiht hat: „Sie mußte an der
Zeit sterben!" Ihre traurigen Ueberreste zersplitterten sich g,anz oder
sammelten sich wieder unter den Fahnen der Corps. Freilich auch
diese Corps werden an der Zeit sterben, aber erst dann, wenn sie
ihre Zeit nicht mehr verstehen. So lange dies aber der Fall ist, ist
ihre Eristenz vollkommen berechtigt, und wir dürfen ihnen für die
Zukunft ein günstiges Prognostikon stellen. Das ist eben die uner¬
schütterliche Basis, die sie sich stets im Wechsel der Zeiten bewahren
müssen: „die schone erhabene Idee, das Princip der Gemüthlich¬
keit neben dem kalten Verstandcsprincip auch auf diesem Le-
bensgebiete gehörig zu vertreten." In unserm Endresultate müssen
wir uns daher mit dem so sehr angefochtenen Systeme der Bureau-
kratie, - welche den Corps auf unsern Universitäten wenigstens
stillschweigende Duldung zugesteht, einverstanden erklären; — mögen
auch freilich die beiderseitigen Motive verschieden sein.
.K»
Zwölf Redacteure von in Leipzig erscheinenden politischen, belletri¬
stischen und wissenschaftlichen Zeitschriften versammelten sich vor we¬
nigen Tagen, um zu berathen, aus welche Weise dem, den literarischen
Productionen so schädlichen Piratenwesen der deutschen Nachdruckjournale
zu steuern wäre. Zwei Ansichten machten sich in dieser Versammlung
geltend. Die eine, welche vorzüglich durch den Redacteur der „Deut¬
schen Monatsschrift" (Herrn Professor Biedermann) durch den
Redacteur der „Zeitung für die elegante Welt" (Herrn 7>r.
Heinrich Laube) und durch den Redacteur der „Rosen" (Herrn v>.
Robert Heller) vertreten wurde, sprach sich für die Bildung eines An-
tinachdruckvereines in ganz Deutschland aus. Von Leipzig sollten Auf¬
forderungen an sämmtliche deutsche Journalredactionen gesendet,
Schiedsgerichte sollten in verschiedenen Bezirken eingesetzt werden
und die Redactionen, die dem Vereine beigetreten, sollten sich verpflich¬
ten, für jeden nachgedruckten Artikel eine verhältnißmäßige Entschädi¬
gung oder resp. Strafe zu zahlen. Ein zweiter Vorschlag wurde durch
den Redacteur der „Blätter für literarische Unterhaltung"
(Herrn Heinrich Brockhaus) und den Redacteur der „Grenzbote n"
vertreten. Dieser lautete dahin: Man möge sich vor der Hand auf
die Bildung eines solchen Vereines unter den Leipziger Journalredac¬
tionen beschränken und die Nachdrucker durch moralische Mittel, wie
auch durch eine consequente Benützung der Gerichte, in so weit die
allerdings sehr mangelhaften Gesetze zum Schutze des literarischen Ei¬
genthums die Klage auf Schadenersatz möglich machen — verfolgen.
— Wir wollen es versuchen, unsere Ansicht hier näher zu erörtern.
Wer die Verhältnisse des deutschen Journalismus nur einiger¬
maßen kennt, der wird gestehen müssen, daß Nichts schwieriger, ja
vielleicht Nichts unmöglicher ist, als alle diese Köpfe unter ei¬
nen Hut zu bringen. Bei dem Mangel einer großen, überwiegenden
und entscheidenden Centralstadr in Deutschland werden die einzelnen
Richtungen und Interessen überall ihre eigenen Wege suchen. Wir
haben dies erst bei einem kürzlichen Beispiele, bei der Einführung der
Tantiemezahlung an dramatische Schriftsteller gesehen. Obgleich Wien
und Berlin, die beiden Großstädte und Hauptbühnen Deutschlands,
zusammengewirkt haben, so ist es ihnen dennoch nicht gelungen, ihr
System auch von den anderen deutschen Bühnen angenommen zu se¬
hen. Vielmehr hören wir von München, daß es zwar gleichfalls die
Tantieme, aber nach einem ganz anderen Princip einführen wolle.
Die Hofbühnen von Dresden, Stuttgart, Weimar :c. und mehrere
andere bedeutende Bühnen geben nicht das mindeste Zeichen von sich,
daß sie von dem Wien-Berliner Schritt irgendwie Notiz genommen
hätten, und selbst wenn sie durch den Drang der Umstände genöthigt
werden, dem endlich zur Anerkennung gekommenen Autorenrecht Ge¬
nüge zu leisten, so läßt sich doch im Voraus ersehen, daß dies mehr
oder minder in abweichender Weise geschehen wird. Die deutschen
Bühnendichter sind jedenfalls den Herren v. Holbein und v. Küstner
auch dafür zu Dank verpflichtet, daß sie nicht erst auf den Anschluß
der Uebrigen gewartet haben.
Das ist ein belehrendes Exempel für unseren Fall. Bevor es
den Leipziger Redacteuren gelingen würde — und dies Gelingen ist
sehr zu bezweifeln — ihre College» im übrigen Deutschland zu einer
und derselben Ansicht und Maßregel zu vereinen, würden sicherlich
noch Jahre verstreichen. Und wer sagt ihnen, daß sie nicht selbst in
dieser schwierigen Verhandlung und den damit verbundenen Correspon-
denzen stecken bleiben, daß nicht gerade die Eifrigsten und Energischsten
mittlerweile sich von der Journalistik zurückziehen und die ganzen müh¬
seligen Negociationen in's Stocken gerathen und veraebens gewesen
sind.
Wir meinen: Wirke Jeder vorerst in seinem Kreise. Mögen
die Leipziger Redacteure, die ein nicht unansehnliches Häuflein bilden,
zuerst unter einander sich verständigen über das, was in Journalen
erlaubter und unerlaubter Nachdruck ist; wie weit den politischen Jour¬
nalen, denen man den Wiederabdruck von Nachrichten, Documenten
und officiellen Artikeln, die in anderen Journalen erschienen, immer¬
hin gestatten muß, ein freierer Spielraum anzuweisen ist, als den
wissenschaftlichen und belletristischen. Man vereinige sich über die
moralischen Mittel, durch welche man gemeinschaftlich die Gewissen¬
losigkeit des journalistischen Piraten züchtigen wolle und wie weit die
Kosten einer juridischen Verfolgung desselben aus gemeinschaftlichen
Fonds bestritten werden solle. Es wäre nämlich dem Zwecke des
Vereins sehr entsprechend, wenn er einen, mit der deutschen Preßge¬
setzgebung vorzüglich vertrauten Gerichtsanwalt besoldete, damit derselbe
bei jedem, von dem Berein als Nachdruck bezeichneten -Fall die
Gesetzgebung jenes Staates, in welchem das nachdrückende Journal
erscheint, genau zu Rathe ziehe und über die Möglichkeit einer juri¬
dischen Verfolgung desselben Bericht abstatte. Wie schutzlos auch die
Journalpresse vor den deutschen Gerichten ist, so sind doch die Ge¬
setze über das literarische Eigenthum in einzelnen Staaten weniger un
günstig und lassen eine Klage auf Schadenersatz wohl zu Der
einzelne Redacteur oder Verleger, der durch Nachdruck in seinem Ei¬
genthum verletzt wird, ist oft zu nachsichtig, indolent, prozeßscheu oder
gcsetzunkundig, um den Eingriff gerichtlich zu verfolgen. Was der Ein¬
zelne aber vernachlässigt, das müßte der Verein als Gesammtinteresse
verfechten. Die Kosten eines solchen Prozesses müßten, wenn die
betheiligte Redaction sie nicht selbst zu bestreiten sich anheischig macht,
aus den Vereinsmitteln bestritten werden. Das günstige Resultat
solcher Prozesse würde gewiß ein sicheres Abschreckungsmittel für die
Nachdrucker sein. Aber selbst im ungünstigen Falle, selbst wenn das
gerichtliche Urtheil Lein hinlängliches Gesetz findet, dem angeklagten
Journal eine Entschädigung aufzulegen, so würde dieses doch von der
öffentlichen Meinung verurtheilt werden. Es ist nicht ehrenvoll, ir¬
gend eines Unterschleifes willen vor Gericht gestanden zu haben, selbst
wenn man freigesprochen wurde. Auf die angedeutete Weise, die al¬
lerdings noch viele Modificationen und Erweiterungen zuläßt, könnte
der Leipziger Redactionsverein unmittelbar seine Thätigkeit beginnen
und in den nächsten Monaten schon die Resultate seines Wirkens
kennen lernen. Sind diese, wie zu hoffen steht, glücklich und ein¬
greifend, so werden auswärtige Redactionen bald entweder sich ihm
anschließen, oder zu einem ähnlichen Vereine sich zusammenthun. >L?ind
dieResultate der Leipziger jedoch ohneBelang, so liegt es sicherlich nicht
an der leitenden Idee, sondern nur an der Art der Ausführung; ein
anderer auswätriger Verein wird dann, durch unsere Erfahrung belehrt, es
besser zu machen suchen und es wird dann an uns sein, seinem Bei¬
spiele zu folgen. Die Leipziger Redactionen können in dieser Ange¬
legenheit nicht von dem Ehrgeize getrieben sein, sich an die Spitze
der Uebrigen zu stellen. Sie haben hiezu kaum die Berechtigung. Bei
aller Achtung für die mannigfachen tüchtigen Bestrebungen eines gu¬
ten Theils der Leipziger Presse kann man doch nicht läugnen, daß die
einflußreichsten und verbreitetsten Journale gerade von anderen Orten
ausgehen. Nur ihre praktische Tüchtigkeit kann hier den Ausschlag
geben. Dies ist die Aufgabe, diese erfülle man durch rasche Wirk¬
In Heine's Lied vom Kyffhäuser lautet eine auf Weimar be¬
zügliche Stelle also -
Sie klagten und jammerten, Goethe sei todt
Und Eckermami sei noch am Leben.
Mit einigen Modifikationen möchte ich dies auf das hiesige
Burgtheater und die französischen Schauspieler anwenden, die uns vor
einigen Tagen verließen, und statt deren ich lieber andere Leute auf
Reisen geschickt hatte. Verdammen Sie mich nicht dieses offenen
Bekenntnisses wegen, glauben Sie nicht, daß ich die Franzosen über
den Rhein führen und ihnen Thüren und Thore öffnen wolle. Nein!
nicht unsere Festungen, sondern nur das eine oder das andere Thea¬
ter möchte ich in ihre Hände spielen und zwar aus zwei Gründen:
Erstens, weil sich das Publicum, die Gallophoben mit eingerechnet,
dabei sehr gut unterhielte, und zweitens, weil es denn doch möglich
wäre, daß unsere Künstler (Sie sehen, wie höflich ich bin) von der
Natürlichkeit, Frische und Leichtigkeit dieses'Spiels Etwas annahmen,
was ihnen wahrlich nicht schaden würde. Man hat es den französi¬
schen Schauspielern häusig zum Vorwurf gemacht, daß die von ihnen
zur Aufführung gebrachten Stücke fast durchgängig leichte Pariser
Waare seien. Dies läßt sich allerdings nicht in Abrede stellen, doch
liegt die Schuld nicht an ihnen, sondern an dem bestehenden
Reglement, demgemäß auf dem Kärnthnerthor-Theater nur Stücke,
worin Gesangsnummern vorkommen, gegeben werden dürfen. So
waren sie denn ausschließlich auf das Vaudeville beschränkt und die
bedeutenderen, gehaltreicheren Stücke ihres Repertoirs mußten weg¬
bleiben. Nachdem ich dies zugegeben, muß ich aber auch bemerken,
daß es mir am Ende lieber ist, ein mittelmäßiges Stück vortrefflich
gespielt zu sehen, als der Darstellung eines Meisterwerks beizuwohnen,
wofür die Schauspieler nicht den rechten Ton zu treffen wissen. Und
daß dies nur zu oft geschieht, ist leider nicht in Abrede zu stellen.
Noch immer ist die Einführung der Tantieme bei unserem Hof¬
theater der Gegenstand, über den in aristokratischen Salons sowohl,
wie in den Literatenkreisen discutirt wird. Bisher war man in Deutsch¬
land überhaupt und in Oesterreich besonders gewöhnt, den Stand
des Schriftstellers als einen, ich möchte sagen, rechtlosen zu betrach¬
ten, und so gibt es nun Leute, die da meinen, es sei ganz überflüs¬
sig gewesen, den Literaten, die am Ende doch ihre Stücke um den
Preis, den man ihnen dafür bieten wollte, hingeben müßten, diesen
KLns Ix»-« liti I» I»i gegenüber, eine rechtskräftige Verpflichtung einzu¬
gehen. Solche Einwürfe zu widerlegen, wäre eine undankbare Mühe.
Uebrigens sind die Gegner lange nicht so zahlreich wie die Verfechter;
zu diesen gehören natürlich die Schriftsteller selbst als unmittelbar be¬
theiligte Partei, und ferner die große Zahl sanguinischer Naturen, die
der Ueberzeugung leben, die Einführung der Tantieme werde nun aus
jedem Gehirn Meisterwerke hervorzaubern. Seltsame Logik! Von wel¬
chem Einfluß auf den Werth oder Unwerth eines Kunstwerkes kann
der verheißene Lohn sein? Sei dieser noch so gering, der wahre Poet
wird darum doch nichts Schlechtes liefern können: sei er noch so
groß, die liebe Mittelmäßigkeit wird darum nicht mit klingendem Ge¬
sieder gegen Himmel schweben. Immer wird es Jeder gerade so gut
machen, wie er es eben kann, und daran vermag auch die Tantieme
Nichts zu ändern. Aber wichtig u'ut erfreulich bleibt die Einführung
derselben doch immer, sowohl als Act der Gerechtigkeit (nicht der
Gnade, wofür Manche sie ausgeben wollen) wie als Beweis, daß
man das theatralische i-uK-nie-, bei dem wir uns bisher so übel befan¬
den, auch höheren Orts als zweckwidrig und ungesund zu betrachten
anfängt.
Betrübend ist es übrigens, zu berichten, daß das erste Stück,
dem bei uns die Tantieme zu Theil ward, vollständig Fiasco machte.
„Canova's Jugendliebe" heißt das verunglückte Stück, dessen Ver¬
fasser Töpfer ist. Unbegreiflich ist es, wie die Regisseurs, zu deren
Vortheil es gegeben wurde, dieses Stück wählen mochten, von dem
sich mit Gewißheit vorhersehen ließ, daß es nicht gefallen werde noch
könne, denn so weit ist es mit dem Publicum denn doch noch nicht
gekommen, daß es abgedroschene Gemeinplätze für Kunstansichten,
Trivialitäten für Humor, das Einschalten einiger italienischen Flüche
für Localfarbe nähme und es gelten ließe, einen großen ruhmgekrön¬
ten Künstler wie Canova als eine Art von Cretin erscheinen zu sehen.
Das Mißfallen war, wie gesagt, entschieden und einstimmig, und da
die herkömmlichen drei Vorstellungen vorüber, so wird das Stück höchst
wahrscheinlich nicht mehr gegeben werden.
In den Salons äußert sich, nach dem durch verschiedene
Trauerfälle gestörten Carneval, in der Fastenzeit ein regeres Leben.
Bei dem Grafen Flahaut werben von Dilettanten französische Stücke
aufgeführt. Unter den Mitwirkenden machen sich besonders Fürst H.
und Baron O. S. durch Feinheit und Sicherheit des Spiels bemerk¬
bar. Außerdem war die hiesige Societät vielfach mit den Tableaur
beschäftigt, die an zwei Abenden bei der Fürstin R. dargestellt wur¬
den. Die englische Aristokratie ausgenommen, wird man nicht leicht
unter irgend einer anderen so viele schöne Frauen finden wie unter
der hiesigen; wenn man nun unter diesen Schönen die Schönste
wählt, sie in der, ihrer Individualität am meisten zusagenden, mit
ihrem Ausdruck am treffendsten übereinstimmenden Gestalt erscheinen
läßt, so kann die Wirkung wohl nur eine zauberhafte sein. Ganz
bewunderungswürdig waren vornehmlich die Gräfin A. Sz., die mit
ihren dunklen Augen, nachtschwarzen Locken und fremdartig reizendem
Antlitz Stender's Judith darstellte, und die blendend schöne Fürstin
E. sah., der man als Vernet's Hagar nur den Vorwurf machen
konnte, daß die Wahrscheinlichkeit durch sie beeinträchtigt werde, da
es ja doch geradezu unmöglich wäre, eine solche Frau zu verstoßen.
Unter den Herren zogen besonders Graf E. Z. als Abraham, Graf
B. als greiser Bischof und Baron I. als Apostel Paulus die Blicke
auf sich. Nach dem Beifall, den diese Produktionen fanden, läßt sich
hoffen, daß man auch in anderen Salons ähnliche veranstalten
werde, und es wäre dies um so mehr zu wünschen, als es außer
dem momentanen Genuß auch noch den Vortheil brächte, daß unsere
Societät dadurch in Beziehungen zur Kunst geriethe und auf diesem
Weg wieder ein Interesse daran gewönne, dessen jetzt eben nicht allzu
Viele fähig sind.
Ich muß schließen. In meinem nächsten Briefe werde ich Ih¬
nen melden, welche Aufnahme Ponsard's Lucreria bei uns gefunden
haben wird. In ein Paar Tagen soll sie in Seidl's Uebersetzung
auf unserem Burgtheater gegeben werden. Am Ostermontage haben
wir die erste italienische Oper; man verspricht sich viel von der Spa¬
nierin Montenegro '). Was mich betrifft, so bin ich mißtrauisch ge¬
worden gegen Alles, was ich nicht kenne, und statt auf jene unbe¬
kannte Größe freue ich mich vor der Hand auf die frühlingsheitere
Tadolim und den genialen Ronconi, diesen Devrient unter den Sängern.
(Von einem anderen Correspondenten.) Gestern wurde ein Mann
begraben, dessen Leiche die ganze medicinische Facultät, fast alle Aerzte
Wiens, viele Männer aus den höchsten aristokratischen Kreisen, Hof¬
bediente, welche die höchsten Herrschaften vertraten, folgten. Dieser
Mann wurde vor dreiundsiebzig Jahren in Wien geboren und als
Lehrjunge aus einer Wiener Barbierstube hervorgehend, erlangte er
spater, ohne je regelmäßige Studien getrieben zu haben, die medici¬
nische Doctorwürde der Universität in Wien; durch seinen praktischen
Verstand und scharfen Blick für's Leben und Charakter bemächtigte
er sich bald einer bedeutenden Praxis. Ich berichte Ihnen von Wle¬
rer, der durch seine Begründung und Anwendung der Solenbäder in
Ischl sich später ein großes Verdienst um die balneographischen Zu¬
stände Oesterreichs und dadurch den Leopoldsorden mit dem Prädicate
Ritter von Rettenbach erworben hat. Ein Buch, das er vor einigen
Jahren über Ischl publicirte, ist nicht von ihm geschrieben, was üb¬
rigens der hiesigen literarischen Welt um so weniger ein Geheimniß
war, als es notorisch ist, daß er keinen deutschen Satz correct zu
schreiben verstand. Den in den höchsten Kreisen wie in den unteren
erworbenen Einfluß machte er, unähnlich so vielen, auf die edelste
Weise geltend und am glänzendsten dadurch, daß er, nachdem unsere
Residenz — im Widerspruche mit Mailand und Prag — einer Aka¬
demie der Wissenschaften entbehrt, derselben die viel besprochene „Ge¬
sellschaft der Aerzte" creirte, deren Präsident er bis an sein Ende
war. Er hinterläßt seinen beiden Neffen zwei Häuser und Ki>,<!Ott si.
C.M., einzig und allein die Frucht seiner ärztlichen Praxis. —
Der in dem Laden eines hiesigen Uhrmachers ausgeführte Dieb¬
stahl einer goldenen Uhr machte um so größeres Aufsehen, als der
Schuldige als Offizier und hohen Kreisen angehörend bezeichnet wird.
Die beabsichtigte, aber mißglückte Milde der Polizeibehörde wirkt um
so unangenehmer, als sich nachgerade Diebstähle, nächtliche Anfälle,
vandalische Beraubungen öffentlicher Monumente, von Nacht zu Nacht
Haufen und den Credit der sonst so berühmten Wiener Polizei schwächen
helfen. Man schreibt dies dem Umstände zu, daß ihr zu wenig Geld
zur Disposition gestellt ist, und sie daher die nothwendigen Kräfte und
Mittel nicht in Bewegung setzen kann (?). Das meiste Aufsehen
macht jetzt die Beraubung des von Leopold dem Ersten begründeten,
von Fischer v. Erlach ausgeführten Monumentes auf dem hohen Markte.
Die Errichtung eines neuen Monumentes auf der Freiung, näm¬
lich eines Brunnens, wurde vom hiesigen Bürgermeister mit Umgeh¬
ung der vaterländischen Künstler, Schwanthaler in München aufge¬
tragen; es beweist dies nur zu schmerzlich, wie wenig Vertrauen man
zur heimischen Kunst hegt, aber wie wenig auch geschieht, um sie zu
heben, und es wurden im vorliegenden Falle nicht einmal die hiesigen
Künstler zur Concurrenz eingeladen.
'
Ponsards Lucrccia gefiel im Hofburgtheater, trotz dem, daß es
ein mittelmäßiges Stück ist, welches, wenn es von einem Deutschen
geschrieben wäre, kaum die Satisfaction einer Aufführung erlebt hatte.
—
Durch mehrere Wochen unterhielten (?) uns Notizenschrei¬
ber aus Frankfurt, Mainz und Wiesbaden von den Vorbe¬
reitungen zu der Vermählungsfeier des Herzogs von Nassau. Wir
dachten nicht, daß diese Angelegenheit von so wichtigem deutschem
Interesse sein könnte, um täglich Berichte lesen zu müssen über das
Anordnen, Wachsen und Gelingen des Gesangfestes, das einige nas¬
sauische Liedertafeln ihrem Herzoge zu Ehren vorbereiteten. Wir ver¬
wünschten im Stillen diese müßigen Zeitungsschwätzer. Nun aber
müssen wir diesen Correspondenten laute Abbitte thun und gestehen,
daß sie die politische Bedeutung der Vermählung eines deutschen Für¬
sten mit einer Tochter Rußlands besser zu würdigen wußten als wir.
Man lies't nämlich im Nürnberger Correspondenten: daß den ver¬
einigten nassauischen Sangerchören in Wiesbaden bei
dem großen Ständchen vor dem herzoglichen Palaste
untersagt wurde, das Lied zu singen: „Was ist des
Deutschen Vaterland."!!! Sollte in dem Heirathscontracte des
erlauchten Paares etwa ein Paragraph sich befinden, gegen den das
Lied von der deutschen Einheit einen Mißton, einen Widerspruch bil¬
det? Wie ungeschickt war es dann von Seiten des Wiesbadener Mi¬
nisters, diese Geheimnisse von Se. Petersburg so rasch zu publiciren;
einen Haufen singender Plebejer zum Vertrauten eines so delicaten und
geheimen Losungswortes zu machen. Wie viel wirksamer hätte man
gehandelt, wenn man im Stillen nach den Vorschriften gehandelt, der
deutschen Einheit allerlei unsichtbare Steine in den Weg geschoben
und die nassauischen Lande allmälig gleich Kurland und Lief¬
land zu einem selbständigen, von dem übrigen sogenannten deutschen
Vaterlande unabhängigen Patriotismus herangebildet hatte. Die plumpen
Deutschen hatten noch lange Nichts gemerkt, während sie jetzt sogleich
errathen haben, woran sie sind. Wir zweifeln sehr, ob die Wiesba¬
dener Staatsmänner für diesen Staatsstreich einen Orden aus Se.
Petersburg erhalten werden. Sonderbar! während man in Nassau
die Lieder vom gesammten deutschen Vaterlande verbietet, bewirbt
man sich bei dem deutschen Bunde darum, dieses Land zu einem
Großherzogthum erklären zu lassen, und zwar melden uns die Zeitun¬
gen, werden diese Bemühungen von einer einflußreichen nordischen
-Macht (wie zart verblümt) bei mehreren deutschen Cabinetten unter¬
stützt. Werden die deutschen Mächte durch dieses kleine Hochzeits¬
geschenk die Flitterwochen des patriotischen Herzogs verschönern? Als
vor zwei Jahren der Herzog von Coburg um eine ähnliche Erhöhung
seines Titels diplomatische Verhandlungen einleitete, blieben dieselben
trotz der Verwendung Englands und Frankreichs, erfolglos. Und doch
ist das Haus Coburg der Begründer mächtiger neuer Dynastien.
Ein Coburg sitzt auf dem Throne Belgiens. Ein Eoburg wird
einst die Krone Englands, ein anderer die Portugals tragen, ein Co¬
burg ist der Schwiegersohn Louis Philipps. Hat Nassau, weil es
der Schwiegersohn Rußlands geworden, mehr Verdienst um Deutsch¬
land, oder hofft es, die Fürsprache Se. Petersburgs werde einflu߬
reicher sein als die zweier konstitutionellen Machte? — —
Ruge's deutsch-französische Jahrbücher haben kein Jahr gedau¬
ert, sie sind vielmehr gleich nach dem ersten Hefte unselig entschlafen,
nachdem sie der liberalen Sache in Deutschland geschadet und die
deutsche Sache in Frankreich erniedrigt. Herr Rüge sammt den Nul¬
len und Nullitäten, die sich hinter diese eben nicht hohe Ziffer stell¬
ten, hat den hiesigen französischen Schriftstellern viel von seinen
Planen vorgeschwatzt. Die Franzosen, die stets das Bedürfniß nach
Neuem haben, haschten nach den Aufschlüssen über die deutsche Bewe¬
gung, von der ihnen so viel vorgesprochen wurde. Sie glaubten nach
ihrer Weise in Hegel einen philosophischen E. T. Hoffmann mit ro¬
mantischen Gedankenblasen zu entdecken. Jeder von ihnen glaubte in Rüge
und seinen Gefährten dasjenige zu erhalten, was Schlegel für Madame
Stal!l geworden ist. Jeder hoffte schon ein neues Buch sur t'^IIvm-lAne
herauszugeben oder ein neues sociales System mitHestohlenen deutschen
Ideen zu begründen. Als jedoch diese Herren das schlechte Französisch,
das Hr. Rüge spricht, ein wenig zu begreifen ansingen und die Theorien,
die er als deutsche Mysterien vortrug, ihnen endlich klar wurden, da
bekamen sie lange Gesichter, wie Jemand, der geglaubt, er habe ei¬
nen Diamant gefunden und vom Juwelier hört, es sei ein Glasstein.
N>'Ü8 IVlcmsieur K,uscti (so nennen sie hier Rüge) tont co (juv venis
<!ito8 I», ce n'est pit« Zu nouvvim, ce n'est «zii'une miiiivcüse tia-
cluctiun .lUem-lmIs <Zv8 it^Sö l>im«^i8<Z8, <züi se latent ä'mi Sivel«-
Ki votre pKUo8»neue UeAelievue n'» <^ne col», renäo/. non8 le«
höre>8 «in klenn et vo,i8 rvvanoeran8 -i over« pnilo8<is>tre avec le
I>In3 Krimä pi-»8ir. Die Franzosen, die bei aller Geringschätzung
deutscher Nationalität, doch vor der deutschen Wissenschaft immer ei¬
nen großen Respect hatten, fanden durch die deutsch-französischen Jahr-
bücher die erste begründet und den letzteren sich benommen. Dies ist der
ganze Erfolg des großen Unternehmens. Man hat gesagt, Rüge werde
nach Amerika reisen. Dies ist eine coquette Lüge.- Herr Ruge ist
trotz seiner Philosophie zu viel Lebemann und Weltkind, um das Pa¬
riser Pflaster, das ihm bereits zur süßen Gewohnheit geworden ist,
aufzugeben. Wenn sich nur erst die Unbehaglichkeit gelegt haben wird,
in welche jedes fehlgeschlagene Project einen Mann von Ehrgeiz ver¬
setzt, wird die pommersche Heiterkeit, die den Grundzug Ruge's bil¬
det, den Sieg davon tragen. Die politische Zeit des Herrn Rüge ist
vorüber. Er hat in seinem Genre das Schicksal durchgemacht, wie
Heine in dem seinigen. Mögen die beiden Ausgewanderten nun ru¬
hig auf ihren Lorbeeren schlafen. Die Zeit hat in Deutschland um
die Ecke gebogen, sie holen sie nicht mehr ein.
Zwei neue Opern, die eine von Halevy in der großen Oper und
die andere von Ander in der O>>«jia comilzue, haben die Frühlings¬
saison begonnen. Beide haben Glück gemacht. Ich habe nur die
von Ander gehört; sie führt den Titel In 8y>«ne. Das Textbuch ist
von Scribe. Ein junger Schleichhändler, Marco Tempesta, ist der
Held. Dieser schlaue Neapolitaner hat bei allen seinen Streichen nur
einen Zweck; er will seiner reizenden Schwester, der „Svrene", die
aber keineswegs wie die gewöhnlichen griechischen und lateinischen
Syrcnen, halb Fisch, halb Mensch ist, eine reiche Aussteuer erobern.
Die komischen Mystifikationen, deren Opfer der Herzog von Papoli
und der Theatcrdirector Bolbaza ist, bilden den Mittelpunkt dieser
dreiactigen Oper. Musik und Sujet sind beide gleich heiter und leicht
componirt. Der alte Ander (er ist hoch in den Sechzigern) hat seine
Phantasie noch frisch und fröhlich erhalten wie? ein Jüngling. Die Ou¬
vertüre und ein Quartett des ersten Actes, ein Trinklied und einDuo im
zweiten, so wie die Ensemblestücke im dritten Acte haben gleich bei
der ersten Vorstellung das Publicum in Hitze gebracht. Halevy's Oper
dagegen soll erst bei der zweiten und dritten Vorstellung Succeß er¬
rungen haben. Keine-l rvleia; ich selbst war nicht dabei.
Der Charivari brachte dieser Tage einen satyrischen Artikel gegen
die classische Wuth, mit der man jetzt in Berlin griechische und la¬
teinische Stücke wieder ausgräbt. Der Artikel ist überschrieben: das
lateinische Preußen; mit Weglassung einiger censurwidrigen
Stellen will ich ihn hier mittheilen:
Das lateinische Preußen.
Rom ist nicht mehr in Rom, es ist ganz in Berlin. Rom be¬
greift hier das ganze Alterthum) in sich, Athen, Megara, Theben,
Korinth, wo nicht Jedermann sein kann;Kor iivvt omnibu« allin« (^orintlinm.
Man kann bequem in acht Tagen, und noch dazu in der Dill-
gerne, von Paris nach Berlin gelangen, und das ist der einzige Un¬
terschied zwischen letzterer Stadt" und Korinth.
Die erste Person, der ich begegnete, als ich den Fuß in die
Hauptstadt des lateinischen Preußens setzte, war Meyerbeer. Sein
Haupt war mit einem Lorbeerkranz gekrönt, in der einen Hand trug
er eine Leier, in der anderen eine Rolle Noten. Dies ist das neue
Eostüm des Hofcapellmeisters.
— Guten Morgen, sagte ich, wie geht es Ihnen?
— Sehr gut, antwortete er, Hygiea ist mir sehr günstig. Frei¬
lich trinke ich Wasser von Pullna und opfere jeden Morgen Aeskulap
einen Hahn. V-Up.
— Sie wollen mich schon verlassen?
— Ich muß in die Probe; ich muß Mit dem ersten Tibicen
sprechen. Ich erwarte Sie; wenn Sie mir etwas zu sagen haben,
öl?l gilmioi-t, zwischen der dritten und vierten Tagesstunde, pLUittc-s,
Nro. 17. Wenden Sie sich gefälligst an den Miitur.
Meyerbeer, die Zipfel seiner Toga zusammenfassend, sprang über
den Bach und lief dem ersten Tibicen nach, ohne mir Zeit zu der
Frage zu lassen, wo ich eine Tragödie des Sophokles für das Odeon
fände.
Ich besaß einen Empfehlungsbrief an den Hauptredacteur eines
der renommirtesten Berliner Blätter. Ich frug einen Straßenjungen
nach seiner Wohnung. Der Junge gab mir keine Antwort, nannte
mich einen Barbaren und verschwand, indem er die antike Arie tril¬
lerte !
UÄdronIc vsilit bellum,
IVlircintum, tontum, inirontum.
Ein Centurion der Stadt erwies sich höflicher. Gnädiger Herr,
frug ich, können Sie mir nicht den Weg zu einer Tragödie des So¬
phokles zeigen? — Verzeihen Sie, ich wollte sagen zu dem renom¬
mirtesten Journal Berlins ?
— Sie stehen vor seinen Laren; treten Sie gefälligst in das
Atrium; dort werden Sie Jemand finden. —
In demselben Augenblicke trat der Oberredacteur auf die Straße.
Ich ging auf ihn zu, um ihm meinen Brief zu übergeben. Aber an¬
statt ihn zu nehmen, lief er schnell in das Haus zurück. Eine Mi¬
nute darauf erschien er wieder.
— Entschuldigen Sie, junger Fremdling, und schreiben Sie mei¬
nem Benehmen gegen Sie keinen bösen Willen zu. Ich schritt mit
dem linken Fuß zuerst aus, und Sie wissen, was das für ein Un¬
glück bringen kann. Ich beeilte mich, in das Haus zurückzugehen,
um mit dem rechten Fuße anzufangen. Kommen Sie heute Abend
in das Theater, dort wollen wir über die Sophokleische Tragödie, welche
das Odeon wünscht, sprechen.
Bis zu der Stunde der sophokleischen Tragödie setzte ich meinen
Spaziergang in der Stadt fort. An der Wand eines im Baue be¬
griffenen Gebäudes las ich folgende Zuschrift: I^ni-oiiilui«.
Ganz vertieft in die Inschrift, stieß ich mich an eine Verschöne¬
rung der Stadt, in Gestalt eines Steinhaufens, ('-.v«; „v <ü„l!l«,
rief mir der nahestehende Invalide zu. Ich -kam mit einer leichten
Schmarre davon; der Ruf jenes Veteranen rettete mich vor einem
Beinbruch.
Vor einem Kaffeehause sang eine Schaar Studenten mit Be¬
gleitung des Sistrums die erste Ode des Horaz:
AI!ü:vn>'>« ut-lois cäiie rvAiim«,
. . . PI'<!8et1in,M (Üllvl! l!l>UU8 »wen»
nach der Melodie: Freut euch des Lebens.
Die Gaste riefen den Gar^on i>nor, und ein Lictor von der
Garde rief, als er sein Glas, in welches eine Fliege gefallen war,
zurückschickte: I'»»' -tKiz« musc»»!
Unermeßliche Schaaren strömten nach dem Theater. Außer der
gewöhnlichen Vorstellung, verkündete der Zettel, werde ein bekannter
Staatsmann als Nero, nach dem ionischen Modus Bruchstücke eines
Gedichtes über den trojanischen Krieg singen, und die römische Polka,
nämlich den pyrrhesischen Tanz tanzen.
Elektra wurde unter allgemeiner Gleichgiltigkeit gespielt. „Es
ist die beste Tragödie des Sophokles," sagte der Oberredacteur, der
mir einen Platz in seiner Loge eingeräumt hatte. „Nehmen Sie sie
für das Odeon."
Eben als er mir das Anerbieten gemacht hatte, trat der Re¬
gisseur hervor und kündigte an, der bekannte Staatsmann habe die
Auguren befragt und werde nicht spielen. Ein fürchterlicher Aufruhr
war die Folge dieser Ankündigung; das Volk drohte, auf den heiligen
Berg zu ziehen. Der Aedil legte seine Schärpe um, man wollte das
Volk schon angreifen, als es einem ehrbaren Bürger gelang, es durch
Erzählung einer Fabel zu seiner Pflicht zurückzuführen.
Meine Sendung war vollendet. Ich hatte das Manuscript zur
Elektra von dem Oberredacteur empfangen; ich hatte Meyerbeer in
der Loge gesehen, und einen Aufruhr, der durch eine Fabel gestillt
wurde; es blieb mir Nichts mehr übrig, als abzureisen. Dies that
ich, nachdem ich dem Stubenmädchen des Hotels einen Thaler Trink¬
geld gegeben hatte, und von ihr den Abschiedsgruß Viv« I?«-Iix em¬
pfangen hatte! Das Stubenmädchen hieß <>nel>i.i.
— Das Berliner Untersuchungswesen ist noch immer in voller
Blüthe; obgleich man sehen könnte, daß Nichts dabei herauskommt.
Herr Eichhorn läßt jetzt die philosophische Facultät untersuchen, wegen
der Veröffentlichung ihres Gutachtens über Nauwerk. — Sogar in's
Militärische greift die geistliche Untersuchungsmanie hinüber und wir
werden es noch erleben, daß Feld- und Regimentsprediger wegen He-
gel'scher Ketzereien, vor's Kriegsgericht gestellt werden. In der That
war eine solche Episode schon halb und halb im Werk. Der Divi¬
sionsprediger Rupp ist wegen einiger Reden über H.ippels Ansichten
vom „christlichen Staat" von seinem General beim Kriegsministerium
verklagt worden. Der Kriegsminister, wahrscheinlich mehr Soldat als
der General, strich sich den Schnurrbart (?) und meinte, der Trödel
gehöre vor's geistliche Ministerium. Der General, entrüstet über die¬
sen kirchlichen Indifferentismus bei einem Manne, der an der Spitze
eines christlich-germanischen Heerwesens steht, soll sich mit seiner Klage
direct an den König gewendet haben. Man ist begierig, was aus
dem Handel werden wird. Es wäre nicht übel, wenn der schöne
Traum einiger Spottvögel in Erfüllung ginge und eines schönen Mor¬
gens Lieutenants und Fähndrichs, Corporale und Gemeine zusammen¬
treten müßten als Kriegsgericht, um einen Husarenwachtmeister oder
Gardelieutenant wegen entfernten Verdachts neuphilosophischer Ten¬
denzen zu verurtheilen. Die Dramatiker klagen ja ohnedies über
Mangel an modernen Lustspielstoffen.
— An der Windmühle bei Erlangen wird ein Monument von
Schwanthaler aufgestellt, das folgende Inschrift tragen soll: „Verei¬
nigung des Mains und der Donau — ein Werk — von Karl dem
Großen versucht — und begonnen und ausgeführt — von Ludwig >.
König von Baiern." Diese lapidarische Ruhmredigkeit scheint uns
doch ein wenig ungeschickt. Abgesehen von der plutarchischen Paral¬
lele zwischen den zwei Monarchen, so könnte ein Boshafter sagen:
Sehr gut; bis in Deutschland ein Kanal, ein Werk der Einigung,
fertig wird, dauert es von Karl dem Großen bis zu Ludwig I. von
Baiern.
Preßburg! rief eine Stimme in die Kajüte, als das Schiff mit
einer raschen Schwenkung sich lenkte und der Dampf mit stärkerem
Pfeifen über unserem Haupte sich hören ließ. Alles eilte auf das
Verdeck. — Was bedeutet jener Hügel, der dicht am Ufer terrassen¬
förmig sich emporhebt und mit einem Steingeländer umschlängelt ist?
— Das ist der Krönungsberg, erwiederte Derjenige, an den ich meine
Frage gerichtet; hierher begeben sich die Könige von Ungarn gleich
nach der Krönung im feierlichen Zuge, um im Angesicht des Volkes
das Schwert des heiligen Stephan nach allen vier Weltgegenden
zu schwingen, zum Zeichen, daß sie bereit sind, das Reich gegen alle
Angriffe zu vertheidigen, von welcher Seite sie auch kommen mögen.
Nachdem der König dies gethan, kann er allein und ohne Beglei¬
tung durch das ganze Land reisen und sein Haupt in jeder Hütte
so ruhig niederlegen, als wäre er in seinem Palaste zu Wien von
allen seinen Garden bewacht.
— Auch im Bakonyer Wald? fragte ich scherzend.
— Raubgesindel gibt es ni alleil Ländern und ich glaube, es fehlt
unter den Deutschen auch nicht daran, erwiederte mein magyarischer
Begleiter, indem er mit einem bitterbösen Blick sich den Schnurrbart
in die Hohe strich. Unter Räubern wäre auch die Königin von
England ihres Lebens nicht sicher. Wer in Ungarn ein ehrliches
Herz hat, dem ist die Person seines Königs heilig. Die Ungarn
halten auf ihre Freiheiten und Privilegien, und wir Adeligen würden
unsere Unabhängigkeit, wenn es nöthig wäre, mit unserem Blute ver¬
theidigen. Aber wir sind darum nicht weniger monarchisch gesinnt;
und wer die Krone des heiligen Andreas auf seinem Haupte trägt,
der kann auf das Leben eines jeden Edelmanns und Ungarn zäh-
len; dies haben wir nicht blos Maria Theresia bewiesen, wir wür¬
den dies noch heute zu jeder Stunde beweisen. Der Deutsche, der
so wenig an Freiheit gewöhnt ist und bei dem Worte Konstitution im¬
mer an Frankreich denkt, wo sie erst ans dem Schooße der Republik
hervorging, der kann sich noch nicht von dem Gedanken los¬
machen, daß die Freiheitslust einer Nation immer im Widerspruch mit
der monarchischen Idee stehen müsse. Aber die ungarische Constitmion
ist, so wie die britische, Jahrhunderte alt und hat nicht erst auf das
Jahr 1789 gewartet, um zu entstehen. Der Magyar sowie der Brite
hat vor Euch Deutschen das voraus, daß er seinen König liebt, wie
ein freier Mann, und nicht wie ein Knecht.
— Sie sprechen von den 300M0 Privilegirten, die in Ungarn
allein frei sind, aber die anderen zwölf Millionen. .. .?
— Auch ihre Zeit wird kommen, sagte lächelnd der Conducteur
des Schiffes, der hinter uns stand; vor der Hand ist die Zeit da,
das Schiff zu verlassen. Wohin soll man Ihre Effecten bringen,
meine Herren?
Es ist nöthig, daß der Krönungsbcrg so dicht am Ufer steht,
um daran zu erinnern, daß in Preßburg den ungarischen Königen
die Krone aufgesetzt wird und der Reichstag seine Sitzungen hält.
Der erste Anblick der Stadt hat so wenig Imposantes und König¬
liches, wie nur irgend eine unbedeutende deutsche Landstadt; das
Schlimmste ist, daß man bei näherer Besichtigung wenig findet, was
dem ersten Eindruck widerspräche. Man stellt sich unter dem alten
Preßburg eine graue, eigenthümliche Stadt vor, mit alterthümlichen
Ueberresten von barocken, halb gothischen, halb asiatischen Gebäuden:
wie findet man sich betrogen! Einige Kirchen von mittelmäßigem
Style und kleinen Dimensionen sino die Ueberreste aller Gothik; von
einer ungarischen Eigenthümlichkeit ist in allen diesen Bauten keine
Spur. Die meisten Häuser sind aus dem vorigen Jahrhundert im
plattesten, ordinärsten Styl gebaut, ohne die mindeste Rücksicht ans
Kunst; einige wenige, die einen höheren Anlauf nehmen und dem
sogenannten Zopf- und Cichorienstyl angehören, sind eben auch keine
Meisterstücke dieser Art. Das Beste an Gebäuden ist noch der Pa¬
last des Fürsten Grassalkovics, der Palast des Erzbischofs und des-
sea Sommergebäude, sowie endlich einige in der neuesten Zeit erbaute
Privathäuser.
Getäuschte Erwartung ist das unangenehmste Gefühl eines Rei¬
senden. Er hat sich die Krönungsstadt der Magyaren mit phanta¬
stischen Farben in Gedanken ausgemalt und findet sie im prosaisch¬
sten Gewände wieder. Es ergeht ihm, wie es uns Allen erging,
die wir Goethe's „Gott und die Bayadere" gelesen, und in hundert
Opern und Palleten die hindostanischen Tänzerinnen mit allem Glanz
der Poesie, der Schminke und des Lampenlichtes vor Augen hatten
und nun plötzlich die wirklichen Bayaderen sahen, die der Specula-
tionsgeist eines Pächters in ihrer häßlichen, ungraziösen Wirklichkeit
durch ganz Europa schleppte. Es heißt, daß der Reichstag künftig
nach Pesth, der eigentlichen Haupt- und Glanzstadt Ungarns, verlegt
werden soll; dies wäre auch seiner Würde entsprechend und in vieler
Beziehung auch praktisch zweckmäßiger, da Preßburg an der Grenze,
Pesth aber mehr im Mittelpunkte des Landes liegt; dies aber ist ge¬
rade eine Ursache, warum die Regierung in Wien Preßburg den
Vorzug geben muß. Die Nahe des Reichstags erleichtert die Beob¬
achtung desselben, beschleunigt den Depcschenwechsel und macht in
gefährlichen Augenblicken eine rasche Intervention möglich. Zudem
beabsichtigen die Ungarn vor der Verlegung nach Pesth ein großes,
würdiges Gebäude für ihr Parlament zu erbauen. Hiezu sind Fonds
nöthig, die unstreitig zweckmäßiger verwendet werden könnten, und
so wird das Project am Reichstage vielen Widerspruch finden.
Um den nüchternen Eindruck und das Gefühl der Enttäuschung,
die der erste Anblick Preßburgs erregt, schnell los zu werden, eile der
Reisende sogleich nach seiner Ankunft auf den sogenannten Schlo߬
berg. Hier findet er reiche Entschädigung für den nüchternen Will-
komm. Es gibt kaum einen Punkt, der an die vielberühmte Alls¬
sicht auf dem Heidelberger Schlosse so lebhaft mahnte, wie der Kegel
des Preßburger Schloßberges, nicht blos wegen der wunderbaren
Aussicht über Strom und Gebirge, sondern auch wegen der Aehnlich-
keit der Schloßruinen, die dort wie hier beide einem und demselben
Baustyle angehörten, beide von Flammen zerstört wurden und die
noch in den Ueberresten ihrer Trümmer und Fanden lebhaft an ein¬
ander erinnern. Das Heidelberger Schloß winde von Franzosen
angezündet, das Preßburger von Italienern. Die Geschichte dieses
Brandes ist iir ein mysteriöses Dunkel gehüllt, das noch heute nicht
gelöst ist und Stoff zu einem schönen Roman liefern würde. Es
wurde nämlich im Jahre 1811 von der eigenen Besatzung, einem ita¬
lienischen (Oesterreicher) Regiments in Brand gesteckt, ohne daß man
bis bellte noch über die Ursache dieser vandalischen That aufgeklärt
ist. Die Untersuchungen dauerten lange, aber das Resultat derselben
ist ein Geheimniß geblieben; nur einige gemeine Soldaten wurden
verurtheilt.
Womit vertreibt sich der Fremde, der Abends in einer Stadt
ankommt, die Zeit, wenn er nicht in Relsekleidern Besuche machen
null? Er geht in's Theater, vorausgesetzt, daß es in der Stadt eins
gibt; Preßburg aber besitzt glücklicherweise ein sehr schönes Theater.
In Preßburg gibt es ein Schauspielhaus, das sich mit
dem Leipziger und Frankfurter Stadttheater an Größe wohl
messen kann. Der Director des Josephstädter Theaters in
Wien ist der Pächter desselben. Die Nähe der Residenz gibt ihm die
Mittel, bei besonderen Gelegenheiten die ganze Truppe seiner Wie¬
ner Schallspieler hierher reisen zu lassen. Dies war auch an diesem
Abend der Fall, wo man zum Bencfice irgend einer wohlthätigen
Anstalt die Zauberposse: „Der Todtentanz" von Told (die in Wien
einhundert und fünfzig Aufführungen erlebte!) zum Erstenmal gab.
Es war also eine Art Festabend. Logen und Parterre waren voll,
und ich hatte Gelegenheit, die Ungarn als Theaterpublicum kennen
zu lernen.
Es ist hier nicht der Ort, über Theaterabende und Theaterstücke
zu referiren. Wenn man auf der Reife in eilt eigenthümliches Land
begriffen ist, um die heftigen und wichtigen Bewegungen in Politik
und Gesetzgebung einer großartigen Nationalität an Ort und Stelle
zu studire», so hat man wenig L-inn für die Witze Wiener Possenreißer
und die mehr oder minder glücklichen Waden hüpfender Ballettänze¬
rinnen. Einige ernstere Bemerkungen jedoch knüpfen sich an dieses
leichtfertige Thema. Es ist schon an und für sich wichtig, daß in
der Reichsstadt Ungarns, in Gegenwart eines auf seine Nationalität
so eifersüchtigen Reichstagskörpers, das Theater ein deutsches ist.
Dies ist ein Zugeständniß an deutsche Bildung und kann, klug be¬
nützt, ein Mittel zur Verbreitung derselben und zur Erweckung und
Erhaltung von Sympathien werden, welche der österreichischen Re¬
gierung und Deutschland überhaupt sehr wünschenswert!) sind. Wie
sehr hat das Uebergewicht, welches die französische Literatur und die
französische Bühne noch im vorigen Jahrhundert in Deutschland hatten,
allen politischen Bestrebungen Frankreichs bei uns vorgebaut! Wie
viel freundliche Sympathien hält dies jetzt noch rege in einer Zeit,
wo unsere Literatur bereits emancipirt und unser Nationalgeist we¬
nigstens auf dem Wege der Emancipation sich befindet. Bei einen»
so primitiven und naturwüchsigen Volke, wie die Ungarn sind, bei
ihrer feurigen, schnell erregten Einbildungskraft, bei ihrer Hinneigung
zu allem Phantastischen und Theatralischen in Sitten, Trachten und
Ceremonien, da ist das Theater von weit eindringlicherer Wirkung,
als bei uns kälteren Deutschen^ die wir in unserer reflectiven Natur
dem Pathos der Schau-, wie der Rednerbühne ziemlich abgeneigt
sind. Unter den Gebildeten in Ungarn ist unser Schiller eben so
populär, wie in Deutschland; ja noch mehr, dort, wo es keine He-
gel'sche Objectivetät gibt; dort, wo keine norddeutsche kritische Nüch¬
ternheit jede Begeisterung zerfrißt und auflöst, dort ist diese Begeiste¬
rung vollkrästiger und unbeschränkter. Selbst jene Schiller'schen Epi¬
gonen, welche die deutsche Kritik in zweite und dritte Reihe stellt:
Zacharias Werner, Müllner, Grillparzer, Raupach und Halm finden
durch ihre romantische Richtung, durch den pathetischen Gang ihrer
Rede zahlreiche und warme Anhänger. Die Romantik ist noch nicht
todt, ob auch die deutsche Kritik ihr die Grabschrift schreibt; sie ist
nicht todt in Frankreich, das Victor Hugo an die Spitze seiner
lebenden Dichter stellt; sie ist nicht todt in England, das Scott und
Byron in immer neuen Auflagen bringt; sie ist nicht todt in Deutsch-
land, das beweisen Lenau und Grün; -ja, um das neueste Beispiel
zu wählen, das beweist der Erfolg, den der Roman des Pfarrers
Meinhold gehabt, el» Buch, dessen Färbung der Tieck-Arnim'schen
Zeit anzugehören scheint.
Bei den Magyaren und Slaven aber lebt diese todtgesagte Ro¬
mantik in voller Jünglingsblüthe. Was ihre aufstrebende poetische
Literatur producirt und aus fremden Sprachen übersetzt, ist fast aus¬
schließlich romantischer Natur. So ließe sich denn erwarten, daß auf der
am weitesten vorgeschobenen deutschen Bühne, auf dem Theater in
Preßburg, irgend ein Schiller'sches oder Grillparzer'sches Drama zu
finden wäre, das durch seine stofflichen und sprachlichen Verhältnisse der
äußeren Wirkung sicher ist und durch Würde und Schwung seiner
Gedanken dem deutschen Geiste bei den fremden Nationen Achtung
und Zuneigung erobern muß. Aber es scheint, als ob die französi¬
schen und deutschen Schauspielertruppen in der Fremde sich das Wort
gegeben hätten, ihre heimathliche Bühne von ihrer schlimmsten Seite
zu produciren; und wie die französischen Theatergesellschaften in Ber-
lin und Wien die schmählichsten Vaudevilles der letzten Pariser
Vorstadttheater dem deutschen Publicum auftischen, ebenso bedient die
deutsche Theatergesellschaft in Preszburg das dortige Publicum init
dem verächtlichsten Abwurf Wiener Localdichtung; der Grund ist über¬
all derselbe. Die Direktoren solcher Theateranstalten haben nicht die
Mittel, ausgezeichnete Mitglieder so zu bezahlen, daß sie es der Mühe
werth hielten, sich einer solchen Bühne im Auslande anzuschließen.
Ich glaube jedoch, hier wäre der Ort, wo die Negierung dem Thea¬
ter durch Unterstützung zu Hilfe kommen müßte. Es wäre allerdings
lächerlich, der französischen Regierung zuzumuthen, den französischen
Schauspielunternehmern in Wien und in Berlin Subsidien zu geben;
aber es ist keineswegs lächerlich, der österreichischen Regierung zuzu¬
muthen, dem deutschen Theater in Preßburg unter die Arme zu grei¬
fen. Die Politik der österreichischen Regierung, mag sie nun, was
sie will, sein, eine deutsche oder slavische, eine italienische oder un-
garische, immer wird sie Vortheil daraus ziehen, wenn die Nationa¬
lität, dem das Kaiserhaus und die Residenz angehören, in allen nickt-
deutschen Erbländern beliebt und geachtet ist; und zu diesem Zwecke
ist kein Mittel zu geringfügig, und das Theater in seiner sittliche»
Bedeutung am allerwenigsten. Zu germanisiren ist es für Oesterreich
zu spät — es hat es in günstige» Zeiten nicht versucht, jetzt wäre
es unsinnig, ihm dazu zu rathe». Aber dem Deutsche» Beliebtheit
und Achtung zu erwerbe», gebieten ihm Pflicht und Klugheit.
Man unterstützt die italienische Oper in Wien, nicht blos wegen des
Ohrenkitzels, sondern auch aus Politik, wegen der günstigen Rück¬
wirkung , die diese Theilnahme bei den Italienern, deren Eitelkeit sie
schmeichelt, hervorbringt. Man unterstütze das deutsche Theater in
Preßburg und Pesth, wenn es nöthig ist, aus ähnlichen politischen
Gründeir. Frankreich decorirt viele französische Sprachmeister, die im
Auslande an Universitäten und Lehrstühlen angestellt sind, mit dem
Orden der Ehrenlegion für ihre Verdienste um die Verbreitung der
französischen Sprache und Literatur. Dies ist ein Beispiel, welches
in verschiedenen anderen Formen Nachahmung verdient.
Es ist ein höchst peinliches Gefühl, wenn man Zeuge sein muß,
wie ein Freund in einer zahlreichen Gesellschaft fremder Menschen
sich lächerlich macht oder wie ein Landsmann im fremden Lande seine
Nationalität herabwürdigt diese unangenehme Empfindung konnte ich
während dieses ganzen Theaterabends nicht los werden. Immer von
dem Gedanken verfolgt, wie sehr eine gut geleitete deutsche Bühne
gerade hier von einflußreicher moralischer und politischer Wirkung sein
würde, quälte es mich, dieses triviale, gebauten- und zusammenhängst
lose Machwerk mitansehen zu müssen. In diesem „Todtentanz" scheint
der gesunde Menschenverstand wirklich todt zu sein und nur als Gespenst
umherzmanzen, eine galvanisirte Leiche, mit Lappen von alten Witzen
behängt, mit grinsender Coquetterie Ekel und Mitleid zugleich ein¬
flößend. Und dieses Stück wurde in Wien hundert und fünfzig Mal
gegeben, weil der Maschinist einige Versenkungen aus Robert der
Teufel angebracht und der Decorateur einige Lappen geschickt ange¬
strichen hat. Und diese Probe deutschen — nein — österreichischen
Geistes wurde in Gegenwart sämmtlicher ungarischen Deputirten, die
aus allen Enden des Landes gegenwärtig waren, aufgetischt. Die
Ungarn machten in den letzten Jahren große und glückliche Anstren¬
gungen zur Hebung ihrer nationalen Literatur und Bühne. Bedenkt
man, wie jede aufstrebende Nation, die lange Zeit unter der geistigen
Herrschaft einer anderen gewesen und nun die eigenen Flügel zu he¬
ben verflicht, die Fehler und Gebrechen dieser anderen mit leiden¬
schaftlicher Schärfe aufgreift und mit hundertfachem Blicke späht, um
sie zu entdecken und dann triumphirend sie verachten zu können, so
kann man leicht beurtheilen, welchen Eindruck dieses Wiener, leider
müssen wir sagen, dies deutsche Product auf den stolzen Ungarn, der
sich ohnehin besser als der Deutsche und namentlich als der Oester^
reicher glaubt, hervorbringen muß. Ein komischer Umstand gesellte
sich noch hinzu, um den Unsinn deS Stückes zu erhöhen.
Der Wiener Verfasser des Stückes hat für den Mangel an in¬
nerer Komik desselben durch ein wohlfeiles äußeres Mittel sich zu hel¬
fen gewußt. Er hat den Bösewicht, den am Ende der Teu¬
fel holt (tanzende Willis walzen mit ihm, bis er den Geist auf¬
gibt), zu einem Ungarn gestempelt, um durch dessen ungarisch-
deutschen Dialekt Lachen zu erregen. Dies ist ein gewöhnlicher
abgenützter Kunstgriff der Wiener Localpossenschreiber. Diese guten
Leute, die weder das Talent, noch die Freiheit haben, ein Element
zu benützen, das für die österreichischen Bühnen so reichadrig aus¬
zubeuten wäre, die sittlichen und nationalen Gegensätze der verschie¬
denen Völkerstämme, die als Unterthanen eines und desselben Staa¬
tes an einander geheftet sind, begnügen sich mit dem gemeinen Mittel,
den Dialekt zur Zielscheibe ihrer Späße zu machen. Der Ungar
und der Böhme sind meist die Sündenböcke an den Localbühnen
Wiens. In Preßburg aber möchte man Keinem rathen, ein ähnliches
Späßchen zu wagen und auf Kosten eines Magyaren Lachen zu er¬
regen. Der Direktor und die Schauspieler fühlten auch diesen Abend
sehr wohl, daß, wenn sie das Stück nach dem Wiener Zuschnitte ge¬
ben wollten, sie selber unter den Prügeln der versammelten Landtags-
jugend einen Todtentanz tanzen könnten. So wurde denn der g'spoßige
Bösewicht aus dem Ungarischen in's Österreichische versetzt, d. h.
während in Wien der Ungar in die Hölle kam, wurde in Preßburg
dem Oesterreicher diese Ehre zu Theil, was die naiven Zuschauer
sehr ergötzte und das Stück rettete, um so mehr, als am Schlüsse
der ungarische Nationaltanz von dem gestimmten Kinderballet ganz
allerliebst aufgeführt wurde.
Am anderen Morgen gegen halb zehn Uhr kam der Freund,
dessen ich (im vorigen Artikel) erwähnte, um mich zu der Sitzung abzuholen,
die an diesem Tage die Ständetafel hielt. — Er schlug mir vor, ihn
zuerst in seine Wohnung zu begleiten, mich dort mit einem Attila
(einem Schnürrock mit stehendem Kragen, dem ungarischen National¬
kleid) zu bekleiden und mir einen Säbel umzugürten, weil ich ohne
dies Costüm der Sitzung nicht beiwohnen könnte. Ich wunderte mich,
wie jeder Deutsche sich an meiner Stelle gewundert hätte. Während
man in Deutschland bei keiner öffentlichen Versammlung irgend eine
Waffe bei sich führen darf; während bei öffentlichen Bällen'und Re-
douten sogar die Offiziere ihren Degen an der Thüre ablegen müssen,
ist der Säbel bei dem ungarischen Reichstag do i-i^neur vorgeschrie¬
ben, und es ist Niemand gestattet, ohne denselben den Saal zu be¬
treten.
— Mit Ausnahme Derjenigen — siel mein Freund bei dieser
lauten Bemerkung ein — die oben auf der Galerie den Sitzungen zu¬
schauen wollen. Dorr ist der Platz für die Damen und die müßigen
Gaffer, die gekleidet sein mögen, wie sie wollen. Aber unten im
Saal, auf den für die Zuraten und Honoratioren bestimmten Bän¬
ken ist Attila und Säbel unumgänglich nothwendig. Der Säbel ist
das Symbol des freien Magyaren, der die Pflicht hat, das Vater¬
land zu vertheidigen. Soll man bei den Sitzungen, wo das Wohl
und Wehe der Heimath verhandelt wird, ohne dies Symbol der
Freiheit, Wehrhaftigkeit und Ehre erscheinen dürfen? Der echte Ma¬
gyar ist von seinem Säbel unzertrennlich.
In der That sah ich, als wir in den Saal traten, die ganze
Versammlung, Präsident, Deputate und Zuschauer mit der blitzenden
Waffe an der Seite. Der Präsident, ein dicker Mann mit einem
ungeheueren Schnurrbart, hielt gerade eine lange Rede mit vieler
Heftigkeit, wobei er bisweilen auf den' Tisch schlug, bisweilen
mit dem Säbel auf den Boden stampfte. Was würde man in Deutsch¬
land zu einem Kammerpräsidenten mit einem Schnurrbart sagen?
Ich habe die französischen Kammern gesehen und mancher stür¬
mischen Sitzung über die Befestigung von Paris beigewohnt. Den¬
noch muß ich gestehen, daß mich der ungarische Reichstag mehr auf¬
regte und interesstrte, als jene. Man kommt nach Paris so vorbereitet,
man hat von Jugend auf so Viel darüber gelesen und gehört, daß
man kaum noch von irgend Etwas überrascht werden kann. Das
Außergewöhnliche eines ungarischen Reichstags dagegen wird jedem
Reisenden wie eine neue Entdeckung vorkommen, weil er Aehnliches
nie gesehen, weil er einen ähnlichen Eindruck nie gehabt hat.
Der Charakter des ungarischen Reichstags ist durch und durch
ein militärischer. Nicht im modernen Sinne, wo der Mann in Reihe
und Glied wie eine Drahtpuppe sich bewegt, sondern im Sinne des
Mittelalters, wo der persönliche Werth des Mannes galt. Aus al¬
len Gesichtern dieser Deputaten spricht Muth und Thatkräftigkeit.
Wenn man etwa die Cortes in Spanien aufnimmt, so dürfte es
kaum eine gesetzgebende Versammlung in Europa geben, die so viele
ausdrucksvolle Physiognomien auszuweisen hat lind die so kriegerisch
sich geberdet. Das feurige Auge, der üppige Schnurrbart, die breite
Brust, der blitzende Säbelgriff dieser Deputirten machen den Eindruck,
als wollte diese Versammlung aus dem Berathungösaale sogleich zu
Pferde, um in's Lager und in die Schlacht zu reiten. Die heftigen Ge¬
berden, das rasche Heraussprudeln der Worte, ja die Sprache selbst
in ihrer männlichen, aber wohlklingenden Mischung von Consonnanten
und Vocalen, Alles dies gibt einer nur halbwegs stürmischen Sitzung
einen so entschiedenen Ausdruck, als sollte in nächster Stunde eine
Schlacht geschlagen werden. Bei so heißem Blute ist freilich mancher
übereilte Schritt, manches sanguinische Aufwallen unausweichlich,
aber Begeisterung, Selbstaufopferung und rücksichtsloser Muth wiegen
dies tausendfach wieder auf. Dem Deutschen, der bei seiner Geburt
schon vierzig Jahre alt ist an Bedächtigkeit; der gegen Nichts so nach¬
sichtslos sich zeigt, als gegen jugendliche Fehler und Uebereilungen;
der sogar das Bischen Jugendfrische, welches sich im Studententhum
erhalten hat, auszulöschen im Begriffe steht oder vielmehr bereits
ausgelöscht hat;—der Deutsche setzt sich hin auf den kritischen Rich-
terstuhl und spricht recht gelehrt und weise über die Unreife all
dieser Völker, deren Kopf in ihrem Herzen sitzt. Der Deutsche ist
entweder sentimental oder engherzig, oft beides zugleich, jenes theo¬
retisch, dieses praktisch; entweder verhimmelt überschwenglich, ganz
ausgelöst in schlaffer Gemüthseligkeit, oder voll altreichsstädtischem
Kleinlichkeitssinn und knickeriger Zähheit. Er scheint nicht mehr be¬
greifen zu können, was Jugend, was That und Spannkraft ist. Frei¬
lich sind die Stimmen, welche so splitterrichtend über die Unreife der
Griechen, der Belgier, Magyaren oder Polen predigen, eben so oft
bereit, das deutsche Volk selbst, dieses bemooste Haus, unreif zu schel¬
ten, sobald es einmal Miene macht, politisch leben zu wollen, statt!
zu vegetiren. Muß man am Ende nicht glauben, daß dies«: Kritr
alles Leben überhaupt für unreif und erst daS Todte und Verfaulte
für reif hält? —
(Der Schluß folgt im nächsten und letzten Artikel.) ,
Ein altes goldschnittiges, in rothen Sammt gebundenes Gesangs
duch belehrt mich auf den ersten weißen genealogischen Blätter», daß
ich am 25. December (am ersten Weihnachtstage) 1802 geboren bin.
Meine Familie, väterlicherseits, stammt aus schwedisch-Pommer»,
der Sage nach aus Schweden selbst. Mein Urgroßvater rettete durch
die Kenntniß der schwedischen Sprache sein Haus, als Altona durch
den General Steenbock in Brand gesteckt wurde. Er war ein Huf-
schmidt, wie mein Großvater, mein Vater und jetzt mein einziger äl¬
tester Bruder, der aber zugleich, wie mein Vater, ein ansehnliches
Geschäft als Wagenbauer mit der Schmiede verbindet. Mein im
zweiundachtzigsten Jahre gestorbener Vater war ein starker, ehrenfester,
freimüthiger, nwas leidenschaftlicher Mann, von viel natürlichen Ga¬
ben, und wie in Allem, so auch in der Religion Naturalist, dabei
Zeitungen- und Bücherfeind, obwohl er in seinen Knabenjahren mit
dein späteren gelehrten Generalsuperintendenten des Herzogthums
Schleswig-Holstein, Adler, durch die lateinische Schule gelaufen war
und ich die ersten lateinischen Brocken scherzhaft aus seinem Munde
lernte. Von Verfassungen hatte er keinen Begriff, aber er war in
seiner Person gründlicher Republikaner, wie noch jetzt mein Bruder,
der sein Ideal in den nordamerikanischen Freistaaten sieht. Meine
ebenfalls verstorbene Mutter war die Tochter eines Advocaten aus
dem hannoverschen Flecken Ottersberg bei Bremen, nie rastende Haus¬
frau und ein liebes, treues, frommes heiter ernstes Gemüth, aller
Armen Mutter und für ihre Kinder, namentlich für mich, ihren Lieb¬
ling, die aufopfernde Liebe selbst. Nur zufällig kam ich in meinem
dreizehnten bis vierzehnten Jahre auf das Altonaer Gymnasium, da
ich erst eine Stadtschule, dann eine Handelsschule besuchte und zu
einem Vetter in Baltimore aufs Comtoir wollte. Die Erinnerungen
meiner Knabenzeit bis zu diesem Alter sind rosig. Mein Gedächtniß
geht bis zur Pockenimpfung zurück. Ich war ein großer Taugenichts,
Perückenzupfer meiner Lehrer, Dachkletterer, Generalanführer in den
Schlachten der Gassenjungen, doch gutmüthig und bei Groß und
Klein beliebt. Daß ich neben dem Schulbesuche und dem frohen
tollen Wesen heimlich immatriculirter Studiosus einer Leihbibliothek
war, versteht sich von selbst. Meine Gymnasiastenjahrc wären ohne
Zweifel fruchtbarer für mich gewesen, falls nicht die aufgelöste Zucht,
die Unfähigkeit mancher Lehrer und der todte Buchstabenbetrieb An¬
derer' meinen guten Willen paralysirt hätten; doch verwahrte mich
das heiter glückliche Familienleben, das ich führte, vor allem Rohen.
Meinen Schwestern verdanke ich viel, so wie ihren weiblichen Be¬
kanntschaften und den Hausfreunden; ich kann sagen, daß ich unter
Gesang, Guitarrenspiel, hübschen Mädchen, froh unschuldigen Tänzen,
belehrenden Gesprächen die Abende dieser unvergeßlichen Zeit hinge¬
bracht habe. Ostern 1822 bezog ich die Universität Kiel, nachdem
ich eine gereimte deutsche Abschiedsrcdc im Hörsaale des Gymnasiums
unter manchen Thränen der weiblichen Zuhörerschaft gehalten hatte.
Den Anforderungen, diese Rede in Druck zu geben, widerstand ich
klüglich. Das einzig Eigenthümliche darin war die frühauf in mir
brennende und nur mit meinem letzten Athemzuge erlöschende Liebe
oder Knechtschaft für das Schöne, aus der ich Alles, Religion,
Menschlichkeit. Liebe abzuleiten und zu erklären mich gedrungen fühlte.
Aber schon damals, als ich jene Rede schrieb, wie jetzt, hatte ich „die
Scheu des Wortes", wie überhaupt der persönlichen Aeußerung des
Tiefsten in meinem Gemüth, was ich (familienfehlerhaft) als Profa-
nation empfinde und wodurch meine bisherige Schreiberei den gar
besonderen Charakter, bald wortschwellender Bildcrberedsamkeit, bald
wortkarger Hack- und Schlaggedanken angenommen hat. Dies läßt
mich glauben, daß ich im Dramatischen, wo man unpersönlich für
Andere redet, das Feld meines Talentes suchen muß, wie ich denn
schon im vierzehnten bis fünfzehnten Jahre den Versuch machte, die
Historie des Cato von Utica zu dramatifiren. In Kiel ließ ich mich
als stuäiosum tlivolo^litt immatriculiren, mehr meiner Mutter als
einem inneren Antriebe zur Liebe. Ich studirte Kirchengeschichte und
Dogmatik, oder vielmehr Dogmatiker, einen hinter dem andern, bis
endlich Schleiermacher den Reigen beschloß und mich, wider seinen
Willen, zur Philosophie führte. Dem ganzen Studium der Theolo¬
gie und jeder darauf gebauten Lebensaussicht sagte ich im Stillen
Lebewohl, und dies ist der einzige Kampf, den mich die Religion
oder vielmehr der Kirchenglaube gekostet hat: der Kampf zwischen der
Liebe zu meiner Mutter und der Pflicht, mich vor der Heuchelet ei¬
nes ungläubigen Priesterthums zu bewahren. Die Religion selbst hat
mir niemals Gewissensunruhe und Glaubenskämpfe bereitet. Ich er¬
innere mich, daß ich schon als kleines Kind den dogmatisch-mythischen
Inhalt der Bibel und der Gesänge und Gebete, die ich auswendig
lernte, dunkel als fremde Poesie aus dem Heiligendreikönigsland auffaßte
und eine gewisse kindlich naive Subjectivität dagegen behauptete; ja
ich kann sagen, daß ich mit allen diesen Lehren und Wundern nur
durch die Liebe zu meiner frommen und gläubigen Mutter zusammen¬
hing — wie ich noch jetzt in keinen christlichen Tempel treten und
die Orgel hören kann, ohne zugleich an den Verfall einer ehemaligen
religiösen Herrlichkeit und an die im Grabe ruhende Vielgeliebte
trauernd wehmüthig zu denken. Später, in meinem gereifteren Le¬
bensalter reichte ein einziger unvergeßlicher Moment, ein Gedanken¬
blitz in einer schönen Nacht unterm Sternenhimmel hin, um mich für
Zeitlebens vor allen bornirten Vergötterungen und dogmatischen Aus^
^chließlichkeiten auf dein dunklen Erdenkloß in Schul) zu nehmen, und
mich statt dessen mit dein einzigen positiven Gefühl zu durchgingen,
daß die Menschen, wären sie minder blind und egoistisch, ihr flüch¬
tiges Erdendasein göttlich froher genießen konnten, — Epoche in
meinen philosophischen Studien machte die Bekanntschaft mit dem ed ¬
im Erich von Berger (1), dem leisen, frommen, dichterisch tiefen Na¬
turdenker, den Hegel nur durch Keckheit und Alles umschnürende
Systembauerci überragte, dem einzigen sokratischen Geist der neueren
Philosophie. Unvergeßlich werden mir die wöchentlichen disputatori-
sehen Zusammenkünfte sein, denen er präsidirte. Das erste Object
unserer DiSputatorien war die Kant'sche Philosophie, bei der mein
Selbststudium Posto gefaßt hatte. Mit Vergnügen ließ ich mich ver¬
drängen, ja wurde einer der ersten, welcher den Speer gegen die
Kategorien kehrte und mich für die Geltung der Natur der Dinge
und der aus dem Nichts bis zur Gottheit aufsteigenden Wcltwesen-
verkettung erklärte. Ich glaube, daß Berger und Hegel in den Re¬
sultaten zusammentrafen; aber ein Unterschied hielt mich an jenem
fest und von diesem zurück. Berger eilte und drängte nicht zum sy¬
stematischen Abschlüsse, wie Hegel, er gab seinen Schülern nicht
den unseligen mechanischen Schlüssel dialektischer Witz¬
spiele, in dessen Besitz der Dümmste sich vermißt, die Ge°
heimnisse des Alls und die Tiefen der Geschichte aus¬
zuschließen, er setzte schöpferische, naturbegabte, aus sich heraus
vhilosophirende Talente voraus. ) Wie rasch und freudig ich in die¬
sem, leider nur kurzen Abschnitte meines Lebens an Erkenntniß ge¬
wachsen bin, kann ich mit Worten Sulche aussprechen. Es war im
letzten Semester meines drittehalbjährigen Aufenthalts in Kiel. Im
Grunde komme ich nur, nach manchen geistigen Irrfahrten, auf un¬
seren alten Wolfgang Goethe zurück, der mir bereits in frühester Zeit
Priester meines Natur-Menschencultus war, und den ich damals in
seinen physikalischen Werken bewunderte. Diese Studien, mein Bur¬
schenleben (ich war einer der besten Fechter der Universität), und eine
leidenschaftliche Liebe zu der Tochter eines dortigen Professors lasse»
mich jene Zeit als die Pointe meines Lebens betrachten; und in der
That nahm ich mit dem schwersten Herzen Abschied von ihr. Drittebalb
darauf folgender Jahre war ich Hauslehrer.bei den Kindern des Gra-
fen von Bernstorf-Gylvensteen, Enkels des berühmten dänischen Staats-
ministerS. Unter den düsteren einsamen Tannen seiner Güter im
Lauenburgischen führte ich als freiwillig Verbannter ein melancholi¬
sches Einsiedlerleben, das ich durch Briefwechsel, Studium der grie¬
chischen Tragiker, Entwürfe, namentlich aber durch spaziergängerische
LiebeSertnneruugöschwärmereicn ausfüllte. Die Liebe führte mich so¬
gar zurück nach Kiel — auf's Carcer, wo ich in meiner Eigenschaft
als gräflicher Hofmeister über vier Wochen nachträglich Buße that
für ein unglückliches Pistolenduell zwischen einem Studenten, der er¬
schossen wurde, und einem dänischen Offizier, an dem ich weiter nicht
betheiligt war, als durch pflichtmäßige Lieferung von Waffen und
Geld. Der Prozeß wurde erst nach meinem Abgange von der Uni¬
versität entschieden. Leicht hätte ich, besonders durch die mir ange¬
botene Vermittlung des Grafen die zuerkannte Carcerstrafe in Geld¬
buße verwandeln oder wohl ganz frei ausgehen können, aber ich zog
Gefängniß in der Nähe eines geliebten Wesens meiner Tannenwäl-
derfreihcit vor. Einige Abwechselung in diesem öden Leben boten
Reisen nach Kopenhagen und den dänischen Inseln, wodurch ich mit
jenem schönen, aber unglücklichen Lande bekannt wurde. Außerdem
ward ich mit dem Leben des norddeutschen und dänischen Landadels
bekannt. Dieses Lebens vielfach überdrüssig und voll Sehnsucht nach
einer jugendlicheren, geistig belebteren Eristenz erkor ich auf Anrathen
eines Freundes (Trendelenburg, jetzt Professor in Berlin) die Nhein-
univcrsität zur Fortsetzung meiner philosophisch philologischen Studien.
Hier beschäftigte ich mich vornehmlich mit griechischer Philosophie,
Plato und Aristoteles. Die Frucht dieser Studien war eine Abhand¬
lung über die eigentliche Natur der Platonischen Ideen (später in
Altona bei Hammerich gedruckt). — Mein Bleiben in Bonn war
leider nicht von langer Dauer. Wider Willen wurde ich in die är¬
gerlichsten Händel init der gesammten Landsmannschaft der Westpha-
len verwickelt, die sich, nach Allem, was ich sonst höre, einmal aus¬
nahmsweise studentisch schlecht gegen einen Einzelnen benahm, der im
Rufe eines furchtbaren Krummsäbelschlägerö und überhaupt eines im
Beleidigungsfall verzweifelten Menschen stand. Bei dieser Gelegen¬
heit lernte ich Herrn NehfueS kenne!,. Er machte sich anständig,
ertheilte mir jedoch den Rath, die Universität zu verlassen. Die letz¬
ten Wochen meines Nheinaufenthaltes, den ich zu manchen streife-
reicn in diesen schönen Gegenden benutzte, brachte ich in einem Bonn
benachbarten Landhause des Präsidenten Wnrzer zu, wo ich ganz
allein hausete und den wüthenden, brausenden Eisgang des Rheins
im Frühling !?29 unter meinem Fenster vorüberrollen sah. Auch
meine Seele war damals voll Eises, aber nicht aufgehenden, nicht
durch Frühlingssonne gelösten. Das mondscheinbeleuchtete, zerrissene
Siebengebirge mit seinen zerbröckelten Burgen, der tosende Schrei, die
furchtbare, nächtliche Einsamkeit harmonirten mit meinen Gefühlen,
die Welt schien mir eisig an meinem Herzen vorübcrzustürzen und
dies Herz war selber kalt durch den Tod der Geliebtesten, der Mut¬
ter, und durch die Hochzeit Juliens (so hieß sie), und alles Hoffen
und die Herrlichkeit meines Lebens schien mir todt und abgethan wie
Ritterburgenvorzeit. — Das Juli-Scenenjahr 4830 traf mich in
Hamburg, im Umgang mit Heine, Zimmermann, Maltitz und An¬
dern. Die französische Begeisterung war mir zuwider und selbst ihr
Umschlagen in deutsche konnte mich für den fremden Ursprung nicht
entschädigen. Etwas früher gab ich eine metrische Uebersetzung einer
epischen Episode des Argonautenznges, im Pindar, unter dem Namen
Vivvt.it heraus. Ich schrieb eine Vorrede dazu, die mir Heine's Be¬
kanntschaft, Gunst und die von mir gewürdigte Schmeichelei zuzog,
er beneide mich um meine Prosa. Da ich dem Ding eine Zeitbe-
dentung geben wollte, verglich ich den Argonautenzug mit dem Zuge
der Russen über den Balkan und widmete es Diebitsch, dem ich, um
dies beiläufig zu bemerken, in einem prophetischen Sonett seinen spä¬
teren Fall voraussagte. Dieser Zufall und die Danksagung des
Diebitsch aus seinem Lager in der Türkei (der Brief wurde mir durch
den russischen Gesandten in Hamburg, Herrn v. Struve, eingehän¬
digt) verleihen noch jetzt in meinen Augen jener Uebersetzerarbeit ei¬
nigen Werth. — Mein Aufenthalt in Holland ist der Lesewelt durch
das Werk dieses Namens bekannt geworden, minder die Stellung,
die ich dort hatte, und daß ich aus Discretion manche interessante
Aufschlüsse für mich behielt. Ich befand mich im Hause des däni¬
schen Gesandten im Haag, dem damaligen neutralen Zusammenflusse
des Gesandlschaftspersonals, der Hofleute und der vornehmen Welt.
Baron v. Selby hatte außer mehreren Töchtern einen einzigen Sohn
von siebzehn Jahren, der zur Universität vorbereitet werden sollte
Zufällig wurde mir dieses Amt angetragen und ich nahm eS um so
lieber an, da der Krieg zwischen Belgien und Holland mir einen
interessanten und fruchtreichen Aufenthalt in diplomatischer Sphäre
versprach, worin ich mich denn auch nicht betrog. 1831 begab ich
mich nach Kiel, wo ich später als Docent der dänischen Literatur
und Sprache auftrat, mit dem Vorsatze, mich zu Geschichtsvorträgen
gründlich vorzubereiten. Ich las Gothisch, Mitteldeutsch (die Kennt¬
niß des Holländischen hatte mich auf altdeutsche Studien geführt),
Geschichte der deutschen Literatur i>riviMm, und trug publics jene
Vorlesungen über die Aesthetik vor, die ich hinterher unter dem Titel
der „Feldzüge" herausgab. Sie können denken, daß ich mir durch
solche direct gegen den akademischen Plunder und die geheiligten Le-
bensmisi;ren angehende Vorträge mehr den Beifall der Studenten
fich sehe sie noch, das ganze Auditorium vollgepropft, selbst Fenster¬
bänke und Thüren besetzt, in begeisterter Stille um mich her), als die
Gunst meiner College» erwerben konnte. Ich hätte mich dieser
auch wohl entübrigen können, wäre der Kieler Student nicht im
Durchschnitt mittellos und der Lehrer genöthigt, jedem sogenannten
Convicturisten die Collegicngeldcr auf eine bestimmte Zahl von Jah¬
ren nach Abgang von der Universität zu creditiren, was einem An¬
fänger die Enstenz erschwert oder wohl gar unmöglich macht. Ich
faßte daher den Entschluß, zu resigniren, und verlebte darauf einen
Winter in Eutin, wo die Tischbein'sehe Familie den schönen Rest
früherer Vossisch-Stolberg-Jacoby-Tischbein'scher Zeilen bildet, und
wo mir die künstlerische Nachlassenschaft Tischbein's viel Genuß und
Erheiterung gewährte. Ich wollte sogar das Leben dieses malenden
Naturkiiws schildern, mußte es aber unterlassen, weil die Familie seinen
Aufenthalt in Italien nur von Hörensagen kannte und ein braunschwei-
gischcr Gelehrter, ein alter Freund des Verewigten, sich im Besitz ei¬
nes großen Theils seines Briefwechsels befand, zu dessen Ausliefer¬
ung man mir keine Hoffnung machte. In Eutin schrieb ich die po¬
lemische Abhandlung für die hochdeutsche gegen die plattdeutsche
Sprache, wozu ich speciell durch einige Schandprozesse aufgefordert
wurde, welche die Eutiner Justiz gegen einige unglückliche, verzwei¬
felte, eigenthumlose, ja beinahe obdachlose Landarbeiter und gegen,
wie sich später erwies, unschuldige, des Mordes eines dänischen Ge¬
sandten (Herrn von Quelen) angeklagte Bediente führte, die beinahe
sämmtlich der hochdeutschen Sprache nicht mächtig und also so gut
als vertheidigungslos und der Willkür preisgegeben waren. — tuon
Eutin ging ich nach Altona, wo mich Gutzkow aufsuchte, der damals
noch mit Menzel im Bneswechsel stand, und durch denselben vor dem
Verfasser der ästhetischen Feldzüge gewarnt wurde. Mir war schon
damals und früher Menzel's aufgeblähtes, grobes, nichtssagendes
Wesen zuwider. Im Frühjahr 183» machte ich eine Reise durch die
Niederlande, den Rhein bis Mainz hinauf, nach Frankfurt, wo ich,
auf Gutzkow'S Antrag, mich freudig zur MithcrauSgabe einer dem
Zeitgange und den Bedürfnissen der zersplitterten Literatur entspreche
enden Wochenschrift unter dem (wohl schlechten) Titel einer „deutschen
Revue" willig fand. Menzel's persönlich diffamirenden Angriff auf
Gutzkow entgegnete ich durch das „Programm der deutschen Revue",
eine Broschüre, welche den zweifachen Fehler hat, daß sie sich l ) zu
viel mit Menzel und zu wenig mit der deutschen Revue beschäftigt,
und 2) daß sie mich in der Aufregung des Augenblicks und meiner
Freundschaft zu Gutzkow die parteilose höhere kritische Stellung ver¬
gessen ließ. Aber Menzel's Schnödigkeit war derartig, daß sie mir
nur eine persönliche Züchtigung zu verdienen schien, und die Ver¬
leumdung Gutzkow's war so platt und niederträchtig, daß ich mich
seiner, ohne weitere kritische Abwägung, mit Hallt und Haar anneh¬
men zu müssen glaubte. Der Fehler blieb indeß derselbe, oder viel¬
mehr, ich hätte diese persönliche Streitigkeit besonders abmachen und
nicht mit der Sache der deutschen Revue zusammenbringen sollen.
Zu Ostern dieses Jahres waren meine „Wal'dernngen durch den
Thierkreis" erschienen, das Product einer Stimmung, die ich von ^
leidenschaftlicher Bitterkeit nicht ganz freisprechen will. Jetzt begannen
die Regierungen auf eine junge Literatur aufmerksam zu werden, in
der sie eine geschlossene, Staats- und sittengefährliche Verbindung zwi¬
schen politisch-radicalen und sittlich-leichtfertigen Grundsätzen zu erblik-
ken glaubten. Zufällig wurde mir das aufsteigende Gewitter ziem¬
lich früh verrathen und ich erhielt actenmäßige Kenntniß von den
Verhandlungen gegen das sogenannte junge Deutschland (ein Name,
der auf wunderliche Weise aus einer Dedication der Feldzüge an die
gesammte und namentlich die studirende deutsche Jugend zu einer
reichsoffiziellen Geltung gelangte. Der preußische Gesandte machte
den Anfang mit der Anzeige, daß die ,.Wanderungen durch den Thier-
kreis" von Preußen verboten worden, weil sie Haß gegen die beste-
senden Ordnungen, gegen die Reichen (!)u.s.w. verbreiteten; worauf der
Bundestagöpräsldent überhaupt auf die höchst gefährlichen, combinirten
Tendenzen einer auftauchenden sogenannten jungen Literatur oder
eines jungen Deutschlands aufmerksam machte, die um so gefährli¬
cher, da sich das Talent der Darstellung damit verbinde, wobei dann
die bekannten Fünf namentlicher Designation gewürdigt wurden. Daß
er bei dieser Gelegenheit, wie ich glaube, meinen Namen voraus¬
schickte, scheint mir zu beweisen, daß die politische oder unmittelbare
Tendenz der Hauptdorn im Auge war; sonst traue ich dem Onkel
des Dichters der Griseldiö mehr Geschmack und Einsicht zu. Hieran
knüpfte sich die Aufforderung an sämmtliche Gesandte, an ihre resp,
hohen und höchsten Höfe über dies Unwesen zu berichten, und ge¬
meinschaftliche Maßregeln zur Unterdrückung desselben zu treffen. Ich
war also so ziemlich auf die Schläge vorbereitet, welche die ju"ge
Literatur treffen sollten. Mittlerweile war man perfid genug, einen
Roman wie die Wally, dessen größtes Verbrechen seine Gebrechen,
als die Quintessenz der jungen Literatur umherzutrommeln und wie
diese theologisch, moralisch, ästhetisch herunterzumachen. Die Resul¬
tate obiger BundestagSverhandlungen sind bekannt. Weniger sind es
die persönlichen Widerwärtigkeiten, die ich in Folge ti'ches Verbotes
erleben mußte. Es schien, als wenn nicht allein meine Schriften,
sondern auch meine Person in Deutschland verboten werden sollte.
Aus Frankfurt verwiesen, ging ich nach Mainz; aus Mainz verwie¬
sen, (wo sich der Civilgouvcmeur Präsident von Lichtenstein auf das
humanste, jedoch erfolglos, meiner annahm) ließ ich mich in Nieder-
Jngelheim nieder; von hier vertrieben (es wurde mir sogar im Wei¬
gerungsfalle mit Dragonern gedroht), reiste ich nach Cassel ab, wo
mir ebenfalls die Weisung, die Stadt zu räumen, ertheilt wurde, bis
ich endlich in meinem Geburtsorte Altona die Erlaubniß erhielt,
deutsche Luft zu ath man. Den Schmerz und die Entrüstung über
dies Verfahren und die Unwürdigkeit so mancher Behörden, mit de¬
nen ich bei dieser Jagd in Berührung kam, habe ich in dem Vor¬
worte zu meinem „Tagebuche von Helgoland" ausgesprochen, freilich
nicht in der Stärke, wie ley'6 empfand. Nach Helgoland begab ich
mich im eigentlichsten Sinne aus Ekel vor dieser continental-deutschen
Polizeiluft im Frühlinge 1^36 und lebte dort bis zum Herbste. Ein
anfangs mit großer Lust begonnener Roman geriet!) in s Stocken;
doch ist aufgeschoben vielleicht nicht aufgehoben. Zu meinen auf der
Treibjagd unternommenen und gefertigten literarischen Arbeiten gehört
auch „das classische Alterthum, dargestellt durch deutsche Classiker"
geordnete Auszüge aus Winkelmann, Lessing, Goethe u. s. w. über
die Griechen und Römer, mit einem Vorworte über das Studium
des Alterthums.
Da sammeln sie nun jetzt aller Orten für die schlesischen Weber,
>n Concerten wird für sie gesiedelt, in langweiligen Broschüren für
sie geschrieben, ganze Vereine und organisirte Gesellschaften mit Prä¬
sidenten und Aktenträgern werden gebildet, natürlich Alles mit „hoher
Bewilligung". Kommt aber Jemand, der zu wissenschaftlichem Zweck
einen Verein bilden, der mit Andern den himmlischen Rechtszustand
menschlicher Institutionen besprechen will, dem klopfen sie, gleich ei¬
nem Schulbübchen, mit ihrem hölzernen Lineal auf die Finger. Es
ist keine Rede davon, ob die Lage der armen Weber nicht in jeder
Hinsicht eine hilfsbedürftige, wohl aber, wessen Sache es ist,
die Hilfe zu leisten. Ich frage, kann die Armuth eines ganzen Volks¬
theiles der Gegenstand von Privatmildthätigkeit sein? Es ist schon
so jämmerlich klein, im Ueberfluß Großmuth zu üben, die Brosamen
von der Tafel dem Bettler zuzuwerfen, doch säyigt es vielleicht diesen
Einzelnen. Aber ein Volk, eine „Kaste"! Naturgemäß ist der, wel¬
cher den Vortheil eines Anderen theilt, zur Abhilfe in der Noth ge¬
halten, und wenn die Weide in dürren Jahren Nichts bietet, so füt¬
tert der Bauer den Ochsen im Stall, der ihm die Fruchtwagen her¬
einzieht. Wenn eine Provinz reich und blühend ist, so wird ein
weiser Staat diesen Bortheil benutzen, wer tadelt das? Aber dann
soll er sich ihrer auch annehmen, wenn sie mit Noth und Mangel
ringt*).
Börne sagt einmal, die Deutschen, wie die Affen, drehten hundert¬
mal eine Nuß um, bevor sie zuknackten. Das ist wahr. Jetzt wiro
über den Pauperismus so viel geredet und geschrieben, so ver¬
nünftig, so deutsch gefaselt, daß man glaubt, endlich, endlich einma!
geht'S einen Schritt weiter. Bewahre! An Abhilfe, an ernste, wirk¬
liche Abhilfe denkt Keiner. Herr Mundt, der die Leute glauben ma¬
chen will, er habe seine Jacke wieder gewendet, macht die Mode auch
mit, wie's zu dem Fähnchen eben paßt. Ob die Welt davon klüger
werden soll, ist eine zweifelhafte Sache. Seine Sancho-Panhas ha¬
ben viel in die Zeitungen trompetet, wer sich genauer darüber orien-
tiren will, dem empfehle ich Stein'S Werk über den Communismus
und Socialismus des heutigen Frankreich. Er wird erstaunen, ......
worüber, sag' ich nicht. Von Mundt's Liberalismus wird viel Auf¬
hebens gemacht, ein Spaßvogel hat sogar das Gerücht verbreitet, die
Regierung habe ihn entsetzt. Glauben Sie das nicht, die Regierung
kennt ihre Leute. Nauwerk, dem der Minister Eichhorn chinesisch und
arabisch zu lesen empfahl, hat sich wirklich wegen der „Einseitigkeit solcher
Lehrfreiheit" zurückgezogen. Wie vorschnell dies gewesen, zeigt sich
jetzt in dem Gutachten der Facultät, welche sich energisch und fest
seiner annimmt. Wäre er nur so weit zurückgetreten, als
man ihn zurücktrieb, er hätte immer noch wirken können,
und der Schutz der Faculrat war ihm so ziemlich gewiß. Das
Gutachten der Facultät hat übrigens Folgen gehabt. Die Publication
befand sich zuerst in der Hamburger Zeitung, von wo es in unsere
— nichtpreußische! — Zeitungen überging. Allgemein fand es An¬
klang. Jetzt aber ist auf Requisition des Ministers Eichhorn eine
Untersuchung auf Verletzung des Amtsgeheimnisses eingeleitet, die den
Chemiker, Professor Rose, betreffen soll. Eine Entgegnung auf das
Gutachten der Facultät, die aus einigen, ganz aus dem Ausammen-
hang gerissenen Sätzen Nauwerk als Aufwiegler denuncirt, ist in der
Breslauer Zeitung, gezeichnet: „— Aus der Mark" erschienen, für
deren Verfasser man hier einen „liberalen" Publizisten halt.
et!>N«U u. s, w.
Vom Theater? Es ist wieder still geworden. Charlotte von
Hagn ist auf ihrer Urlaubsreife begriffen, und man vermißt sie in
der That sehr. In Bezug auf sichere und correcte Zeichnung glänzt
diese Schauspielerin einzig vor allen. Adolphine Neumann, die talent¬
volle junge Schauspielerin, welche eine der Besten unserer Bühne zu
werden versprach, hat uns nun auch verlassen, freilich für immer und
ohne Hoffnung auf Wiedersehen. Der Tod entführte sie plötzlich und
viel zu früh. Madame Schröder-Devrient ist schon seit mehreren
Tagen fort, ihre Leistungen haben keinen günstigen Totaleindruck ge¬
macht. Ihre Stimme reicht nicht mehr aus, und dabei schaden ihr
die jugendlichen Rollen, die sie nicht zu geben vermag. Ihr Spiel
ist oft überladen. Gegenwärtig vermag nur der Name Döring's das
Haus zu füllen. Der Name, nicht anders. Döring als Tragiker ist
mir durchaus ungenügend. Er ist ein Talent und reich begabt; er
hat die Mittel, — aber ihm fehlt die Schule. Bei Seidelmann
war es umgekehrt; der hatte mit einem ungünstigen Organ zu käm¬
pfen, aber er bewältigte, er benutzte es; sein Studium, seine Auffas¬
sung waren tief begründet, eine psychologische Wahrheit. Döring hat
große Momente, — wo ihm die Natur zu Hilfe kommt. An ihm
habe ich zuerst gefühlt, wie nöthig uns Theaterschulen wären. In
komischen Rollen ist er Meister, aber in dem Genre Seidelmanns,
das er ausfüllen soll, in den großen tragischen Gemälden Shakspea-
re's ist er unvollkommen. Neuerdings brachte er uns Lear und Hein¬
rich »V. Daß er trotz seiner Mängel der einzige ist, durch den die
Darstellung belebter wird, brauche ich wohl nicht zu sagen. Fast schien
es, als ob man durch eine mangelhafte Besetzung aller übrigen Rol¬
len uns den Dichter verleiden wolle. Oder ist es vielleicht nur die
Absicht, die Größe Döring's durch Contraste zu veranschaulichen?
Wie in Wien die Tantieme für dramatische Schriftsteller, ist sie
auch bei uns nur auf drei Jahre „zur Probe" sixirt, nach deren Ab¬
lauf sie wieder aufgehoben werden kann. Ich hege diese letztere Be¬
sorgnis) nicht, aber die Bestimmungen selbst scheinen nicht um¬
fassend und — nicht genügend. Zuerst ist nicht gesagt, wer oder wel¬
che Umstände für die Wahl der Bühne entscheiden. Dies ist nicht
unwesentlich, da das neue Opernhaus im Durchschnitt das Doppelte
einbringen wird, wie das Schauspielhaus, abgesehen davon, daß nach
Anlage eines großartigen Bühnenwerks die Scenirung von nicht ge¬
ringem Einfluß auf den Erfolg ist. Betreffs der Oper sodann ist der
Eomponist zu schlecht bedacht. Ein Schauspiel, welches den Abend
füllt, erhält zehn Prozent, die Oper nur neun, wovon drei auf das
Libretto, sechs auf die Partitur kommen*). Diese Vertheilung ist
ungerecht. In Frankreich — „patriotische" Herzen mögen keinen
Groll auf mich werfen, der Tantiemenverordnung liegt laut Bekannt¬
machung die französische zu Grunde —, in Frankreich sind für die
Oper vierzehn Procent ausgeschrieben, von denen zwölf der Eomponist
und nur zwei der Dichter erhält, letzterer aber außerdem ein Honorar.
Was endlich die erforderliche Zeit von zwei dreiviertel Stunden an¬
geht, so ist dies ebenfalls ungenau, da es allein von der Größe der
Zwischenacte abhangig gemacht wird, ob ein Stück drei oder zwei drei¬
viertel Stunden wahrt. Die Bestimmung nach Acten, wie bisher
beim Honorar, wäre angemessener.
Die hiesigen Künstler sind jetzt viel beschäftigt; vor Allem aber
unsere beiden Meister in der Plastik, Rietschel und Hähnel. Jener
arbeitet an dem großen Fronton, das für das Opernhaus in Berlin
bestimmt ist, Hähnel aber hat die Ausführung eines großartigen Denk¬
mals für Prag übernommen. Die Stände Böhmens haben sich näm¬
lich vereinigt, dem Kaiser Karl IV. als König von Böhmen und
Gründer der Universität Prag ein Monument zu setzen. Hähnel hat
bereits eine Movellskizze gefertigt und den Ständen vorgelegt, welche
in ihrer Conception allgemeinen Beifall sich erworben hat. Karl lV.
steht in königlicher Rüstung und kraftvoller Majestät auf sein Schwert
gestützt, den Reichsapfel in der Hand, auf einem Piedestal, einem
gothischen Bau, zu welchem ringsum Stufen führen; an den vier
Seiten desselben sind Nischen, in welchen vier allegorische Figuren,
die vier akademischen Facultäten vorstellend, sitzen; an den vier Ecken
des Baues sind oben Baldachine angebracht, unter welchen wieder
Figuren stehen. Das Monument wird eine Höhe von vierundzwan¬
zig Fuß haben und soll in Erz gegossen werden (durch Burgschmidt
in Nürnberg, der auch für Hähnel jetzt die Beethoven-Statue gießt).
Zur Aufstellung desselben ist ein Platz vor der Moldaubrücke gewählt.
der von der Kirche der Kreuzhcrren, dem Clementinum :c. :c. gebildet
wird; ein der Brücke nahestehendes Haus würde dann weggerissen und
ein Kanal überdeckt, so daß die Stellung des Monumentes eine freie
und imposante wäre. Noch ein anderes Monument ist von den Pra¬
gern projectirt, welches sie dem Kaiser Franz I. setzen wollen. Ueber¬
haupt zeigt sich jetzt in Prag viel reges Leben und Streben für die
Kunst, namentlich hört man von großen Bauwerken, die vorgenom¬
men werden. — Daß aber Genie und Talent vielleicht in unserer
Zeit schneller als je Bahn sich brechen und Anerkennung erwerben,
dürfen wir nicht läugnen ; in den plastischen Künsten haben wir neuer¬
dings, wie bei Kiß, so bei Hähnel den Beweis hiefür. Der letztge¬
nannte ist ein junger Mann von etwa zweiunddreißig Jahren; in
seiner äußeren Erscheinung und Bewegung viel an die alten italieni¬
schen Meister erinnernd, einen Benvenuto Cellini oder Michel Angelo.
Er ist hochgewachsen, ein voller dunkler Bart umgibt ihm Wangen
und Kinn. In seinem Wesen drückt sich Willenskraft und Selbst-
ständigkeit mit moralischer Sicherheit aus. Seine Rede ist voller
Laune, Witz und Schärfe. Seine Klarheit und Festigkeit in sich selbst
gibt ihm eine Überlegenheit, die in unseren socialen Verhältnissen nicht
verfehlen kann, sich Geltung zu verschaffen.
Dresden ist nicht reich an großen Baumonumenten, die man in
einer Stadt von seiner Größe und Bedeutung wohl zu finden hofft.
Seit Friedrich August dem Starken ist wenig geschehen, und erst in
neuerer Zeit hat uns Professor Semper einige bedeutende Werke her¬
gestellt. Schon lange hofften wir ein Museumsgebäude zu erhalten,
welches in angemessener Aufstellung die Gemäldegalerie und die ver¬
schiedenen anderen kostbaren Kunstsammlungen unserer Stadt in sich
aufnähme, und der Stadt zugleich als Zierde und schöner Anziehungs¬
punkt diente. Man kann sagen, es ist für diese Angelegenheit viel
vom glücklichen Moment verloren gegangen; wäre sie gleich vom
Anfang herein richtig erfaßt, den Ständen unseres Landes
der Plan des Baues mit dem Kostenanschlag ausführlich vorgelegt
und die ganze Sache mit Energie geführt worden, so ist kein Zweifel,
die Stände hätten den Bau bewilligt. Jetzt ist viel Zeit darüber
verflossen, eine Menge andrer Angelegenheiten, deren nothwendige Be¬
rücksichtigung den Ständen mehr in die Augen springen mag, sind
dazwischen gekommen, und es wird schwierig sein, die Kammern zu
vermögen, das Geld zum großen Bau eines Museums zu verwilligcn.
Demohngeachtet aber glaube ich,^ daß, wenn deutlich nachgewiesen
werden kann, daß in der jetzigen Aufstellung der Galerie die Gemälde
wesentlich Schaden leiden, die Galerie mit der Zeit zu Grunde gehen
müsse, die Stände von der Regierung darauf hingewiesen werden
können, den Bau eines zweckmäßigen Museums zu verwilligcn, da
alle Kunstsammlungen jetzt Fideicommiß des Landes sind, und dieses
für deren gewissenhafte Erhaltung Sorge tragen muß. Würden die
Kammern sich in diesem Falle nicht vereinigen, so könnte die Negie¬
rung gesetzlich sogar selbstmächtig einschreiten.
Lucretia ist endlich vom Stapel gelaufen. Als schlichter, herzens-
demüthiger Correspondent habe ich nicht über den selbständigen Ge¬
halt dieses Stückes zu discutiren, sondern Ihnen nur ganz einfach
über die Aufnahme zu berichten, die es bei uns fand; diese war im
Ganzen günstig. Daß es bei uns nicht denselben Beifallssturm er¬
regte, wie auf seinem heimathlichen Boden, laßt sich aus zwei Grün¬
den leicht erklaren: erstens konnte die republikanische Grundide«, die
auf Franzosen begeisternd wirken mußte, bei uns keinen Anklang
finden, und zweitens befinden wir uns auch nicht in der überreizten
literarischen Stimmung der Pariser, die nach so vielen gleichsam im
Opiumrausch geschriebenen Stücken, wie ihre neuere Literatur sie dar¬
bietet, nicht anders als höchst wohlthuend von einem Werke berührt
werden konnten, dessen edle Klarheit und verständige Besonnenheit
ihnen von allen den geistigen Orgien auszuruhen erlaubte. Solcher
Erauickung bedarf unser hiesiges Publikum nun keineswegs, die Ge¬
nüsse, die ihm geboten werden, sind nicht geeignet, ihm zum Kopf
zu steigen; das Epigramm, Menschenhaß und Reue, die Pagenstreiche
können seine Nerven nicht in dem Grade angreifen, daß eine Reaction
nothwendig wäre. Wie sich das Publikum bei der Aufführung der
Lucretia benahm? Es benahm sich eigentlich gar nicht, man merkte
es ihm an, daß es nicht recht wisse, ob ihm das Stück gefalle oder
nicht. Merkwürdig war mir aber der Jnstinct der Menge, der ihr,
trotz des Schwankens in Bezug auf Gefallen, sagte, sie befinde sich
einem ernsten, bedeutenden Werke gegenüber, dem nicht anders als
mit Achtung begegnet werden dürfe. In diesem Sinne war auch die
Aufnahme. Möglich, daß ich mich irre, allein ich möchte glauben,
das Publikum werde sich immer mehr und mehr mit dieser Tragödie
befreunden; und schenkt uns ein günstiger Stern noch einige andere
Stücke gleichen Werthes, so dürfte es ' wohl, endlich zu der Einsichr
gelangen, daß die dramatische Poesie noch etwas Höheres hervorzu¬
bringen vermöge, als Halm'sche Tragantsiguren.
Ueber die Darstellung nur einige Worte. Ausgezeichnet war die
Enghaus in der Titelrolle, die sie in wahrhaft antikem Geist auf¬
faßte; ihr Spiel athmete eine Einfachheit, eine Größe und Innerlich¬
keit, daß man sich wie von einem Hauch aus jener Zeit überkommen
fühlte. Die Enghaus besitzt den seltenen Vortheil, daß ihr bei der
reichsten innern Begabung auch kein äußerliches Mittel versagt blieb:
ihre Gestalt ist von vollendeter plastischer Schönheit, ihr Organ ein
tiefer Alt von ungemeiner Kraft, Weichheit und Süße. Das Ein¬
zige, was diese Künstlerin (so nenne ich sie mit Bedacht, nicht der
hergebrachten Form wegen) ablegen sollte, ist das mitunter zu starke
Betonen der Endsylben; zwar entspringt dieser Fehler auch nur aus dem
Wunsch nach größtmöglicher Klarheit, aber er fällt darum nicht min¬
der auf, und Deutlichkeit laßt sich am Ende wohl auch auf andre
Weise erzielen. — Den Brutus spielte Löwe die vier ersten Acte hin¬
durch in wirklich großartigem Style, im fünften ließ er sich wieder
zu den ungeregelten Ausbrüchen hinreißen, die oft seine beßten Lei¬
stungen entstellen. Ueber Mad. Rettich wage ich, da ich kein Arzt
bin, auch keinen Ausspruch zu fällen; dieses Spiel, das unendlich
mehr mit einem hysterischen Anfall, als mit einer Kunstleistung ge¬
mein hat, ist nicht mehr kritisch, sondern nur pathologisch zu beur¬
theilen. Noch selten hat die Unnatur über eine ursprünglich sehr be¬
vorzugte Organisation einen so vollständigen Sieg davongetragen wie
bei dieser Frau, die nicht mehr guten Morgen sagen kann, ohne in
eine Affectation und Gespreiztheit der unleidlichsten Art zu verfallen.
Herrn Lucas als Sertus nennend, möchte ich die Litaneiformel hinzu¬
fügen: Herr, erbarme dich unser! — Die übrigen Rollen sind unbe¬
deutend und wurden auch auf gleiche Weise gespielt.
Noch in diesem Monat sott ein neues Stück, „die Kroncnwäch-
ter" von Otto Prechtler gegeben werden. Wenn es wahr ist, daß
zu großer lyrischer Schwung dem Dramatiker schade, so gibt uns
die vor Kurzem erschienene Gedichtsammlung desselben Verfassers die
Versicherung, daß er wenigstens von dieser Seite her Nichts zu fürch¬
ten habe. Man würde darin vergebens nach einem Naturlaut, einem
Herzenston hinhorchen. Daß die Verse nicht gerade schlecht sind, will
ich zugeben, aber wer macht denn noch schlechte Verse? Die Form
ist heut zu Tage so erstaunlich ausgebildet, daß es nicht so schwer ist,
sie nachzuahmen; allein was Keiner lehren und Keiner lernen kann,
geht nicht so mit in den Kauf, das strahlt über dem erwählten Haupt
wie ein flammender Stern, den das Wachsstümpchen fleißiger Be¬
mühung nicht ersetzen kann.
Die zwei ersten Vorstellungen der italienischen Oper haben die
gehegten Erwartungen nichts weniger als befriedigt. Man hatte sich
in der Montenegro eine Kunstgröße ersten Ranges versprochen; das
ist sie nun freilich nicht, doch eben so wenig verdiente sie eine so
entschieden ungünstige Aufnahme. Ihre Stimme besitzt Wohllaut
und Umfang, ihre Methode ist vortrefflich, Spiel und Gestalt durch¬
aus edel. Vor der Hand macht man ihr's zum Werbrechen, daß sie
kein Genie ist; indessen wäre es wohl möglich, daß sie mit der Zeit
doch durchdränge und bei ihrem unbestreitbaren Talent die Sympathie
och hiesigen Publikums sich erwürbe. Der Tenor Ferretti hat eine
sehr schöne Stimme, eine erträgliche Methode und ein abscheuliches
Spiel. Marini's Baß klingt wie Posaunenschall, allein er hat das
Unglück, beständig zu distoniren, und zwar in einer Weise, die das
Parterre in das unauslöschliche Gelächter der Olympier ausbrechen
macht. Bei der svettinl-, Unan, 8jAnnr», <"ille!,n<-c> fällt jede Ungleich¬
heit zwischen Stimme, Methode, Spiel und Gestalt hinweg; es ist
Alles gleich schlecht.
Uebrigens sind Duellgeschichten unser tägliches Brot, es vergeht
keine Woche, wo man nicht von dergleichen hört. Viel Aufsehen
erregte ein politischer Aweikampf zwischen dem Barus von Croatien,
Grafen Haller und dem Oppositionsmitglied Grafen Teleki. — Guizot citi-
cend, hatte der Barus in Bezug auf seine Gegenpartei den Aus¬
druck avei-un gebraucht, worauf Graf T. erwiederte: Aloi vt mein p-u-ti
iioiiü vrus rvuirons es «kmtimLrit «r oomme unus «oimnv« j>In« ncmibreux
>ju>- vn>is, onus clevv? von« ti'nnvvr I>im plus >'<<:o>ib!>;8 hin vull« <Il!äaiii
Ijiw IIMI8 <1u vull'L. Das Duell fand in der Nahe von Preßburg
statt; Graf T. wurde durch den Arm geschossen, der Barus blieb unver¬
letzt. Vorgestern schlug sichGrafSchönborn mit Baron Arnstein ; Ursache
dieses Aweikampfs war Baron A.'s Weigerung, den Grafen als
Schiedsrichter über eine ziemlich gleichgiltige Wette anzuerkennen, was
von Seiten des Letzteren so beleidigende Aeußerungen zur Folge hatte,
daß eine blutige Ausgleichung nöthig schien. Man traf die Verab¬
redung, am Ostermontag bei Preßburg zusammenzutreffen, und zwar
am frühen Morgen, um, wie Graf sah. das Schicksal herausfordernd
sagte, die Praterstunde nicht zu versäumen. Seine Vorsicht war
überflüssig, denn er sollte diese Stunde nicht erleben; Baron A.'s
Kugel traf ihn in's Herz. — Sie sehen, wir leben fast wie unter
Ludwig dem Dreizehnter, den kleinen Umstand abgerechnet, daß wir
keinen Cardinal Richelieu haben./
Jemand sagte, die Fraueiiliteratur sei stets nur ein schwaches Echo
der männlichen, ursprünglichen Literatur gewesen. Einige sehr seltene
Ausnahmen abgerechnet, vor denen diese Behauptung nicht stichhaltig
oder wenigstens nicht leicht erweisbar ist, — wie Georges Sand —
hat das „Echo" in der That Viel für sich. Vor Allem kann es un¬
sere schreibenden, besonders romanschreibenden Männer beruhigen,
unter denen sich seit einiger Zeit die unheimlichsten Gerüchte kreuzten:
es sei eine Verschwörung im Werke, um den Männern das Szepter,
d. h. den Gänsekiel, aus der Hand zu winden; die Amazonen seien
entschlossen, was nicht durch Gewalt des Geistes zu erringen sei,
durch die Intrigue durchzusetzen; durch Kritik, durch übertäubendes
oder einschmeichelndes Raisonnement, durch Geltendmachung ihres
großen Einflusses in der Salonswelt 5), nach deren blendendem
Schimmer sich die modernen Autoren drängten, wie die Mücken nach
der Flamme, Wienbarg rieth ja schon einmal, das Romanschlacht¬
feld den Frauen zu überlassen, und hypochondrische Literaturrichter
setzten die schwarze Mütze auf — wie ein englischer ^usticv — wie¬
sen die Suprematie des weiblichen Einflusses in der jetzigen Dich¬
tung nach und erklärten Jeden, der Glück machte und dem verdorbe¬
nen Zeitgeschmack genügte, für ein verkapptes Weib. Ist es in der
That so weit gekommen, ist die Zeit so ernst geworden, wie die Ei¬
nen sagen, oder so weichlich, wie es die Andern deuten, daß die
Männer alle zur herben, rhadamantusäugigen Publizistik verurtheilt
sein und in dem schönen Land der Musen blos rosige Frauenfinger
walten sollen? — Die Männer mögen sich beruhigen. Es hängt ja
nur von ihnen ab, der Literatur eine andere Richtung zu geben, ei¬
nen anderen Ton anzustimmen; es gibt noch Gegenden in der
Welt des Geistes, wo kein hundert- und tausendfaches Echo den
ursprünglichen, urkräftiger Ton übertäubt, verhöhnt und wirkungslos
macht. Und dies sind recht eigentlich die Höhen, die freien Gipfel¬
punkte des Geistes, denen ja der echte Mann entgegenstrebt.
Mögen unsere schreibenden Damen nicht glauben, daß hier ein
Kreuzzug gegen sie gepredigt werden soll; ich wollte nur andeuten,
daß die Klagen über ihre angebliche Vorherrschaft in der Literatur
unmännlich sind. Die Bezeichnung „Echo" soll ihre geistige Thätig¬
keit nicht herabsetzen; vielmehr, glaube ich, ist damit die Berechtigung
derselben anerkannt und ihre Eigenthümlichkeit annäherungsweise be¬
zeichnet. Auch ist hier nicht von dem leeren und äußerlichen, unmit¬
telbar an seinen Urheber gebundenen Widerhall, sondern von dem
seelenvollen Echo, von der antwortenden Stimme des Herzens die
Rede. Es liegt in der weiblichen Natur, daß sie empfängt, nicht er¬
zeugt, das Empfangene aber in verklärter und zarterer, meist auch in
neuer und individueller Gestalt wiedergibt. Ist es nicht schön, ein
melodisches Echo alles Schönen und Großen zu sein? Stimmt dies
nicht vollkommen zu dem Beruf des Weibes überhaupt? Von Wich-
tigkeit aber wird es stets für den Denkenden sein müssen, zu hören,
wie die geistigen Bewegungen der Zeit im Herzen der Frauen wi¬
derklingen; zu sehen, wie sich die neue Sitten- und Glaubenswelt,
an deren Heraufbeschwörung mehr oder minder jede große Literatur
arbeitet, in ihren Köpfen malt. Die Frauennatur ist, gerade durch
ihren Mangel an großen einseitigen Kräften, — so daß sie sich nicht
in spezielle Fachstudien verlieren und die Fühlhörner des gemüthlichen
Instincts durch die Schwielen wissenschaftlicher Arbeit vernichten kann
— mehr einer naiven und rein menschlichen Bildung fähig. Darum
horchen wir ja so gespannt auf das Urtheil der Frauen, darum ach¬
ten wir ja auf ihren Beifall oder Tadel in Sachen der Poesie eben
so aufmerksam und oft noch mehr wie auf das Wort des gelehrten
Kunstrichters. Die schreibende Frau verliert allerdings mit ihrer
Unbefangenheit viel von diesem feineren Gefühlssinn. Ihre Produc-
tionen sind auch mehr ein mittelbares unwillkürliches Urtheil, das
mit sympathetischer Dinte geschrieben ist und nicht von jedem Auge
entziffert wird. Dies ist nicht buchstäblich zu nehmen. Aber, allge¬
mein überblickt, wird uns die Frauenliteratur ein bald verschönernder,
bald verzerrender Spiegel männlich literarischer Richtungen sein. Fast
nie hat eine Frau eine neue Bahn gebrochen; wohl aber haben
Männer zuweilen eine Bahn eingeschlagen, auf der sie von den Frauen
überholt werden mußten. Das Echo klang schöner als der urhebende
Schall. Liegt darin nicht auch ein Urtheil? —
Die Romane der Frau von Paalzow — die der terroristische
Bauer unlängst mit eisernem Rad gerädert — diese Romane ver¬
schlingen alle sonstige Theilnahm- des Publicums an der schönen
Literatur. So klagen Einige. Sie könnten vielleicht mit noch grö¬
ßerem Rechte diese Klage über die Schriften der Gräfin Hahn-
Hahn und der Verfasserin von „Schloß Goczyn" erheben. Wir
sehen in diesen weiblichen Erfolgen nur eine nothwendige Folge des
Tones, den das vorige Jahrzehend angegeben. Die Literatur hatte
sich während der deutschen Restaurationszeit, an der Hand einer hy¬
sterischen, nachtwandelnden Romantik, in die dämmerigen Closets und
Dachstübchen des Kunstdilettantismus verirrt und war da unter al¬
ten Gemälden, musikalischen Instrumenten, Gypsmodellen, Papageien
und Raritäten aller Art eingeschlafen. Als die junge Literatur er¬
wachte, suchte sie einen Ausweg, um zu einer Vermittlung mit dem
Leben zu kommen. Statt aber den geraden Weg durch die Haus-
ebur zu wählen und sich mit einem kühnen Sprung auf die sonn-
stheinige Gasse in die Arme des Volkes zu stürzen, machte sie einen
Umweg durch den Salon. Durch die „Gesellschaft" sollten Literatur
und Leben vermittelt werden. Dies war ein grosier Irrthum. In
Frankreich ist die Gesellschaft ein Gegebenes; sie ist eine natürliche
und nationale Frucht des Staatslebens. Offen stehen ihre Flügel¬
thüren den lauten Strömungen und Widerhallen der Volköwelt; die
Grazie wird da nicht durch leises Auftreten, der gute Ton nicht durch
Kälte und Gleichgiltigkeit erkauft. Bei uns gibt es Gesellschaften,
aber keine Gesellschaft. Was man so nennen könnte, hat in jedem
Theile Deutschlands andere Physiognomie, anderen Geist. Was aber
wirklich, durch eine gewisse gleichartige Bildung und Haltung, den
allgemeinen Namen: deutsche Gesellschaft verdient, ist fast eben so er-
clusiv, wie die Kunstkreise, fällt in jene Regionen, die sich beinahe in
der ganzen civilisirten Welt gleichen, und hat von der eigenthümlich
deutschen Natur höchstens das Unpraktische, Rücksichtsvolle und Pein¬
liche an sich. Diese „Gesellschaft" war zu keiner lebendigen Begei¬
sterung für die Bewegungen der Zeit und des Volkes hinzureißen,
höchstens zu geistreichen Reflexionen darüber; da konnte eine hoch¬
strebende Literatur keine Wurzel schlagen. Man nahm sie mit Ar¬
tigkeit auf, man ließ sich vorschwatzen von Philosophie, Politik, Re¬
ligion — warum nicht? Dies Alles ließ sich benutzen; man bekannte
selbst die freisinnigsten Grundsätze, wenn sie manierlich vorgesagt wur¬
den, und ließ sich als Barometer des Fortschrittes, als Blüthe der
Nation, als Bahnhof der Zukunft ausrufen. Ohne auf diese Art in
Zusammenhang mit dem Leben zu kommen, gewöhnte sich die Lite¬
ratur blos einen exclusiver Ton an, der ihr das Ohr des Volkes
verschloß und doch auch nicht die anerkannte Sprache der Vornehm¬
heit war. Indessen war die Gesellschaft das neu entdeckte gelobte
Land, das Schiboleth, die Mode deö Tages geworden. Wenn die
Literatur mit ihren tiefsinnigsten Fragen und geheiminßvollsten Pro-
phezeihungen sich an die Gesellschaft wandte, wie lebhaft mußte man
verlangen, auch Bilder aus dieser Gesellschaft zu sehen, die so lebhaft
gleichen Schritt mit der Zeit ging, ja sogar ihr vorauseilte. Ist doch
auch in Frankreich die Gesellschaft der nationale Boden, auf dem die
Romane spielen. So entstand die Literatur „aus der Gesellschaft";
und hier mußten die feinen, kundigen Frauenfingcr den Preis gewin-
neu. Der Roman ist die einzige Dichtungsart, die: jederzeit ein
allgemeines Bedürfnis; befriedigt; der Kunstroman war Rococo ge¬
worden; der historische hat bei uns nie geblüht; der Roman „aus
der Gesellschaft" schien der einzig mögliche, und so kamen einige vor¬
nehm geistreiche Frauen zu dem Monopol auf die Lieferung unter¬
haltender Lectüre. Auf eine genauere Zeichnung dieser Literaturhel¬
dinnen kann ich mich erst in einem folgenden Artikel einlassen. Nur
so viel für den Augenblick. Die drei bedeutendsten Erzählerinnen „aus
der Gesellschaft" sind natürlich alle aristokratisch, lassen aber doch das
moderne Element, durch welches sie überhaupt Schriftstellerinnen wur¬
den, mehr oder minder durchschimmern. Frau von Paalzow ist kon¬
servativ, hausmütterlich nach Art gewisser bürgerthümlicher Höfe, solid,
Centrum; Gräfin Hahn-Hahn, malcontent nach oben und unten,
aristokratisch-liberal, halb Pückler, halb Lichnowski, torystische Linke;
die Verfasserin von „Schloß Goczyn" dagegen ist beinahe socialistisch
in aristokratischen Formen, und gehört weder der Rechten noch der
Linken an. Die künstlerischen Lichter und Schatten hängen bei allen
Dreien mit diesen Richtungen zusammen. Die beiden letzteren Da¬
men schreiben übrigens einen so eöpritfunkelnden, damascirten Styl
und coquettiren so glücklich mit ihrer subjectiven Weltanschauung,
daß mair darauf schwören kann, sie sind mehr als eine Nacht mit
Heine's Reisebildern, der Lelia und dem jungen Europa zu Bette
gegangen.
Allein auch da unterscheidet sich die Goczyn — wir »vollen.sie
kurz bei diesem Namen nennen — von ihrer berühmten Schwester
in Apoll sehr vortheilhaft; ihre Reflexion ist nicht so schneidend, ihre
Betrachtung fließt nicht so sehr ans geistreichiger Streit- und Origi¬
nalitätssucht, als aus echt lyrischer Gemüthsbewegung. Die Goczyn
hat in ihre Novellen eine Reihe von Gedichten eingestreut, die uns
berechtigen, sie zu unseren besten lyrischen Talenten zu zählen. Was
dieser Lyrik besonderen Reiz verleiht, ist das byron'sche Echo, das wir
heraushören. In diesem Zuge erinnert die Goczyn sehr lebhaft an die
geniale Betty Paoli, deren Lieder noch größere Kühnheit des
Geistes und eine Gluth der Empfindung athmen, zu der sich selten
der weibliche Vers erhebt. Ein Nachklang von Byron's Sturm-
klängen zittert ohnehin seit lange durch die lebendigsten Wipfel
deutscher Literatur und hat noch nicht auögczittcrt. Aber nirgends
klingt dies Echo so natürlich und wohlthuend als aus Frauenseelen.
An einem Dichter mag der Byron'sche Anklang, wenn er bewußt ist,
abstoßen; denn da fühlen wir uns unwillkürlich herausgefordert, den
einen Mann nach dem andern zu messen. Nicht so bei einer Dich¬
terin. Ihr ist es unmöglich, die grellen Dissonanzen des Briten, die
scharfen Töne seiner Skeptik und Weltverachtung wiederzugeben; nur
den stürmischen Herzschlag, die tief zitternde und doch so starke Em¬
pfindung seiner Muse können wir wiederfinden; die Sentimentalität,
an der sonst die weibliche Lyrik kränkelt, wird zu gesunderen Gefühls-
laut. Byron, in's Weibliche übersetzt, scheint vielleicht Manchem ein
Unding. Nun, man denke sich eine Geliebte Byron's, die seine
Träume noch einmal träumt, die aus seiner Seele Flammen getrun¬
ken und ihm die bang austönende Musik namenloser Sehnsucht ab¬
gelauscht hat. Byron wird noch mehr als eine Dichterin hervorrufen,
wenn ihn die Männerwelt längst verwunden haben wird. Denn
man kann annehmen, daß alle gebildeten Mädchenseelen Europas von
irgend kühner Phantasie in Byron — verliebt sind. Auch als Dich¬
ter besitzt er das Glück Don Juan's. Die Männer aber sollten auf
den Todten nicht eifersüchtig sein. —
Doch kehren wir zu unserem Thema zurück. Wer die Erzäh¬
lungen der Hahn und der Goczyn liest, wird sich einiger zufälli¬
gen Bemerkungen nicht erwehren können — doch nein, sie sind eben
nicht zufällig. So eigenthümlich ihre subjectiven Betrachtungen, so
treffend oft ihre Aussprüche über Welt und Menschen im Allgemei¬
nen sind, so wenig dauernden Eindruck lassen ihre Versuche zu pla¬
stischer Gebildung zurück. Es ist viel Wahrheit in manchen psycho¬
logischen Zügen; einzelne Figuren, aber gewöhnlich die nebenstehen¬
den, sind leibhaftig und voll menschlich. Das Ganze ist kein Stück
Leben, wie es ein männlicher Geist aus der Gegenwart herausgreift.
Liegt die Schuld davon in den Kreisen, aus denen ihre Phantasie
schöpft, und die so eng begrenzt, so reich an hohlem Schimmer, so
arm an rauher, gesunder Wirklichkeit, so leer an Ereignissen sind, die
den ganzen Menschen erfassen und über alle Höhen, wie durch alle
Tiefen des Daseins treiben? Es ist mir oft, als hätten diese Erzäh¬
lerinnen ihre eigenen Helden nur am Theetisch kennen gelernt, als
wagten sie es nicht, in einer anderen, als salonsfähigen Situation
sie dem Leser zu Präsentiren. Am gelungensten sind die Scenen, wo
der Held in ein geift- und gefühlvolles Gespräch mit einer Heldin
verwickelt ist; am treffendsten sind gerade die Verwicklungen oder
Katastrophen, welche das Peinliche der konventionellen Entfernung,
das Schwierige der Annäherung zwischen den spielenden Personen
ausdrücken. Den Mann in seinem Kern und Wesen darzustellen,
kann man von einer Schriftstellerin nicht verlangen: das Weib in
rücksichtsloser Wahrheit zu geben, ist sie zu weiblich zart und partei¬
isch. Komische Eigenheiten, stereotype Aeußerlichkeiten, namentlich an
philiströsen Hausfrauen und Strickstrumpfseclen, wird sie mit unnach¬
ahmlicher Feinheit zeichnen; damit werden wir aber auch abgespeist.
Der Mann, wenn er schreibt, ist im Stande, jede Rücksicht auf sein
oder das andere Geschlecht zu vergessen: ich glaube nicht, daß eine
Schriftstellerin aufhören kann, beim Schreiben an ihren männlichen
Leser zu denken. Die Liebe ist ein unerschöpfliches Thema, aber nicht
für ein und dasselbe Buch, worin sich ein ganzes Leben spiegeln soll.
Den Mann faßt der weibliche Autor fast nur in seinem Verhältniß
zu den Frauen auf: alle die unzähligen anderen Seiten seines Lebens
sind gleichgiltig, oder bleiben unverstanden.Die Poesie des Weibes
aber ist ja eben nur die Liebe; entweder die Hoffnung der glücklichen,
die Erinnerung der unglücklichen, oder die Trauer und die Reue we¬
gen der verlorenen oder verschmähten Liebe. — Kurz, ich möchte den
Frauen mehr dauerndes Glück in der Lyrik prophezeihen, als im
Roman.
Dies ist die Literatur „aus der Gesellschaft", in der die Frauen
Herren des Tages sind. Gönnt ihnen doch das kleine Feld, ihr bit¬
teren Literaturrichter, klagt nicht so unmännlich, als wärt ihr vom
Parnaß und vom Meßkatalog ausgeschlossen, ihr Männer, die ihr
mit der Feder ackert oder strickt, näht oder streitet. Wenn das Pub¬
likum, wie ihr sagt, wirklich nur noch den Frauen horcht und zu ih¬
ren Füßen sitzt, so ist es euere Schuld. HM ihr die wetteifernde
Frauenindustrie auch im historischen oder im Volksroman zu fürch¬
ten? Ob wohl Wilibald Aleris sein weibliches Gegenstück fin¬
det? Ob wohl Scott ein weibliches Echo weckt? Ich zweifle sehr,
daß Rank, Willkomm, Lentner oder Auerbach glückliche Rivalinnen fin¬
den, die im Schwarz- oder Böhmerwald oder im baierischen Hoch¬
gebirge Fußreisen machen, um ein Stück Urnatur, ein Bischen wild-
wüchsiges Volksleben in ihren Salon heimzubringen. Im Drama
freilich, das heißt im Casscnstück, macht die einzige Birch-Pfeiffer der
ganzen jungen dramatischen Werdclust viel zu schaffen. Sollte sich
für diesen weiblichen Goliath nicht einmal auch ein kleiner David
finden? Gegen daS politische Lied endlich hat sich die Frauenwelt
bis jetzt als bloßes Publicum und zwar als ein sehr empfängliches
und dankbares verhalten — man weiß, soie Deutschlands lJung-
frauen der Reihe nach für Grün, Karl Beck und Herwegh schwärm¬
ten. Noch hat keine literarische Jungfrau von Orleans sich mit der
Oriflamme des Fortschritts an die Spitze der radikalen Jugend ge¬
stellt — einzelne ausnahmsweise Erscheinungen, wie die gesinmmgs-
volle Louise Otto, zählen hier nicht. Täglich aber wachsen die
männlichen Epigonen von Hoffmann, von Prutz, von Herwegh :c.
gestiefelt und gespornt in Schaaren aus der Erde, werden sogar ver¬
boten, und das Publicum liest sie dennoch uicht.
Vollends unglücklich sind unsere deutschen Frauen als Touristin¬
nen. Die Zustände einer Stadt, einer idyllischen Dorfgegend, in der
sie sich eingelebt, farbig und gemüthlich vor uns aufzurollen, das
wird eine Frau von Geist im Stande sein; und manches poetische
Schwalbennest, manches Winkelplätzchen in der Kirche, wo der oder
jener alte Mann mit weißen Haaren zu bestimmten Stunden kniete,
manches Brücklein, wo eine Herzcnögcschichte vorfiel, überhaupt manche
vielsagende Kleinigkeit, die dem Blick des Mannes entgangen wäre,
wird ihr Gemälde verschönern. Aber aus dem staubigen Wagen als
Wildfremder in wildfremden Ländern und Städten auszusteigen, Em¬
pfehlungsbriefe abzugeben, Bekanntschaften anzuknüpfen, Notizen zu
sammeln, Leute aus allen Ständen auszuhorchen, das sollten Frauen
nicht unternehmen. Die armen Geschöpfe warten entweder, ob ihnen
nicht ein poetisches Abenteuer von Weitem begegnet, das sie ausma¬
len können, oder scharren, wenn sie älter sind, ein wenig Medisance
und Modeklatsch zusammen. Gräfin Hahn hat die Vegetation, die
Landschaften und Fernsichten in Südfrankreich auf das Reizendste
radirt; sie hat aber den Fehler begangen, über politische und sociale
Verhältnisse sich auch zu äußern. Darin verräth sie so schielende
Ansichten und crasse Jnkonsequenzen, daß man wohl erwarten kann,
sie werde, wenn sie aus dem Orient zurückkehrt, gegen die Ehe
und für die Sklaverei schreiben. Hoffentlich wird sie sich aber
mehr mit den Zedern des Libanons und den Kameelen Syriens be¬
schäftigen, als mit den Angelegenheiten der Menschheit.
So eben liegt mir ein neues Buch von Therese vor: „Am
Theetisch" (Braunschweig, Vieweg und Sohn, 1844). Therese, Ver¬
fasserin des „Falkenberg", „eines Tagebuchs", der „Briefe aus dem
Süden u. f. w." ist eine vortreffliche Tagebuchschriftstellerin.
Welch ein Zauber liegt für Frauenseelen in dem Worte Tagebuch!
Da setzt man sich hin, beim stillen Schein der Lampe, an den ele¬
ganten Schreibtisch und hat so viel Gemüth, so viel Weiblichkeit lind
dabei doch so viel Geist, so viel correcten Styl. Und da vertraut
man dem verschwiegenen Papier die geheimsten Kämpfe seines In¬
nern, die kindlichen Träume seiner Phantasie, seine herzzerschneidendsten
Gedanken, natürlich blos zur eigenen Erbauung, um sich im Stillen
auszuweinen und eine schwere Last von seinem Herzen zu wälzen.
Den anderen Morgen aber wird diese Last in die Druckerei einer
Zeitschrift geschickt, aus der sie später zum Verleger und als öffent¬
liches Tagebuch in die Welt wandert. Davon abgesehen, hat The¬
rese, ebenfalls eine Frau von Stande, in der That Geist, Geschmack
und Styl. „Am Theetisch" enthält einige allerliebste Reiseskizzen aus der
Schweiz, Belgien und Holland; sehr interessant ist, was sie über ei¬
nige berühmte Gemälde, was sie in Weimar über Goethe denkt.
Das bekundet aber noch kein touristisches Talent; sie hatte seit früher
Jugend Zeit, über Goethe, Van Dyk und Meister Erwin nachzuden¬
ken. Da finde ich auch „Blicke auf Se. Petersburg". Wie umge¬
wandelt ist plötzlich diese Feder, die über den civilisirten Westen so
voll scharf gespitzter, in die tiefsten Strömungen der Zeit getauchter
Aussprüche war! Wie schüchtern bewundernd, wie kindlich optimistisch,
wie ganz frauenhaft wandelt sie durch den Marmorsaal, den Winter¬
palast! Da ist kein unweibliches Raisonnement, kein selbständiger
Zweifel, keine ernste Frage mehr nach den Zwecken menschlichen
Treibens! ES ist Alles so wunderbar, so prächtig, die Prinzessinnen
sind alle leibhafte Engel, und die Großfürsten geborne Heroen. Graf
B. ? — Liebenswürdig. Fürst Cz. ?—Verehrungswürdig. Gräfin X.?
— Zum Küssen. Fürstin Y.?—Zum Anbeten. —Wir verlangen von
einer Frau nicht, daß sie den Marquis de Custine spiele. Nur sich
selbst etwas mehr gleich bleiben sollte sie.
In Petersburg lebte ein Wunderkind Elisabeth Kulmann,
eine deutsche Dichterin. Ihre Eltern waren aus Deutschland hinge-
wandert und ihr Genius blieb der Muttersprache treu; sie dichtete
aber auch in russischer, italienischer und griechischer Sprache. Ihre
Lieder sind oft von unmittelbarer Kindlichkeit und antiker Naivetät.
Man könnte dreist viele ihrer Gedichte für althellenische ausgeben,
käme nicht nothwendig manche moderne Vorstellung und modernes
Wissen darin vor. Sie lebte in sehr dürftigen Verhältnifien und
starb vor ihrem zwanzigsten Jahre. Ein Band ihrer Gedichte in
deutscher, italienischer und russischer Sprache, in Se. Petersburg ge¬
druckt, zeigt ihr Bildniß im Profil. Auch die Schönheit ihrer Züge
trug einen ganz antiken Charakter. — Schade, daß Therese, wie es
scheint, um diese Dichterin Nichts gewußt hat. Vielleicht hätte sie,
bei ihrer Anwesenheit in Rußland, über das Leben derselben nähere
Kunde bringen können. Eine vollständige Ausgabe von Kulmann's
deutschen Poesien fehlt noch.
Der Herbst spielte schon auf den schönen Baumgruppen, welche
die Gebäude der Badeanstalt umgeben, als ich bei Travemünde wie¬
der deutschen Boden betrat. Nothwendige Geschäfte hatten mich ei¬
nen großen Theil des Sommers in der russischen Residenz festgehal¬
ten, aber Niemand war froher als ich, da ich wieder an Bord des
großen, schönen Nicolay stand, da Kronstäbe mit seinen starken Bat¬
terien allmälig verschwand und jeder Radschlag mich der deutschen
Heimath näher brachte! Wenn man in England und Frankreich
mannichfach an das erinnert wird, was uns Deutschen fehlt, so lernt
man in Rußland wenigstens das schätzen, was wir besitzen. Was ich
in Petersburg gesehen, was ich in Petersburg gehört, bat mich nur
allzu sehr davon überzeugt, daß es in Rußland eigentlich noch an
allen wahrhaften Culturmomenten fehlt, daß Alles auf eine blendende
Tünche hinausläuft, die doch niemals recht Stand halten will. Der
Deutsche würde in Petersburg schwerlich entbehrt werden können. Es
liegen dem russischen Volke noch alle Beziehungen des europäischen
Städtelebens zu fern; es ist noch viel zu sehr vom asiatischen Step-
penthum, vom Moskowiter- und Baschkirenthum umflort, als daß es
Städte und städtisches Leben schaffen könnte. Peter der Große trieb
die Bauern seines Reiches aus Astrachan und von den Grenzen
Chinas zusammen und bevölkerte damit Petersburg; es bedürfte der
Masse, aber um die barbarischen Rudel zu begrenzen und zu orga-
nisiren, wurde Deutschland nothwendig. Es fehlt in Nußland der
Mittelstand, die wahre Wesenheit der Städte und der produktiven
Gesellschaft. Darum mußte sich Deutschland zwischen den russischen
Knechten und Herren ins Mittel legen. Auf diese Art ist Peters¬
burg geworden. Alles, was dient und kriecht, ist moskowitisch in
Petersburg; Alles, was herrscht und glänzt, trägt gleichfalls den rus-
sischen Stempel; aber Alles, was schafft und waltet in stiller Behä¬
bigkeit, was, Rußlands beide Ertreme versöhnend, eine rein bürger¬
liche Stellung geltend zu machen sucht und die materielle, so wie die
geistige Seite zur Anschauung bringen möchte, das ist deutsch oder
doch deutscher Abkunft. Nicht in einspännigen Carossen jagt das
Petersburger Deutschthum umher, es macht auch keine Reisen nach
Italien und sieht nicht aristokratisch durch die Lorgnette auf den Pö¬
bel, aber es steht auch nicht in goldbetreßten Livreen auf Wagen-
brettem und stinkt auch nicht nach Knoblauch und Branntwein. Es
ist produktiv und bürgerlich nett; es versorgt die stolze Kaiserstadt
mit den alltäglichsten Bedürfnissen, und sehr bezeichnend scheint es mir
für die deutsche Stellung in Petersburg zu sein, daß die sämmtlichen
Bäcker dieser Stadt geborene Deutsche sind. Würde der Czarenstadt
jemals das deutsche Lebensbrod entzogen und sie auf altrussische
Elemente beschränkt, so würde sie jedenfalls verwildern und zer¬
fallen müssen, ob sie auch jetzt, wo des deutschen Kernbrodes die
Fülle in ihr, diesen alltäglichen Nahrungsstoff nur wenig zu beachten
scheint. Deutschland herrscht in Petersburg, weil es dient. Es steht
am Kramertische und sitzt im Comptoir, es müht sich als Haltsleh¬
rer ab, es knetet den Roggenteig und schwingt die Nadel; es ist im¬
mer der alte, bezipfelte, fleißige deutsche Philister.
Deutschland, welches nun schon seit drei Jahrhunderten mit al¬
ler Kraft all seiner geistigen und nationalen Einigung arbeitet, ohne
dahin gelangen zu können, hilft hier dem Slaventhum zur Cultur
und müht sich ab, es bei den Völkern Europas courfähig zu machen.
Ist denn der Deutsche wirklich bestimmt, immer der Packesel frem¬
der Nationen zu sein?
So arbeitet das deutsche Petersburg, während das russische sich
das Geschäft des «lvlce Im- niente sowohl auf dem geglätteten Par-
quet des Salons und in den Seidenpolstern der Carossen, als auch
im alten moskowitischen Schmutze, in Küchen und Bedientenzimmern
vorzubehalten verstand. In jeder bürgerlichen, in jeder geistigen und
schlicht socialen Beziehung ist die deutsche Bestrebung von umfassen¬
der Bedeutung geworden und ist von ihr der Ausschlag zu erwarten;
wo aber die russische Diplomatik ihre Rollen antritt, dort zeigt Ru߬
land sich in seiner ganzen Ausschließlichkeit eben so stark wie in den
Bedientenzimmern. Deutsch sind die Herzkammern Petersburgs, rus¬
sisch der Fuß im stinkenden Juchtenleder und auch der Kopf mit dem
noblen Air und dem diplomatischen Schnurrbart; deutsch ist der Am¬
boß, russisch der Hammer, aber der Hammer nützt Nichts ohne die
Unterlage.
Und auch das polirte, geschminkte, aristokratische, diplomatische
Rußland, dessen Fäden von Teheran bis Paris, von Stockholm bis
Konstantinopel sich dort an der Newa, wo die Flagge auf dem Kai-
serpalaste von der Anwesenheit des Herrn Kunde gibt, zum feinsten
Mittelpunkte vereinen, auch dieses ist Deutschlands noch bedürftig.
Während der Gedanke an die russische Weltbedeutung es nicht ver¬
läßt, strebt es aus Kaiserpalästen und aus sklavisch handelnder Um¬
gebung in unsere deutschen Thäler hinaus, um sich erst dort die
europäische Weltanschauung zu erringen, um an den Ufern des
Rheins in einer Natur zu schwelgen, die dem Norden versagt blieb.
Müssen doch unsere deutschen Bitterlinge und Säuerlinge alljährlich
die russischen Unterleiber durchziehen, — freilich durchzieht uns Ru߬
land dafür wieder sehr bitter! Hat sich Rußland aber bis jetzt nur
europäische Politur errungen und steigt es noch nicht mit heiligem
Ernste in die tiefsten Schachte der europäischen Bildung hinab, so ist
der Grund dieser Oberflächlichkeit, die mit Eisenbahnen, schnurr¬
bärtigen Garderegimentem und mit einer Taglioni, ja mit einem
Ministerium für Volksaufflärung zu coquettiren beliebt, theils in dem
äfsischen Nationalcharakter der Russen, theils in, Negierungsprincipe
zu suchen und nicht in Deutschland, welches mit allzu viel Eifer und
Gutmüthigkeit seine Goldstufen und alle seine, durch den Schweiß
vieler Jahrhunderte mühsam errungenen Bildungstrophäen auf allen
Märkten feil bietet, allen Nationen überläßt und sich kaum die Lum-
pen zu seiner eigenen Bedeckung zu wahren versteht.
In Petersburg hat Peter die Klammer geschmiedet, welche sich
über die Ostsee in's deutsche und dadurch in den Mittelpunkt des euro¬
päischen Lebens hineinschlägt; Petersburg ist ein langer und scharfer
Rüssel, der durch das dortige Deutschthum seinen Theil von unseren
Geisteserwerbungen an sich zu saugen versteht. Der Deutsche selber
nährt die Macht, von der Alles zu fürchten, die sein warmes Leben,
seinen träumerischen Kosmopolitismus nur mit kaltem Egoismus für
ihre geheimen Zwecke benützt! Das deutsche Mark der Ostseeprovin¬
zen und die deutschen Elemente Petersburgs sind-bestimmt, jene Kräfte
zu entwickeln, die noch schlummern und immer bereit sein werden,
zum Danke für das, was Deutschland ihnen gethan, auf die Ver¬
nichtung der germanischen Welt auszugehen.
Es ist erstaunlich und wohl zu beachten, mit welcher Gering¬
schätzung der Russe auf den Deutschen herabblickt. Der gemeine, ko-
lbige Russe, der Leibeigene im schmutzigen Schafspelz hält sich zur
Herrschaft über den thätigen, fleißigen Deutschen berufen, und wir
Alle wissen ja, daß im russischen Cabinete Pläne gesponnen werden,
die jenem Jnstincte des gemeinen Mannes ganz analog sind. Aber
man ist zu klug, um damit schroff hervorzutreten, man manövrirt im
Stillen und bleibt unermüdlich. Die serbisch-österreichische Frage ist
eine russische Frage geworden, die^ Ostsee ist ein russisches Binnen-
wasser, Dänemark wird durch eine Heirath immer tiefer in's russische
Interesse gezogen, die meisten kleinen deutschen Höfe sind es bereits.
Der Geist des todten Polens hätte uns Vieles von unserer Zukunft
zu sagen und viele Nägelmale zu weisen, aber wir sehen in unseren
Thälern nicht die Wolke, welche sich vielleicht an den Abhängen des
Urals langsam entwickelt. Die Prätensionen des Russen wachsen
bedeutend. Es ist mir mehr als einmal begegnet, daß ich auf Rei¬
sen in Deutschland mit einem Moskowiter zusammentraf, der sich un¬
ser Vaterland wie eine schöne Provinz seines Czaren ansah. Schon
ein Blick auf Rußland sollte unsere Fürsten lehren, was Noth thut;
sollte sie unermüdlich werden lassen, die Einheit und die Freiheit der
Nation zu begünstigen und zu stärken, denn das einige und das freie
Deutschland braucht den starkknochigen Kosaken und den schlitzäugigen
Baschkiren nicht zu fürchten, der Geist der Nation ist die stärkste
Mauer. Mögen die Russen sich dann immerhin bis an den Rhein
zeigen, — es kann gut sei», wenn die schlauen Larven von Allen ge¬
sehen werden. Die Geister glühen schon jetzt zu sehr in Haß und
Erbitterung gegen den Russen, selbst die preußischen Gardelieutenants
bringen geheime Pereats aus; der deutsche Geist ist schon jetzt in al¬
len Schichten zu lebendig geworden, als daß sich an eine Unterjoch¬
ung vom Moskowiter denken ließe »), selbst wenn sich Bündnisse,
analog dem Rheinbund, erneuern. Die russische Diplomatie mag
noch so schlau ihre Karten mischen und Heirathstractate schließen: es
stehen ihr nicht Cabinetöintcressen, es steht ihr ein Volk, es steht ihr
das Princip der Civilisation und der Freiheit gegenüber.
Wie der Dampf überhaupt zum Träger des modernen Lebens
geworden ist und vereint hat, was lange getrennt war, so ist auch
Nußland uns durch die Dampfschiffahrt auf dem baltischen Meere
näher getreten. Es ist eine monopolisirte Dampfschiffahrt zwischen
Petersburg und Lübeck eingerichtet; — es weht viel russischer Wind
in Lübeck, in der freien Reichs- und Hansestadt und der russische
Generalkonsul, Herr v. Schlözer, ist dort ein wichtiger Mann, wo
man einst Könige ab- und einsetzen konnte und nun einen harten
Schlag erwarten muß, wenn der große Czar Miene macht, das
Monopol aufzuheben! ES fahren drei große Dampfschiffe zwischen
dem russischen Norden und Deutschland. Früher war die Verbin¬
dung sehr lose; wer sich nicht Ewigkeiten hindurch auf Rußlands,
Polens und Preußens Landwegen, oder in engen Kajütenräumen der
vom Sturm wochenlang hin- und hergetriebenen Segelschiffe zer¬
martern lassen wollte, der blieb daheim und unterdrückte den Wunsch
nach Reisen, Freiheit und höherer Cultur. Nun aber schmaucht ihm
das Dampfboot entgegen, in vier Tagen kann er in Hamburg, in
sieben Tagen in Paris sein. Dies lockt Viele. Schaarenweise steigt
Nußland zu Schiffe, bei Travemünde ergießt es sich über das deut¬
sche Land. Was früher sein Leben durchhockte, das nimmt ein
europäisches Sonnenbad, verdorbene Unterleiber werden in Deutsch¬
land gesund, erdfahle Gesichter rothen sich auf den Gipfeln der Schweiz
und in den Ebenen Italiens, Rußlands schmutzige Leibwäsche — ein
Lieblingsgegenstand der vornehmsten Russen — wenn sie auch unter
Schein und Glanz, unter noblen Oberkleivern und strahlenden Orden
verborgen war, kommt nun doch einmal in die Hände der alten,
ehrlichen, unermüdlichen deutschen Waschfrau.
Wie lange ist es her, da galt der Russe noch in unseren deut¬
schen Thälern, Bädern und am sonnigen Rhein als wirkliches Wun¬
derthier, jetzt schaukeln seine leicht erkenntlichen Wagen überall, auf
allen Straßen umher. Der Russe hat keine Theilnahme für uns,
für unsern politischen Gram, für unseren leidenschaftlichen Kampf, für
unsere chronischen Bewegungen; aber er beobachtet mit Scharfsinn,
vielleicht auch mit Spott und Schadenfreude. Es bleibt eine unläug-
bare Thatsache, daß der Russe bei uns politische Klinik zu studiren
und an dem Krankenbette einer nicht geviertheilren, sondern fast ge-
vierzigtheilten Nation die herrschenden Hirn- und die wechselnden
Unterleibsschwächen in ihren offenen und versteckten Symptomen ken¬
nen zu lernen. Indem der Russe so nur ein Auge für Deutschlands
Schwächen hat, sieht er die Kraft und die Tüchtigkeit desselben nicht
und kann dafür immer einmal zu voreiligen Schlüssen und versuchen
verleitet werden. Hier auf der Ostsee findet die Völkerwanderung
in das große Klinikum statt. Umgekehrt aber zieht auch Deutschland
leichter und massenhafter nach Nußland und fordert so, hier wie dort,
die Entwicklung der Moskowiter. Rußlands Staatsräthe sonnen sich
jetzt auf den Hügeln des Rheins und der russischen Literatur kannst
Du alljährlich an Bord jener Schiffe leibhaftig begegnen. Hier fin¬
dest Du die Träger der russischen Größe, denen ein ruhiger, kontem¬
plativer Sommer in unseren Bädern entgegenglänzt; Rußlands die
Welt umnetzende Couriere erblickst Du, die heilige Mappe auf der
Brust und den Säbel an der Seite, und wiederum erblickst Du das
leichtfertige Volk der deutschen Künstler, welches kein Vaterland kennt
und das Gold über Alles schätzt, so wie Gestalten aus allen Natio¬
nen in bunter Vermischung.
Aber, ach! Da stand ich nun im Gewühl und Gedränge der
Reisenden, unter den Bergen des hin und her gestoßenen Gepäckes/
unter zudringlichen Fuhrleuten und Lohnträgern an dem Landungs¬
platze der kleinen Lübeckschen Hafenstadt Travemünde an der Ostsee
und bekam allerlei wunderliche Gedanken! Als ich noch auf der
See war, konnte ich mir gar nicht denken, daß ich Deutschland ganz
so wieder finden würde, wie ich es verlassen hatte; meine Phantasie
hatte mir allerlei große Veränderungen vorgezaubert. In Peters¬
burg hatte ich nur den Hamburger Korrespondenten und die preu¬
ßische Staatszeitung gesehen. Wie es aber bekanntlich vor der Re¬
volution in Frankreich eine Adelsklasse von Weniger als gar Nichts
gab, so sind eben diese Journale von Weniger als gar Nichts und
ich hätte Unrecht gethan, nach ihnen auf die deutschen Zustände zu schlie¬
ßen. Hat der deutsche Bund vielleicht die Carlsbader Beschlüsse aufgeho¬
ben? Ist Luther etwa in die Walhalla gekommen? Ist Friedrich
Förster an einem Gelegenheitsgedichte gestorben? Ist Barbarossa
aus dem Kyffhäuser heraus? Ist der Mcßkatalog bis über die
Hälfte herabgeschmolzcn? Ist die Mecklenburgische Lebensfrage von
den rothen Rocken der bürgerlichen Gutsbesitzer endlich erledigt und
hat die Literarische aufgehört zu erscheinen? — Das und viel An¬
deres ging mir durch den Kopf, während die meisten meiner Reise¬
genossen an der Seekrankheit litten und ein russischer Fürst eine Fla¬
sche Champagner nach der andern trank, bis sein Diener ihn in die
Kajüte und in's Schlascabinet führte. Jetzt aber stand ich endlich
auf deutschem Grunde. Die derben deutschen Gesichter rings um¬
her zeigten kaum etwas Anderes, als Geldgier oder Stumpfsinn, und
anstatt daß man meine Fragen beantwortet hätte, erfuhr ich, waS ich
nicht erwartet hatte, — ja eher wäre der Himmel eingestürzt, — in
der freien Hansestadt Lübeck sei eine Julirevolution
gewesen ! — Diese Nachricht wirkte so sehr erschütternd auf mich,
daß ich mich noch bei der Erinnerung an den ersten Eindruck nicht
so leicht sammeln kann. —
Vielleicht habe ich dem Kutscher ein paar Thaler über die Tare
gegeben, wenigstens schien mir der Preis für den Wagen enorm.
Aus meinem Rosselenker war Nichts herauszubringen. Als wir durch
Travemünde fuhren, blies er in's Horn. Es war mir ganz so, als
sei es die gewaltige Marseillaise. Eine Revolution und in Lübeck!
Wie hat sich Deutschland in den drei Monaten deiner Abwesenheit
geändert! —
Im Goldglanz der sinkenden Sonne zeigten sich jetzt Lübecks
spitze Thürme am Saume der Ebene. Ich hatte niemals Lübeck ge¬
sehen, aber ich wußte keine deutsche Stadt, vielleicht Nürnberg aus¬
genommen, die schon auf das Gemüth deö Knaben einen so tiefen
Eindruck gemacht hätte und an die sich so viel große Erinnerungen
knüpften. Jetzt lag das Bild vor mir. Spitze, scharf vom Purpur-
rothen Abendhimmel nmrissene Thürme deuteten die gesunkene Kö¬
nigin der gesunkenen Hansa an. Das Princip der Hansa war nicht
poetisch, wohl aber ihre Erscheinung. Verbündete deutsche Städte
hielten eine Flotte, welche die Meere beherrschte und vor der mehr
als Einmal die Könige gezittert haben, und jetzt — das ganze
Deutschland hat keine, kein Schiff, keine deutsche Flagge! Unter den
reichen Hansastädten war Lübeck das Hauptjuwel, die Städte des
mittlern Deutschlands verbanden sich damit, die reichen Burgundi¬
schen Städte führten die große Handelskette bis an den Canal und,
prächtig entfaltet durch das Kreuzzuglcben, schlössen sich ihnen wieder
die italienischen Staaten« Venedig, Florenz, Genua, Pisa an. Da¬
mals war die Ostsee die Handelsstraße Lübeck der Markt
des Nordens, es zeigte sich da ein HandelSgelreibe, dessen Großar¬
tigkeit wir jetzt kaum zu ahnen vermögen. Wenn man nur weis;,
daß Lübeck auf demselben Raume, wo jetzt 24,000 Einwohner leben,
einst 200,000 umfaßte, so fühlt man schon, welche gewaltige Verän¬
derungen mit dieser Stadt vorgegangen sino und mir wurde ein
Aufstand immer natürlicher. War es doch die Stadt des kühnen
Johann Wullenweber, in die ich einzog! Jeden Augenblick dachte
ich die trotzathmcnden mittelalterlichen Bürger aus dem Boden stei¬
gen, die Häuser der Patrizier stürmen und an ihre Thore mit Arte»
klopfen zu sehen. Aber die Leute, welche mir begegneten, sahen kei¬
neswegs wie Rebellen aus, es war keine von den Leidenschaften in
ihren Gesichtern zu lesen, welche sonst eine Revolution zu erwecken
pflegt, es schienen eben nur ruhige Bürger zu sein, welche frische Luft
schöpfen wollten.
Und als ich dann an der Abendtafel im Gasthofe zur Stadt
Hamburg am Klingenbcrge saß, wie war ich voller Scham, daß
ich dem ruhigen deutschen Bürger eine Revolution hatte zutrauen
können! Die Julirevolution Lübecks schmolz zu Straßeittnmulten zu¬
sammen und war mit einer allgemeinen Durchprügelung Mehrerer
Hundert von Handwerkerjungen von Seiten der Polizei beschlossen
worden. Die größten Thaten der Revolution waren das Zerschmet¬
tern der sämmtlichen Straßenlaternen, so wie das Einwerfen der
Fensterscheiben an den Hausern eines Schneiders und eines Sena¬
tors gewesen. Das Letztere frappirte mich denn doch etwas! Der
Senator hieß Behrens; er soll ein beim Volke sehr unbeliebter Mann
sein. Es cursirten eine Menge von Spottgedichten auf ihn und
seine College»; einige waren nicht ohne Witz. Die Veranlassung der
Straßentumulte sollen Militärsachen gewesen sein: der Grund
lag tiefer, wie man auch an unsrer Abciwtafel allgemein an¬
nahm. Lübeck ist nicht blos durch den Umschwung der Zeitverhält--
nisse gesunken, es hat sich vieles selbst zuzuschreiben. Es krankt an
seiner Verfassung, der ganze Wust des mittelalterlichen Corporations-
wesens ist hier beibehalten worden. Das, was die französische Re¬
volution aller Welt gelehrt hat, ist hier verschmäht, und man kann
sagen, der Unterthan des Königs von Preußen bewegt sich in weit
freieren Verhältnissen, als der republikanische Bürger Lübecks. Börne
hat Recht, die hansastädtischen Republiken zeigen uns nur, wi» Re¬
publiken nicht sein sollen. Der Senat ergänzt sich selber und die
Vertretung der Bürgerschaft ist eine Chimäre; nur der Kaufmann
wird mit Nachdruck vertreten, die übrigen Stände gelten Nichts. Der
Gelehrte ist von allem Mitthäter und Mitrathen ausgeschlossen.
Das ganze Landgebiet ist im Zustande einer Unmündigkeit, welche
selbst den Verfügungen der deutschen Bundesacte zuwider ist, und
von einer Trennung der Administration und Justiz ist hier noch gar
nicht die Rede. Bei Besetzung der Aemter soll nach dem einseitig¬
sten Nepotismus verfahren werden; man muß entweder ein banke¬
rotter Kaufmann oder aus irgend einer aristokratisircnden Familie
sein, um eine Pfründe zu erlangen. Es ist traurig, daß man
in Lübeck nicht zu einem schnellen Entschluß kommen kann; man zö¬
gert von Jahr zu Jahr, die bestehenden Verhältnisse sind mit dem
Geiste der Zeit in dein schreiendsten Widerspruche, die Armuth stei¬
gert sich alle Jahr, der Handel sinkt immer tiefer, und doch hat man
nicht den Muth, sich zu einem lebendigen Gemeingeiste zu erheben.
Es ma die Schuld wohl nicht blos an dem Senate liegen, son-
dem gewiß eben so sehr an der Bürgerschaft, welche sich nicht über
vermoderte Corporationsprivilegien und Interesse!, zu erheben weiß
und allenthalben indifferent ist, wo es nicht auf die Steuern an¬
kommt. Daß eine schlechte Verfassung die Finanzen ruinirt, ist all¬
gemein anerkannt, hier scheint man Nichts davon wissen^ zu wollen.
Die Lübeck'sche Verfassung hemmt durch ihren zünftigen Egoismus
die freie Entwicklung aller Kräfte; der Industrie ist durch sie alles
Terrain genommen, und dem Handel werden die größten Hemmnisse
in den Weg gelegt.
Man klagte denn auch bei Tisch über den immer tiefer sinken¬
den Preis der Häuser, welche man für den zehnten bis zwölften
Theil ihres Werthes kaufen kann, und über die immer zunehmenden
Banquerotte. Das Alles sind Symptome einer gefährlichen Krank¬
heit. Es wäre doch traurig, wenn Lübeck, eine der ehrwürdigsten
Städte, die so manchem Sturme muthig getrotzt hat, ihre Souveräni¬
tät niederlegen und sich unter das Szepter eines Fürsten beugen
müßte. Herr Geibel konnte jo hübsch singen: „Es herrscht kein
Fürst, wo ich geboren." Im Volke freilich soll man nur Heil von
einem solchen Schritte erwarten, und mit Mißtrauen auf die eigenen
Staatsbehörden blicken.
Demungeachtet ist Lübeck eine sehr sehenswerthe Stadt, und ich
bereue es wahrlich nicht, ein paar Tage in ihr verweilt zu haben.
Schon die Umgebung ist reizend, sie trägt den üppigen, fruchtbaren
Charakter Holsteins. Man bekommt in Lübeck recht einen Begriff
von dein Städteleben des Mittelalters. Wie eigenthümlich wirkt die
Architektonik dieser engen „Gruben" auf ein Auge, welches den cha¬
rakterlosen Baustyl der breiten Berliner Straßen gewohnt ist. Unsere
Vorfahren waren derbe, ehrliche Leute, sie liebten das Maskiren
nicht, auch nicht an ihren Häusern. Darum wichen sie denn auch
in der Form ihrer Häusergiebel nicht von der natürlichen Form des
Daches ab, und bauten nicht in die Breite, nicht in'S Horizontale,
sondern empor, in ihren Häusern, wie in ihren Kirchen! Man muß
diese Lübeckschen Straßen mit ihren starken, emporstrebenden Trep¬
pengiebeln im Lichte der sinkenden Sonne sehen, — eS ist ein wun¬
derbarer, tief ergreifender malerischer Anblick!
Eine der großartigsten und interessantesten Kirchen Deutschlands
und überhaupt aller, die ich jemals gesehen habe, ist unzweifelhaft
die Marienkirche hier. Sie ist im gothischen Style gebaut lind
aus Backsteinen aufgeführt. Ihre Thürme von seltener Hohe sind
aber nicht, wie die Münster am Rhein, durchbrochen, sondern in der
bekannten Zuckerhutform; es scheint mir, als ob man dabei auf den
zerstörenden Einfluß der Seeluft Rücksicht genommen habe. Auch
dieses großartige Bauwerk eines frommen, katholischen Sinnes soll
der Sage nach, wie so manche andere Kirche Deutschlands, von ei¬
nem geprellten Teufel erbaut worden sein. Diese Kirche hat die
schönsten und belebtesten Tage Lübecks gesehen; — es wird kein Ave
mehr in ihren Capellen gebetet, es wirbeln seit drei Jahrhunderten
keine Weihrauchwolken mehr -durch ihre Hallen, aber man hat ihr
den katholischen Grundcharakter nicht nehmen können. Der Katholi¬
cismus, wie er sich hier ausprägt, lebt in dem heiteren Reiche der
Sinnlichkeit, der heiteren Kunst und des Reichthums. Der Lübecker
Dom dagegen repräsentirt die katholische Weltanschauung der Hie¬
rarchie. Hier schwingen sich die Säulen nicht hoch und luftig em¬
por, die Gänge sind eng und gedrückt, das Tageslicht bricht matt
durch die kleinen Fenster, man glaubt überall die Mönche umher-
schlürfcn zu sehen und ein ox nrotumlis zu hören. Allenthalben
Thüren, verborgene Winkel, wohin das Tageslicht nicht dringt. An
den Seiten die prächtigen und allmälig verfallenden Capellen der
ältesten Geschlechter Lübecks und der stolzen Bischöfe, die hier herrsch¬
ten und so oft mit der Stadt im Kampfe lagen. In der Mitte der
großen Halle erhebt sich ein riesiges Kreuz, und an den Seitendes--
selben hat sich ein Bischof mit seiner Beischläferin in Lebensgröße
aufstellen lassen. Auf den Grabstätten anderer Bischöfe sind eine
Menge geschwänzter und fratzcnschneidender Teufelchen angebracht; —
das ist der derbe Humor des deutschen Mittelalters!
Einen ganz eigenthümlichen Eindruck macht auch das Holstcin-
thor mit Iseinen dicken Seitenthürmen; es erinnert lebhaft an die
massiven Vertheidigungswerke des Mittelalters. An der Außenseite
sitzt der riesige Reichsadler mit dem Lübeckschen Wappen im Herzen,
über die ganze Fronte steht geschrieben: ^<me<»i-all-t <j„„>i et loris
pilx und zwischen den einzelnen Worten Stinten» Pult»til8«i»<;
I^idee.onsis. — Mail hat diese Ausdrücke des alten Lübeckschen
Selbstgefühls neulich wieder aufputzen lassen, und Ammen und Kin¬
der begassen die goldig flimmernden Worte!
Mir wurde das Vergnügen zu Theil, noch am letzten Abend
meiner Anwesenheit in Lübeck in die Gesellschaft eingeführt zu wer¬
den. Herr T..., dem ich ein Mal in Berlin eine kleine Ge¬
fälligkeit leisten konnte und der hier wohnhaft ist, hatte die Güte,
mich auf sein Landhaus einzuladen. Es ist hier allgemein Sitte,
für den Sommer „auf dem Garten" zu wohnen; wer kein Landhaus
als Eigenthum hat, der wohnt darin zur Miethe. Frau und Kinder
sind den ganzen Tag draußen, der Mann kommt Abends nach. Die
Gesellschaft, worin ich mich befand, war sehr liebenswürdig, und ich
bemerkte im Allgemeinen einen achtungswerthen Grad der Bildung,
namentlich unter den Damen. Man sagt in Deutschland allgemein,
daß die Lübecker die prächtigsten Kerle sind, aber sie müßten sich au¬
ßerhalb Lübecks befinden, und das schien sich auch mir zu bestätigen,
denn wir waren wirklich außerhalb Lübecks. Die alten Thürme der
Stadt wurden uns nur über den hohen Baumalleen des Walles
sichtbar. Der Ton verlor allmälig jene Steifheit und jene spanische
Grandezza, welche der norddeutsche einmal nicht ablegen kann, und
wurde dann durchaus ungezwungen. Man liebt hier Musik ganz
leidenschaftlich, und soll sich auch mehr und mehr mit Literatur be¬
schäftigen, seitdem mehrere Lübecker wie Geibel, Saß, Rose und an¬
dere von sich zu reden geben.
In allgemeiner Heiterkeit trennten wir uns am späten Abend,
nachdem schon viele beim Eintritt der Thorsperre gegangen waren.
Und ich beschloß am nächsten Morgen nach einer Schwesterstadt Lü¬
becks zu fahren, die ^auch noch an der Thorsperre leidet — nach
Hamburg.
Unser deutscher Nationalsinn, das heißt der zeitungsschreibende,
geberdet sich noch immer, als wäre er wirklich erst im Jahre 1840
auf die Welt gekommen. So kindisch und so taktlos, so blind und
so schwachbcinig. Die Zeitungsprcsse liefert täglich nur zu viele Bei¬
spiele. Sollte die Schuld blos an den Zeitungsschreibern liegen?
Oder liegt sie in den Verhältnissen und Rücksichten, die dem Natio¬
nalsinn keinen rechten Halt gewahren und, nach gewissen Gesetzen der
Strahlenbrechung, seinen graben Blick zum schielenden machen?
— Als die Griechen magst durch eine heftige Demonstration sich eine
längst versprochene Verfassung erzwangen, wurden zugleich die soge¬
nannten Bavaresen, d. h. die in Griechenland angesiedelten Deutschen,
aus dem Lande vertrieben. Die Deutschen, die im Heer oder in der
Verwaltung dienten, wurden abgesetzt, deutsche Handwerker, Oe-
konomen und Künstler, sogar Philhellenen, die in der Zeit des
Befreiungskrieges und nicht, wie Andere, aus Speculation nach Hel¬
las gekommen waren, sollten schleunigst nach Hause zurückkehren.
Diese Bavaresen waren ohne Existenz- und Reisemittcl und Griechen¬
land unterstützte sie nicht; ja der griechische Pöbel erlaubte sich gegen
Viele derselben Hohn und Mißhandlung der verschiedensten Art. Dies
Alles soll nicht bemäntelt oder entschuldigt werden; wir wollen sogar
annehmen, daß in die Berichte über diese Verfolgung der Deutschen
sich durchaus keine Uebertreibung eingeschlichen hat. Was thaten da
die deutschen Zeitungen? Wenige waren, die es nicht für ihre
Pflicht gehalten hatten, über den Undank, die Herzlosigkeit, die Treu-
losigkeit, die Abscheulichkeit des griechischen Volkscharakters über¬
haupt in lärmenden Worten herzufahren. Man sah aber vielen
dieser Griechenfeinde an, wie forcirt ihr Haß war; wie sie nur des¬
halb mit in die Verwünschungen gegen Hellas ausbrachen, weil sie
es für ihre Pflicht hielten. An eine andere Pflicht dachten sie
nicht. Der deutsche Sinn neigt von Natur zur Gerech¬
tigkeit, und es sieht darum mehr als komisch aus, wenn er sich
vornimmt, aus Patriotismus und Pflichtgefühl, ohne Leidenschaft
und Aufwallung, ungerecht — mit Bewußtsein ungerecht zu sein. Wir
glauben, die Presse konnte in dieser Sache sich viel nationaler und
doch vollkommen gerecht äußern.— Wir sind überzeugt, die meisten je¬
ner nationalen Eiferer werden, wenn sie an ihre Brust schlagen, be¬
kennen: Das Verfahren der Griechen war erklärlich und verzeihlich.
Sie haben nicht darum mit Aufopferung aller irdischen Güter den
langwierigen, verzweifelt blutigen Freiheitskrieg bestanden, um sich
nachher von Fremden schulmeistern zu lasten. Ist es nicht genug,
daß sie, in äußerer Politik, bald russischer, bald französischer, bald
englischer Diplomatie als Spielkarten dienen müssen? Sollten sie auch
im Innern sich von fremden Herren gängeln und commandiren, im
besten Falle mit sich experimentiren lassen? Man haßte den baierischen
Einfluß und sah die Deutschen als seine Träger und Stützen an.
Hellas sollte keine baierische Acquisition, sein König nicht durch eine
Unzahl von deutschen Staatsdienern gehindert werden, national-grie¬
chisch zu sein. Dieser über zehn Zähre lang verhaltene und unterdrückte
Unmuth mag bei seinem Ausbruch die politische Bedeutung der Ba-
varesen zu hoch angeschlagen haben. Gewiß aber ist, daß der baierisch-
griechische Beamte, wenn er an sich noch so wohlmeinend war, Grie¬
chenland nur auf seine büreaukratische Weise beglücken wollte und
keineswegs die patriotische Sehnsucht der Hellenen nach einer freien Ver¬
fassung theilte. Abgesehen von jenen edleren Philhellenen, die aus Be¬
geisterung für das alte Hellas sich den kämpfenden Griechen ange¬
schlossen hatten, dachten die wenigsten an etwas Anderes, als lediglich
ihr Glück zu machen; ja ein Bavarese meldete aus München (in
der Deutschen Allgemeinen), die deutschen Handwerker in Athen hät¬
ten sich verabredet, keine griechischen Lehrlinge anzunehmen, weil diese
zu schnell Meister würden und dann selbst ihre Landsleute in der er¬
lernten Kunst unterrichteten. Der deutsche Handwerker dachte natür¬
lich nicht an Griechenland: er wollte in dem uncivilisirten Lande
ein Monopol auf die Arbeit haben, wie in manchen slavischen Län¬
dern; er dachte an eine baierische Colonie. Dies ist kein Vorwurf,
soll aber zeigen, daß man Unrecht hat, hinterher von seinen schlecht
vergoltenen uneigennützigen Bestrebungen für die Bildung des grie¬
chischen Volkes zu sprechen. Ueberhaupt scheinen die' Altbaiern,
— und dies weiß man wohl in Deutschland am Besten — em so
tüchtiger Menschenschlag sie im Grunde sind, nicht die nöthige -Zart¬
heit und den Takt zu besitzen, um bei einem ehrgeizigen, auf seine
Nationalität eifersüchtigen Volke sich beliebt zu machen. Die Ent¬
fernung' der Deutschen war eine harte, von politischer Nothwen¬
digkeit gebotene Maßregel; um die Entlassener zu entschädigen oder
mit den Mitteln zur Heimkehr zu versehen, hatte Griechenland nicht
Großmuth, wahrscheinlich auch nicht — Geld genug; die Mißhandlungen
aber, die man dabei gegen die Deutschen verübte, waren von dem Pö¬
bel eines politisch aufgeregten, überdies „unreifen" Volkes zu erwar¬
ten. Genug, die Griechen thaten, was in einem solchen Falle jedes
andere Volk und manches, z. B. das spanische, in viel wilderer
Weise gethan hätte. —
Wir sagen nicht, daß die deutsche Presse sich bei dieser Einsicht
beruhigen sollte; sie hatte aber eine andere Pflicht zu erfüllen, wenn sie
von lebendigem Nationalgefühl beseelt war, als zu schwatzen und zu schim¬
pfen. Den Griechen, in ihrer politischen Gährung und Bedrängtheit von
allen Seiten, war der temporäre blinde Haß gegen die Ausländer zu verzeihen-
nicht so den Deutschen die lieblose Lauheit und Lässigkeit, wo es galt,
sich der Landsleute anzunehmen. Die deutsche Presse mußte darauf
hinweisen, was Deutschland zu thun hatte. Schon die Menschlich¬
keit verlangte mehr, als geschehen ist; auch wenn nicht Unschuldige
mit den Schuldigen gelitten hätten. Die Nationalehre verlangt, daß man
auch selbstverschuldete Mißhandlungen von seinen Brüdern in der Fremde
abwehrt. Die Bavarescn waren aber vielleicht persönlich ganz unschuldig;
sie büßten am Ende nur für die Unbeliebtheit des Ein¬
flusses, der sie nach Griechenland geführt und unter
seinen Schirm gestellt hatte.... Gab es keine Gesandten nord-
oder süddeutscher Cabinete in Griechenland? Wie hatte sich England,
wie Frankreich geberdet, wären Engländer oder Franzosen dort so
schlimm gefahren und säße ein englischer oder französischer Prinz auf
dem griechischen Königsthron? Doch ^-vielleicht machten diplomatische
Rücksichten für Otto's Krone eine nachdrückliche Intervention unan¬
genehm.— Warum übernahm dann nicht wenigstens Baiern oder ein
Verein deutscher Bundesstaaten die ungeheueren Kosten, welche eine
rasche Auslösung und Heimkehr der unbemittelten Bavaresen verur¬
sacht hätte? Konnte man der schmachvollen Misere nicht mit Einem
Schlage ein Ende machen? Mußte man den Griechen so lange das
Schauspiel deutschen Elends gönnen? Mußte man sich erst an die
Mildthätigkeit, die Großmuth, den außerordentlichen Einhcitssinn der
deutschen Brüder wenden, daß die Bettelcvrresponoenzen sich Monate
lang durch die Journale schleppten? Und diese Privatsubscriptionen!
als gälte es, zur Verherrlichung Deutschlands wieder ein Monument
zu errichten, das in zwanzig Jahren fertig werden soll. In Trieft
landeten ganze Schaaren Bavaresen, abgerissen, elend, hinfällig, aus-
gehungert. Die Zeitungen waren voll davon. Und König Ludwig gab
zu ihrer Unterstützung hundert Gulden. Das beweist nur, daß er
sich blos als Privatmann bei der Sache betheiligen zu müssen glaubte.
— An diese große Glocke zu schlagen ist der deutschen Presse nicht
eingefallen. Es ist freilich bequemer, zur Beschönigung des eigenen
Benehmens, den Haß gegen das undankbare, perfide griechische Ge¬
sinde! gewissermaßen als patriotische Pflicht auszutrompeten, wie ein
Münchner Correspondent der Deutschen Allgemeinen in letzter Zeit
gar fleißig gethan hat. Diese Pflicht erfüllt sich ja so leicht und zu¬
gleich treffen die Schmähungen ein „unreifes" Volk, das so frech
war, sich eine Constitution zu erzwingen und dem man dabei die
revolutionärsten, ordnungswidrigsten Absichten nachsagen kann — zwei
Fliegen mit einer Klappe. Das heißt Nationalgefühl!
Wir übergehen zu einem anderen, weniger bedeutenden, aber eben¬
falls charakteristischen Beispiel. Wir schätzen an Herrn Schuselka nicht
nur die gewandte Feder, sondern vorzüglich seine warme Liebe
und Begeisterung für nationaldeutsches Wesen. Um so mehr möch¬
ten wir ihn warnen, daß er sich in seiner publizistischen Einsamkeit
nicht in Einseitigkeiten verrenne. Er scheint manchmal nicht zu wis¬
sen, wie viel es geschlagen hat; seiner Polemik gegen die Uebergriffe
der panslavistischen Bewegungen kommt der Aufenthalt an slavisch¬
deutschen Grenzen in Oesterreich zu Gute. Nicht so in anderer Hin¬
sicht. Letzthin hatten wir ihn bald für einen Franzosenfresser gehalten.
Er berichtet über die Französische Komödie in Wien und freut sich,
daß die Kenntniß des Französischen unter den guten
Wienern abnehme. (?) Das sind hohle Worte. Wir wünschen,
daß die Wiener eben so gut Französisch lernen, wie Englisch oder Ita¬
lienisch, daß sie aber doch gute Wiener bleiben. Die Engländer trei¬
ben auch viel Französisch und französische Literatur, ohne darum Affen
Frankreichs zu sein. — Was wäre auch damit gewonnen? Unschuld,
das heißt Unwissenheit, ist keine Tugend, auch keine nationale.
Ein wichtiger Fortschritt manifestirt sich in Oesterreich durch das
Wiederaufleben des durch lange Jahre eingeschlafenen Municipalgeistes.
Der hiesige Bürgermeister, Herr Ritter von Ezapka, hat bei der Ne-
gierung ernstliche Vorstellungen gemacht über den Mißbestand, daß die
Stadt Wien jährlich gegen IM,V00 Gulden Münze für Arme an
die Regierung abliefern - müsse, ohne daß sie das Recht ei¬
ner abzufordernden Rechnungsablegung oder eine Stimme bei der
Vertheilung genöße. Auf diese Beschwerde ist durch allerhöchste Ent¬
schließung auf das Günstigste geantwortet worden, indem fortan die
Verwaltung der Armenhäuser dem Magistrat der Stadt zugestanden
wird. Noch mehr andere Geschäftsabthcilungcn sollen aus den Han¬
den der Regierung in die der Municipalität übergehen, und der über¬
mäßige Personalstand jener verkleinert werden. Das Erzherzogthum
Oesterreich, dessen Verwaltung bisher getheilt war (niederösterreichischc
und oberösterreichische Regierung) soll in eine zusammengezogen wer¬
den. Ökonomische Rücksichten, Ersparung überflüssiger Beamten sind
größtentheils die Veranlassung dieser Mafiregel, die aus dem Cabinette
des Baron von Kübeck ausgeht und von dem Grafen Kolowrat in
Bezug der erwähnten Rechtscrweiterung der Wiener Gemeindeange¬
legenheit, eine lebhafte Unterstützung findet.
Die Geschichte des unglücklichen Duells in Preßburg macht wahr¬
scheinlich, ehe dieser Brief zu Ihnen gelangt, schon die Runde durch
alle Zeitungen; indessen dürften einige Einzelheiten nicht ohne Inter¬
esse sein, um so mehr, als dieses Duell in mancherlei Einzelheiten
an die Haber'sche Sache erinnert. Der Graf Schönborn war ein im
schlimmen Rufe stehender Handelsucher und im großen Publicum
vorzüglich durch das Ereigniß bekannt, daß er vor einigen Jahren hier
auf dem Graben auf die übermüthigste Weise in die Eishütte hinein-
ritt, wodurch mehrere Menschen verletzt wurden. Das gehorsamst
ergebene Wiener Publicum rissen den Herrn Grafen vom Pferde und
prügelten ihn respectvoll durch. Das Duell entstand auf folgende
Weise: Der Rittmeister, Baron von Arnstein, und Graf A. wetteten
um 200 si., wer der beste Schütze in Wien sei. Graf Z. nannte
einen Schützen, der einen Zwanziger mit der Pistole von der eignen
Zähe wegschieße. Gras Schönborn wurde zum Schiedsrichter bestellt.
Der Schuß geschah; Schönborn entschied für Graf Z. und der Ritt¬
meister zahlte das Geld, warf jedoch die Bemerkung hin, des Schieds¬
richters Ausspruck sei nicht ganz unparteiisch, da er ein Anverwand¬
ter des Grafen I. sei. Daraus ein Wortwechsel und das Duell.
Vor dem Duell setzte Jeder einen Brief auf, worin er sich (für den
Fall, daß er auf dem Platze bliebe) als Selbstmörder bezeichnete.
Doch war Graf Schönborn seiner Sache so gewiß, daß er noch eine
Balleinladung für denselben Abend annahm. Die beiden ersten Schüsse
fehlten, die Secundärem wollten besänftigen und Baron Arnstein
wollte sich zufrieden stellen. „Ich brauche von keinem Juden Gro߬
muth. Lade," sagte Schönborn; er fehltejedoch wieder, aber der Schuß
seines Gegners traf ihn in's Herz. Arnstein ist von einer jüdischen
Familie (ein Anverwandter des Banquierhauses Arnstein und Eskeles)
aber längst getauft. Er ist nach Paris gegangen, soll aber nicht ver¬
folgt worden sein, da der vorgefundene Brief, in welchem auf einen
Selbstmord hingedeutet wird, den Lauf der Gesetze hemmte. ^
Dieses Duell und die neu eingetretene italienische Oper bilden
den Mittelpunkt der Konversation dieses Monats. Das erste Debüt
der Italiener war nicht glücklich, und wie sehr auch das Publicum
in seinem lang erwarteten und theuer bezahlten Vergnügen gestört
wurde, konnte es doch eine gewisse Schadenfreude gegen den Pachter,
den bürgerlichen Schneidermeister Balochino, nicht unterdrücken, dem
es statt des geistigen und künstlerischen Theils der Oper gerne jenen
anvertraut wissen möchte, der seiner Bildung und seinem Geschmack
bei Weitem mehr entspräche, nämlich den Zuschnitt der Garderobe.
Sein Geiz und seine Kunstgesinnung werden in Wien durch „balo-
chinisch" bezeichnet. Man freut sich allgemein seines zu Ende lau¬
fenden Contractes, namentlich da die hohen adeligen Kreise, die ihn
bisher hielten, mit dem längst herrschenden Urtheil des großen Pub-
licums endlich übereinstimmen.
In den literarischen Kreisen macht ein Gedicht von Grillparzer,
welches im Manuscript circulirt, Aufsehen. Es ist betitelt: Euri-
pides in Berlin und geißelt die Manie, die jetzt in Berlin gras-
sirt, mit strengen Worten. Euripides sagt darin zu den Berlinern:
Ich wage nicht, Ihnen mehr daraus mitzutheilen, da. Grillpar¬
zer sich weigert, das Gedicht drucken zu lassen wegen einer scharfen
Stelle, die darin gegen Tieck vorkommt, den er öffentlich nicht
kränken will aus Rücksicht für sein Alter. Der Schluß des Gedich¬
tes lautet:
Sie sehen, der Dichter der Ahnfrau und des Ottokar, obschon
er bereits zwei und fünfzig Jahre zählt, gehört in Gesinnung und
Liebe der Jugend und ihren Bestrebungen an und er, der in Sappho
und Medea den Alten Tribut gezahlt, statt zum griesgrämiger Straft
Magister der jüngeren Literatur zu werden, spricht ihr selbst warm
das Wort gegen die Capricen des Berliner Iland zone.
Nach und nach wird sich doch Alles machen; wir werden Reichs-
stände bekommen, Preßfreiheit, Geschwornengerichte — Herz, was be¬
gehrst Du? Nur muß man hübsch Geduld haben. Hat nicht der alte
Tieck auch sein Lebelang den Wunsch gehabt, seine Stücke auf der
Bühne ausgeführt zu sehen, und ist dieser Wunsch nicht auch endlich
zur Erfüllung gekommen? Gestern ist der gestiefelte Kater auf Befehl
des Königs über die Bretter gegangen und der alte Dichter ist glück¬
lich. So werden wir auch einst glücklich werden. Freilich hat der
greise Poet fast die Siebzig erst erreichen müssen, ehe ihm sein Her¬
zenswunsch in Erfüllung ging. Allein für eine ganze Nation sind
siebenzig Jahre eine Kleinigkeit und wenn wir nur nicht frü¬
her sterben, so erleben wir gewiß, daß unsere politischen Wünsche, die
wir uns jetzt als Märchen erzählen, gestiefelt und gespornt in Scene
gehen.
Wie die Ausführung ausgefallen? Wie eine Satvre, die vor
mehr als hundert Jahren geschrieben wurde, immer ausfallen kann.
Zum Glück für den Dichter und zum Unglück für uns schrieb er sein
Stück für eine Nation, in deren Geschichte dreißig Jahre so wenig
Unterschied machen, daß sie selbst am Ende eines dreißigjährigen Krie¬
ges nicht weiter ist, als am Anfang. Bei so kleinen Schritten, bei
dem schönen deutschen Wahlspruch: „Immer langsam voran", da paßt
heute noch Vieles) was vor dreißig Jahren paßte. Und so lachte man
denn über die verschollenen Witze des alten Herrn, von denen fast die
Hälfte noch mit ganz spitzigen Pointen stachen. Aber gerade weil wir
noch darüber lachen können, sollten wir nicht lachen. Uebrigens war
der gestrige Abend ein sehr interessanter. Da die Vorstellung nur
auf den Privatwunsch des Königs stattfand (im Concertsaale), so
wurden keine Billets verkauft, sondern nur solche Personen zugelas¬
sen, welche von der Intendanz Einladungsbriefe erhielten. So war
denn ein Publicum von etwa fünfhundert Personen zugegen, das aus
der geistigen Elite Berlins bestand. Keine Celebrität irgend einer
Art fehlte. Nur der Dichter lag kränklich daheim und ließ sich von
Act zu Act Berichte abstatten. Durch die Gegenwart des Hofes er¬
hielten manche Scenen des Stückes, wie z. B. die, in welcher der
„König" und die „Prinzessin" vorkommen, eine prägnantere Bedeu¬
tung. In der Karrikatur der Hofgelehrten mochte sich wohl Man-
cher der Anwesenden getroffen fühlen. Alexander von Humboldt, der
in der königlichen Galerie saß, lachte sehr viel! Der König selbst war
im ersten Act heiterer gestimmt, als im zweiten. (Man lese das
Stück nach.) — ' .
Im Ganzen machte das Stück den Eindruck einer Curiosttät.
Von einer Befriedigung oder inneren Ergötzung konnte nicht die Rede
sein. Ein Theaterdirector, der es sich einfallen ließe, den gestiefelten
Kater einem gewöhnlichen Publicum vorzuführen, würde schlimm an¬
kommen. Um dieses Schauspiel zu goutiren, gehört eben eine Aus¬
wahl von hochgebildeten Zuschauern, welche alle literaturgeschichtlichen
Anspielungen verstehen, und die nicht ungeduldig werden, wenn sich
der Dichter in einige bedeutungslose Privatspielereien verliert und pu«i
ftüstuin gegen die Abschaffung des Hanswursts und den Unsinn der
Zauberflöte dramatisch polemisirt. Was das Interesse des gestrigen
Abends hauptsächlich begründete, das war die Stellung des Publicums,
das, wie Hamlet in der bekannten Schauspielscene, seine Aufmerksam¬
keit zwischen dem Stücke und dem Könige theilte und in den Zügen
des letzteren immer forschte, welch einen Eindruck das letztere auf ihn
machte. Bei der derben Persifflage des Königthums, welche im ge¬
stiefelten Kater stattfindet, war diese Neugier sehr erklärlich. Der König
jedoch, weit entfernt, beleidigt zu sein, hat vielmehr dem Dichter, heute
Morgen ein eigenhändiges freundliches Billet geschrieben und dem
Herrn von Küstner seine Zufriedenheit über die glückliche Darstellung
melden lassen. Sollte sich darandieTheatercensur nichteineLchrenehmen?
Gespiele wurde mit einer Vortrefflichkeit und namentlich mit ei¬
nem Ineinandergreifen seltenster Art. Acht Proben wurden früher
gemacht. Acht Proben für ein Stück, welches nur ein Mal aufge¬
führt wird! Wie sehr wäre zu wünschen, man möchte nur die Hälfte
dieser Mühe auf Stücke verwenden, die auf dem Repertoir bleiben
sollen. Döring wirkte mit» er spielte den alten Böttcher. (Auch eine
Polemik pill-t t^lion. Wer von der jüngeren Generation kennt den
ehemaligen Dresdner Kritiker?)
Unsere Leser erinnern sich noch, daß wir in einer unserer letzten
Nummern von dem Unfug des Nachdruckes in den deutschen Jour¬
nalen sprachen und der Earlsruher Zeitung erwähnten, die seit vielen
Wochen schon ihr Feuilleton mit der Novelle „der Inquisitor"
nährt, die sie den Grenzboten nachdruckt. Wir hätten uns nicht be¬
klagt, wenn dieser Nachdruck einen Artikel von mehreren Seiten betrof¬
fen hätte. Wir wollen nicht knickerig mit unsern Eollegen abrech-
um, und wenn es ihnen an unserem Tische schmeckt, so mögen sie
immerhin etwas mit nach Hause nehmen. Wir wollen ihnen nicht
an die Taschen fühlen. Allein fünf volle Bogen, zwei ganze Num¬
mern unserer Novellenhefte — das ist denn doch zu viel! Warum
wir nochmals darauf zurückkommen, wollen wir sogleich sagen, Wir
fanden dieser Tage das deutsche Bürgcrblatt und lasen darin auf der
ersten Seite einen prächtigen Artikel gegen den Nachdruck voll Tu¬
gend und Moral, wie sie im Telemach nicht schöner zu finden ist.
Nun drehen wir einige Seiten um und finden — dieselbe Novelle
„der Inquisitor", die den Gaumen der Carlsruher Zeitung so sehr ge¬
reizt hat. Diese schönen fünf Bogen druckt das tugendhafte Bür¬
gerblatt in größter Gemüthsruhe uns gleichfalls nach. Die Mo¬
ral auf der Zunge — den Raub in der Tasche — ist das deutsche
Bürgertugend?--Da möge sich doch das deutsche Bürgerblatt
ein Beispiel an einem andern Journal nehmen, das nicht in Deutsch¬
land erscheint. Das erste Blatt, das ich kürzlich bei meiner Reise
nach Ungarn zu Gesichte bekam, war das Pesther Tageblatt,
ein dort sehr verbreitetes Journal in Folio, redigirt von Di-. Sieg¬
mund Saphir. Sogleich auf der Vorderseite dieses Blattes finde ich
die Novelle „der König und sein Narr" ein drei Bogen starkes Ei¬
genthum der Grenzboten. Der Verfasser Herr Dr. E. Dronte in
Berlin wird das Zeugniß geben, daß ihm seine Arbeit von uns
ehrlich honorirt wurde. Auch Druck und Papier sind wir nicht schul¬
dig geblieben. Mußte ich mich nicht geschmeichelt finden, daß das
Pesther Tageblatt diese kleinen Auslagen für sich zu benutzen so gütig
war? Allem damit begnügt sich dieses Blatt nicht, vielmehr treibt
es seine Gefälligkeit so weit, bald darauf meinen Artikel „der deut¬
sche Adel als Lcscpublikum" nachzudrucken^ Diesen Artikel hatte ich
am Schlüsse blos mit meiner Chiffre I. K. unterzeichnet. Das
Pesthcr Tageblatt hielt dieses jedoch für zu bescheiden. Um mich auf
meiner journalistischen Laufbahn aufzumuntern, druckt es an der
Spitze des Artikels meinen vollen Namen hin. Dadurch entsteht für
mich der Vortheil, daß die Leser jenes Blattes, die nicht wissen, daß
der Aufsatz aus den Grenzboten genommen ist, in dem Glauben sind,
ich habe den Artikel direct eingesendet und genieße der Auszeichnung,
zu den Mitarbeitern des Pesther Tageblattes zu gehören. Daß
dieses Wohlwollen für mich und für die Grenzboten kein vorüberge¬
hendes ist, dafür habe ich gleich darauf neue Beweise erhalten, indem
ich die Novelle „Liebesbriefe", welches das dritte Heft unserer Novel¬
len dieses Jahres füllte, in kurzer Zeit nachgedruckt sah, während aus
einer anderen Seite ein Artikel „Zur Charakteristik des deutschen Par¬
terres", welchen ich wieder blos am Ende mit meiner Chiffre bezeich¬
nete, abermals mit meinem vollen Namen an der Spitze als Origi¬
nalbeitrag vorgeführt wurde. Für so consequente Anhänglichkeit sage
ich hier meinen tiefgefühltesten Dank und bitte die löbliche Redaktion
des Pesther Tageblattes nur um Entschuldigung, wenn ich nicht in
Zukunft diesen Dank jedesmal erneuere, da ich leider dieses reichhal¬
tige und sehr interessante Blatt (die Leser werden gebeten, dieses in-
directe Selbstlob der Grenzboten gefälligst nicht zu merken) außerhalb
Oesterreichs nicht zu Gesichte bekomme.
— Von Hermann Püttmann sind (bei Otto Wigand in
Leipzig) „Tscherkessen- und Dithmarschenlieder" erschienen, die entschiede¬
nes Talent verrathen. Die Zusammenstellung ist interessant. Um
Freiheits- und Todesmuth der entnervten Gegenwart einzuhauchen,
besingt der Dichter zwei der verschiedenartigsten Volksstämme. Die
alten Dithmarschen waren wie die jetzigen^ ein Volk freier Bauern:
die Tscherkessen haben adelige Sitten und Gebrauche; jene sind Be¬
wohner der flachsten Ebenen, der Haide und des wüsten Seestrandes:
diese sind das Ideal eines Gebirgsvolkes. Die Dithmarschen haben
in ihrem Heldenmuth nichts Blendendes; es sind keine Raubvogel,
die in der Nahe des Himmels nisten, keine ritterlichen Wundergestal¬
ten wie die Herren des Kaukasus: ihre Kraft ist das stämmige, kalte,
trotzig grade und scharfe Wesen der alten Sassen, das »manchmal
nicht sehr flink und anmuthig, aber stets achtunggebietend ist. Diese
Eigenthümlichkeit hat Püttmann in den altdithmar'schen Kriegsliedern
und Schlachtgemälden sehr gut ausgedrückt."^
— Man kennt den Verfasser von „I^a liiissi« or I-i civilisation
Adam Gurowskn. Jene Schrift verhöhnte den gesunden Men¬
schenverstand mit so eiserner Stirn, daß man sie entweder für Ironie
oder den Verfasser für einen Heuchler halten mußte. Keines von
beiden scheint der Fall zu sein. Früher ein leidenschaftlicher Revolu¬
tionär, versöhnte sich G. im Exile mit der Idee, Rußland anzugehören,
erhitzte seine Phantasie mit den panslavistischen Gemälden von Ru߬
lands Wcltherrscherberuf und berauschte sich in dem chimärischen Trost,
sein Vaterland durch die allgemeine slavische Weltherrlichkeit für
sein individuelles Leben entschädigt zu sehen. Solche Träume sind
für eine polnische Phantasie verlockend, weil sie nur durch die ge¬
waltsamste Revolution in Erfüllung gehen könnten. In dieser
Stimmung schrieb G. jene Schrift. Es war ehrlicher Wahnsinn,
was aus ihm sprach. Darauf lebte er in seiner Heimath drei Jahre.
Hier verflog der Rausch; der tägliche Augenschein zeigte ihm, wie
russische Faust und russischer Fußtritt Polen zu der verheißenen Se¬
ligkeit vorbereiteten und er floh. Jetzt ist er in Breslau. — Es
wäre zu wünschen, daß auch Mickiewicz und seine Mitschwärmer eine
kurze Zeit in Rußland als ruhige Beobachter leben könnten.
Dos Wcltgcheimniß ist nirgendwo, c6 ist nicht hier
und nicht dorten;
Es schaukelt sich, ein unschuldiges Kind, in des
Sängers blühend Wt
enoren.
Immermann.
Wir denken oft an eine Vergangenheit, in der wir noch nicht
lebten, mit demselben Gefühl zurück, das uns bei der Erinnerung an
eine glückliche Kindheit beschleicht. Sehnsucht und Wehmuth machen
sich dabei unser Herz streitig; Sehnsucht nach einer Zeit, die wir
ohne die Bedrängnisse und Bedürfnisse der unseren wähnen, Weh¬
muth, daß wir uns nicht aus den Kämpfen und Drangsalen der
Gegenwart in die stille Beschränkung jener Tage zurückretten können.
Wenn wir uns mit einem Zustande unbefriedigt fühlen, spiegelt uns
die Phantasie von allen uns fernen Verhältnissen nur die Schönheit,
nicht die Schrecken ab, wie wir von einer Landschaft aus der Ferne
nur das reizende Thal und die bewaldete Höhe, nicht die Schluchten
und Abgründe erblicken.
Suchen wir eines jener Bücher hervor, die vielleicht eine schon
begrabene Frauenhand zum letzten Male durchblätterte und die den
Titel: Gedichte von Kleist, Hölty, Gleim, Stolberg ze. führen. Zwar
werden wir anfangs ein wenig erschrecken vor dem sich drohend auf¬
richtenden Zopf, doch wenn wir uns mit ihm vertraut machen, finden
wir in jenen Poesien immer einen Bach, zu dessen Rauschen es sich
gut träumen, eine Hütte, in der es sich gut lieben, und selbst einen
Schmerz, in dem es sich leicht trösten läßt. Glückliche Zeiten, die wie
ein wenig bewegter See nach jedem Sonnenstrahl und jeder flatternden
Libelle eine spiegelnde Empfänglichkeit boten! Glückliche Lyrik, die
ihre von Blumen umrankten Pforten dem argen Friedensstörer noch
nicht erschlossen hatte, der in jeder Frucht den Wurm, in jeder Blüthe
den Staub, in jedem Leben den Tod findet, dem bösen Dämon, der
alle Qualen heraufbeschwört, dem Gedanken! Glückliche Dichter,
die noch in allen Herzen die Saiten gespannt fanden, die sie ewig
am liebsten berühren werden, — Liebe und Frühling! Ein blauer
Himmel wölbt sich über uns, durch den die blcichbesungne Luna
schwimmt, ein rothes Dach lugt aus dem Grün hervor, wir sind rosen¬
bekränzte Schäfer und wenn wir nur glücklich sind, was liegt daran,
daß wir unter den Schafen wandeln!
Aber ein unerwarteter Gast reitet plötzlich mit schweren Schrit¬
ten über unser schönes Thal. -Der Himmel wird finster und sturm-
gepeitschte Wolken lassen unsere frommgläubigen Blicke fast verzwei¬
feln an der Wiederkehr seiner blauen Heiterkeit; ein neuer Erlöser
im dreifarbigen Gewände geht predigend durch die Welt, ein neuer
Judas verräth ihn um dreißig Königreiche, auf unserem friedli¬
chen rothen Dach sitzt der wilde rothe Hahn und die schafselige Ly¬
rik verstummt ganz vor dem Trompetenton der Geschichte, bis sie zum
Bewußtsein kommt, daß sie, in solchen Tönen sprechend, noch das Ohr
der Zeit offen finden wird. Nun besingt sie nicht mehr die „süße,
heilige Natur" und die „goldene Zeit der ersten Liebe", sondern die
Lust der Schlacht und den Tod des Helden — „des Deutschen Va¬
terland" und Lützow's „wilde verwegene Jagd". — Dies waren die
ersten (?) auf den Moment berech reden, politischen Gedichte der deut¬
schen Lyrik. Sie blieben Gedichte, trotz der Politik, weil sie sich
an diese nur lehnten, ihren eigentlichen Stoff aber in allgemein
menschlichen Zuständen, im Muth, in der Begeisterung fanden; sie
blieben lyrisch, weil sie sich von der Empfindung nicht getrennt, son¬
dern nur die friedlichste und seligste Beschränkung derselben mit ihren
stürmischsten, aber edelsten Affecten vertauscht hatten. Die Liebe zum
Weibe mußte in jenen Liedern der Liebe zum Vaterlande weichen,
und das Erwachen der schlafenden Natur schien nicht so großartig,
Wie das Erwachen eines schlafenden Volkes. Das Gefühl für Vater
land und Freiheit aber ist kein gelegcnheitlicheS, sondern wie die Liebe
zum Frühling ein ewiges, in der Menschheit begründetes und
gehört der Poesie an, weil es selbst Poesie ist. So bilden jene Lie¬
der den schroffsten Gegensatz zu denen von heute, die nicht mehr po¬
litische Gedichte, sondern erdichtete Politik sind, die nicht mehr im
gesunden, freudigen Gefühl die Begeisterung für etwas bereits in der
Stimmung des Volkes Vorhandenes oder durch seine allgemeine Er¬
hebung Verwirklichtes aussprechen, sondern in krankhaft gereiztem
Gefühl des Aergers und Zornes über etwas noch nicht Vorhandenes
jene Stimmung und allgemeine Erhebung erst hervorbringen wollen
und somit, einen praktischen Zweck verfolgend, mit den Forderungen
der Poesie, die sich selbst einziger und höchster Zweck.ist, im Wider¬
spruch stehen.
Der Friede kehrte in Deutschland zurück, aber die Befriedigung
hatte aufgehört. Hätten die Deutschen Napoleon betrachtet, wie der
Fromme sein Schicksal, als ein gottgesandtes, das, so schrecklich es
anfangs auftritt, am Ende immer zum Guten führen muß, hätten sie
das Selbstbewußtsein, das er in der Nation wider Willen weckte,
gehörig benützt, so wäre er ihnen ein Bileam geworden, der fluchen
wollte und segnen mußte. Dem war nicht so, aber trotzdem ließ sich
der einmal zur That heraufbeschworene Geist des Volkes nicht völ¬
lig mehr bannen und wenn er nur einzelne und wirkungslose Mani-
festationen möglich machte, so ist das erklärlich, da ein Gefangener
und Geknebelter auch nur einige schwache Hilferufe ausstoßen kann.
Die tiefe Trauer der Besseren, daß die Kraft der Nation, zu deren
Bewußtsein sie eben gekommen, wieder gelähmt werden sollte, konnte
durch die bis zum Ueberdruß aufgefrischte Erinnerung an die gesche¬
henen Großthaten nicht verscheucht werden.
Die Lyrik aber, die nicht mehr mit blinden Nachtwandlerschritten
über die Zeit hinschwebte, sondern sich wachend und bewußt an ihre
Bewegungen geschlossen und auf ihre gefährlichsten Höhen gestellt
hatte, konnte von der herrschenden Stimmung, vom Schmerz, der
Deutschland durchzitterte, nicht frei bleiben und so floß, als Uhland
vom guten alten Recht und sein „Vorwärts" sang, die erste Quelle
jener Lyrik, die auf dem Parnaß der Gegenwart ihr hochrothes, vom
Winde des Augenblicks bewegtes Banner schwingt. Was aber der
Lyrik eigentlich den Charakter gab, den sie seit einem Decennium be-
hauptet, sind zwei mächtig wirkende Ereignisse, ein historisches und
ein poetisches, die Julirevolution und Lord Byron. Das historische
Ereigniß, eine so großartige That, daß sie fast Poesie, das poetische
eine so großartige Poesie, daß sie fast Geschichte geworden! Freilich
ist diese Geschichte eine sich so wenig nach Außen manifestirende, so
tief im Bewußtsein der Zeit, im augenblicklichen Leben der Generation
ruhende, daß ein künftiges Jahrhundert zur richtigen Auffassung der¬
selben kaum in der Literatur der Gegenwart einen vollkommen siche¬
ren Anhaltspunkt finden wird. Wie sollte auch der geheimnißreiche
Schmerzenszug, der durch die Physiognomie unserer Zeit geht, von
Einem verstanden und nachempfunden werden, der nicht mit uns
lebte und dem seine Zeit vielleicht glücklichere und friedensbeseligte
Züge zu bieten hat?
Es ist die Sendung großer Geister, in sich eine Entwickelung
darzustellen, zu der die Menschheit erst gelangen soll, für die ihr aber
der Sinn noch nicht erschlossen; es ist das Schicksal jener Geister,
als unverstandene Propheten durch die Welt, als Opfer dieses Un¬
verstandes aus der Welt zu gehen. So erscheint Lord Byron als
die Vorhersagung einer ihm unmittelbar folgenden Zeit, die er viel¬
leicht nicht verursachte, aber jedenfalls unbewußt verkündete. Wir sehen
in ihm einen Gottgeist mit dem für ihn schauerlichen Loos ringen,
Mensch geworden zu sein. Wie der Horizont des sichtbaren Him¬
mels sich erdenwärts zu wölben und an den wirklich dastehenden Ber¬
gen eine Stütze zu finden scheint, so verlangt der Mensch, daß der
Himmel, den er als Traum, Wunsch, Ideal oder mit einem Wort
M Poesie in seinem Innern trägt, sich zur Erde neigen und am
wirklichen Leben eine Basis gewinnen könne. Je klarer, je allum¬
fassender aber der Seelenhimmel jenes großen Dichters hervortrat,
desto weniger vermochte die schwache Wirklichkeit diesen Himmel zu
tragen, dessen Sterne von den Sümpfen der Erde nur trüb und halb
erloschen zurückgespiegelt wurden. Schon die ersten Jugendtäuschun¬
gen, in alltäglichen, leicht mit der Welt versöhnten Gemüthern kaum
eine Spur zurücklassend, wirkten auf Lord Byron wie die Aufforder¬
ung zum schrecklichsten Kampf mit dem Leben, das er in die engen
Grenzen von Wiege und Grab einschloß, um, auf keine Zukunft
hoffend, das Dasein in seiner ganzen Gräßlichkeit zu fühlen. Ihm
genügte der Vorzug nicht, den 'der Dichter vor anderen Sterblichen
voraus hat, seinen Träumen dadurch eine Art Realisirung zu geben,
daß er sie aussprechen kann; er hatte sich eine in allen Theilen voll¬
endete Gedankenwelt gemeißelt, brach aber in Hohn und bittere Kla¬
gen aus, da er, unglücklicher als Pygmalion, seine Galathea nicht
lebendig werden sah. Die wirkliche Welt schien ihm nun ein Spott¬
werk des Teufels und die Poesie nur der Beweis, daß es eine Welt
geben könnte, die ein Gott erschaffen hat. Nur wenn die Natur in
ihrer unbegriffenen Große und Einfachheit mächtig zu ihm sprach, zuckte ein
lichtes Lächeln über das. Angesicht dieses gefallenen Engels. Die fast
schauerliche Hohe, zu der er sich erhob, hätte der Weg zum freudigsten
Einzug in den Himmel der Versöhnung sein sollen und war ihm
nur das Mittel zum schmerzhaftesten Sturz auf die Erde zurück. Zu
jenem durch alle Ahnungen seiner Dichterseele emporgehoben, auf
diese zurückversetzt durch seine Liebe zur Menschheit und die sinnlich¬
sten Begierden seines Menschseins, schwankte sein Herz zerrissen
zwischen beiden; zu himmlisch für die Erde, zu irdisch für den Himmel.
Wer erkennt darin nicht das Vorbild einer Periode, die wir
noch nicht ganz hinter uns haben, die der Zerrissenheit und des Welt¬
schmerzes? Die äußeren Typen des Schmerzes, die zergrämtcn Mie¬
nen und die langgewachsenen Bärte, wurden von der Mode sanc-
tionirt und von der Satyre als Thorheit gegeißelt: die tiefe, am
Herzen der Zeit fressende Wahrheit dieses Schmerzes aber kann von
der Satyre nicht erreicht, von der Mode nicht in ihren Kreis gezo¬
gen werden und wird erst aufhören durch eine große Geschichte,
durch Revolutionen, die wir zu erwarten haben.
Unser Jahrhundert war bis jetzt mehr ein einreißendes, als ein
aufbauendes; es scheint dazu bestimmt, den Grund zu reinigen, auf
dem ein künftiges Jahrhundert seinen Prachtbau aufführen will, und
diese Arbeit durch Wegräumung verjährten Schuttes vorzubereiten.
Immer mehr stürzen, wenn auch nicht in der materiellen, doch in der
intelligiblen Welt die Säulen alter Institutionen, die Gebäude lang
gestandener Glaubenssysteme ; die Vielen aber, die in diesen Gebäu¬
den Schutz und eine beschränkte Sicherheit fanden, irren nun un¬
glücklich und obdachlos umher, noch nicht daran gewöhnt, unter
„freiem Himmel" zu liegen. Die Seelen sind aufgeregt, in Sturm
gesetzt und voll des lechzender Dranges nach einem geistigen Oel,
das sie beschwichtigen soll. Die gesteigerten Anforderungen des phy¬
sischen Lebens aber, die gehäuften materiellen Bedürfnisse, die bei
den Meisten das ganze Leben selbst in Anspruch nehmen, lassen die¬
sen Drang nicht zur Befriedigung gelangen. So schwanken Alle,
die durch die Vernichtungskämpfe der Zeit aus ihrer sicheren Ruhe
geschreckt wurden, gleich Lord Byron zerrissen zwischen Himmel
und Erde, ohne sein Talent, ohne gleich ihm dem Schmerz eine
Melodie geben zu können, die das Ohr der Welt zum Lauschen, das
Herz der Menge zur Theilnahme zwingt. So fühlen Alle, die mit
der Zeit kranken, ohne, ihr voranschreitend, durch eigene Entwicklung
genesen zu können, ein tiefes, unenträthselbares Weh, aber wie Säug¬
linge können sie nur weinen, nicht nenne.n, was sie schmerzt und
was ihnen Noth thut.
In der Literatur führte der Schmerz, den die Welt dem Indi¬
viduum verursacht, zum Schmerz, den das Individuum um die Welt
selbst empfindet. Die Träger dieses eigentliche,: Weltschmerzes in
seiner Erhabenheit sind die edelsten Erscheinungen unserer Zeit, wir
nennen nur: G. Sand, Lammenais, Ludwig Börne. Der deut¬
schen Lyrik aber wurde die Lord Byron'sche Zerrissenheit erst durch
Heine zugeführt, dessen Muse, weil sie die Thränen schon verweint
hat, mit höhnisch lachendem Munde weint. Demnach erscheint das
Weh in seinen Gedichten, an kleinliche Liebesangelegenheiten geknüpft,
fast wie eine Verzerrung, wie eine Karrikatur der Lord Byron'schen
Größe. Näher an die eigentliche Literatur des großen Briten rückte
Nikolaus Lenau. Die Weltgeschichte des Schmerzes ist in seinen
Dichtungen mit so erschütternden Tönen wiedergegeben, daß das stol¬
zeste und resignirteste Gemüth seine Verwandtschaft mit dem allge¬
meinen Weh der Menschheit und der Natur herausfühlen muß, wenn
es sich in diese Lieder versenkt, die aus einem schmerzlichen, durch die
Schöpfung gehenden Riß hervorzuquellen scheinen. Wenn Byron
größere Bewunderung erweckt, so ist es, weil er mehr künstlerisches
Talent besaß und seine Individualität episch und dramatisch verar¬
beiten konnte, was Lenau nicht vermag, der nur die äußere, sichtbare
Natur, aber diese ohne Gleichen darzustellen weiß. Dieses lyrische,
passive, weibliche Element in ihm, das mehr klagend duldet, als sich
höhnend auflehnt, rechtfertigt die witzige Bezeichnung, die ihm ein
Kritiker beilegte: die Schwester Byron's. Lenau blieb ziemlich iso-
lire auf dem Parnaß, weil seine Weise nicht Manier und deshalb
nicht so leicht nachzuahmen war. Heine aber wurde beinahe zur
Schule, aus der kein Meister hervorging; denn aus dem ganzen
Heer seiner Nachahmer ist ihm Keiner zur Seite gestellt worden.
Indessen bildete sich, hauptsächlich von Anastasius Grün's glänzendem
Beispiele verlockt, eine andere Schaar gewappneter Sänger, von de¬
nen jedoch die Meisten den Zorn für eine Muse und die Erbitterung
für eine Begeisterung hielten. Die Julirevolution nämlich, die wir
oben als von so großem Einfluß auf den Charakter der deutschen
Lyrik bezeichneten/hatte für Deutschland weitgreifendere Wirkungen
als für Frankreich, dem sie sogleich ein politisches Resultat gab, wäh-
rend sie bei uns die schreiendsten Wunden wieder aufriß und die
stürmischsten Forderungen rege machte, ohne jenen eine gänzliche Hei¬
lung, diesen eine vollständige Befriedigung zu geben. Die politischen
Gedichte, vom Blut jener Wunden, vom Schrei jener Forderungen
erfüllt, machten sich geltend und wateten tiefer, als eS der zarten
Gesundheit der lyrischen Poesie zuträglich ist, in den unsaubersten
Pfützen der Zeit. Unbekannte Dichterlinge liefen von allen Seiten
herbei, ihren Namen durch die willkommene Lärmtrompete des politi¬
schen Liedes auszuschreien, Andere schlössen sich mit großem Talent
und in wirklicher Begeisterung an, um am Ende das Talent genoth¬
züchtigt, die Begeisterung erloschen, höchstens durch künstliche Mittel
angefacht zu sehen. Es ist immer schrecklich, sein eigenstes Selbst,
die Essenz seines Wesens, weil man sie an den Wagen der Zeit
knüpfen wollte, am Ende von ihren fortrollenden Rädern spurlos
zermalmt zu wissen. Und Herwegh, die Nachtigall als Feldtrompe¬
ter, wird an diesem Schicksal zu Grunde gehen, wenn er sich nicht
von dem Fluch, der ihn an den Tageslärm fesselt, losreißen kann,
um sich in die verborgenste Einsamkeit seiner Seele zu flüchten. Er,
der vielleicht durch sein ernstes Talent dazu bestimmt gewesen
wäre, die Zeit einer neuen Entwickelung entgegenzuführen, wird sich
endlich dazu verurtheilt sehen, allen ihren Bewegungen wie ein ge¬
duldiges Lastthier nachzulaufen.
Und der Zweck der heutigen Lyrik? Die Trompeten von Jericho
sind verloren gegangen und vor dem Trompetenton unserer Lyrik
wird keine einzige finstere Mauer einstürzen. Je ausschließlicher in
unseren Gedichten die Freiheit besungen wird, desto mehr ist zu
fürchten, daß die Freiheit immer ausschließlicher — zum Gedichte
werde 5).
Die politischen Gedichte der Franzosen und Engländer, insofern
sie Poesien zu sein Anspruch machen, lehnten sich immer an fertige
Zustände, an Geschehenes oder der Geschichte Angehörendes, an Er¬
eignisse und Thaten, die, wenn auch noch nicht in allen ihren Welt-
lichen Folgen, doch als einzelne Erscheinungen für sich abgeschlossen
und vollendet dastanden, denn über dem Unfertigen und erst Werden¬
den, das noch der lärmenden Arbeit des Tages und stündlichen Ver¬
änderungen unterworfen ist, kann die lyrische Poesie, die doch im
Grunde eine reflectirende ist, nicht ruhig und beschaulich schweben,
sie wird noch befleckt und erstickt vom wirbelnden Staub, den die
irdischen Kämpfe aufwühlen. Nur die Geschichte, nicht die Po¬
litik kann zu lyrischen Gefühlen anregen, nur aus dem Fertigen
und darum Ewigen können sich für das Individuum Schmerzen
und Jubel in jener vom Erdenqualm nicht getrübten, vom Tages-
geräüsch nicht übertönten Harmonie entwickeln, die wir Poesie nen¬
nen. So gab die unglückliche Unterjochung Polens nach seinem hel¬
denmütigen Aufstande einen dankbaren und viel ausgebeuteten Stoff)
denn nicht Freiheitsgedanken, — deren eindringlichste Sprache
weder Reim noch Lied, sondern der Seufzer aus der gepreßten Brust
des Volkes ist — die Thaten im Namen der Freiheit standen vor
der Seele des Dichters, Thaten, die von dem Gottgeist zeugten, der
die Brust der Menschheit schwellt und die den Donner des Wortes
für die Nachwelt brauchten, als der Donner der Schlacht für die
Mitwelt verhallt war. Und ein schöner Beruf der Poesie war es,
die Thräne, die damals der Genius der Menschheit weinte, in ihren
Busen aufzunehmen und aus der trostlosen Wahrheit der Geschichte,
die von nutzlos vergossenem Blute spricht, das alle Wellen des
schwarzen Meeres nicht von des Drängers Hand wegwaschen wer¬
den, die erhabenere Wahrheit abzuleiten, daß jenes Blut, wenn es
auch keinen materiellen Sieg errang, nicht vergebens geflossen,, son-
dem die Völker der Erde im Bewußtsein ihres Rechtes bestärkte und
somit die Menschheit einen Schritt weiter brachte, auf dem harten
Wege, den sie zu gehen hat.
Während sich aber hier die lyrische Poesie an der Poesie der
That entzündete, scheint man in Deutschland einen umgekehrten Weg
einschlagen zu wollen; das Lied soll eine That wecken, die am Ende
weniger etwas Poetisches, als etwas Nothwendiges wäre, nämlich
die Aufhebung von Schmach und Ungerechtigkeiten, die schwer aus
den Fortschritt der Nation drücken. Dafür zu wirken gehört dem
kräftigen Nednerwort an, insofern das Wort überhaupt da¬
für wirken kann. Es ist ein schlimmes Zeichen, , daß wir
unter dem nun verblichenen jungen Deutschland, das sich eine ähn¬
liche Aufgabe setzte, wohl Viele hatten, die sich, gleich Heine, ein
geistreiches Spiel daraus machten, unsere inneren Erbfeinde mit
zierlich neckenden, aber im Grunde unschädlichen c-oufotti zu bewer-
fen, während wir den Mann entbehren, der wie Börne, ohne Ruhm¬
sucht und Selbstliebe, nur erfüllt vom heiligen Eifer für das Recht,
die ermüdende und aufopfernde Arbeit unternehmen würde, dem
Volke zum Bewußtsein seines Berufes zu verhelfen und mit Liebe
und mit jenem geweihten Zorn, den die Liebe gibt, jeden Schritt sei¬
ner tagsgeschichtlichen Bewegungen zu begleiten und zu bewachen. Be¬
sing en aber darf man die Freiheit erst, wenn man sie hat, sie muß
die rechtmäßig angetraute Genossin eines jeden Volkes sein; und ist
sie durchgegangen, so heißt es nur die Rolle eines lächerlichen Ehe¬
mannes spielen, wenn, man, statt mit Schwert und Kolben dreinzu-
schlagen, bis man sie wieder hat, sich in poetische Liebesklagen ergießt: wie
glücklich ihre Reize machen könnten, wenn man sie nur wieder hätte.
Dennoch ist weder der Wunsch noch die Möglichkeit vorhanden,
daß die deutsche Lyrik zum gedankenlosen Lallen ihrer Kindheit zu¬
rückkehre, sich empfindungstrunken wieder ganz in den Mai und die
erste Liebe versenke und ferne vom Geräusche der Zeit einsame, wenig
beachtete Pfade wandle. Im Gegentheile, je weniger unsere Zeit von
äußeren Thaten und Ereignissen, je mehr sie von socialen Jdeenent-
wtcklungen bewegt, ja erschüttert wird, desto tiefer greift sie in die
wichtigsten Interessen des Individuums ein, dessen Subjektivität doch
immer, die Urquelle der Lyrik ist. Es wird kaum Einen geben, der
nicht an eine der Fragen, die sich gegenwärtig zur Entscheidung drän-
gen, eine Bedingung seines eigenen Daseins geknüpft fände, nicht bei
den Wunden der Zeit sein eigenes Herz bluten fühlte. Auf diese
Weise trägt Jeder schon durch sein Leben blos zur Geschichte der Zeit
bei; mag er nun unbewußt sich von ihren Strömungen fortreißen
lassen, oder durch eigene Kräfte stehend, das ihm vom Leben und der
Zeit Gebotene in sich selbst entwickeln, lange ehe es zu weltge¬
schichtlicher Lösung kommt. Diese Selbstentwickelung aber, das rast¬
lose Arbeiten an der Vollendung der eigenen Seele ist heute die
Sendung, die Religion eines Jeden, der es rechtfertigen will, daß er
Mensch geworden; und beneidenswert!), wem die schaffende Kraft ver¬
liehen, die einzelnen Stufengänge seiner Entwickelung im Wort fest¬
zuhalten, als Kunstwerk darzustellen. So wird der Glaube wieder¬
kehren, daß der Dichter, und nur der lyrische ist es in vollster Wahr¬
heit, ein erwählter Prophet sei; so wird der Dichter, über der Zeit
schwebend, dennoch ihr ewig angehören, weil er ihr den verklärenden
Spiegel seiner Subjektivität vorhält, in welchem sie ihre Strebungen
erfüllt und ihre Kämpfe ausgeglichen sieht.
Es scheint uns hier nothwendig, den Endpunkt anzudeuten, auf
den die Bewegungen der Zeit, ja die Fortschritte der Menschheit hin¬
wirken, und den der Dichter, ihr voranschreitend, erreicht haben muß
in seinem Denken, ehe ihn die Welt körperlich in ihren Ordnungen
und Einrichtungen besitzt. Wir können ihn mit einem Worte bezeich¬
nen, wenn wir sagen, daß die Philosophie, die in .Hegel einen Ab¬
schluß gefunden zu haben scheint, darauf hinweiset, daß sich aus dem
Schutt veralteter Institutionen, die nur noch von der physischen
Kraft, die den Stumpfsinn immer begleitet, aufrecht erhalten werden,
daß sich aus Heidenthum, Judenthum und so weiter endlich das
Geistthum entwickeln müsse. Das Christenthum, die glaubensvolle
Versenkung in eine Liebesoffenbarung, hob die Empfindung auf
eine Höhe, die der Begriff noch nicht erklommen hatte, denn Chri¬
stus war der empfindende Hegel, wie Hegel der denkende, begreifende
Christus war. Den Begriff aber, als allgemeine menschheitliche
Ueberzeugung, die im Staate zur That wird, in sich aufzunehmen,
ist die Aufgabe der Welt, und den Weg dahin zu bahnen, die der
Literatur. Fühlt sich aber gegenwärtig die Philosophie, wie es scheint,
dazu berufen, die einsame Stube des Denkers zu verlassen, um prak¬
tisch in das Leben der Völker einzugreifen, so mag sie auch ihre
Sendung verstehen und, zum Volke heruntersteigend, auf seine Bil¬
dung wirken, indem sie sich seinem Verständnisse anschmiegt. Denn
nie wird etwas für das Volk gewonnen sein, so lange es nicht fähig
ist, selbst darnach zu greifen; was ihm geschenkt wird, besitzt es nicht,
nur was es sich selbst errungen hat, ist sein Eigenthum.
Ob die Menschheit jemals zu jenem Endpunkte gelangen
wird, ob nicht vielleicht ihr Bestehen daran geknüpft ist, daß sie ewig
nach diesem Ziele schreite, wird stets unentschieden bleiben; für un¬
seren Zweck genügt es, auf jene Einzelnen hinzuweisen, die es durch
die lyrischen Ausbrüche einer entzückten und gotttrunkenen Seele kund
geben, daß sie sich zur Höhe des Geistthums emporgeschwungen ha¬
ben und es will uns bedünken, daß wir mit ihnen die neue Hedschra
der deutschen Lyrik beginnen können.
Zu jenen Einzelnen aber gehören vor Allen: Bettina und Fried¬
rich von Sattel,
Die Entwickelung von der Empfindung zum Begriffe, die wir
oben als die der Menschheit nothwendige, bezeichnen wollten, spiegelt
sich auch im Seelenleben deö Einzelnen ab. Jedem Menschen ward
eine Sendung, die sich ihm in der Liebe dunkel lind nur halbver¬
standen ankündigt, die er aber, indem er die Empfindung zum Begriffe
erhöht, im Geiste klar und selbstbewußt zu vollenden hat. So ge¬
langte anch Bettina erst durch das stürmisch aufgeregte Meer der
Empfindung zur ruhigen und kalten Polarhöhe des Gedankens. Das
Gefühl strich, wie ein belebender Frühlingshauch, über alle Keime des
Göttlichen in ihrem Gemüthe hin und entfaltete sie zur hellen Blüthe;
und die Gewalt der Leidenschaft zerbrach die Muscheln, in denen die
reinsten Perlen ihrer Seele verborgen waren. Der Gegenstand, dem
sie diese Blüthen und Perlen zu Füßen legte, war es nicht, der das
Gefühl, das sie dazu trieb, in ihr erweckt hatte. Dieses Gefühl war
eine nothwendige Consequenz ihrer Natur, sie wandte es dem Ersten
Besten zu, und nur ein Zufall erschien es, daß dieser der Erste und
der Beste war. Sie sprach nicht in ihren Briefen, sie sang, sie weinte,
sie lachte; nur der Ausdruck der Empfindung, nicht der bewußte,
geistiger Erkenntniß stand ihr zu Gebote, in rhythmischer Raserei um
tanzte sie das Bild, auf das sie die glühendsten Entzückungen über¬
trug, und wenn sich unter die Iubelgesänge ihres Herzens tiefsinnige
Offenbarungen mischten, so waren es eben die willenlos und unde
wußt ausgesprochenen eines „Kindes", dessen Wesen noch durch¬
drungen ist von einer paradiesischen Lauterkeit und der Weihe einer
GotteShcimath, aus welcher wir Alle stammen, von der aber das
Kind noch nicht so, lange getrennt ist als wir.
Doch allmälig begannen die Wellen der Empfindung sich zu
legen und nun war es die Aufgabe des Geistes, die von ihnen aus¬
geworfenen Schätze zu sammeln und sich zum Eigenthum zu machen.
Der willenlose Trieb zum Erhabenen, den die Natur dem kindlichen
Gemüthe geschenkt hatte, mußte zur Erkenntniß gesteigert, vom Geiste
selbst erkämpft und errungen werden, Und es ist ihm gelungen,
und welche Siegeskrone er sich selbst geschmiedet und aufgesetzt, da¬
von zeigt das lyrische Gedicht in Prosa, das an den König gerich¬
tet ist! Gleicht es nicht einer schönen Hand, die sich liebreich aus¬
streckt, um Jenen, die sich nicht durch eigene Kraft auf die Höhe des
Geistthums schwingen können, freundlich hinaufzuhelfen? Ist es
nicht begreiflich, daß sich diese hilfreiche Hand zuerst Demjenigen
entgegenstreckt, der sie am nothwendigsten braucht, — weil Tausende
verpflichtet sind, seinen Schritten zu folgen und ihr Aufwärtsklimmen
von dem seinen abhängig ist? (?)
Auch Friedrich v. Sattel zeigt — nur in anderer Form und auf
andere Art gewonnen, denn was für Bettina Goethe, war für Sat¬
tel Christus—den Weg, den er in sich vollendete und den die Mensch¬
heit zu gehen hat. Die Welt soll erhoben werden aus dem Staube
zum Lichte, bis das Diesseits schon zum gehofften, zum einzig mögli¬
chen Jenseits geworden. Nicht die Hände in den Schooß legen sollt
Ihr und dumm gegen Himmel blickend, warten, bis er Euch seine nach
Eueren niederen irdischen Wünsche-n gemodelten Seligkeiten in den of¬
fenen Mund fliegen läßt, nein! Euere Seele muß noch auf Erden
den Himmel, die Höhe der Geistesentwickelung selbst erklettern, und der
Tod soll nicht das Ende des Lebens, sondern seine Vollendung
sein. Erst wenn jeder Mensch ein Gottmensch, die Welt, zu Gott
genesen, frei in ihm sein wird, wie er in ihr, dann ist sie fertig und
vollbracht. Jahrtausende vielleicht haben noch dahin zu wirken, doch
schon jetzt kann Jeder ein Welterlöser werden, indem er die Aufgabe
der Menschheit erst in sich zur Vollendung bringt und, diese Vollen¬
dung in Wort oder That der Anschauung darstellend, dazu hilft,
„Gott dein Herrn sein Volk bereiten!" So hat Sattel seine Mission
verstanden, so hat er sie im „Laienevangelium" erfüllt und damit der
Lyrik, dem begeisterten Ausdruck individueller Entwickelung, eine Bahn
vorgezeichnet, die sie nicht nur gehen soll, sondern nach den Fort¬
bewegungen der Zeit nothwendig wird gehen müssen. Der arme
Sattel! Er ist gestorben, ehe es ihm vergönnt war, in seiner Nation
zu leben; als er fertig war und die Welt überwunden hatte, mußte
auch sein irdisches Theil sie verlassen. „Es war vollbracht!"
„Sein ganzes Leben, um des Geistes Hort
War's eine rasche, heiße Siegerschlachl,
Und eine Bölkerzukunft jedes Wort!"(Laienevangelium.)
Noch machen ihm ein Herwegh, ein Prutz sein heiliges Recht
auf die Gesammtanerkennung der Nation streitig und erst, bis diese
zum Bewußtsein gekommen sein wird, daß ihr Heil nicht von den
unreifen Deklamationen unserer sogenannten politischen Dichter aus¬
gehen wird, sondern von Jenen, deren reinigende Gedankenflammen
aus dem tiefsten Schacht einer schon auf Erden zu Gott heimgekehr-
ten Seele hervorbrechen, wird Sattel mit Allen, die ihm zur Seite
stehen werden und wie er nach dem, was ewig ist, gerungen haben,
durch sein Volk schreiten und die Zukunft der deutschen Lyrik
wird zur Gegenwart geworden sein!
Welch ein Unterschied zwischen Lübeck und Hamburg! Dort der
freundliche, ziemlich entkräftete Alte, hier der dicke, trotzig auf den
Geldsack klopfende Kaufmann! Das Wort Geld wird in Hamburg
durch alle Tonleitern, in allen Variationen gesungen; der Materialis¬
mus tritt hier in seiner ganzen Macht auf; in der That, wenn man
sich nicht noch zu guter Stunde auf das Höhere der Menschennatur
besänne, man möchte die Kniee beugen vor dem Gott, der da täg¬
lich angebetet wird in der Börse, der die Geldkiste zum Altar hat
und sich in seinem Königsmantel von Staatspapier brüstet! Ich kam
um Mittag in Hamburg an und mein erster Gang war in diese Kaaba
der geldgläubigen Welt. Sie eigentlich ist der vielbesungene „Phönir"
den seiner Zeit all die Hamburgbranddichter meinten; sie erhob sich
aber nicht erst aus den Flammen, vielmehr schienen diese Respect vor
ihr zu haben und verschonten sie. Noch brannte es, noch rauchte»
ringsum die Trümmer, da wurde sie schon wieder eröffnet, jetzt steht
sie zwischen geebneten Bauplätzen und im Bau begriffenen Hausern
und fällt schon von weithin in's Auge.
Das Gebäude ist imposant, aber plump, wie alle Hamburgischen
neugebaute. Man scheint vor lauter Materialismus nicht zu der
Aesthetik der Baukunst zu kommen. Es war gerade die Börsenzeit im
Beginnen. Ich trat auf eine Galerie und beobachtete das großartige
Leben. Der Saal kann über tausend Personen fassen, dennoch soll
er zu klein sein! Es wurde immer dichter, immer gefüllter, es drängte
sich beinahe Kopf an Kopf, das Gesummse und das Gemurre der
vielen Stimmen klang betäubend. Jeder hat seinen bestimmten Platz,
der Schiffer, welcher vielleicht erst vor einer Stunde von Batavia
ankam, der Makler, der kleine wie der große Kaufmann. So gro߬
artig aber auf den ersten Blick dies Getreibe aussieht, so engherzig
und klein ist die Seele desselben. Hamburg will lieber Commis Eng¬
lands, als für das Nationalinteresse Deutschlands thätig sein! Es ist
eine große Krämerei hier in der Hamburger Börse, täglich eine Krä¬
merei mit vielen Millionen, mit Schande und Familienglück. Nur
dieses Eine liest man auf all den tausend Gesichtern: Geld! Gewin¬
nen! Wie das murmelt, wie sich das durch einander treibt! Dieser
Mann da mit den bleifarbenen Zügen und in dem grauen Rocke,
der wohlgefällig sein Portefeuille einsteckt, hat vielleicht durch Ein
Wort, durch Ein Kopfnicken oder durch Einen Federstrich Tausende
gewonnen, aber es macht keinen Eindruck auf ihn; jener, der viel¬
leicht ruinirt ist, sucht seine Bewegung zu verbergen und erheuchelt
ein selbstzufriedenes Lächeln. Der moderne Handel ist nicht mehr
auf das Reale gegründet, er ist ein großes Hazardspiel. Es wird
hier mehr als zehnmal so viel Korn verkauft, als auf der ganzen
Erde wächst. Man spielt mit Millionen, die man nicht hat, um ihre
Procente einzuziehen oder die Tausende , die man hat, zu verlieren.
Wie hämische Teufel laufen die Makler, ihre Schreibtafel in der Hand,
zwischen den Großhändlern umher, bücken sich, drücken sich, suchen zu
überreden, anzuschwatzen oder abzuhalten, je nachdem es ihnen paßt;
sie sind sicher, sie haben immer Gewinn, mögen die Großhändler ge¬
winnen oder verlieren!- Dort hängt die Tafel der böswilligen Falli¬
ren! Ihre Namen sind gebrandmarkt, und sie sind vielleicht noch die
Ehrlichsten gewesen! Der Eine hat sich ersäuft, der Andere hat sich
geflüchtet! Es mag manches Drama hinter diesen Namen stecken,
welche den Pranger an der Börse füllen!
Es wird mit dem Gelde aber auch großartig umgegangen. Es
gibt hier Comptone, an welchen für den Lehrling mehr abfällt, als
>M! Jenenser Professor Gehalt bezieht. So kommt es denn auch, daß
hier Alles dein Gelde dienen muß. Mail kann's ja bezahlen. Das
irdische Paradies ist hier täglich feil. Darum sieht man auch so
viele wunderliche Gestalten, deren geistlose Züge den raffinirtesten
und zugleich gemeinsten Materialismus verkünden, und die nun in
reiferen Jahren nachholen, was sie in jüngeren über dem Jagen nach
Geld entbehren mußten! Wer an der <i'!Mo bei Streit geges¬
sen hat, der wird die luxuriösen Freuden einer Hamburgischen Tafel
kennen und sie hoch über das Frankfurter Gemengsel stellen. Es ist
schon englische Weise; nicht tausenderlei, sondern derbe und prächtig.
Die See versorgt Hamburg mit Fischen, wie sie die alten Römer
speisten, Holstein mit einem Rindfleisch von altdeutschem Kern, in den
Vierlanden wird das köstlichste Gemüse und Obst gezogen, Eng¬
land schickt seine Biere,, Frankreich, Spanien und der Rhein die feu¬
rigsten und mildesten Weine, Holland gibt seine Austern, und die
Seeluft Appetit. Von der Entartung der unteren Klassen des weib¬
lichen Geschlechts hat man aber in Mitteldeutschland keinen Begriff.
Der Fremde kann von Glück sagen, wenn der Kellner ihm nur —
Cigarren anbietet!
Man ballt ungewöhnlich schnell --- bald neunhundert neue Häu¬
ser in zwei Jahren — und hoch. Ich habe einige von acht Etagen
gezählt. Freilich, während der Arme sonst als Troglodyte die tun^
feigen Keller bevölkerte, wird er nun, wie in Berlin, unterm Dach
sein Schwalbennest suchen müssen; man sorgt indessen dafür, daß die
Wasserleitung überall bis in den obersten Stock hinauf geht. Dage¬
gen wird mit dem Bau nicht selten unverantwortlich leichtsinnig ver¬
fahren, und es ist nicht ungewöhnlich, daß ein Stück Mauer — zu¬
weilen ein ganzes Haus — zusammenstürzt. Wo bleibt da die ham^
burgische Solidität? Grenzenlose Speculationswuth ist die Ursache.
Der Eigenthümer accordirt mit einem Architecten so genau als mög¬
lich, der wieder ebenso mit einem Maurermeister, der wieder mit den
einzelnen Gesellen; auf diese Art und Weise wird Alles erklärlich und
es ist noch viel Unglück zu erwarten. Der Luxus, womit Viele ihre
neuen Häuser einrichten lassen, die feenhafte Pracht der Boutiken
und Läden, die sich hier entfalten wird, sind unglaublich.
Das hiesige Theater, welches einst und zwar mit Recht eines
so großen Rufes genoß, wo ein Schröder die wahren Interessen der
Kunst zu schützen wußte, ist nicht mehr, was man von einem solchen
Institute erwarten sollte. Leider thut sich mit sehr viel Prätension
jetzt ein Neues Theater hier auf, welches sonst als zweites
Theater ganz bescheiden in einem Hofe fungirte, und durch mancher¬
lei gute Leistungen, gewiß aber noch mehr durch Charlatanenen und durch
seine Billigkeit wird es das Theaterinteresse spalten. Das Stadttheater
hat keine vom Publicum unabhängige Geldquelle, und die Direction,
vom kaufmännischen Speculativnsgeiste der Stadt nicht wenig ange¬
steckt, will verdienen. Die natürliche Folge ist, daß diese Direction
ganz auf den Geschmack des Publicums eingehen und die Charla-
tanerie und den Spektakel noch über das neue Theater hinaus wird
steigern müssen, um die höheren Preise rechtfertigen zu können. Das
ist eine traurige Zukunft stir die Hamburger Bühnen. Es sind die
größten Lücken im Schauspiel wie in der Oper da. Für Madame
Walker ist Fräulein Jazede aus München mit einer weit schwä¬
cheren Stimme engagirt. Die Einzelpartien sind immer noch besser
als die Ensembles. Der erste Liebhaber, Herr Hendrichs, hat
eine schone Figur, ein schönes Organ, aber ein kaltes, seelenloses, auf
Pathos und Effect hinarbeitendes Spiel, er kann einen Baison nicht
ersetzen. Madame Lenz hat sich die Rollen einer munteren Liebha¬
berin noch immer nicht nehmen lassen; sie ist zwar eine liebenswür¬
dige Frau, aber, was Damen nicht gerne hören wollen, für die,e
Partien zu alt geworden, und eine auch noch so durchdachte Coquet-
terie kann die natürliche Jugend nicht ersetzen. Herr Brüning
erregt noch immer durch seine Komik das Gelächter des Publicums,
er ist aber weit geschickter zum dummen Bauerjungen, als zum feinen
Weltmann; das einzige Mitglied der Hamburger Bühne, welches
man auf den ersten Blick als einen Künstler erkennt, ist der alte
Lenz; er outrirt nicht, er hascht nicht nach Effect, er drängt sich
nicht in den Vordergrund und studirt seinen Charakter. Man muß
ihn in Shakspeare'schen Lustspielen gesehen haben, um seinen Werth
zu erkennen; leider altert er aber merklich und die große Schwäche
seiner Augen ist ihm sehr hinderlich.
Mit der Literatur in Hamburg sieht es auch mehr als mißlich
aus. Ein Freund führte mich in das Gaden'sche Kaffeehaus, dicht
neben dem Theater, wo ich hamburgische Schriftsteller treffen sollte;
ich sah dort aber nur die Herren Töpfer, Bärmann und Wollheim,
Töpfer's Thalia ist eine wahre Schauspielerschröpfanstalt gewesen,
aber endlich eingegangen an Abonnentenmangel. Töpfer ist indessen
nicht ganz vcrdienstlos und hat eine große Theaterrontine; man merkt
sie allen seinen Stücken an und er hat mitunter recht hübsche Dinge,
wenn auch nichts Dauerndes und Großes, für die Bühne geleistet.
Woll hei in soll jetzt in Hamburg ein Journal „der Herold" heraus¬
geben, welches ich aber nirgends zu sehen bekommen konnte. Bär¬
mann, ein guter Mensch, aber auch Verfasser von allerhand Religions¬
büchern, spanischen Grammatiker, Schauspielen, Kochbüchern:c., ist
gewöhnt, als Familienvater an die Großmuth des Hamburger Puo-
licums zu appelliren. Wenn nämlich eine strenge Recension über
ihn erscheint, rührt er sogleich durch den Familienvater und das soll
den Hamburgern ganz unendlich gefallen.
Es kommen hier eine Menge sogenannter Volksblätter heraus ;
der Volksfreund, der Freischütz, der Erzähler, der Beobachter. Sie
leben alle von dem unverschämtesten Nachdruck und die Redacteure
dieser Journale sind in der Regel Menschen, welche die gewöhnlichste
Bildung gar nicht zu vermissen scheinen. Schreiben sie doch blos
für das Volk! Daß diese Aufgabe eben die schwierigste ist,, davon
haben sie keine Ahnung. Der „Freischütz" sucht seine Hauptstärke in
Theaterkritiken, die den Ton einer affectirter Naivetät führen; der
„Beobachter" zählt etwas gar zu gewissenhaft, wie viele Freudenmäd¬
chen des Nachts arretirt worden sind, und wie viele Prügeleien, Be^
soffenheiten, Diebstähle :c. in der Woche stattgefunden haben. Ver¬
muthlich glaubt er — eingedenk des großen Wortes der Preußischen
Allgemeinen Zeitung — das Volk am sichersten durch Statistik zu bild co
Dem schlechten Einflüsse dieser Blätter entgegen zu wirken, ist hier
ein Journal „der Tagewächtcr an der Elbe" entstanden, welches den
literarischen Diebstahl als Nahrungsquelle verschmäht und liberale
Ideen in sich aufzunehmen bemüht ist. Es ist ihm aller mögliche Er¬
folg zu wünschen.
Größere politische Blätter, die wöchentlichen Nachrichten ausge¬
nommen, welche aber täglich, erscheinen, werden drei in Hamburg
ausgegeben: Die Börseiihalle, der Korrespondent und die Neue Zei¬
tung. Die Börsenhalle berücksichtigt mehr als alle übrigen die In¬
teressen des Kaufmanns und sucht auch ihre politischen Nachrichten
nach diesem Maßstabe zu begrenzen. In Deutschland hat sie keine
Originalcorrespondenzen, wohl aber in London. Der Hamburger
Correspondent gehört zu der „guten Presse", er war mein guter Be¬
kannter von Petersburg her, ich hatte ihn dort zu viel lesen müssen,
als daß ich ihn hier, bei größerer Auswahl, wieder angesehen hätte.
Herr Nunkel ist ein großer Anhänger des russischen Cabinets und
soll daher auch russischen Caviar, Austern und Gänseleberpasteten zu
seinen intimsten und getreuesten Freunden zählen. Der Hamburger
Korrespondent steht aber dasür mit der öffentlichen Meinung auf kei¬
nem guten Fuß und soll von seinen 6000 Abonnenten schon 3000
verloren haben und wenn er so fortfährt, wird er immer tiefer
sinken oder es wird dem Herrn Runkel wie seinem liebens¬
würdigen Bruder bei der Elberfelder Zeitung ergehen. Vielleicht
schickt das russische Cabinet aber dann eine ernährende Note an den
Besitzer des Correspondenten und läßt die Wiedereinsetzung des Herrn
Runkel verlangen. Die Neue Zeitung will die liberale Partei ver¬
treten, ihre Korrespondenzen aus Berlin zeigen auch wirklich von
Geist, Scharfsinn und oppositioneller Ueberzeugung, aber sie sind auch
das Beste an ihr und nur durch diese guten Korrespondenzen hat sich
diese Zeitung in Preußen jo großen Rufes zu erfreuen. Unter der
Redaction von Fran^vis Wille, sagt man, ist sie besser gewesen.
Allein auch damals zeigte sie schon jenen charakterlosen Klatsch¬
liberalismus, der fast in allen kleineren deutschen Staaten und Städ¬
ten herrscht; der ungemein muthig gegen alle ausländischen Fürsten
spricht, aber nicht ein Wort wagt gegen den heimischen Bürgermei¬
ster. Oder ist überall die Censur Schuld an diesem Systeme gegen¬
seitiger Verleumdung und allgemeinen Selbstlobs? Der Leipziger
darf über Berlin, der Berliner über Dresden, der Dresdner über Kuh-
schnappel und der Kuhschnappler über Ritzebüttel ze. das schärfste Ur¬
theil fällen. Leipzig, Berlin, Dresden, Kuhschnappel, Ritzebüttel bil¬
den sich dann nicht wenig auf ihren Freimuth oder ihre gelinde
Censur ein. Wehe aber Dem, der in Kuhschnappel selbst über Kuhsch¬
nappel und in Ritzebüttel selbst über Ritzebüttel reden will. Denn
dieses können Kuhschnappel und Ritzebüttel nicht vertragen, sintemal
sie die liberalsten Städte sind und bei ihnen ohnedies Alles vortreff¬
lich und tadellos ist. So sind aus Hamburger Pressen die freisin¬
nigsten Schriften über Preußen, Oesterreich ze. hervorgegangen; aber
in Hamburger Zeitungen wird man vergebens ein freies Wort über
Hamburg suchen. Und als in Leipzig eine Schrift: „An die von
Hamburg und vom Gebiet" erschien, reclamirte die Republik so gut,
wie es etwa Hannover thäte, und der Verfasser sitzt noch heute in
Untersuchung und dürfte noch lange sitzen. — Gutzkow, den ich lei¬
der nicht persönlich kennen lernte, scheint seit der „Schule! der Rei¬
chen", von der noch immer gesprochen wird, sehr bitter gegen Hamburg
gestimmt. Er stand hier allein der literarischen Mittelmäßigkeit und
Schlechtigkeit aristokratisch gegenüber. Diese suchte ihn dafür zu ver¬
dächtigen und herabzuwürdigen, wo und wie sie nur konnte, und al¬
len seinen Bestrebungen etwas Böses nachzusagen. Der geniale
Hebbel ist mit einem dänischen Stipendium auf Reisen gegangen,
nach Frankreich und England. Der edle Wien barg lebt in Al-
tona ein sehr einsiedlerisches Leben; selbst seine Feder zeigt sich selten
in den von ihm redigirten „Literarischen Blättern der Börsenhalle".
Gabriel Richter besorgt hier in Hamburg Notariatsgeschäfte und
ist immer noch der feurigste Verfechter der Judenemancipation. Sein
uneigennütziges Streben wird immer die größte Anerkennung verdienen.
Es hat hier ein junger Mann, dessen literarische Stellung man
nicht hoch anschlagen kann, obgleich ihm keineswegs poetisches Talent
abzusprechen ist, eine wunderbare, volksthümliche Bedeutung gewon¬
nen: Wilhelm Hocker. Sein Name ist schon mehrere Male in
den Zeitungen genannt worden, seinem Geschäfte nach ist er ein
Weinküper. Ich glaube, das Hamburger Volk, die Klasse der Holz¬
säger u. f. w. würde für ihn das Aeußerste wagen. Das macht
ihn in den Augen der Behörden so gefährlich; man hat ihn schon
mehrere Male eingesteckt, aber immer wieder gleich loslassen müssen,
weil das Volk murrte und drohende Mienen machte. Die derbe Art
und Weise, worin er Ungerechtigkeiten hochstehender Männer rügt,
und die Art von Volksjustiz, welche er in seinen Gedichten ausübt,
indem er jene Sünden und schlechten Streiche schonungslos entschlei¬
ert, welche man gern verdecken möchte, sagt dem Hamburgifthcn
Volkscharakter ganz unendlich zu, er fühlt sich durch Wilhelm Hocker
besser, als durch seine Vierundsechzigcr und Oberalten vertreten. Er
wird in seinen Ausdrücken zuweilen so derb, daß seine Gedichte auf
ein Haar breit dein Pasquille gleichen, aber diese unerschrockene
Rücksichtslosigkeit, zweifelhaften Masken gegenüber, kann im Grunde
nicht schaden.
Seine Gedichte haben nun weder Reiz durch die Poesie, noch
durch die Harmonie und Klarheit ihrer Gedanken, sondern eben nur
durch die schreckliche Macht ihrer Wahrheit. Pasquille sind sie nicht;
Hocker mißbraucht die Waffe nie, welche in seinen Händen liegt, er
wettert nur da, wo sich sein Rechtsgefühl empört und wo „das Ge¬
setz nicht trifft." Da schlägt/r unbarmherzig los mit seinem
Knüttel. Wie ein Lauffeuer fliegen dann Hocker'S Verse durch Ham¬
burg und das Volk hat seine Justiz gehalten.
Ich habe das Wiener Lerchenfeld und den Wurstlprater gesehen,
aber das ist Nichts gegen dieses Getreibe, Hier wogt das Weltleben
auf und ab. Matrosen aller Nationen, prächtige Kerle, derb, stark
und von den Meereöstürmen durchwettert, jubeln hier umher, verges¬
sen hier die Strapatzen halbjähriger Seereisen, verschwenden in we¬
nigen Tagen in unnützen Einkäufen und am Arm der liederlichsten
Dirnen die Erwerbnisse eines halben Jahres, und gehen dann, wenn
Nichts mehr übrig ist, nicht traurig, sondern pfeifend und wohlge¬
mut!) an Bord, um auf lange Zeit wieder Sklaven zu sein. Eil,
kecker, brauner Matroje im Staate, in feiner blauer Tuchjacke und
gleichen Hosen, die starke, hohe Brust mit dem gestreiften Hemde
kaum bedeckend, daS Tuch locker um den Hals geschlungen, den gel¬
ben Strohhut keck auf das krause Haar gedrückt, macht den schönste»
Eindruck. Boutiken, Menagerien, Schaustellungen, CaroussellS, Pup¬
pentheater, WachsfigurencabinetS reihen sich hier dicht an einander,
um das Volk zu belustigen, und ich habe hier ein Theater entdeckt,
welches gewiß in ganz Deutschland nicht Seinesgleichen findet. Der
Eintritt kostet weniger als zwei Groschen, dafür kann man den Tell,
den Faust, die Jungfrau von Orleans, die Hugenotten, das Donau¬
weibchen, kurz die bedeutendste!? Theaterstücke sehen, und zwar nicht
von hölzernen Puppen, sondern von lebenden Personen dargestellt.
Dieses Theater kündigt sich als „Nationaltheater" an. Es ist der
Sammelplatz der müßigen Matrosen, der Freudenmädchen, der
Lehrjungen, der Straßenbuben u. s. w. Heikle wurde die Zau-
berflöte gegeben. Papageno stand, im Gesichte ziegelroth geschminkt,
und in einem traurig zerrupften Federkleide vor der Thüre und blies
das Publicum auf einer alten schnarrenden Trompete zusammen. Ich
ging aus Neugierde hinein. Es dauerte lange, ehe es anfing, denn
man wartete, bis er eine hinlängliche Menge Volks zusammcngeblasen.
Einige Oellampen erhellten stinkend und qualmend den dunklen Raum,
und fast das ganze Publicum, bis auf die Weiber, rauchte. Endlich
wurde zum Anfang geklingelt. Eine schrecklich zerrissene Harfen ud
eine Flöte waren unser Orchester, sie sollten die lieben Harmonien
eines Mozart aufführen.. Kann man sich etwas Tolleres denken?
Der Vorhang flog auf und es zeigte sich ein Bühnenraum, kaum
großer als ein Vogelbauer. Die Darstellung war, wie man sich
denken kann, schlecht, aber sie war gleichmäßig schlecht, was man zu¬
weilen in den großen Theatern wünschen möchte, und ich konnte
wenigstens lachen. Die Stimmen klangen wie knarrende Thüren; die
Oper war in zwei Acte zusammengezogen, der Gesang des Papa-
geno, sein Hin- und Herhüpfen mit dem Vogelbauer, so wie das
Schloß vor seinem Munde stimmten das Publicum zur größten Freude,
es war mit dem dargebotenen Genusse vollkommen zufrieden. In dem
Zwischenacte verkauften die Schauspielerinnen im Costüni, die Köni¬
gin der Nacht mit langem Flitterschleier nicht ausgenommen, Grog
und Punsch und ließen sich von den Matrosen, die vielleicht nie eine
Schauspielerin in der Nähe gesehen hatten, jubelnd umarmen; Pa-
pageno bettelte die Reihen durch, und als das Stück vollendet war,
stand er wieder am Ausgange und blies das Publicum zu einer
neuen Vorstellung zusammen!
Ehe ich Hamburg verließ, fuhr ich nach Wandsbcck, um in dem
schönen, herbstlich schattirter Holze eines reizenden Durchblicks nach
Hamburg zu genießen und auch die Orte nicht zu vergessen, wo der
alte Claudius seinen Boten schrieb und Voß den Homer übersetzte.
Man achtet hier wenig auf solche Erinnerungen und das schlichte
Denkmal des deutschen Messiadensängers vor der kleinen Kirche zu
Ottensen ist einem gänzlichen Verfalle nahe.
Durch den großen Hamburger Hafen fliegt 'unser Dampfboot,
der Kronprinz von Hannover; ringsumher liegen die größten Colosse,
um deren Kiel die Fluchen der fernsten Meere gerauscht haben, rings
umher wehen die Flaggen aller seefahrenden Völker. Nur noch we<
nige Stunden, und dieses große, wunderbare Bild der Hamburgischen
Hafenpracht ist hinter den hannöverschen Haidehügeln verschwunden,
—- nur noch wenige Tage endlich, und ich sitze wieder in dem ehr¬
samen Bürgerklub zu wo man sich von einem Schiffe die
wunderbarsten Vorstellungen macht und mich als ein Wunderthier
anstaunt. Es war eben die Zeit, wo sich das zehnte Corps der
deutschen Bundesarmce bei Lüneburg versammelt hatte. Dennoch,
obwohl ich, um Braunschweig zu erreichen, keinen Umweg über Lüne¬
burg gemacht hätte, machte ich einen anderen Weg und bekam also
nicht einmal den Schatten eines Schnurrbatts von all den kampflu¬
stigen Lieutenants zu sehen. Wir fuhren erst bei dem letzten Tages-
dämmern aus Haarburg; der Regen klatschte melancholisch an die
Fensterscheiben und der Sturm pfiff durch die Ritzen und der Postil¬
lon blies so traurig! Es war ein Hannoveraner! Nach einer Stunde
begann schon das Haideland. Da muß man wohl traurig werden,
sintemal man sich in dem Königreich Hannover befindet und Einem
allerlei wundersame Gedanken kommen. Es sind aber eben nur Haive-
gedanken! Ich dachte an Revolutionen von unten und an Revolutio¬
nen von oben. Als einmal der schwedische König zu Stockholm seine
Kanonen gegen das Ständehaus richten ließ, Kanoniere mit bren¬
nender Lunte daneben stellte und nun seine getreuen Stände ersuchte,
nach ihrem freien Gewissen zu beschließen, was sie denn auch pflicht¬
schuldig thaten, nachdem sie die Kanonen und die brennenden Lunten
gesehen hatten, — da war es eine Revolution von oben; als das
französische Volk die Bastille stürmte, da war es eine Revolution von
unten; als — doch stille, stille, der hannöversche Postillon bläst so
traurig und das böse Haideweib streift über die Moore und durch
die Brüche. Unsere Reisegesellschaft war bunt: ein Landpastor, ein
königlicher Beamter aus der Residenzstadt Hannover, ein Schauspie¬
ler aus Dermold und, außer meiner Wenigfeit, ein berühmter Pro¬
fessor aus Göttingen. Die kleine Schauspielerin war ein lockeres
Ding, sie schien dem guten Landpastor manches Aergerniß zu geben,
der berühmte Professor verhielt sich ganz passiv, der königliche Diener
aber schien an ihren Neckereien und Capricen Gefallen zu finden.
Die Nacht sank immer tiefer herab/—man sah zuweilen einige Irr¬
wische flackern, die Schauspielerin war eingeschlafen und an die Brust
des Pastors gefallen. Ein starres Entsetzen malte sich in den Zügen
des geistlichen Mannes, er hustete mehrere Male und machte Beweg¬
ungen der Verlegenheit; aber er war mehr Mensch als Pastor und
ließ das leichtfertige Weltkind an seinem heiligen Busen schlummern!
Am folgenden Tage, gen Mittag, erreichten wir Celle. Die
ganze Gesellschaft reiste aus Hannover zu; so trennte ich mich denn
von ihr, um mich gegen Braunschweig zu wenden. In Celle sah ich
viel hübsche Mädchen und noch mehr kalte Schreibergesichter. An
einem großen Gebäude las ich „Königliches Oberappellationsgericht."
Wenn man bedenkt, daß in der neuesten Zeit, von allen anderen
Willkürlichkeiten abgesehen, ein ganzer Stand, der Bauernstand, wie¬
der zur Unmündigkeit zurückgedrängt wurde, indem man keinem Bau¬
ern mehr erlaubt, ohne Zuziehung eines Advocaten Contracte zu
schließen, so mag man wohl mit Bekümmernis; auf dieses Volk
blicken, welches, wenn der König droht, die Garnison weg-
zu nehmen, weh- und demüthig zu Kreuze kriecht. Die
hannöversche Opposition hat sich durch ihre Kraftlosigkeit eine
Schuld aufgebürdet, die sich nie wird abbüßen lassen. Mag sich nun
auch da und dort ein Schmerzensschrei der Neue hören lassen: die
Neue wird wohl nur in der Religion und nicht in der Politik ein
einmal begangenes Vergehen wieder auslöschen können.
Von Celle nach Braunschweig kommt man durch reiche Buchen¬
waldung und an üppigen Wiesen vorbei. Das Volk, welches hier
wohnt, die Dörfer, welche man berührt, tragen ganz den alten säch¬
sischen Charakter. Man glaubt beinahe, sich in Holstein zu befinden
und wird durch die plattdeutsche Sprache um so mehr in dieser Täu¬
schung erhalten. Es liegt eine wunderbare Traulichkeit in diesen al¬
ten sächsischen Klängen, aber es ist auch nicht zu läugnen, baß eS
mannichfache Elemente darin gibt, die einer allgemeinen Volksbildung,
wie unsere Zeit sie verlangt, widerstreben. Die plattdeutsche Sprache
ist nicht, wie die hochdeutsche, einer reichen Landschaft ähnlich, mir
schroffen Bergen und mit lieblichen Thälern, mit Katarakten und
rauschenden Waldungen, sie ist flach und breit, wie jene Gegenden,
in denen sie noch immer gesprochen wird; sie ist ein volles Kornfew,
viele blaue Chanen darinnen. Als Schriftsprache sind ihr längst keine
Rechte mehr zugestanden, in der Lutherischen Bibelübersetzung si^te
die Intelligenz der hochdeutschen Sprache und nur uoch selten lallte
die niederdeutsche, die Säugamme des alten Reinecke de Voß, in
schriftlichen Anklängen wieder. Lauremberg möchte wohl als der letzte
Dichter zu nennen sein, dem die niederdeutsche Sprache noch ganz
naturwüchsig zu Gebote stand; in seinen Satyren wächst sie noch
kräftig hervor; alle die neueren Bemühungen aber, den niederdeut¬
schen Dialekt wieder zur Schriftsprache zu erheben, sind von vorn¬
herein verfehlt. Es ist nicht gut, der niederdeutschen Sprache jetzt
durch Kunst noch mehr Wichtigkeit geben zu wollen, als sie hat, aber
man soll sie auch nichr mit Gewalt vertilgen wollen. Mag sie all-
mälig verklingen wie eine alte liebe Sage! Es liegt in ihr eine Ab-
sonderungölust und eine Begriffsbeschränktheit, zwar auch eine Ge,
müthlichkeit. Wenn man auch zur Noth das erhebende Wort Vater¬
land durch „Vaterland" auszudrücken vermag, so klingt doch auch
dieses „Vaterland" sehr kalt und fremd und es wird statt dessen, echt
altsächsisch, immer nur vom Hause, vom „Huus", von dem eigenen
kleinen Herde geredet. Eben diese Unfähigkeit, alle höheren Gefühle
und das Patriarchalische überragenden Gedanken klar auszudrücken,
abstracte Begriffe scharf hinzusetzen und festzuhalten, wird bei der
Verallgemeinerung einer höheren Bildung die niederdeutsche Sprache
unfehlbar vernichten müssen; ihre Wurzeln sind schon verdorrt und es
rauscht und weht nur noch wie Todesahnung in den Zweigen und
Blättern des alten Baumes.
Man spriÄ)t seit vierzehn Tagen von einem vollständigen Mini-
fterwcchsel und es circuliren im Publicum die verschiedensten Combi¬
nationen, wobei heute ganz andere Namen genannt werden, als gestern
und morgen wieder andere, als heute — ganz ü I» it^is. So schwin¬
den mit jedem Tage auch noch die kleinen, geringfügigen Unterschiede,
welche die Hauptstadt Frankreichs von der Hauptstadt Preußens
trennen, und der Tag ist schon vor der Thüre, wo man beim Er¬
wachen nicht mehr wissen wird, ob dies die Spree oder die Seine
ist. Der philosophische Berliner, der Alles mit „Bewußtsein jenießt",
freut sich selbstbewußt dieses gewaltigen Fortschritts seiner großstädti¬
schen Herrlichkeit. — Sehen Sie einmal, sagte ein hiesiger Zeitungs-
correspondent vor einigen Tagen zu mir: „Es ist nicht zu läugnen,
unsere Entwicklung ist ungeheuer. Unter dem seligen König wäre ein
solches Tagesgespräch unmöglich gewesen!" — Aber der Ministcrwech-
sel hat ja noch nicht stattgefunden? — „Thut Nichts, man spricht
davon;" „aber gesetzt, er findet statt, so ist doch dies Ereigniß ganz
anderer Art, als in Frankreich und England., Dort ist die Macht
des Ministers vom Parlament, von der Kammer abhangig, sein Ein¬
tritt oder Ausscheiden kündigt die Niederlage oder den Sieg einer
Partei an; es ist die Folge dieser oder jener Nationalstimmung, welche
die Oberhand gewonnen. Ein Ministerwechsel in einem absoluten
Staate ist aber nur der Ausdruck eines einzelnen Willens und hat
meist ganz andere Motive, als die Veränderung des leitenden Prin¬
cips." — „Thut Nichts, man spricht davon, und dies ist schon sehr
viel." —„Nun denn, glückseliger Berliner! sprich, wenn es Dir Freude
macht. Ein jutes Jesprach ist auch eine jute Jade Jottes." —
Bedeutender, als diese Gespräche, ist die Veröffentlichung des Fi¬
nanz-Etats, die vor einigen Tagen erschienen ist und diesmal einige
Rubriken mehr enthält, als bei früheren ähnlichen Rechnungslegun¬
gen. Eine genauere Einsicht in die Verwendung des Staatseinkom-
mcns ist zwar auch dies Mal nicht möglich, indessen ist'dieses seit
den letzten denkwürdigen Landtagsabschieden das erste erfreuliche Zei¬
chen, daß man der öffentlichen Meinung ein Zugeständniß machen
will. Heine macht in seinen Reisebildern den Witz, es sei ihm beim
Französtschlernen passirt, daß er den Glauben immer mit I«
«u-c-«In übersetzte und in der Folge habe er selten den Beweis ge¬
funden, daß der Glaube über den Credit gehe. Unsere Staatsleiter
haben in den letzten Jahren wirklich eingesehen, daß der Credit eine
zu wichtige Basis ist, um dabei dieselben mittelalterlichen Principien
festzuhalten wie in Sachen des Glaubens. Es ist charakteristisch, daß
die liberaleren Fortschritte in Preußen wie in Oesterreich aus dem
Ressort des Finanzministeriums ausgingen, wahrend die CultuSange-
legenheit immer noch der Hemmschuh für die Culturangelegcnheit blieb.
Wenn früher der Clerus, der Herrenstand und der tivi-s-or-U als die
drei Hauptabtheilungen des Staats betrachtet wurden, so zeigt sich
jetzt, daß aller Einfluß auf die Scaatslcitung nur in den Handen des
ersteren und des letzteren sich befindet. Der Herrenstand ist durchge¬
fallen, der Stoß des arbeitenden Bürgerthums hat ihn niedergewor¬
fen. Der Priester und der Industrie!- haben den Platz allein behaup¬
tet, und da diese Beiden auf ganz verschiedenen Bahnen sich bewegen,
so ist ein Ausammenstoß zwischen ihnen weniger möglich und ihre
Herrschaft kann noch lange hinaus sich erstrecken. Dies ist auch die
Ursache, warum in den beiden industriellsten Staaten Europas, in
England und in Belgien die kirchliche Macht die festesten Wurzel»
hat.
Neuigkeiten aus der Gesellschaft gibt es wenige, weil der Früh¬
ling diese aufgelöst hat und alle Welt in die schönes!) Natur
hinauszieht! Was Berlin an größeren geselligen Salons besitzt ,
richtet sich nach dem Hofe, und da die Königin bereits vor vierzehn
Tagen ihre letzte Abendgesellschaft gab, so lösen sich allmälig die Soi¬
reen auf und nur noch einige Nachzügler empfangen des Abends.
Auch das Theater ist nicht besonders stark besucht. 'Nur das Gast¬
spiel Döring's füllt es halb und halb. Eine vortreffliche Vorstellung
der Göthe'schen Iphigenie, in welcher die Crelinger der mimischen
„Kunst" zu dem ihr bestrittenen Ehrennamen das Recht eroberte,
spielte vor einem leeren Hause. Emilia Gallotti ging wieder über die
Bretter und Döring verlor als Mcmnelli manche Gunst. Die be¬
liebtesten Darstellungen dieses Schauspielers sind: Banquier Müller
in Bauernftld's „Liebesprococoll", Elias Krumm in Kotzebue's „Grade
Weg der beste", und in der Kleist'schen Posse „der zerbrochene Krug"
als Richter Adam. Diese drei Stücke müssen oft wiederholt werden.
Meyerbeer lebt ziemlich zurückgezogen; er arbeitet an der Parti¬
tur eines Festspicls zur Eröffnung des Opernhauses. Mendelssohn
ist nach London abgereist. Viele Anekdoten her lustigsten Art circu-
liren von Neuem über die Eifersucht dieser beiden Tondichter. Die
Anwesenheit des Musikdirektors Hiller aus Leipzig, der hier sein treff¬
liches Oratorium „Die Zerstörung Jerusalems" mit großem Erfolge
zur Aufführung brachte, weckte jene Anekdoten wieder auf. Hiller, der
ein langjähriger Bekannter Meyerbeer's und Freund Mendelssohn's ist,
kam in Berlin zwischen zwei Feuer und der daraus entstandene Con¬
flict lieferte den hiesigen Musikern, welche wie die Weiber gerne ihre
Zunge in Bewegung setzen, viel Material zur Uebung in der Näch¬
stenliebe. —
Karl Beck, der während der letzten zwei Jahre theils in seiner
Vaterstadt Pesth, theils in Wien, stille schaffend, lebte, befindet sich
seit mehreren Wochen hier in Berlin, wo eine bekannte Buchhand¬
lung den Verlag seiner neuesten Dichtung „Auferstehung" über¬
nommen hat. Diese Dichtung, die durch eine öffentliche Vorlesung
in Dresden bereits ein Gegenstand vielfacher Besprechung in den
Journalen wurde, ist bei der ersten Vorlage von der hiesigen Censur
gestrichen worden. Wohlgemerkt, von der Berliner Censur. Es ist
kaum zu erwarten, daß die Publication in Leipzig, Stuttgart, Köln
oder sonst einer deutschen Stadt, die nicht „der Herd der deutschen
Intelligenz" ist, wie Berlin sich bescheiden nennt, Schwierigkeit ge¬
funden haben würde. Das neue Werk des Dichters „der gepanzerten
Lieder" hat nämlich vor seinen früheren Dichtungen nicht nur die
poetische Reife voraus, sondern auch die höhere politische. Obgleich
trunken von Begeisterung für Freiheit und Menschenrecht, ist dieses
Gedicht, dessen Manuskript wir kennen, keineswegs in die Klasse der
„revolutionären" zu stellen. In glühenden Worten und mit aller
Kraft der Phantasie schildert der Dichter die Mißbestande in allen
Klassen der Gesellschaft und trägt seine Wünsche in kühner
Beredsamkeit vor. Aber diese Wünsche verlassen nicht den Kreis der
Besonnenheit und das Maß, das alle wirklichen Freiheitsfreunde in
Deutschland sich vorgezeichnet haben. Sie sind der Aufbaues jener
politischen Confesston, die sich in Frankreich, wo man für solche
Dinge das bezeichnende Wort früher findet, die „Democratie pacifi-
que"' nennt. Die Gesinnung des Gedichtes mahnt an Lamartine,
obschon der Genius desselben den französischen Poeten weit hinter sich
zurückläßt. — Um das Erscheinen seines Werkes zu beschleunigen,
hatte Beck, nachdem der hiesige Censor es gestrichen, die Absicht, es
anderswo drucken zu lassen, allein viele gewichtige Männer suchten
ihn von verschiedenen Seiten zu bestimmen, im Interesse der hiesigen
Preßzustande zu handeln und an das Obercensurgericht zu appelliren
für den Fall nämlich, daß auch der zweite Censor, der sein Buch jetzt
in Handen hat, es nicht zuläßt. Karl Beck hat sich diesem Wunsche
gefügt und ist entschlossen, alle Wege des Gesetzes zu verfolgen und
in letzter Instanz, wenn es nöthig, an den König sich zu wenden.
Zur Charakteristik dieser Dichtung theilen wir mit Erlaubniß des Ver¬
fassers im nächsten Hefte einige Fragmente mit, auf die wir hiermit
aufmerksam machen.
— In Petersburg machen die „Memoiren des Majors Tscheg-
lowsky" großes Aussehen. Herr von Tscheglowsky, ein Edelmann von
großer Tapferkeit, der sich unter Katharina mehrmals gegen die Tür¬
ken ausgezeichnet, hatte dos Unglück, bei den Damen Glück zu haben.
In einer Liebesangclegenheit stand er dem berühmten Potcmkin im
Wege und wurde daher im Jahre 1787, wegen eines unbedeutenden
Formfehlers im Dienst, ohne Untersuchung oder Urtheil im Stillen
nach Sibirien befördert. Dort verbrachte er zweiundfünfzig Jahre.
Potemkin starb, Katharina starb, Paul und Alexander starben. Die
Welt hatte sich umgewälzt, und Tscheglowsky, der eine große Carriere
im Felde hatte machen können, ergraute in Sibirien. Im Jahre 1839
begnadigte — so melden es nissische Nachrichten Kaiser Niko¬
laus den Unschuldigen und setzte ihn in seinen Majorsrang wieder
ein. Auch erhielt Tscheglowsky eine lebenslängliche Pension — in sei¬
nem hundert und siebenten Jahre — und kam nach Se. Pe¬
tersburg, um sich die Welt noch einmal anzusehen. Vermuthlich wa¬
ren ihm Verwandte und Freunde längst ausgestorben; der stcinaltc
, Mann kehrte daher nach Jrkutzk —dem sibirischen Capua — zurück, wo
er den wehmüthigen Triumph haben wird, denen, die ihn als Sträf¬
ling kannten, sich vor seinem Tode noch in seiner Uniform als Ma¬
jor und freier Mann zeigen zu können. Die monströse Willkür Po-
temkin'S wollen wir nicht einmal Nußland anrechnen, obgleich sie keine
vereinzelte Erscheinung sein mag ; es ist etwas Anderes, was uns un¬
begreiflich scheint. Der gekränkte Offizier sehnte sich gewiß bitterlich
mich seinen wohlverdienten Epauletten und wird sich fortwährend be¬
müht haben, Gerechtigkeit zu erlangen, Paul und Alexander waren
beide gerechtigkeitsliebend, Nikolaus regiert bereits seit 1^5; die rus¬
sischen Gouvernements sind keine Satrapien, wenn wir den Herren
Gretsch, Grimm !c. glauben wollen, es fehlt dort nicht an rechtlichen
Beamten, die einen so schreienden Fall berichten konnten — warum
erhielt der Mann so späte Genugthuung? — Möchten doch die Her¬
ren Gretsch, Grimm, und wie sie alle heißen, etwas dagegen schreibe».
— Es bestätigt sich, daß Laube mit seinem neuen Drama,-
„Struensee" einen sehr glücklichen Wurf gethan hat. Nicht nur, daß
die Aufführung in Stuttgart ganz entschieden günstig ausfiel, sondern
von allen Seiten, wohin Laube sein Stück zur Darstellung versendet
hat, hört man von Direktoren und Schauspielern vortheilhafte Ur¬
theile über die Charakteristik und Scenerie desselben. So wäre denn
Laube's schönes Talent für die Bühne gerettet und die Unglückspro-
phetcn, die nach dem Schicksal der Bernsteinhexe gleich über die ganze
Zukunft des Autors schadenfroh und mißgünstig aburtheilten, werden
zum Schweigen gebracht. Die Bernsteinhexe war eine gute Lection
für Laube, der oft mit allzu leichtem Muthe an seine Stoffe geht.
Es liegt in mancher Laube'schen Eomposition eine Sorglosigkeit, die
oft seine Virtuosität in der Ausführung zu Schanden macht. Ich sah
ein Mal den Grafen sartor, den bekannten virtuosen Reiter mit
seinem Pferde in einen kleinen Donaukahn hineinreiten, der kaum
vier Menschen fassen konnte. Die Freunde am Ufer lachten über das son¬
derbare Wagstück und prophezeihten ihm, daß er es nicht durchsetzen
würde. Der kecke sorglose Reiter hörte nicht auf sie und richtig über-
purzelte der Kahn und er stürzte mit seiner Bestie in's Wasser, wor¬
auf Graf sartor sein Pferd beim Zügel faßte und selber lachend mit
ihm wieder an's Ufer schwamm. Laube wußte, als er an die Bernstein¬
hexe, mit ihrem freischützartigen Schluß und criminalgeschichtlichen
Inhalt ging, daß er ein Wagstück unternehme. Die Freunde riechen
ihm ab — aber sorglos und leichtmüthig wollte er es doch versuchen
und plumpte richtig in's Wasser. Aber er ist in dem kalten Bade
nicht ertrunken, sondern hat sich schnell abgeschüttelt und sitzt nun
rüstig zu Pferde, als wäre Nichts vorgefallen. Diese Rüstigkeit, die¬
ses schnelle Ausfüllen der Bresche ist das Kennzeichen des echten,
gesunden Talentes. Bei der Bühne zumal ist der Dichter, der
nach einem ungünstigen Angriff sich zurückschrecken und die Hände in
den Schooß sinken lassen wollte, bald verloren. Die Bühnendichter,
welche in der neuesten Zeit die meisten Erfolge gehabt haben, sind in
ihrer ersten Periode oft genug ausgezischt worden. Scribe's und Rau-
pach's erste Stücke sind eclatant durchgefallen. So schlimm aber ist
es Laube's Bernsteinhexe nicht einmal ergangen, und es ist sicherlich
keine sanguinische Hoffnung, wenn wir von dem Verfasser des Mo-
naloeschi noch ein reiches und glückliches Repertoir für die deutsche
Bühne erwarten. (Wir dringen in Heft 20. eine ausführliche Wür¬
digung des Struensee aus der Feder Sigmund Schott's in Stuttgart.)
— „Ein guter Deutscher" in der Augsburger Allge¬
meinen Zeitung erzählt von der russischen Akademie der Wissen¬
schaften. Es ist aber natürlich weniger von Wissenschaften, als von
Politik (respective Polizei) die Rede. „Der gute Deutsche" warnt die
Presse vor den leichtsinnigen Plänkeleien gegen Rußland in einem
Tone, der einen gar brünstigen Respect vor der nordischen Macht ver¬
räth. Er vergleicht sinnreich genug den Moscowiter, in seinem Ver¬
hältniß zu uns, mit einem dicken Nachbar auf der Eilpost, vor
dem man sich klüglich in die Ecke schmiegen muß, da er durch unsere
Klagen und Beschwerden doch nicht dünner werde! — Bis zu solchem
Cynismus, — im buchstäblichsten Sinne des Wortes genommen —
kann ein gesinnungsloser „guter Deutscher" herabsinken. ,,^!ii'<:ni»-
xm'co!" ruft er. „Man soll keinen Feind gering achten." Ganz Recht,
aber die deutschen Plänkler achten Rußland durchaus nicht gering;
vielmehr weisen sie stets darauf hin, daß Deutschland weder so poli¬
tisch klug, noch so eifrig für seine Interessen „circumspicire" wie Ru߬
land; und wir glauben, daß z. B. kein russischer Professor in einer
Petersburger Allgemeinen Zeitung sein Vaterland so einzuschüchtern
wagen dürfte, wie der deutsche Professor in der Augsburger. Wir
sollen aber nicht nur Nußland nicht gering, sondern als unseren Freund
achten, meint der „gute Deutsche" und uns hüten, sein Wohlwollen
durch fortwährende Theilnahme für polnische Grenzjudcn, Deserteurs
und kaukasisches Raubgesindel zu verscherzen. Wohlwollen? Natür¬
lich. Wir sollen die „Dankbarkeit" anerkennen, mit der Rußland
unsere schönen wissenschaftlichen Bestrebungen — benützt und unsere
Bildung in sich — aufnimmt. Triumphirend zahlt der Mann sechs¬
undzwanzig Namen von Deutschen auf, die als Mitglieder in der
russischen Akademie der Wissenschaften sitzen. Ware der Mann kein
Gelehrter, so würden wir ihm erzählen, wie viel griechische Bildung
und Wissenschaft die alten Römer als „Freunde" Griechenlands in
sich aufgenommen. So aber wollen wir nur bemerken, daß unsere
Dankbarkeit für die russische Anerkennung eigentlich noch viel weiter
gehen müßte. Denn Nußland hat mehr als diesen sechsundzwanzig
Deutschen Anstellungen gegeben; wie viele sind als Diplomaten, Cen¬
soren, Polizeibeamte, ja sogar als Spione von ihm angestellt! Und
wie viel Deutsche würden russische Anstellungen erhalten, — wenn
nur Deutschland russisch wäre. Wir wissen, die Augsburger ist
keine deutsche Zeitung, sondern eine Allgemeine; sie hat das Recht,
Eulen und Lerchen, Adler und Löwen, Schlangen und Hunde durch
ihr Sprachrohr krächzen und brüllen, singen und pfeifen, zischen und
bellen zu lassen. Es gibt aber gewisse Töne, die man selbst in einer
Menagerie nicht hören mag.
Die Liedcrcomponisten gewinnen in Deutschland immer mehr
und mehr an Beliebtheit und glücklicherweise auch mehr und mehr
an glücklichen Ideen. Von dem bekannten Componisten H. Truhn
ist so eben unter dem Titel: „Liebesroman" ein Cyclus von Liedern
erschienen, die zusammen einen kleinen Roman bilden. Es sind meist
Gedichte von Geibel und Heine, die hier in sinniger Zusammenstellung
die Gestalt einer Geschichte erhalten und ein höheres Interesse in An¬
spruch nehmen. Den Anfang bilden Sehnsuchtsklagen, Hoffnungen,
Austausch der Herzen; dann kommt die „Flucht", ein hinreißendes
Glutgemaloe, in welchem der nächtige Ritt, das wilde Lied der Stürme
und der Jubel der beiden Liebenden durchtönen, — in Form und
Ausführung wohl eines der besten. Dort in der Fremde sind sie
dann, wie das rührende Volkslied erzählt, „gestorben', verdorben",
woran das schöne Gedicht Heine's geknüpft ist: „Auf ihrem Grabe
da steht eine Linde." Dieser Abschluß ist meisterhaft. Die Melodie
darin ist einfach und ergreifend, mit einer klagenden, stets wieder¬
kehrenden Begleitung; man sieht die Wehmuth aus dem Grabeschlei¬
chen, die Vögel verstecken sich) die Lüfte fliehen aus den Blüthen des
Baumes, die Liebenden, die darunter sitzen, werden stumm, „sie wei¬
nen und wissen selbst nicht, warum ?" Dies Werk ist eine bedeut¬
same Production und unläugbar ein Fortschritt des Componisten,
der ihm neue Freunde erwerben wird. Es ist Mendelssohn ge¬
widmet.
— Die Weidig'sche Angelegenheit soll, wie man sagt, auf dem
nächsten hessendarmstädr'schen Landtage zur Sprache kommen, nicht
um Georgi zu ,Mtrir", sondern um eine höhere Gattung von We¬
sen über die Handhabung jener — Maschine zur Verantwortung zu
ziehen. Man erzählt sich wunderliche und doch wahrscheinlich aus¬
sehende Dinge von vorbereiteten Actionen und Reactionen in hohen
und höchsten Kreisen. Vielleicht schlägt sich Georgi selbst zu den An¬
klägern und ruft in nüchternen Intervallen:
Ihr laßt den Armen schuldig werden,
Dann überlaßt Ihr ihn der Pein! —
Unser geselliges Leben gleicht einem Polypen, auf dessen Ober¬
fläche es wimmelt, dessen eigentlicher Körper aber noch in Einer
Masse unzertrennlich festgewachsen ist. Von freier Bewegung der
einzelnen Glieder in einer harmonischen Einheit ist keine Rede. Wir
haben kaum einen Begriff von Geselligkeit, vielweniger entsprechen
unsere tastenden Versuche ihrem eigentlichen Zwecke. Die Mehrzahl
naht dem geselligen Kreise, wie man ins .Theater geht, immer in der
Erwartung, den Vorhang vor sich aufrollen zu sehen, ohne zu be¬
denken, daß sie selbst auf der Bühne steht. Wer keine Rolle spielen
kann, will wenigstens als Publikum unterhalten sein; während doch
nur unsere einzige Aufgabe die ist, eine Rolle zu übernehmen, wenn
auch nur die, sich selbst zu spielen.
Man ist bisweilen versucht, zu glauben, Wirth und Gäste bräch¬
ten sich gegenseitig Opfer und entledigten sich durch Geben und
Nehmen einer schweren, nicht zu umgehenden Pflicht.
Versetzen wir uns einmal in die geselligen Regionen, und sehen
wir, ob wir nicht Bälle, Concerte, Theater, Eß- und Trinkgeftllschaf-
teu in jeder Gestalt und Variation haben, aber kein geselliges Leben.
Wir haben Vereine, in denen der Einzelne etwas vorträgt.
Hier ist wieder das Uebergewicht des Publikums. Wir haben Ge¬
sellschaften, in denen nur getanzt wird; eine Unterhaltung, die wie
die Musik in unseren Tagen, in Ermanglung eines Neuen, und Ver¬
werfung des Alten, Zeit und Raum über Gebühr auszufüllen bestimmt
scheint.
In gleicher Kategorie stehen die Zirkel, in denen noch immer
die Gesellschaftsspiele, sogenannte Mix ä' vsprit, bei denen der Kluge
dumm und der Dumme klug scheinen kann, die alleinige Unterhaltung
ausmachen. In diesen Regionen finden die Männer von 16 und 17
mitunter noch ihre Rechnung.
Wir treffen sogar noch Damenzirkel von 20—30 Damen, die,
unzertrennlich um dem Theetisch gereiht, ihre drei Stunden mit Stoi¬
cismus aushalten, wenn sie auch vor Anstrengung, die Züge in an¬
gemessener Form zu halten, zuweilen mit Gesichtsschmerzen heimkehren.
Die Zeit der Frau Basen ist vorüber, aber auch hier zeigt sich das
Merkmal des Ueberaangs: Haltlosigkeit, Leere. Man raisonnirt nicht
mehr nov minore nachdem alten Styl, aber das Raisonnement nach
dem neuen bietet noch unüberwindliche Schwierigkeiten.
Wir haben Herrenklubs, in denen viel geraucht, viel gespielt, viel ge¬
lesen und kaum etwas gesprochen wird. Oder Trinkgelage, die jeder gei¬
stigen Regung entbehren, oder auch Zusammenkünfte genialer Geister,
die in Ermanglung eines befriedigenderen Strebens im häuslichen
oder geselligen Kreise sich einer zügellosen Ungebundenheit überlassen
und nicht selten die Blüthe im Keim ersticken. Alle einer Anregung
und eines belebenden Verkehrs bedürftige junge Leute finden so we¬
nig Genüge im geselligen Verkehr, daß oft die schönsten Anlagen
eine schädliche Richtung nehmen müssen.
Wir haben zahllose Musikvereine und die Musik gewinnt immer
mehr eine solche Uebermacht, sie verdrängt so sehr jede andere unter¬
haltende Beschäftigung, oder vielmehr sie füllt den leeren Raum so
gewaltig aus, daß der Unmusikalische bald keinen Raum und keine
Geltung mehr finde«.
Es wäre thöricht, den wohlthätigen Einfluß der Musik nicht er¬
kennen zu wollen, aber die Musik als Alleinherrscherin ist ein echtes
Charakterzeichen für unsere energielose, niedergedrückte, verflachte Zeit,
in der jede gewaltigere Seelenthätigkeit erlahmt ist; sie tulit uns völlig
ein und erschlafft, was sich noch von bewegender Kraft in uns regt.
Wir bemühen uns so sehr, das inhaltlose poetische Getändel
zu verbannen, vermöchten wir doch auch das musikalische in die
gehörigen Schranken zu verweisen, und die überstiegene Fluth in ihr
natürliches Bett zurück zu leiten. Poesie und Musik sollen erhebe»,
nicht ermüden.
Wir haben mich Herrn- und Damengesellschaften, die es ve»
schmähen, sich auf die bisherige Weise zu unterhalten; unter diesen
zeichnen sich vor allen diejenigen aus, in denen gar Nichts getrieben
wird. Die Unterhaltung besteht hier aus lauter — Unterhaltung, wie —
man erlaube für Triviales einen trivialen Vergleich — wie die Ge¬
gend von Berlin aus lauter Gegend besteht. Man affektirt hier den
Hofton, man erscheint spät, en Zr-duckt te-nue, Nichts hebt sich hervor,
Nichts fällt auf, man ist hier durchaus vornehm, und Nichts als
vornehm. Nichts fehlt diesen Zirkeln, um ganz ihrem Original zu
entsprechen, als gerade das Bezeichnende, jener feine Reiz, der so
ephemer die Sinne berührt, daß es vergebens sein würde, die Art
desselben zu definiren.
In dergleichen Gesellschaften sind auch die um allerwärts in
Deutschland einheimischen Engländer, und bilden hier den Mittelpunkt,
wenn nicht der Unterhaltung, doch der Aufmerksamkeit. Sie bringen
ihre Sitten mir in unser Land und wir schämen uns vor ihnen der
unsren; wir richten uns schnell nach demi, was wir bei ihnen sehen;
denn wir Deutschen lassen uns nicht nur in fremden Häusern Gesetze
vorschreiben. Kein „deutscher Tölpel" und keine Tölpelin will sich in der
verrufenen Eigenthümlichkeit zeigen, sie ahmen daher lieber einem noch
Ungrazivseren nach, als daß sie den Versuch wagten, nach eigenem
Takt gehen zu lernen. Wir geben uns viel Mühe, fremde Sprachen
zu erlernen, hauptsächlich, weil wir nicht einmal im eigenen Lande
mit der unseren durchkommen würden. Die Franzosen reden uns in
ihrer Sprache an, weil sie diese bei uns voraussetzen; die Eng¬
länder reden uns gar nicht an, weil sie gar Nichts bei uns vor¬
aussetzen. Erstere ignorirenuns nur, letztere aber unterdrücken
uns.
John Bull, der in seiner Heimath die erbärmlichste Rolle spielt,
gibt bei uns den Ton an und trifft die sorglichste Auswahl unter
uns Barbaren. Wen er aber begünstigt, dessen Verträge gelten, Eng¬
land hat sie ratificirt. Und dennoch lernen wir niemals selbständig
auf- und entgegenzutreten. Es gibt wenig napoleonische Gemüther
unter uns, sonst trachteten wir eher eine Continentalsperre bis auf
die ambulanten Repräsentanten der Nation auszudehnen, statt uns im
eigenen Hause verachten zu lassen.
So lange sich unser Aneignungstrieb nicht weiter erstreckt, als
auf das Bestreben, das Nützliche von Anderen an- und aufzunehmen,
können wir nur gewinnen.
Aber leider zeigt sich im geselligen Leben die Affennatur am
stärksten: „Wie er sich räuspert und wie er spuckt, das haben wir
glücklich abgeguckt," aber Genie und Geist des geselligen Verkehrs
haben wir noch nicht begriffen.
In großen Städten, zumal in Paris und London, mit ihrem
ungeheuren Reichthum, da sind unzählige Mittel zur Unterhaltung
in Gesellschaft geboten. Gemälde, Kupferstiche, Zeichnungen, Bücher,
Merkwürdigkeiten aller Art, Altes und Neues, Antikes und Moder¬
nes aller Wissenschaften und Künste sind wie umhergestreut und die¬
nen zur Anregung, zur Aufheiterung; man sucht eine Welt im Kleinen
um sich zu verbreiten, und wie in einem Panorama das Entfernteste
nahe zu rücken, durch die Kunst die Natur erhöht, durch die Natur die
Kunst belebt zu sehen. Das ist die große Aufgabe ver Gesellschaft,
von der wir Deutschen kaum einen Begriff haben, weil wir sie nur
im Geiste sehen; und dennoch wären wir in unsrer universellen Na¬
tur gerade am geeignetsten, diese Aufgaben zu lösen, wenn wir nicht
durch äußere Hemmnisse, durch Mittellosigkeit, Vorurtheil und Befan¬
genheit und, wie in Allem, durch Mangel an Energie um den schön¬
sten Neiz deS Lebens gebracht wären.
Die noch immer grelle Geschiedenheit der Stände, der Druck der
Verhältnisse, die das ganze Dasein umfassen, in Alles störend und
niederbeugend eingreifen und Vorurtheil, ängstliche Besorgniß, Klein¬
muth und Berechnung in jeden Verkehr bringen, zeigen uns den
Egoismus im grellsten Lichte, und von diesem Gesichtspunkte betrachtet,
steht der Deutsche moralisch niedriger, als der Franzose.
So ist denn Alles der großen politisch-socialen Zeitfrage ver¬
fallen, und wir können auch für die Geselligkeit keine völlig ersprie߬
liche Wendung erwarten, bis sie befriedigend gelöst ist.
Vor Jahren versuchte man in manchen Städten eine liberalere
Art, die Gesellschaft zu beleben. Man benutzte hierzu die Talente der
Künstler und deren geniales und joviales Wesen. Aber bald erkann¬
ten diese, daß sie sich gleichsam zum Hanswurst, oder doch Schau¬
spieler hergaben. Die aristokratische Welt ließ sich wohl einmal grä-
digst herab, sich zu amüsiren, aber sie selbst hielt sich in gemessener
Ferne. Die Menge folgte dem Beispiel aus Unselbständigkeit oder
aus Ungeschick, das ganze Treiben war zu neu, die Menschen ein¬
ander zu fremd, hie und da die Kunst selbst noch in keinem Credit,
so zerfielen die Versuche.
Wahre Geselligkeit kann nur im ungezwungenen Verkehr beider
Geschlechter stattfinden. Allein auch hier treffen wir auf Mißbestand und
Schwierigkeiten. Durch die bisherige große Trennung beider Geschlechter
fühlen sich diese, theils noch zu befangen einander gegenüber, theils
finden sie kein Interesse oder keine Beziehungen in der Unterhaltung
gemischter Gesellschaften; ein großer Theil, selbst der gebildeteren
Klasse, ist noch zu fremd mit den Ideen der Zeit, zu entfernt von den
Mitteln, die als Grundlage einer guten Unterhaltung erforderlich sind.
Wir sind mitunter noch so weit zurück, daß wir nicht einmal
zu disputiren vermögen, ohne Gefahr, persönlich und persönlich belei¬
digend zu werden.
Wie Wenige vermögen die Sache von der Person zu trennen.
Meistens glaubt man sich selbst angegriffen, und Ente werden sogar
schon durch die bloße Meinungsverschiedenheit beleidigt. Viele, oft
die Begabtesten, sind ohne alle gesellige Verbindungen und eben da¬
rum aller Mittel beraubt, ihre geselligen Talente auszubilden, haupt¬
sächlich aber ist im Allgemeinen der Mangel gemischter Gesellschaft
fühlbar. Der weibliche Theil, wenn nicht wirklich gehemmt durch
häusliche Verhältnisse, ist doch oft zu gleichgiltig für Bestrebungen
und Interessen, die ihn nicht unmittelbar selbst berühren, um sich einem
belebteren Gedankenaustausch hinzugeben. Es ist gar nicht zu läugnen,
daß die Vorurtheile und die Unduldsamkeit des weiblichen Geschlechts
das mächtigste Hinderniß einer harmonischen, freien, ungezwungenerer
und genußreicheren Geselligkeit sind, obgleich diese Unduldsamkeit wieder
eine natürliche Folge von dessen eigenthümlicher Stellung ist, die mit
der des Spielers identisch, dessen Gewinn nur auf den Verlust des
Anderen gebaut werden kann. Ferner sind viele junge Männer zu
bequem, sich einen leichten Zwang anzuthun, und ziehen daher die
ungebundenere Unterhaltung unter Ihresgleichen - - nur allzuhäufig
im Gasthaus - vor.
Im Hause, in der Familie, ist noch wenig Sinn für eine intel-
lektuelle Regsamkeit, der ganze Zuschnitt noch zu sehr nach veralteten
Ansichten, nach überflüssig gewordenen Bedürfnissen; die Frauen uno
Töchter aus mancherlei Ursachen, oft nur aus Gewohnheit zu pro¬
saisch gestimmt, das gesellige Leben zu selten, zu unzugänglich, zu steif
und todt; so flüchtet denn der geniale Trieb, dem nirgends Anlehnung,
dem nirgends Aufmunterung wird, dahin, wo er Sympathie und
Nahrung findet, schüttelt die hemmende Prosa ab und beraubt sich
und die Gesellschaft des höheren Genusses, der Beiden im harmoni¬
scheren Austausch geworden wäre. Aber wenn wir die Jugend, die doch
noch ein hohes Interesse sür einander, wie überhaupt offnen Sinn
fürs Leben hat, wenn selbst diese hier nur unbefriedigt sich gegenüber
steht, was ist da für ältere Personen zu erwarten?
Blicken wir einmal recht tief in die Prosa des geselligen Ver¬
kehrs, oder doch in die seltsame Auffassung desselben. Wenn eine
noch junge Frau, wenn auch halb scherzweise, sagen kann: „Geht ihr
Mädchen in Gottes Namen in Gesellschaft, ich habe meinen Mann!"
wenn der noch junge und lebensfrohe Mann sagt: „Was soll ich
da und dort thun, ich bin ja verheirathet," dann freilich, wenn das
Freien, oder höchstens Kurmachen der Zweck und Ausgang alles
geselligen Verkehrs beider Geschlechter ist, dann gibt es für Verhei-
rathete, für Aeltere schicklicherweise gar keinen solchen. Und es ist
wirklich so, wo Liebe und Eitelkeit keine Nahrung sucht, gibt es hier
nur inhaltlose Erscheinungen.
Aber die Liebe hat aufgehört, allein berechtigtes Element zu
sein, die Thätigkeit der Seele erstreckt sich auch auf andere Gebiete.
Wie wir sie in keinem Roman mehr allein herrschend finden, ja wie
mit aus diesem Grund der Roman selbst immer mehr verdrängt wird,
wie im Drama andere Ziel- und Ausgangspunkte hervortreten, so
im ganzen Leben; und hier zeigt uns die Dichtung nur, was sich in
der Wirklichkeit längst ohne unser Wissen vorbereitet, ohne daß der
Liebe, auch im engeren Sinne, ein erster Rang, das Ansehen des be¬
lebendsten Prinzips entzogen ist, wenn ihr das Äbsorbiren aller Bewe¬
gungen nach einer Seite des Lebens hin geraubt, und der Seele
ein universelleres Streben eingeräumt wird.
Wollten wir doch in Bezug auf gesellige Vereinigung anfangen,
von allen Seiten Concessionen zu machen; wollte doch der Mann
hier nicht länger äußere Vorzüge über Alles schätzen; wollte doch die
Frau nicht nur nach Triumphen ausgehen, und beide ein freundschaft-
liches Verhältniß ohne Nebeninteressen und Nebenabsichten möglich
machen.
Wollte die begünstigte und unbcgünstigte Welt etwas mehr
freien Geist und freiere Bewegung eindringen lassen, und die un¬
gebundene etwas mehr conventionelle Tugenden üben.
Fast täglich findet mich die Morgensonne, wenn auch nicht
immer .mrori» musis mnicit, am Arbeitstische. Aber wenn es nun
gar zu schön und lebensfrisch draußen schimmert und weht und tönt:
dann lasse ich oft die Hieroglyphen der uralten Menschen und Völ¬
ker auf dem Tische liegen, unterbreche meine Forschungen und eile
dem reinen, reflenonslosen Genusse der jüngsten Gegenwart in die Arme,
der mich in den reizenden Umgebungen meines Landhauses erwartet.
Ihr Großstädter glaubt wohl kaum, daß das Leben auch auf dem
Lande reich genug ist, um ein ziemlich geräumiges Herz zu füllen, ja
manchmal zu überfüllen.
Eines schönen Sommermorgens ruft mich der Gesang vorüber¬
ziehender Menschen an's Fenster. Gewiß sind es Landleute, die mit
freudig hoffenden Herzen an irgend eine wichtige gemeinsame Arbeit gehen.
Mich freut jede Freude lebender Wesen, am meisten aber die schön
geäußerte Menschenfreude. Je mehr ich den zunehmenden Schön¬
heitssinn, dies Schiboleth der höheren Menschheit, auch im Volke
gewahre, desto mehr glaube ich an den Fortschritt der ganzen
Menschheit; das wahrhaft Schöne ist ja nichts Anderes, als die
würdigste Offenbarung des innerlich Guten in der Außenwelt. Diese
Offenbarung zu erfassen, zu verehren und gar selbst zu Tage zu för¬
dern: dazu gehört immerhin die volle, gesunde Schwungkraft der Seele.
Bleibt nun diese Schwungkraft auch in einem Leben voll Werktage,
wie eben in dem der niederen Stände, rege; so zeigt sie sich recht
als eine göttliche Kraft, die „die seufzende Creatur erlösen" soll.
Indessen überzeugte ich mich bald, daß jene Eultoren der Schön¬
heit keine Arbeiter waren. Es war ein Zug theils festtäglich, theils
ziemlich unordentlich gekleideter Leute, der mit Kreuzen und Fahnen
an der Spitze durch die üppigen, der fleißigen Menschenhand har¬
renden Felder wallte. Prozessionen der Art sieht man öfters hier zu
Lande, besonders in der sogenannten Bittwoche vor Pfingsten, und
diese sind wirklich etwas recht Erweckliches. Sie werden in der Mor¬
genstunde gefeiert, mit Dankgebeten in der Zeit der Fülle, mit flehen¬
den in der Zeit der Noth; und ihre Theilnehmer gehen darnach
frisch gestärkt und erquickt an ihre Tagesarbeit. Heute aber sah ich
den Sängern und Betern sogleich an, daß sie weiterher und weiter¬
hin wanderten. Sie trugen zum Theile Bündel mit Reisegeräthen,
die Frauen gingen aufgeschürzt, und die ganze Truppe zeigte selbst bei
den Geputzteren den Charakter nomadischer Unordnung. Sie bestand
aus Walldürer n, aus Wallfahrern, die in der Wetterau und am
Maine unter diesem, von ihrem Wallfahrtsorte hergenommenen Na¬
men allbekannt sind. Zu gewissen Jahreszeiten verlassen einige alte,
aber mehrere junge, kräftige Leute beider Geschlechter (wohl nicht ohne
dualistische Triebfedern) ihre Wohnorte, nehmen ihre Sünden und
einiges Reisegepäck aus den Rücken, vermehren manchmal erstere un¬
terwegs und vermindern jedesmal letzteres; auf dem Rückwege aber
fühlen sie sich von ersteren völlig erlöst. Das ist eben der Humor
davon! Was schadet es, wenn indeß so viele junge Arme der Ar¬
beit, die ja in Mitte Junis vor der Ernte nicht pressirt, Wochen
lang entzogen werden, und eine nicht unbedeutende Summe Geldes
der Heimath und den: eigenen Hause. Ein Minimum der letzteren
ist jeder Walldürer mitzunehmen verpflichtet, zum Theil aus sehr ver¬
nünftigen Gründen. Während Sohn und Tochter draußen beten,
fasten vielleicht die Eltern; aber „wenn ich's opfere, ist Dir's viel
nützer!" Was sagen Pascha und Mufti dazu? Die Ortsgeistlichen
wenigstens mißbilligen diese Erscheinung häusig, theils aus bürger¬
lichen und rein religiösen, theils aus Priesterlichen Gründen, denn
ihr Segen muß ja kraftlos sein, wenn ihre Beichtkinder einen ande¬
ren suchen.
Ja, wenn eine fromme, bedrückte, leidende Seele sammt ihrem
Körper auf eine Zeit lang die Umgebungen verläßt, an welchen tau¬
sendfacher Schmerz für sie haftet, um ungestört an einem friedlichen,
fernen Gnadenorte wieder Muth, Kraft und Reinheit zu gewinnen:
das nenne ich eine Wallfahrt, und die bringt Ablaß der Leiden und
Sünden, selbst mancher zukünftigen. Man kann sogar ein ungläu¬
biger Heide oder Philosoph sein und nach seiner Art dieses Segens
theilhaftig werden. Jene Walldürer aber erschienen mir um so mehr
als Revenans einer Zeit, in welcher singende, tanzende und selbst¬
geißelnde Wallfahrer, oft in obligater Begleitung von Mord und
Vrand, epidemisch die durchzogenen Gegenden aufleckten, da heute ein
sonst stilles, in der Arbeit begriffenes Mädchen im Nachbarhause vou
der prosaischen Mutter in den Kuhstall gesperrt wurde, weil sie sich
in fanatischem Drange den Vorüberziehenden anschließen wollte» Aber
laßt nur der Morgenluft freien Zugang zu den düsteren und schwü¬
len Herzen, statt sie einzusperren, und es wird gründlich besser
werden.
in,
chatz
g,
Ein eigenes Gefühl beschleicht uns bei Namen, wie Pombal,
Struensee, Joseph II. Herrliche Tannen, die auf ihrem hohen Felsen
keine Nahrung und keinen Halt mehr für die gewaltigen Glieder fan¬
den und nun gestürzt und zerbrochen vor uns liegen. Tadelt den
Felsen nicht, daß er Stein, klaget die Tanne nicht an, daß sie empor¬
gewachsen: Das Fatum — ein Vogel, ein Windstoß — trug den
Samen dahinauf, wo seine Entwickelung, je reicher sie wurde, desto
sicherer zum Verderben führte.
Es ist auffallend, daß dieser unwiderstehliche Prozeß der Selbst¬
vernichtung verhältnißmäßig so selten da, wo er am Interessantesten
ist, an Mannern der Geschichte von unseren Dramatikern gezeigt wird.
Laube hat mit seinem Struensee einen sehr glücklichen Wurf gethan.
— Ein Mann von idealem Schwung der Gedanken, klarer Anschauung
und festem Willen, der schonungslos in die Schaden des Staates, in
die Vorurtheile der Kasten greift; ein Mann, der allein stehend es
versucht, was noch zwanzig Jahre nach ihm eine ganze und so leb¬
hafte Nation, wie die französische, nicht völlig ausführen konnte: die
Herstellung eines Vernunftstaates; ein Mann, welcher den Muth hat,
daß er das Volk zwingen will, frei und glücklich zu sein, und wel¬
cher, verkannt, mißhandelt, zum Schaffote geschleppt von demselben
Volke, nur an sich selbst, und doch weder an seinem Ideal, noch an
dem Volke verzweifelt, ein solcher Mann ist eine Heldennatur. Wie
lange wird es anstehen, und Dänemark erkennt als nöthig, ja als
einzige Rettung, was ihm Struensee geben wollte — Reform?
Jetzt ist es keine Person mehr, die ihm die Wohlthaten aufdrängen
will, jetzt ist es die zu allen Thüren eindringende Noth, die man
nicht verhaften, nicht eriliren, nicht umbringen, der man nur nach¬
geben kann.
Laube hat diesen Struensee, den despotischen Philosophen, der im
achtzehnten Jahrhunderte Gewalt brauchen mußte, wo jetzt vom Zeit¬
geiste weite Breschen gerissen sind, und der nur siel, weil er sich nicht
zu der für Staatsmänner unerläßlichen Mirabeau'schen Regel: „Qv«
Al'-ma« Jonnes no ävcjai^rollt pit« Jo» polie» me>>en»" bequemen wollte,
sehr wahr gezeichnet; nur mit Einer Ausnahme, wobei ich jedoch
gerne die Möglichkeit eines Irrthums zugebe. Der geschichtliche Struen¬
see war, so scheint es, nur den Leidenschaften des Kopfes, nicht aber denen
des Herzens unterworfen. Bekanntlich ist es unerwiesen, daß Struen¬
see in strafbarem Verhältnisse zu der liebenswürdigen Königin Karo¬
line Mathilde stand; denn das peinliche Verfahren gegen Struensee,
dessen Gegner unedel genug waren, sogar die gesetzlich von ihm auf¬
gehobene Tortur gegen ihn anzuwenden, ist eine Kette von Nichtigkei¬
ten, seine Verurtheilung einer der schreiendsten Justizgräuel des vori¬
gen Jahrhunderts. Der Pastor der französischen Gemeinde zu Zelle,
dem Verbannungsorte der unglücklichen Königin, Mr. Rogues, ein
sehr achtbarer Mann, versichert, daß die Fürstin unmittelbar vor ih¬
rem Hinscheiden ausgerufen habe: „Ich werde jetzt vor Gott treten,
Herr Prediger; aber ich betheuere, daß ich die Verbrechen, deren man
mich beschuldigt hat, nicht begangen habe, und daß ich meinem Ge¬
mahl nie untreu war." Nehmen wir aber auch an, daß Struensee
in einem Verhältnisse zur Königin gestanden, so ist es zwar von Laube
recht ästhetisch empfunden, daß er das criminelle Verhältniß in eine
unerwiederte Leidenschaft Struensee's und in eine eben erst aufkeimende,
aber züchtig bekämpfte und durch die Katastrophe überstürzte Neig¬
ung der Königin verwandelt hat. Allein dabei muß ich gestehen, daß
mir die Spaltung Struensee's in einen energischen, klaren und wil¬
lenskräftigen Minister hier und in einen fast bis zur Raserei schwär¬
merischen Liebhaber dort ein Widerspruch scheint, der zwar als Natur¬
spiel nicht gerade unmöglich sein wird, der aber die einheitliche Be¬
trachtung Struensee's hindert, weil wir immer wieder mit Anstreng¬
ung eine psychologische Kluft überspringen müssen. Sonderbar! Laube
selbst hat eine einfache Lösung nahe gelegt, ohne Gebrauch davon zu
machen. Seine Gräfin Gallen behandelte mit Struensee unter den
Scherzen der Liebe die Politik, sie freut sich darauf, als seine Gattin
diesen Genuß hoher Geister mit ihm fortsetzen zu können. Warum
erhob Laube nicht das Verhältniß Struensee's und der Königin auf
diese Stufe? Man sieht im Verlaufe des Stückes wohl, daß die
Königin der Politik nicht fremd ist und daß auf Struensee's Leiden¬
schaft, ob ihm selbst auch unbewußt, die politische Wichtigkeit der
Geliebten einwirkte: aber es müßte mehr hervorgehoben werden, mir
wenigstens ist eine bestimmte Andeutung dieses Moments entgangen.
Was das Interesse einer solchen staatsmännischen Haltung in der
Liebe betrifft, erlaube ich mir, an Woltmann's Memoiren des Frei¬
herrn von S—aa zu erinnern.
Eine vollendete Figur ist Ove Guldberg, der verschmitzte
Geistliche und Staatsrath. Laube läßt ihn das Dänenthum vertre¬
ten und macht dadurch diesen Charakter weit wirksamer/als wenn er
ihn zum Bösewicht aus gemeinen Motiven gestempelt hatte. Guld¬
berg handelt aus patriotischem Haß gegen die Deutschen; die Dänen
müssen ihm Recht geben und wir Deutschen selbst können ihm nicht
alle Theilnahme versagen. Dieser Gegensatz zwischen Dänen und
Fremden begleitet in Laube's Stück anziehend den in Struensee dar¬
gestellten Kampf des Genies gegen Herkommen, Kastenrecht und ideen¬
losen Zustand, und es fehlt nicht an überraschenden Reflexen für un¬
sere Gegenwart. Wieder stehen sich Deutsche und Dänen gegenüber,
wieder ficht die kleine tapfere Nation innerhalb der Wagenburg ihrer
Inseln und ihrer Heldenerinncrungen gegen das Vorrücken des deut¬
schen Geistes, der, ob auch zu Hause tausendfach zersplittert, doch nach
Außen sich zu einer compacten Masse zusammenschließt. Wer nicht
mit Gewalt sich wehren kann, der braucht List, wer seinen Groll ver¬
beißen muß, lernt Tücke. So mag es kommen, daß Dänemark, in
die Mitte geworfen zwischen englischen, deutschen, russischen und selbst
französischen Einfluß und seit lange daran gewöhnt, im Fahrwasser
fremder Politik steuern zu müssen, endlich eine gewisse Verstecktheit in
seinen Volkscharakter aufnahm, ohne daß man mit Arndt (in seinen
schwedischen Geschichten) diesen Zug schon aus den Völkerstürmen,
welche noch in heidnischer Zeit über Dänemarks Inseln wehten, zu
erklären braucht. —Ist aber das Antlitz der Zeit sich nicht erschreckend
gleich geblieben, wie ein starr nach Osten gewandtes Medusenhaupt,
wenn man die Worte lies't, womit Struensee seine Vertheidigungs¬
schrift schloß, einige Tage, ehe sein Haupt auf das Schaffst rollte:
„Ich habe oft genug daran gemahnt, daß Rußland nicht Däne-
marks einzige Stütze ist und daß man nicht Alles der Freundschaft
dieser Macht opfern soll!" — Guldberg, als Repräsentant eines stol¬
zen, unterdrückten und dabei klugen Volkes, ist von Laube mit wah¬
rer Meisterhand gezeichnet. — Gleiches ist von dem geisteskranken
König Christian VIt. zu sagen. Er schreitet in Finsterniß und doch
mit einigem Nachtwandlerinstinct; namentlich ist der Eifer, womit er,
die Sympathie zwischen Karoline Mathilde und Struensee gleichsam
empfindend, des Letzteren Vermählung mit der Gräfin Gallen be¬
treibt, ein feiner psychologischer Zug. — Ranzau, der Intriguant,
in dessen Gestalt Scribe in der hübschen Komödie Bertrand und Ra¬
ten Talleyrand auf die Bretter brachte, wird von Laube mit einem
Strich Gutmüthigkeit geschildert, bleibt aber doch ein zweideutiger,
unangenehmer Charakter. — Oberst v. Köller ist ein Edelmann, wie
ihn nur je ein im Feudalismus vermooster pommer'scher Edelsitz her¬
vorbringen sonnte: tapfer, brutal, hochmüthig. — Der Prediger Lo-
renz. repräsentirt die biedere Einfalt eines holsteinischen Landgeistlichen
und wird am Hofe in den Wirbel gerissen, der seinen Vetter Struen¬
see verschlingt. — Karoline Mathilde ist ein liebenswürdiges
Geschöpf, ganz geeignet, glücklich zu sein und glücklich zu machen,
darum auch ein schönes auserlesenes Opfer für das Unglück. — Leb¬
haft, geistreich, leidenschaftlich steht die junge Gräfin Gallen an ih¬
rer Seite, die von Struensee abgekehrte Liebe in martervollen Haß
gegen ihn kehrend.
Die Exposition des Stückes scheint mir beinahe in allen Theilen
vortrefflich. Man kann sich denken, wie lebendig das Ganze gehalten
ist, wenn tuam weiß, daß die Handlung nur Einen Tag umfaßt und,
ungeachtet schon der erste Act mit einem Aufruhr von Kopenhagen
schließt und ungeachtet Laube mit staunenswerther Kühnheit immer
denselben Saal für die Scene gewählt, also Einheit von Zeit und
Ort auf das Strengste bewahrt hat, dennoch die Spannung mit je¬
dem Acte sich steigert und erst mit der Katastrophe und dem Ende
des ganzen Stückes ihren Gipfel erreicht. Nur am Schlüsse dürfte
einige Kürzung gerathen sein. Sobald man einmal den Helden un¬
rettbar verloren weiß, ist die Mission der Bühne zu Ende; die De¬
tails der Erecution mögen der Chronik und der Einbildungskraft ver¬
bleiben.'
Fasse ich nun Alles zusammen, so ist Laubes Struensee ein
gelungenes, höchst geistreiches Werk, voll Frische und Charakter, die
glückliche Behandlung eines glücklichen Stoffes. So viel ich vom
Theater verstehe, wird ihm ein glücklicher Erfolg auf allen Bühnen
nicht fehlen können, wenn die Schauspieler das Ihrige thun, wie dies
bei der Aufführung in Stuttgart am 17. April der Fall war. Nicht
nur hatte Moritz das Stück musterhaft in Scene gesetzt und hatte
auf Costüme und Decoration sorgfältiges Studium verwendet, sondern
es gab auch das Ensemble des Spiels fleißige Proben zu erkennen.
— Moritz in der Titelrolle spielte den Struensee genau so, wie er
in Falkenskjöld's Memoiren gezeichnet ist: — „«i«- rivKe r-Me, to keine
frais, I'air ^>r,Tvieux «an« i'ion äVl^mint!, I<! snnrire -umitblo, 1^8 veux
xleins as vivseitv; et« I'»xilit«i. Aar» I«« exvrvioo« um vorps, san» prv-
tvotion it'v exoellki-, cke j'iiFivineiU <?t 6u i>.Ani'l!l d.-in» les maniöiüs, als
la politesse äg,n8 In, cnnvers.'nimm." — Lustberge r, Ove Guld-
berg, spielte gleichfalls vorzüglich; nur im letzten Acte streifte er einige
Mal an das Chargirte. — Löwe, der König, zeigt für Rollen die¬
ser Art viele Befähigung und wußte die Schwierigkeiten, welche die
Darstellung eines geistesschwachen Menschen mit sich bringt, mit Ge¬
schick zu überwinden. — Maurer, GrafRanzau, war körperlich und
geistig nicht leicht genug: Diplomaten, wie Ranzau — Falkenskjöld
rechnet ihn zu den ,rei«-ins nos ac» >,!v<>>nil»n» — treten nicht auf
dieselbe Art auf, wie der Wachtmeister in Wallensteins Lager. -
Auch Augusti, Koller, war eher ein bramarbasirender Fähndrich,
'als der Mann, der im Begriffe steht, Generallieutenant und einer der
Leiter des Königreichs zu werden, und dem bei aller Brutalität doch
nicht eine gewisse Überlegenheit, wie sie die Energie verleiht, fehlen
darf. Koller's Rolle ist schwieriger, als sie aussieht. -- Wallbach,
Loren;, kam nicht über die Mittelmäßigkeit hinaus. — Fräulein
Stubenrauch, Königin, hätte ihre Rolle wohl etwas liebenswür¬
diger, frischer, naiver geben können; da jedoch, wo sie auf die tragi¬
sche Höhe gerissen ward, im letzten Acte, spielte sie vorzüglich. — Ma¬
dame Wittmann, Gräfin Gallen, hatte vereinzelte gute Partien,
im Ganzen aber zu wenig Tournüre. — Das Haus war voll, die
Aufmerksamkeit des Publicums gefesselt, wie jenes tiefe Schweigen
bewies, welches dem Dramatiker mehr schmeicheln muß, als vieler
Applaus bei einigen Stellen und wenig Aufmerksamkeit für das
Uevrige. — Laube hat den Kunstgriff verschmäht, jeden Augenblick
Jemand mit Emphase abtreten und so den Beifall provoziren zu las¬
sen. Gleichwohl fehlte es nicht an starkem, und was mehr ist, an
richtigem Applaus; namentlich lebhaft ward die Stelle von der deut¬
schen Uneinigkeit beklatscht.
Zum Schlüsse noch eine Bemerkung. Ist es Zufall oder Symp¬
tom, daß neuerdings die Politik und zwar vorzugsweise die nordische
Politik ein Lieblingsthema unserer besseren Dramatiker zu werden
scheint? — Patkul^ Monaldeschi, Struensee, Pugatscheff. Ich mei¬
nes Theils halte es für Symptom eines in den Deutschen sich regen¬
den und in ihren Schriftstellern sich äußernden Bedürfnisses- Die
germanischen Völker suchen sich.
Die mis« en 8como des gestiefelten Kater hat fünf tausend
Thaler gekostet; eine schöne Summe für ein Stück, das nur ein
Mal aufgeführt wird. Nach der Hand erfährt man, daß der König
nichts weniger als erquickt von dem Stücke gewesen sei, und nur
aus Rücksicht für den greisen Dichter während des ganzen Stücks im
Theater blieb. Bei Hofe findet die Tieck'sche Richtung in Bezug auf
die Wiedererweckung der Antigone, Medea, Sommernachtstratim u. s. w
eine scharfe Opposition an der schönen und geistvollen Prinzessin von
Preußen, deren Bildung eine durchaus französische ist und die Racine
mehr Geschmack abgewinnt, als Euripides. Ein kleiner Triumph für'
Hof-Tieckianer ist es daher, daß sich das „«econil tliviltrs lriui^us",
das Odeon in Paris, das sacrarium der Antigone von Berlin kom¬
men ließ und die Hauptstadt der Mode, das Centrum Frankreichs,
der Geschmacksrichtung Berlins folgt!!!
Von A. von Sternberg befindet sich unter der Presse! Jena
und Leipzig, eine Novelle in einem Bande, und der dreibändige
Roman Paul, von dem einige Bruchstücke dem Lesepublicum aus
dem Morgenblatte bereits bekannt sind. Sternberg lebt seit drei Jah¬
ren in stiller, thätiger Zurückgezogenheit in Berlin. Ein russischer
Unterthan, dessen deutsche Bildung und Geistesrichtung sich an Deutsch¬
land klammert; der, statt in Petersburg um eine Stelle zu sollicitiren,
die dem Manne vom alten lieflandifchcn Adel kaum entgehen könnte,
es vorzieht, in einer deutschen Stadt zu wohnen, um seinem schöpferi¬
schen Drange nachhängen zu können; eine gewissermaßen von Deutsch¬
land wieder eroberte literarische Persönlichkeit, die bei Allem, was die
Kritik auch an deren Productionen zu tadeln hat, so viel des Schönen,
Eigenthümlichen, ja in Bezug auf Grazie fast Unübertroffenen auf
dem Gebiete des deutschen Romans und der Novellistik geschaffen hat,
sollte schon aus politischen Gründen auf freundliche Sympathien in
der deutschen Presse rechnen können. Statt dessen muß dieser treffliche
Schriftsteller fast bei jedem neüSn Buche, das er publicirt, sich gefaßt
machen, eine Reihe von persönlichen Angriffen, die weniger den Au¬
tor als den Menschen verletzen, in den Journalen zu erleiden. Wie
unbehaglich muß ein solcher Schriftsteller am Vorabend seiner Publi¬
cationen sich fühlen, und mit wie viel größeren Opfern und Seelen-
aufreibungen bezahlt er sie im Vergleich zu Anderen.
Ein literarischer Erwerbszweig, von dem man in früherer Zeit
kein Beispiel hatte, blüht in immer größerer Ausdehnung hier auf:
die Correspondenz-Literatur. Mit Ausnahme von Paris gibt es keine
Stadt, aus welcher tagtäglich so viele und verschiedenartige Eorrespon-
denzen in die deutsche Journalistik kommen, als Berlin. Dies ist ein
wichtiger Beweis^ wie viel Preußen in den letzten Jahren an Bedeu¬
tung und Interesse gewonnen hat in Deutschland. Zugleich aber zeigt
es den Fortschritt an politischer Bildung, den das Publicum sowohl
als die Schriftsteller gemacht haben. Gewiß, es ist von Seiten der
Letzteren noch Vieles unreif, übereilt und unbeholfen. Die wenigsten
haben in ihren Korrespondenzen einen bestimmten Zweck im Auge, und
selbst diejenigen, die sich ihrer Tendenz und des Endziels ihrer Be¬
strebungen bewußt sind, verfehlen oft die Mittel, um diesen zu errei¬
chen, überstürzen sich und verrathen ihre Karten. Bedenkt man aber,
daß Alles dies sich erst von unten auf heranbilden mußte; daß nicht
wie in Frankreich und England eine fertige politische Nationalbildung
der Journalistik vorausging; daß nicht Parlamente und Kammervcr-
handlun'gen den praktischen Sinn des Publizisten üben; daß er in die
Geheimnisse der Administration und der diplomatischen Verhandlungen
nur durch die Ritzen schauen kann; daß die unpatriotische Beamten¬
welt, welche, ohne das Amtsgeheimniß gerade zu verletzen, die wich¬
tigsten Führer der Fortschrittspresse liefern könnte, sich eines feigen
Stillschweigens befleißigt; bedenkt man dies Alles, so wird man geste¬
hen müssen, daß die geringen, von der Oberfläche geschöpften Mic-
ret, auf welche die Correspondenz-Presse reducirt ist, mit viel größerem
Geschick und Talent gehandhabt werden, als man zu erwarten berech¬
tigt ist, unddaß man, statt vornehm die Nase zu rümpfen, besser thäte,
das Talent dieser Männer auf eine dem Gemeinwesen heilbringende
Weise zu unterstützen durch Mittheilung von Aktenstücken, Thatsachen
und Aufschlüssen, die ein nützliches Licht auf die Verhältnisse des
Staates werfen und Discussionen herbeiführen könnten, die der Regie¬
rung wie den Regierten trotz aller temporären Aufregung nur zum
Vortheil gereichen würden.
Der Liedercomponist Truhn, auch in der literarischen Welt durch
seine Aufsätze in mehreren Blättern vortheilhaft bekannt, gedenkt von
Berlin nach Wien überzusiedeln. Wenn in Bezug auf literarischen
Verlag zwischen Wien und Berlin gar kein Vergleich zu ziehen ist,
da letztere Stadt im Meßkatalog nächst Leipzig als die meistproduci-
rende erscheint, so wird sie doch hinsichtlich des musikalischen Verlags
von Wien weit überflügelt. Während Berlin nur einen Musikverle¬
ger von Bedeutung hat, die unternehmende Schlesinger'sche Musika¬
lienhandlung, besitzt Wien ihrer mehrere von fast gleichem Range-
Haslinger, Mechctti, Diabelli. Es ist leicht zu begreifen, daß junge,
rasch producirende Tondichter ein weit günstigeres Terrain dort finden,
als hier. Zudem ist Wien arm an musikalischen Kritikern; mit Aus¬
nahme des >.>>'. Becher in Fränkl's Sonntagsblättern und Karl Knuts
in Witthauers Zeitschrift, ist die musikalische Kritik in den Wiener
Blättern sehr schlecht bestellt. Die norddeutsche Feder des Herrn Truhn
kann in dem verweichlichten Wien eine dankbare Thätigkeit finden.
Wir wünschen dem talentvollen Manne Glück zu seinem Entschluß.
Frau von Paalzow arbeitet an einem neuen Roman: „Jakob van
der Naas"; diesmal ist Amsterdam der Schauplatz, den sie sich ge¬
wählt Diese viel gelesene, Romandichterin hat vor anderen ihrer Bc-
rufsgenossinnen den Vorzug, daß sie zu ihren Büchern gründliche, ja
unermüdliche Vorstudien macht. Die fleißige Dame schrickt vor kei¬
nem, noch so dicken schweinsledernen Foliobande zurück, wenn er ihr
Aufschlüsse über ihr Thema bietet. In ihrem viel und gern besuchten
Salon bespricht sie sich mit Gelehrten jeden Faches über den gewast-
ten Gegenstand, und bei der Kunst des geschickten Ausfragens, welche
die Frauen überhaupt so meisterhaft verstehen, sind lebendige Studien
dieser Art dem Bücherfleiße der Männer an Resultaten für solche
Zwecke überlegen. Frau von Paalzow kann übrigens leicht fleißig sein,
ihr Fleiß wird wenigstens belohnt. Es ist kein Geheimniß, daß diese
Schriftstellerin den Bogen mit zwölf Louisdor von ihrem Verleger
honorirt erhält und außerdem in ihren Contracten höchst günstige Be¬
dingungen für spätere Auflagen u. s. w. hat. Wenn man hört, daß
einem französischen Autor der Bogen mit zweihundert und fünfzig
Franken honorirt wird (und mehr bekommen die gelesensten nicht),
schlägt man die Hände vor Verwunderung zusammen und nun haben
wir das Beispiel auf eigenem Grund und Boden. Fürst Pückler,
Lenau, Dahlmann, Sternberg und Frau von Paalzow mögen aller¬
dings die höchsten Honorarsatze unter den deutschen Schriftstellern er¬
halten: indessen ist die Zeit der Lorenz Kindlein, den Göttern sei Dank,
in Deutschland überhaupt vorüber. Die Feder manches Schriftstellers
ist ein ergiebigeres Allodialgut, als das Rittergut manches adeligen
Majoratsherrn. Der Adel ist von der Geistesaristokratie bereits aus
allen feinen moralischen und aus dem größten Theil seines politischen
Einflusses verdrängt worden, wird er nun auch materiell und gesell¬
schaftlich von ihr überflügelt?—und dahin kommt es in Deutschland
so sicher, wie in Frankreich, ohne daß wir eine Revolution dazu nö¬
thig haben.
— Eines der interessantesten Actenstücke, welches Hormavr in
dem so eben erschienenen dritten Bande der „Lebensbilder aus dem
Befreiungskriege mittheilt, ist ein Brief von Joseph !!. an Friedrich
Wilhelm et. Joseph ist so eben im Begriffe, gegen die Türken zu
ziehen. Friedrich Wilhelm II., dem der Feldzug, der den österreichi¬
schen Waffen ein offenbares Uebergewicht über die Pforte zu verspre¬
chen schien, ein Dorn im Auge war, wollte durchaus als Vermittler
auftreten. Joseph schrieb hierauf „seinem lieben Bruder" folgenden
denkwürdigen Brief, den Hormayr in französischem Original mittheilt,
den wir aber unseren Lesern in deutscher Uebersetzung vorführen:
„Mein Herr Bruder! Mit größtem Bedauern seh' ich mich genöthigt,
Ew. Maiestat zu bitten, Sie mögen darauf verzichten, in den Diffe-
renzen, welche zwischen mir und der ottomanischen Pforte entstanden
sind, den Vermittler machen zu wollen, — Das Schwert ist gezogen
und wahrlich nicht eher wird es in seine Scheide wieder zurückkehren,
bis ich nicht vollständige Genugthuung erhalten habe, bis ich nicht
wieder in Besitz dessen gelangt bin, was man meinem Hause entris¬
sen hat. — Ew. Majestät ist Monarch, und in dieser Hinsicht kön¬
nen Sie die Rechte des Königthums nicht außer Acht lassen. Mein
Unternehmen gegen die Osmanen, was ist es anders, als ein legiti¬
mer Versuch, die Besitzung jener Provinzen wieder zu erhalten, welche
die Zeit und die unglücklichen Ereignisse von meiner Krone losgelöst
haben? Die Türken — und vielleicht sind sie nicht die Einzigen —
haben die Maxime, in passender Zeit dasjenige wieder zurück zu er¬
obern, was sie in unglücklichen Zeiten verloren; warum sollte ich
nicht von demselben Rechte Gebrauch machen? Das Haus Hohen-
zollern, ist es von anderen Principien ausgegangen, um auf jenen
Höhepunkt zu gelangen, auf welchem es sich befindet? Hat Albrecht
von Brandenburg um die Zustimmung der benachbarten Staaten ge¬
fragt, als er das Herzogthum Preußen dem Orden entriß, dessen Be¬
standtheil es bildete ? Ihr seliger Oheim, entriß er Schlesien meiner
Mutter nicht in dem Augenblicke, wo sie, von Feinden umringt,
keine andere Stütze hatte, als die Größe ihrer Seele und die Liebe
ihres Volkes? Was haben denn jene Cabinette gethan, die heutzutage
ihr.europäisches Gleichgewicht in Anschlag bringen ? Welche Entschä¬
digung (>!Puvn!.^l) haben sie Oesterreich gegeben für die Besitzungen,
die es im Laufe dieses Jahrhunderts verloren hat? Meine Vorfahren
waren genöthigt, im Utrechter Frieden Spanien abzutreten, im Wiener
Frieden die Königreiche Neapel und Sizilien, einige Jahre später Belgrad
und Schlesien, im Aachener Frieden Parma, Piacenza und Guastalla
und kurze Zeit früher einen Theil der Lombardei. Und während die¬
ses Jahrhunderts voll Verluste, hat Oesterreich irgend eine bedeutende
Acquisition gemacht? Es ist wahr, es hat einen Theil Polens erhal¬
ten, allein Preußen hat ein besseres Stück davon bekommen, als ich.
Ich hoffe, daß meine Motive für den Krieg gegen die Pforte Ew,
Majestät entscheidend erscheinen werden, daß Sie die Gerechtigkeit
meiner Ansprüche nicht verkennen und darum nicht minder mein Freund
bleiben werden, wenn ich auch einige Hun d erttausend Orien-
talen germanisiren sollte! — Ew. Majestät können übrigens
versichert sein, daß ich in ähnlichen Verhältnissen die Grundsätze, die
ich so eben ausspreche, anerkennen werde, selbst wenn sie gegen mich
selbst gerichtet sein sollten. Ich empfehle mich der Fortdauer Ihrer
Freundschaft und bin und verblib it il A Mjestät
Freund und Bruder Joseph
— In der Berliner Literarische« Zeitung — herausgegeben von
>>>-. Karl Brandes — hat ein unsauberer Geist Randglossen zu Mar-
heineke's trefflichem Werke: „Die Reform der Kirche durch den Staat"
mitgetheilt. Wenn der Zusatz: „Von einem seiner früheren Zuhörer"
keine Lüge enthält, so enthält er eine Ruchlosigkeit, denn wenn es auch
sehr zu verstatten ist, daß ein ehemaliger Schüler seinen gewesenen
Lehrer wissenschaftlich bekämpft, so ist es doch ruchlos, mit dieser trau¬
rigen Impietät gleichsam zu prahlen, und dies ehemalige Verhältniß
ohne Noth als Fahne vorauszutragen. Aber wie diese Fahne ist auch
alles Ändere, was der unsaubere Geist in den Streit führt, lumpig,
schmutzig, gehässig, geistlos zum Erbarmen. Solche armselige Rand¬
glossen ziehen wie ein ungeordneter Troß einher, nur zum Plündern
gut, aber zu keinem ernstlichen Gefecht; beim ersten Kanonenschuß
läuft das Zeug auseinander und davon. Belustigend ist nur, wie
diese Randglossen so thun, als wäre ihnen Marheineke's Buch nicht
tief genug, und dann auch wieder nicht stichhaltig genug, daher ohne
eigentlich praktisches Resultat! Die Seichtigkeit klagt über Mangel an
Tiefe, die Ohnmacht über Mangel an Kraft, die abgestandene Pedan¬
terie über Mangel an praktischem Eingreifen! Die protestantischen
Jesuiten, welche Marheineke so glücklich und scharf gezeichnet, möchten
allerdings ihre Schmerzensschreie unterdrücken und sagen, es thut nicht
weh! Ihr Stöhnen, ihre verzerrten Züge verrathen, wie sehr sie ge¬
troffen sind! — Uebrigens gibt es vielleicht in ganz Deutschland keine
Zeitschrift, die beim Publicum in solcher Mißachtung stünde, wie die
Berliner Literarische Zeitung, und wenn Subventionen — wie allge¬
mein (wir hoffen: irrig) gesagt wird — einer Behörde dafür statt
haben, dürften sie bei keinem Blatte trauriger und nutzloser vergeudet
sein! — —
— Einem Volke, einem Staate — behauptete kürzlich ein nam¬
hafter Mann in Berlin — könne nichts Vortheilhafteres widerfahren,
als wenn seine Schwächen und Fehler gerügt und gestraft würden;
deshalb sei England so groß und mächtig, weil es in seinem Parla¬
mente eine stets arbeitende innere Anstalt besitze, die das Falsche und
Schlechte niederzureißen, oder wenigstens aufzudecken bemüht sei; an¬
dere Länder müßten froh sein, wenn dergleichen bisweilen von außen
ihnen zukomme, so habe Nußland seinen Custine, Oesterreich seinen
Hormayr; des Letzteren eben erschienener dritter Band der Lebensbilder
aus dem Befreiungskriege sei für Oesterreich, was Custine's Werk
über Rußland für dieses: wohlthätige, wenn auch schmerzhafte chirur¬
gische Hilfe für alte Schäden.
— Eine kleine baierische Revolution, wie sie fast alljährlich wie¬
derkehrt, hat auch diesmal in München den Frühling eingeläutet.
Man glaubt, das kindliche Baiernvolk würde sich ohne eine leichte
Purganz der Art nicht wohl befinden. Die Zeitungen brauchen uns
aber nicht erst zu versichern, daß die Münchener Unruhen durchaus
keine politische Bedeutung haben; man weiß, es kann sich in einer
baierischen Revolution weder um Konstitution und Preßfreiheit, noch
um protestantische Kniebeugung und Anbetung des bekannten Oelbil-
des, oder um den zu vier Jahren Festung verurrheitten Redenbacher,
noch um andere theoretische Grillen handeln: es handelt sich lediglich
um — Bier. Das sogenannte Bock- oder Salvatorbier, das im
Frühjahr getrunken wird, soll von unvergleichlich aufregender Kraft
sein und bringt stets unangenehme Reibungen zwischen Militär und
Bürgerlichen hervor. Dazu kam in der heurigen Bocksaison eine Ver-
theuerung des Bieres, um zwei Pfennige das Seidel. So griff denn
das Volk zu den Waffen und wollte mehrere Brauereien stürmen.
Die Kuirassiere rückten aus und nach einigen Stunden war die Emeute,
gedampft. Blos Ein Menschenleben siel als Opfer; beinahe wie in
Athen, wo der Kampf um die Verfassung zwei Menschen kostete.
Ein Unterschied ist aber auch dabei: die Griechen erlangten wirklich
die Constitution, für welche sie sich erhoben; ob die Münchner den
Sturz der Zweipfennigtyrannei erlangt haben, wissen wir nicht. Das
Publicum soll sich aber nun — im Katzenjammer — seiner schlechten
Aufführung schämen und bemühte sich, wie ein Korrespondent der
Deutschen Allgemeinen andeutet, durch die loyale Begeisterung und
den enthusiastischen Jubel, mit dem es im Theater die höchsten Herr¬
schaften empfing, gut zu machen, was es verschuldet hat! —
— In Se. Petersburg soll man über den allgemein überhand¬
nehmenden Russenhaß eben so erstaunt, als empört sein. Auf die
Liebe des deutschen Volkes glaubt Rußland besonders große Ansprüche
zu haben, da es sich fortwährend mit nur zu aufopfernder Zärtlichkeit
um unser politisches Heil und unsere nationale Zukunft bekümmert.
Undank ist der Welt Lohn! Rußland war von jeher um die Existenz
und Freiheit all seiner Nachbarn besorgt und überall, bei Türken,
Polen, Tscherkessen, Ungarn, Schweden, Dänen und Deutschen hat
es Nichts als Haß geerntet. Diese bittere Erfahrung dürfte noch
einst schlimme Folgen haben. Rußland ist groß und uncivilisirt ge¬
nug, um sich blos'mit seinen eigenen Angelegenheiten zu beschäftigen.
Es könnte der Tag kommen, wo es sich von der undankbaren Welt
ganz zurückzieht, seine diplomatischen Verbindungen mit unseren Höfen
abbricht, wo es selbst Polen aufsperrt und die Grenze Europas vom
Ural weiter nach Westen verlegt. Dann blieben wir unserem Schick¬
sal überlassen und würden manchmal ausrufen:
Wer soll künftig unsere Kleinen lehren,
Mores haben und die Fürsten ehren?
Wenn kein Rußland mehr uns Noten schreibt!
Hunderte von deutschen Herzen, denen die Sterne Rußlands theuer
geworden sind, würden es schwer empfinden. Verödet ihre Knopflö¬
cher, verwaist die heilige Stätte der Auszeichnung auf dem Busen
ihrer Fräcke! In der That muß man vor Allem warnen, was eine
solche Katastrophe beschleunigen kann. Rußland beginnt schon, sich
abzuschließen und laßt seine Kinder nur ungern in das Innere Eu¬
ropas reisen. So eben ist die russische Neisepaßtare um das Vier¬
fache erhöht worden-. -Sonst betrug sie fünfzig Silberrubel jährlich,
jetzt muß der Russe für die Erlaubniß, ein Jahr lang freie nicht-
russische Luft zu schöpfen, zweihundert Silberrubel zahlen. Eine Fa¬
milie bezahlt für jedes einzelne Glied, und wäre dies ein Säugling;
ein Ehepaar mit drei Kindern z. B. für das Heimweh, das sie etwa
in der Fremde sich holen dürften, jährlich tausend Silberrubel; unge¬
fähr so viel, als mancher bescheidene Haushalt kostet.
— Die herzoglich Sächsischen und auch die Anhaltischen Sou¬
veräne haben sich aus eigener Machtvollkommenheit den Titel: Ho¬
heit beigelegt. Warum nicht? Napoleon setzte sich die Kaiserkrone
auch eigenhändig auf's Haupt. Man behauptet, die Coburger und
Altenburger würden darin von Frankreich, England, Spanien und
Portugal unterstützt, auch Nassau sei zu einem ähnlichen Schritte be¬
reit und werde von Rußland dazu aufgemuntert, während Oesterreich
und Preußen noch zu keinem festen Entschluß über Anerkennung oder
Desavouirung der Hoheiten gekommen seien. Es wäre traurig, wenn
der deutsche Bund Schwierigkeiten machte und dadurch eine Inter¬
vention der Großmächte, vielleicht gar eine neue Spaltung des eini¬
gen Vaterlandes herbeiführte. Auf dem Leipziger Lesemuseum übri¬
gens hat sich bereits Herzog Joseph von Altenburg, der es besuchte,
mit dem Prädicate Hoheit in's Fremdenbuch geschrieben. Wahrschein¬
lich steht also zu hoffen, daß man die Hoheitöerklärung als ein i'.ut
ilccomsili gelten lassen und den europäischen Frieden um einer an sich
ganz harmlosen politischen Arrondirung willen nicht weiter stören
werde.
— Nach langem Waffenstillstand war unlängst wieder ein großes
Iweckessen in Leipzig, im Schützenhause; dem Abgeordneten Braun
zu Ehren. Unter den auswärtigen Toastirendcn zeichneten sich Todt,
Braun, Bürgermeister Hempel von Altenburg u. a. aus. — In einer
literarischen Abendunterhaltung, die im Gewandhause gegeben wurde,
improvisiere O. L. B. Wolff aus Jena, die Hagn declamirte und Her-
loßsohn las sehr witzig über die „Philosophie des Luxus und der
Moden". Der Polizeidirector Dunker aus Berlin war zugegen; die
Lehrfreiheit wurde aber nicht gestört.
— Unser König ist kein Preuße, hörte ich jüngst eine Kölnerin
aus den untersten Ständen sprechen. — Was ist er denn? — El, er
ist ja lutherisch. — Die Kölnische Zeitung sollte dieses wunderliche
Sibyllenorakel als Motto über ihre Spalten setzen: es liegt eine große
Wahrheit darin und zugleich der Schlüssel zum Verständniß vieler
Conflicte, in welche das genannte Blatt sich selbst nicht selten ver¬
wickelt hat oder durch äußeren Anlaß verwickelt worden ist. Wir
haben über die angedeutete „große Wahrheit" in der ersten Nummer
dieser Skizzen weitläufiger uns ausgesprochen, doch mußten wir noch
einmal hierall anknüpfen, um zu einigen kurzen Erörterungen über
journalistische und speciell literarische Verhältnisse überzugehen.
Die Kölnische Zeitung hat so tiefe Wurzel gefaßt in dem Volks-
bewußtsein der Rheingegenden, sie wird nicht blos daselbst gelesen,
sondern die öffentliche Stimme, der Charakter des rheinischen Volkes
spricht sich so entschieden darin aus — (oder vielmehr er „spräche"
sich aus, wenn er's nämlich ganz dürfte) — daß sie durch ihre so¬
liden, nationalen, dem materiellen, wie geistigen Fortschritte huldigenden
Bestrebungen ein Organ der Rheinprovinz, im wahren Wortsinne,
nicht in dem viel gemißbrauchten — ein Organ des katholischen Li¬
beralismus hätte werden können; allein es geht ein finsterer Geist
durch dieses Haus, und die Bande der Censur ziehen sich von Tag
zu Tag enger über den rheinischen Blättern zusammen. — Die prcu-
ßische Journalistik leidet ganz unglaublich unter dem neuen Preßge-
>etze, sie wird weit härter von ihm gedrückt, als man gemeinhin
glaubt. Gar wohl scheint man in Berlin überlegt zu haben, wie
mächtig unser aufstrebendes Zeitungswesen das Volk antreibt, in That
und Gesinnung Theil zu nehmen am öffentlichen Leben, es vor¬
bildet zu würdigem, selbstbewußten: Staatöbürgerthum statt eines be¬
wußtlos dahin vegetirenden Untcrthancnwesens; wie es vor Allem
das Gold neuer Ideen, welches sonst blos in den Truhen der wis¬
senschaftlichen und politischen Großmoguls ruhen würde, in Scheide¬
münze umsetzt und unter die Leute zu bringen weiß. Vielen Herren
behagt dieses Treiben nun eben nicht sonderlich, und jener Paragraph
des Preßgesetzcs, welcher nur eine ernste, bescheidene und möglichst
gleichmäßig erschöpfende Besprechung öffentlicher Angelegenheiten ge¬
stattet, vermag in der That — so unschuldig er lautet — unter Um¬
ständen aller Journalistik den Todesstoß zu geben; denn er greift sie
in ihrem innersten Wesen an,, er verbietet ihr jenes Flüchtige, Beweg¬
liche, Drastische, oft mit vollem Rechte auch Einseitige, was ge¬
rade die Zeitung vom Buche unterscheidet. Sie soll eben nicht in
erschöpfenden, breitem, wissenschaftlichem Ernste ihr Thema behandeln;
blos andeuten soll sie's, anregen, auf Einen Punkt sich werfen, ihn
in grellen Schlaglichtern beleuchtet hervorheben, mit allen Waffen des
Humors, der Ironie ihren Satz vertheidigen; denn sie ist blos auf
den Moment berechnet, drum kann sie aber auch, weiß sie sich
seiner zu bemächtigen, mit der vollen Blitzesgewalt des Momentes
zünden. Jeder, der für preußische Journale arbeitet, wird gestehen,
daß man sich hier beengter fühlt durch das neue Preßgcsctz, als durch
die volle Strenge der alten Censur. Von der anderen Seite ist da¬
gegen die gedrückte Stellung der preußischen periodischen Presse heil¬
sam für die dortigen Blätter. Die Kölnische Zeitung hat z. B. sehr
viele Abonnenten—Embonpoint; — würde man sie ruhig und un¬
angefochten gewähren lassen, so dürste sie leicht zu fett und träge
werden. Die Nachtigallen singen nur, so lange sie lieben, die Poeten,
so lange sie hungern, und die Zeitungen sind in der Regel voll hei¬
ligen Eifers, so lange sie mit Concurrenz oder Censur zu kämpfen
haben. — Preußen fügt seiner Journalistik aber dadurch einen gro¬
ßen Schaden zu, daß es sie der eben als heilsam bezeichneten Riva-
tidal mit anderen sogenannten „ausländischen" Blättern ziemlich über¬
hebt durch den enormen Postausschlag, womit nicht sowohl jene Zei¬
tungen selbst, als ihre Tendenzen besteuert werden. Auf die Mannheimer
Abendzeitung abonnirt man in Mannheim mit vier Gulden
für den Jahrgang; in Köln, in demselben Köln, welches den deut¬
schen Einheitsdom in seine Mauern schließt, mit neun Thalern!
Als der Grundstein zum neuen Dombau gelegt wurde, hat man es
wahrscheinlich vergessen, ein solches ausländisches Neun-Thaler-Erem-
Vlar den übrigen Dokumenten zum Frommen der Nachwelt beizu-
schließen. — Abgesehen übrigens von diesen blos äußerlichen, vielleicht
vorübergehenden Hemmungen dürften die preußischen Rheinlands, trotz
der.politischen Regsamkeit, die sich dort energisch genug im Volke
kund gibt, fin's Erste wohl wenig geeignet sein, eine recht vollkräf¬
tige nationale Journalistik zu Tage zu fördern, weil das religiöse
Element in schroffem Vortreten die Entfaltung des politischen gewal¬
tig beeinträchtigt. Die Kölnische Zeitung, als Hauptrepräsentantin
der Einen Seite, ist zu entschieden katholisch, um beim besten Willen
national sein zu können; ihr engeres Lesepublicum selbst nimmt es
in dieser Beziehung sehr genau und die Redaction hat mit vielen
störenden Rücksichten zu kämpfen. Die Elberfelder Zeitung hingegen,
welche man an die Spitze der protestantisch-pietistischen, also natürlich
konservativen Richtung stellen könnte, macht gar keinen Anspruch dar¬
auf, national zu sein, sie läßt sich's vielmehr recht gern daran genügen,
daß sie „echt Berlinisch" ist. Sie zählt auch manches Berliner Renommve
unter ihre Korrespondenten und Mitarbeiter, und mein journalisti¬
scher Scharfblick thut sich Etwas darauf zu Gute, den Herrn V. A. H.
gleich primit vise-l in diesem Blatte erkannt zu haben, an seinem
überaus originellen Style nämlich, den er in den Broschüren über
„die konservative Partei", über „die romantische Schule in Frankreich"
:c. so glänzend entfaltete, daß man ihn sein Leben lang gewiß nicht
wieder vergißt. Da der Herr Professor, von Gott und seinen Zu¬
hörern verlassen, nunmehr, wie man vernimmt, eine eigene Zeitschrift
zu begründen gedenkt, so nehmen wir uns die Freiheit, ihn auf ein
sehr passendes Thema zu einem einleitenden Artikel für besagtes Blatt
aufmerksam zu machen: „Warum schreiben fast alle ministeriellen Ber¬
liner von der Farbe des Herrn V. A. H. ein so überaus fließendes,
anmuthiges, kunstreich gewobenes Deutsch? Gehört ihr köstlicher Styl
zum Wesentlichen der Partei, oder ist er ein bloßes Adiaphoron? —
Viel guter Samen, der Bürge einer besseren Zukunft, schlummert
in dem rheinischen Volke, aber wer thut dafür, daß er aufgehe?
Preußen hat sein altes, schönes Privilegium, der Staat der Intelli¬
genz zu sein, mit der größten Bereitwilligkeit an die kleineren deut¬
schen Länder, namentlich des Südwestens, abgetreten, und in Berlin
hört man auf der Einen Seite sast nur das Gnadengewimmer ei¬
nes wahrhaft unwürdigen Pietismus, andererseits das polternde
Raisonnement eines hohlköpsigen, aufgeblasenenScheinliberaliömus. —
Wir gehen von der rheinischen Journalistik zu einer skizzirten
Schilderung der Wirksamkeit einiger literarisch bedeutenden Männer
über, die an den Ufern des Rheines sich niedergelassen haben. In
seltsamer, freiwilliger Jsolirung, sowohl unter einander, als den Inter¬
essen der Zeit gegenüber (nicht der Parteien, meine ich), hat sich ein
Theil der rheinischen Poeten und Literaten des entschiedenen Einflus¬
ses begeben, welchen man früher wohl von einem geschlossenen, ge¬
meinsamen Streben erwartet hat. — Freiligrath sitzt in Se. Goar.
Läßt sich's doch kaum begreifen, daß ein so begabter Geist nach den
ersten glänzenden Erfolgen bereits mit einer nur tropfenweisen Spende
seiner Produktion karge! Soll man es einer schnell erschöpften Ein¬
seitigkeit des Talentes Schuld geben? Freiligrath's neueste Gedichte
legen Protest ein gegen diese Behauptung, denn sie lassen uns einen
bedeutenden Umschwung seiner inneren Entwickelung ahnen und be¬
urkunden genügend, daß seine dichterische Kraft auch die langen un¬
fruchtbaren Jahre hindurch ungebrochen sich erhalten; aber was ist
mit drei, vier lyrischen Gedichten aufs Jahr gewonnen? Man braucht
kein radikaler Oppositionsmann, kein politisierender Kunstvandale zu
sein, und kann doch wohl die bescheidene Frage stellen: Wo nehmt
Ihr Herren am Rheine in unseren Tagen Ruhe und Friede her, Nichts
als lyrische Gedichte zu sreiben?
Simrock wohnt in Unkel. Er bleibt fort und fort mit Dich-
teil und Trachten der grauen deutschen Vorzeit verhaftet, und erst
vor Kurzem hat wieder ein „Amelungenlied" die Presse verlassen. In
gewissem Sinne verdient seine eherne Beharrlichkeit Anerkennung in
unserer zersplitterten, aphoristischen Zeit, und man wird zugeben müs¬
sen, daß die gepriesenen alten Meister der Architectur, Malerei, Ton¬
kunst, Poesie dem rastlosen Sich-Versenken in Eine Gattung, die sie
in all ihrem Detail zu bewältigen nicht müde werden konnten, die
schönsten Blätter ihres Lorbeerkranzes danken. Nur ein kleiner Unter¬
schied dürfte nicht übersehen werden. Die alten Meister hielten streng
bei Einem aus, dieses Eine aber hatte seine Wurzeln tief im Leben
der Zeit geschlagen; Karl Simrock beharrt gleichfalls unverdrossen
bei dem Einen, Erkorenen; das Eine aber liegt unserer Zeit ganz
entsetzlich sern. Nur am Rheine ist mir dieses begabten Dichters
Trachten einigermaßen begreiflich geworden; — hier wird so viel
gedombaut und bei fast jeder neuen Dorfkirche schreiben die Architec-
ten Erercitien des gothischen und romanischen Styles, hier wucherten
die schmachtenden Düsseldorfer Lilien, die gemalten Goldschmiedötöch-
terlein und Edelfräulein, daß man auch Simrock's altdeutsche Rococo-
studien in gewisser Hinsicht ganz liebenswürdig finden kann.
Gottfried Kinkel, keiner der Geringsten in der rheinischen
Poeten-Diaspora, wohnt auf Schloß Poppelsdorf — (nicht absichts¬
los legen wir jedesmal einen Accent auf den Wohnort). Seine im
verflossenen Jahre bei Cotta erschienenen Gedichte sind in der ungün¬
stigsten Zeit vor's Publicum getreten und deshalb im Ganzen we¬
niger beachtet worden, als sie verdient hätten, ebenso sein treffliches
Dichtwerk: Otto der Schütz, eine rheinische Geschichte in zwölf Aben¬
teuern. Ein hoher männlicher Ernst, eine thatkräftige Gesinnung spricht
sich in Kinkel's Poesien aus, lyrisch verklärt in der geheimen Weh¬
mut!) über das Vergebliche seines Ringens, die auch manchmal in halb
verbissenem Groll, in bitterer Ironie gewaltsam hervorbricht. Man sieht,
Kinkel hat während des Trauerspiels der Gegenwart die Augen offen
geHallen, und dennoch ist er rheinischer Poet, d. h. er muß, die Aben¬
teuer Otto's des Schützen singen, die sich vor fünfhundert Jahren
ereignet haben. O, man hätte nicht nöthig, zu den Nibelungen und
Amelungen oder an den Hof Dietrich's von Eleve zurückzugehen, um
rheinische Abenteuer zu schreiben! Ihr Herren Poeten am Rheine.
wie habt Ihr sie in den verflossenen drei Jahren des fünften Deren-
minus unseres Jahrhunderts so nahe gehabt, Abenteuer der ernsthaf¬
testen wie der lustigsten Art! Leset doch nur fleißig in der großen
Kölner Zeitung und dann schreibt: „Der rheinische Landtag, eine
tragische rheinische Geschichte in zwölf Abenteuern." Geht in die Eifel,
an den Westerwald, in's Münsterland, in's Siegen'sche, laßt Euch
von den hnngrigl'ii Bergleuten Etwas vorerzählen und dann schreibt:
„Der englische Zollvertrag, eine traurige rheinische Geschichte in
zwölf Abenteuern." Betrachtet Euch die Pietisten, die gelehrten und
ungelehrten in Bonn, in Elberfeld; hört die Mucker im Wupperthale
singen und beten und seufzen, und dann schreibt: „Das tausendjäh¬
rige Reich am Rheine, eine betrübte rheinische Geschichte in zwölf
Abenteuern." Seid Ihr aber Humoristen, dann stellt Euch vor den
Kölner Einheitsdom, forschet nach, warum es mit dem Bau nicht
mehr rechts vorwärts will, und paru schreibt: „Der gothische Kinder¬
scharlach, eine lustige rheinische Geschichte in zwölf Abenteuern." —
Karl Grün (früher auch Pseudonym Ernst von der Haide) in
Köln, ein rühriger, gesinnungskräftiger Literat, dem seine Schicksale
als Redacteur der Mannheimer Abendzeitung schon ein gewisses Re¬
lief geben (wann schreibt ein industriöser Kopf eine literarische Mar-
tyrologie des neunzehnten Jahrhunderts?), hielt vergangenen Winter
Vorlesungen über Schiller, später über Shakespeare. Die letzteren
wollte eine löbliche Behörde anfangs nicht gestatten und machte end¬
lich die Clausel, daß nichts auf Religion und Staat Bezüg¬
liches darin vorkommen dürfe. O Ihr Männer von Köln! habt
Ihr jemals sechs Seiten überflogen in den historischen Dramen des
großen Briten? Da wird ja von ganz anderen Dingen geredet, als
wie es einem unglücklich liebenden Pärchen bei seinen Weißzeugschrän¬
ken zu Muthe ist; — da schreitet die Weltgeschichte auf dem Kothurn
einher, und der gewaltige Meister hält sein Weltgericht, oder, wie ein
preußischer Censor sich etwa ausdrücken würde, er läßt sich frechen
Tadel zu Schulden kommen über die Vorfahren Ihrer königlichen
Majestät Zc. Und doch hat Shakespeare seine Dramen nicht nach
Zürich und Winterthur zu flüchten brauchen, er hat sie aufgeführt
vor den Augen „seiner Schwester Elisabeth", wie er selbst sie nennt.
— ES ist ein gutes Zeichen der Zeit, daß die Literaten aller Orten
durch Vorlesungen in unmittelbaren mündlichen Rapport mit dem
Publicum zu treten suchen, besonders solche, die, wie Grün das Ta-
lent der Darstellung, des journalistischen Effects vorzugsweise aus¬
gebildet haben, ohne daß es dem Ernste der Auffassung Abbruch thut.
Viel läßt sich hierdurch vorarbeiten im Interesse der Oeffentlichkeit über¬
haupt, so wie insbesondere eines allgemeinen ästhetischen Sinnes, ei¬
ner künstlerischen Erziehung des Volkes. Bei alledem aber arbeitet
man aufs Entschiedenste häufig von einer Seite entgegen, von wel¬
cher man's nicht erwarten sollte. Ich erlaube mir eine kleine Ab¬
schweifung, um doch Ein Beispiel, statt vieler, anschaulich zu machen,
wie man selbst in dem gepriesenen, an öffentlichen Denkmalen so
reichen Köln aus egoistischen Zwecken dem Volke die Gelegenheit der
Bildung durch Kunstgenuß zu schmälern weiß. Aller Welt ist's be¬
kannt, daß sich in der Peterskapelle daselbst jenes berühmte Altar¬
blatt des Rubens — die Kreuzigung Petri — vorfindet. Nun hatten
die Franzosen vor Zeiten das prächtige Bild in ihr Pariser Welt¬
museum entführt, und man sah sich damals genöthigt, eine mittel¬
mäßige Copie an dem verwaisten Platze aufzustellen. Als aber im
Jahre 1813 das Original wieder heimgebracht wurde, nahm man
die schülerhafte Nachbildung wohl sogleich herunter und rollte das
Meisterwerk wieder auf für die Augen der andächtigen Künstler und
Beter? Mit Nichten. Der heilige Petrus sollte nicht umsonst seine
Kunstreise nach Paris gemacht haben, und man wußte in recht ar¬
tiger Weise Vortheil davon zu ziehen. Die Copie blieb, wo sie war,
auf die Rückseite des Rahmens aber spannte man das Original, un
wenn nun Jemand den echten Rubens sehen will, so hat er, lau
eines Anschlages, einen halben Thaler in den Kirchenfond zu ent
richten, und der Küster dreht ihm das Bild um — nicht wahr, da
ist doch industrios? Also für einige Künstler und Kenner und fü
ein Paar Dutzend reisende Engländer, die durch ihr Reisehandbu
in die Kirche getrieben werden und für ihren guten halben Thale
das Recht sich erkaufen, I.o-uitilül, vel? Il«ZcuuiüiI! zu rufen, hätt
Rubens sein gewaltiges Bild gemalt? Nein, er malte es für da
Volk, für die Schaaren der Andächtigen, die sich künstlerisch oder re
ligiös an ihm erbauen sollten und jetzt vor der matten Copie sitzen
an welcher wenig Erbauliches zu finden ist. — Es ist so ein schöne
Zug des Katholicismus, daß er die Kunst in seine Tempel herabbe
schworen hat und die Thüren der Gotteshäuser täglich für den geöff
net hält, der in ihrer Beschauung Freude, Stärkung, Genuß finde
mag, daß er die Kunst öffentlich gemacht hat und das Volk ästhetisch-
religiös zu erziehen sucht. Nun klage man noch über verschwundene
Oeffentlichkeit der Kunst! Hier sind Anknüpfungspunkte genug gege¬
ben zur Wiederherstellung eines allgemeinen künstlerischen Sinnes,
aber man ist auch da zu bettelhaft und zieht ein Paar lumpige Tha-
ler der Förderung des edeln Zweckes vor. —
Roderich Benedir, der Lustspieldichter, ist Regisseur des Köl¬
ner Theaters. Sein Doctor Wespe hat nicht blos nach dem Spruche
der Berliner Preisrichter einen Preis davongetragen, sondern auch
nach der Stimme des Publicums. Nichtsdestoweniger ist Benedir
vielfach ungerecht, zu hart beurtheilt worden. Man stellte z. B. jenes
Stück oder gar den „langen Israel" in Parallele mit Gutzkow's
Zopf und Schwert und fand es natürlich ziemlich unbedeutend neben
demselben; man machte Ansprüche geltend, deren Berücksichtigung von
vorn herein ganz außer dem Gesichtskreise des Verfassers gelegen
hatte. Benedir hat viel Theaterroutine, schriftstellerischen Tact, viel
Witz auf Kosten des echten Humors, und versteht, wie man's nennt,
einen glücklichen Griff zu thun. Dagegen ist ihm die höhere Idee
des Komischen so wenig aufgegangen, als er den gegliederten Orga¬
nismus eines harmonischen Kunstwerkes darzustellen weiß; aber seine
Lustspiele füllen eine Lücke im Repertoire aus und stehen gewiß hoch
über den Fabrikaten des Herrn H. Börnstein und Comp., obgleich
sie schon jetzt durch eine große Familienähnlichkeit sich gegenseitig Ab¬
bruch thun. Vielleicht wäre eine ähnliche Stellung an einem besseren
Theater für Benedir von großem Vortheil; die Kölner Bühne in
ihrem gegenwärtigen Zustande ist wenigstens durchaus nicht geeignet,
höhere Strebungen zu fördern.
Als Gutzkow im vergangenen Winter im Feuilleton der Kölni¬
schen Zeitung ein Paar harte Worte über E. Geibel gesprochen hatte,
nahmen's ihm viele urtheilsfähige Leute am Rheine sehr übel; man
meinte, Geibel sei ein harmloser Mensch, der ja recht schöne, sinnige
Verse mache :c. und bald darauf trat Gustav Pfarrius sogar in die
Schranken, um eine Lanze für seinen gleichfalls angegriffenen Lands¬
mann, den alten Götz, einzulegen. Diese Zartsinnigkeit ist sehr be¬
zeichnend für das rheinische poetische Treiben. Es mag recht schön
sein, auf einer anmuthig gelegenen Villa am Rheine zu wohnen, im
Umgange mit wenigen lieben Menschen und der reizenden Natur ein
poetisches Stillleben zu führen und schwankenden Gefühlen und Vor¬
stellungen, wie sie gerade die Stunde bringt, im lyrischen Gedichte
Form und Dauer zu geben 'zu Rückerinnerungen an gute Tage in
Zukunft — das ist so ein harmloses Dichterthum. — Mir träumte
aber manchmal, der Dichter sei ein Seher und Sänger, nicht blos
seines eigenen Herzens, sondern seines Volkes, seiner Zeit und in
seinem Busen könne es nimmer ruhig werden, weil ihr ganzer, voller
Schmerz und ihr ganzer, voller Thatendrang darin vergraben sei.
Ihr sagt vielleicht, das sei blos ein thörichter Traum gewesen? —
Wissen Sie vielleicht, schrieb Voltaire 1766 an d'Alembert,
was in dreißig Jahren die Revolution, welche jetzt von Neapel bis
Moskau in den Geistern vor sich geht, hervorbringen wird? Ich bin
zu alt, um noch hoffen zu können, Etwas davon zu erleben; aber
ich empfehle Ihnen die Zeit, welche jetzt ihren Anfang nimmt.
Wenn Voltaire gleich Epimenides plötzlich aus dem Grabe stiege
und sich an den Eingang der Galerie stellte, durch welche Dupin in
den Kammcrpalast geht, würde der Philosoph von Ferney eine ge¬
nügende Antwort auf seinen Brief finden und in dieser festen, stark
ausgesprochenen, sarkastischen und bis zu einem gewissen Grad geist¬
reichen Physiognomie eine ganze Revolution lesen können.
In der That erscheint uns auch Dupin in seinem ganzen kör¬
perlichen und geistigen Sein als der vollständigste Typus jenes 1°ier8-
«5t-it, welcher, nachdem er acht Jahrhunderte lang seine Beschwerden
mit gebeugten Knieen und in voller Demuth zu den Füßen des Thro¬
nes niedergelegt hatte, eines Tages plötzlich aufstand und mit einem
Schlag Geistlichkeit, Aristokratie und Königthum niederwarf, einen
Augenblick im Jahre 1793 hinter seinem fürchterlichen Bundesgenos¬
sen, dem Volke, verschwand, im Verborgenen gegen den Militärdes-
potismus des Kaiserreichs kämpfte, offen gegen die retrograden Ten¬
denzen der Restauration stritt, in den Julitagen wieder zur Herrschaft
kam und sich jetzt gezwungen sieht, sich gegen den Ansturm der De¬
mokratie zu vertheidigen.
Dupin war unter der Restauration sehr populär und in den
ersten Jahren nach der Julirevolution sehr unpopulär; in diesem An-
genblicke läßt sich seine Lage der öffentlichen Meinung gegenüber nicht
genau charakterisiren; Viele tadeln ihn, Viele loben ihn, und die
Meisten loben und tadeln ihn zu gleicher Zeit.
Andre Marie Jean Jacques Dupin wurde zu Varzy im Niver-
nois am I. Februar 1783 geboren und hat noch zwei jüngere Brü¬
der, von denen der eine Baron Charles Dupin, Pair von Frankreich,
einen hohen Rang unter den wissenschaftlichen Berühmtheiten Frank¬
reichs einnimmt; der andere, Philipp Dupin, ist eine der Säulen der
Pariser Advocatur.
Ueber die Jugend Dupin's ist nicht viel mehr zu sagen, als daß
er in jener unruhigen Zeit einer der fleißigsten Schüler war. Diesen
Anstrengungen hatte er es zu danken, daß er bald ein ausgezeichne¬
ter Nechtsschüler war; put als 1802 Napoleon die Rechtsschulen
wieder eröffnete, war Dupin der Erste, welcher sich meldete, seine
Thesen zu vertheidigen und sein Eramen als Licentiat und bald
darauf als Doctor der Rechte machte. In den darauf folgenden
Jahren ließ der junge Gelehrte auch zwei oder drei Schriften erschei¬
nen, die einigen Erfolg hatten. Eine derselben war der ?r,lei8 ol«z-
meutaire ein <Zrc>it romiün und Dupin kommt gern darauf zurück,
daß dieses Heftchen die Ehre hatte, von der kaiserlichen Polizei,
die in einigen Bemerkungen über Tiberius und Germaniens Anspie¬
lungen aus Buonaparte und den Herzog von Enghien witterte, mit
Beschlag belegt zu werden.
Nach der zweiten Restauration trat er als Candidat bei den
Wahlcollegien von Chateau-Chiron und Clamecy auf, doch wurde er
nicht gewählt und widmete sich jetzt ganz der Advocatur. Der po¬
litische Horizont war noch sehr düster; es war die Zeit der Militär¬
commissionen und der politischen Füsilladen. Einen wegen Hoch¬
verraths Angeklagten zu vertheidigen, war keine gefahrlose Sache;
der Vertheidiger wurde fast als Mitschuldiger seines Clienten betrach¬
tet; man traf auch danach seine Maßregeln und bat gewissermaßen
um Erlaubniß, das Haupt eines Angeklagten dem Gerichtshofe ab¬
kämpfen zu dürfen. Unter solchen Umständen schrieb Dupin sein Werk
über die freie Vertheidigung von Angeklagten. Die Veröffentlichung
dieses Buches, das so ausgezeichnet durch Klarheit der Darstellung und
Schärfe der Logik, war in jenen Zeiten im vollen Sinne desWortes eine
muthvolle That, und sie verschaffte Dupin seinen schönsten Ruhm:
die Vertheidigung des Marschalls Ney, mit der er gemeinschaftlich
mit den beiden Berryers, Vater und Sohn, beauftragt wurde. Man
kennt alle einzelnen Scenen dieses beklagenswerthen Dramas zur
Genüge; man weiß, daß den Advocaten verboten wurde, ihre Ver¬
theidigung auf den zwölften Artikel der Kapitulation von Paris zu
gründen; man weiß, daß Dupin, als er zur Rettung des Marschalls
durchführen wollte, daß Ney, als in Saarlouis geboren, durch den
Pariser Frieden Preuße geworden sei, von diesem unterbrochen wurde,
weil er lieber als Franzose sterben wolle.
Jener Urtheilsspruch ist in Dupin's Herzen wie eine bittere Er¬
innerung zurückgeblieben. Ich werde es sagen, so lange ich lebe, hat
er seitdem oft wiederholt, daß die Verurtheilung Ney'ö nicht gerecht
war, weil seine Vertheidigung nicht frei war.
Dieses schöne Debüt in politischen Prozessen machte Dupin zum
natürlichen Vertheidiger der berühmtesten Opfer der Reaction. Die
liberale Partei erwählte ihn zu ihrem Vertreter in ihren Kämpfen
mit der Justiz. So sprach er in dem Fall Merilhou für die Natio-
nalsubscription zu Gunsten der ohne Urtheil verhafteten Bürger; in
dem Fall Bcwour's für die Lehrfreiheit; für die Freiheit der Geschichte
in Jay's und Jouy's Prozeß und für die Freiheit der Chansons in
dem zweimaligen Prozeß Beranger's. Der Miroir, angeklagt wegen
Anspielungen, und der Constitutionnel in seinem großen Tendenzpro¬
zeß, welcher sein Triumph war, fanden in ihm einen warmen und
aufopfernden Vertheidiger. Und endlich, im December 1829, sieben
Monate vor der Julirevolution, trat er das letzte Mal auf den
Kampfplatz, um den berühmten und prophetischen Aufruf des Jour¬
nal des DebatS: Unglückliches Frankreich! Unglücklicher König! zu
vertheidigen.
Wir können hier nicht alle die großen Civilrechtsfälle aufzählen,
deren Führung er seinen großen Ruf als Advocat zu danken hat.
Einer der merkwürdigsten ist der des Ritters Deögraviers gegen die
Civilliste (1824). Dupin plaidirte gegen Se. Majestät, den König
von Frankreich lind Navarra, welcher seine Schulden nicht bezahlen
wollte. Er bewies, daß die Gelangung zu Kronen die Prinzen nicht
von ihren persönlichen Verbindlichkeiten befreien könne; er gewann
seinen Prozeß in der ersten Instanz, verlor ihn aber vor dem Cassa-
tionshofe.
Im Jahre 1819 hatte die Negierung der Restauration versucht,
den berühmten Advocaten für sich zu gewinnen. De Serres, damals
Siegelbewahrer, ließ ihm die Stelle des Generalsekretärs im Justiz¬
ministerium mit einem Gehalt von vierzigtausend Francs und dem
Titel als Staatsrath in Aussicht, anbieten. Nach einer Berathung
mit seinem Vater schlug Dupin das Anerbieten aus. 1820 ernannte
ihn der Herzog von Orleans zum Mitglied seines geheimen Rathes.
1827 in Mamers gewählt, nahm Dupin in, linken Centruni
Platz und gegen das Ministerium Martignac eine Stellung gemä¬
ßigter Opposition ein, während er gegen das Ministerium Polig-
nac offenen Krieg führte. Bei der Berathung der Adresse der
zweihundert ein und zwanzig ergriff er das Wort, um Guernon de
Ranville zu antworten und die Rechte der Kammer zu vertheidigen.
Nach der Kammerauflösung in CoSne wieder erwählt, kehrte er we¬
nige Tage vor den Ordonnanzen nach Paris zurück.
Am 26. Juli um eilf Uhr Morgens trat eine große Anzahl
Journalisten in sein Cabinet, um ihn über die Ordonnanzen um Rath
zu fragen. Dupin erklärte, „daß nach seiner Meinung die Ordon¬
nanzen ungesetzlich seien, daß man durch alle Mittel der That und
des Gesetzes sich weigern müsse, ihnen zu gehorchen, und daß das
Journal, welches feig genug sei, sich ihnen zu unterwerfen, nicht ei¬
nen einzigen Abonnenten in Frankreich zu behalten verdiene." Als
die Journalisten sogleich bei ihm über die Mittel des Widerstandes
berathen wollten, weigerte er sich dessen mit den Worten: „Ich bin
hier nicht Deputirter. sondern Advocat; Sie wollten mich consultiren
und ich habe Ihnen meine Rathschläge gegeben; jetzt machen Sie
damit, was Sie wollen." Diese ziemlich entschiedene Zurückweisung,
die bei Dupin gewiß nur von einer Scheidung seiner verschiedenen
Befugnisse als Deputirter und als Advocat herrührte, schien von der
Furcht eingegeben zu sein. Die Journalisten vergaßen sie nicht, und
nach der Revolution ließ die Presse auf Dupin eine Sündfluth von
Witzworten regnen; man beschuldigte ihn, die Sache der Freiheit
verlassen zu haben, man spöttelte über seine Badewanne und über die
Höhle, in die er sich während des Kampfes versteckt habe.
Die Wahrheit ist, daß Dupin so viel Muth zeigte, wie die
meiste» der übrigen Deputaten; man weiß recht gut, daß bis zum
29. Niemand, und selbst nicht das Volk, an einen Dynastiewechsel
glaubte. Die Gewalt der Umstände und das Loos der Waffen
vollendeten die Revolution, und Dupin hatte eben so großen Antheil
an ihr, wie die Mehrzahl seiner Kollegen.
Am 6. August einstimmig zum Berichterstatter über den Verfassungs¬
entwurf ernannt, vollendete er seinen Bericht in zwei Stunden, und am
folgenden Tag wurde die Redaction von der Commission genehmigt.
In den Tagen, welche der Errichtung des Julikönigthums vor¬
angingen, spaltete eine ernste Frage das Conseil. Eine Partei wollte
die Zukunft an die Vergangenheit knüpfen und zu diesem Zwecke die
alten Formen der königlichen Schriften beibehalten. Sie verlangten
daher die Annahme des Namens Philipp Vit. Dupin bekämpfte
auf das Lebhafteste diese Meinung und erklärte, daß der Herzog von
Orleans auf den Thron gerufen worden sei, nicht weil, sondern
obgleich er Bourbon sei, und unter der Voraussetzung, daß er sei¬
nen Ahnen nicht gleichen, sondern wesentlich sich von ihnen unter¬
scheiden werde; er fügte hinzu, daß das Princip der neuen Monar¬
chie nicht auf dem göttlichen, sondern auf einem positiven Vertrags-
recht beruhe.
Diese Zeit war es, wo Dupin die größte UnPopularität genos¬
sen hat, die sich je ein Staatsmann erwarb. Nicht, daß Dupin, wie
mancher Andere, ein nur halbbekehrter Anhänger der Julimonarchie
gewesen wäre; nicht, daß man ihm vorwerfen könnte, in seinem Her¬
zen einen Schatten des Bedauerns für die gestürzte Dynastie aufbe¬
wahrt zu haben, denn er hat nie angestanden, ihr die mißtönendsten
Beiworte nachzurufen; nicht, daß damals Männer in der Kammer
gefehlt hätten, die wie er von der Nothwendigkeit durchdrungen waren,
den allzuwilden Strom der drei Tage in seinem Bett zu beschränken;
aber Dupin ist vor Allem ein Mann ungenirter Freimüthigkeit, der
sich wenig um die Form dessen, was er sagt, kümmert, und dem
König, der Kammer, dem Volk, aller Welt die Wahrheit sagt und
zwar mit dürren Worten, die er wie einen Lichtauslöscher den flam¬
menden Geistern auf den Kopf stülpt. Daher wird er von den Mas¬
sen aufrichtig verabscheut und kann es nicht anders sein.
Als sich die politischen Verbindungen vermehrten, als die Clubs
nicht nur geduldet, sondern selbst von Staatsbeamten begünstigt wur¬
den, bekämpfte sie Dupin kühn und ohne Rückhalt, erklärte sie .für
unverträglich mit aller staatlichen Ordnung, und forderte energisch ihre
gänzliche Unterdrückung. Als die Arbeiter verlangten, die Zügel des
Staates mit führen zu dürfen, erklärte ihnen Dupin ohne Umschweife,
daß sie Nichts davon verständen, und schickte sie in ihre Werkstätten
zurück. Als es hieß: Friede oder Krieg? als das Fieber der Pro¬
paganda auf dem höchsten Gipfel der Kraft war, kämpfte Dupin fast
allein gegen die Enthusiasten des Tages, und nannte sie echt bür¬
gerlich Tollköpfe, die zum Kriege reizen, um Federbüsche und Epau¬
letten für sich zu gewinnen.
Dieser kräftige, zuweilen selbst herbe Widerstand gegen die Ver-
irrungen der Revolution erklärt die Mißgriffe, als deren Opfer Du¬
pin leicht am 14. Februar hätte fallen können. Nach der Zerstörung
des erzbischöflichen Palastes und der Kirche Samt Germain l'Aurer-
roiö eilte der Pöbel unter Mordgehenl nach dem Hause des muthi¬
gen Deputaten. Nur der rechtzeitigen Ankunft der Nationalgarde
gelang es, ihn zu befreien und die Annalen der Julirevolution vor
einem unauslöschlichen Flecken zu bewahren.
Während der ganzen Dauer des Ministeriums Perier unterschrieb
Dupin mit Wort und Stimme alle Handlungen der Regierung in
ihrem Kampf gegen die Parteien. Er sprach gegen die Urheber der
Unruhe,: in Lyon, Grenoble und Paris, für die Abschaffung der Erb¬
lichkeit der Paine, unterstützte das Polizeigesetz gegen die Ncfugivs
und wies, als mit allen NegierungSprincipien unverträglich, die For¬
derung der Rehabilitation und Entschädigung von Seiten der poli¬
tischen Verurtheilten unter der Restauration zurück.
Als im April endlich die Negierung ihren letzten und entschei¬
denden Sieg davongetragen hatte, nahm Dupin wieder Besitz von
seiner politischen Individualität; er glaubte jetzt, es sei Zeit, den
Opfern ein Ende zu machen, die Allsgaben zu ermäßigen, der Ueber-
schreitung des Supplementarcrediteö ein Ende zu machen und die
Kammer in ihre Verwaltungö. und Untersuchungsrechte wieder ein¬
zusetzen; er war Ministerieller gewesen und wurde jetzt Oppositions¬
mann.
Er widersetzte sich der Amnestie durch Ordonnanz als uncon-
stitutionell. In der an den König am I. Mai 1837 gehaltenen
Rede sagte Dupin unter Anderem: Sire, die Kammer dient der
Regierung durch das, was sie ihr gewährt, und oft auch dadurch,
daß sie ihr die Gewährung verweigert oder erschwert. Als die Nicht-
einwilligung zur Intervention in Spanien den Rücktritt des Mini-
steriums Thiers bewerkstelligte und das Ministerium Mol» an die
Spitze des Staates stellte, verhielt sich Dupin, welcher die Intervention
mißbilligte, beobachtend, bis sich 1838 die Coalition zum Sturz des
Cabinets vom 15. April bildete. Dupin, obgleich unbetheiligt bei
dem Streite, trat noch im letzten Augenblick gegen das Ministerium
auf und gab ihm in besserer Form ein Zeugniß der Unfähigkeit; dies
unerwartete Hervortreten trug viel dazu bei, seinen Fall zu beschleu¬
nigen. Während des mühsamen Zusammenkommens deö neuen Mini¬
steriums findet man den Namen Dupin in den verschiedenen ephe¬
meren Combinationen wiederholt, welche in jenen Tagen so schnell
auf einander folgten. Mehrere Male war Dllpin dem Ministersitze
nahe, aber immer wieder wendete er ihm den Rücken und wies den
bitteren Kelch von sich. Gegenwärtig sitzt Dupin, seines Präsidenten¬
sitzes beraubt, auf seinem gewöhnlichen Platz im linken Centrum und
hegt für das Ministerium Guizot eine sehr mäßige Zuneigung, stimm,
dafür und dagegen, ganz den Eingebungen seiner Gedanken folgend,
und zeigt immer dieselbe Liebe für Gesetzlichkeit und Ordnung, die¬
selbe persönliche Unabhängigkeit, dieselbe Abneigung gegen alle Cote-
rie, Systeme und gegen die ministerielle Disciplin.
Wir haben nur noch ein letztes Wort über Dupin, als Schrift¬
steller, als Magistratsperson, als Redner und als Staatsmann zu
sagen.
Dupin hat viel geschrieben, die Sammlung seiner Sedezbäudet
die er scherzweise Taschenbücher nennt, bilden fast scholl eine starke
Bibliothek. Er hat Heineccius in Latein, welches dem Ciccronischen
durchaus nicht ähnlich sieht, er hat I^rinci>>in jul-is civilis, eine
um>»8is juri8 ran-mi, >>>-(»lo^venena juris u. s. w. herausgegeben.
Seine französischen Schriften, uns gewöhnlichen Sterblichen mehr zu¬
gänglich, empfehlen sich mehr durch die Klarheit des Styles, Reich-
thum an Thatsachen und streng logische Beweisführung, als durch
Tiefe der Gedanken. Nach seinen Büchern zu urtheilen, muß Dupin
eine lebendige Encyclopädie sein. Von Homer bis Rousseau, von
der Bibel bis zum Civilgesetzbuch, von dem Gesetz der zwölf Tafeln
bis zum Koran hat Dupin Alles gelesen, Alles behalten; er weist so
viel und so mancherlei, daß es kein Wunder ist, wenn er das, was
er weiß, nur halb verdaut. Dupin hat ein l>r.'«ü8 Iiistoi-une et>
«kron tun,?»i8, eine bioZriipKi« <Ik» joi-isconsoltvs et <Jos in-t«i-
ijti-lief, seine »«»un»« vis>»0»tiürv8 «ur ki«, justicv, to «Il^it les
loi« und seine lvttres «ni- l^ ni-«le««loi, et'itvoeitt geschrieben. Ohne
von seinen zahlreichen Gelegenheitsschriftcn zu sprechen, wollen wir
hier nur die charakteristische und merkwürdige Brochüre Dupin's
über die Verurtheilung Christi erwähnen; Dupin ist der größte Re¬
visor von Processen, der größte Ausgleicher alles Unrechts, welches
auf Erden geschehen ist. Alles, was an Ungesetzlichkeit grenzt, empört
ihn aufs Tiefste; für ihn ist die Frage des Gefühls wenig, die Frage
des Rechts Alles. So ist in den Augen des Christen der Tod Chri-
sti eine göttliche Sühne und ein heiliges Opfer für die Menschen;
in Dupin's Augen ist er nur die Folge einer Handlung schmählicher
Ungerechtigkeit, und so findet nach achtzehnhundert Jahren Pontius
Pilatus einen Mann, welcher ihm mit dem Talmud in der Hand
beweist, daß sein Urtheil wegen Formfehlern und wegen falscher Aus-
legung der Gesetze nichtig ist.
Wir wissen nicht, ob wegen seiner kleinen Bücher die französische
Akademie Dupin in ihrer Mitte aufgenommen hat; uns gefallen eben
so sehr seine akademischen Reden und wir ziehen diesen in seinen
kleinen Büchern seine Gerichtöreden als Generalprocurator vor. So
wie ein großes öffentliches Interesse durch die Dunkelheit oder das
Stillschweigen des Gesetzgebers benachteiligt wird, ist es ein merk¬
würdiges Schauspiel zu sehen, mit welchem Eifer, mit welcher Muth,
mit welcher Gewalt deö Scharfsinns Dupin dem Gesetz zu Hilfe
kommt, wie er den todten Buchstaben belebt, wie er ihn mit der Fackel
seiner Gelehrsamkeit aufhellt, wie er ihn mit siegreicher Argumentation
umlagert, um ihn wider seinen Willen zum Sprechen zu zwingen,
um ihm das Wort zu entreißen, was er sagen sollte und was er
unglücklicherweise nicht sagt. Aus diese Weise hat Dupin fast mit
Gewalt den Cassationshof in seine richterlichen Ansichten über das
Duell hineingezogen; auf diese Weise hat er das Stillschweigen des
Gesetzes in den Fragen des litemrischm Eigenthums gut gemacht.
Auf der Rednerbühne ist er, wenn nicht der beredteste, doch gewiß der
originellste der französischen Redner. Hier erscheint sein Charakte,
als Advocat mit dem ganzen Gefolge von Citationen, Metaphern und
Sprüchwörtern aller Art; er gewinnt an Klarheit, an Kraft, Wasser an
Ernst und Würde verliert, und zuweilen haben seine Witzworte eine
Majorität geschaffen oder ein Ministerium gestürzt.
Wie Jeder weiß, gibt es in der Kammer Radikale, eine dyna¬
stische Opposition, Legitimisten, Humanitaires, ein juste milieu und
»<>all-illaire8. Nun gehört eigentlich Dupin keiner von diesen Parteien
an; was ist also Dupin? Er ist Legist und Utilitarier. Erklären
wir uns näher.
Für die Radikalen ist die Julirevolution ein escamotirter Sieg,
für die dynastische Opposition ein von seinem Ziel abwendig gemachter
Sieg; für die Humanitaires ein Schritt mehr auf dem Wege des
Fortschritts; für die Legitimisten die Verletzung eines ewigen Prinzips
der staatlichen Ordnung, für das justo milieu eine glorreiche That,
welche anzunehmen, für die Noctrin-üres eine geschehene That, welche
zu regeln ist. Für Dupin ist sie viel weniger und ein wenig mehr
als Alles das; sie ist ein Contractbruch wegen Nichterfüllung der Be¬
dingungen und ein mit neuen Bedingungen wieder aufgesetzter Con-
tract. Immer und überall sehen wir Dupin bestrebt, den gesetzlichen,
positiven und conventionellen Charakter dessen hervorzuheben, was er
den 1830 gegründeten Zustand nennt. Die Krone war zu nehmen
oder zu lassen, sagte er; die Annahme des Königs und das Formu¬
lar seines Eides wurden durch einen Advokaten aufgesetzt, welcher
gewissermaßen der Notar bei diesem großen politischen Geschäft war.
Das Ganze war streng in juristischen Ausdrücken gehalten.
Dupin hält sich hauptsächlich an den Notar und die juristischen Aus¬
drücke.
War diese Vernunftheirath zwischen Frankreich einerseits und der
Juliregierung andererseits vor Herrn Dupin als Notar einmal geschlossen
und von ihm in juristischer Form protocollirt, so sah er sich natürlich
veranlaßt, sich mit den Angelegenheiten der contrahirenden Parteien
zu beschäftigen. Er hat über die Ausführung der Bedingungen deS
Contracts gewacht, er hat so viel wie möglich den Frieden und die
Eintracht zwischen den Neuverbundenen zu erhalten gesucht und bald
diese» bald jenen, bald beide zugleich ausgescholten. Er hat ihnen
empfohlen, die Ausgaben nach den Einnahmen einzurichten, übereilte
Verirrungen und abenteuerliche Unternehmungen zu vermeiden, welche
sehr theuer sind und nur Ruhm oder gar Nichts einbringen. Dem
Schönen zieht er das Nützliche vor, der Politik des Herzens die Po¬
litik der Interessen. Kurz, Dupin ist in dieser Hinsicht ein vollkom¬
mener Gegensatz von Lamartine, Wer von Beiden ist besser? —
Die Pensionären dreihundert Thaler-Seelen werden allem Ver¬
muthen nach binnen Kurzem einen Zuwachs erhalten. Wer erinnert sich
wohl noch eines Poeten, der vor Jahren zuweilen in Taschenbüchern
mit Liebesseufzern auftauchte, Balladen sang und alte Mären neu
aufstützte: des Herrn Sigismund Wiese? Der Mann hat das Thor
seines Herzens geöffnet und — zwei Dramen auf einmal herausge¬
lassen, „Jesus", ein Stück, welches vierhundert sieben und siebzig
Seiten groß Octav umfaßt, und „Moses". Ich habe K. Gutzkow
stark im Verdacht, daß er diese beiden Werke durch eine Nachfrage
nach Herrn Wiese im Telegraphen veranlaßte. Wenn das der Fall
wäre, so hatte sich Gutzkow nicht geringen Dank verdient, weniger
zwar beim Publicum, als bei dem Verfasser selbst. Tieck nämlich ist
beim Könige um Ertheilung der dreihundert Thaler-Pension für den
Dichter eingekommen, und es steht vielleicht zu erwarten, daß bald
eine dieser großartigen Schöpfungen auf die Bühne gebracht werde.
Beide sind streng mit historischer Treue nach den Ueberlieferungen be¬
arbeitet, wahre „Leben, Thaten und Himmelfahrten". Ich kann nicht
umhin, Ihnen eine kurze Probe daraus mitzutheilen, und zwar aus
dem ersten Acte des „Jesus". Die Scene ist das Innere der Höhle
(wie schauerlich!) nahe bei Bethlehem. Das Jesuskind in der Krippe-
Maria lehnt über dem Kinde. Joseph tritt ein.
Sie sehen, wie sehr dies zeitgemäße Werk die Auszeichnung ver¬
dient, die ihm Tieck möchte zukommen lassen, und die baldige aller¬
höchste Anerkennung dürfte demnach wohl außer Zweifel sein.
Von literarischen Novitäten erwähne ich das fünfte Heft von
Bauer's Literaturzeitung, das so eben ausgegeben wurde. Es enthält
viel Schwaches und Unbedeutendes, und ist am wenigsten geeignet,
die sinkende Theilnahme für das Ganze neu zu beleben. Polemik
gegen die Halle'schen Jahrbücher, wohlgefällige Selbsterhebung auf
jeder Seite, namentlich in der sogenannten Zürcher (?) Correspondenz
bis zur Widerwärtigkeit gesteigert, ^ welchem Publicum traut man
solche Kost zu? Die Erzählung von den „drei Biedermännern" von
Edgar B. ist ein Kokettiren mit Frivolität, welches durch den Man¬
gel zeder geistreichen Würze nur Ekel erzeugen kann. Auch ein Aus¬
satz über die Freudenmädchen ist stumpf, ohne Interesse gehalten. In
der Culturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts von Bruno B., die
bekanntlich etwas zerstückelt aus den Händen der Polizei gekommen
ist, findet sich ein reiches Material, das jedoch keineswegs gehörig
verarbeitet ist. Die historische Einleitung ist ungenügend zum Ver¬
ständniß für einen nicht ganz kundigen Leser, in den übrigen Theilen
erkennt man viel Studium und Gründlichkeit. Am hervorstechendsten
darin ist gewiß das Capitel über Edelmann. Ein anderes Werk, wel¬
ches ebenfalls lange dem Obercensurgericht vorgelegen, ist Karl Rei-
chard's „Preußisches Bürgerthum". Der Verfasser, ein „Mann aus
dem Volke", spricht aus eigener Anschauung mit einem oft peinlichen
Ringen nach Form, und ohne selbst ein klares Resultat zu gewinnen,
doch ist das Werk als kritischer Nachweis von Interesse. Von einem
Roman von Woeniger: „Zigeuner und Edelleute" ein ander Mal
Näheres.
Im Schauspielhaus sahen wir Döring in zwei neuen Rollen,
als „Tartüffe" in dem Meisterwerke Molwre's, und als „Richelieu"
in einem Drama Bulwer's. Ueber das Erste in Bezug auf Inhalt
etwas sagen zu wollen, wäre unnütz; nur die Darstellung, die ich
eine zeitgemäße nenne, bedarf einiger Erwähnung. Döring zeigte sich
hier ganz, wie er ist.- ohne Studium. Die Frömmelei geht nicht inge¬
schminkten Wangen, derb und plump; sie ist feist und glatt, im
„Schafspelz der Demuth" den Hochmuth und die Schadenfreude ber¬
gend. In der Scene mit Orgon's Frau vermißte ich die lüsterne
Geschmeidigkeit» es war, als ob ein alter Roue seine Flamme zu ex-
poniren suchte. Devrient gab den Orgon mit Geist und Wärme. Am
ungenügendsten war Fr. v. Lavallade, welche aus der alten Haus¬
magd, die sich in Ansehung ihrer Dienste als Hausmöbel schon etwas
herausnehmen kann, einen jungen, naseweisen Zieraffen machte. Ei¬
nige Stellen, welche auf die Gegenwart Bezügliches enthielten, wur¬
den mit lebhaftem Beifall aufgenommen, z. B. wo Orgon von Tar-
tüffe sagt: „Ich weiß, daß in seinem Land die Tartüffe's im Besitze
der höchsten Stellen sind." Der König war nicht zugegen. Das zweite
Stück „Richelieu", welches in zehn Tagen einstudirt war, ging gestern
Abend ohne Theilnahme über die Bühne. Es ist ein Werk ohne alle
Charakteristik, voll Langweiligkeiten, abgedroschenen Novellenintriguen
und Jnkonsequenzen. Döring allein hatte sich eine Rolle zurecht ge¬
legt, eine dankbare Rolle, aus der sich etwas machen läßt, aus der
er aber nicht besonders Viel gemacht hat. —
An den Schaufenstern hängt ein Bild des Königs, denselben in
sitzender Stellung von der Rückseite zeigend, und darunter die Worte:
Für die schlesischen Weber. Das ist keine Ironie!
Da fällt mir so eben im Hamburger Correspondenten ein Schrei¬
ben aus Magdeburg vom 23. April in die Augen, welches meine
Skizzen über die Berliner Universität in den Grenzboten zaus't. Es
kommt mir nicht in den Sinn, mich hier in weitläufige Expositionen
auszulassen, da ich Ihr Journal nicht zum Kampfplatz persönlicher
Interessen, natürlich am allerwenigsten gegen den Hamburger Corre¬
spondenten, machen kann; aber die Logik und der Jdeengang jenes
Schreibers ist von zu allgemeiner historischer Bedeutung, um ihnen
nicht öffentliche Würdigung zutheilen zu müssen. Hören Sie nur!
In der Einleitung werden die thörichten Klagen über Strenge der
sächsischen Censur erwähnt, der Magdeburger tadelt dieselbe ebenfalls,
jedoch als zu nachsichtig. „Man lese nur", heißt es, „die Schilde¬
rung der Universitäten, die jetzt in den Grenzboten steht. Unter Ber¬
lin werden die gelehrtesten Universttatsprofessoren öffentlichem Gespöttes)
ja noch mehr preisgegeben." Was der Schreiber unter dem noch mehr
(oder „mehreren,"?) versteht, ist mir unklar geblieben, es müßte denn
seine eigene Besprechung im Hamburger Correspondenten sein. — Nach
sehr unpatriotischen Hinweis auf Peel, Brougham, Guizot, heißt es
weiter: „Was aber dagegen zu machen sei? Die Censur kann höch¬
stens (?) persönliche Gemeinheiten streichen, verschärfen kann man sie
nicht, Gehenlassen (?) taugt theilweise, wohl aber lohnt es der Mühe,
bessere Blätter zu stiften und gesundere Kost zu bieten." — Herr
Huber? Bei dieser Stelle dachte ich an die Novelle von der englischen
Glanzwichse, eine lange Geschichte, in welcher der Held zuletzt von
Wilden erschlagen werden sott, als diese in seinen Schuhen ihre Por¬
träts erblicken und ihn als großen Zauberer anbeten -- Moral: diese
dauerhafte Schuhwichse ist zu haben u. s. w. Aehnlich vermuthete
ich hier eine Ankündigung des nächstens von Herrn Huber erscheinen¬
den Journals „Janus". Aber behüte! die Pointe ist weit großarti¬
ger und auf höchst schlaue, scharfsinnige Weise angeknüpft. „Sollte
ein Krieg von Westen kommen, so denkt kein gesunder Mensch
mehr an Grenzboten, sondern an Grenzfestungen, da heißt es: Für
Gott, König, Vaterland, heimischen Herd, Geistesfreiheit! Dann
kommt die echte Oeffentlichkeit mit der Mündlichkeit der boucneg »
ten, das Volk wird würdig repräsentirt sein, und wir werden so frei
sein, die Feinde unter die Presse zu bringen." Was soll man mehr
bewundern, die glückliche Wendung oder den Scharfblick des Schrei¬
bers? „Ein Krieg von Westen" —. Der Osten natürlich erreicht auf
eine viel bequemere Art sein Ziel und eine hohe Zuneigung und brü¬
derliche Sympathie für ihn lassen keinen Krieg erwarten. Aber der
Westen, der Westen! Ja, das ist's! da wird es wieder „Vaterland,
Geistesfreiheit" heißen, und die armen Grenzboten, die den Patriotis¬
mus in etwas Anderem, als dem Haß gegen den Westen suchen,
werden dann nur von „Ungesunden" gelesen werden. Daß das „Volk"
dann würdig repräsentirt wird, ist kein Zweifel, nur glaube ich, daß
die „echte Oeffentlichkeit", wie der Schreiber sie meint, bereits vor¬
handen, und nicht mehr zu befürchten, oder zu erwarten ist.
Seit vierzehn Tagen geht hier das Gerücht, der Frühling sei da.
Dies Gerücht erhalt dadurch einige Wahrscheinlichkeit, daß die magere
Kastanienallee, die man hier „unter den Linden" nennt, wirkliche
grüne Blatter aufweist. Die „Linden,, werden bald blos ihren Namen
historisch motiviren können. Kaum noch der dritte Theil dieser Allee
besteht aus Linden. Die breite bürgerliche Kastanie hat die verdorrte
aristokratische Linde ersetzt und man muß gestehen, daß ihr Schatten
ein weit soliderer ist und sie ihre Aufgabe weit tüchtiger löst, als ihre
verdrängte Vorgängerin. Der Platz unter den Linden ist überhaupt
ein mannigfacher Chronometer für den Berliner. Wer eine Uhr in
der Tasche tragt, geht täglich unter die Linden, um die „Akademie-
Uhr" zu befragen, wie weit er hinter der Zeit zurückgeblieben oder
ihr vorgeeilt ist; wer an Rheumatismus leidet, geht unter die Linden,
um das Thermometer bei dem Opticus Petit-Pierre, das delphische
Orakel aller Flanelltragenden zu befragen, was er für Wetter zu be¬
fürchten, oder zu erhoffen habe! wer endlich neugierig ist, zu erfahren,
ob es Frühling oder Herbst ist, der geht unter die Linden, um
die heiligen Bäume zu betrachten und das in Berlin seltene Schau¬
spiel einer grünen Vegetation anzuschauen. Nur im Sommer, wenn
das spitze Straßenpflaster sich ihm glühend in die Sohlen bohrt, weiß
der Berliner in jeder Straße, welche Jahreszeit es ist. Das Straßen-
pflaster Berlins ist bekanntlich kein einheimisches Product, es muß,
wie seine grünen Baume und gelehrten Celebritäten aus der Ferne
herbeigeschafft werden, und der Berliner kann sich rühmen, daß kein
anderer Städter mit so kostbaren Steinen den Boden bedeckt hat, wie
er. Hier ist jeder Pflasterstein ein Solitair und wahrscheinlich, um
sie gehörig bewundern zu können, sind diese Steine so weit von ein-
emder eingesetzt und so scharf zugeschliffen, wie der schneidendste Dia¬
mant. Berlin ist in Allem so spitzig und witzig, daß sogar der Bo¬
den diesen Charakter trägt und das Pflaster sich in spitzer Ironie über
die Fußgänger moquirt! Glückliche Stadt, in der Alles Geist und
Witz ist und in deren Nähe nichts Irdisches aufkommt, nicht einmal
Pflastersteine! — Man hat oft geklagt über die Stiefmütterlichkeit,
mit welcher die Natur dieses sandige Berlin behandelt hat, aber es
ist charakteristisch, wie die Berliner das Bischen Vegetation, das ih¬
nen die Natur hie und da gelassen, behandeln. Die Hyacinthe, die
hübsche geschniegelte Blume, die unter ihren Schwestern wie eine Stadt¬
dame sich ausnimmt, gedeiht in dem Sandboden Berlins vortrefflich.
Die Gärtner vor den Thoren bepflanzen ganze Felder mit Hyacinthen,
die in der Stadt viele Liebhaber und Käufer zählen. Ein Blumenbeet
ist ein duftiges Stück Poesie und es ist leicht erklärlich, daß viele
Menschen hinausströmen, um die blühenden Hyacinthenfelder zu be¬
sehen. Aber die Blume ist es nicht, an deren Anblick man sich wei¬
den will, sondern die Kunst des Gärtners. Ellenlange Anschlagzettel
laden nämlich alljährlich das PublicuM ein, das große Tableau zu
besehen, welches in diesem oder jenem Garten aus Hyacinthen gepflanzt
wurde. Bald ist es ein großes Schlachtgemälde, bald eine Rciter-
gruppe, welche so ausgeführt werden. Diesmal mußten die armen
Blumen sich dazu hergeben, die beiden Rossebändiger darzu¬
stellen, welche der Kaiser von Rußland aus der Kanonengießerei von
Se. Petersburg dem König von Preußen zum Geschenke übersandte.
So genießt der Berliner Geist die Natur. Ein anderes, wenn auch
nicht ganz ähnliches Beispiel, wie man hier Alles zu vergeistigen ver¬
steht, ist folgendes. Ein Herr Gungl, ein Oesterreicher, hat hier ein
großes Walzer-Orchester ?>, Strauß organisirt, welches in einem
großen Gartensalon vor dem Potsdamer Thore nach Wiener Muster
Concerte gibt. Ich ging dieser Tage hin, um einem solchen beizu¬
wohnen. Das Euer6e ist im Verhältniß zu ähnlichen Concerten in
Wien sehr theuer; deshalb sind diese Vergnügungen auch nicht wie
dort dem Unbemittelten wie dem Bemittelten zugänglich. Auf dem
Anschlagzettel sielen mir die Worte auf! unter gütiger Leitung des
Herrn Musikdirektors I- Gungl. Warum „gütig" — fragte ich Je¬
mand — erhalt der Mann keine Bezahlung ? — Heute nicht, erhielt
ich zur Antwort, das Concert findet zu einem wohlthätigen Zwecke
statt. — Zu welchem? Zum Besten eines Zauns, welcher
um einen Kirchhof gezogen werden soll! — Straußische
Walzer zum Besten eines Kirchhofzauns! Bravo!
Der junge Publicist Buhl aufi in der Stadtvogtei einen Arti¬
kel abbüßen, der in seinem „Patrioten" erschienen und gegen die hie¬
sige Postverwaltung gerichtet war. Eine solche Gefängnißstrafe hat
mancherlei Annehmlichkeiten. So z. B. dürfen die guten Bekannten
nur zu einer bestimmten halben Stunde den Gefangenen besuchen.
Um diesen Vortheil könnte man ihn beneiden. Zu den unangenehm¬
sten Dingen gehört jedoch das Regime, daß um acht Uhr Abends alle
Gefangenen zu Bette gehen müssen. Für einen Schriftsteller, der
gewohnt ist, bis spat in die Nacht zu arbeiten, ist dies eine Grau¬
samkeit und nun vollends im Monat Mai. Glücklicherweise hat Buhl
unter seinen Gefängnißgenossen (er ist wegen Ueberfüllung der Stadt¬
vogtei mit noch sieben Andern in ein und dasselbe Zimmer gebannt)
seinen ehemaligen Copisten gefunden, der an der geheiligten Person
eines Gensdarm durch etwelche Prügelung sich vergriffen hatte. Die¬
sem dictirt er .nun mancherlei schriftstellerische Arbeiten, worunter
hauptsachlich eine Uebersetzung der „Geschichte der letzten zehn Jahre von
Louis Blanc" sich befindet. — Für die Ankunft der Kaiserin von
Rußland werden große Vorbereitungen getroffen. Das Theater soll
mit allen seinen Rekruten und Invaliden zu großen Probestücken sich
.vorbereiten. Unter Anderm soll der Faust mit der Radziwill'schen
Musik ganz aufgeführt werden, was ein Studium von zwei Monaten ko¬
sten wird. Zweiundzwanzig neue Decorationen sollen dazu gemalt
werden. Herr von Küstner hat ist einer Vorstellung an den König
Gründe gegen dieses Project eingereicht. Das Theater wird hier mehr
als eine Privatbühne des Hofes, denn als ein öffentliches Institut behan¬
delt. Die mannigfachen Kuriositäten, die von den Schauspielern auf
hohen Befehl einstudirt werden müssen ,und wobei unverhältnißmäßige
Zeit und Kosten in Anspruch genommen sind (wie durch die schwie¬
rige Darstellung des „gestiefelten Katers", des „Richelieu" u. f. w.)
nehmen die Studien des Schauspielers bei jeder Gelegenheit für ir¬
gend einen Privatabend in Anspruch und unterbrechen den Gang des
öffentlichen Theaters. Uebereilung, Collistonen sind dann die natürlich
eintretenden Folgen, und die ohnehin sehr herabgekommene Bühne
sinkt dadurch in der öffentlichen Gunst nur noch tiefer.
Eine der interessantesten Novitäten unserer Residenz ist das dem
Generalsecretar der Ferdinands-Nordbahn, Herrn Heinrich Sichrowsky,
verliehene Privilegium, Wien mit Hitzing durÄ) eine atmosphärische
Eisenbahn zu verbinden. Hitzing ist bekanntlich der besuchteste unter
den benachbarten Orten, da er dicht neben Schönbrunn liegt. Die
Eisenbahn soll beim Kärnthner Thor angefangen, längs dem Flüßchen
Wien geführt werden und in Domeyers Casino also mitten
unter Strauß'schen Geigen — münden. „Der große Handelsmann
aus Süden" (und aus Norden und aus Osten und aus Westen),
Rothschild, soll die Kosten vorläufig decken. Das Bedeutende dieser
Eisenbahn ist, daß sie Vorbild einer größern, die über den Sömme-
ring führen soll, werden dürfte, nachdem der Architekt Sprenger einen
vortheilhaften Bericht an den Hof gelangen ließ. Die größte Schwie¬
rigkeit, die sich der erwähnten Miniatur-Luftbahn entgegenstellte,, war
die Stadtfortisication und die aufgehobene Möglichkeit, Jeden, der
von dieser Seite die Linie Wiens passirt, wegen Contrebande zu un¬
tersuchen; was nebenbei vielleicht auch den Nibelungen passirte, wenn
sie die Donau herab nach dem alten Pechlaren zogen; sie würden kaum
ohne Paß in ihre alte Heimath reisen dürfen. Sie wissen vielleicht,
daß Ritter von Spann, landständischer Syndikus zu Linz, neuerdings
dem Dichter des Nibelungenliedes einen original-östreichischen Geburts¬
schein siegreich nachgewiesen hat. — Der Verein zur Unterstützung
entlassener Sträflinge findet in allen Kreisen die lebhafteste Theilnahme
und Unterstützung; wiewohl er sich der Zustimmung des Polizeipräsi¬
diums nicht zu erfreuen hat, und vielleicht mit Recht, in so lange
das östreichische Gefängnißwesen keine zeit- und vernunftgemäße Re¬
organisation erlebt. Unser Gcfangnißwesen ist ganz dazu gemacht,
den Verbrecher durch Unthätigkeit und böse Nachbarschaft zu demora-
lisiren. Die etwas langen und breiten Vortrage des Doctor Wirth,
gehalten im juridisch-politischen Leseverein über das Gefängnißwesen
Frankreichs, Englands und Amerikas, die unsere anerkanntesten Eri-
minalrichter und Polizeibeamten mit anhörten, scheinen wenig Anklang
gesunden, vielmehr das Verbot hervorgerufen zu haben gegen andere
in dem Verein zu haltende Vorträge. So wurden z. B. Vorlesungen
über Phrenologie, „als dem Materialismus zu sehr huldigend," un¬
tersagt. — Sie haben in der allgemeinen Zeitung die Neuigkeit ge¬
lesen, daß Hofrath Franz Dingelstedt sich mit der Sängerin Jenny
Lutzer vermählt hat (sie bringt ihm, nebst dem Silbergehalt ihrer
Stimme, si. 100,600 klingenden Silbers als Mitgift). Aber es stand
nicht in der allgemeinen Zeitung, daß der orthodoxe Pfarrer bei Se.
Peter in der Stadt, unmittelbar vor der Trauung, der Braut es
scharf zu Gemüthe führte, daß sie, eine Katholikin, einen Protestan¬
ten zu heirathen im Begriffe sei und sie sogar zum Rücktritt ermun¬
terte; nichts destoweniger fand das gemischte Ehebündniß zwischen dem
rosmopolitischen Nachtwächter und der böhmischen Nachtigall statt.
Das Benehmen des Pfarrers, der durch ahnliche Auftritte bereits be¬
kannt ist, wurde sehr getadelt und vorzüglich als einem deutschen
Journalisten gegenüber unklug bezeichnet!! — Um die durch den
Tod des Hofcaths Mosel erledigte Stelle bei der k. k. Hofbibliothek
bewerben sich drei dramatische Dichter zugleich, nämlich Grillparzer,
Deinhardstein und Halm, wahrscheinlich aber wird sie Herrn Kopitar
zufallen, der als erster Custos die nächsten Ansprüche hat; demselben
Gelehrten, der den Orden in,ur Jo mvritv erhalten hat, nicht als Oe-
sterreicher, sondern als Slave, wie es damals ausdrücklich hieß. —
Deinhardstein's Gedichte, die so eben bei D nuk er in Berlin erschie¬
nen sind, enthalten viel Geistreiches. Weniger glücklich siel sein neues
Lustspiel „Motesens" aus, welches vor einigen Tagen zur Aufführung
kam. Einen «»napf «IVstii»« kann man ihm nicht absprechen; die
Kiesige Journalkritik windet sich, um mehr herauszuschlagen,
— Die Denkwürdigkeiten aus meinem Leben, von
Earollne Pichler*), welche so eben erschienen sind, verdienen Be¬
rücksichtigung als eine in vielfachem Bezug interessante, ja gewichtige
Erscheinung! Memoiren aus Oesterreich! Aus Oesterreich, wo viel¬
leicht mehr als anderswo der Memoirenstoff angehäuft liegt und wo
man doch diese fast gar nicht hat, zum großen Nachtheil der Litera¬
tur und des Lebens; denn ein Land ohne Memoiren ist wie ein Haus
ohne Spiegel, es weiß Keiner recht, wie er sich ausnimmt, und das
Ganze nimmt sich meist schlechter aus, als nöthig, weil eben !jene
Hilfe fehlt.
Caroline Pichler ist als eine ehrenwerthe, brave Frau, und als
eine wohlbegabte edle Schriftstellerin anerkannt. Sie unternimmt es,
die Denkwürdigkeiten ihres langen Lebens aufzuzeichnen und thut dies
mit Redlichkeit und Wahrheitsliebe. Zwar bietet ihr eigenes Leben
keine romantischen Ereignisse dar, und sie selber hat auf ihre Zeitum¬
gebung keinen durchdringenden Einfluß gehabt; aber ihre Lebenstage
fallen in die Epoche heftiger Stürme und großer Wandlungen, von
denen sie nicht unberührt bleibt, und so gibt sie uns ein treues Bild,
wie die Geschichte Oesterreichs, von den Zeiten Maria Theresiens ab
bis auf die neuesten, die französische Revolution und der deutsche li¬
terarische Umschwung sich im häuslichen Kreise einer gebildeten Wie¬
ner Familie des Mittelstandes abzeichnen, und welche Ansichten und
Gesinnungen hier jenen Weltbegebenheiten begegnen.
Besonders merkwürdig und dankenswerth dünkt uns Alles, was
gleich zu Anfang aus der nächsten Umgebung Maria Theresiens mit¬
getheilt wird! die große Fürstin, deren ausführliche Regierungsgeschichte
und Biographie noch immer zu wünschen bleibt, erscheint in den ei¬
genthümlichen Zügen, die hier von ihr erzählt werden, ungemein vor¬
theilhaft und so charakteristisch, daß wir gleichsam ihre persönliche Be¬
kanntschaft machen. Auch über Kaiser Joseph empfangen wir manche
Nachricht, die wir mit Eifer seinem historischem Bild eintragen. In
der späteren Zeit kommen die scharfen Züge seltener vor, es verschwimmt
Alles in allgemeiner wohlwollender Bezeichnung. Caroline Pichler
ist eine eifrige Oesterreicherin und getreue Unterthanin, die sich dabei
in der Sphäre ihres Geschlechts und ihres Standes hält, und über
die Staats- und höchste Gesellschaftswclt nur insofern urtheilt, als
diese in ihre Sphäre hineinfällt oder spielt. Dies geschieht indeß oft
genug, und wir sehen eine große Zahl bedeutender Personen an uns
vorüberziehen, z. B. Sonnenfels, Frau von StaA, beide Schlegel,
Dorothea von Schlegel, Adam Müller, Steigentesch, Hormavr und
viele Andere.
Die Verfasserin schrieb im hohen Alter, ohne Leidenschaft, mit
sittlichem Ernst u«i> freundlicher Milde. Sie möchte um's Himmels-
willen Niemand verletzen, sie gedenkt mit Vorliebe des Guten, das sie
wahrgenommen hat, sie wendet sich von dem schlechten ab. Wir ehren
diese Gesinnung, wenn schon dabei die Gefahr nahe liegt, in das Be¬
schränkte, Philisterhafte zu gerathen. Auch ist sich die Verfasserin
dieser Gesinnung etwas zu sehr bewußt und gefällt sich in ihr, im
Gegensatze zu denjenigen Personen, die nicht so sind wie sie. Des¬
wegen können wir uns einer kleinen Schadenfreude nicht erwehren,
wenn bisweilen, bei dem Stolz auf ein so gemäßigtes, ordentliches,
gegen allen Tadel gesichertes Verfahren, die Schärfe und der Unmuth
doch hervorbrechen Und sich Luft machen, wo man es am wenigsten
vermuthet. So kommt es wohl vor, daß noch lebende Personen, oder
in ihren Verhältnissen noch fortlebende verstorbene, bei dieser milden
Verfasserin schlechter fahren, als sie es von dem schärfsten Autor ge¬
wärtigen könnten. Besonders haben die Frauen einen harten Stand
und Frau von Stael, Frau von Humboldt und Andere, die auf die
Verfasserin keinen guten Eindruck gemacht, können ihr für die Züge,
welche sie zu ihren Bildnissen gibt, nicht eben dankbar sein. Doch
diese Frauen betrugen sich wenig zuvorkommend gegen Caroline Pich-
ler, — die Scene, wo Frau von <StM zu ihr aus dem Spiegel spricht,
ist wirklich einzig — und die Wiener Schriftstellerin und Wiener
Bürgerfrau hat ihre Ansprüche und ihr Selbstbewußtsein trotz jeder
Andern. Aber auch Dorothea von Schlegel, ihre gepriesene Freundin,
schont sie nicht und stellt sie ohne Noth herbem Tadel blos; über¬
haupt sagt sie oft mit unbefangener Naivheit, was die absichtlichste
Feindschaft nicht scharfer geben könnte, z. B. wenn sie von Häßlichkeit
der Personen spricht, von Weibern, die ihren Mannern entlaufen oder
doch nicht treu sind.
Doch wir wollen darüber nicht mit der guten Frau rechten! Sie
meint es im Ganzen doch sehr gut. Daß sie das Geniale nicht lei¬
den kann, daß ihr das Mittelmäßige, zum Herkömmlichen und Vor¬
gefundenen willig sich Beschrankende, allem Geistesfreien, schwung¬
vollen, Neugestaltenden vorzuziehen dünkt; daß sie mit der jüngeren
Literatur sich nicht mehr befreunden kann, Alles das dürfen wir, die
wir bekannt mit ihren Schriften sind, nicht anders erwarten. Auch
diese Schriften, obschon höchst ehrenwerth, stehen nicht in der Reihe
der genialen Productionen, welche in neuester Zeit so reich hervorge¬
treten sind; das Talent aber, welches in jenen sich darthut, und die
Würde und Kraft, mit der es von der edlen Verfasserin gehandhabt
worden, waren manchem genialen Fluge, der sich über sie erhebt, als
sichernde Begleitung zu wünschen!
— Wir haben (in voriger Woche) Wu Münchenern Unrecht ge¬
than. Ihre Revolution war weder so bedeut-ach^os, noch so ohn¬
mächtig , als wir glaubten. Einerseits hört nZaH jetzt, wie es dem
Volke gelungen ist', die angesehensten Brauhäuser, zu stürmen und
halb zu demoliren, so daß der Bierpreis'am folgenden Tage wieder
um den verhängnißvollen ^ Kreuzer sank und König Ludwig selbst ein
beruhigendes und ruhiges Schreiben, ohne alle Participien, erließ;
anderseits erfahren wir (aus einer Correspondenz in der Deutschen
Allgemeinen), daß dem Aufstand wesentlich communistische Ideen zu
Grunde lagen. Za, der Hunger ist ein geborener Revolutionär, ein
unbewußter Communist seit ewigen Zeiten. Was, nach des Dichters
Worten, die Welt allein zusammenhält, der Hunger und die Liebe,
kann sie auch oft aus den Fugen reißen. Bei den Baiern aber ist
es lediglich Hunger gewesen, nicht etwa Liebe, — ein ideologisches Ele-
neue, welches nur bei undeutschen, schwindelköpsigen Völkern den
Ausschlag zu geben pflegt; — auch nicht etwa Durst, nicht die fri¬
vole, die bestiale Leidenschaft des Trinkens; denn das Münchener
Volk nährt sich von diesem gediegenen, echt deutschen Trank, wie das
Kind von dem Quell der Mutterbrust; das Bier wird dort — geges¬
sen. Diese stillende, nahrhafte Speise ist auch nicht ohne Einfluß
auf Geist und Gemüth; sie gibt das kindliche Temperament, den be¬
sonnenen Schritt und die gesetzte Haltung. Und dennoch eine Revo¬
lution! Dies beweist nur, daß man auch Kinder nicht ungestraft rei¬
zen darf, daß man sich hüten soll, das Heiligste anzutasten. Eine
traurige Erfahrung ist es allerdings, wie man selbst in so väterlich
ängstlich behüteten Ländern vor den Erdbebcnstößen der Zeit nicht si¬
cher ist. Gerade dort, wo wenig raisonnirt^ noch weniger gelesen und
noch viel weniger gedacht wird; wo keine rindviehmörderischc Zweck-
essen und freche Vivats, keine Studentenversammlungen am hellen,
lichten Tage, keine subversive Judenjungenjournalistik, keine Preßfrei-
heitspetitionen, keine Oeffentlichkeit-Mündlichkeitsbegierden und got¬
teslästerliche Philosopheme vorkommen —- dort brechen die Symp¬
tome der politischen Wasserscheu, des anarchischen Wahnsinns, ja des
Communismus aus! — Die Bürgerschaft selbst wird übrigens
von der Münchner politischen Zeitung von jedem Verdacht einer Theil¬
nahme an dieser Biergahrung freigesprochen: sie hat blos zugesehen.
Auch die Studentenschaft ist belobt worden, weil sie während der Un¬
ruhen sich ganz ruhig verhalten. Ein romantischer Zufall fügte es,
daß der Hof gerade hohe Gaste hatte. Der Held von Aspern wurde,
nachdem die aufruhrtobende Stadt, gleichsam ihm zur Feier, ihr Fest¬
spiel improvisirt hatte, nach Regensburg in die Walhalla geleitet, wo
ihn ein vom König Ludwig selbst gedichteter „Bardenchor" als einen
der ausgezeichnetsten'Teutschen empfing, der einst in Erz und in be¬
ster Gesellschaft (hoffentliK neben den meisten jetzt lebenden Bundcs-
tagsfürsten) die Ruymesh'a'lie schmücken werde.
»
— Lauspässe^«giab man in frühern Zeiten — wir wissen nicht,
ob sie noch üblich sind — solchen Soldaten, die wegen moralischer
Untauglichkeit aus dem Dienst entlassen werden mußten. Ein Mensch
mit dem Laufpaß war gezwungen, an seinem Geburtsort zu bleiben,
wo er unter polizeilicher Aufsicht stand; anderswo war er wie der
ewige Jude; nirgends erhielt er bleibenden Aufenthalt. Man sollte
es nicht glauben, allein es ist faktisch, daß im freien und einigen
Deutschland manchem Studenten ein guter, giltiger und formgerechter
Paß ausgestellt wird, der ihm trotzdem dieselben Wohlthaten erwirkt,
wie ein Laufpaß dem weggejagten Soldaten, dem notorischen Vaga¬
bunden. Wir sprechen aus eigner Anschauung. Es hat z. B. ein
Student, ein geborner Preuße, in Berlin die Frechheit gehabt, ein
Vivat! auszurufen, welches ihn in den Verdacht bringt, für Herrn
Eichhorn weniger Sympathie zu empfinden, als für Arndt oder Jor¬
dan, oder Hoffmann. Er wird aus der Residenz verwiesen. Gut.
Er ist vielleicht aus einem Dorfe bei Danzig oder Stettin gebürtig;
da er in diesem Dorfe nicht wohl seine Studien oder literarischen Ar¬
beiten fortsetzen kann, so verlangt er einen Paß auf ein Jahr, um
in irgend einer andern Stadt des deutschen In- oder Auslandes sich
aufzuhalten. Das Papier, welches den Spitzbuben vom ehrlichen
Menschen scheiden — soll, wird ihm in aller Form ausgestellt. Was
nutzt es ihm? Er wird nirgendwo geduldet; in keiner preußischen, in
keiner nichtpreußischen Stadt. Warum? weiß der Himmel. Das
muß mit sympathetischer Dinte, oder mit dem Wasserzeichen in das
Papier seines Passes geschrieben sein. Ein liberales Krähwinkel nach
dem andern weist ihn fort, vielleicht nur, um dem großen Krähwin¬
kel, welches den Anfang gemacht hat, nicht nachzustehen. Er läuft
förmlich Spießruthen zwischen den verschiedenen polizeilichen, stadträth-
lichen und bürgermeisterlichcn Weisheiten aller der Groß- und Klein-
Abderas seines theuern einigen Vaterlandes. , Vielleicht haben die er¬
leuchteten Behörden auch nur die Absicht, solche unruhige Köpfe auf
die Wanderschaft zu schicken, damit sie ganz Deutschland gründlich
kennen lernen und sich von der Thorheit ihrer Hoffnungen überzeugen.
Wer seine Pappenheimer nicht kennt, der glaubt es nicht, was für
Chinoiscrien dabei vorkommen. Ein Student wurde in Breslau in
allem Ernst aufgefordert, seine Gesinnung zu andern. In Halle
wurde ein Anderer wegen seiner Ansichten über Herwegh vernommen
und man war verdrießlich, als blos ästhetische Urtheile zum Vorschein
kamen: er sollte sich politisch äußern! ^n einer andern Universitäts¬
stadt wurde einem solchen deutschen Ausländer der gute Rath gegeben,
nach Wien zu gehen; dort werde er am ehesten geduldet werden. Und
das glauben wir selbst.
— So weit ist es gekommen! Der Buch- und Musikalien¬
händler Schlesingcr kündigt Niccolini's in seinem Verlage nachgedruck¬
ten ^riwlllu lui lZn;«ein mit der gesperrten Bemerkung an: Vom
Papste mit dem Jnterdicte belegt! Und diese Empfehlung
ist gewiß höchst wirksam. Möchten sich doch endlich alle Sorten Papste,
weltliche wie unweltliche, an dergleichen eine Lehre nehmen! —
— Mcßfremde aus Russisch-Polen versicherten, das bekannte Werk
Custine's sei in Rußland so verpönt, daß der Besitz eines Exemplars
davon zur Bekanntschaft mit der Knute und zur „Ansiedelung" in Si¬
birien führen könne Und man will noch läugnen, daß Eustine tref¬
fende Wahrheiten gesagt hat?! Der flunkernde, witzelnde, echt russisch
polirte Eavalier Tolstoi (in seiner Schrift für Rußland) thut freilich,
als könnte Cüstine dem gemeinsten Russen nicht anders als lächerlich
und unsinnig erscheinen. Ja, dem gemeinsten, allerdings! Im Aus¬
lande und nach außen thun sie fein, bis zum Anstrich des humanster
Liberalismus. Befiehl man sie genauer, so merkt man, daß ihre
Politur eine Hautsalbe ist aus Pech und Patchouli.
— Herr Kühl aus Butzbach, welcher durch schätzbare Nachfor¬
schungen und Angaben über Jordan, Weidig und -andere Revolutio¬
näre gewissermaßen das deutsche Vaterland gerettet hat, behauptet jetzt,
^von seinen Freunden und Gönnern undankbarer Weise um seinen
Lohn verkürzt worden zu sein. Er hat den Freiherrn von Thil und
Herrn Stein von Wimpfen deshalb verklagt; er verlangt zwanzigtau¬
send Gulden, während ihm nur viertausend gegeben und auch davon
mehrere Hundert vorenthalten wurden. Seine Mittheilungen waren
unter Brüdern ihre zwanzigtauiend werth. Wir sehen nicht ein, wel¬
ches Recht man hat, ihn in offiziellen Blättern gleichsam als «inen
Spion zu desavouircn und verächtlich zu behandeln, nachdem man
mit ihm gemeinschaftlich operirt oder wenigstens seine patriotischen
Dienste mit Anerkennung aufgenommen und mit Aufmunterung und
Werthschätzung gesucht hat.
— Eine preußische Familie ist nach Konstantinopel gekommen,
um mohamedanisch zu werden. Ein türkischer Offizier, der in Ber¬
lin gewesen und mit einer Tochter dieses preußischen Hauses eine
redliche Liebschaft angeknüpft, ist Schuld daran. Der preußische Ge¬
sandte in Stambul hat sich an die Pforte gewendet, um den Skan¬
dal, so heißt es in den Blättern, zu verhindern. Wie parteiisch! Wie,
wenn der Türke, als er in Berlin war, protestantisch werden und der
türkische Gesandte gegen diesen Skandal hätte protestiren wollen, was
hatte man gesagt?!
— Jährlich einmal nimmt Heinrich Heine die Singvögel .alle,
die Componisten und Virtuosen auf's Korn, die, von Paris aufflat¬
ternd, sich über Deutschland verbreiten. Er ist oft unbarmherzig bei
diesem Vogelschießen, das muß man gestehen, aber daß er trifft,
wird Niemand läugnen, der unlängst in der Augsburger Allgemeinen
seinen letzten Brief las. Sivori nennt er ein geigendes Brechpulver,
Berlioz erinnert ihn an antediluvianische Riesenthürme und Ungeheuer,
Mendelssohn — gegen den er übrigens für Meyerbeer eifert — er¬
klärt er für einen „ordentlichen modernen Menschen". Am wahrsten
schien uns die Bemerkung, daß der ganzen Zeit die Musik (nicht blos
im engeren Wortsinne), wie ein Elektromagnetismus, in den Glie¬
dern stecke.
Schon seit mehreren Tagen sprach man davon in Stockholm,
und wohin ich kam, in Familien, Conditoreien und Ressourcen fragte
man mich: Sie kommen doch auch zum Bellmannsfeft? — Ja wohl!
antwortete ich dann stets, aber ich will's nur offen gestehen, damit
meine Leser nicht unnütz erröthen, ich ahnte nicht einmal, was sür
ein Fest eigentlich zu erwarten sei. Wohl wußte ich, daß in Schwe¬
den vor manchem Jahr ein Poet, Namens Bellmann, gelebt hatte,
doch an diesen dachte ich kaum. Auch wir in Deutschland haben
Dichter gehabt, viel tausendmal größer, als Bellmann einer war,
und wird ihnen wohl irgendwo ein Volksfest gefeiert? Nein, nein!
Wenn sie todt sind, kommen sie in die Walhalla, und damit ist's gut
Aber hier sollte die Feier wirklich einem Poeten gelten, und als
ich nun anfing, mich mit ihm bekannt zu machen, da sah ich wohl,
daß er tief in'S schwedische Leben eingewachsen sei. Seine Geschichte
läßt sich mit wenigen Worten andeuten. Karl Michael Bellmann
wurde am 4. Februar t740 zu Stockholm geboren; seine Eltern
waren stille, emsige Leute, und er wuchs in engen Verhältnissen auf.
Die Muse der Dichtkunst sucht nicht Marmorsäle mit goldumfaßten
Spiegeln und sammtnen Divans; sie tritt am liebsten in solche kleine
saubere Häuschen ein. Bellmann's Auge und sein Herz berührte sie,
da sah er mehr als andere Menschen, und das Herz wurde gut und
fromm, aber auch stolz dabei. Andächtige Lieder dichtete er und pries
den großen Gott, der eine so schöne Welt geschaffen. Das war die
Zeit seiner idyllischen Jugend.
Sem Blut fing stürmischer an zu fließen, sein Auge blitzte Hel¬
ler und das Leben schaute, jubelnd und traumbekränzt, zu ihm durch's
Fenster, winkte ihm mit üppig weißer Hand und lockte ihn mit
schwellender Lippe. Nun wurve es dem Jüngling drinnen zu heiß,
er ging hinaus und stürzte sich in den Strudel von Wein und Lust
und Abenteuern. Allein er genoß nicht wie ein trunkener Silcnos,
sondern mit flammendem Freudcnauge durchdrang er Alles und gab
es wieder, gerade so, wie er es gesehen hatte. Darum glühen und
blühen seine Gesänge ursprünglich frisch; da ist von Gemachtem, von
Hinzugefügtem keine Spur. Man thut den Bellmann'schen Liedern
noch Eintrag, wenn man sie mit den kleinen feinen Bildern der
Holländer vergleicht, wo die Maler das winzige Jnsect, den Verlor¬
nen Wassertropfen und den Staubfleck der Natur abgelauscht haben.
Hier ist doch immer nur Copie der Wirklichkeit, dort aber ist die
Wirklichkeit selbst. Bellmann gab seinen Poesien jedesmal die Me¬
lodie, welche dazu paßt, wie Quellengeriesel zu einer wollüstigen
Mainacht; Tert und Musik entstanden im nämlichen Augenblick, beide
waren improvisirt, und er sang die Lieder zur Guitarre.
So zogen seine blühenden Worte auf der Töne Flügel durch
Skandinavien hin, sie prägten sich tief in die Gemüther, und jede
hübsche Dirne trällerte sie nach. Die Mädchen mochten das dreist,
denn in welch wüste Kloaken sie sich auch oft perlorcn, die Sittlich¬
keit wurde nie verletzt. — Gustav III. konnte ein so begabter Mensch,
wie Bcllmann, nicht unbeachtet vorübergehen, und er wurde sein
Günstling. Der König ließ ihn als Secretär bei der Staatölottcrie
anstellen, doch Bcllmann taugte schlecht zum Rechenmeister, und ge¬
gen die Hälfte des Gehaltes trat er seinen Posten einem Anderen ab.
Nun fühlte sich der Poet unabhängig und sorgenfrei; er lebte an
dem reichen, lüsternen Hofe, und sein Genius schaffte fortdauernd
neuen Liederklang. Das sind wahre Volksweisen, verständlich für
jedes Kind, einfach und klar, und dabei immer sangbar, immer me¬
lodisch. In der Karrikatur, im Spott- und Weinlicde ruht seine ei¬
gentliche Kraft, und König Gustav hat ihn den schwedischen Anakreon
genannt. Seine poetischen Bilder führen uns in Spelunken, zeigen
uns das üppige Treiben jener Zeit und reißen unaufhaltsam mit sich
fort zu bacchantischem Taumel. Aber auch ernst, tief wehmüthig
konnte Bellmann sein, das beweist er genugsam in seinem Buche:
„Gedanken an Frau Hallmann's Grab (1764)."
Ueberhaupt befaß er eine ganz eigene, wandelbare Natur, und
sein Gemüth war von Eiderdaunen. Für den leisesten Hauch em¬
pfänglich, wollüstig weich, und stets voll Elasticität, Sobald der
Eindruck nachgelassen hatte, erschien er wieder wie zuvor. Er konnte
mit dein rechten Auge sich freuen über fremdes Glück, und zugleich
mit dein linken weinen über fremden Schmerz. Untüchtige Schrift¬
steller haben den Bellmann nicht selten als Bänkelsänger und Hof¬
narren bezeichnet, doch solche Namen können ihn nicht verletzen und
zeigen nur vom Unverstand derer, die sie ihm beilegten. Eher möchte
ich ihn mit „Puck" vergleichen, der jetzt die tollsten Elfenstreiche macht,
Alles durcheinander wirft, den Menschen tausend Schabernack spielt
und sich darüber todt lachen will. Kurz darauf steigt er aber in
eine öde Kammer hinab, wo arme Unglückliche sich schlummerlos auf
dem Lager wälzen. Durch holde Klänge gießt Puck ihnen Trost und
Ruhe in's Herz, und wenn sie am Morgen gestärkt erwachen, finden
sie helles Gold in der Kammer, das er ihnen heimlich gebracht hat.
Aehnlich machte es Bellmann. Mit den Hofdamen, an deren
Unschuld Nichts mehr zu verderben war, trieb er Späße, so schlüpf¬
rig, so lasciv, wie unser Volksbuch sie kaum vom Eulenspiegel er¬
zählt. Aber wenn König Gustav durch solch eine Scene in die
vollste Heiterkeit versetzt war, dann legte Bellmann Bitten bei ihm
ein für ° Wittwen und Waisen, für herabgekommene Familienväter,
für's ganze Volk, und sie wurden dann selten abgeschlagen. Wohl¬
zuthun war des Dichters höchste Lust, und obgleich selbst nicht mit
Erdengütern gesegnet, fühlte er sich reich, wenn er nur Andern geben
konnte. Als Beugt Lidner, ein schwedischer Poet, 1703 starb, trat
Bellmann einige Tage nachher in's Zimmer der armen, traurigen
Wittwe, gab ihr fünfzig Thaler und sagte mit freudeglänzendem An¬
gesicht: Siehe da, das habe ich für Dich zusammengesungen!
Bellmann erlebte zu seinem Glück das schreckliche Ende Gustav's
IN. nicht; er schloß am 10. Februar 1795 das frohe Auge für
immer zu. Auf dein Klara-Kirchhof draußen in Nordermalm ist er
begraben; .kein Kreuz, kein Stein bezeichnet seine Gruft, und der
Hügel, unter dem er ruht, ist verloren gegangen. Allein das thut
dem Andenken des Sängers keinen Eintrag, es erhöht noch die Poe¬
sie, die um ihn schwebt, und so lange man die schwedische Sprache
redet, so lange wird er unvergessen sein.'
Uns Ausländern bleiben Bellmcmns Dichtungen verschlossen;
denn läßt sich von irgend einem Poeten sagen, daß seine Werke un¬
übersehbar sind, so gilt es für ihn gewiß. Will man ihn verstehen,
dann muß man Schwedens und Stockholms Sitten bis in's Kleinste
kennen, muß sich mit jener Zeit, welche er schildert, innerlichst ver¬
traut gemacht haben. Denn darauf gründet sich eben seine Origi¬
nalität und Volksthümlichkeit, daß er nicht in phantastische Fernen
flog, sondern sich fest an die Gegenwart schmiegte und sie mit der
ganzen Frische und Fülle dichterischer Darstellungsgabe zu schildern
verstand. Friedrich Rühs hat versucht, einige Lieder Bellmann's in's
Deutsche zu übertragen, und wenn das Ganze auch nur halb gelun¬
gen ist, so verdient solches Bemühen doch Anerkennung.
Am 26. Juni schien die Sonne warm und hell. Obgleich ein
Wochentag war, strömte die Menge schon vom frühen Morgen in
Dampf- und Ruderbooten nach dem Thiergarten hinüber. Dort
sollte ja heut das Bellmannsfest gefeiert werden, nämlich der Jahrestag,
an welchem einst sein Denkmal eingeweiht worden. Nach Tische fuhr
ich denn auch über den See und erreichte den Thiergarten, einen
zwar kunstlosen Park, den aber kein Fürst Pückler mit allem Gold
und Geist nachzubilden vermöchte. Hoch thürmen sich Granitformen
empor, hier mit grünem Moos, dort mit Bergkräutern bewachsen;
uralte Eichen, aus Odin's Zeit, krümmen, bald einzeln, bald gedräng¬
ter stehend, ihre Wurzeln um den Stein, und wechseln mit dunkle¬
rem Nadelholz. Oft ruht zwischen den Hohen und Gehölzen ein
stiller See, und wo die Aussicht sich eröffnet, hat man das Meer,
den Mälar und die große, prächtige Stadt vor Augen, immer andere,
immer schönere Bilder bietend. Mitten in diesem interessanten Na¬
turpark sind Villen, Gasthäuser und Schaubuden hineingebaut; über¬
all herrscht Baumschatten, Wasserfrische And Felsenromantik, überall
Zieht sich aber auch das muntere Treiben der Menschen hindurch und
das ist der Thiergarten.
Mit meinen Begleitern fand ich noch Raum auf dem Altan
einer Conditorei, welchem mächtige Bäume als Pfeiler dienten, wäh¬
rend oben die kühlen Wipfel rauschten. Kaum dreißig^Schritte davon
entfernt, erhob sich auf einem von Eichen beschatteten Hügel Bell¬
mann's colossale Bronzebüste. Byström hat sie modellirt und die
Aehnlichkeit läßt sich gar nicht bezweifeln. Angenehm, sogar schön
sind des Dichters Züge, ein Schalkslächeln flüstert um den weichen,
lüsternen Mund, und es kleidet ihn gut, daß er mit Weinlaub be¬
kränzt ist. Hinter dem Standbilde war ein erhöhtes Orchester und
vor demselben befand sich ein freier Raum, aber noch sah man keine
bestimmten Anstalten zu einer Feierlichkeit.
Der Tag wurde bis jetzt nur noch drüben im Salon der Re¬
stauration von einem Kreise eingeweihter Männer mit Gesang und
Gläserklang gefeiert. Die Gesellschaft Par-Bricole, deren Stifter
Bellmann gewesen, hält nämlich ein wie allemal im Thiergarten ein
fröhliches Mahl und erst nach der Tafel beginnt das Fest. So sagte
mir mein Nachbar, ein Schwede von trefflicher Bildung, und ich
fragte ihn, was denn eigentlich der Zweck dieses Vereines sei. Das
wisse man nicht, raunte er mir in's Ohr, doch so viel sei gewiß: die
Neophyten erhalten ein Ordensband, woran sich ein kleiner Trichter
befindet. Sie müssen auch tüchtige Trinkproben bestehen, ehe sie zu
den höheren Graden gelangen können, und sie glauben deshalb ge¬
wöhnlich, die ganze Tendenz ziele auf Bacchanalien hinaus. Wenn
sie aber tiefer eingeweiht werden, so erfahren sie wohl, daß es des
Ordens Absicht ist, die freimaurerischen Cleusinien aufs Allerernsthaf-
teste zu persiffliren.
Unabsehbar waren bereits die rothen Hügelwellen des Granits
ringsum mit buntem Menschengewühl überschüttet, und doch wallten
immer neue Massen noch heran. Zu Fuß und zu Pferde, in Cabrio¬
lets, Halbwagen und glänzenden Carossen kamen die Leute; kein
Stand°fehlte in dem farbenreichen Gemisch. Die Gräfin mit wallen¬
der Straußenfeder auf dem Hut; das Dienstmädchen, ihr Tüchlein
I» Fanchon um's hübsche Antlitz geknüpft; der flotte None und
der fleißige Bürger; der reiche Kaufmann und der arme Lastträger
— sie alle hatten sich versammelt, die Feier ihres Lieblingsdichters
begehen zu helfen. Das eben zeigt von der überwältigenden Poesie,
die in seinen Liedern naht, daß sie jedem Schweden, welche Bil¬
dungsstufe derselbe auch einnehmen mag, gleich werth und theuer
sind.
Immer enger schoben sich die einzelnen interessanten Gruppen
an einander, je größer die Zahl der Herzuströmenden war, und Wa¬
gen. Menschen, Pferde, das Alles stand zuletzt so dichtgedrängt, daß
auch nicht ein Fleckchen Erdboden mehr hervorschimmerte. Und dabei
war — mirabile äictu! — nirgendwo ein Polizist oder Gensdarm
zu sehen. Bei uns in Deutschland hätten sie die versammelte Menge
kreuz und quer gestoßen, hätten dadurch Unwillen und Tumult er¬
regt, und hätten zum Schlüsse einige Leute arretirt. Es läßt sich
nicht läugnen, daß Deutschland das Institut der Gensdarmen, wenn
auch nicht erfunden, doch sehr vervollkommnet hat. Und die Tau¬
sende, von aller Polizei entblößten Schweden benahmen sich so sittig,
so still, als ob sie in der Kirche wären — ich will's nur gestehen,
ich hätte sie sogar etwas lauter gewünscht.
Aber ich rechnete die tiefe Schweigsamkeit dem erwartungsvollen
Schauer zu, der sich bei solchen Gelegenheiten wohl einzustellen Pflegt,
und dachte: geht der Spaß nur erst los, dann hat die Ruhe gewiß
ihr Ende erreicht. — Werden die Par-Bricoler bald kommen?
fragte Einer den Andern, und plötzlich rauschte ein Murmeln und
Wogen durch'S Volk — sie kamen. Wie von selbst bildete sich eine
Gasse in dem Gewühl, daß der Zug ungehindert zu Bcllmann'ö
Bildsäule gelangen konnte. Voran ging Graf Levenhaupt, der Ober¬
statthalter von Stockholm, in voller Uniform, mit blau und gelben,
Federbusch. Ein Herr begleitete ihn, und die Uebrigen folgten paar¬
weis, doch nicht etwa in feierlich schwarzer Kleidung, sondern dunkel
und hell durcheinander, wie es Jedem behagte. Sie stellten sich vor
der Büste auf, und ick war fest überzeugt, daß es jetzt anfangen
würde; allein es geschah noch immer Nichts, nur das Orchester be-
gann zu spielen. Mit einem zweiten, das sich entfernter, hinter einem
Hügel versteckt, gelagert hatte, trug dasselbe abwechselnd Bellmann'-
sche Tonstücke vor. Anmuthige, bald heiter tändelnde, bald süß weh¬
müthige Melodien waren es, aber alle hatten einen rein volksthüm-
lichen Charakter, und es zuckte auch freudige Bewegung durch die
Versammelten hin.
Man merkte es indeß den Par-Bricole-Brüdern wohl an, daß
sie noch etwas erwarteten .... da flogen die Hüte und Mützen
von allen Köpfen, ein Vorreiter suchte Raum zu gewinnen, und die
Königin, eine bejahrte, aber muntere Frau, fuhr im offenen Wagen
bis dicht an den Festplatz. Der Oberstatthalter trat an den Schlag,
und die Fürstin unterhielt sich lange mit ihm. Endlich ging er wie¬
der zu der Büste und ich war gespannt, denn jetzt oder nie mußte
die eigentliche Feier ihren Anfang nehmen. Allein noch immer ge¬
schah Nichts; es ertönte keine Rede, kein Toast, kein Lebehoch. Tiefer
sank die nordische Spätsonne herab, Eichen, Tannen, Felsen und
Menschen mit ihren Strahlen purpurgoldig anhauchend. Die Köni¬
gin grüßte und ließ langsam »veiter fahren, die Par-Bricoler kehrten
zu ihrem Speisesaal zurück und die Musik schwieg.
Nun los'te sich, geräuschlos und sicher, daS polizeilose Gewirr
der Wagen und Fußgänger auf, das wie ein gordischer Knoten er¬
schienen war — man zog nach Hause, oder nach den Restaurationen.
Zwar gab es einen herrlichen Anblick, die bunten Gruppen von al¬
len Seiten auf den gewundenen Bergstegen herniederwallen zu sehen,
aber ich konnte mich doch einer unbefriedigten Stimmung nicht er¬
wehren. Einige Thatsachen, sichtbare Feierlichkeiten hätte ich ge¬
wünscht; solche stumme Andacht paßt für einen Bellmann nicht. Und
wie konnten feurige Worte wirken, wenn sie in diese empfängliche
Menge hineingeschleudert würden; das müßte herrliche Früchte tragen.
Als der Abend seine braunen Phalänenflügel über den Thier-
garten ausbreitete, war Alles öde und leer um Bellmann herum;
ich allein saß noch am Postament seiner Büste. Erst in tiefer Mit¬
ternacht sollen die Par-Bricole-Brüder noch einmal zu ihm gehen,
um ihre Eleusinien zu halten. Es ist davon Nichts weiter verrathen,
als daß der Traubensaft dort in Strömen fließt, und daß sie dem
weinlustigen Sänger manch volles Glas in'S Antlitz gießen.
Niemand in Frankreich ließ sich von jeher welliger von den
symptomatischen Erscheinungen täuschen und hatte eine richtigere Dia¬
gnose für die inneren Zustände, die zum Durchbruch kommen wollten, als
Louis Philipp. Um nicht genöthigt zu werden, seinen Plan zu ändern, durfte
Ludwig Philipp nur Jeden den seinen verfolgen lassen, jedoch so, daß er
nur dahin gelangte, die Eifersucht des Andern rege zu machen; so'
daß sie sich gegenseitig aus dem Wege räumten und dieser offen blieb
für den stets fertigen Entschluß des Königs, dessen Stärke war, daß
er die Schwächen Aller genau kannte; jeder Feldherr, der lange Krieg
führte, mußte die Fehler des Gegners für seinen Sieg ausbeuten,
aber auch verstehen, sie mit Energie zu benutzen. Aber Frankreich,
seine Wohlfahrt, das Glück des Volks, seine Entwickelung, seine Zu¬
kunft? Wer möchte behaupten wollen oder dürfen, daß unter denen,
die dem Könige widerstrebten, nicht auch Manche in der redlichen
Ueberzeugung handelten, das wahre Wohl ihrer Nation zu fördern?
Glücklicherweise ist Niemand von ihnen in den Fall gekommen, auf
die thatsächlichen Ergebnisse seines Systems hinweisen zu können, und
das des Königs hat nun schon in das zweite Jahrzehent hinein
Frankreich geordnet, mächtig, geachtet erhalten, ohne daß irgend ein
Weg versandet wurde, den es für eine heilsame Entwickelung der
Zukunft wählen möchte, wenn diese nicht mit der usurpatorischen For¬
derung der Alleinherrschaft auftritt. Die große gesellschaftliche Frage,
die, von den Ueberforderungen eines mißleiteten Proletariats entklei¬
det, noch immer einen heiligen Anspruch auf die höchste Beachtung
in der Brust eines jeden recht denkenden Mannes hat, ist nicht blos
die Frankreichs, sondern die der ganzen Welt, und Ludwig Philipp
kennt ihre volle Bedeutung; er hat sie verfolgt von dem blutigen
Richtplatze Babeufs im vorigen Jahrhundert bis zu der Mißgestalt,
in welcher sie jetzt wieder sich heraufwühlcn will; er hat Blut und
Gut gegen ihre Zerstörungswuth eingesetzt; er hat sie gesehen und
erkannt, als man seine Warnung für ein Hirngespinst erklärte, sie
verdächtigte als eine List, um der kleinbürgerlichen Beschränktheit Angst
einzujagen. Hat etwa Jemand eine fertige Vorschrift, wie eine un¬
zweifelhafte Erledigung herbeigeführt werden könne, ohne die Nerven
unseres gesellschaftlichen Verbandes zu zerreißen? Und haben die Par¬
teien, die sich dem König entgegenstellen, dafür etwas Anderes als
Zugeständnisse, die den lästigen Mahner nur kühner machen, ohne ihn
zufrieden zu stellen; wie erweiterte oder gar unbedingte Wahlberech¬
tigung, Zerbrechung der Einheit Frankreichs durch einen Föderalis¬
mus der Provinzen, Beschränkung der Gewerbefreiheit durch eine
Begrenzung, gegenüber welcher der Zunftzwang goldene Freiheit ist,
eine Organisation der Arbeit, die, wie sie bis jetzt vorgebracht wurde,
immer noch nicht mehr ist, als ein socialistischer, wenn auch wohl¬
gemeinter Traum — oder — und das ist die geheime Hoffnung bei
allen diesen Vorschlägen — Ableitung nach Außen durch Ueberfluth.
ung Europas in einem Kriege, der für Grenzen begänne, um gren¬
zenlos zu werven? Und ist in allen diesen Anschlägen etwas Anderes
gewiß, als der Ruin des Bestehenden? In Auffassung der wahren
Factoren der europäischen Gesellschaft, in Voraussicht ochsen, was
das geistige Auge aus künftigen Gestaltungen zu erkennen vermag,
steht der König Keinem nach. Oder wo ist der Staatsmann, dessen
durch Thaten erprobter Einsicht er sich nicht ebenbürtig bewiesen hätte?
Aber er ahmt nicht denen nach, die sich Propheten einer neuen Zeit
nennen, die sie bereiten wollen, indem sie das leichte Werk des Zer¬
störers übernehmen und den Nachkommen überweisen, den Schutt
ihrer hinterlassenen Ruinen hinwegzuräumen, um nach Belieben zu
bauen. Ludwig Philipp ist ein zu erfahrener Schiffer auf dem po¬
litischen Ocean, um auf ruhige See zu rechnen; er hat schlimme
Stürme bestanden und kennt die Tücke der Elemente; aber wenn der
Seemann dem Unwetter nicht vorbeugen kann,. so thut er, was er
vermag, er rüstet sein Schiff mit Umsicht, macht es stark und bieg¬
sam, daß es widerstehen und nachgeben kann, waffnet sein Auge und
schärft seinen Sinn, um die Richtung einhalten zu können, wenn auch
die Wogen schäumend im wilden Gewirre sich erheben. Der König
-
weiß, daß, was auch komme» »mag, ein wohl gefügter Staatsbäu
und eine starke Negierung die einzige Gewährleistung darbieten, um
der Zukunft entgegen gehen zu können, und daß eine Regierung nicht
stark ist, wenn sie nur als die gekrönte Spitze einer Partei dasteht;
und da er nicht nach starren Grundsätzen verfährt und nicht sein
Glück auf Eine Karte setzt, so vermag er jeder Combination eine
Lösung abzugewinnen, ohne in ihr aufzugehen; und man sieht ihn
nie ermüdet, noch entmuthigt. Herr von Lamartine äußerte in einer
Rede gegen die Rentenumwandlung, welche bald darauf zur Erörte¬
rung kam, Folgendes: „Wenn es einen Staatsmann gibt, der kühn
„genug wäre, bei der provisorischen Lage der Dinge die Ruhe von
„Europa auf sechs Monate zu verbürgen, so möge er aufstehen: die
„Negierung gebührt ihm durch das Recht des Muthes, er ist weiser,
„als das Geschick und kühner als die Vorsehung." Ohne von dem
dichterischen Schwung der letzten Worte des ehrenwerthen Abgeord¬
neten von Macon eine wörtliche Anwendung machen zu wollen, be¬
merken wir doch, daß, wenn der Staatsmann, dem er so Großes
einräumen wollte, damals in der Kammer nicht gefunden wurde, so hat
Ludwig Philipp seit der Zeit nicht sechs Monate, sondern sechs Jahre
die Ruhe Frankreichs, und man kann wohl sagen, größtentheils durch
seinen Einfluß die Europas erhalten. Dagegen ist es sehr wahr¬
scheinlich, daß, wenn der König das Programm angenommen hätte,
welches das nomine; reixlu angeboten, das Herr von Lamartine vo¬
riges Jahr wieder herausgegeben und der Verfasser von Lucretia in
Verse gebracht hat, die Ruhe in Frankreich und in Europa nicht viel
über sechs Monate gedauert haben würde. Die Koalition vermochte
damals auch nicht, sich dem König aufzunöthigen, obwohl sie ihr Mög¬
lichstes that. Später sehen wir mehrere von den Männern, die damals
eifrig gegen die königliche Prärogative auftraten, mit dem König eng
verbunden. Der König mußte Minister suchen, wo sie zu finden
waren, und sie hatten an Talent und Tüchtigkeit nicht verloren, weil
sie von ihm eine gute Lehre bekommen.
An Tallevrand verlor Ludwig Philipp einen Rathgeber, dessen
Einsicht er ganz zu nützen wußte. Fürst Talleyrand starb am 17.
Mai 1838, vierundachtzig Jahre alt. Wenige Tage vorher war der
Fürst ausgefahren, aber Paris war weniger erstaunt, den Tod des
hochbetagten Mannes zu erfahren, als die Nachricht, daß der ehe¬
malige Bischof von Autun, der eine constitutionelle Messe auf dem
Marsfelde gelesen, Minister der Republik, des Kaiserthums, und
Oberstkammerherr der Restauration gewesen war, mit der Kirche ve»
söhnt und mit ihren Gnadenmitteln in der letzten Oelung versehe»,
starb. Die Kirche ist nicht unversöhnlich und gewährt der vollen
Reue volle Vergebung, auch mußte ihr an der Bekehrung eines so
weltberühmten Abtrünnigen besonders gelegen sein; allerdings wußte
man, daß der Fürst in der letzten Zeit sich seinem Seelenheile zuge¬
wendet hatte, aber man wunderte sich, daß er durchgedrungen war
bis zur vollen Hingebung in das, was die Kirche nothwendig von
ihm hatte fordern müssen. Er hatte sich übrigens auch nicht mit
dem entscheidenden Schritte übereilt, sondern erst am Morgen
seines Todestages die Schriften unterzeichnet, welche die Kirche voll¬
ständig befriedigten. Als man am Tage vorher in ihn drang, es zu
thun, verschob er es bis den folgenden Tag mit den Worten: „Ich
habe mich mein Leben lang nicht übereilt und bin doch immer zur
rechten Zeit gekommen." Der alte Diplomat war auch in diesem
letzten Schritte geleitet worden von dem feinen Takt, mit dem er sich
durch alle Windungen eines langen und oft tückisch genug gewürfel¬
ten Lebens herausgefühlt hatte. Er wollte mit der Kirche versöhnt
sterben, weil das die Welt Nichts anging, aber er wollte nicht un¬
schicklicherweise als ein durch den Widerruf seines ganzen Lebens
Begnadigter lebendig in der Welt auftreten. Darum fragte er seine
Aerzte- „Kann ich davon kommen?" und vernahm mit vollkommener
Gelassenheit ihre Aufforderung, alle seine Geschäfte zu beenden, um
sich fortan nur zu beschäftigen mit seiner Gesundheit — das heißt
mit dem Tode, wie Talleyrand sehr gut wußte, der sich auch von der
Diplomatie der Aerzte nicht täuschen ließ. Auch dann behielt er
Geistesgegenwart und Willenskraft genug, um sich nicht voreilig sei¬
nem Beichtvater zu übergeben, dem Geueralvikar Abb«- Dupanloup,
der nach dem Urtheilspruch der Aerzte vollen Anspruch an ihn zu
haben glaubte. Erst am folgenden Morgen unterschrieb er die Ur¬
kunden, in denen er sich selbst der Kirche, unterwarf, und damit sei¬
nen eigenen Todesschein mit vollen Schriftzügen und voller Fassung,
wie er denn bis zum letzten Augenblick das Bewußtsein behielt. Er
spielte Schach mit dem Tode und ließ die Kirche warten, bis er sich
überzeugt hatte, daß ihm kein Zug mehr übrig blieb. Er schloß das
letzte Geschäft vorsichtig ab; man muß gestehen, daß in diesem Be¬
nehmen Muth und Würde war. Talleyrand's angeborener Scharf¬
blick, der ihn den Leitfaden finden ließ in den Kern der verschlossen¬
sten Charaktere wie der verwickeltsten Zustände, war von der reich¬
haltigsten Erfahrung ausgebildet und geübt worden, denn er war
als Staatsmann thätig gewesen unter fast allen Regierungsformen.
So hatte sich dieses merkwürdige Situirungstalent entwickelt, das
haarscharf unterschied zwischen Schein und Sein, jedes Verhältniß,
wie sehr auch seine Elemente sich vermengt hatten, chemisch zersetzte
und in dem Calcul ihres ferneren Zusammenstehens, so wie einer
bevorstehenden Ausscheidung, fast einer Sehergabe gleich kam. Er
hatte sich nur selten geirrt, weil er nie darauf ausging, sich selbst zu
täuschen, und er täuschte auch nur in so fern Andere, daß er, mehr
aus Indolenz, als in trügerischer Absicht, ihnen den Schlüssel seines
Verständnisses nicht gab, sondern ihnen überließ, ihn selbst zu finden.
Er hatte, zählte man,.dreizehn große feierliche Eide gebrochen,'aber
er hatte sich nicht verpflichtet halten können, still zu stehen, wenn
Alles um ihn her sich bewegte, und er konnte die Treue nicht be¬
greifen, die aus dem Beharren bei einer Unmöglichkeit eine Tugend
machte. Er brachte dem Wiener Congreß das Princip der Legitimi¬
tät, weil ihm nichts Anderes geblieben war, denn das Frankreich,
das er vertreten sollte, hatte damals keine Soldaten und keine poli¬
tische Macht, und da er nicht mit leeren Händen kommen konnte, so
rief er den Diplomaten zu: vous i^norto um s>rincir>v und warf
das in die Waagschale, wie Alexander sein Schwert. Er hatte al¬
lerdings das göttliche Recht angerufen, aber in der Zuversicht, daß
man es menschlich möglich machen würde, und als man das nicht
mehr wollte, und er nicht auswandern wollte mit denen, die sein
Princip verkehrt angewendet hatten, so mußte er darin eine Incon-
sequenz erblicken, der verkehrten Anwendung treu bleiben zu sollen.
Talleyrand hat im Grunde Niemand verrathen, der sich nicht schon
selbst verrathen hatte, und er hat immer richtigen Rath ertheilt,
wenn man ihn verstehen und nützen wollte; ja er hat sogar still¬
schweigend gewarnt, indem er sich zurückzog lind auf die kommende
Katastrophe hinwies. Aber das ist nicht zu läugnen, so klar, denk-
lich und bestimmt er jedes besondere Geschäft behandelte, das unter
seiner Leitung stand, so war es eben nicht leicht, seine Rathschläge
im Ganzen aufzufassen und richtig anzuwenden. Er war ein abge¬
sagter Feind der unnöthigen Rede, belehrte nicht in weitläufiger Aus¬
einandersetzung und hielt nicht Einwendungen Stand; er sprach in
Epigrammen und überließ dem Zuhörer die Deutung und Anwen¬
dung ohne besonderen Eifer dafür, ob seine Rathschläge befolgt wür¬
den oder nicht; aus Indolenz, und wenn man will, aus Egoismus,
denn er behielt sich immer vor, wenn er Andere nicht retten konnte,
nicht mit ihnen zu Grunde zu gehen, sondern sich selbst zu retten.
Ludwig Philipp verstand vollkommen Talleyrand's scharfsinnige Phe-
nomenolvgie, wußte, was von seinen Wahrnehmungen zu brauchen
war, was nicht. Der König hatte 1830 sogleich erkannt, daß Tal-
leyrand der wahre Dollmetscher seiner eigentlichen Absichten bei der
europäischen Diplomatie sein werde, daß er sich ganz auf seine Vor¬
sicht und Feinheit verlassen könne. Des Fürsten Sendung nach Lon¬
don galt nicht blos dem Cabinet von Se. James, sondern der gan¬
zen europäischen Diplomatie, die auch zum öftersten in London das
rechte Verständniß bekam von dem, was die Depeschen des Mini¬
steriums in Paris anders ausdrücken mußten. Hier leistete er die
wichtigsten Dienste, und er blieb auch bis zuletzt der wichtigste Mann
in dem vertrauten politischen Rathe des Königs, zu dem Sebastiani,
Pasquier, Molch Decazes gehörten. Daher auch verdienterweise das
große Ansehen Talleyrand's in der königlichen Familie. Sein Besuch
war in den Tuilerien stets willkommen, und er kam auch dann, als
sein hohes Alter ihm nicht gestattete, die Treppe hinaufzugehen, und
er in einem Sessel hinaufgetragen werden mußte. Der König hatte
sich ihm dankbar erwiesen; man versicherte, daß er sein Gehalt als
Oberstkammerherr unter der Restauration von 100,000 Franken von
der Civilliste fortbezog; an Ehren und Würden hatte er schon längst
Alles erreicht, was einem Privatmanne ertheilt werden konnte. Lud¬
wig Philipp fügte noch die Ehre seines persönlichen Besuches bei
dem sterbenden Diplomaten hinzu. Als der König an Talleyrand's
Sterbebett trat, hatte der Fürst schon die Sprache verloren, die er so
sehr in seiner Macht gehabt und nie mißbraucht hatte. Bei dem feier¬
lichen Leichenbegängnisse erschien die Livree des Königs und eine
Reihe von königlichen Hofwagen. Viele glaubten, daß die Idee,
seiner Bestattung könnten die üblichen kirchlichen Ehren vorenthalten
werden, einen Einfluß geübt hätte auf den Entschluß Talleyrand's,
sich mit der Kirche zu versöhnen. Gewiß ist nur, daß er früher, ehe
Schritte zu dem Ende eingeleitet wurden, angeordnet hatte, daß, im
Falle er in Paris stürbe, seine Leiche nach seiner Herrschaft Vater-
«M) gebracht werden solle, wo er mit dem Kaplan seines Schlosses
in geistlichem Zuspruch war, und von dem er keine Weigerung des
kirchlichen Beistandes erwartete. Die Gazette sagte, Talleyrand sei
der Mechaniker des Systems der Juliregierung gewesen, und nach
seinem Tode werde das Werk stocken; ihre Hoffnungen und manche
andere wurden sehr getäuscht. Wie verdienstlich und dankenswert!)
der Erzbischof von Paris, Herr von Quelen, die Bekehrung des
Fürsten erachtete, kann man daraus ermessen, daß er, einem Gelübde
zufolge, einen Denkstein dafür errichtete. Zu La Dvlivrante im Cal-
vados sieht man das Standbild der Mutter Gottes auf einer Welt¬
kugel. Auf der Kugel steht: Inveni voeu neur», (jugv ^crier.et.
Auf dem Fußgestell liest man folgende Inschrift: l^i-o s-lluto »eternil
Princips <Jo l'nlle^rariil, u«! lecouciliatinilkin rit« Klimissl no i^vr-
Lvverimt»I)U8 poevitentiitv si^ins clesuucti. So starb der Fürst im
Schooße der Kirche, wie er den Schooße des Glücks gelebt hatte; er
war in der That auch im Tode nicht zu spät gekommen.
Unter den merkwürdigen Gestalten, welche mir in Spanien be¬
gegneten, verdient Graf Villareal eine ganz besondere Erwähnung.
Es ist ein ganz wohlthätiges Gefühl, in der geistigen Sündfluth
neuerer Zeit, in welcher Egoismus, Unglaube, Wankelmuth, Feigheit
und Leidenschaftlichkeit jede edle, große Eigenthümlichkeit verschwemmt
und überfluthet haben, einen Charakter zu finden, der in edler Selb¬
ständigkeit über die allgemeine Verfluchung emporragt. Zu diesen
gehört Don Bruno Graf von Villareal, zu Larrea in Alava, im
Jahr 180l geboren. Er diente früher im Regimente Savoyen, zog
sich später vom Militärdienste zurück und lebte zurückgezogen in Bit-
toria. Nach König Ferdinand's Tode erschien er wieder an der
Spitze eines Bataillons königlicher Freiwilligen, welche er gesammelt
hatte. Es gelingt ihm, durch heldenmüthige Anstrengung, trotz der
Bemühungen der Christinos, diese Vereinigung zu verhindern, sich an
Zumalacarreguy anzuschließen. Seine ganze Laufbahn unter diesem
Helden ist eine ummterbrochene Reihe der glänzendsten Waffenthaten,
welche endlich mit dem Grade eines Generallieutenants und für die
Schlacht von Huesca mit der Verleihung des Großkreuzeö des Fer-
dinands-Ordens belohnt wurden. Seine Tapferkeit wurde unter den
baskischen Truppen, und dies war nicht leicht, sprichwörtlich und
artete, als er einmal als höherer Befehlshaber wichtigere Obliegen¬
heiten hatte, beinahe zum Fehler aus, — denn, stand er, den Degen
in der Faust, einmal an der Spitze eines im Gefecht begriffenen
Bataillons, so war er weder mehr von dort wegzubringen, noch für
die Anfragen um weitere Dispositionen zu finden. Bei Se. Seba-
seien erwarb er sich, durch seinen persönlichen Heldenmut!) in diesem
homerischen Kampfe, wo die carlistischen und englischen Truppen
hauptsächlich mit dem Bajonette fochten, und die beiderseitigen Feld¬
herrn, den Degen in der Faust, sich beinahe persönlich gegenüber-
standen, selbst die Bewunderung des Feindes. Diese glänzende Tapfer¬
keit wurde aber noch durch seine ritterliche Gesinnung, seine edle
Haltung, sein uneigennütziges, anspruchsloses, ja mildes Benehmen
erhöht. Von zahlreichen, mitunter gefährlichen Wunden genesen, ward
er zum ersten Generaladjutanten des General se adeo des Don
Sebastian ernannt. Allgemein, von Freund und Feind, hochgeschätzt,
in den Provinzen allgeliebt, von den Truppen angebetet, war Villa¬
real ein Charakter, in welchem sich der wackere Soldat und der
spanische Ritter verschmolzen hatten. Später zum Chef des Gencral-
stabcs beim Infanten Don Sebastian ernannt, begleitete er diesen und
nahm den wesentlichsten Antheil an dem Siege von Oriamendi und
den glänzenden Vortheilen, welche die königlichen Schaaren errangen,
bis der unglückliche Ausgang der Erpedition nach Madrid, bei wel¬
cher er ebenfalls dem Infanten zur Seite stand, dem Siegeslauf der
Carlisten ein, Ziel setzte. Don Carlos kehrte in die Provinzen zurück,
um, wie man sagte, die Verräther zu richten und zu strafen; wer
aber hätte vermuthet, daß unter dieser Benennung die ausgezeichnet¬
sten, tapfersten, erprobtesten Führer der Nordprovinzen verstanden
seien? Die in diesem blutigen Drama mit den glänzendsten, unbe¬
strittensten Lorbeeren geschmückten Namen standen auf der Anklage¬
liste 5), und Villareal, Simon Torre, Gomez, Zariateguy, Ello
Urbistondo, Vargas wurden, als üblen Willens oder militärischer
Pflichtvergessenheit beinzichtigt, in Verhaft genommen. Monate, Jahre
lang schmachteten sie theils im Kerker, theils in schmählicher Verban¬
nung, und Maroto erst bestand darauf, diese Untersuchungen nieder¬
zuschlagen und diese Generale ihrer Haft zu entlassen, vermuthlich in
der Absicht, durch ihren Beitritt seine Partei am Hofe und im Heere
mächtig zu verstärken, ja unüberwindlich zu machen. Bei einigen er-
reichte er auch seinen Zweck, z. B. Simon Torre, Urbistondo und Andere
erklärten sich bei den späteren Ereignissen unbedingt für ihn, Andere
aber und unter ihnen Villareal und Vargas, konnten selbst durch
den erlittenen bitteren Undank und die erduldeten Kränkungen nicht
von der Bahn der Ehre abgewendet werden, sondern beharrten treu
in der Stellung, welche ihnen ihr Pflichtgefühl und ihre Ueberzeu¬
gung angewiesen hatten. Als Don Carlos nach dem Verrath, wel¬
cher bei Bergara den größten und besten Theil seiner Truppen dem
Feinde überliefert hatte, mit den wenigen getreuen Bataillons sich
fechtend bis an die französische Grenze zurückzog, kämpfte der Graf
Villareal, die Rolle des Feldherrn mit jener des Soldaten vertau¬
schend, in der Mitte der treuen Navarresen, die Muskete in der Hand,
— bis an die letzten Grenzmarken den Feinden seines Glaubens und
seines Königs die Spitze bietend, und erst als die letzte Kugel ver¬
schossen und der erste Schritt auf französischen Boden gethan war,
legte er die Waffe aus der Hand — ähnlich Kosciusko, dessen
Schmerzensruf „um8 I^olor-i-le" das Todtenglöcklein für sein Vater¬
land war. Denn für einen Villareal war Spanien, wie ein Espartero
oder ein Mendizabal es darstellten, so viel, als ob es gar nicht en-
stlrte! — Jenseits der Grenze angekommen, lud Don Carlos, gerührt
durch den Heldensinn des Treuen, der in diesem Augenblicke keine
Zeit fand, sich jener zu erinnern, welche er als Opfer schmachvoller
Intriguen im Kerker verlebt hatte, ihn ein, sich dem königlichen Hof¬
lager anzuschließen und dasselbe in das Innere Frankreichs zu be¬
gleiten, noch nicht ahnend, daß die verlangte und zugestandene Zu¬
fluchtsstätte für ihn selbst sich zu der Gefangenschaft in Bourges um¬
wandeln würde. Allein Villareal lehnte diesen Antrag seines könig¬
lichen Gebieters ab. „Herr! rief er, „laßt mich unter meinen Kameraden,
„unter den Volontairs, deren Schicksal ich theilen will, bis die Um¬
stände es uns erlauben, diese Grenze wieder zu überschreiten, um
„Ihr verrathenes, aber unbeflecktes Panier wieder aufzupflanzen."
Die meisten Navarresen, wohl erwartend, daß das Versprechen, die
Fueros und Gerechtsame der Provinzen zu erhalten, nur Täuschung
sein könne, wie auch die Folge es gelehrt hat, — folgten ihren Füh¬
rern in das Cril und zogen es vor, in Elend und Dürftigkeit auf
fremdem Boden ihr Leben zu stiften, als sich zu unterwerfen und den
Vertrag von Bergara anzunehmen. Es war ein jammervoller Anblick,
als diese, durch Gefechte und Mühseligkeiten gelichteten Schaaren,
begleitet von Weibern und Kindern, aus den Schluchten der Pyre¬
näen herabstiegen. Es ist ein merkwürdiges Uebereintreffen, daß bei
den verschiedenen Parteien in Europa zwei so ganz ähnliche Ereig¬
nisse stattfinden: der Uebertritt der polnischen Truppen auf österreichi¬
schen, und jener der carlistischen auf französischen Boden. —
Dombrowski, Dembinski, Nomarino schmachteten aber nicht in
Festungen, wie dies mit Ello, Alzoa, Villareal, Cabrera,
Balmaceda geschah. Frankreich und Belgien bot den Polen
Zuflucht, Unterstützung, Dienste an; was thaten aber die Kö¬
nige oder ihre Minister für die Navarresen? Bald mußten sie die
Waffen, welche sie fünf Jahre so glorreich geführt hatten, ablegen
und wurden in die verschiedenen Depots vertheilt.
Villareal lebte arm und dürftig in B . . Er kam gewöhnlich
des Morgens zu Herrn M . ., einem angesehenen deutschen Kauf¬
herrn, welcher durch seine Anhänglichkeit an die Sache der Legitimi¬
tät bekannt war, und trank dort seine Chocolade, welche mit einigen
vortrefflichen Cigarrert, die Herr M. dazu legte, gewürzt wurde. Dies
war das einzige Almosen, welches, trotz seines Elendes, der spanische
Stolz dem navarresischen Helden anzunehmen erlaubte. Die weiße
Boyna, eine abgeschabte schwarze Pelzjacke, geflickte rothe Beinkleider
und zerrissene Stiefel beurkundeten die äußerste Dürftigkeit, aber das
blasse, abgemagerte Aussehen bewies noch mehr, welche strenge Ent¬
behrungen sich der Mann auferlegt hatte, welcher die kargen Almosen
der französischen Negierung zur Unterstützung seiner kranken oder ver¬
wundeten Genossen, oder hilfsbedürftigen Weiber und Kinder, die
ihnen gefolgt waren, verwendete. Denn er und der gesunde, rüstige
Theil der Refugivs legten den Betrag ihrer Ersparnisse zur Seite, um da¬
mit jene zu unterstützen, welche durch Schwäche, Wunden, oder Krank¬
heit außer Stand sich befanden, durch irgend einen Erwerb ihre Lage zu
verbessern. Schweigend, düster sinnend verzehrt Villareal eines Tags sein
Frühstück, vermuthlich zugleich Mittags und Abendbrod-Jmbiß. Da öff¬
net sich die Thüre, und im gestickten Kleide tritt der christinische
Konsul herein. Nachdem er Herrn M. gegrüßt, neigte er sich vor
dem, solches Zusammentreffen ziemlich unwillkommen aufnehmenden
Helden, und sagt: Herr Graf, eigentlich gilt dieser meinem Freunde
M. gemachte Besuch hauptsächlich Ihnen, da ich Sie bei ihm zu fin¬
den hoffte und mich eines, mir für Sie gegebenen Auftrages meiner
Negierung, der Sie gewiß mit Rührung und Dankgefühl freudig
durchdringen wird, zu entledigen wünsche. Ihr persönlicher Charakter,
Ihre Tapferkeit, Ihr rechtlicher Sinn ist von der Art, daß er Ihnen
die Achtung aller Parteien erworben hat. Ihr ausgebreiteter Einfluß
in den Provinzen, das allgemeine Vertrauen, welches Ihr Name ein¬
flößt, die Wirkung, welche Ihr Beispiel ausübt, sind Beweggründe,
welche es der Negierung der Königin höchst wünschenswert!) machen
müssen, Ihre Person von der bösen, jetzt ohnehin verlorenen Sache
der Factiosen abzuwenden. Auch soll ich in dieser Beziehung nicht
markten. Wünschen Sie eine Anstellung in Madrid, an dem Hofe,
bei den Garden oder sonst in der Nähe der Königin, so sei sie Ih¬
nen gewährt. Genügt Ihnen ein stilles Privatleben in Ihrer Hei¬
math mit Beibchalt Ihres, wenn auch in einer schlechten Sache,
wohlerworbenen Ruhmes, Ihres militärischen Ranges und Ihrer
Decorationen, so sei Ihnen auch dieses gestattet, — wollen Sie aber
lieber, und zwar ebenfalls mit diesen oben ausgesprochenen Begün¬
stigungen Ihren Aufenchalt in Paris oder sonst einer-Stadt Frank¬
reichs aufschlagen, so sollen Sie auch da einen jährlichen, von der
englischen Regierung garantirten und zu bezahlenden Jahrgehalt gegen
Ihr einfaches Ehrenwort erhalten, wo nicht für, doch wenigstens Nichts
gegen die Regierung Ihrer Majestät der Königin Christine zu un¬
ternehmen und Ihren persönlichen Einfluß in den Provinzen bei kei¬
ner Gelegenheit zu irgend einer zum Nachtheil besagter Regierung
sich erhebenden Faction zu verwenden. — Des Erfolgs seines An¬
trages gewiß, überzeugt, Elend und Noth würde es dem, dem er ihn
gemacht, wünschenswert!) machen, so schnell als möglich diesen Zu¬
stand mit jenem des Ueberflusses und des Ansehens zu vertauschen, glaubte
er ihn denselben mit beiden Händen ergreifen und dankbar anerkennen
zu sehen, und wahrlich bei vielen Individualitäten unseres Zeitalters
wäre diese Berechnung ziemlich richtig und auf tägliche Erfahrung
und geübte Menschenkenntniß gegründet gewesen. Aber anders wirkte
diese Rede auf Villareal und seine Antwort ist charakteristisch genug,
um als ein Beleg zur Zeitgeschichte und zum Sittengemälde Spaniens
zu dienen. Ohne sich von seinem Sitze zu erheben, aber noch blas>
ser durch die Wirkung der ihn bemeisternden Entrüstung und der
Leidenschaftlichkeit seines Charakters, welche sich durch die krampfhaft
zackenden Mundwinkel und den feuersprühenden, dunklen Blick kund
gab, entgegnete er: Semwr, sagen Sie denen, die Sie geschickt ha¬
ben, Sie hätten Villareal gefunden, — hungrig, denn bei meiner
Ehre, seit vierundzwanzig Stunden ist diese Tasse Chocolade, die hier
noch unangetastet vor mir steht, meine erste Nahrung, wir Factiosen
haben auf fremder Erde kein Geld zum Schlemmen, — durstig,
denn noch steht das Glas Wasser, welches ich erst trinken werde,
hier auf dem Tische, — frierend, denn (einen spöttischen Blick
auf die Lumpen werfend, die ihn umhüllten) in diesem Stutzeranzug
ist der Winter diesseits der Pyrenäen ziemlich frostig, — aber e r und
seine Kameraden, wenn sie in der Verbannung hungern, dursten
und frieren, sehnen sich nach dem Augenblicke und trösten sich mit
der sicheren Hoffnung, daß er über kurz oder lang wieder kommen
wird, wo sie in christinischcm Blute sich sättigen und am Brande
christinischer Häuser sich werden erwärmen können!
Es liegt eine furchtbare Energie in dieser Antwort, und sie ist
nur zu begreifen, wenn man sich den rachedürstenden Spanier, der
in seiner Religion, in seiner Nationalität und in seiner Persönlichkeit
sich gekränkt glaubt, und somit den Brand seiner Kirche, die Unter¬
drückung seines Volkes, das Elend, was er selbst erleidet, oder den
Tod seiner Angehörigen mit dreifacher Vergeltung an demselben Feinde
zu sühnen hat, nicht mit cisrhenanischen, sondern mit transpyrenäi-
schen Augen und Ansichten sieht und beurtheilt.
Seinen Grundsätzen getreu, lebte Villareal im Elende fort und
war nie zu bewegen, durch irgend eine Demonstration der siegenden
Partei eine Art von Concession zu machen, oder die gefallene zu
verläugnen.
„Victrix cnusit illis placuit, sea viela (.^tom!^
Unser Ferdinandeum äußert von Jahr zu Jahr eine erfreulichere
Wirksamkeit. Diese Anstalt, deren in deutschen Zeitungen schon mehr¬
fach Erwähnung geschah, besteht bekanntlich seit zwei Jahrzehnten zu
dem Zwecke, die Geschichte des Vaterlandes sowohl, als seine physische
Natur zu erforschen und zusammen zu tragen, was an Druckschriften,
Documenten, an zoologischen, botanischen und geologischen Schätzen
im Lande vorkommt, oder sich auf dasselbe bezieht, was endlich auch
als Zeichen und Erinnerungsmal tyrolischer Kunst und Künstler die¬
nen kann. Zur zweckmäßigen Aufbewahrung der so sich bildenden
Sammlungen wird nun auch ein Nationalmuseum erbaut, zu wel¬
chem vor zwei Jahren der Grundstein gelegt worden und das bis zum
nächsten Jahre vollendet sein soll. Die Kosten hiezu sind von dem
Landesfürsten und der Landschaft bereitwillig zusammengesteuert wor¬
den, und zwar hat Kaiser Ferdinand 20,000, die ständische Kasse
15,000 si. C.M. dafür bewilligt. Schon seit seiner Gründung gibt
der Verein auch eine Jahresschrift heraus, die bereits zahlreiche und
mitunter sehr gelungene Monographien über vaterländische Historie
und Naturwissenschaft an den Tag gefordert hat. Ebenso hat die
Gesellschaft seit mehreren Jahren während des Winters wissenschaftliche
Abendvorträge veranstaltet, eine Einrichtung, die bei den gebildeten
Ständen Innsbrucks allgemeinen Beifall fand. Diese Vortrage, welche
im großen Saale der Universität gehalten wurden, haben in unserer
Stadt manche Bewegung hervorgebracht, insbesondere aber hat eine
Reihe historischer Darstellungen aus der vaterländischen Geschichte,
welche in den letzten Monaten an Uns vorübergingen, die öffentliche
Aufmerksamkeit in hohem Grade auf sich gezogen, wie es denn auch
bei der großen Liebe der Tyroler zu ihrer Alpenheimath nicht anders
zu erwarten war. Die Eröffnung dieses Cyclus übernahm der Lan¬
desgouverneur, Graf Clemens v. Brandes, selbst, ein Mann, der
durch sein Werk: Tyrol unter Friedrich von Oesterreich —seine Freude
an den vaterländischen Geschichten und den Beruf, sie darzustellen,
sattsam erwiesen hat. Er besprach in einem gediegenen Vortrage die
Geschichte unseres Landes von den ersten Zeiten, wo der Name Rhä-
tiens bei den Alten genannt wird, bis zu den Tagen Meinhard II.,
— eine Epoche, gegen deren Schluß namentlich das kräftige Walten
der beiden Meinharde, der Grafen von Görz und Tyrol, lebensfrisch
hervortrat und deren Schilderung insbesondere durch ein klares und
lichtvolles Bild der sehr verwickelten Territorialverhältniffe, wie sie
zwischen den verschiedenen Dynastengeschlechtern des Landes obwalte¬
ten, hohen Werth erhielt. In der nächsten Zusammenkunft gab Dr.
Schuler, der ständische Archivar, einen Ueberblick der vaterländischen
Begebenheiten von der Zeit, wo sein Vorgänger geendet, bis zu Ma¬
ximilian I., dem geliebten und annoch in der Erinnerung theueren
Fürsten, den seine' Vorliebe für Tyrol nirgends lieber verweilen ließ,
als zu Innsbruck, zu dessen Zeit daher unsere Hauptstadt in all dem
Glänze einer kaiserlichen Residenz erstrahlte. Geistreich angelegt und
ausgeführt, wie dieser Vortrag war, erfreute er sich der allgemeinen
Zustimmung in bedeutend höherem Maße, als der nächste des Pro¬
fessors Weber, der die Epoche der Reformation behandelte und in
seiner Anschauung dieser bewegten Zeitläufe wenigstens in einzelnen
wesentlichen Stücken nicht mit der zusammenfiel, die sich seine Zu¬
hörer gebildet hatten, obgleich in seiner Rede auch manches gelungene
Apercu hervortrat, dem man den Beifall nicht versagen konnte. Auf
Professor Weber folgte Professor Jäger, Benedictiner im vintsch-
gauischen Kloster Marienberg, gegenwärtig hier verweilend und mit
der Erziehung der Söhne des Landesgouverneurs betraut, ein Name
vom besten Klänge in unserer vaterländischen Historie, ein allgemein
geachteter Mann von hohem sittlichem Werthe und humanster Ge¬
sinnung. Man war um so gespannter auf seine Gabe, als er eine
der interessantesten Perioden unserer Geschichte, das innere Leben Ty-
rols seit der Reformation zu schildern hatte. Als der Angel, um den
sich hier Alles dreht, traten billigerweise die religiösen Zustande her¬
vor und er gab davon ein Bild, das die Zuhörerschaft mächtig an¬
zog. Mancher Andere würde hier die Apostopesen für das unverfäng¬
lichste Mittel gehalten haben, sich die schwierige Darstellung dieser
Zeiten zu erleichtern, allein Professor Jäger hielt es nicht für ehrlich,
sich mit seiner Aufgabe in dieser Art auszugleichen, sondern wagte es
vielmehr, die volle Wahrheit auszusprechen. Die Darstellung des ver¬
sunkenen ethischen Zustandes, der zur Zeit der Reformation in Tyrol
sich einstellt?, das Bild der Verwilderung des Clerus, der Auflösung
aller gesetzlichen Bande, des meuterischen Treibens des Bauernstandes
leitete den Vortrag ein und erweckte in Jedem das Gefühl, daß in
solchen Nöthen nur eine kräftige Hilfe etwas würde ausrichten kön¬
nen. Als solche wurde dann von der Landesregierung die Gesellschaft
Jesu herbeigerufen und dieser gelang es auch bald, ihre ordnende Thä¬
tigkeit zu entwickeln und dem ganzen Leben wieder ein kirchliches
Gepräge zu geben. Neue Andachten, Bruderschaften, Missionen,
Klosterstiftungen u. s. w. traten in zahlloser Menge hervor und ließen
glauben, daß man nirgends frommer und sittlicher lebe, als in Tyrol.
Allein der Historiker konnte dabei auch nicht verschweigen, wie diese
ausschließlich auf das Gemüth berechnete Wirksamkeit durch Vernach¬
lässigung der Intelligenz wie das in seinen Mitteln nicht immer rü¬
stige Streben der Jesuiten, Alles ihrem Einflüsse zu unterwerfen, mit
der Zeit Folgen hatte, die ein gänzliches Ersterben des geistigen Le¬
bens herbeiführten. So wurde denn mit aller Offenheit dargelegt,
wie die Jesuiten durch Beförderung einer gleißenden Frömmelei, durch
Hätschelung der Großen, durch Schmeichelei gegen den Adel, durch
gedankenlose, geisttödtende Erziehung des Volkes allmälig jene düstere
Leere in unserem Leben herbeiführten, die bei ihrer Aufhebung im
Lande so fühlbar war und wie zu dieser Zeit alle ihre Stiftungen,
ohne Wurzeln in dem Volksbewußtsein, unfähig, dem Andrange einer
neuen Denkungsweise zu widerstehen, haltungslos zusammenfielen.
Eine Menge angeführter Thatsachen verstärkte den Eindruck dieser
Schilderung, die eine tiefe Bewegung auf die Zuhörer hervorbrachte.
Es ist nicht zu läugnen, daß die Einwohnerschaft von Innsbruck bis¬
her der Gesellschaft Jesu nicht günstig gestimmt werden konnte, und
da in dem Gehörten für diese abholde Meinung eine vollgiltige Mo-
tivirung lag, so wurde es nur mit desto größerer Anerkennung auf¬
genommen. Bemerken wir indessen, daß sich neben der großen Zahl
der Beifälligen auch etliche unangenehm Berührte gewahren ließen, welche
in der objectiven historischen Darstellung Professor Jäger's Manches
finden wollten, was vielleicht nur sie selbst hineingelegt und die den
hie und da etwas grellen Thatsachen gern die Begründung abgespro¬
chen hätten. Es fehlte daher nicht an Anschuldigungen, die leichtlich
sehr hart geworden wären, wenn nicht Professor Jäger noch zur rech¬
ten Zeit erklärte, daß alles Thatsächliche, was er angeführt, aus den
bischöflichen Visitationsprotocollen und anderen Do¬
kumenten der Zeit entnommen sei, wie diese schon seit Jah¬
ren in Sinnacher's Beiträgen zur Geschichte der Kirchen von Seben
und Brixen vorliegen. Indessen waren Manche schon so tief in Eifer
gerathen, daß auch diese Nachricht zu spät kam, zu spät, als daß sie
ihre Anklagen gegen das Ferdinandeum, dessen Mitglied Professor Jä¬
ger ist, zurückgenommen oder gemildert hatten, und man war daher nicht
ohne alle Besorgniß, ob diese Jncriminationen nicht etwa zuletzt einen
Einfluß ausüben möchten, der auf das bisher so ersprießliche Wirken
der Anstalt nachtheilig drücken möchte. Bei solcher Lage der Sachen
war es daher von hoher Bedeutung, daß gestern in der Generalver¬
sammlung des Ferdinandeums der Herr Landesgouverneur, Graf von
Brandes, selbst diese Bestrebungen in's Auge faßte und mit glückli¬
chem Nachdruck sowohl den verkehrten Eifer beleuchtete? mit dem man
den Sachebefund früherer Kirchenvorsteher für irreligiös ausrufen
wollte, als auch in ernsten Worten, die eines tiefen Eindrucks nicht
verfehlten, die Erklärung abgab, daß, so lange er an der Spitze des
Ferdinandeums stehe, der wissenschaftlichen Forschung ihr Recht, die
Wahrheit darzustellen, nicht verkümmert werden solle.
Wie verschieden die Zeiten sind! Als vor etlichen und zwanzig
Jahren die Verfolgungen gegen die sogenannten Demagogen in Preu¬
ßen betrieben wurden, als Jahr verhaftet, Arndt in Untersuchung,
Wilhelm von Humboldt entlassen war, Görres flüchtig werden mußte,
Varnhagen nach Nordamerika gesandt werden sollte, da lastete auch
auf Schleiermacher, Reimer, Eichhorn und Savigny schwerer Arg¬
wohn und ein feindseliger Hauch streifte über ihre Lebenskreise hin.
Besonders wurde Schleiermacher's Haus, vorher so glänzend und ge¬
sucht, auffallend öde und gemieden, nur ein kleiner Kreis engerer
Freunde harrte aus und bot dem Scheelsehen der Mächtigen ruhig
Trotz. Wie damals die Hofluft, wirkt jetzt in ähnlicher Weise auch
schon die Volksluft, die Macht der aufstrebenden öffentlichen Meinung,
und das zeigt von großer Wandlung der Zeiten! Jetzt kann die Hof-
und Behördengunst diejenigen nicht mehr schützen, welche die gute
Sache des Fortschritts und freien Aufschwungs irgendwie beleidigt,
welche durch unziemliche Erklärungen die eigene Gesinnung geschmäht
haben, jetzt steht man deren Haus veröden und ihren Umgang abneh¬
men. Welche bedeutsame Lehre! welch ernster Fingerzeig! — Die Pole¬
mik gegen die Preußische Allgemeine Zeitung wird mit jedem Tage
heftiger, um so mehr — da sie sich in letzterer Zeit es in den Sinn
kommen ließ, die rheinischen Blätter, von denen die meisten (nament¬
lich die Kölnische und die Aachener Zeitung) ihr an Geist und Reich-
haltigkeit überlegen sind, in plumper Manier herunter zu kanzeln.
Die Preußische Allgemeine möchte gerne die Rolle des „Journal des
Debctts" spielen; aber es fehlt ihr vor Allem das Talent dazu. Die
Spalte» des „Debats" werden von den glänzenden Federn eines Se.
Marc Girardin, eines Michel Chevalier, eines de Sacy geschrieben
(vom Feuilleton sprechen wir gar nicht!). Diese Männer üben durch
ihren prächtigen Styl, durch ihre überlegenen Kenntnisse und politische
Erfahrung eine hinreißende Gewalt auf diejenigen aus, die nicht ihre
Meinung theilen. Viele Leute in Frankreich lesen das Journal des
Debats, wie man einen classischen Autor lies't — um seines Rufes
willen. Welche Rolle spielen die Männer der Allgemeinen Preußischen,
gegenüber jenem Pariser Blatte? Bei ihnen tritt gerade der entgegen¬
gesetzte Fall ein, selbst jene Leute, die der conservativen Tendenz ihren
Beifall zolle», sagen: Ja, ja, es ist recht gut gemeint; wenn es nur
nicht gar so abgeschmackt geschrieben wäre! Noch ein anderer, viel
wichtigerer Unistand unterscheidet dieses Berliner Blatt von seinem
französischen Musterbilde. Das Journal des Debats ist trotz seines
Ministerialismus dennoch ziemlich selbständig. I» manchen Fällen
ist es ganz anderer Meinung als das Ministerium, und vertritt diese
mit Fceimuth. Ja manchem Ministerium (wie z. B. dem vom I.
März) schließt es sich gar nicht an. Die Redacteure sind Männer
von großer politischer Wichtigkeit. Der eine der Eigenthümer ist
Pair'vo» Frankreich, der andere, der verstorbene Bertin, hat sogar
diese Würde aufgeschlagen, um sich ganz dem Blatte widmen zu kön¬
nen. Dieses gibt dem Blatte ein großes moralisches Gewicht und
verschafft ihm Achtung selbst bei seinen Gegnern. Wie verhält es sich
dagegen mit dem Redactionspersonale der Preußischen Allgemeinen?
Welches ist ihre bürgerliche Stellung? Welches ihre literarische? Sind
es nicht meist Männer, die bereits bei anderen Journalen ihren Man¬
gel an Capacität bewiesen? Ist ein einziger unter ihnen, der ein be¬
deutendes literarisches Renommee zur Unterstützung des Blattes mit¬
gebracht hat? Wie wollen diese Männer dem Publicum, der Opposi¬
tionspresse imponiren? Mit welcher Achtung wird ihnen denn von
ihrer eigene» Partei begegnet? Ein kleiner Beitrag zur geheimen
Geschichte der Redaction dieses Blattes mag hier seine Stelle finden.
Vorige Woche kam Herr I>>. Hermes (dessen Anstellung am 5. All¬
zu Ende geht) wie gewöhnlich in das Redactionsbureau, um dort
seine Arbeit vorzunehmen. Nicht wenig war er erstaunt, seinen Platz
bereits durch den Herrn Hofrath Rousseau besetzt zu finden. Er be¬
klagte sich hierüber bei dem Redacteur v,-. Zinkeisen. Dieser aber er¬
öffnete ihm, daß Herr Oberst Schulz (ehemaliger Herausgeber des
politischen Wochenblattes und nun Oberherr der Preußischen Allge¬
meinen) es so angeordnet habe. Uebrigens — wurde hinzugefügt ^
beziehen Sie ja Ihr Gehalt bis zum nächsten Juli und es kann
Ihnen nur angenehm sein, wenn man Ihnen schon jetzt alle Arbeit
erspart. — Diese kleine sei-in- ä'intviiem- (die man schwerlich „berich¬
tigen" wird) zeigt hinlänglich, mit welcher Achtung den Männern be-
gegnet wird, welche die Ehre hatten, dem Berliner Journal des De-
bats anzugehören. Man nimmt sich nicht einmal die Mühe, durch
ein kleines Billet der Höflichkeit Genüge zu leisten, sondern man laßt
den Mann kommen und sagt ihm wie einem Küchenjungen: Du hast
hier Nichts mehr zu thun, Dein Lohn wird Dir bezahlt, es steht
schon ein Anderer auf Deinem Fleck! Ist das nicht moralisch, con-
servativ, imposant, groß, gouvernemental, christlich-germanisch? — —
Oehlenschläger befindet sich noch immer hier. Es gefallt ihm
wohl in der Hauptstadt Preußens, wo ihm mit großer Zuvorkom¬
menheit überall begegnet wird. Der fünfundsechzigjahrigc Dichter ist
ein noch sehr rüstiger, wohlbehaglicher Mann mit einem freundlichen
rothwangigen Gesichte, schönen tiefblauen Augen und vollem Haar¬
wuchs, der noch wenig grau ist. Er citirt gerne seine eigenen Verse.
Er spricht das Deutsche mit vollständiger Geläufigkeit, aber mit star¬
kem, nordisch zischendem Accent, ganz wie sein Landsmann Steffens,
in dessen Gesellschaft man ihn viel sieht. Der König hat ihm das
durch Thorwaldsen's Tod erledigte Kreuz des Oiärv xm,r I« merit?
verliehen, was von Vielen bekrittelt wird. Besonders hebt man den
Umstand hervor, daß in den Statuten des Ordens gesagt wird, bei
künftigen Ordensverleihungen werden die Mitglieder zu Rathe gezo¬
gen werden, und nun sind gleich beim ersten Fall die Statuten un¬
beachtet geblieben. Ich hoffe, die Leser dieses Blattes werden sich
darüber trösten. — In welchem traurigen Austande die hiesige Bühne
sich befindet, kann man schon aus dem Umstände ersehen, daß es der
Intendanz nicht einmal möglich wurde, zu Ehren Oehlenschlager's ei¬
nes seiner Stücke zu geben; eine Artigkeit, die sonst selbst bei gerin¬
geren Eelebritäten an allen Bühnen herkömmlich ist. — Döring ist
endlich abgereist. Sein dreimonatliches Gastspiel hat ihm dritthalb
Tausend Thaler gebracht!! Einige jüdische Banquiers, entzückt über
seinen Banquier Müller (in Bauernfelds Liebesprotocoll) haben ihm
am Tage seiner Abreise ein glänzendes Diner gegeben und Abends
eine weithin schmetternde Serenade veranstaltet.V Auch Kranze, Ge¬
dichte sind ihm auf der Bühne zugeflogen. Man sieht: die Tänzerin¬
nen haben noch nicht alle Blumenhändlerinnen und Gelegenheitsdich¬
ter für sich allein in Beschlag genommen. — „Raum für Alle hat
die Erde! —" — n —
Manche wichtige Nationalangelegenheit hat zwischen der deut¬
schen Diplomatie nicht so vieles Hin- und Herschreibcn veranlaßt, als
die Eriquectefrage, welche die sächsischen und anhaltischen Herzöge durch
ihre Selbsterhöhung zu Hoheiten erregte. Man hätte hiesiger Seits wenig
dagegen, den Wunsch der kleinen Souveräne zu erfüllen und auf den Mit¬
telweg, den ein halb officieller Artikel in der Augsburger Allgemeinen
Zeitung vorgeschlagen: die nicht mediatisirrcn von den mediatisirten
Fürsten durch die Veränderung des „Messe'' in „Hautesse" zu scheiden, ein¬
zugehen, wenn nicht Preußen dagegen Einsprache thäte. Bin ich recht
unterrichtet, so soll die Aeußerung Preußens dahin gegangen sein, man
müsse, um das conservative Princip in Ehren zu halten, Deutschland
den Beweis geben, daß man nicht blos nach unten gegen die Wünsche
der Völker, sondern auch nach oben gegen die Wünsche der Fürsten
die bisherigen Verhältnisse des deutschen Bundes streng conservire.
Oesterreich, das keine Eroberung in Deutschland machen will, kann
es in der That vollständig gleich sein, ob der Titel dieses und jenes
Herzogs so oder so lautet; Preußen hingegen, das darauf denken muß,
bei einer passenden Gelegenheit seinen Staat zu arrondiren, ist jede
moralische Erhebung der kleineren deutschen Souveräne, und wäre sie
auch eine blos titulare, sehr unwillkommen. Ich darf mich über die¬
sen kitzlichen Punkt aus leicht erklärlichen Rücksichten nicht so aus¬
sprechen, wie ich wohl möchte; das Blinde-Kuh-Spiel zwischen den
beiden hohen deutschen Cabineten, wovon das eine bemüht ist, durch
allerlei Wendungen seinen eigentlichen Grund zu verstecken, und das
andere sich den höflichen Anschein gibt, als läge ihm die Binde fest
auf den Augen und als merke es nicht das Geringste; diese in¬
teressanten Actenstücke finden vielleicht einst einen Hormayr, der sie
mit indiscreter Bosheit aus dem Dunkel zieht und sie als Lebens¬
bilder aus dem deutschen Bcfreiungsfrieden zur großen Ergötzung der
Freunde piquanter Lectüre veröffentlicht. — In den höheren Adels¬
kreisen erregt die Hoheitserklärung der erwähnten deutschen Herzoge
noch mehr Debatten, als in der Diplomatie. Bekanntlich zählt der
hiesige Hochadel viele Fürstenhäuser, die, wenn auch nicht durch Sou¬
veränität, doch durch den äußeren Titel „Durchlaucht" mit vielen
souveränen Fürsten gleich stehen. Durch die Veränderung der Messe
in Hautesse würden diese fürstlichen Häuser um eine Stufe tiefer
kommen, was ihnen um so schmerzlicher fallen muß, als von unten
auf die Reihen des Adels immer durch neue I«del-<!« av no!>I>-»se ver¬
mehrt werden '). Das ist ein Schritt mehr zur Untergrabung des Adels-
Jnstituts in der öffentlichen Meinung; von oben sagt der Stolz der
Unmediatisirten sich von der Gemeinschaft des Titels los, von unten
empfängt er die Gemeinschaft mercantilischcr Glückspilze, Börsenspe¬
kulanten u. s. w.! —
Ich nannte eben den Namen Hormayr. Der dritte Band sei¬
ner „Lebensbilder aus dem Befreiungskriege", wiewohl er meist nur
Actenstücke enthalt, macht dennoch in allen hiesigen Kreisen so großes
Aufsehen, wie die beiden ersten Bände. Die heftige Polemik gegen
das ganze Haus Habsburg und das Lob, welches dem baierischen
Königshause gezollt wird, ist zwar etwas plump und zeigt, daß Herr
von Hormayr sich in München angenehm machen will. Allein, gerade,
daß er sich dieses Mittels bedienen darf, ist charakteristisch, um so
mehr, da Hormayr in baierischen Staatsdiensten steht und (was viel¬
leicht Wenige wissen) die bedeutendsten Documente, die er in diesem
Bande abdrucken ließ, im Original dem König Ludwig überreicht hat,
damit man ihn nicht wieder des Unterschiebens unechter Urkunden an¬
klagen könne. Daß gerade ein solches Buch in dem Momente erscheinen
mußte, wo König Ludwig öffentlich im Theater den Erzherzog Karl
umarmte und in Regensburg in die Walhalla unter obligater Beglei¬
tung selbstgedichteter Dichtungen führte — ist ein satyrischer Streich
des Anfalls. Der Zufall war nie ein Diplomat; daß aber Herr von
Hormayr, der auf diesen Titel Anspruch macht, gerade in demselben
Augenblicke nach München kommt, ist hier Keinem entgangen. Auch
noch ein anderer kleiner Umstand ist bemerkt worden. Die Augsbur¬
ger Allgemeine Zeitung hat bald nach dem Erscheinen des erwähnten
Buches einen lobenden Artikel über dasselbe gebracht, einen Auszug
aus der Weser-Zeitung. (Die Weserzeitung erscheint in Bremen, wo
Herr von Hormayr Ministerresident ist.) Gewiß, unsere loyale Freun¬
din, die getreue Augsburger, hat alle Ursache und alle Lust, uns zu
schonen; ein Buch, das der österreichischen Regierung mißliebig ist,
wird gewiß von ihr ignorirt, oder in ihren Spalten die gründlichste (!)
Widerlegung finden. Wie kommt es, daß sie gerade bei diesem Buche
eine Ausnahme machte? Aus eigenem Antriebe hat sie es gewiß nicht
gethan, wer war nun die einflußreiche Hand, welche diese Reclame in
ihre Spalten brachte? —'
Im Ganzen ist dem Hormayrschen Buche nicht beizukommen,
Aktenstücke können nicht abgeläugnet werden. Leidenschaftlichkeit und
wohlgefällige Selbstbespiegelung sind allerdings sehr in dem Buche
vorherrschend. Allein in welchen Memoiren ist dies nicht der Fall?
Die Wahrheit gewisser historischer Momente ist nur durch das An¬
hören verschiedener Stimmen zu erörtern möglich. Will man hiesiger
Seits Eindrücke, wie das erwähnte Buch sie hervorbringt, schwächen,
so erlaube man andere Memoiren von Oesterreichern, die in jenen
Zeiten wichtige Rollen gespielt haben, zu publiciren. Oesterreich hat
genug lichte Momente und glänzende Charaktere und viele Pa¬
piere wichtiger Männer sind vorbereitet, die der Öf¬
fentlichkeit entgegen sehen. Nur muß man nicht verlangen,
daß derlei Papiere die Wahrheit da verschweigen sollen, wo sie herb
ist. Nur die Chinesen malen Licht ohne Schatten; was bis jetzt
Geschichtliches unter österreichischer Censur erschien, ist echt chinesisch.
— Das russische Paradies ist offenbar Sibirien. Denn will man
den halb oder ganz officiellen russischen Autoren wie Gretsch, Tolstoi
:c. glauben, so ist es ein Land, wo Milch und Honig fließt, und man
muß sich nur wundern, daß Verbrecher in so elvsische Gegenden ver¬
wiesen werden; andererseits ist dafür gesorgt, daß die Bewohner die¬
ser Strafkolonien blos Glück und Zufriedenheit athmende Briefe (durch
den Gouverneur) nach Hause schreiben. Klagen werden durch diese
Seufzercensur unmöglich gemacht und, wenn man sie versucht, hart
bestraft. Ein ehemaliger Schüler des Warschauer Lyceums, vor sechs
Jahren wegen einer Knabenvcrschwörung exilirt, schrieb — wie die
Deutsche Allgemeine berichtet — seinen Eltern, er befinde sich ganz
wohl, habe sich an das Klima bald gewöhnt und wünsche blos seinen
schwarzen Frack, um auf den Ball gehen zu können. Und dieses
Schreiben, dessen verzweifelte Ironie mehr sagt, als alle umständ¬
lichen Details, läßt die sibirische Postcensur passiren. Daraus sieht
man, daß es wirklich dumme Teufel gibt, und daß eine auf die Spitze
getriebene Polizeipsifsigkeit zuletzt in die crasscste Bornirtheit umschlägt.
Als ob diese Zwangslügen nicht mehr als unnütz wären, als ob sie
nicht blos ein böses Gewissen verriethen! Wenn man von der Schuld des
Verwichenen überzeugt ist, wozu seine Lage mit rosenfarbenen Pinsel
malen? Wer erwartet oder verlangt denn, daß ein Verbrecher an sei-
nem Straforte sich glücklich fühlen soll? Das russische Volk nennt
bekanntlich die Verbannten „Unglückliche"; deutet dies vielleicht auf
eine allgemeine Ueberzeugung hin, daß nicht blos Verbrecher verwie¬
sen werden? — In demselben Sinne sollen die aus Sibirien Erlö¬
sten nicht einmal ihren Eltern, Gatten oder Geschwistern das Min¬
deste über ihren Aufenthalt in der Strafkolonie zu erzählen wagen-
Ist ihnen die Erinnerung so schrecklich, oder haben sie hochnothpein-
liche Rücksichten zu beobachten?
— Gegenwärtig sitzt in der Berliner Stadtvogtei ein sehr gebil¬
deter junger Mann mir acht bis zehn Sträflingen aus der untersten
Volksklasse in einem Zimmer. Wenn der revioirende Kerkermeister die
Thüre öffnet, muß er sich mit den Andern in Reihe und Glied stel¬
len. Wie kommt das? Ist es ein Revolutionär, den man auf diese
Weise, praktisch, die Gleichheitsideen austreiben will? Nein, diese
Behandlung schreibt sich einfach daher, daß er blos Schriftsteller, ein
wegen Preßvergehen zu drei Monaten Gefängniß verurtheilter Schrift¬
steller ist. Er gehört keinem erimirten Stande an; er ist nicht mehr
Student und hat keinen Mandarinenknopf. Ja, er hat nicht einmal
einen Titel. Wenn er wenigstens Doctor hieße; ob er sich diesen
Gradus errungen, oder in Jena erkauft hatte, das bliebe sich gleich.
Man wüßte doch, wornach ihn zu tariren. Aber so! Blos Schrift¬
steller! und wenn er einer wie Rousseau, oder wie Lessing wäre, es würde
ihm Nichts helfen. Solche Rücksichten walten im Jahre 1844 im
Staate der Intelligenz. Erinnert das nicht an den russischen Tschin?
— In einer unscheinbaren Ecke der Augsburger Allgemeinen
Zeitung finden wir eines der interessantesten Inserate, das seit langer
Zeit das Auge des Lesers reizte; eine wahre historische Aeitarabeskc,
eine Randglosse, wie sie kein Walesrode und kein Detmold erfindet.
Sie lautet:
„Der Verfasser des Artikels „aus Bauern" über die Gustav-
Adolphstiftung in Nro. 8l. der Allgemeinen Zeitung wird
hierdurch aufgefordert, zu erklären, wie er dazu gekommen,
die Worte: „Die bornirte preußische Partei" mit Anfüh¬
rungszeichen, als aus dem denselben Gegenstand betreffenden
Aufsatz im ersten Heft der von mir redigirten Zeitschrift für
volksthümliches Recht entnommen, wiederzugeben, welche
sich doch in dem „veröffentlichten" Abdruck dieses Auf¬
satzes nicht findenG. Ebertv. ."
Das vielbesprochene Manifest der Augsburger Allgemeinen Zei¬
tung gegen den Gustav-Adolphverein führte also aus Eberty's Zeit¬
schrift gewisse Ausdrücke an, um die revolutionäre Tendenz des Gu¬
stav-Adolphvereins zu beweisen, welche Ausdrücke aber in Halle un¬
ter dem Rothstift gefallen waren. Welche zarte und geheime Fäden
da Preußen und Baiern zu verknüpfen scheinen. Welchen Grund hat
man noch, über confessionelle Zwietracht in Deutschland zu klagen,
wenn man steht, in welch intimer und sorgfältiger Correspondenz ge¬
wisse streng protestantische und streng ultramontane Hochwächter mit
einander stehen und wie sie gemeinsam bauen am Hause des Herrn!?
— (Aus Stuttgart.) Ein geistreicher Mann in Stuttgart, an
den wir uns um Eorrespondenzen für die Grenzboten gewendet haben,
schreibt uns: Allerdings läßt sich Ihrem Wunsche gemäß so Man¬
ches über Stuttgart sagen; freilich nicht, ohne die spruchscheucn Hof¬
dörfler aufzuschrecken. Das Theater lasse ich gern aus, denn das In-
leressanteste darüber wäre eine Schilderung, nicht seiner Leistungen,
sondern seiner Hindernisse, die fast in Ihr Novellcnheft gehörte und
füglich nur geschrieben werden dürste von einem Verstorbenen oder
Abgereisten, was dasselbe ist. Es sind gerade keine besonderen diplo¬
matischen Persönlichkeiten da, vielleicht ein Paar, die man als künf¬
tige Brunows und Medems signalisiren könnte. (Graf Buol Schauen¬
stein, der sich hier viele Freunde erworben hat, verlaßt uns.) Freilich
verschlingen sich hier einige Knoten der österreichischen und preußischen
Hegemonie; es ist ein Bohren im Stillen, dem man den Widerstand
der Trägheit, des Nichtverstehens entgegenstellt; aber wenn man die
Faden kennt und den Zettel, wornach im Geheimen gesponnen und
gewoben wird, so weiß man es dem hinkenden Teufel wenig Dank,
der das Dach lüftet an dem Bau dieses Stilllebens — anders nicht
über die Stellung des Kronprinzen, des Prinzenklubs, der Standes¬
herrlichen Partei, der oberschwäbischen politico-religiösen Roskolniks —
alle diese bel-ma <Imo>'« klaffenden, zankenden, vor Wuth lispelnden
Widersacher werden sich vereinigen in einen gemeinschaftlichen Schrei
des Unwillens gegen den Verhaßten, der an ihnen zum Publicisten
wird Hat so ein Mensch nicht sonst Stoss genug, die Anlagen, den
Rosenstein, den Besenbach, die Eisenbahnen, den Pfcrdemarkt — wie
kann er sich vergreifen an respectablen Personen, das heißt an sol¬
chen, die sich entehrt glauben, wenn ihr Name anders vorkommt in
einer Zeitung, als in einer allergnädigsten Beförderungsliste? Was
öffentlich geworden, ist gemein — so meinen jene — gemein ist Al¬
les, was, aus dem Kreise der Besonderheit gehoben, allgemeines Wis¬
sensgut geworden; kann man eine Neuigkeit im Munde führen, die
Alle'wissen können? Das wäre fast so arg, als sich am Sonntag
putzen. Das ist der Zustand des Patienten, den ich behandeln soll
Der bekannte sinnige Eorrespondent der Deutschen All-,
c»..»t^.!^,^ ..^^N- ^. . . / " ""ö
nen aus Berlin entwickelte unlängst klar und scharf de» 'um^s^"^
zwischen dem freien Vortrag auf den Universitäten und der von
Eichhorn angeordneten neuen dialogischen Lehrmethode; im-»- s»k. ^
denkende Hörer, diese setzt Schüler voraus, jener ist el.^wisse isb^-
licher Unterricht, diese ist pädagogisch, erziehend. Außerdem hL
allerhand drum und dran. Ein ungeschickter Claaue.. A,'^
Ministeriums in der Deutschen Allgemeinen in!w7"' ^e.?^ ^
komischen Stoßseufzer, hätte man diese probate Method nur frühe
gehabt, dann wurde es Hegel nicht so leicht geworden sein die Welt
über seine Tendenzen zu täuschen und die Regierung hätte soaleick ae-
wußt woran sie mit ihm sei. Bravo- Es kann sich hierVblos
um philosophische Dunkelheiten handeln, sonst würde es dem Elaqueur
nicht entgehen, daß sah-klug mit seiner mystischen Speculation, bei
einer acht blos vom Lehrer, sondern auch vom Zuhörer ausgehenden
(wirklich peripatctischen) dialogischen Reibung, eher in die Klemme
geriethe, als der scharfe dialektische Hegel. Darum setzt man auch be¬
sonders bei den jüngeren Professoren und Privatdocenten einigen Wi¬
derwillen gegen die neue Methode voraus; denn es dürfte unter den
dialogisirenden Hörern zuweilen eine ganz andere Wißbegier, als die
studentische, die Ohren spitzen. — Die neue Methode wird von Oben
als eine den Docenten und Studirenden freigestellte bezeichnet; doch
sollen Jene, welche an den Nepetitorien nicht Theil nehmen, weder
Stipendien genießen, noch zum Examen zugelassen werden. Nach
welcher Logik? —
— Man scheint überhaupt im Staate der Intelligenz damit um¬
zugehen, nicht nur eine neue Lehrmethode, sondern auch eine neue
christlich-germanische Logik einzuführen. Wir sprachen unlängst von
den zahlreichen Studentenauswcisungen in Preußen. Darunter ist ein
komischer Fall. Ein Student, der aus Breslau gebürtig und in
Königsberg, wo jetzt seine Eltern leben, erzogen ist, wurde aus Königs¬
berg verwiesen und in Breslau nicht geduldet. Er darf auch in kei¬
ner anderen Universitätsstadt, so lange er conciliirt ist, verweilen und
ist zum Vagabundiren angewiesen. Er wandte sich, mit Auseinan¬
dersetzung dieser Verhältnisse, an's Ministerium und erhielt den Be¬
scheid: man werde ihm nicht eher eine Universität zu besuchen er¬
lauben, bis er bewiesen habe, daß er sich auf der Universität gebüh¬
rend zu verhalten wisse. — ! —
— Ein Paar interessante Episoden ^sind in der Umgegend von
Paderborn vorgefallen. In Gehecke wurden nämlich die Wohnungen
der Juden gestürmt und demolirt, weil ein Geistlicher einen religions¬
lästerlichen Schmähbrief erhalten haben soll, der ohne Weiteres den
Juden zugeschrieben wurde. In dem benachbarten Orte Störmede
wurde dies schöne Beispiel nachgeahmt und dieselbe Tragikomödie auf¬
geführt. Die Juden leisteten natürlich keinen Widerstand, sondern
flüchteten und verbargen sich, fo daß wenigstens kein Menschenleben
verloren ging. Man erzählt, ein Gensdarm habe zugesehen, und als
Alles vorüber war, seien die Behörden erschienen, um das Schlacht¬
feld zu besehen und Vorbereitungen zu einer Untersuchung zu treffen.
— Vom „verabschiedeten Lanzknecht" (Fürst Schwarzenberg) er¬
scheint wieder ein Band interessanter Memoiren, aus denen Villareal
(in diesem Hefte) eine kleine Probe bildet.
Man muß oft den harten Ausspruch hören, der Berliner Pöbel
sei. unter allen Pöbelsorten einer der entartetsten. Wenn dieser Aus¬
spruch wirklich begründet sein sollte, so muß man fragen: Wie hat
sich diese Verderbtheit in einer Stadt, die unter den europäischen
Großstädten eine der jüngsten ist, so schnell und üppig herangebildet?
Die frommen Quacksalber sind mit ihrer Universalursache gleich bei
der Hand: Berlin hat zu wenig Religiosität! schreien sie. Es sind
zu wenig Kirchen da, die Sonntagsfeier ist zu wenig streng. Mehr
Frühgottesdienste, mehr Nachmittagspredigten, strengere Ehe- uno
Sittengesetze — mehr Einfluß der Geistlichkeit in das Familienleben
und wie die wohlfeilen Anweisungen auf Jenseits alle heißen. —
Diese heiligen Speculanten, die jetzt eine so laute Stimme führen,
möchten in Deutschland im neunzehnten Jahrhundert ein ähnliches
Mittel gebrauchen, wie Law im achtzehnten Jahrhundert in Frank¬
reich: Mississippi-Actien möchten sie in Umlauf setzen, Anweisun¬
gen auf die Herrlichkeiten und Reichthümer einer anderen Welt,
und das letzte Gut, das dem Armen noch übrig bleibt, das Bischen
irdische Heiterkeit und Lust, das er nach der ermüdenden Tageö-
und Wochenarbeit noch besitzt, als Zahlung an sich reißen. Sie ver¬
gessen, diese heiligen Finanzminister des lieben Herrgotts, daß jenes
unglückselige System von Law die Revolution beschleunigt, wo nicht
gar herbeigeführt hat. Die Reaction bleibt nie aus bei überspannten
Mitteln. Bußtage hat das Volk genug, Freudentage aber hat es
wenig! Fasten ist ein gutes Mittel, den kranken Magen zu heilen,
aber nur durch Nahrung erhält man den gesunden. Ihr, die Ihr
so leicht mit der Kasteiung bei der Hand seid, habt Ihr denn auch
für die Vergnügungen des Volkes gesorgt?
Was die Entartung der untersten Klassen in Berlin so schnell
entwickelt, ist nicht der Mangel an geistlicher Erbauung, sondern der
Mangel an weltlicher Unterhaltung sittlicher Art, nicht der Mangel
an Kirchen mit zierlichen Schinkel'schen Säulen, sondern vor Allem
der Mangel jener großen, erhabenen Kirche, die man grüne Na¬
tur nennt. Ein Wald, ein Berg, buschige Hügel, duftige Wiesen,
blühende Felder, vom Duft des Frühlings belebt, erheben und ver¬
sittlichen selbst den rohesten Menschen. Alle jene heftigen Emotionen,
mit welchen die Erhabenheit der frischen Natur auch das stumpfeste
Herz aufrüttelt, jene süßen FrühlingSschauer, jene wahren innerlichen
Ostertage, wo mit dem Leibe auch die Seele ihre Auferstehung feiert,
jene ahnungsreicher Sommerabende in duftgeschwängerter Lust, so
reich an Tröstung und wohlthätiger Seelenerschütterung, die kennt
der gemeine Mann in Berlin nicht. Der Reiche sucht sie auf durch
Reisen, oder auf seinem Landgute, für den Armen geht Jahr für Jahr
vorüber, ohne in sein Herz eine Blume zu pflanzen, ohne jene wohl¬
thätige Gährung in seiner Seele zu erregen, die der Frühling jedem
Andern bringt. Nur das Bockbier bezeichnet ihm die Ankunft des
Lenzes, der wohlfeilere Schnapspreis das Nahen des Herbstes; —
seine Sonntagsspaziergänge muß er in der Branntweinkneipe und im
Bicrkellcr machen. So entzündet sich Rohheit an Rohheit und erbt
sich sort in steigendem Maße. Das ist das Geheimniß der unver-
hältnißmäßigen Entartung der niederen Stände Berlins — nicht blos
des Pöbels.
Ich fragte einen meiner Bekannten, den Stadtrath Jottrand in
Brüssel, als er vor Kurzem von einem Ausfluge in die Rheingegen¬
den zurückkam, wie es ihm in Preußen gefallen habe. — Vieles ist
vortrefflich,—antwortete er—Manches bewundemöwerth, aber fast Alles
geschieht für den höheren und für den Mittelstand; das Volk ist ein Stief¬
kind in diesem Lande, es wird überall mit Grobheit behandelt, für
seine Bequemlichkeit wird nicht die mindeste Sorge verwendet. Der
Handelsstand, der Beamtenstand, der Gelehrtenstand sind mächtig und
emancipirt — der gemeine Mann ist ein Paria.
Die Wahrheit dieses Urtheils braucht man nicht erst auf dem
Lande, in den Provinzen zu suchen, man hat sie schon in der Haupt¬
stadt unter den Augen der Centralregierung vor sich. Berlin ist eine
prächtige Stadt mit wunderbaren Bauten, kostbaren Kunstsamm
gen, wohleingerichteten Gasthöfen, Conditoreien, Theatern, Musikge¬
sellschaften, Akademien, Kunst- und Gelehrtenvereinen. Die Regierung
zahlt große Summen für antike Dramen, gestiefelte Kater, Sommer-
nachtsträume, Ballettänzerinnen und Königsstädter Commissionsräthe.
Die Frau wirkliche geheime Räthin fährt mit ihren Fräulein Töch¬
tern auf die Kunstausstellung und ist wirklich sehr zufrieden. Sr.
Hochwohlgeboren der Herr Professor und der Herr Justizpräsident
finden die Antigone unübertrefflich, der Herr Major und der Herr
Hofmaler sind entzückt über die erzene Reitergruppe. Den jungen
(^esandtschastssecretären hat das Pas de Deur der Demoiselles L.
und Y. die genußreichsten Stunden verschafft; der Herr Braumeister
und der Herr Parfümeriefabrikant finden das Spiel Beckmann's un¬
vergleichlich; der Herr Assessor und der Herr Lieutenant streiten zwei
Monate, ob Döring oder Seidelmann den Marinelli schlechter ge¬
spielt. — So ist für das Vergnügen eines Jeden! gesorgt. Der
Staat hilft nach, wo die Fonds dieser Kunst- und Vergnügungsan---
statten nicht ausreichen, und der steuerbare Bürger hilft dem Staate,
diese Zahlungen machen zu können. Aber unter diesen steuerbaren
Bürgern gibt es zwei Drittel, denen die kühnste Amazonengruppe, die
bestinstrumentirte Symphonie, die kleinsten Balletfüße, das wichtigste
antike Costüme nicht das mindeste Vergnügen machen. Haben diese
guten Leute nicht ein Recht, zu sagen: Meine Herren Gebildete,
Wohlhabende, Hochgestellte, wir zahlen sür Euere Vergnügungen,
warum zahlt Ihr nicht für die unserigen? Wir müssen dieses sandige
Berlin so gut und noch mehr bevölkern und erhalten helfen wie Ihr,
warum habt Ihr nur für Euch gesorgt und nicht für uns,?
Es gibt wenige Städte in Deutschland, ja überhaupt auf dem
Continente, wo der Gegensatz zwischen Reich und Arm auf eine so
unverschämte Weise zur Schau liegt, wie in Berlin; wo die Genüsse
der höheren Stände mit frecherer Offenheit aus dem Seckel der nied¬
rigeren bezahlt werden, als hier. Je höher die Kunst hier im Ge¬
gensatze zu der dürftigen Natur ausgebildet wird, um so schreiender
ist die Grausamkeit, die gegen den Armen, gegen den Ungebildeten
geübt wird. Wenn anderswo der raffinirte Genuß in Theatern, Con¬
certen, Museen schwelgt, so kann er sich gegenüber der Mittellosigkeit
wenigstens dadurch entschuldigen, daß er auf die öffentliche» Gärten
und Spaziergänge hinweist, die Zerstreuung und Erholung auch dein
Armen bieten. In Berlin.jedoch zieht der bemittelte und gebildete
Stand auf offener Straße einen Kreis um sich, in welchem er ge¬
nießt und von dem doch der Proletarier ausgeschlossen ist, weil ihm
die Genußfähigkeit fehlt.
Sogar auf das einzige Stück grüner Erde, über das Berlin
gebietet, auf den Thiergarten, hat der wohlhabende Stand seine
Privilegien ausgedehnt. Der monotone hügellose Busch, der diesen
Namen führt, besitzt weder jene dichten Baumgruppen, noch jene freien
Rasenplätze, welche den eigentlichen Reiz solcher Orte bilden und zum
stillen, unbemerkten Genusse einladen. Seine mageren, dünnbäumigen
Partien sind allenthalben von Alleen und Fahrwegen durchzogen, es
ist eine lange, offene Promenade, wo der Unbemittelte seine schlechtere
Kleidung, seine plebejische Haltung den Blicken der geputzten, parfü-
mitten und hochnasigen Bildungswelt zur Musterung aussetzt. Dies
ist kein Ort, wo der gemeine Mann sich behaglich fühlt. Die Ge¬
nußplätze, wo man Erfrischungen erhält, sind so eingerichtet, daß nur
der Bemittelte sich dort erholen kann. Das Volk, das heißt der grö¬
ßere Theil der Population, ist also selbst von dieser kleinen Oase
ausgeschlossen, welche die Natur wie ein Almosen in diese Sandwüste
geworfen hat.
Dafür zählt Berlin nach den neuesten officiellen Berichten ein
Tausend sechshundert ein und fünfzig Läden, in welchen
schnapöartige Getränke verkauft werden!!!
Ich will hier nicht auf Paris hinweisen, und wie dort für
zweckmäßige Erholungen und Vergnügungen der unteren Volksklas¬
sen, auf den Boulevards, an den Barrieren und in den Champs-ely-
ftes gesorgt ist. Paris ist eine Auönahmsftadt. Ueberdies — kann
man einwenden — ist das Pariser Volk gefährlich und reißt das
Pflaster auf, wenn man ihm nicht schön thut; das Berliner Volk
aber Polizeilich fromm, so durch und durch von den christlich-germa¬
nischen Ideen der Gensdarmerie durchdrungen, wozu sollen wir uns
die Mühe geben, für seine Vergnügungen zu sorgen? — Aber an
Wien könnte man sich doch ein Beispiel nehmen!
Mail hat in Preußen oft genug über die abgedroschene Redens¬
art von dem „väterlichen Gouvernement" Oesterreichs gespöttelt. Ver¬
gleicht man jedoch Alles dasjenige, was in Wien zur Lebenöerheite-
rung des unteren Volkes geschieht, mit dem, was in Berlin -licht
geschieht, so muß man gestehen, daß der Proletarier in Wien weit mehr
Ursache hat, an die Väterlichkeit seiner Negierung zu glauben, als
sein unglücklicher Stiefbruder in Berlin. Wien hat eine stolzere und
eingefleischtere Aristokratie als Berlin; aber der Tisch des öffentlichen
Genusses ist nicht für sie allein gedeckt. Während die geputzten Ca-
valcaden und Equipagen im Prater hiu galopiren, ist der gemeine
Mann nicht verurtheilt, demüthig wie im Thiergarten zuzusehen, son¬
dern er hat seinen Prater groß und breit gleichfalls bei der Hand,
wo Polichinelltheater, improvisirte Comödien, lustige Sängerbanden
und fröhliche Musikanten ihn nach seiner Art ergötzen, wo er Herr
ist im weiten freien Raum, über Busch und Nasen. Wien hat zwei
Volkstheater, wo Raimund's und Nestroy's geistreiche Spiele jenen
Ständen Erholung bieten, die kein Verständniß für die raffinirten
Genüsse der großen Oper und des Burgtheaters haben. Die ge¬
achtete Polizei legt ihre Schreckenslarve ab, wo es öffentliche Fröh¬
lichkeit gilt, kein unzeitiger Pietismus und mißverstandene Sicherheits-
ideen verscheuchen die Geigenspieler, Bänkelsänger und improvisirenden
Gaukler, die an allen Ecken ihr heiteres Gewerbe treiben. Ueberall
ist für wohlfeile Speise und Trank gesorgt und Vieles beseitigt, was
den Armen mit Neid und Galle gegen den Reichen erfüllen könnte.
Allerdings liegt hier nicht blos Menschlichkeit, sondern auch Politik
zu Grunde. Man sucht die Menge zu zerstreuen und äußerlich zu
beschäftigen, man sucht ihr den Glauben an die glücklichen Zustände
dnrch die Sinne einzuflößen. Aber diese Politik ist wenigstens eine
menschliche. Auf die höheren Schichten der Gesellschaft mag sie ent¬
nervend wirken, indem sie den Geist von den ernsten Fragen des
Tages abwendet, nach unten zu aber ist sie wohlthätig und sittlich.
Im Ganzen ist das Wort „sinnliche Erschlaffung", das man sogleich
bei der Hand hat, wenn man von Wien spricht, eine banale Redensart,
mit der ein großer Mißbrauch getrieben wird. Sucht die Erschlaffung
in dein mangelhaften Schulunterricht, in der Beschränkung der Uni¬
versitäten, in dem gefesselten Geist der Oeffentlichkeit, in der Entar¬
tung des bürgerlichen Selbstbewußtseins — aber sucht sie nicht in der
heiteren Lebenslust, klagt nicht gerade die einzige Freiheit an, um
welche Wien zu beneiden ist. Fröhlicher Weltgenuß und frische Sinn¬
lichkeit schließen das politische Bewußtsein nicht aus, wenn nicht an¬
dere Ursachen es untergraben. Paris bietet Hundertsach mehr Zerstreu.
ung und üppige Sinnenlust als die Hauptstadt Oesterreichs. Ist die
Liebe zur Freiheit, der Eifer für sociale Entwickelung, der Ernst der
Wissenschaft darum erschlafft? Am Rheine, wo der fröhlichste, leicht¬
blütigste Volksstamm Deutschlands unter Rebenlauben und Narren-
spielen das Leben in vollen Zügen genießt, am Rheiiie ist die poli¬
tische Regsamkeit am weitesten vorgeschritten in ganz Deutschland.
Die Furcht vor sinnlicher Erschlaffung brauchte Berlin also nicht zu
schrecken, dem Beispiele Wiens zu folgen. Der Schnapsladen und
seine düsteren Freuden sind ein schlimmerer Feind, als alle sinnliche»
Verführungen, denen das Volk in Paris und Wien ausgesetzt ist.
Diesem Feinde gilt es entgegen zu arbeiten. Nachmittagspredigten
und Mäßigkeitsvereine werden nur hier und da einige arme Seelen
fischen. Die Masse wird nur das Eine aufgeben, wenn man ihr
das Andere bietet. Bietet ihr dies Andere. Statt Millionen auf
den Bau eines neuen Prachtdoms zu verwenden, laßt Rosen und
Bäume herbeischleppen, Gärten und Erholungsplätze dem Volke zu
verschaffen, das in Euere Kroll'schen Glanzsäle nicht eintreten kann.
Mit dem theuren Sold müßiger Generalmusikdirectoren könntet Ihr
ein Volkstheater bauen und unterstützen, in welchem der Gemeine
für mäßige Auslagen seinen Feierabend in sittlicher Unterhaltung ge¬
nießen könnte 5). Einige Prachtbauten weniger, einige Volköhallen
mehr. Besteuert den Champagner und entlastet das Bier. Sorgt
etwas weniger für die Schönheit und etwas mehr für die Fröhlich¬
keit der Stadt. Jene genießt nur der Gebildete, diese kommt Allen
zu Gute. Seid erfinderisch in tausend Mitteln. Der Schriftsteller
kann sie nur andeuten: die Männer der Verwaltung müssen sie auf¬
suchen. Jenen treibt der Drang des Herzens: diese ruft die Pflicht!
Gustav von Brinkmann, dem ich von Paris her empfohlen
war sorgte seit den wenigen Tagen, daß ich in Berlin lebte, bestens
für meine Unterhaltung, und für den nächsten Abend, wo die Schil-
ler'sche Maria Stuart angekündigt war, hatte er mich in das Thea¬
ter uühren versprochen.
zAls wir uns dort einfanden, hörten wir, das Stück sei verän¬
dert Madame Unzelmann spiele nicht, und auf diese nur, für welche
Brinkmann in starken Flammen stand, hatten wir es abgesehen. Ich
verehlte meinen Verdruß nicht und wollte nun garnicht in'ö Theater.
hBrinkmann sah meinen Mißmuth, und einer guten Eingebung
folgend, rief er plötzlich aus: Wissen Sie was? Statt des Theaters
sollen Sie heute die beste Gesellschaft kennen lernen, die beste in
Berlin, und da können Sie nur getrost Ihren Maßstab von Paris
und Wien anleen, wir scheuen ihn nicht!
g
— Mir ganz recht! erwiederte ich, ich kann mir gern gefallen las¬
sen, daß nach so vielem Guten, was hinter mir liegt, das Beste doch
eben jetzt noch vor mir sei. Wo wollen Sie mich hinführen?
— Zu Mademoiselle Levin, Rahel Levin.
— Ist es dieselbe, der ich Grüße von Frau von Bande»! aus-
zurichten habe?
— Dieselbe. Ich habe ihr schon gesagt, daß ich Sie bringen
werde. Es kann heute so gut geschehen, wie ein andermal.
Frau von Nandeul hatte mir von ihrer Freundin nur im All¬
gemeinen gesprochen. Auch konnte eine Französin von einer Deutschen
nicht wohl das Eigenthümlichste auffassen und sagen, selbst wenn die
Französin, wie Frau von Vandeul, eine Tochter Diderot's war. Ich
fragte daher, wer und wie diese Person eigentlich sei?
— Sie ist, erwiederte Brinkmann, ein selbständiges Mädchen
von außerordentlichem Geist, klug wie die Sonne und dabei herzens¬
gut, durchaus eigenthümlich; Alles versteht, Alles empfindet sie, und
was sie sagt, ist in amüsanter Parodone oft so treffend wahr und
tief, daß man es sich noch nach Jahren wiederholt und darüber nach¬
denken und erstaunen muß. Die geistreichste und vornehmste Gesell¬
schaft versammelt sich bei ihr, aber ganz ohne Prunk und Ostentation,
ja ich möchte sagen, ohne Unterschied und Auswahl, ganz nach dem
natürlichen Zuge der äußeren Anlässe und der inneren Convenienz.
Sie ist wohlhabend, lebt sehr unabhängig bei ihrer Mutter, die für
reich gilt; sie macht keinen Aufwand, die Bewirthung ist es nicht,
um deren willen man hingeht, alles Aeußere ist höchst einfach, aber
um so behaglicher und in dieser Art doch wieder reichlich und aus¬
erlesen.
Wir hatten in die Jägerstraße eingelenkt, und nach wenigen
Schritten standen wir vor dem Hause. Wir wurden gemeldet und
angenommen, durch einen Saal in ein anstoßendes Eckzimmer ge¬
führt, und Brinkmann stellte mich der Dame des Hauses und bald
auch einigen anderen Personen vor, die wir bei ihr fanden.
Demoiselle Levin war weder groß noch schön, aber fein und
zart gebildet, von angenehmem Ausdruck; ein Zug von überstandenen
Leiden — sie war in der That noch nicht lange von einer Krank¬
heit genesen — gab diesem Ausdruck etwas Tiefrührendes z doch
ließ ihr reiner und frischer Teint, zusammenstimmend mit ihren dunk¬
len und lebhaften Augen, die gesunde Kraft nicht verkennen, welche
in dem ganzen Wesen vorherrschte. Aus diesen Augen fiel ein Blick
auf mich; ein Blick, der bis in mein Innerstes drang, und dem ich
kein schlechtes Gewissen hätte bieten mögen. Aber ich schien ihr da-<
bei kaum ein Gegenstand näheren Interesses; e6 war dieser Blick
nur wie eine vorüberstreifende Frage, die gar uicht ausführliche, son¬
dern nur ungefähre Antwort wollte, und mit der rasch ergriffenen
ganz befriedigt schien.
Ich brachte meine Begrüßungen an, und bei dem Namen Van-
deul erheiterte sich das ganze Gesicht. Ich mußte in der Eile her¬
sagen, waS ich Alles wußte. Demoiselle Levin schien außerordentlich
von der guten Frau eingenommen und sagte mit wenigen Worten
so viel Gutes und Bezeichnendes von ihr, daß ich selber anfing, sie
uuter ganz neuem Gesichtspunkte zu sehen, und sonderbar genug, sie
erst jetzt recht kennen lernte, da ich hundert fünfzig Meilen von ihr
entfernt war. Ich beklagte much gegen Demoiselle Levin, daß ich sie
selber, da sie ja auch vor nicht langer Zeit in Paris gewesen, nicht
schon dort gesehen habe, welches doch leicht wäre möglich gewesen, sowohl
bei Frau von Vandeul, als auch bei Frau von Humboldt, wo ich
ebenfalls zuweilen hingekommen. Sie meinte, wir wollten das jez-
zige verspätete Begegnen um so besser pflegen, und ihre Worte waren
so gütig, daß ich mich gleich aller Verlegenheit enthoben fühlte und
ihr lebhaft ausdrückte, wie ich kühn genug wäre, zwischen ihr und
mir viel Uebereinstimmendes vorauszusetzen.
Sie sprach darauf Einiges mit Brinkmann, wobei ich nicht zu¬
hörte, sondern mir unterdessen die anderen Personen näher ana.
Neben der Wirthin auf dem Sopha saß eine Dame von gro¬
ßer Schönheit, eine Gräfin Einsiedel, wie ich nachher hörte. Sie
schwieg und schien wenig Antheil an dem zu nehmen, was ihr ein
Herr vorsagte, den man Abbe nannte, und dessen Gesicht und Stimme
mir gleich den anmaßlichen Pedanten zu erkennen gaben. Rückwärts
abgewendet, sprach Friedrich Schlegel mit dem Bruder von Rahel,
dessen Dichtername Ludwig Robert späterhin auch sein bürgerlicher
wurde. Beide Herren waren mir schon bekannt; Schlegel hatte ich
mit seinem Freund und Lobredner Schleiermacher am Tage zuvor bei
Madame Veit gesehen; daß er seinen Roman Lucinde auch „Be-
l«>mutuel?e eil>>?s 1?n^,i>t>s,>^a>^" l>»»,^»>»>4 ^. ' . - -
schaft bei Madame Fleck gemacht, "einer schönen !ut wrgemew''rei-
zenden Frau, die den Dichter nicht wenig beaubertuabenien
er war sehr erfreut über einige neue Chansons und kleine Theater¬
stücke, die ich von Paris mitgebracht hatte, und er hoffte einige der
letzteren sür die deutsche Bühne zu bearbeiten.
Schlegel und Robert machten sich lustig über den Abb«-, wie
ihre Mienen deutlich zeigten, und suchten durch verständigende Winke
auch mich in den Scherz hineinzuziehen. Eben hatte aber die Wir¬
thin ihre Augen dorthin gewandt und drückte mit ernstem Blicke ihre
Mißbilligung aus, als die Thüre aufging und eine rasche allerliebste
Dame hereinstürmte, die mit heiterem Lachen auf Demoiselle Levin
zudrang und neben ihr auf einen Lehnstuhl sich mehr hinfallen ließ
als setzte. Alle begrüßten sie mit Jubel.
— Aber was ist das? hob Demoiselle Levin an, ist denn nicht
heute Maria Stuart? und ich denke, Sie sind ....
— Ja, denken Sie nur! versetzte die reizende, muntere Frau,
Mortimer ist krank, und da schiebt Jffland geschwind ein anderes
Stück vor, worin ich Nichts zu thun habe; ich mache mir das zu
Nutze und komme zu Ihnen, und wenn Sie mich wollen, bleibe ich
den ganzen Abend.
— Prächtig! rief Demoiselle Levin, und wie treffen Sie es!
Gleich zwei Ihrer Anbeter finden Sie hier, Schlegel und meinen
Bruder . . .
Es ist die Unzelmann! hatte mir Brinkmann zugeflüstert. Sie
war vor nicht langer Zeit von Weimar zurückgekehrt, wo sie großes
Glück gemacht und Goethe oft gesprochen hatte, von dem sie so be¬
zaubert war, daß sie dessen Iphigenia nun trotz Jffland's heimlicher
Abneigung mit Gewalt als ihre Beneficevorstellung auf's Theater
bringen wollte. Brinkmann war zu ungeduldig, mir weitere Erklä¬
rungen zu geben, und nahm einen vollen Anlauf, sich als den wah¬
ren Anbeter der Dame zu bezeigen, als Schlegel unerwartet ihm
vortrat und sich gegen sie entschuldigte, etwas feierlich und verlegen,
aber dennoch kühn, es sei eigentlich sein Bruder August Wilhelm,
der ein Anbeter von ihr heißen könne, und der sie als das Fcenkind
besungen habe. Mir wurde ganz warm, eine solche deutsche Tölpelei
war mir noch nicht vorgekommen. Aber die muntere Frau erwiederte
lachend: Ich weiß es recht gut und unterscheide die ungleichen Brü¬
der sehr wohl! Doch wenn ich von Ihnen, lieber Schlegel, nicht
mehr fordere, als von Ihrem Bruder, so können Sie in Gottes
Namen einen kurzen Abend ohne Gefahr seine Rolle übernehmen!
Aber, liebe Kleine, fuhr sie fort, wo haben Sie denn heute Ihre
Klugheit, daß Sie mich auf solche Leute verweisen? Denn sehen Sie
nur, auch Ihr Bruder will sich schon entschuldigen! Nicht nöthig,
nicht nöthig, lieber Robert, ich weiß, daß Sie für eine Louise bren¬
nen, — da wird Ihnen schon werden, was Sie verdienen; nehmen
Sie sich nur in Acht, daß, wenn das Feuer aus Mangel an Nah¬
rung plötzlich erlischt, Sie nicht rathlos im Dunkeln stehen!
Brinkmann glaubte nun Raum für sich gewonnen zu haben und
suchte ihn eifrigst auszufüllen. Er richtete seine Worte bald an De-
moiselle Levin/bald an Madame Unzelmann, bald an beide zugleich.
Er sprach mit seltener Fertigkeit, flocht Ernst und Scherz durcheinan¬
der, witzelte mit guter Lärme; nur dünkte mir Alles, was er sagte,
etwas zu redselig, er schien es selbst zu fühlen und wurde nur im¬
mer redseliger. Demoiselle Levin schien resignirt, ihn anzuhören, ich
hörte ebenfalls zu, während Madame Unzelmann mit Schlegel nebenan
ein halblautes Gespräch führte.
Ludwig Robert näherte sich und machte seiner Schwester leise
Vorwürfe, daß der Abbe, der unleidliche Mensch, wieder da sei. Du
bist einzig! sagte sie mit rascher Aufwallung, als wenn er meine
Liebhaberei wäre! Will ich nicht verzweifeln, wenn er eintritt? Weine
ich nicht, wenn er ewig dableibt? Hast Du vergessen, wie ich zittere,
wenn man ihn nur nennt? Aber was soll ich machen? Wegweiser
kann ich ihn nicht und auch soll ihn bei mir Niemand mißhandeln
und verspotten, so wenig wie den Baron, der auch meiner ganzen
Bekanntschaft verhaßt, mir selbst ein Gräuel ist lind doch ewig
kommt.
Warum rufst Du ihn aber auch? sagte Robert lachend, indem
er nach der Thüre zeigte; und es trat wirklich in dem Augenblicke
ein Herr herein, dessen Ordensstern auf einen höheren Rang deutete;
ihm folgten unmittelbar zwei Offiziere, die ich als Herrn von Schack
und Herrn von Gualtieri begrüßen hörte. Der besternte Baron fetzte
die Wirthin offenbar in üble Laune, sie blickte die Gräfin neben ihr
mit tragischen Blicken an; was sagen Sie zu dem Unglück? lag
deutlich darin. Doch faßte sie sich gleich und sprach mit dem Un¬
willkommenen ohne Widrigkeit, noch Gleißnerei, ganz einfach und
ut.
, Die Gesellschaft aber war in Bewegung gerathen, Brinkmann
von seinem Platze verdrängt, und von demselben aus machte nun
der Major von Gualtieri die Unterhaltung der Damen. In dieser
seiner Verstoßung gesellte sich Brinkmann wieder zu mir, zog mich
zum Fenster und wollte mir über die zuletzt Gekommenen nähere
Auskunft geben.
— Vor Gualtieri, sagte er, nehmen Sie sich in Acht, er ist
streitsüchtig und rechthaberisch, und in seinen Launen gar nicht zu berech¬
nen. Die kleine Levin macht ein großes Wesen von seinem originelle»
Geiste, von seinem eigenthümlichen Verstände, ich aber muß bekennen,
daß ich sie darin nicht begreife; mir gelingt es nicht, mehr in ihm
zu sehen, als einen ungeschulten Sophisten, der sich mit den Leuten
Alles erlaubt, was ihm einfällt. Ein ganz anderer Mann ist der
Major von Schack, man weiß, wie man mit ihm dran ist und kann
sich auf ihn verlassen. Sehen Sie auch nur die prächtige Gestalt,
dieses ruhige und entschlossene und dabei moquante Aussehen! Er
ist ein tapferer Offizier und vollkommener Edelmann, alle Tugenden
und Untugenden dieser doppelten Bezeichnung sind in ihm vereint.
Gelernt hat er Nichts, er spricht nickt einmal richtig deutsch, doch
wer spricht das in Berlin? Aber dafür hat er die reichste Dosis
Mutterwitz.
Hier unterbrach uns Schlegel, indem er sich beklagte, die Unzel-
mann habe von Kunst doch keinen Begriff. Ich bin, sagte er, mit
meinen Bemerkungen über ihre bedeutendsten Rollen ganz bei ihr
durchgefallen, sie hat mich gar nicht verstanden, hat mir die dümm¬
sten Antworten gegeben, sie ist von keiner ihrer Rollen auch nur die
kleinste Rechenschaft abzulegen fähig. Dies Letzte hatte Schack im
zufälligen Annahen noch eben aufgeschnappt und antwortete sogleich:
Ihr Herren Kritiker wollt auch zuviel! Die Unzelmann weiß Alles auf
ihre Art, sie spielt's und bringt's auch leibhaftig vor Augen, und
Ihr selbst bewundert sie darin; warum soll sie dasselbe nun auch auf
Euere Art geben? Von der himmlischen Frau zu fordern, daß sie
— pfui! — raisonniren soll, wie Ihr, ist gerade so, wie von Euch
zu verlangen, daß Ihr spielen sollt, wie sie, — el, das wäre aber
nicht pfui, sondern schön!
— Brav, brav, lieber Schack! rief eine Stimme hinter ihm; es
war Demoiselle Levin, die aufgestanden und von unserem lebhaft
heimlichen Reden herangezogen worden war. Schack, wie ein Er¬
tappter, war einen Augenblick verlegen, aber nur einen Augenblick,
und fragte dann munter: Hab' ich'S gut vorgetragen, kluge Kleine?
Nun, ich hatte nicht weit dran zu schleppen, denn, meine Herren,
was ich eben gesagt, hatte ich den Augenblick vorher von dieser klu¬
gen Kleinen gehört, und da wollte ich gleich sehen, wie brauchbar
es wäre, und ob Sie was dagegen sagen könnten! Unter launigen
Scherzworten ging das Gespräch mit Schack weiter, wandte sich aber
von Schlegel und mir ab und wir blieben beide am Fenster allein.
Mir gefiel die Fassung des Mannes in der kleinen Beschämung,
und ich theilte meine Bemerkungen darüber Schlegeln mit. O, er
hat noch ganz andere Fassung, rief dieser, und davon werden große
Dinge erzählt. Was sagen Sie zum Beispiel von diesem Stück?
Man gewinnt von einem Kameraden im Spiel eine große Summe;
er bezahlt, ist aber ruinirt und schießt sich todt. Das Geld hat man
am Morgen empfangen, die Nachricht vom Erschießen kommt am
Abend, wie man wieder beim hohen Spiel sitzt und wieder große
Summen gewinnt; man hört die Schreckensbotschaft, spricht ein be¬
dauerndes „So? hat er sich erschossen?" aus, aber ohne eine Miene
weiter zu verziehen, und bemerkt gleichgiltig, wie viel Stiche man
voraus habe, mit Eifer den neuen Gewinn verfolgend, unbekümmert,
ob auch vielleicht diesem ein schreckliches Ereigniß ankleben werde.
So war Schack, als Riedesel sich erschossen hatte. Sie mögen die
ganze Geschichte abscheulich finden, ich will sie auch nicht vertheidigen,
aber das müssen Sie gestehen, diese Fassung setzt eine Seelenstärke
voraus, die in anderer Richtung die größten Heldenthaten gebären
kann. Nun hören Sie aber gleich eine hübschere Geschichte. Eine
Hofdame der Prinzessin Heinrich konnte eine Veränderung, die mit
ihr vorgegangen war, nicht verbergen; zuletzt hatte Schack, und offen¬
bar genug, ihre Gunst gehabt. Die Prinzessin ließ also den Schul¬
digen rufen und hielt ihm sein Vergehen vor, wobei die Worte Ver¬
führung, Unschuld und dergleichen nicht gespart wurden. Nachdem
sie ihn genug gescholten und er immer schwieg, glaubte sie ihn er¬
schüttert und fragte mit gebieterischer Art, was er denn jetzt thun
werde? Schack, den die Beredsamkeit der Prinzessin wenig gekümmert
hatte, fühlte das Gewicht dieser Schlußftagc und erwiederte kurz,
doch ehrerbietigst, er wolle fürerst noch warten, um zu sehen, was
denn die Anderen thun würden. Die Prinzessin wurde roth bis
in die Augen vor Zorn, brach die Unterredung ab und ließ den
Schalk seiner Wege gehen. Ich mußte die kaustische Energie dieser
Geistesgegenwart anerkennen, jedoch abermals bedauern, daß so schöne
Gaben sich im üblen Stoffe verschwendeten.
Unterdessen hatte sich die Gesellschaft durch einige Frauenzimmer
vermehrt, mit denen auch Brinkmann sich gleich zu thun machte. Sie
gehörten zum Hause; die eine nahm sich des Theemachens an, der
anderen wurde ich vorgestellt, sie war die Schwägerin der Demoiselle
Levin, mit der sie übrigens keine Geistesverwandtschaft zeigte. Um
so mehr fiel mir die liebevolle und sorgsame Art auf, mit der diese
sie behandelte, in das Gespräch zog und ihre unbedeutenden Aeuße¬
rungen geltend machte. Brinkmann, der wieder zu mir getreten war,
sagte mir, das sei kein Wunder, seine vortreffliche Freundin habe so
viel Geist, daß sie dessen von Niemanden verlange und mit anderen
guten Eigenschaften zufrieden sei. Zudem aber hege sie die stärkste
und zärtlichste Zuneigung für ihre ganze Familie, darin sei sie die
echte Orientalin, für die Mutter, die in der That eine äußerst gute
und würdige Frau sei, für die Geschwister; besonders aber liebe sie
leidenschaftlich zwei kleine Nichten, Töchter dieser Schwägerin.
Er schilderte mir in wenigen Worten die Brüder; der jüngste
war in der weiten Welt, von den beiden anwesenden war mir der
ältere als Kaufmann angegeben worden, er benahm sich zurückhaltend
und abgemessen, gefiel mir aber nicht; der jüngere hingegen, Ludwig
Robert, zeigte ein bequemes Dasein, eine lässige Gleichgiltigkeit, die
gesellschaftlich einen angenehmen Eindruck machte; seine Physiogno¬
mie war bedeutend, der scharfe Denker und Beobachter blickte selbst
aus der Lässigkeit hervor. Beide Brüder machten zu der herzlichen
Wärme und edlen Freiheit der Schwester ein um so stärkeres Gegen¬
bild, als ihr besonders für diese Brüder eine stets thätige und bei¬
nahe zärtliche Sorge immer anzumerken war.
Das Gespräch wurde sehr lebhaft und wogte, zwischen den Per¬
sonen wechselnd, über die mannigfachsten Gegenstände hin. Ich wäre
nicht fähig, die raschen Wendungen und den verschiedenartigen In¬
halt hier wiederzugeben und wage den Versuch nicht. Man sprach
vom Theater, von Fleck, dessen Krankheit und wahrscheinlich nahen
Tod man allgemein beklagte, von Righini, dessen Opern damals den
größten Beifall hatten, von Gesellschaftssachen, von den Vorlesungen
August Wilhelm Schlegel'S, denen auch Damen beiwohnten. Die
kühnsten Ideen, die schärfsten Gedanken, der sinnreichste Witz, die
launigsten Spiele der Einbildungskraft wurden hier an dem einfa¬
chen Faden zufälliger und gewöhnlicher Anlässe aufgereiht. Denn
die äußere Gestalt der Unterhaltung war, wie in jeder anderen Ge¬
sellschaft, ohne Zwang und Absicht, Alles knüpfte sich natürlich an
das Interesse des Augenblicks, der Person, des Namens, deren ge¬
rade gedacht wurde. Vieles, was in Anspielungen bestand und ir¬
gend eine Kenntniß voraussetzte, entging mir ganz, Anderes wenig¬
stens theilweise. Doch wenn Friedrich Schlegel seine Meinung sagte,
zwar mühsam und unbeholfen, aber auch tief und gediegen, in der
eigenthümlichsten Werkstätte geschmiedet, so fühlte man gleich, daß
hier kein leichtes Metall ausgegeben werde, fondern ein schweres und
kostbares^- wenn Schack, leicht erzählend, manche Personen, die durch
Rang und Weltstellung bedeutend waren, in pikanter Weise schilderte
wenn er kleine Bemerkungen geschickt einschob, so waren die Vertraut¬
heit und Uebersicht unverkennbar, mit denen er eine unendliche Er¬
fahrung großweltlichen Lebens spielend behandelte. Die Heiterkeit
und Laune der Madame Unzelmann wirkten unaufhörlich belebend
ein. Ludwig Robert und Brinkmann erwiesen sich als echte Gesell¬
schaftskinder. Alle waren auf natürliche Weise thätig, und doch Kei¬
ner aufvringlich, man schien eben so gern zu hören, als zu sprechen
Am merkwürdigsten war Demoiselle Levin selbst. Mit welcher Frei¬
heit und Grazie wußte sie um sich her anzuregen, zu erhellen zu
erwärmen. Man vermochte ihrer Munterkeit nicht zu widerstehen.
Und was sagte sie Alles? Ich fühlte mich wie im Wirbel herumge¬
dreht, und konnte nicht mehr unterscheiden, was in ihren wunderba¬
ren, unerwarteten Aeußerungen Witz, Tiefsinn, Gutdenken, Genie oder
Sonderbarkeit und Grille war. Kolossale Sprüche hörte'ich von ihr,
wahre Inspirationen, oft in wenig Worten, die wie Blitze durch die
Lust fuhren und das innerste Herz trafen. Ueber Goethe sprach sie
Worte der Bewunderung, die Alles übertrafen, was ich je gehört
hatte.Ludwig Robert wurde aufgefordert, seine neuesten Gedichte mit¬
zutheilen. Er ließ sich nicht lange bitten und las ein Paar Elegien
mit vielem Ausdruck vor. Sie ahmten den Ton der Goethe'sehen
sehr glücklich nach, hatten aber ihren eigenen Inhalt. Nur Friedrich
Schlegel verzog die Miene und stimmte nicht in den Beifall ein.
Auch Demoiselle Levin selbst, trotz des augenscheinlichen Eifers, den
Bruder zu begünstigen, litt etwas bei dieser Vorlesung und verbarg
zuletzt ihre Ungeduld nicht. Ich erlaubte mir, sie über die Nichtig¬
keit meiner Wahrnehmung heimlich zu befragen. Sie sah mir ehr¬
lich und gerade in's Gesicht und sagte lebhaft: Sie haben recht ge¬
sehen; es ist mein Tod, mir vorlesen zu lassen; ich habe es nie
geliebt, aber oft kann ich's besser aushalten.
Durch Vermehrung des Besuchs — zwei Spanier, Graf Casa-
Valencia und Chevalier d'Urquijo, beide Diplomaten, waren gekom¬
men, — ließ der Vorleser sich nicht irren. Aber nach Beendigung
eines Gedichts, welches vielleicht nicht allgemein verständlich gewesen,
verlangte Madame Unzelmann, der Dichter solle doch Komisches und
Witziges mittheilen, dessen er ja den größten Vorrath habe. Der
lieblichen Frau war nicht zu widerstehen, ihrem anmuthigen Gesuche
aber trat Gualtieri mit der ungestümsten Forderung bei. Ich weiß
es ja, liebster Robert, rief er aus, Sie haben auf uns Alle wunder¬
schöne Spitzverse gemacht, auch auf mich ganz allerliebste, thun Sie
mir den Gefallen und lesen Sie die vor, ich will sie hören, ich kann
Alles hören, nur ohne Scheu heraus damit!
Robert las im Stillen für sich einige Blatter, lachte und ent¬
schuldigte sich, es ginge doch nicht. Nur um so? heftiger drang man
in ihn; Alle betheuerten, sie wollten Nichts übel nehmen. Schon
wollte er lesen, da verbat es seine Schwester; sie wolle dergleichen
nicht leiden, sagte sie, es sei ein schlechter Spaß und es verletze ins¬
geheim doch Jeden, sich in seiner Eigenheit verspottet zu sehen, Nie¬
mand dürfe das fordern, Niemand es gewähren. Aber Nichts half.
Die erregte Tadellust wollte ihre Beute. So wurde denn Einiges
gelesen, was großen Beifall erwarb; Schack, die Unzelmann, Schleier¬
macher, Wilhelm von Humboldt kamen ganz leidlich weg, einige an¬
dere Personen weit schlechter. Das Hauptverdienst dieser Verse war,
außer der treffenden Charakteristik, die artige Künstelei, daß die An¬
fangsbuchstaben der Zeilen jedesmal den Namen bildeten. Gualtieri
bestand darauf, sein Akrostichon zu hören. — Nur Geduld, versetzte
Robert, Sie sollen befriedigt werden und sogar doppelt, denn Ihren
Namen habe ich zweimal akrostichirt. Hören Sie denn:
„Glatt, doch unwahr nie, und saß' er an fürstlicher Tafel;
Unrecht scheuend, behauptet er oftmals dennoch das größte,
Arglos, kühn und geschickt, bethört im eigenen Scharfsinn;
Listig weicht er sich aus, ooch stark auch faßt er sich wieder.
Trau' ihm in seinem Gemach, hier darfst Du, darf er sich trauen,
In der Gesellschaft ist Krieg, und dann er Soldat und Gesandter.
Einigen wird er sich nur mit dem, der immer ihm beistimme;
Rebent herrschet er dann; doch läßt er auch kindlich sich leiten,—
Ja so lebt er, ein Räthsel, gehaßt und geliebt und gefürchtet!"
Die Bezeichnungen müssen treffend gewesen sein, denn die ein¬
zelnen Zeilen und Worte empfingen den größten Beifall; nur Gual-
tieri stand unbewegt, als wenn er gar nicht wüßte, von wem die
Rede sei. Als die Anderen aber ihn anriefen und scherzend um sein
Urtheil baten, fuhr er aus dem stummen Nachdenken auf. Das ver¬
stehe ich nicht! rief er. Lesen Sie doch das zweite, vielleicht ist das
deutlicher! — Schärfer gewiß, erwiederte Robert und las:
„Glaube, Dir glaubt er Nichts, doch glaubt er Alles sich selber;
Undankbar stets denkt er, er danke nur Alles sich selber.
Alles scheint er zu lieben und liebt nur den Schein und sich selber.
Laut im Streit und nicht lauter, so schreit er und hört nur sich
selber.
Tiefes Gefühl bleibt tief ihm verborgen, er fühlt nur sich selber.
In Verlegenheit bringst Du ihn nie, doch oft er sich selber.
Ehre ist ihm das Erste, drum ehrt er auch ehrlich sich selber,
Reizbar ist er und reizend und reizt auch öfters sich selber,
Jahrlang könnt ihr ihn tadeln, es hilft Nichts, er tadelt sich selber."
Der gesellschaftliche Applaus wird oft durch Kleinigkeiten un¬
mäßig; ich sah es hier. Komisch und spannend war nur Gualtieri'6
Gegenwart. Er fühlte sich mehr geschmeichelt, als beleidigt, mehr¬
mals hatte er gelächelt, mehrmals sein „Gut gesagt!" dazwischen ge¬
worfen. Als aber das Stück zu Ende war, wurde er doch wieder
nachdenklich und rief wie verwundert: Aber Sie machen mich la
ganz zum Egoisten! Dann nahm er den Dichter langsam unter dem
Arme, zog ihn bei Seite und sagte: Hören Sie mal, lieber Robert,
was denken Sie sich denn unter einem Egoisten? Ich hoffe doch
nicht gar zu Schlechtes? Und wenn ich nun ein Egoist bin, was ist
damit gesagt? Nein, das müssen Sie mir genauer auseinandersetzen,
darüber müssen wir umständlich reden; denn sehen Sie, wenn ich
mich selber fühle und kenne und ehre, so heißt das doch noch nicht
— und somit führte er ihn in das Nebenzimmer, sich in Prosa noch¬
mals vortragen zu lassen, was er in Versen schon zur Genüge sollte
vernommen haben. Der will aus dem Regen unter die Traufe, sagte
Demoiselle Levin, und „Guerande!" rief sie den Abgehenden noch
freundlich nach; wirklich kamen sie nicht wieder zum Vorschein.
Demoiselle Levin erklärte sich ernstlich gegen solche geiht- und
kunstreiche Spiele, wie überhaupt gegen alle persönliche Satyre, Pa¬
rodie und Travestie, als gegen einen Mißbrauch der Dichtkunst; Al¬
les dies, meinte sie, trage etwas Böses in sich, das zuletzt nur ge¬
meiner Schadenfreude diene; einen großen Unwillen und Zorn, eine
heftige Bitterkeit, ein tief einschneidendes Charakterisiren aus Einsicht
und zur Einsicht, das Alles begreife und respectire sie, wo ein inne¬
rer Drang es durchaus gebiete, oder wenn wirklich anmuthige und
unbezwingliche Laune das Gehässige wieder aufhebe.
Schlegel, der sich solcher Vergehen gegen Schiller schuldig wußte,
stellte die Xenien als Einwand auf; allein die rasche Gegnerin ver¬
setzte: Das Beispiel spricht gerade für mich, wenn Sie die anfüh¬
ren, stehen Sie schon aus meiner Seite. Denn wo ist wohl der
Zorn gerechter, der Unwillen edler, der Witz lebendiger, als eben in
den Xenien? Ueberdies sind Goethe und Schiller — nun ja Goethe
und Schiller!
Wie ich erfuhr, hat einer Ihrer Wiener Correspondenten bereits
das traurige Amt übernommen, die diesjährige Kunstausstellung zu
besprechen, und ich meide ihm diese herkulische Säuberung nicht. Wei¬
terer Bemerkungen will ich mich gern begeben, nur die eine Frage
kann ich nicht unterdrücken: wie ist es möglich, daß die Kunst bei
uns in solchen Verfall gerathen konnte? Die Maler haben hierauf
immer die bequeme Antwort bereit: weil keine Bestellungen gemacht
werden, an denen wir unsere Kräfte üben könnten. Das ist wohl
leider Thatsache, aber darum noch immer keine Rechtfertigung für die
Künstler, sondern nur eine Ausflucht für ihre Ohnmacht. Um Gro߬
artiges hervorzubringen, bedarf das Talent nicht erst der Anregung-
von Außen; um sich selbst zu genügen, muß es das Beste leisten,
was es vermag, und gewiß ist noch nie ein Meisterwerk unerschaffen
geblieben, weil es nicht bestellt ward. Der Grund jener Lahmheit
und Schlaffheit, die so weit geht, daß sich nicht einmal im Schlech¬
ten mehr eine bestimmte Individualität zeigt, ist theils in der be¬
ständig um sich greifenden sinnlichen Verflachung des österreichischen
Nationalcharakters, theils in der verrückten Einrichtung unserer Akade¬
mie und außerdem wohl auch in der Unwissenheit der Mehrzahl un¬
serer Maler zu suchen*). Bei diesen ist es eine der Bequemlichkeit
wegen angenommene Maxime, daß vieles Lernen dem Genie Eintrag
thue; die Herren thäten nicht so übel daran, sich zu besinnen, daß
die größten Maler (ich nenne nur Leonardo da Vinci, Buonarotti,
Poussin) Männer von den umfassendsten Kenntnissen waren, deren
Leben in ernsten, strengen Studien verfloß. Uebrigens glauben auch
manche unserer Literaten allen Ernstes, daß sie an ihrer Originalität
verlören, wenn sie etwas Rechtes lernten. Das ist eine schöne Ori¬
ginalität, die darin besteht, sich auf den Isolirschemel hinzuhocken,
statt die weite Welt in sich aufzunehmen, um sie mit dem Licht des
eigenen Geistes, den Flammen des eigenen Herzens zu verklären? —
Gedankenlosigkeit und Nichtigkeit nehmen bei uns mit jedem Tage zu,
der Ernst des Strebens, die Fähigkeit, seines Lebens Mühe begeistert
an ein schönes Ziel zu setzen, verschwindet immer mehr, und wenn
man so zum Beispiel die Chronik des alten Florentiners Ghiberti
lies't, möchte man sich schämen, dieser Zeit und diesem Geschlecht an¬
zugehören. Gott bessere es! sage ich mit dem alten Comthur.
Daß Gräfin Jda Hahn einige Tage in Wien verweilte, werden
Sie wohl wissen. Sie fand in den Salons des Adels und der Fi-
nance die ausgezeichnetste Aufnahme und brachte auch ihrerseits einen
sehr günstigen Eindruck hervor. Man fand sie stiller, weicher, ange¬
nehmer, als man sie nach dem Charakter ihrer Schriften sich vorgestellt
hatte, in denen allerdings, bei ungemein viel Geist, ein gewisses ab¬
sprechendes, schroffes, hochmüthiges Wesen auf mitunter sehr verletzende
Weise hervortritt. In ihrem persönlichen Umgange ist dies nicht der
Fall und,darum gefiel sie. Welchen Eindruck die Gräfin selbst von
hier fortgenommen, wäre wohl schwer zu entscheiden; einerseits mochte
es ihr Vergnügen machen, sich so viele Huldigungen dargebracht zu
sehen, andererseits mußten die Persönlichkeiten, von denen jene Hul¬
digungen ausgingen, denselben ein gutes Theil ihres Werthes beneh¬
men. Der scharfblickender Frau konnte es unmöglich entgehen, daß
hier weit weniger von wahrhafter Anerkennung eines superiorer Ta¬
lentes, als von einem der Mode und einem Namen gezählten Tribut
die Rede sei. Eine kleine Anekdote muß ich Ihnen doch mittheilen:
Gräfin Hahn erzählte in dem Salon einer hiesigen Finanzgröße, daß
sie auf ihrer Reise in den Orient in Constantinopel einen Dragoman
aufgenommen habe. „Wird ein Dragoman von Pferden oder von
Eseln gezogen?" fragte die schwarzlockige Baronin E., die, naiver
Weise, einen Dragoman für ein Fuhrwerk hielt. An einem solchen
Irrthum wäre nun freilich nicht sehr viel gelegen, eine Frau braucht
nicht jeden fremdländischen Ausdruck zu verstehen, aber immerhin bleibt
es abgeschmackt und läppisch, ein Interesse für Dinge zu heucheln,
von denen man so ganz und gar keinen Begriff hat, daß es auch
unmöglich ist, sich für sie zu interessiren.
Unsere Hoftheaterdirection hat auf ihre eigene Kosten erfahren,
was für ein herrlich Ding es um die Tantieme sei. Wie Sie wisi
sen, ist es den Dichtern freigestellt, für ihre Stücke entweder die Tan¬
tieme, oder das herkömmliche Honorar zu fordern. Deinhardstein'S
Motesens war angenommen worden, und als kluger Mann, der die
Sicherheit liebt, hatte der Verfasser das ein für allemal zählbare Ho¬
norar angesprochen. Motesens kam zur Aufführung, um nach den
drei unausweichlichen Vorstellungen auf ewig vom Repertoire zu ver¬
schwinden. Bei der Tauen'me-Einrichtung wäre der Betrag nicht auf
die Hälfte der gezählten Summe gestiegen.
Der unangenehme „Vorfall" hier zwischen einem Gensdarmen
und zwei Schneidergesellen, in Folge dessen, des Vorfalls nämlich,
dem einen Schneider der rechte Arm abgenommen werden mußte, ist
sehr unnützer Weise durch subversive Correspondenzen zur Kenntniß
des größeren Publicums gekommen. <imo tu- Knut nuur »n<! vim-Jott,'!
Der Arm eines Schneiders! Wer erlaubt dem Schneidergesellen, in
die Nähe betrunkener Gensdarmen zu gehen? Nun tritt noch
obendrein ein unbefugter Arzt auf und erzählt die ganze Geschichte
in der Vossischen Zeitung, und alle Welt erfährt nun, ein widerspen¬
stiger Arrestant sei mit dem Kopf auf dem Pflaster durch die Straße
geschleift worden, und der schleiflustige Gensdarm habe zwei vorüber¬
gehende Harmlose (Berliner) dergestalt in den Arm verwundet, daß
der Eine amputirt worden! Unser liberaler Polizeipräsident, der sich
erst kürzlich zu einer Erwiederung gegen Dr. Meyen herabließ, hat
auch diesmal die öffentliche Meinung berichtigt, oder vielmehr die An¬
wartschaft auf eine Berichtigung gegeben, die Berichtigung selbst soll
erst die Untersuchung liefern, — natürlich, wenn bis dahin die ganze
Geschichte nicht vergessen ist. Vorläufig erfährt man, daß der „un¬
berufene" ärztliche Zeuge bestraft wurde. „Möge dies Beispiel als
Warnung dienen." Wer den verunglückten Schneider versorgen werde,
fragen Sie? Wer anders als die städtische Armenkasse. Daß sie Z"
dergleichen nicht ungerne bereit ist, hat dieselbe bei einem ähnlichen
Vorfall bewiesen. Vor einigen Jahren wurde ein Handwerker von
einer königlichen Earrosse überfahren. Da er ganzlich arbeitsunfähig
aus der Charit^ entlassen wurde, meldete er sich beim Hofmarschall¬
amt, wo er auch wirklich zwölf Thaler erhielt, — nicht monatlich
oder jährlich, sondern ein für alle Mal. Damit aber war der Un¬
dankbare nicht zufrieden. Er wendete sich an die Stadtarmenkasse,
diese wieder an das Hofmarschallamt, es wurde einige Mal hin- und
hergeschrieben, bis es zu andeutungsweiser Erwähnung der bedeutenden
allerhöchsten Beiträge für die Armenkasse kam, und das Ende vom
Lied war, daß die Stadt den Invaliden mit drei bis vier Thalern
monatlich „versorgt". Möge dies Beispiel zur Nachahmung dienen.
In meinem letzten Schreiben versprach ich Ihnen über Woeni-
ger's Roman „Zigeuner und Edelleute" etwas Näheres mitzutheilen.
Jetzt aber, wo ich denselben gelesen, kann ich mich unmöglich dazu
entschließen, Ihre Leser mit einem Commentar solch kläglicher Ver-
irrung zu beleidigen. Ein anderes Werk, obwohl es nicht minder
spurlos verschwinden wird, möchte ich jedoch hier nicht so ganz igno-
riren. Ich meine den so eben in Charlottenburg erschienenen „Brief¬
wechsel" Bruno Bauer's mit seinem Bruder. Dies Werk soll an¬
scheinend die Bonner Verhältnisse des Verfassers mit der Bonner
theologischen Facultät und eine gleichzeitige Anschauung der Berliner
Ereignisse geben, in der That aber ist es ein Rahmen für das, Por¬
trät der Verfasser, ein sogenanntes „Leben", wie es alle literarisch
verkommenen Menschen zu ihrer eigenen Erhebung jetzt geben. Bruno
Bauer ist in psychologischer, wie in historischer Beziehung eine lehr¬
reiche Erscheinung. Aus eitler Selbstvergötterung haßte er alle Größe,
verhöhnte selbst seine Freunde: er wollte allein sein. Das Schicksal
hat sich gerächt, jetzt ist er allein. Die Partei, deren Sache er zu
der seinigen machen wollte, hat ihn verlassen, da er sie verrieth > auch
die literarischen Proletarier, welche er in der „Literaturzeitung" nicht
ohne Absicht neben sich stellt, ziehen sich zurück. Die Kritik der hef¬
tigsten Gegner des Radicalismus hat Strauß, Feuerbach und Rüge
mit Achtung behandelt, aber sie ignorirt B. Bauer, und wenn sie
ihn erwähnt, geschieht es mit Widerwillen. In diesem Briefwechsel
beschreitet die Selbstanbetung den Gipfel des menschlichen Begriffs. B.
Bauer schämt sich, zu sagen, er selbst repräsentire den Welt¬
geist, er legt daher einem Bekannten in den Mund, daß dies nicht
der Fall sei, und bespöttelt den „Philister"! Bei diesem Buche hat
es mir gegraut, wie vor den Fieberreden Eines, dem eben das Deli¬
rium naht. Welches das Ende dieses Treibens sein wird, ver¬
mag ich nicht zu denken. Es ist wohl möglich, daß B. Bauer, wie
schon früher einmal, auch diesmal zu einem anderen Extreme über¬
springen wird: er steht allein, von der Kritik ignorirt, und sein Ehr¬
geiz läßt ihn nicht ruhen. Was endlich Edgar Bauer betrifft, so ist
dies ein unreifer Schwätzer, der auf Conto seines Bruders eristirt,
und auf den zu achten der Mühe nicht werth ist.
Eine nachtheilige, obschon nicht abzuändernde Einrichtung unse¬
res Theaters ist, daß seine vorzüglichsten Künstler ihren Urlaub gerade
zu einer Zeit haben, nämlich vom Monat Mai bis August, wo
Dresden am meisten von Fremden besucht wird, so daß diesen die
beste Gelegenheit entzogen wird, die hiesige Bühne in ihrem wirklichen
Glanz und ihren besonderen Vorzügen zu sehen. So ist uns jetzt
Emil Devrient, der in Wien auf dem Burgtheater und in einigen
anderen österreichischen Städten gastiren wird, aus drei Monate entzo¬
gen; Tichatschek ist in Köln auf Gastrollen engagirt; der Bassist Dett-
mer macht ebenfalls eine Kunstreise; von den Damen werden Madame
Schröder-Devrient, welche seit ihrem neuen Engagement erst einige
Mal gespielt, und Madame Bayer noch ihren Urlaub benutzen. Die
Direktion bemüht sich, dem Mangel dadurch einigermaßen abzuhelfen,
daß sie Gäste herzieht. So sahen wir in den letzten Wochen Fräulein
Lebrun, eine reichbegabte jugendliche Schauspielerin; sie soll an der
Stelle der Bühne und Bräutigam zu gleicher Zeit verlassenden Karo¬
line Bauer hier engagirt werden; ferner Fräulein Wagner vom Bern¬
burger Theater, welche jn mehreren Gesangpartien mit so großem Er¬
folg aufgetreten, daß sie engagirt worden ist; diese Sängerin ist erst
17 Jahr alt und berechtigt zu großen Hoffnungen. Eduard Devrient
wird in diesen Tagen als Oberregisseur an unserer Bühne eintreten;
seine Stellung wird eine weit schwierigere werden, als er wohl erwar¬
tet, und nicht lange wird es dauern, wo er es bereuen wird, Berlin
verlassen zu haben. Er, ein Mann, bei welchem der Verstand sonst
weit über die Phantasie vorherrschend ist, träumt von einer Regene¬
ration des Theaters, die er in seiner neuen Stellung herbeiführen
werde; wie sehr verkennt er sich und unsere Verhältnisse! Er will
gern spielen und zwar immer in den ausgesuchtesten Rollen; mit wie
vielen seiner College» wird er in Conflict und Zerwürfnis) kommen;
seine Stellung wird ihm und Anderen, gerade wo er die besten Be¬
strebungen zu zeigen glaubt, unerträglich werden. Dazu kommt noch,
daß er namentlich bei seinem letzten Gastspiel hier dem Publikum we¬
nig gefallen hat. Durch das Lob einiger sentimentalen Blaustrümpfe,
die er durch sein moralisches Leben und durch seine „treue Liebe"
gewonnen hat, hätte er sich nicht irre führen lassen sollen. Der so
verständige Mann hat einen Wendepunkt seines Lebens, in argen
Illusionen befangen, herbeigeführt. — Dresden hat in den letzten
Jahren viele seiner ausgezeichnetsten Männer verloren, ohne nur einen
einigermaßen entschädigenden Ersatz dafür zu bekommen, und dieses
Jahr steht hinter den anderen nicht zurück. M. Zeis, ein vorzügli¬
cher Arzt, der sich durch chirurgische Schriften einen gerühmten Na¬
men gemacht hat, ist als ordentlicher Professor an die Klinik nach
Marburg berufen worden; her bekannte Mathematiker Dr. Snell folgt
meinem Ruf nach Jena. Julius Mosen ist nach Oldenburg als Dra¬
maturg abgegangen und hat uns beim Abschied eine Schrift: „Die
Dresdener Gemäldegalerie in ihr«n bedeutungsvollsten Meisterwerken"
zurückgelassen — über "die wir vielleicht noch reden werden, wenn es
nicht vvMziehen ist, die Schwächen eines verehrten Dichters und
Freundes > mit Stillschweigen zu übergehen. — Jetzt zieht auch Hof¬
rath Hanfstängl, unser Meister der Lithographie, von Dresden fort;
er hat sich in seinem Vaterland, im baierschen Hochgebirge am Am¬
mersee, eine reizend gelegene Besitzung gekauft, wo er mit seiner Fa¬
milie in ländlicher Zurückgezogenheit wohnen wird; doch geht sein li¬
thographisches Institut hier unter Leitung eines seiner Brüder fort
und wird er jährlich auf einige Monate hierher kommen, zu . fördern
und nachzusehen. Auch wird er seine Arbeiten auf seinem Landsitz
selbst fortsetzen. Sein großes Galeriewerk war im Anfang auf I2V
Lithographien der ausgezeichnetsten Bilder Dresdens bestimmt, doch
hat er sich in Folge mehrfacher Aufforderungen entschlossen, ihm noch
eine ^Fortsetzung der vorzüglicheren Bilder der Galerie beizugeben. In
einem unserer früheren Briefe haben wir schon angegeben, wie Hanf-
stängl sich aus sehr beschränkten Verhältnissen durch eigene Kraft und
consequentes edles Streben herausgerungen hat zu einer künstlerisch
bedeutenden und social höchst angenehmen Stellung. Sein lithogra¬
phisches Institut mag wohl als das erste Deutschlands angesehen wer¬
den ; er beschäftigt unter einer Menge von Menschen mehrere sehr vor¬
zügliche Künstler darin. Nur ungern sieht man den Künstler und den
im geselligen Leben so allgemein geachteten liebenswürdigen Menschen
scheiden. Seine Bekannten, Künstler und Kunstfreunde, vereinigten
sich vor einigen Tagen, ihm ein Abschiedsfest zu geben. Es fand
dieses in der Rotunde auf der Terrasse statt; der große fensterreiche
Saal war festlich geschmückt; die langen Tafeln waren in Hufeisen¬
form aufgestellt; das- breite Vorzimmer an der Eintrittsseite, dessen
Glasthüren ausgehoben worden waren, war mit Palmen und ande¬
ren edlen Bäumen und Büschen und mit hochrankenden Blumen, in
welchen des Gefeierten Bild gleichsam zu schweben schien, versetzt und
versteckt, und hinter diesem duftigen Wald war das Orchester und der
Theaterchor verborgen. Als die Herren, etwa achtzig an der Zahl,
vereinigt waren, begann die Musik zu spielen, Toaste und Reden
folgten, dann sang der Chor und diesem folgte ein Quartett, bestehend
aus den ersten Sängern unserer Oper, an ihrer Spitze Tichatschek.
Der weiße Tagesschimmer glänzte schon über die Elbe herüber, als
die größere Zahl der versammelten Herren aus einander ging.
Schon lange war es im Werke 6>»>, in,
Denkmal zu setzen; jetzt hat M ^n w ^ ^
gebildet, dessen Mitglieder unter Anderen sind ^ ^^ ^^
,>,. Schulz, Director des hiesigen AntikenelReZ ^ n^5'^?^'7'
Gründer des großen sächsischen MännergSsangftstes ^
eine Stiftung für junge Musiker zum Andenken des a efe' ^ ^ "
ponisten zu begründen, scheint aufgegeben worden zu sei»
mit Recht, denn man sollte junge Leute in'unserer zu nun.^- ^
Zeit eher in ihren musikalischen Absichten zurückhalten als Ä ^"
ein plastisches Monument soll gesetzt, ein neues Kunstwerk zur N '
herrlichung eines großen Künstlers hervorgerufen werden -- A>
vorläufigen Fonds hierzu gehen etwa vierhundert Thaler'ab welcke
durch ein von der Liedertafel früher veranstaltetes Concert zusammen
gekommen sind, und etwa 800 Thaler, die Einnahme für die hun-
dertste Vorstellung des Freischütz auf der Dresdner Bühne, welche d.-
König dazu bestimmt hat. Es kann nicht fehlen, daß, sobald das
Evan» seine Wirksamkeit begründet, die größte Theilnahme sich für
ein Denkmal des geliebten Tonsetzers zeigen wird. Auch Mebe.-^
Asche wird nunmehr, mit Einwilligung der Wittwe und unsers Kö
nigh, beten man noch ungewiß war, hierher geschafft und auf einem
Dresdner Kirchhof beigesetzt werden, und zwar auf Kohle» d?>- ? /s .
Witthauer's „Wiener Zeitschrift" ist das pretentiöseste unter den
Wiener Journalen, ganz Aristokratin, ganz Anstandsdame. Aber frei¬
lich wenn eine, so hat sie das Recht dazu, sie ist ja die vorzugs¬
weise Loyale, die Gesinnungsvolle, die Gediegene. Wer weiß es nicht?
Sie hat eine Mission und rettet fünfmal wöchentlich die Ehre der
Wiener Journalistik; sie opfert sich fünfmal wöchentlich auf, beobach¬
tet ein männliches Schweigen, wo sie Nichts zu sagen weiß, und ist
lieber mit Heroismus langweilig, als mit Frivolität spaßig. Und
Herr Witthauer selbst, der charaktervolle, der ernste norddeutsche,
der so viel Gemüthlichkeit und Herzlichkeit sich cingewienert hat, über¬
sprudelt ja von Streben und Bewußtsein, er ist ja stolz darauf, daß
Männer, wie Grün und Lenau, Grillparzer und Bauernfeld zuweilen
sein Blatt mit ihren Namen beehren, und doch — > Man wird sich
wundern, was wir plötzlich einem so respectabeln Blatte anhaben wol¬
len. Aber wir sagen Euch: Hängt die Würdigkeit mitsammt der
Anständigkeit, vor Allem hängt die großen Worte, wenn Nichts da¬
hinter steckt. Es ist sehr leicht, von seinem Wollen und Streben ein
großes Wesen zu machen, wenn die Verhältnisse es nie zur That
kommen lassen; was soll uns eine Gesinnung, die nur im Verborge¬
nen groß ist und an der kleinsten Probe zu Schanden wird? Dieser
Herr Witthauer hat in seine fürtreffliche „Wiener Zeitschrift"
eine so regelrechte Denunciation aufgenommen, wie sie nur die Spal¬
ten des seligen „Adler" hatte zieren können.
Wir trauten kaum unsern Augen, allein es war nicht wegzuwi¬
schen. In der Wiener Zeitschrift erzählt ein Dresdner Correspondent,
Beck's neuestes Gedicht: „Auferstehung" sei so subversiv und staats¬
gefährlich :c. :c., daß das Mißfallen, mit dem es in der öffentlichen
Vorlesung im Hotel de Lurembourg zu Dresden aufgenommen worden
sei, jeden Besonnenen und redlich Denkenden freuen müsse. Der ver¬
leumderische Zweck dieses Berichtes liegt klar zu Tage; der Correspon¬
dent äußert kaum Ein kritisches Wort über das Gedicht, er spricht le¬
diglich von der politischen Tendenz desselben und auch darüber ohne
ein motivirtes, ohne ein erklärendes Urtheil, sondern nur mit jenen
banalen Phrasen, die zur bloßen polizeilichen Anklage hinreichend, die
auf tausend Gedichte der verschiedensten Art anwendbar sind und
auch schon tausendmal angewendet wurden. Diese Lüge ist doppelt
schlecht, weil sie den Argwohn aus ein Gedicht lenkt, das nicht ge¬
druckt und nur Denen bekannt ist, die es vorlesen hörten. Wäre es
bereits veröffentlicht, so würde es sich durch sich selbst vertheidigen.
Was den Dresdner Correspondenten der Wiener Zeitschrift betrifft, so
muß er entweder von sehr niedrigen Motiven getrieben oder von sel¬
tener Bornirtheit sein. Es gibt felle Federn genug, die eben so durch
ungemessene Lobhudeleien, wie durch plumpe Verdächtigungen bei die¬
ser oder jener literarischen Clique, die sie dem zu besprechenden Autor
gewogen oder feindselig glauben, sich einzuschmeicheln suchen und dar¬
nach ihr Urtheil einrichten. Es mag auch bloße Beschränktheit sein.
Jedenfalls dachte der Dresdner Correspondent, in einem Wiener Blatte
mit seiner Denunciation wie gerufen zu kommen und sich als recht
convenablen, censurfähigen Mitarbeiter zu erweisen. Und auf diese
schmeichelhafte Voraussetzung, auf diese Jumuthung, die er im Na¬
men der Wiener Presse mit Entrüstung hätte zurückweisen sollen,
geht Herr Witthauer ein; diese feige Verleumdung eines un¬
gedruckten Gedichtes, die wohl keines von jenen minder „gediegenen"
Blattern, auf welche die Wiener Zeitschrift vornehm herabsieht, auf¬
genommen hätte, läßt Herr Witthauer abdrucken, ohne sich in seinem
gesinnungsvollcn Anstand im Mindesten genirt zu fühlen!
So wenig das Publikum der Wiener Zeitschrift es wissen kann,
so gut konnte Herr Witthauer wissen, wie falsch er von Dresden aus
berichtet wurde. Karl Beck hatte in Wien seine „Auferstehung" in
einem literarischen Kreise bei Lenau vorgelesen, und die freudige Theil-
nähme, welche dieser edle lyrische Meister für das Gedicht seines jun¬
gen Freundes äußerte, wird Herrn Witthauer nicht unbekannt geblie¬
ben sein. Er konnte ferner, als Journalist und Zeitungsleser, aus
den übereinstimmenden Berichten vieler andern Blätter wissen, daß
die Dresdner Zuhörer im Hotel Luxembourg Beck's Dichtung mit
Begeisterung aufnahmen; daß man wohl freie Ideen, wie zu erwar¬
ten war, aber nichts Staatsgefährliches und Subversives, vielmehr
in der darin vorherrschenden Humanitaren und versöhnenden Richtung
einen schönen Fortschritt des Dichters erblickte*). Und wäre die Wahr¬
haftigkeit des Dresdner Berichtes auch an sich gleichgiltig, was sie
nicht ist, so hatte Herr W. noch andere Rücksichten zu beobachten»
denn es ist eine Denunciation, Jemand an einem Orte anzuklagen,
wo er sich nicht vertheidigen kann. Herr W. kennt aber die Verhält¬
nisse und weiß, daß es ihm schwer fallen dürfte, in seiner Wiener
Zeitschrift eine offene Entgegnung des Verdächtigten aufzunehmen.
Herr W- ist auch lange genug in Oesterreich, um die Bedeutung ei¬
ner so leichtsinnig oder böswillig hingeworfenen Insinuation zu ken¬
nen Za wir begreifen kaum, wie man sich nicht vor dem ersten of¬
fiziellen Leser seines Blattes genirt, welcher politische Mittheilungen
der Art, weil sie nur einseitig sein können, von einem anständigen
Wiener Journal gar nicht erwartet. Muß er nicht erstaunen, wenn
ihm über ein ungedrucktes Gedicht eine Kritik vorgelegt wird, die sich
gleichsam direct an den Polizeichef in ihm, statt an den bloßen Cen¬
sor wendet? Und übrigens wird Herr W. wohl auch wissen, daß
Karl Beck, von dem er selbst in der Wiener Zeitschrift ein kleines
Gebiete drückte, und der sich jetzt mit einem österreichischen Paß in
Deutschland befindet, Oesterreicher (Ungar) ist und bleiben will.
Herr Witthauer täuschesinterasewichtder Anklage,
die wir gegen ihn erheben. Wir möchten nicht gern eine Ungerechtig¬
keit begehen und nehmen lieber an, daß die Schuld seinen Mangel
an Einsicht, als seinen guten Willen treffe. Schlimm genug, daß
es keine andere Entschuldigung für ihn gibt als die nasseste Unfähig¬
keit. Von dem Redacteur eines Blattes, dem die Autorität einiger
verehrten Namen, denen man zuweilen darin begegnet, ein gewisses
Renommee, eine Art von Nimbus gibt, darf man ein etwas lebhaf¬
teres Gefühl in solchen literarischen Ehrenpunkten, etwas mehr Takt
und etwas weniger Leichtsinn erwarten. Wenn Herr Witthauer das
nicht einsieht, sollte er das Redigiren lieber sein lassen.
— Wir möchten fast um Entschuldigung bitten, daß wir noch
einmal auf den vielbesprochenen Custine zurückkommen.
Der Feldzug des bekannten französischen Marquis gegen Rußland
hat mit keinem Moskaubrand und keiner Berezina geendet; dennoch,
obwohl die Widerlegungen, Berichtigungen und Vertheidigungen seit
bald einem Jahre dauern , ist der Sieg in Vieler Augen noch nicht
entschieden. Deutschland konnte sich bei diesem Kampfe nicht ganz
neutral halten; aber während eine Minderzahl die Schilderungen Cu-
stine's mit Heißhunger verschlang und von der Wahrhaftigkeit dersel¬
ben moralisch überzeugt war, konnten sich die Andern, aus ehrenwer-
then Motiven, nicht entschließen, die Allianz des wenig besonnenen,
allzu pikanten welschen Marquis anzunehmen. Wir brauchen nicht
die französische Brille, sagten sie, ein deutsches Auge hätte schärfer
und doch gerechter gesehen und würde eben dadurch siegreicher richten.
Hinter den edelsten deutschen Vorsätzen steckt immer ein Wenn!
Hätte und Würde! Bei den immer wichtiger werdenden Beziehungen
zu dem Slavenreich ist eine genaue und erschöpfende Kenntniß dessel¬
ben nicht blos wünschenswerth, sondern höchst nothwendig. Man kann
also fragen: Warum richtet denn das deutsche Auge nicht? Nun
Treumund Welp's Berichte, die, so schlicht sie auftreten,'im We¬
sentlichen mit Custine übereinstimmen, wollen auch nicht munden;
Welp ist zu sehr Mann aus dem Volk, zu praktisch und hausbacken,
zu wenig gelehrt, zu ungründlich! Kohl, der wegen seiner harmlo¬
sen Anständigkeit und liebenswürdigen Virtuosität im Erzählen nicht
angefochten wird, hat wenigstens eben so viel Irrthümer begangen
wie Custine. Unsere reisenden Naturforscher sind sehr gründlich, aber
sie werfen nur gelegentlich einen Seitenblick auf das, was uns das
Wichtigste sein muß. Die vortrefflichen Schilderungen eines offenbar
hochgebildeten und gewiegten Reisenden aus Rußland und dem Kau¬
kasus (in der Augsburger Allgemeinen Zeitung) erfahren aus Se. Pe¬
tersburg eben so schnöde und zuversichtliche Abfertigungen wie Custine.
Göhring's „Warschau, eine russische Hauptstadt" ist reich an au¬
thentischen Thatsachen, dürfte aber dasselbe Schicksal haben. Und die
deutsche Gewissenhaftigkeit dürfte am Ende nicht eher ein Buch über
Rußland für gerecht halten, als bis die Russen selbst es für gut er¬
klären. Wir kommen also immer wieder auf Custine zurück. Was
die heftigen Debatten für und wider ihn betrifft, so liegt wohl die
Wahrheit — nicht in der Mitte, aber auf beiden Seiten; sein Buch
ist ein sehr schätzbares und wichtiges, trotz seiner subjektiven Verir-
rungen und objectiven Unrichtigkeiten. Wir wurden in dieser Ansicht
durch glaubwürdige und angesehene Männer bestärkt, die Rußland aus
eigener Anschauung kennen und übereinstimmend versicherten: Der
Marquis habe durch zahlreiche Unrichtigkeiten in äußerlichen und gleich-
giltigen Dingen, so wie durch seine Indiscretion seinem Credit ge¬
schadet, allein in der Charakterisirung des Volkes, des Staatswesens,
des Adels und der Kirche habe er Erstaunliches und kaum zu Ueber-
treffendes geleistet. So habe er sich einreden lassen, es gebe keine
verläßlichen Aerzte in Rußland, während es von den vortrefflichsten
Medizinern wimmle; so habe er über die Unwirthlichkeit der Hotels
geklagt während die Schuld davon auf die russische Gastlichkeit zu
schieben ist, welche die Hotels eben so überflüssig mache, als sie in
Deutschland vor fünf Jahrhunderten waren. Doch dürfe man auch
den russischen Berichtigungen nicht trauen. Gretsch widerlegte, was
C über den Bau des Winterpalastes erzählt, durch halbe Wahrheiten.
Die Arbeiter waren allerdings bezahlte, aber nichtsdestoweniger gezwun¬
gene Leute. Baron Kleinmichel, Adjutant des Kaisers, leitete den
Bau, der so wunderbar schnell, aber mit einem großen Verlust an
Menschenleben vollendet wurde. Die Arbeiter wurden nicht auf die
ganze Dauer der Bauzeit engagirt; doch wer von ihnen einmal den
Palast betreten hatte, wurde nicht wieder herausgelassen ?c. — Was
C. so verhaßt, aber auch so bedeutend macht, ist die erschöpfende
Energie und Tiefe seiner Darstellung. Darin liegt seine Kraft und
das ist es, wodurch er, bei aller feuilletonistischen Reizbarkeit, bei
aller scheinbaren Leichtfertigkeit, unsere gründlichen Forscher weit hin¬
ter sich zurückläßt. Man hat es geahnt, tausendmal angedeutet und
behauptet jetzt es schon gekannt zu haben, aber Niemand vor ihm hat
es so im innersten Nerv getroffen: das in leichtsinniger Sicherheit
verachtete, aus Instinkt gehaßte, von Gedankenlosen um seines äußern
Glanzes willen angebetete, räthselhafte russische Wesen. Wie russischer
Fortschritt und russische Barbarei brüderlich mit einander gehen kön¬
nen, wie der Zwiespalt zwischen exotischer Cultur und heimischer Roh¬
heit so lange ungelöst bleiben kann, sollte freilich Niemand ein Räth¬
sel sein; aber doch hat erst Custine Rußland als das schlagendste Bei¬
spiel für die Lehre aufgestellt: daß das schlaueste Cabinet kein Botts-
«rzieher, kein Gesetzgeber und kein Schöpfer sein kann. — Wer die
bekannten Correspondenzen aus Berlin, die von derselben Feder für
die Deutsche Allgemeine und die Bremer Zeitung geschrieben werden,
verfolgt hat, wird erkennen, daß man von Custine lernen kann.
— Privatbriefe aus dem Kirchenstaate (von denen die deutschen
Zeitungen schweigen) berichten von der Verurtheilung der bei der letz¬
ten Revolte in der Romagna Gefangenen. Wie gewöhnlich gelang
es den Chefs, zu entfliehen, während die armen Düpirten, wie gewöhn¬
lich, der rücksichtslosen Rache der päpstlichen Behörden als Opfer sie¬
len, und nach dem Gesetz, das heißt nach dem Standrecht verurtheilr
wurden. Der Angeklagten waren fünfzig, arme Handwerker, zwei oder
drei Bauern und einige Lehrlinge, der größte Theil noch halbe Kna¬
ben. Bon den fünfzig Angeklagten standen dreiunddreißig im Alter
von siebzehn bis dreiundzwanzig Jahren. Zwanzig wurden zum Tod«
verurtheilt, dreizehn lebenslänglich zu den Galeeren, fünf auf fünfzehn
Jahre, drei auf zehn und zwei auf fünf Jahre. Die Militärcommis¬
sion sing ihr Amt damit an, eine heilige Messe zu hören, und sprach
ihr Urtheil, nachdem sie „den heiligsten Namen Gottes" angerufen
hatte. Von den zum Tode Verurtheilten wurden am 7. Mai sechs
von rückwärts im Prato ti San Antonio zu Bologna erschossen.
— Victor Hugo ist Graf geworden. Der Moniteur vom 25,.
Mai meldet officiell; „Der Graf Victor Hugo ist vom König em¬
pfangen worden." Es ist charakteristisch für die Wendung der poli¬
tischen Stimmung Frankreichs, daß die meisten Schriftsteller, welche
die Wellen der Julirevolution hervorgeschleudert haben, jetzt bei stiller
See ihre alten Adelsbriefe hervorholen und an der Sonne trocknen.
George Sand heißt auf ihren Visitenkarten plötzlich Madame I-t It.l-
online oil<I<zö?un; Alexander Dumas erinnert sich, daß er Vicomte ist,
Balzac ist zum d e Balzac avancirt. Schade, daß das junge Deutsch¬
land sich aufgelöst und seine früheren Musterbilder verlassen hat.
Rechtmäßigerweise müßte es jetzt Freiherr von Heine, Graf Gutzkow,
Marquis Laube u. f. w. heißen. Vicomte de Mundt wäre auch nicht
übel, und Ritter Wienbarg gewiß sehr passend. Schade! — Aber für
Einen müssen wir reclamiren: Für Freiligrath. Wie, Victor ist Graf
geworden und sein Nachfolger Freiligrath ist noch nicht einmal zum
Herrn von avancirt?
Die größten Umwälzungen bereiten sich in tiefster Stille und
haben die kleinsten Anfange. Blind und stumpf aber stehen die Leit¬
hammel und die Hirten der Völker vor der Krippe, in der ein neues
Heil der Welt geboren werden soll. Wer hatte es geahnt, daß die
Augsburger Allgemeine Zeitung, die in Cabineten, Kaffeehäusern und
Lesemuseen als die Hauptstütze der conservcttiven Partei, als die Für¬
sprecherin des besonnensten Fortschritts, als die mütterlichste Pflegerin
des reinen und streng nationalen Deutschthums angesehen wird, daß
dieses solide alte Haus im Stillen an einer allgemeinen deutschen
Revolution arbeitet? Das „Vaterland" und die „Dorfzeitung" haben
in ihrer Kurzsichtigkeit schon einmal Lärm geschlagen und hätten bald
den großen Plan vereitelt. Aber glücklicherweise blieb ihr Mißverständ¬
niß ohne Folgen, die Conservcttiven verharrten in ihrer Sicherheit, die
Radialen in ihrer verblendeten Feindseligkeit, der Bundestag, die Re¬
gierungen und der Leipziger Literatenvcrein schliefen ruhig weiter. Uns
aber drängt es jetzt, wo die Unternehmung bereits weit genug gediehen
ist, darauf hinzuweisen, damit die echten Söhne der Zeit sie unter¬
stützen. Weiß man noch nicht, was wir wollen ? Mein Gott, es ist
die Komma frage! Vaterland und Dorfzeitung sahen darin blos
eine Zntcrpunktionsangelcgenheit und klagten, daß sie die Augsburger
Allgemeine nicht verstünden; daß sie dieselbe nicht mehr ruhig lesen
könnten, weil sie die kühnsten Satze mache und die Phalanx ihrer
politischen Gedanken oft in sinnverwirrender Bewegung hin- und Her-
schwanke, bald in großen Massen nach vorwärts stürze, dann wieder
labyrinthisch sich verschlinge und in kleinen Planklerhaufcn sich
zerstreue. Das sind eben die Wehen, ohne die nichts Großes
entsteht, aber ein Glück für Deutschland, daß dies Alles so geheim¬
nißvoll ruhig, ohne Blutvergießen und höchstens zur Bestür¬
zung eines friedlichen deutschen Leserauges geschieht. Die Censoren
könnten, wenn sie etwas scharfsinniger wären, längst bemerkt haben,
daß es auf sie abgesehen ist; es ist der Kampf der Presse gegen ihre
Bevormundung; das Auge des Gedankcnaufsehcrö wird ermüdet, es
kann dem eigenthümlichen Marsch seiner Anbefohlenen nicht folgen
und dem geschlossenen Zusammenhalten derselben nicht beikommen.
Das aber ist die geringste Folge der neuen Kommataktik. Denn
---^ «,'^>a»v> iM<^5 ^>,,«!„sui-l><'ki»n - z>le ^kNterMlnkfion !>^»
g ^. »..^ ...9.. > .... Zeitung wah-
rend sie offen dem Purismus das Wort redete, im Geheimen an ei-
ner eigentlich unnationalcn Organisation der geistigen Beweguna ae-
arbeitet und ehe wir es uns versehen, wird nicht nur die Presse son'
dem Deutschland ganz und gar so frei und mächtig dastehen wie
Frankreich und England. Verachtet nicht das kleine Komma- 'es ist
der Seufzer des Beklommenen, das Aufathmen des müden Wande¬
rers in der politischen Zeitungswüste, das Luftloch in den Katakom¬
ben des Weltraisonnements, der Meilenstein auf der Straße des Fort¬
schritts, und es ist nichts weniger als gleichgiltig, wie oft und an
welchen Punkten es angebracht ist. Die Allgemeine Zeitung kennt
das deutsche Volk, sie weiß, wie man von unten auf bei uns an¬
fangen muß und von welcher Bedeutung in der germanischen
Welt ein Pünktchen oder Strichelchen sein kann. Man sollte daher
nicht klagen, wenn sie mit weiser Oekonomie die heilige Legion ihrer
Kommata verwendet. Dieses kleine Komma wird das Samenkorn
unserer Erlösung sein.
wirren- Wahrend man in Deutschland, wie die letzten Universitäts-
zeigtm, über das alte Studentenleben fast hinaus ist, erwa-
eben erst in Oesterreich die elegischen Sehnsuchtsrufe nach den Herr¬
lichkeiten der deutschen Burschen- und Landsmannschaftlichkeit. (Sieh?
„Schattenrisse aus Oesterreich." Leipzig, bei Reclam.) So weit
sind die einzelnen Glieder der deutschen Fortschrittsarmee auseinander.
Die Avantgarde ist in den Morast gerathen, die Arrieregarde ruft aus der
blauen Ferne: Ach, wären wir doch auch in dieser schönen Gegend!
— Dem mit vielem Takt redigirten Modeblatt „die Jahreszei¬
ten", welches namentlich durch ein pikantes und reichhaltiges Feuille¬
ton vor anderen Blättern ähnlicher Art sich auszeichnet, müssen wir den
wohlgemeinten Rath geben, seinen Wiener Correspondenten etwas mehr
auf die Finger zu sehen. Der Bericht über Ponsard's Lucrccia am
Burgtheater enthält eine abscheuliche Zote, die allerdings die Redaction
nicht verstehen konnte, da sie einen Wiener Localklatsch betrifft, eine
Theatcrliebschaft und ihre Folgen. Wohl aber ist es die unverzeih¬
lichste Impertinenz, wenn ein solcher Eorrespondenzler das Zutrauen,
das eine Redaction in ihn setzt, auf eine solche Weise mißbraucht und
seine Kukukseier ihr unterschiebt. Das achtbarste Blatt kann durch
eine solche Perfidie in schlechten Ruf gerathen, wenn es nicht gewarnt
wird. —
Im Kanton Wallis ist ein ernstlicher Bürgerkrieg ausgebro¬
chen. Die ganze Schweiz aber leidet an krampfhaften Zuckungen, die
um so abstoßender sind, als die Brutalität der dortigen Bewegungen
mit den Endzielen und der politischen Bedeutung derselben in keinem
Verhältnisse steht. Die Schweiz ist eine Bühne, auf der, gleichsam
zum warnenden Exempel, alle entgegengesetztesten Elemente der euro¬
päischen Civilisation ihre Orgien feiern; bürgermeisterliche Tyrannei
und Spießbürgerlichkeit, Pöbelherrschaft und starrer Patrizierhochmuty,
puritanische Bigotterie und Jesuitenherrschaft, Preßfreiheit und Glau¬
bensprozesse, Alles durcheinander. In Zürich ist jetzt der bekannte öl.
Bluntschli zum Rector derselben Universität erwählt worden, die einst
dem Strauß einen Lehrstuhl antrug. Ob dieses Ereigniß auch
eine Revolution zur Folge haben wird? „Die Wahl des Mannes, der
nun schon Jahre lang mit den Mannern der Wissenschaft im offenen
Kampfe lag, die Senatssitzungen nie mehr besuchte, die Lehrfreiheit
mit Knitteln austreiben hilft und sich nachher durch Preßprozesse und
Beschlagnahmen einen Ruf erwarb" — ist dem Schasshausener „Vor¬
läufer" ein Beweis von dem innigen Zusammenhang zwischen Ultra¬
montanen und sich so nennenden Conservativen.
Es waren zwei Fremde gemeldet worden. Demoiselle Levin em¬
pfing sie höflich, aber in Haltung und Ton war die feine Linie nicht
zu verkennen, durch welche sie vielleicht unbewußt ausdrückte, daß es
nicht vertrauliche Bekannte waren, mit denen sie sprach. Es war ein
Graf aus Wien, ich glaube ein Graf -i- -i- -i- -i-, sein Begleiter aber
hieß Meyern und wäre mir unter diesem Namen leicht entgangen,
hätte mir Brinkmann nicht gesagt, daß er der Verfasser deö merk¬
würdigen Buches Dya-Na-Sore sei, der aber jetzt weder Romane
noch Indien, sondern nur Krieg und England und Vonaparte im
Kopfe trage. Ich hatte früher in diesem schmerzlichen Roman ge¬
schwelgt und seine sehnsüchtigen Liebes- und Vaterlandswünsche innig
mitempfunden, um so mehr wünschte ich nun den Mann selbst kennen
zu lernen, dem es gelungen war, die großen Drangsale der nächsten
Wirklichkeit in eine entlegene Dichtungswelt hinaufzutragen. Allein
es war unmöglich, mehr als ein gewöhnliches Höflichkeitswort aus
ihm zu locken, er schwieg sogleich wieder und sah nur immer beob¬
achtend und prüfend auf die Personen hin, die gerade sprachen. Ich
vernahm später, er habe es sich zum Gesetz gemacht, als Oesterrei¬
cher sich in Preußen möglichst verschlossen zu halten.
Mittlerweile hatte die Gesellschaft sich mannigfach in verschiedene
Gesprächsrichtungen abgezweigt, die nur selten auf Augenblicke zu
einer allgemeinen zusammenflossen, wenn etwa eine Behauptung, ein
Scherz, ein Witz lebhafter ausbrach und größeren Antheil weckte.
Die Gesellschaft war zu zahlreich und zu belebt, um sie noch in einer
Einheit zusammenzuhalten und zu leiten; die Wirthin konnte Nichts
thun, als auch ihrerseits mit Einzelnen anknüpfen, aber ich bemerkte
wohl, daß sie hierbei stets aufmerksam blieb und immer da einzu¬
wirken wußte, wo stockendes zu beleben, Mißliebiges abzubrechen,
Störendes auszugleichen, Angenehmes zu vermitteln war. Auch meine
vergebliche Bemühung mit Meyern war ihrem scharfen Blicke nicht
entgangen, und ein Wort von ihr hatte Herrn von Schack bestimmt,
durch eine Frage über Wien den schroffen Mann zugänglich zu ma¬
chen, der aber auch diesmal seine Antwort so kurz als möglich ein¬
richtete.
Mit Wohlgefallen sah die Wirthin den Abb6 und den bestern¬
ten Diplomaten in abgesonderten Gespräch ganz vertieft. Schack
begegnete ihr in diesem^ Bemerken, sie winkte ihm, und ich hörte, daß
sie ihm auf den Vorwurf, warum sie ihm nicht erlaubt habe, den
Kerl wegzubeißen, voll sanften Eifers antwortete: Ist es denn so
nicht besser? Welch Vergnügen, zu sehen, wie die Beiden sich für
uns unschädlich machen! Einer schluckt den Andern ein, und ich
wette, sie suchen sich bald lieber anderswo auf, und wir sind sie los.
Ich weiß nicht, wer es sich erlaubte, einen in ein ziemlich schmuz-
ziges Gewand gekleideten Witz vorzutragen; Niemand wollte lachen,
und betroffen über die Unziemlichkeit schwiegen Alle. Doch Demoiselle
Levin, die wieder auf dem Sopha Platz genommen, duldete die Pause
nicht, in welcher die Unart sich gleichsam fortsetzte; schnell übersah sie
das Terrain und löste die eigene und fremde Verlegenheit, strafte
und beseitigte die Ungebühr, indem sie plötzlich aus aller Menge un¬
erwartet meinen Meyern mit den Augen fassend und ihm das Wort
zuwendend, mit dem Ausruf: Ich weiß auch Saugeschichten! eine
noch stärkere, aber schon dadurch unschuldigere Derbheit einleitete und
dann unvergleichlich rasch und komisch eine französische Anekdote, ich
glaube nach Chamfort, sehr glücklich und schicklich erzählte, mit solcher
Anmuth und Gewalt, wie ich Aehnliches nur noch Einmal in meinem
Leben, viele Jahre später, von der Frankfurterin B— leisten sah!
Alles fühlte sich wie befreit und lachte aus vollem Herzen, Niemand
aber mit solchem Vergnügen und Abandon, wie mein störrischer
Meyern; laut und heftig fing er immer aufs Neue an, so daß er
die Andern auch immer wieder mit fortriß. Noch eine ganze Zeit
wiederholte er sich die Worte: Ich weiß auch Saugeschichten! und
lachte mit größtem Behagen, bis nach und nach der beobachtende
Ernst in seinen Mienen wieder die Oberhand nahm. .
Mehrere der Domen und Herren hatten sich bereits entfernt,
und ich hielt es für schicklich, ebenfalls an den Rückzug zu denken;
allein Brinkmann wollte davon Nichts hören und versicherte, daß es
hier noch gar nicht spät sei, im Gegentheil würden noch einige Leute
kommen, ja er hielt es nicht für unmöglich, daß noch zwei seiner an¬
gebeteten Freundinnen, die herrliche Freiin von A- aus Wien, -
das Jstermädchen, wie Demoiselle Levin sie nenne, — nach abge¬
thanen anderem Besuche noch hier einsprächen.
Das Hereintreten eines Mannes, den der Zuruf: Guten Abend,
Gentz! mir° sogleich als den berühmten Publizisten zu erkennen gab,
erregte einige Bewegung. Kaum habe ich so viel Schüchternheit mit
so viel Dreistigkeit beisammen gesehen, wie im Aeußeren dieses Man¬
nes vereinigt war. Mit zaghafter Unsicherheit prüfte er gleichsam
die Gesichter und die Plätze und war nicht eher ruhig, bis er sie
alle untersucht hatte. Ich als Fremder schien ihm wohl unbedeutend,
die Andern erkannte er als Günstige, nur Friedrich Schlegel flößte
ihm einen heimlichen Schauder ein, auch wählte er den diesem fern¬
sten Platz. Behaglich und sicher zwischen Madame Unzelmann und
seinem Beschützer Schack, knüpfte er mit Beiden gleich ein Gespräch
an, das bald aber für Alle gemeinsam wurde. Er erzählte von sei¬
nem Mittage, er hatte bet dem Minister Grafen Haugwitz gegessen, dort
Gesandte und Generale gesprochen, die neuesten Neuigkeiten aus Lon¬
don und Paris erfahren. Madame Unzelmann verbat aber alle Po¬
litik und verlangte nur solche Nachrichten, an denen auch sie Theil
nehmen könnte. Ganz recht, mein Engel, erwiederte Gentz mit Leb¬
haftigkeit, auch wir sprachen am wenigsten von Politik, sondern von
den Sitten, den Vergnügungen, von — ist Gualtieri nicht hier? —
der Depravation, die sich wieder einfindet in Paris, von den Liebes-
händeln, den Theatern, den Restaurateurs, — nicht wahr, das sind
hübsche Gegenstände?
Schack, der kürzlich in Frankreich gewesen war und am Hofe
des ersten Consuls Bonaparte der ersten dort erschienenen preußischen
Uniform große Ehrenauszeichnung zugezogen hatte, richtete einige
Fragen an Gentz, allein dieser antwortete wenig und schien durch
Schlegel beunruhigt, der ihn stets finsterer ansah und seinen Wider¬
willen deutlich in seinen Zügen ausdrücke; die hingeinurmclten Worte
„feiler Schreiber, nichtswürdiger Freiheitsfeind" und andere solche
Artigkeiten, welche dein damals revolutionär und republikanisch ge¬
sinnten Verfasser der Lucinde gemäß waren, erreichten zwar nicht des
Feindes Ohr, aber die reizbare Seele desselben schien jeden bösen
Hauch schon in der Ferne zu wittern.
Demoiselle Levin zog ihn aus der Verlegenheit, indem sie ihn
nach einen: Frauenzimmer fragte, das ihn lebhaft beschäftigen mußte,
denn mit dem größten Feuer sprach er von dämonischen Reiz und
eben solchem Charakter, die ihn entzückten und in Verzweiflung setz¬
ten; er klagte sich strafbarer Schwäche an, — aber, fuhr er fort,
was kann ich dafür? Amor ist blind und wirft auch mir die Binde
über die Augen. '
— Nein, nein! rief Demoiselle Levin; in dem Punkte ändere
ich die Mythologie. Amor ist nicht blind und hat keine Binde;
im Gegentheil er löset jede, und die Liebe sieht klar und scharf; daß
sie trotz Allem, was sie sieht, zu lieben fortfährt, das ist ihr höch¬
stes Kennzeichen!
Gentz wollte den Satz bestreiten, gab ihn aber bald und im¬
mer mehr zu, und rief ihn dann als die wunderbarste Belehrung
aus, die er fortan selbst ausbreiten und vertreten wolle. Wohl ist
dieses Thema unerschöpft und unerschöpflich, sagte er, und Ihnen,
Herzenökundige, kommt es zu, solche Wahrheiten auszusprechen, vor
denen die Irrthümer ganzer Zeitalter, ja der Mythologien selbst, zu¬
sammenbrechen. Er fuhr in dieser Weise fort, sprach von dem Glück
und Unglück der Liebe, von ihren Gründen und Bedingnissen, ihren /
Wirkungen undAusgängen; erst nur in kleineren Sätzen, die er noch '
conversationsartig an seine Nachbarn richtete, fragenweise, problema¬
tisch ; allmälig entwand er sich diesem Bezug und Ton, nahm einen
freieren Schwung, wagte kühnere und festere Behauptungen, und als
er sich der Gesinnung und Beistimmung seiner Zuhörer völlig ver¬
sichert halten durfte, öffnete er gleichsam alle Schleußen seiner Be¬
redsamkeit, deren gewaltiger Fluß nun unwiderstehlich einherströmte
uno uns mit staunender Bewunderung erfüllte. Friedrich Schlegel
und seine Lucinde hätten hier etwas lernen können. Gerh sprach
mit Eifer und Wärme, mit Scharfsinn, mit Fülle, und ein solcher
Wohlklang, ein solches Wogen der Worte, eine solche Folge glückli¬
cher Ausdrücke, guter Zusammenfügungen, leichter Uebergänge, ein
solches wirkliches Einnehmen und Bereden ist mir seitdem bei keinem
Menschen wieder vorgekommen. Auch fesselte er jede Aufmerksamkeit
und gewann jeden Beifall. Nur unsere Wirthin, welche die klugen
vergnügten Augen fest auf ihn gerichtet hielt, rief bisweilen ein :
„Recht, Gentz!" ein „Prächtig" oder „Bravo", dann auch wohl ein
„Warum nicht gar!" oder „O nein!" dazwischen. Die Anderen horch¬
ten schweigend. Ich wünschte mir Glück, von dieser so oft gerühm¬
ten und mir bis dahin immer etwas zweifelhaft gebliebenen Vortreff¬
lichkeit ein so glänzendes und in dieser Art vielleicht einziges Beispiel
so zufällig erlebt zu haben.
Noch war Alles gespannt und einzelne Funken sprühten noch,
gleichsam verspätete Nachzügler des wallenden Feuerstroms, als eine
neue Erscheinung auftrat, Prinz Louis Ferdinand. Die ganze Ge¬
sellschaft erhob sich einen Augenblick, aber gleich rückte und setzte sich
Alles wieder zurecht, und der Prinz nahm seinen Platz neben De-
m^iselle Levin, mit der er auch unverzüglich ein abgesondertes Ge¬
spräch begann. Er schien unruhig, verstört, ein schmerzlicher Ernst
umdüsterte sein schönes Gesicht, doch nicht so sehr, um nicht eine lie¬
bevolle Freundlichkeit durchschimmern zu lassen, die bei seiner hohen
herrlichen Gestalt und freien gebieterischen Haltung um so wirksamer
für ihn einnahm. Ich war vom ersten Augenblick bezaubert; einen
so günstig ausgestatteten Menschen hatte ich noch nicht gesehen; ich mußte
mir bekennen, in solcher Person und in solcher Weltstellung durch das
Leben zu gehen, das sei denn doch einmal ein Gang, der der Mühe
werth sei! Solche Heldenfigur gibt in der That eine Vorstellung von
höherem Geschlecht, Beruf und Geschick, und wirft in das, was bis¬
her nur als Dichtung erschienen, ein lebendiges Zeugniß von Wirk¬
lichkeit.
Brinkmann vergötterte den Prinzen und sprach mit Liebe von
seinen menschlichen Eigenschaften, mit Bewunderung von den in ihn
gelegten Kräften, die ihn fähig machten, das Größte zu leisten, jeden
Entschluß zu fassen, jede That zu vollbringen, zu der eine starke Seele
nöthig. Doch leider, fuhr er fort, ist es auch sein Unglück, einen so
hohen Beruf zu haben, den zu erfüllen die Gelegenheit fehlt. Denn
was soll er thun? Ein gleich großer, aber nicht so begünstigter Ge¬
nius erränge sich erst eine Stellung und verwendete dazu seine Kraft;
dieser aber bat seine Stellung und kann Nichts erstreben, als was
gerade sie nicht zugesteht. Nur die Welt der Empfindung ist ihm
noch übrig und offen, auch hat sein ganzes Wesen sich dahin ge¬
worfen, er liebt, liebt leidenschaftlich und unbefriedigt und stellt auch
hierin wieder ein eigenthümliches und reiches Menschengeschick dar.
Der Prinz war aufgestanden und hatte sich die Fremden vor¬
stellen lassen, nämlich die beiden Oesterreicher und mich, die Uebrigen
waren ihm schon bekannt und zum Theil, wie Schack, Brinkmann
und Gentz, völlig vertraut. Seine Leutseligkeit war vornehm und
doch durchaus menschenfreundlich, ohne den Beischmack von Herab¬
lassung, der die Gnade der Großen meistentheils so ungenießbar
macht. Auch wurde der Prinz durchaus nicht schmeichlerisch behan¬
delt, die herkömmlichen Formen der Ehrerbietung fehlten nicht, allein
außer diesen konnte ihn Nichts erinnern, daß er mehr sei als die
Andern. Nach wenigen Augenblicken fand ich mich so unbefangen
und behaglich in seiner Gegenwart, als hätte ich ihn schon Jahre lang
gekannt. Ihn selber schien kein Zwang befallen zu können, er verfuhr
und sprach, als ob er unter geprüften Freunden sei.
Diese Freiheit, sich überall ohne Scheu auszusprechen, war al¬
lerdings ein köstliches Vorrecht seiner hohen Stellung, aber um das¬
selbe auszuüben, war doch wieder er selbst erforderlich. Ihn com-
promittirte Nichts, weil er sich nie für compromittirt ansah. Was
man ihm nachsagte, das kümmerte ihn nicht. In seiner Sphäre
wagte sich Niemand an ihn, und eine fremde Macht, vor der ein
Prinz von Preußen sich gebeugt hätte, gab es nicht. So sprach er
ohne Zurückhaltung seinen Unwillen und Grimm gegen Bonaparte
und gegen die freundschaftlichen Verhältnisse aus, welche die Höfe
mit ihm unterhielten. Eine der Anklagen, die er gegen ihn vor¬
brachte, war in dem Munde eines Prinzen sonderbar; man war
überrascht, jenem vorgeworfen zu sehen, daß er die Freiheit unter¬
grabe!
Merkwürdiger noch, als in diesen Aeußerungen, erschien mir der
Prinz in einigen anderen, welche hinter scheinbarer Zerstreutheit und
Unaufmerksamkeit die feinste Beobachtung und tiefste Menschenkennt-
niht verriethen. So sprach er von seiner Familie, von seiner Schwe¬
ster, der dein Fürsten Anton Nadziwill verheiratheten Prinzessin Louise,
von seinem Bruder, dem Prinzen August, mit eben so großer Zunei¬
gung als Offenheit, als ob uns Allen 'dieser Umgang und diese
Einsicht wie ihm selber ^vertraut sein müßten. Seinen Schwager,
den Fürsten Nadziwill, schien er besonders zu lieben, die gemeinsame
Liebe zur Musik wirkte hier mächtig ein. Er vermißte ihn und fragte,
ob er schon da gewesen? Auf die Bemerkung, er sei wohl zur Jagd
gefahren, lächelte der Prinz. Zur Jagd? wiederholte er, da kennen
Sie meinen Schwager nicht. O ja, er fährt zur Jagd, wenn es
sein muß, er macht Alles mit; aber Alles, was er thut, thut er nur
im musikalischen Sinn, und, zum Beispiel, auf der Jagd ist ihm an
Wild und Beute Nichts gelegen, sondern seine Jagdlust läuft einzig
darauf hinaus, daß er sich mit der Büchse unter einen Baum stellt
und dann vor sich hin singt: ^.t canela, In canela!
Die den Fürsten näher kannten, bestätigten eifrig das treffende
Gleichniß und bewunderten nur, daß der Prinz, der so wenig Acht
zu haben schien auf das, was um ihn vorging, zu dieser Auffassung
habe kommen können.
Der Prinz nahm seinen Hut und schickte sich zum Fortgehen,
an, wir Alle thaten desgleichen, und eben wollten Brinkmann und
ich als die Letzten dem Prinzen folgen, als auf der. „Treppe der Fürst
Nadziwill uns begegnete und unter freudigen Aeußerungen den Prin¬
zen wieder zu dem Salon zurückführte.
Brinkmann aber und ich, wir gingen unseres Weges weiter.
Als wir auf die Straße kamen, fanden wir den Himmel ausgestirnt,
die'Luft milde, und es gefiel uns, in der breiten Straße noch zu lust¬
wandeln. Ohnehin war ich von dem erlebten Abend in großer Auf¬
regung und fühlte das Bedürfniß, Manches auszusprechen und Vie¬
les zu fragen, was mir aufgefallen oder nicht klar geworden war.
Wer hätte mir siedet besser dienen können, als mein Begleiter; wo
wäre größere Bereitwilligkeit zu, finden gewesen?
Wir waren etwas auf dem Gensdarmenmarkt umhergegangen,
kehrten aber nun in die Jägerstraße zurück, wo der Wagen des Prin¬
zen noch vor dem Hause hielt. In dem Zimmer oben war ein Fen¬
ster geöffnet, und Klaviertöne erklangen. Wir standen still und lausch¬
ten; der Prinz phantasirte mit genialer Fertigkeit, Demoiselle Levin
und Fürst Nadziwill standen mit dem Rücken gegen das Fenster, und
wir hörten einigemal die Stimmen ihres Beifalls. Wie gern hätten
wir die unsngcn hinzugefügt! Das Spiel des Prinzen war kühn
und gewaltig, oft rührend^ meist bizarr, immer von höchster Meister¬
schaft. Nach einer halben Stunde hörte er auf, bald nachher fuhr
er mit seinem Schwager nach Hause. Die Uhr war halb eins.
Auch wir gingen nun, und Brinkmann brachte mich zu meinem Gast¬
hofe, wo mir aber die empfangenen Bilder und Eindrücke noch lange
den Schlaf versagten.
Ich habe vergessen zu sagen, daß Ludwig Robert mich auf den
nächsten Vormittag zu sich beschieden hatte, weil ich noch einige sei¬
ner Gedichte hören sollte. Es war schon gegen Mittag, als ich hin¬
ging, und ich glaubte, sehr spät zu kommen. Eine alte wunderliche
Magd, die ich schon gestern unter all der großen Welt ein paarmal
hatte wirthschaften sehen, führte mich zwei Treppen hinauf; allein die
Thüre links, wo man bei Robert eintrat, war verschlossen und es
hieß, der Herr schlafe noch. Während ich meine Bestellung zu ma¬
chen bemüht war, öffnete sich aber die Thüre rechts und ich stand
vor Demoiselle Levin. Sie entschuldigte ihren Bruder, der spät nach
Hause gekommen sei, und hieß mich bei ihr eintreten, bis er aufge¬
standen wäre. Ich ließ mir den Wechsel gern gefallen. Eine freund¬
liche Mansarde, bequem, doch ohne Lurus eingerichtet, empfing uns.
Wir setzten uns dem schrägen Dachfenster gegenüber, wo ein Bild
von Lessing an der Wand hing.
Wir sprachen von dem gestrigen Abend; ich bekannte ihr meine
Begeisterung für Prinz Louis und sah, daß ihr meine Aeußerungen
Freude machten. Sie hielt mich werth, einige nähere Aufschlüsse über
ihn zu empfangen und erzählte mir Züge von ihm, die auch durch die Art,
wie sie von ihr aufgefaßt und gedeutet wurden, Bewunderung ver¬
dienten. Sie war aber so entfernt von blinder Eingenommenheit,
daß sie den Prinzen vielmehr hart und scharf tadelte wegen seines
zerstreuten, aufgelösten Lebens, wegen seines Mangels an strenger,
conseauenter Thätigkeit und Einrichtung. Sie sagte vortreffliche Sa¬
chen über Stellung in der Welt, Pflicht, Beruf und über die Beding-
ungen großen Wirkens. Besonders siel mir ans, was sie von der
leichtsinnigen Vergeudung der Zeit sagte, und noch nie hatte ich von
einer Frau solche Anempfehlung des Fleißes und'der Ordnung, als
GrundetenedesStrebenseört.
der,
Aehnliches kam über Gentz zur Sprache, jedoch in sehr verschie¬
dener Weise. Dann sprachen wir von Brinkmann, den ich gegen
manche Urtheile, die ich über ihn gehört hatte, vertheidigen wollte.
Aber Demoiselle Levin entriß mir diese Vertheidigung und führte sie
kräftiger. Schwächen und Fehler! rief sie aus; wer hat die nicht,
und wer sieht nicht leicht und scharf die fremden, wenn sie sich auch
noch so sehr verstecken, um so mehr die, welche sich gutwillig und
offen zeigen. Aber um's Himmelswillen! lassen Sie sich das gesagt
sein, denn es ist im Leben eine Hauptsache, reagiren sie niemals ei¬
nen Menschen nach seinen Gebrechen, sondern nach seinem Guten
und Tüchtigen; dahin richten Sie den Blick, und je größer die¬
ses ist, um so weniger dürfen jene gelten. Die Gemeinen ma¬
chen es umgekehrt, und weil sie das thun, sind sie die Gemei¬
nen. Sehen Sie Brinkmann's regen Geist und offenen Sinn, seinen
vielseitigen Eifer, seine schönen Talente, und dann seine treue, unzer¬
störbare Freundschaft, sein Bedürfniß der Anhänglichkeit; erwägen
Sie, was er ist und leistet, und dann blicken Sie umher, wie we¬
nige Menschen Sie von solchem Werth ersehen können. Hören Sie
nicht auf die seichten Tadler! Die Besten wissen ihn wohl zu schäz-
zen; fragen Sie Schleiermacher, fragen Sie Friedrich Schlegel, der
so schwer Jemanden anerkennt, und von mir — denn ich darf mich
auälen — hören Sie es schon, wie ich von ihm denke.
z
Ich war auf solchen Lobeseifer fast neidisch und fand ihn doch
so schön und richtig. Nach einigen Zwischenreden konnte ich nicht
umhin, Demoiselle Levin zu preisen, daß sie der Mittelpunkt eines
solchen Kreises sei, wie ich ihn gestern um sie versammelt gesehen.
eerllenatei.
emg,g
Aber kaum ausgesprochen, bereute ich das Wort schon. Die
Saite, die ich berührt hatte, klang unerwartet heftig und schmerzvoll,
und ich würde mich in großer Verlegenheit befunden haben, hätte ich
nicht bald erkannt, daß ich doch nur unpersönlich bei den Aeußerun¬
gen dastand, die mir den Blick in das Innere dieses Gemüths er¬
öntn.
— Wie Sie das nehmen! sagte sie wehmüthig, und ihre Worte
richteten sich kaum noch an mich, sie gingen mehr als einsame Kla¬
gen in die Luft. Wie steh' ich denn zu den Menschen allen? Per¬
sönliche Zufriedenheit habe ich von Keinem. Ihre Schmerzen,
Kränkungen, Bekümmernisse und Sorgen bringen sie mir, ihr Bedürf¬
niß nach Unterhaltung führt sie hierher, und glauben sie einmal an¬
derswo eine bessere zu haben, so lassen sie mich gleich. Ich amüsire
sie, helfe ihnen, höre sie an, tröste und berichtige sie. Insofern ich
das will und muß, weil es in meiner Natur ist, gebe ich mir eine
persönliche Satisfaction, aber die Andern empfangen den ganzen Er¬
trag. Ich weiß, die Menschen sind schwach, unterwürfig, lenksam;
auch ich könnte sie mir verpflichten und dienstbar machen, blos durch
den Anspruch, den ich zeigte. Aber ich verachte den Zwang der
Höflichkeiten, die Formen von Freundschaften, die zu gesetzlichen Ti¬
teln von Leistungen werden müssen, denen ich aber keinen Werth
beilege, wenn sie nicht ganz frei aus dem reinen Antrieb eines
guten Herzens, also wie aus dem Himmel herab kommen. Die An¬
dern aber machen sich diesen meinen Sinn zu Nutzen und haben
die Rücksichten nicht, die ihnen nicht aufgezwungen werden.
Nur die der geselligen Sitte fordere ich, denn die darf ich nicht
erlassen, und wer diese verletzt, mit dem ist es aus bei mir. Mit
meinem Besten aber stehe ich unbewaffnet allen Verletzungen da, und
wie selten berührt ein Tropfen Balsam die Wunden, deren ich mich
nicht erwehren kann. — Soll ich Ihnen noch mehr gestehen? Unter
allen den Menschen, die Sie gestern bei mir gesehen, ist nur Einer,
der mir eigentlich gefällt, — und diesen haben Sie wohl nicht
einmal bemerkt.
Ich fühlte zu sehr, daß ich bei diesen Ausbrüchen nur zufällig
dastand, und war zu bescheiden, sie zu beantworten. Auch lenkten die
Betrachtungen gleich wieder in's Allgemeine, und es kam die bedenk¬
liche Paradorie an den Tag, daß zwischen geistreichen und dummen,
gebildeten und verwahrlosten Menschen, ja zwischen tugendhaften und
sittenlosen, sofern hierdurch nur eine Thatsache und nicht ein Prin¬
cip bezeichnet werde, im Grunde nur ein geringer Unterschied walte;
daß aber der zwischen ursprünglichen, selbständigen und secundären,
untergeordneten, ein ungeheuerer, nie zu ermessender, noch zu tilgen¬
der sei.
Der Eintritt eines Grafen zur Lippe brachte uns anderen Ge¬
genstand und Ton. Noch weiter entführte uns von jener früheren
Bahn eine Überraschung, die an das Komische grenzte, denn uner¬
wartet stürzte, aber buchstäblich stürzte Gentz in das Zimmer, und
ohne auf uns beide Fremde die geringste Rücksicht zu nehmen, warf
er sich auf das Sopha und rief wie außer sich: Ich kann nicht
mehr! Welche Müdigkeit! welche Qual! Die ganze Nacht geschrieben,
gesorgt; seit fünf Uhr verdammte Gläubiger; wo ich hinkomme,
treten sie mir entgegen; sie Hetzen mich todt, nirgends Nuhe noch
Rast. Lassen Sie mich eine halbe Stunde in Sicherheit hier
schlafen! Der große Redner von gestern, der gewaltige Schriftstel¬
ler und Staatsgelehrte erschien in bedauernswürdigen Zustande. Aber
schon lag er und hatte die Arme verschränkt und die Augen geschlos¬
sen; der süßen Ruhe, die er begehrte, schien er in seinem Innern
vollkommen fähig, sobald sie nur von außen nicht gestört wurde.
Demoiselle Levin, deren tiefes Mitleid doch einem Lächeln nicht
wehrte, gönnte dem Armen den schon in Besitz genommenen Raum
und führte uns zu den unteren Zimmern hinab. Sie ließ uns hier
mit ihrem Bruder, der inzwischen sichtbar geworden war, und der
mir aus dem reichen Vorrathe seiner Gedichte Vieles mittheilte, was
sich meist auf die Gesellschaft bezog, und wobei die Anmerkungen
und Erklärungen mir oft anziehender und wichtiger waren, als die
Gedichte selbst.
Ich sah Demoiselle Levin noch mehrmals wieder, und jedesmal
vertrauter und herzlicher. Als ich leider allzubald Berlin verlassen
mußte, glaubte ich zugleich dasjenige Wesen zu verlassen, dessen Glei¬
chen mir in der Welt wohl am wenigsten ein zweites Mal vorkom¬
men dürfte! Und dieser Glaube ist nicht widerlegt worden. -
Im nächsten Jahre kam ich wieder auf einige Zeit nach Berlin
und beeiferte mich, jenen Umgang wieder anzuknüpfen. Ich fand
dieselbe gütige Aufnahme und größtentheils noch denselben Gesell¬
schaftskreis. Doch fehlten Friedrich Schlegel und Gentz; Ersterer
war nach Paris, Letzterer nach Wien gegangen, jeder in sei» Ele¬
ment. Prinz Louis war nur leidenschaftlicher und zerstreuter : ich
sah die Geliebte, die ihn beschäftigte und quälte, und mußte gestehen,
sie hatte unendlichen Reiz und eine bezaubernde Originalität in Al¬
lem, was sie that und sprach.
Demoiselle Levin war antheilvoll und eifrig für ihre Freunde,
wie sonst. Sie selbst schien zu leiden. Ihr Geist, ihre Lebens¬
munterkeit aber' walteten in aller Kraft und Frische eines erhöhten
Daseins.
Man hat es getadelt, daß die deutsche Presse in den letzten
Wochen mit einer so unbedeutenden Sache, wie die Einführung der
Bühnen-Tantieme ist, sich so viel beschäftigt hat. Die Politiker, die
Philosophen, die Professoren mit großen und kleinen Zöpfen mi߬
gönnten den armen dramatischen Autoren das Stückchen Platz, wel¬
ches die Zeitungen ihrer „persönlichen Angelegenheit" widmeten. Das
Theater ist diesen weisen Männern eine viel zu unbedeutende und
gemeine Sache. Ja, wenn es sich noch um das Theater der Alten
handelte, oder um eine dramatische Theorie! Aber eine so gemeine
praktische Angelegenheit, bei der weder ein philosophisches System,
noch die Frage über Geschwornengerichre u. s. w. betheiligt ist, kann
die Aufmerksamkeit eines ernsten Mannes in unserer Zeit nicht mehr
in Anspruch nehmen.
Andere Völker, und zwar solche, die an politischer Erfahrung
uns um eine Kleinigkeit voraus sind, wie die Franzosen und Eng¬
länder, denken hierüber allerdings anders. Die Revue des dem
Mondes zum Beispiel, eins der wichtigsten Organe Frankreichs, bringt
in ihrer Lieferung vom ersten Mai einen ausführlichen Artikel über
die Theater, nicht etwa aus philosophischem und ästhetischem Gesichts¬
punkte, sondern aus dem praktischen, administrativen. Sie hält den
Gegenstand für so hochwichtig, daß sie eine ausführliche Parallele
zwischen dem englischen und französischen Bühnenwesen zieht und die
Vortheile der darauf bezüglichen Gesetzgebung diesseits und jenseits
des Canals mit wissenschaftlichem Ernste abwiegt»). Wir erinnern
uns nicht, daß man in Deutschland diesen Gegenstand ans einen,
ähnlichen Gesichtspunkt behandelt hätte, und erwarteten daher, daß die
deutschen Journale sich schnell dieses eben so interessanten als lehr¬
reichen Artikels bemächtigen würden. Indessen scheinen unsere belle-
tristischen Blätter lieber den Feuilletons von Alexander Dumas und
Charles de Bernard die Ehre der Uebersetzung angedeihen zu lassen,
während man andererseits an die politischen Journale nicht die
Ansprüche machen kann, daß sie die wichtigen Mittheilungen und
Aufschlüsse, mit denen sie uns jeden Tag überraschen, einen Augen¬
blick unterbrechen sollten, um von solchen untergeordneten Gegenstän¬
den zu sprechen. So halten wir es denn in unserer Mittelstellung
zwischen Politik und Literatur für eine diesen Blättern angemessene
Aufgabe, jenen Artikel dem deutschen Publicum vorzuführen.
Die Theater, sagt Herr Violen, in welchen die Menge Zer¬
streuung und Vergnügen sucht, bieten dem Staatsmanne, dem ad¬
ministrativen Kopfe, überhaupt jedem Geiste, der fähig ist, ihren
Einfluß auf die Sitten, auf die Kunst und den literarischen Ruhm
eines Landes zu würdigen, einen Gegenstand sehr ernster Betrachtung
dar. Sie können, je nach der Beschaffenheit des »Gesetzes, wel¬
chem sie unterworfen sind, die Herzen läutern oder verderben, den
Geschmack bilden oder irre leiten, dem öffentlichen Wohle nützliche
Hilfsquellen darbieten, oder den Steuerpflichtigen zur drückenden Last
werden. Gewichtige und sehr verschiedenartige Interessen sind bei
ihrer Ausbeutung in Betracht zu ziehen.
Vor zehn Jahren wurde die Aufmerksamkeit des Hauses der
Gemeinen von England auf diese Frage gerichtet, und dem Gebrauche
gemäß ein Verfahren eröffnet, um Thatsachen festzustellen, die Be¬
dürfnisse zu bezeichnen und Vorschläge zu etwa nothwendigen Refor¬
men zu machen. Während zwölf Sitzungen hatten neununddreißig
Zeugen, welche die verschiedenen dabei in'S Spiel kommenden Inter¬
essen vertraten, auf mehr als vier Tausend Fragen zu antworten.
Die Theaterunternehmer hatten sieben Eigenthümer, sechs Regisseure
oder Directoren von London und zwei Provinzial-Speculanten zu
Organen, von welchen letzteren der eine Director von sechs Theatern,
der andere Pächter von dreien war. Die Schauspieler wurden durch
sechs aus ihrer Mitte vertreten, die aus den verschiedenen Kategorien
von Kean und Macready herab bis zu den Mimen der secundären
Theater und ambulanten Gesellschaften gewählt waren. Acht Auto¬
ren und ein Komponist reclamirten das literarische Eigenthumsrecht.
Die Erfordernisse der Regierung und der Polizei hatten zwei obrig¬
keitliche Personen, einen Controleur im Departement des Kämmerers
und zwei Censoren zu Organen. Offizielle Actenstücke wurden in
Menge beigebracht, und auf dieser gründlichen Untersuchung fußend,
erschienen zwei auf die festgestellte Erfahrung gegründete Bills. Eng¬
land ist ein freies Land; die Presse genießt daselbst fast der unbe¬
schränktesten Freiheiten, die Obrigkeit verhält sich beinahe immer ganz
passiv und übt nur sehr engumgrenzte Rechte aus. Man sollte dar¬
aus schließen, daß die Theater daher gar keinem Zwange unterwor¬
fen, daß das Recht, sie zu eröffnen, aus dem Prinzip der industriel¬
len' Freiheit abzuleiten sei, so wie das Recht, Vorstellungen zu geben
aus dem Rechte, zuschreiben, zu sprechen und sich zu versammeln; ein
Recht, welches durch das gewöhnliche Gesetz anerkannt ist. Nichts¬
destoweniger hat zu allen Zeiten auf den Theatern die beschränkendste
Gesetzgebung gelastet, die Unternehmungen sind der unumgänglichen
Autorisation der Behörden und die Darstellungen der Censur unter¬
worfen. Der Usus der Privilegien war seit undenklichen Zeiten im
Schwange und die Untersuchung von 1832 weit entfernt, ihn im
Prinzip anzugreifen, scheint nur die Absicht gehabt zu haben, dies
riniwirkamer durchzuführen.
zEs läßt sich schwer begreifen, wie das Gesetz über Theater lange
Zeit ganz in Abkommen gerathen war, wenn man nicht die Schwie¬
rigkeiten und Hindernisse kennt, welche dessen Anwendung in den Weg
gelegt wurden. Das Theater vom Strand war seit zwanzig, ein
anderes seit vierzehn Jahren geöffnet, ohne jemals eine Autorisation
gehabt zu haben. Der dem Theaterwesen als Behörde vorgesetzte
Kämmerer sah seine Macht durch eine sonderbare Subtilität paraly-
sirt. Seine Gewalt, sagte man, sei eine Gewalt „der Erlaubniß,
nicht des Verhinderns". Vergeblich drohten die privilegirten Theater
mit gerichtlichen Verfolgungen, dieselben halfen ihnen meistentheils
Nichts. Wenn eines von ihnen auf die Gefahr hin, sich durch Ge-
richtskosten zu ruiniren, einen Vortheil erlangte, so substituirten die
Verurtheilten sich Jemanden, welcher den Namen dazu hergab und
durch seine eigene Insolvenz der Strafe ledig war. Am häufigsten
nahmen sogar die Obrigkeiten selbst gegen die Klagenden Partei, in-
dem sie „anstatt zu den Angeklagten zu sagen: „Beweisen Sie, daß
Sie autorisire sind, zeigen Sie Ihre Licenz" zu den Klägern, sagten:
„Beweisen Sie, daß Jene keine Licenz haben." Durch solches Ver¬
fahren behaupteten sie dem Gesetze nachzukommen, das es für unzu-
lAssig erklärt, daß Angeklagte zum Zeugniß wider sich selbst gehalten
sein sollen.
Tausend Kunstgriffe, deren Anwendung der Formengeist der
englischen Justiz möglich macht, wurden benutzt, um das Gesetz zu
umgehen. Man erzählt, daß in Wolverhampton, wo die vier Kem-
bles nicht autorisirte Vorstellungen gaben, das Publicum eingeladen
wurde, das Theater gratis zu besuchen. Durch dieses Mittel hatte
das Theatergesetz, welches sich nur auf Theater bezieht, bei welchen
man den Eintritt bezahlen muß, keine Anwendbarkeit; die Anzeigen
schlössen indeß mit der Nachricht: ,Mta bene, das Billet ist gratis,
aber Herr T . . . (der Regisseur) besitzt ein ausgezeichnetes Zahn¬
pulver ä zwei Shilling, ein Penny die Büchse (Iwx heißt Büchse und
Loge). Man trete ein und kaufe." Es wurde keine Verfolgung ge¬
gen die Theater eingeleitet.
So war das Gesetz ohnmächtig; mehr als zwölf Theater wur¬
den ohne Autorisation in London von den Unternehmern ausgebeu¬
tet, und in den Provinzen war der Unfug ähnlich. Diese Mißbräuche
berücksichtigend, verlangte die Untersuchungscommission, daß die Macht
des Kämmerers mehr ausgedehnt und bestimmter bezeichnet und
Maßregeln getroffen würden, um das Etablissement einer Unternehmung
ohne Autorisation zu verhindern; indessen ging sie nicht vom Prinzipe
der freien Concurrenz ab, und schlug vor, daß mit Beibehalt der schon
autorisirten Theater die Autorisation nicht verweigert werden dürfe,
sobald in einem großen Sprengel oder volkreichen Districte die Er¬
öffnung eines Theaters von der Majorität der Familienhäupter pe-
titionirt werde. Der Kämmerer sollte, mit dem Rechte betraut werden,
jedes nicht autorisirte Theater zu schließen, desgleichen beim Minister
des Innern eine summarische Sentenz zur Schließung der Theater
erlangen zu können, welche die Bedingungen ihres Privilegiums ver¬
letzt oder die öffentliche Moral beleidigt hätten. Eine Bill, welche
die Resultate der Arbeiten der Commission zusammenfaßte, ging fast
ohne alle Opposition durch das Haus der Gemeinen; das Haus
der Lords dagegen zeigte sich strenger gegen dieselbe. Die Bill wurde
verworfen, im nächsten Jahre wieder vorgelegt und abermals nicht
angenommen. Erst unter dem jetzigen Ministerium konnte die Frage
wieder auf's Neue angeregt werden: eine Bill vom 22. August 1843
adoptirt die Arbeiten von I8Z2 in einigen ihrer Anordnungen, aber
substituirt ihnen ein einfacheres, bestimmteres System. Kein Theater
darf sich in ganz Großbntannien aufthun ohne Patentbriefe der Kö¬
nigin oder Licenzen, welche je nach dem Orte entweder vom Lord-
Kämmerer, oder von den zu einer speciellen Sitzung vereinigten Frie¬
densrichtern, deren mindestens vier bis fünf sein müssen, ausgefertigt
werden. Im Falle der Contravention kann die Strafe sich bis auf
zwanzig Pfund Sterling für jede nicht autorisirte Vorstellung belau¬
fen. Die Amtsgewalt des Lord-Kämmerers erstreckt sich auf das
Gebiet von London und Westminster, die Bannmeile und die könig¬
lichen Residenzen. Die Autorisation wird, wie Alles in England,
bezahlt, denn hier muß das Publicum, welches sich an einen Beam¬
ten wendet, diesem ein Salar geben. Zu dem Ende ist ein Tarif
festgestellt: das Marimum der Vergütung ist für den Lord-Kämmerer
10 Shilling und für die Friedensrichter 5 Shilling für jeden Monat
der Eröffnung der Theater. Die Autorisation wird einem verant¬
wortlichen Director ertheilt; sein Name muß auf alle Anzeigen ge¬
druckt werden, er muß eine Eaution von mindestens fünfhundert Pfd.
Sterling leisten und nach Ermessen der Regierung auch noch zwei
andere Bürgen stellen, jeden für noch eine Summe von hundert Pfd.
Sterling Marimum. Diese Summen sind bestimmt, für die Einhal¬
tung der dem Unternehmer auferlegten Bedingungen zu garantiren
und die Zahlung der Strafen zu sichern, welche in Uebertretungs-
fällen zu geben sind. Der Lord-Kämmerer hat das Recht, nach sei¬
nem Ermessen die Schließung jedes Theaters, in welchem eine Un¬
ordnung oder ein Aufstand vorfällt, zu befehlen; desgleichen an
bestimmten Tagen die Vorstellungen zu untersagen. Die Friedensrich¬
ter bestimmen während ihrer Sitzungen die zu befolgenden Regeln
zur Aufrechthaltung der Ordnung und Decenz auf den Theatern ih¬
rer Jurisdiction, zu gleicher Zeit stellen sie die Zeit der Eröffnung
und des Schlusses fest. Diese Reglements sind der Autorisation ein¬
verleibt und jede Übertretung derselben, durch eine eidliche Zeugen¬
aussage constatirt, kann eine zeitweilige Schließung herbeiführen. Im
Umkreise der Universitäten Orford und Cambridge auf vierzehn Mei-
im müssen die Theater auch noch außerdem von dem Kanzler oder
Vicekanzler der Universität autorisire sein, welcher gleichfalls bei vor¬
kommenden Unordnungen die Erlaubniß zurücknehmen kann. Jeder
Schauspieler, welcher auf einem nicht autorisirten Theater spielt, setzt sich
einer Straft aus, deren Mannum zehn Pfund Sterling sür die
Vorstellung ist; das Gesetz ist anwendbar auf jede Vorstellung, für
welche die Zuschauer eine Summe Geldes, eine directe oder indirecte
Vergütung geben, oder irgend etwas kaufen müssen, sie erstreckt sich
auch auf Schenken, Kaffeehäuser u. s. w., welche Komödie spielen lassen;
es ist auf'ö Formellste bestimmt, daß im Falle einer gerichtlichen Ver¬
folgung das angeklagte Theater den Besitz der Autorisation zu bewei¬
sen hat und als nicht autorisire zu betrachten ist, sobald es seine
Licenz nicht beibringen kann. Ausgenommen von diesen Vorschriften
sind die Vorstellungen, welche von den Localbehörden bei Jahrmärk¬
te!?, Festen und sonstigen gebräuchlichen derartigen Versammlungen
gestattet werden. Die von den Friedensrichtern ergriffenen Maßregeln
können Anlaß geben zu einem Recurs an die nächste Vierteljahrs¬
sitzung. Das sind die angenommenen Verordnungen. Der Entwurf
schlug noch vor, den Theatern, welche das ausschließliche Privilegium
hatten, Shakspeare'sche Stücke zu geben, dieses Recht vorzuenthalten
und dem Lordkämmerer die Ertheilung desselben an andere Theater
zu verweigern. Dieser Vorschlag wurde nicht angenommen. Das
Parlament erklärte, es müsse jedem Theater frei stehen, die Meister¬
stücke des Nationaldichters dem Beifall des Publicums darzubieten:
es ist dies eine dem Genie dargebrachte legitime Huldigung und eine sehr
unschuldige Befriedigung englischen Stolzes, denn es ist genügend be¬
kannt und festgestellt, daß die Tragödien Shakspeare's selten gege¬
ben werden und nur ein kleines Publicum anlocken.
Bis zu der Bill von 1840 beschränkten die den Unternehmun¬
gen ertheilten Privilegien dieselben aufein bestimmtes Genre von Wer¬
ken. Die großen Theater waren blos befugt, Tragödie, Komödie und
jede Art von Stücken zu spielen, welche unter der Kategorie
des legitimen Dramas begriffen werden. Die Theater zweiten
Ranges (minor ttinureZ) waren auf komische Oper oder das Vau-
deville (durlotws) und Ballete beschränkt; aber diese verschiedenen
Genres verschmolzen in einander und wurden nicht streng geschieden,
entweder weil die Reglements unzureichend waren, oder eine genaue
Bezeichnung unmöglich war. Die Untersuchung von !K32 bemühte
sich, genaue Definitionen zu erlangen, erhielt aber Nichts als unbe¬
stimmte, widersprechende Erklärungen. Der eine Zeuge rechnete zu
dem legitimen Drama nur die Werke von Shaffpeare, Otway, Nowe,
Sheridan, Colmar und anderen classischen Autoren. Ein anderer
nahm nur auf das Theater Rücksicht, wo die Stücke dargestellt wa¬
ren, und definirte als zum legitimen Drama gehörig- „jedes Werk,
das in Drurylane oder in Coventgarden aufgeführt sei", Andere
wieder „jedes Werk, in welchem weder Gesang, noch Musik vorkomme."
Einige meinten, ein Stück, in welchem Musik vorkomme, könne den¬
noch zum legitimen Drama gerechnet werden, sobald nur Nichts da-
rin die Natur übertreibe. Ein nach richtigeren Grundsätzen urtheilen¬
der Zeuge, Payne Collier, versteht unter legitimem Drama „jedes
Werk, welches einen guten Dialog, gute Charaktere und gute Mo¬
ral hat." Die Bezeichnung des Wortes durletta ist nicht minder
schwankend. Die meisten Leute vom Fach verstehen indeß darunter
„ein kleines Stück, das mit Tänzen und Gesängen vermischt ist."
Die Verwirrung der verschiedenen Genres ist durch die Gewohnhei¬
ten des englischen Publicums noch größer geworden. Die ersten
Theater spielen stets nach der Tragödie oder Komödie Pantomimen
oder Possen, welche auf's Seltsamste mit den großen Werken ihres
Repertoires contrastiren, und doch ist ein solcher Mißbrauch mit den
Genrebezeichnungen getrieben worden, daß man Stücke dieser Art le¬
gitime Possen nennt.
Die neue Bill enthält keine auf die Bezeichnung der verschiede¬
nen Genres bezügliche Bestimmung, aber sie überträgt dem Lordkäm¬
merer so ausgedehnte Vollmachten, daß die neuen Aurorisationen
auch noch specielle Vorschriften über diesen Punkt enthalten können.
Di> Untersuchung von 1832 hat den Anspruch patentirter Theater
ergeben, welche behaupten, allein zur Aufführung des Repertoires
der großen dramatischen Schriftsteller berechtigt zu sein: diese An¬
sprüche sind in der Kammer der Lords sehr vertheidigt worden, und
da sie sich auf den Besitz gründen, der in England stets eine so
große Rolle spielt, so werden sie gewiß sehr stark berücksichtigt werden.
Das Recht, in England ein Theater zu eröffnen, ist, wie man
sieht, von einer Erlaubniß der öffentlichen Behörde abhängig, und
diese Erlaubniß kann in gewissen Fällen zurückgezogen werden. Die
Vorstellungen selbst sind einer nicht minder strengen Controle unter¬
worfen: obgleich die Freiheit der Presse als eines der ersten Rechte
des Volkes anerkannt ist, sind doch die Theaterstücke von der Censur
abhängig. Ein dialogisirtes Pamphlet von Fielding, Pasquin, scheint
Anlaß zu dieser Ueberwachungsmethode gegeben zu haben. Dieses
Stück enthielt eine sehr heftige Satyre gegen die politische Regierung
und Fielding trieb die Heftigkeit seiner Angriffe bis zur Schmähung
und Provokation. Die Censur wurde bei der Untersuchung von 1832
nur von wenigen unbeschränkten Geistern bekämpft, im Allgemeinen
erlitt sie keine Anfechtung, gewichtige Zeugen sprachen sich für ihre
Nothwendigkeit aus. „Die politischen Anspielungen", sagt einer von
ihnen, Thomas Morton, dessen Werke das glückliche Vorrecht haben,
die Menge anzulocken, „werden von den Zuschauern mit Begierde ge¬
hört. Die Scene wird ein Herd der Aufreizung; das Applaudiren
erhitzt die Geister und die öffentlichen Mißstimmungen werden so
leicht in Aufruhr verwandelt. Es gibt nichts Fürchterlicheres, als
eine wüthende («nraAea') Versammlung. Ich weiß es, sagt er serner,
vom berühmten Talma, daß die französische Revolution nur unbedeu¬
tende Fortschritte machte, solang die Bühne noch nicht zur Arena der
Volksleidenschaften gemacht war; aber sobald die Scene zur Tribüne
wurde, war die Bewegung unwiderstehlich." Mehrere Zeugen be¬
trachteten die Censur als ein den Theatern vortheilhaftes Institut.
Eine strenge und beständige Ueberwachung nur könne die Gesellschaft
erfolgreich schützen; zwar würde das Publicum keine offenbar un¬
moralischen, oder aufrührerischen Darstellungen dulden, aber doch
solche, bei denen Unmoral und Aufruhr in kleinen Dosen nach und
nach sich wirksam machten.
Die Censur scheint milde und versöhnlich gewesen zu sein, sie
hat zu wenig Klagen Anlaß gegeben. Einige klagen sie der Launen-
haftigkeit und Parteilichkeit an, aber die Meisten loben ihren guten
Geist. Der Prüfer liest die Stücke, streicht die Stellen oder Worte,
welche ihm verfänglich scheinen, an und^wenn das Ganze ihm Anlaß
zur Rüge gibt, spricht er ein vollständiges Verbot aus. Er läßt es
sich angelegen sein, Alles zu unterdrücken, was indecent, profanirend
und irreligiös ist, was Laster oder Verbrechen rechtfertigt oder er-
muthigt, was Anspielung auf Zeitereignisse macht, und besonders
Worte, welche Unordnungen hervorbringen können. Eine Tragödie
Karl l. wurde zurückgewiesen, weil der Schilderung des Königsmor-
des Nichts fehlte, als daß man auch noch auf dem Theater das
Haupt des unglücklichen Monarchen hätte fallen sehen. In einem
anderen Stücke sollte eine Person vom König Wilhelm sprechend sa¬
gen: „Er spielt die Violine wie ein Engel." Diese Phrase wurde
unterdrückt. Die Censur streicht unerbittlich alle gemeinen oder gott¬
losen Ausdrücke, deshalb duldet sie nicht die Worte: „Bei meinem
Blut und meiner Seele!"; sie verwehrt den unnützen Gebrauch des
Namens Gottes, jede den religiösen Meinungen zuwiderlaufende
Stelle, jeden Fluch: Goddam u. f. w. Nach der Ansicht der Cen-
soren darf die Tragödie den Namen des höchsten Wesens anwenden,
die Komödie niemals. Mitunter, sagt Charles Kemble, streicht die
Censur sehr schwach frivole Sachen und beweist damit mehrPrüderie
und Bigotterie als Erhabenheit des Geistes. Einer von den ver¬
nommenen Censoren hat Nichts dagegen, daß ein Liebhaber zu seiner
Geliebten „mein Engel" sagt, aber ein Anderer, George Colmar,
widersetzt sich dem durchaus, als einer Verletzung des Heiligen; er
verwirft das Wort Schenkel als indecent und verdammter Ko¬
bold als Blasphemie. Der Zeuge, welcher diese Thatsachen zur
Sprache bringt, ist der fruchtbare Moncriff, Verfasser von zweihun¬
dert Theaterstücken, welche alle censirt worden sind. Nun hat aber
derselbe George Colmar, welchen der unschuldige Ausdruck Engel
empört, selbst für's Theater geschrieben und sich dabei nicht immer
so ängstlich bewiesen. Der Präsident der Untersuchung machte sich
das boshafte Vergnügen, ihn daran zu erinnern, und spannte ihn un¬
ter dem Vorwande der Information durch folgende Unterredung auf
die Folter: Der Ausschuß hat erfahren, daß Sie in einem Stücke
das Wort Engel als Epitheton für eine Frau gestrichen haben. —
Ja, in der That, weil ein Engel zwar eine Frau ist, wenn Sie
wollen, aber eine himmlische Frau. Es ist eine Anspielung auf die
Engel der Schrift, welche himmlische Körper sind. Alle Personen,
welche die Bibel gelesen haben, wissen es, und wenn Sie eS nicht
wissen, verweise ich Sie auf Milton. — Erinnern Sie sich der Stelle,
bei welcher Sie das Wort gestrichen? —Nein, ich kann mein Gedächt¬
niß nicht mit all vergleichen Sachen belästigen, ich weiß nicht, ob es
mir passirt ist, daß ich einen oder zwei Engel unterdrückt habe, aber
es hat den Anschein, als habe ich es das eine oder das andere Mal
gethan. — Die Engel Milton's sind keine Damen (I-ulivs). — Nein,
aber einige Engel der heiligen Schrift sind es, glaube ich. — Gesetzt
den Fall, Sie entschlössen sich eines Tages, in irgend einer Oper oder
Posse einen Engel durchzulassen, welches wäre nach Ihrer Ansicht
der Eindruck, welcher dadurch auf das Publicum hervorgebracht wer¬
den würde? — Das kann ich nicht gerade sagen, ich kann das Herz
derer nicht ergründen, welche auf der Gallerte, in den Logen oder im
Parterre sind ... — Wie vereinbaren Sie aber Ihre Ansichten von
heute damit, daß Sie selbst in einigen Ihrer am meisten applaudir-
ten Stücke Worte gebraucht haben, welche Sie gottlos finden, und
Flüche, welche Sie empören? — Wäre ich der Censor derselben ge¬
wesen, so hätte ich sie gestrichen und ich würde es auch jetzt thun.
Damals war meine Stellung eine andere; ich war ein schlüpfriger,
leichtfertiger Autor, heute bin ich der dramatische Censor. Damals
trieb ich mein Geschäft als Autor, heute als Censor. — Glauben
Sie, daß diese Ihre Stücke, welche so viel Beifall gehabt haben, und
die Sie jetzt nicht mehr ändern können, die Sitten untergraben haben?
— Geläutert haben sie die Sitten gewiß nicht, und es thut mir Leid,
daß ich diese Profanationen hineingesetzt habe. In Beziehung auf die
Moral wird man erst mit den Jahren weise und ich würde sehr
glücklich sein, wenn ich meinen Geist von der Erinnerung an jene
Thorheiten befreien könnte. — So thäte es Ihnen also Leid, der
Verfasser von John Bull zu sein? — Nein, gewiß nicht, das ist et¬
was ganz Anderes. Ich kann keine Reue darüber empfinden, einen
guten Pudding gemacht zu haben; aber wenn er einige verdorbene
Rosinen enthält, so möchte ich dieselben gern daraus entfernt wissen!
Die Untersuchungscommission machte in Betreff der Censur kei¬
nen Vorschlag; sie begnügte sich, der Erhebungsart der von den Be¬
amten des Lordkämmerers zu empfangenden Taren ihre Aufmerksam¬
keit zu schenken. Die Bill von 1840 hat das bis dahin üblich ge¬
wesene System sanctionirt und geregelt. Nach den Bestimmungen
dieser Bill muß eine Abschrift jedes neuen dramatischen Werkes oder
jedes Actes, jeder Scene, jedes Fragmentes, das einem alten Stücke
hinzugefügt werden soll, dem Lordkämmerer mindestens sieben Tage
vor der ersten Vorstellung mit Angabe des Theaters und des Tages,
wo man sich vornimmt, es aufzuführen, übergeben werden, und die
Darstellung desselben kann immer, vor oder nach diesen sieben Tagen,
verboten werden. Für die Prüfung muß eine Gebühr bezahlt wer¬
den, welche zwei Guineen nicht überschreiten kann und zugleich mit
der Eingabe der Abschrift zu erlegen ist. Das Verbot kann jedesmal
ausgesprochen werden, sobald der Lordkämmerer glaubt, daß es im
Interesse der guten Sitten, des Decorums oder der öffentlichen Ruhe
erheischt wird (lor edle xioserviltion ok mimnvrs, tlecorum »r
lit' tke public pe-kee); dasselbe kann absolut oder zeitweilig sein, und
alle Theater Großbritanniens oder blos einzelne betreffen. Wer ein
verbotenes Werk aufführt oder auch nur ein nicht vorgelegtes, unter-,
liegt einer Strafe, welche sich auf fünfzig Pfund Sterling belaufen
kann, und die Autorisation wird dem Theater entzogen. Unter der
Bezeichnung dramatisches Werk sind begriffen: Tragödien, Komödien,
Possen, Opern, Vaudevilles (burlett-is), Zwischenspiele, Melodramen,
Pantomimen und andere für die Bühne bestimmte Productionen, so¬
wohl in ihrem Ganzen als theilweis.
Man kann sich nicht mit den Interessen des Theaters beschäfti¬
gen, ohne sich auch um die der dramatischen Autoren zu kümmern,
welche eng damit verknüpft sind. In dieser Beziehung hatte die Ge¬
setzgebung von 1833 für das literarische Eigenthum die tadelnswür-
digste Gleichgiltigkeit gezeigt. Es war nicht nöthig, vor der Auffüh¬
rung seines Stückes vom Autor die Erlaubniß zu erwerben, noch
brauchte man ihm, wie in Frankreich, für jede Vorstellung irgend eine
Gebühr zu zahlen. Der Verfasser erhielt nur von dem Theater eine
Vergütigung, welchem er sein Manuscript überlieferte, und mit dem
er unterhandelte. Die Provincialtheater glaubten sich, u„d waren
in der That berechtigt, jedes in London schon gegebene Stück zu spie¬
len, und die Theater von London gaben jedes schon veröffentlichte
Werk, weil dasselbe in diesem Falle als allgemeines Eigenthum be¬
trachtet wurde. Um die Ausübung dieses Rechtes, wenn man so ei¬
nen wahrhaften Diebstahl nennen will, hinauszuschieben verlangte
das Theater, welches mit dem Autor unterhandelte, daß er sein Werk
nicht unter drei Monaten veröffentliche; aber gegen O'Keese hatte
das Gericht entschieden, daß eine Vorstellung auch schon als Ver¬
öffentlichung zu betrachten sei, daher bemächtigten sich während der
Vorstellung im Theater Stenographen des Stückes; ein Centralbureau
verkaufte es und es wurde überall ungehindert gegeben; ganz natür¬
lich ließen die Direktoren es an sich kommen, mit dem Autor zu un-
terhandeln. Die Kopien wurden zu zwei bis drei Pfund verkauft,
und diese Piratenindustrie bereicherte die Stenographen und die an¬
deren Theater, indem sie den unglücklichen Autor ruinirte. Deshalb
beklagten sich die dramatischen Schriftsteller auch aufs Lebhafteste und
verlangten einstimmig, daß das französische Gesetz angenommen werde.
Die schreiendsten Thatsachen wurden angeführt. Masaniello, der
mehr als hundert und fünfzig Mal in Drurylane aufgeführt worden
war, hatte seinem Verfasser nicht einen Shilling eingebracht. Nach
der Uebereinkunft sollte derselbe für drei Vorstellungen bis zur zwan¬
zigsten fünfzig Pfund bekommen; aber da der Unternehmer bankerott
gemacht hatte, bevor er seine Verbindlichkeiten gehalten, wiesen seine
Nachfolger jede Solidarität zurück und fuhren fort, das Stück zu ge¬
ben, ohne dafür etwas zu zahlen; sie beriefen sich auf den Gebrauch,
welcher das Eigenthum eines Stückes dem Theater übertrug, auf
welchem es einmal dargestellt worden war. Auf diese Weise, sagte
der als Zeuge vernommene Autor, haben mir meine Werke nach den
größten und legitimsten Erfolgen nur Verdruß und Erniedrigung ein¬
gebracht. Ich habe von Woche zu Woche elende Summen von zehn
Pfund für meine Nachtwachen erbetteln müssen und ich gestehe, daß
ich unter dem Gewichte dieser abscheulichen Unbilligkeit erliege. Man
hat mir gesagt, daß der Kanzleihos fortan meine einzige Zuflucht sei;
aber ich weiß wohl, daß ein armer Teufel, wie ich, sich nicht auf
Prozesse einlassen kann. Ein anderer Autor, Jerold, beklagte sich
über ähnliche Spoliationen; eines seiner Werke, IKo blanke^e«! ac-
20tira, das vierhundert Mal in einem Jahre gespielt worden ist, hat
ihm nur sechzig Pfund eingebracht. Er hatte um eine ausnahms¬
weise Entschädigung gebeten, aber Coventgarden nahm diese unver¬
schämte Prätention höchst ungnädig auf. Eines von den patentirter
Theatern hatte ein Stück von Moncriff von einem Theater zweiten
Ranges entnommen, der Verfasser wollte es verklagen; unglücklicher
Weise mußte er zuvörderst achtzig Pfund Gerichtskosten herbeischaffen;
da er dies nicht konnte, so verzichtete er darauf, sich Gerechtigkeit zu
verschaffen. Moncriff, dieser Verfasser von mehr als zweihundert
Stücken, war von Drurylane auf zehn Jahre für vierzig Shillinge
die Woche engagirt, um Dramen und Possen »'U verfassen oder viel¬
mehr zu improvisiren; man bestellte sie bei ihm nach Bedürfniß, mit¬
unter erst vierundzwanzig Stunden vorher. Eines von diesen Stücken,
das dreihundert Mal gespielt wurde, brachte ihm zweihundert Pfund
ein. Wenn man mir nur für jede einzelne Vorstellung, sagte er, einen
Thaler gäbe, würde ich, anstatt zu den Aermsten meines Vaterlandes
zu gehören, einer der Reichsten sein.
enmute
eeatandeCommission frappiren; sie erklärte
daß die Autoren der unbilligsten, unerträglichsten Bedrückung Preis
gegeben seien, und bewies, daß das Interesse der dramatischen Lite¬
ratur durch dies räuberische Verfahren in gleicher Weise gefährdet
sei. Im Vergleich zu der Stellung, welche andere Schriftsteller ein¬
nehmen, sei der Verkehr mit den dramatischen Autoren so traurig,
daß bedeutende renommirte Männer von der theatralischen Carriere sich
ganz abwenden müßten. Die Commission bestand daher darauf, daß
dem dramatischen Autor dieselben Garantien für das Eigenthum sei¬
nes Werkes gegeben würden, als dem Verfasser jedes anderen Wer¬
kes, und daß sein Werk weder in London, noch auf sonst einem
Theater der Provinz ohne seine formelle und ausdrückliche Geneh¬
migung gespielt werden könne. Man wollte unmittelbar diesen nicht
zu entschuldigenden Mißständen Abhilfe verschaffen uno in der folgenden
Berathung stellte eine von Hrn. L. Bulwer vorgeschlagene und am w.
Juni 1833 definitiv angenommene Bill fest, mit Anwendung des
Prinzipes, vermöge welches die Schriftsteller zum Druck ihrer Werke
lebenslang und mindestens achtzehn Jahre nach der ersten Publication
das ausschließliche Recht haben: die dramatischen Schriftsteller sollten
während gleicher Zeit einzig und allein das Recht genießen, auf den
Theatern Großbritanniens und der ihm untertänigen Länder die
Werke ihrer Erfindung zur Darstellung zu bringen oder bringen zu
lassen. Den Contmvenienten wurde eine Entschädigung nach Ver¬
hältniß des usurpirter Gewinnstes oder des vom Autor erlittenen
Nachtheiles auferlegt; diese Entschädigung darf jedoch nicht unter
vierzig Shilling sein. Die Bill selbst gab indeß kein Mittel zur Ein¬
treibung der Antheile an, welche festzustellen sie bestimmte.' Um dazu
zu gelangen, haben die dramatischen Autoren sich zu einer Gesellschaft
vereinigt und in allen Städten des Königreichs Agenten ernannt.
Diese Association autorisire die Theaterunternehmer, die Stücke ihrer
Mitglieder für die Bezahlung nach einem Tarif zu spielen, dessen
Minimum sieben Shilling sind; indessen hat eine ziemliche Anzahl
Autoren und unier anderen Sheridan Knowles nicht Theil daran
nehmen ^wollen und haben für sich besondere Agenten ernannt zur
Wahrung ihrer Interessen.
Dieses neue Verfahren hat die Lage der Autoren ändern müs¬
sen, aber gewisse durch die Untersuchung von 1832 entdeckte Mi߬
bräuche haben wahrscheinlich noch fortgedauert. So haben die Thea¬
ter von London weder Comites, noch bestellte Lectoren, um über den
Werth der Werke ein Urtheil zu fällen. Der Director zieht zu Rathe,
wen es ihm beliebt, wendet sich jedes Mal an einen anderen Prü¬
fenden, und wenn es sich nicht um einen Autor oder um ein Werk
handelt, das ganz und gar eine Ausnahme macht, so läßt er sich
nach einander die Ansicht von mehreren Personen mittheilen. In der
Untersuchung sind die Schauspieler als wenig zuverlässige Richter
hingestellt; sie täuschen sich, sagt man, häufig und beurtheilen die
Bühncneffecte falsch. Ein Zeuge gibt den Grund dafür an, daß sie
die launenhaftesten Geschöpfe der Erde sind. Der Autor bleibt Ei¬
genthümer seines Manuskriptes und verkauft es selbst an den mit
der Herausgabe beauftragten Verleger; nur dann ist der Werth des¬
selben ein ganz nichtiger. Vor dreißig Jahren waren hundert Pfund
Sterling für ein dargestelltes Stück ein sehr mäßiger Preis, heute
aber erhält man kaum zehn Pfund und häufig gar Nichts dafür.
Seit die fremden Stücke in's Englische übersetzt sind, ist der Preis
des Manuscriptes fast auf Nichts gesunken; nur zur Noth hat She-
ridan Knowles das des Hunchback, der einen großen Erfolg gehabt
hat, verkaufen können. Man betrachtet die dramatischen Werke nicht
mehr als zur eigentlichen Literatur, als zu denen gehörig, welche in
den Bibliotheken ihren Platz finden. Was die Vortheile anbetrifft,
welche für den Autor aus der Darstellung hervorgehen, so scheinen
die Gewohnheiren durch die neuen Gesetzbestimmungen Nichts ge¬
ändert zu haben. Coventgarden bewilligte im Allgemeinen für jedes
Stück hundert Pfund bei der dritten Aufführung, hundert bei der
sechsten, hundert bei der neunten und hundert bei der vierzigsten. Aber
es ist selten, daß es zu der letzteren Zahl kommt; der höchste für eine
Tragödie oder Komödie gegebene Preis überstieg nicht neunhundert
Pfund. Im Allgemeinen gab man dem Verfasser einer Opernmustk
Nichts; indessen hatte Weber von dem für den Oberon gegebenen
Preise fünfhundert Pfund bezogen. Auf demselben Theater brachte
ein dreiactiges, aus dem Französischen übersetztes Stück im Falle des
Erfolges zweihundert bis vierhundert Pfund ein. Drurylane bewil¬
ligte dreiunddreißig Pfund, sechs Shilling, acht Pence für jede Dar¬
stellung bis zur neunten und einen Nachschuß von hundert Pfund
bei der zwanzigsten. In den sechs der Untersuchung vorhergegange¬
nen Jahren hatten die beiden großen Theater jedes fünfzehnhundert
Pfund an Autorenantheil ausgegeben. Die Theater zweiten Ranges
hatten andere Tarife. DaS Citytheater gab zehn Pfund für das Stück,
das Coburgtheater zwanzig bis fünfundzwanzig Pfund, niemals dar¬
über; mitunter gab man den Verfassern eine Guinee oder eine halbe
Guinee für die Vorstellung, aber keine Benefizvorstellung. Die Pos¬
sen brachten gewöhnlich fünfzig Pfund in drei Vorstellungen. Nach
mehreren Aussagen hatte kein Autor in einem Jahre mehr als fünf
tausend Pfund bezogen. Indeß beklagten sich die Schriftsteller weni¬
ger über die Mäßigkeit deö Tarifs, als über die Schwierigkeit, ihre
Stücke zur Aufführung zu bringen. Coventgarden und Drurylane,
die früher regelmäßig in jeder season zwei oder drei Komödien und
eine große Anzahl legitimer Possen darstellten, gaben fast keine Neuig¬
keiten mehr. Man gab alljährlich beim Director von Haymarket
hundert bis hundert und fünfzig Stücke ein, und er spielte um fünf
oder sechs. In Summa also, abgesehen von . den Mißbräuchen, welche
die Bill von I8Z3 abzustellen versucht hat, scheint das Theater we¬
nig ergiebig für die Schriftsteller, die Bill hat nothwendigerweise ihre
Lage verbessert, indem sie den Spoliationen ein Ziel setzte: wir zwei¬
feln indessen, ob sie zu ihrem Vortheile Hilfsquellen geschaffen hat,
welche der sehr precäre Zustand der dramatischen Schriftsteller hätte
erwarten lassen.
Die Untersuchung von 1832 ergab außerdem noch bemerkens-
werthe Data über die Schauspieler. London besitzt keine dramatische
Schule, kein Institut, ähnlich dem Pariser Conservatorium und sei¬
nen Klassen für Declamation und Musik. So bilden sich daselbst
auch keine Darsteller für das classische Repertoire, Shakspeare, Ot-
way u. s. w. Die Provinzialtheater dienen als Pflanzschule für die
Hauptstadt, York, Bath, Dublin und Liverpool haben den Ruf, die
besten Schauspieler zu bilden. Kean ist auf den Prövinzialtheatern
erzogen.
Die Stellung der Schauspieler ist im Allgemeinen unsicher, schwie¬
rig und gar wenig beneidenswerth; weit entfernt davon, sich zu ver-
bessern, ist sie unter dem Einflüsse gewisser Vorurtheile, welche täglich
tiefer wurzeln, kritischer geworden. Ihre Entmuthigung schimmert durch
ihre Aussagen hindurch. Wer etwas Anderes thun kann, sagt Ma-
cready, wirst sich nicht in die undankbare Theaterlaufbahn. Während
die großen Schauspieler Gesetze vorschreiben, müssen die mittelmäßigen
sie sich vorschreiben lassen. Um die ersten Nollenspieler streitet man
sich und die zweiten geben sich mit Rabatt fort, eine doppelte Folge
der übertriebenen Concurrenz. Die Theater, welche überall eröffnet
werden, degradiren nach der Aussage eines der Schauspieler die
Profession; sie versehen sich mit einem Eliteschauspieler, welchen sie
ihren Stern (for) nennen, und der Rest der Truppe ist elend. Die
Schauspieler der großen Theater haben nicht das Recht, auf Bühnen
zweiten Ranges zu spielen; sie sind gehalten, sich dazu mit einer spe¬
ziellen Erlaubniß zu versehen, welche ihnen übrigens gewöhnlich er¬
theilt wird. Es hat eines Befehles des Lordkämmerers bedurft, da¬
mit Coventgarden und Drurylane gezwungen würden, ihre Schau¬
spieler während ihrer Ferien vom 3l). Juni bis 30. September auf
Haymarket spielen zu lassen. Die beiden patentirter Theater waren
übereingekommen, daß sie die Schauspieler, welche ihre respectiven
Truppen verlassen, nicht früher engagiren wollten, als eine season
nach ihrem Abgange. Außerdem hatten sie sich auch verbündet, um
die Gehalte zu limitiren, aber Drurylane hat zuerst diese Verpflich¬
tung verletzt.
Ueber die gewöhnlichen Einkünfte der Schauspieler haben sich
keine genauen Schätzungen ergeben. Ein Regisseur behauptet, daß
alle bei den großen Theatern angestellten, wenn sie ihre Ausgaben
regelten, wenn auch nicht sich bereichern, doch wenigstens ein unab¬
hängiges Vermögen sich erwerben können; aber er hat keine genauen
Thatsachen angegeben und zur Unterstützung dieser unbestimmten Be¬
hauptung keine Berechnung mitgetheilt. Die Schauspieler werden im
Allgemeinen wöchentlich bezahlt, einige für die einzelnen Borstellun¬
gen. Kean hat zwei Jahre in Haymarket für fünfzig Pfund die
Woche gespielt; ein anderes Jahr bekam er nicht mehr als dreiund-
dreißig ein drittel Pfund und im vierten nur dreißig Pfund. Das
Coburgtheater gab damals sechzig Pfund für die Vorstellung an sei¬
nen besten Schauspieler. In der Provinz ist indessen die Lage der
Schauspieler noch trauriger, als in der Hauptstadt, Ihr höchstes
Gebalt bei den Theatern ersten Ranges übersteigt nicht drei Guineen
für die Woche; von dieser Summe müssen sie außerdem noch ihre
Reisekosten von Stadt zu Stadt bestreiten, sowie den Ankauf und die
Instandhaltung ihrer Kostüme. Die wandernden Schallspieler sind
den Reglements der Jahrmärkte unterworfen; sie nehmen von den
Localbehörden Erlaubnißscheine. Obgleich sie nicht zahlreich sind,
sterben sie vor Hunger, — aber, sagt ein Zeuge, sie sind mäßig. — Die
Provinzialtheater, fügt einer der ausgezeichnetsten wandernden Schau¬
spieler hinzu, haben mich und meine Familie niemals ernährt. Ich
war stets bei den unzureichenden Hilfsquellen, welche sie mir darbo¬
ten, in Noth. Die großen Theater senden nach allen Theilen Eng¬
lands Leute zur Aufsuchung von Talenten und rekrutiren sich aus
den Provinzialtruppen, welche für eine bessere Schule gelten, als die
Theater zweiten Ranges von London; indeß kann nicht ein Sechstel
der guten Schauspieler auf ein Engagement in Coventgarden oder
Drurylane, das letzte Ziel ihres Ehrgeizes, hoffen.
Bei allen diesen Verhältnissen, welche wir geschildert haben, lei¬
den die Theater und machen vergebliche Bestrebungen, dem Ruine zu
entgehen. Die Londoner sind in dem beklagenswerthesten Zustande;
merkwürdiger Weise geht die Masse des Publicums hauptsächlich nach
dem Italien-Opera-House und dem l'tMtre in»-.«.-.-««, und auf den
Bühnen zweiten Ranges sind die meisten der aufgeführten Stücke
Übersetzungen aus dem Französischen. Von den beiden National¬
theatern ist das eine zu wiederholten Malen geschlossen worden:
Coventgarden nämlich; das andere, Drurylane, hat trotz der Direk¬
tion Macready'ö keine guten Geschäfte machen können. Die Unter¬
suchung von 1832 hat den Gang und die Ursachen dieses Verfalls
enthüllt. Schon zu jener Zeit unterlag Drurylane einer Schuldenlast,
die auf sechs bis sieben Millionen Pfund Sterling geschätzt wurde.
Von 1809 bis 1832 waren die Einnahmen von Coventgarden be¬
ständig gesunken, in den zehn ersten Jahren dieses Zeitraumes war
die Durchschnittseinnahme dreiundachtzig bis vierundachtzig tausend
Pfund Sterling jährlich, in den letzten zehn war sie auf dreiundfünfzig
bis vierunvfünfzig tausend herabgesunken. Die blühendste Periode war
die von 18IV bis 181b, gerade die Zeit der nationalen Bestrebun¬
gen und Opfer, aber auch des inneren Flors Englands, was einen
Zeugen zu sagen veranlaßt, die Rückkehr des Friedens habe die
Quellen des öffentlichen Wohlergehens in England verstopft.
Die Allsgaben, welche die Ausbeutung eines Theaters in Lon¬
don erheischt, sind übertrieben. Bei den großen Theatern ist die
Größe ihrer Lasten vorzüglich einem zu zahlreichen Personale zuzu¬
schreiben. Wahrend in Adelphi die ganze Truppe alle Abende er¬
scheint, wird in Drurylane und Coventgarden kaum ein Drittel bei
jeder Vorstellung benutzt, die Uebrigen bleiben müßig, lind doch müs¬
sen, mit wenigen Ausnahmen, die Schauspieler stets bezahlt werden,
sie mögen nun thätig sein oder nicht. Da die Vorliebe für die Oper
so allgemein verbreitet ist, müssen diese Theater zwei Truppen auf
einmal unterhalten, woraus hervorgeht, daß im Falle eines vorzüglü-
chen, andauernden Erfolges einer Oper oder einer Tragödie, die dann
alle Abende gegeben wird, die eine Truppe zu einer unnützen Last
werden muß, welche ohne irgend eine Compensation auf dem Bud¬
get lastet.
Das Bedürfniß, große Eiimahmen zu machen, verdammt die
großen Theater, zu Mitteln ihre Zuflucht zu nehmen, welche die Neu¬
gier des Publicums reizen; sie würden sich nicht halten können, wenn
sie sich auf Tragödien und Komödien beschränkten; daher geben sie
Pantomimen, Ballets, Spektakelstücke, Farcen; besonders die Pantomi¬
men haben die Tugend, die Menge anzulocken, namentlich zu Weih¬
nachten. Seit der Wiedereinrichtung von Drurylane im Jahre
bis 4821, hat das Unternehmen durch das legitime Drama sich nicht
um einen Shilling verbessern können, alle Vortheile sind durch die
Weihnachtspantomimen erlangt worden. Man hat die Theater in
förmliche Menagerien umgewandelt, zum großen Aergerniß der Freunde
der nationalen Schaubühne sind Tiger und Löwen in Coventgarden
und Drurylane eingeführt worden und haben daselbst unwürdige Er¬
folge gehabt. Nach den Farcen sind die populärsten Stücke diejeni¬
gen, wo das Verbrechen in seiner ganzen Nacktheit dargestellt wird;
Mordscenen locken und fesseln das Publicum vorzugsweise, das Par¬
terre, welches gewöhnlich sehr lärmend ist. wird augenblicklich still und
aufmerksam, sobald die Klinge eines Dolches vor seinen Blicken
glänzt; das ist das große Verdienst Macbeths, der Grund zu dem
Glücke des ThurtilltheaterS, das unaufhörlich die blutigsten Dramen
darstellt. Dabei hat es den Anschein, als ob während der Ent¬
würdigung der großen Theater die Theater zweiten Ranges einen
höheren Charakter annähmen; vor dreißig, vierzig Jahren noch gab man
daselbst Stücke, wie sie kaum auf den Brettergerüsten der Jahrmarkt-
bühnen geduldet werden. Seitdem haben sich indeß die Autoren
minder scrupulös, die Direktoren strenger gegen ihr Repertoire gezeigt
und manche Stücke haben Erfolg genug gehabt, bei den großen Thea¬
tern Neid zu erregen, welche sich derselben bemächtigt haben und in
der Aufführung derselben concurriren.
Allen Bestrebungen aber zum Trotz scheint das Publicum sich
immer mehr vom Theater zu entfernen. Früher ließ der König und
seine Familie ihm anerkannte Protection zu Theil werden, sie wohn¬
ten mindestens einer Vorstellung wöchentlich bei, und der Hof ahmte
ihrem Beispiele nach. Diese Sitte eristirt nicht mehr, die Hinaus¬
schiebung der Stunde des Diners hält die Aristokraten und die rei¬
chen Klassen der Gesellschaft in ihren Häusern zurück; um ihren Ge¬
wohnheiten sich anzubequemen, müßte man um zehn Uhr die Vor¬
stellungen beginnen, aber dann würden die unteren Klassen dabei
wieder fehlen. Daher ist es in der vornehmeren Gesellschaft Mode,
nicht in's Theater zu gehen; man wohnt den Morgenconcerten bei,
liest zu Hause bei sich die beliebten Stücke und wünscht gar nicht,
sie spielen zu sehen; die Schaulust des Publicums, sagt man, ist er¬
kaltet. Andere Hemmnisse legt der Sectengeist und Rigorismus der
Sitten in den Weg, die Theater werden häufig aus Religionsmoti-
vcn geschlossen. In Cambridge konnte lange Jahre hindurch kein
Theater Erlaubniß bekommen, selbst nur während der UniversMöfe-
rien und zum ausschließlichen Vergnügen der Einwohner der Stadt
zu spielen. Nach Kean's Ansicht sind die Engländer keine Theäter-
nation, und die Kunst ist mehr als jemals in Verfall. Die Autoren
gehen von edlen und erhabenen Stoffen ab, um secundäre Fächer zu
bearbeiten, oder verzichten ganz auf'ö Theater, zu Gunsten der perio¬
dischen Presse oder der Romane.
Folgender Art ist also im Ganzen der Zustand des Theaters in
England: keine Bühne wird ohne obrigkeitliche Autorisation dem
Publicum geöffnet; keine Darstellung findet statt, wenn das Werk
nicht vorher censtrt ist. Die Autoren, welche lange Zeit Gegenstand
der schreiendsten Erpressungen waren, haben endlich den Schutz eines
Gesetzes erlangt; die auf sich selbst angewiesenen Schauspieler sind
meistens arm und unglücklich. Die dramatischen Unternehmungen
kränkeln, die Kunst wird nicht ermuthigt, das Publicum wendet sich
immer mehr vom Theater ab.
Dem Odeon-Theater scheint sein antiker Name Glück zu brin¬
gen. Seine der Antiquität entnommenen Stücke schlagen ein; zuerst
der reiche Succes von Ponsard's Lucretia und nun die nicht minder
glückliche Antigone. Daß die alte Sophokleische Tragödie in Paris
gefiel, ist weniger Wunder, als ihr Succes in Deutschland. -Frank¬
reich hat seine dramatische Literatur an dem antiken Drama aufge¬
saugt und wird daher immer eine warme Vorliebe für seine Amme
behalten. Deutschland hingegen ist an der Brust der Romantik her¬
angewachsen, die antike Tragödie wird ihm daher immer nur eine
Kuriosität bleiben; der Philolog, der Archäolog wird sich daran er¬
götzen, der große Haufe wird aus Modesucht eine Zeitlang Chorus
hinterher machen, aber die Masse wird sich nie daran erwarmen, un¬
ter dieser Masse meine ich nicht blos den gemeinen Haufen, sondern
auch die Gebildeten. Von dem Succes in Berlin, Frankfurt :c. ist
ein großer Theil auf die Rechnung der Mendelssohn'schen Musik zu
schreiben, der Succes in Paris hingegen galt blos dem Stücke, und
die Musik wurde blos in den Kauf mitgenommen, nicht ganz ohne
Opposition. Heine wird dieses schlagender commentiren, als ich es
vermag, und ich will Ihre Leser daher auf einen Artikel verweisen,
der in wenigen Tagen in der Augsburger Allgemeine» Zeitung unter
dem sogenannten Bierschild-Zeichen erscheinen wird. Jemand fragte
Heine, warum er seine scharfen, spirituösen Dinge unter einem Bier¬
schild zu Markte bringe. — Weil ein Bierschild, antwortete er,
„das lockendste Zeichen für die Deutschen ist, und die neuesten Mün¬
chener Erfahrungen beweisen, daß deutsche Revolutionen nur aus den
Bierfässern abgezapft werden; man will auch seitdem die Zapfen¬
streiche durch das viel ruhigere Wort Nachtruhesignal ersetzen, wie
in Zeitungen zu lesen ist. — — Die Industrie-Ausstellung hat im
Laufe des Mai Menschen aus der Provinz hierher geführt
und, gering angeschlagen, würde diese Zahl bis zu Ende der Ausstel¬
lung im Monat August an 60l1MV betragen. Jemand hat nun
dabei folgende Berechnung gemacht. Wenn durchschnittlich jeder dieser
Fremden nur tW Franken während seines Aufenthalts in Paris ver¬
zehrt hat (was gewiß eine sehr geringe Durchschnittssumme ist), so
bringt die Industrie-Ausstellung durch ihre Besucher blos eine Summe
von 60 Millionen Franken nach Paris. Nun schließe man, wenn
der Friede in Europa erhalten wird, auf den Ertrag der nächsten
Ausstellung in fünf Jahren, wo doch wenigstens fünfzehnhundert bis
zweitausend Exponenten mehr sein werden. Die großen Eisenbahnli¬
nien und ihre Seitenzweige, entweder ganz oder theilweise vollendet,
müssen durch Schnelligkeit und Wohlfeilheit die Reise einer noch viel
größern Zahl von Menschen möglich machen, und es ist kein ungezie¬
mendes Verhältniß, wenn man dann auf zwei bis drei Millionen
Fremde rechnet. Zwei bis drei Millionen Menschen, — was bringen
diese für ein Kapital nach Paris! Ich führe diesen Calcul blos an,
weil es auch für andere Städte, wenn auch in geringeren Proportio¬
nen, paßt, namentlich für Berlin, das ja auch in diesem Momente
seine Exposition ausschreibt. — Während die englischen Journale
über die Brochure des Prinzen Joinville Zeter schreien und darin eine
politische Manifestation gegen England erblicken, würden die russischen
Journale, wenn es solche gäbe, welche diesen Namen verdienen, mit
nicht mindern Recht die politische Manifestation hervorheben, welche
dieser Tage im illo-etre I^iaiic-us stattfand, ich meine die Aufführung
des Dramas Katharina II., von Hippolyte Romand. Die famö-
sen Liebesgeschichten dieser Kaiserin sind schon oft von französischen
Bühnendichtern bearbeitet worden. Namentlich hat Dumolard, ein
sehr achtbarer Schriftsteller, ein vortreffliches Drama geschrieben. Aber
die Censur der Kaiserzeit und der Restauration erlaubte die Erschei¬
nung der famosen „nordischen Semiramis" auf der Bühne nicht.
Nun wird plötzlich ein ähnliches Stück auf dem ersten Theater
Frankreichs, gewissermaßen auf der officiellen Bühne der Nation, ge¬
geben. Katharina ist verliebt in den im Gefängnisse zu Schlüsselburg
eingesperrten Prinzen Iwan von Rußland (der bekanntlich von der Kai¬
serin Anna zum Nachfolger erklärt wurde und auch die Huldigung
erhielt, aber von Elisabeth und Katharina it. verdrängt und ins Ge¬
fängniß geworfen wurde), aber Orloss kommt dahinter, und nach ei¬
ner Reihe von drastischen Scenen, in welcher namentlich jene, wo
Orloff dem Gefangenen das Leben und die Verbrechen der Kaiserin
erzählt, von ungemeiner Wirkung ist, fallt Iwan unter den Strei-
chen seines Feindes. Die Rachel spielte die Kaiserin, aber nicht mit
Glück. Katharina ist von dem Dichter in jenem Alter dargestellt, in
welchem ein bewährter Maler sie unter der Gestalt einer Nymphe
zeichnen wollte, welche in der einen Hand Blumenketten hält, indeß
sie mit der andern eine brennende Fackel hinter ihrem Rücken versteckt.
Die brennende Fackel gelang der Rachel, die Blumenkette nicht. Zu¬
dem war sie offenbar ihres Erfolgs in dem neuen Genre nicht sicher;
deswegen sollen, wie ich höre, die folgenden Vorstellungen besser reus-
sirt haben. Zwar und Orloff sind zwei glänzende Rollen, wovon
die letztere jedoch schlecht gespielt wurde. Das Stück wird übrigens
auch, in Prosa übersetzt, auf deutschen Bühnen Glück machen, d. h.
wenn die Censur es zuläßt. Und warum sollte sie nicht? — —
— Die Berliner Correspondenten müssen gar fürnehme große
Herren sein. Kaiser Nikolaus war kaum vier und zwanzig Stunden
in Berlin, und schon findet man in allen Zeitungen sichere Anzeichen,
daß er mit jenen Herren den vertrautesten Umgang gepflogen. Woher
wüßten sie sonst so genauen Bescheid über jeden seiner Schritte? Der
Eine meldet, wie viel Glas Wein er getrunken; der Andere, wie lang
er bei Tisch gesessen; der Dritte sagt auf die Minute, wann sich der
Czar zu Bett gelegt und wie das Bett ausgesehen hat; der Vierte
fährt mit ihm nach Potsdam und beobachtet das Gesicht, das die
beiden Monarchen machen; der Fünfte sieht ihn bis Mitternacht ei¬
genhändig Noten schreiben (diplomatische nämlich) und findet ihn dann
noch sehr guter Laune; der Sechste überrascht mit ihm den russischen
Gesandten Graf Meyendors, der in Schlafrock und Unterhosen da-
steht :c. ze. Da man nicht annehmen kann, daß die Berliner Bru-
tusse bei russischen Stallknechten, Kutschern oder Leiblakaien sich devo-
test nach jenen wichtigen Momenten der Zeitgeschichte erkundigt haben,
so steht man deutlich, auf wie freundschaftlichem Fuße sie mit dem
Selbstherrscher aller Reußen stehen, obgleich dies zu ihren sonstigen
Bewußtseinsideen nicht ganz zu passen scheint. Kaiser Nikolaus ist
persönlich jedenfalls eine imponirende Erscheinung; schon die Art sei¬
ner Geschäftsreisen zeigt die große Energie seines Charakters. Es
wäre nur zu wünschen, daß die Andern sich mit ihm messen könnten.
So aber verdirbt er das Metier, um uns populär auszudrücken, und
da Keiner mit ihm concurriren kann, so läßt sich denken, was er
ausrichtet und durchsetzt und wer davon den Schaden hat.
— Bettina's neuestes Buch: „Clemens Brentano's Frühlings-
kranz, ihm gewunden aus Jugendliedern", in Charlottenburg bei Eg¬
bert Bauer gedruckt, ist von der Polizei mit Beschlag belegt worden.
Wir sehen schon, nun wird erst wieder die „tiefere Einsicht und die gro߬
artige Anschauung" des Königs einschreiten müssen, um die kindlichen
Lieder einer geistvollen Frau aus den Handen der Büttel zu befreien.
Von selbst kann die Polizei nicht einsehen, daß, wenn eine Frau ih¬
res Bruders Andenken in schwärmerisch lyrischen Ergüssen feiert, dies
den Staat nicht einreißen wird. O Krähwinkel! Man halt sich eine
Katze gegen Ratten und Mäuse. Die Folge ist, daß besagte Katze
nicht nur die Milchtöpfe leert, sondern oft Kanarienvögel, Tauben
und Papageien für Mäuse ansteht, wenn keine anderen im Hause
sind. Siehe Preßpolizei. —
— Auch die freie Reichsstadt Frankfurt am Main hat wieder
ein Lebenszeichen von sich gegeben. Erst unlängst revoltirten dort die
Schneidergesellen. Das war ein böses Omen; doppelt böse, denn die
Schneidergesellen waren es nicht, die sich lächerlich machten, sie hat¬
ten vielmehr Recht und setzten es durch, daß die Meister sie nicht alle
in eine einzige enge Herberge einpferchen durften. — Jetzt hat die
Polizei der freien Reichsstadt einen Roman von Zirndorfer, wel¬
cher nichts weniger als classisch sein soll, confiscire und den Autor
verhaftet, um ihm wegen „Irreligiosität" und „Unsittlichkeit"
den Prozeß zu machen. Zirndorfer selbst, der vor Kurzem wegen
gewisser Reibungen mit Schauspielern und Sängern in sehr übles
Gerede kam, konnte sich keine bessere Satisfaction wünschen. Nie¬
mand hat seine Feder für mächtig oder seinen Roman für sitten- und
religionsgefährlich gehalten. Nun aber wird er zum Märtyrer promo-
virt, er rangirt beim Publicum mit Gutzkow, seine „Hermine" mit
„Wally", und, während die Kritik sein Buch wahrscheinlich verurtheile
hätte, wird die Publizistik sich seiner lebhaft annehmen müssen. Wir
sind neugierig, wie die Gerichte der freien Reichsstadt sich aus dieser
Klemme herausziehen werden.
— Saphir's Humorist meldet bei Gelegenheit einer Aufführung
des Don Carlos im Burgtheater: Seit zwei Wochen sahen wir sechs
Mal Schiller's Tragödien über die Bretter schreiten und immer das
Theater nicht nur Gallerien, sondern auch Parterre und Logen —
gefüllt, und immer einen solchen lebhaften begeisterten Beifall, wie
man ihn nicht einmal in der — italienischen Oper sieht.
In Frankreich ist wie in England die gesetzliche Eristenz der
Theater einer doppelten Bedingung unterworfen, der Nothwendigkeit
einer speciellen Autorisation und der Verpflichtung, die für die Bühne
bestimmten Stücke vor der Aufführung einer Censur zu unterwerfen.
Dieses Verfahren, welches seit undenklichen Zeiten beobachtet wurde
und nur während der ersten Anfälle des Revolutionsfieberö eine Zeit
lang abkam, ist nicht im Widerspruche mit dem Prinzip der industri¬
ellen Freiheit. Selbst in Beziehung auf Handelsverhältnisse ist die
Concurrenz beschränkt, sobald man voraussetzen muß, daß sie den
allgemeinen und öffentlichen Interessen nachtheilig sein würde; man
kann daher gar nicht in Zweifel stellen, daß es nothwendig sei, den
allergcmcssensten Bedingungen eine Art von Speculaüon zu unter¬
werfen, welche unserer frivolen Gesellschaft ihren vornehmlichsten in-
tellectuellen Nahrungsstoff darbietet.
Mit den Prinzipien der Freiheit, welche durch die constituirende Ver¬
sammlung proclamirt wurden, begann für das Theater eine neue
Aera; die Beschränkungen, welchen dasselbe bisher ausgesetzt war,
wurden damals als ein Angriff und eine Verletzung der triumphi-
renden Theorien angesehen, als ein Hinderniß der Industrie, welche
man zu beleben glaubte, indem man sie von jeder Fessel frei machte.
Das Gesetz vom Z0. Januar 1791 erklärte, daß jeder Bürger ein
öffentliches Theater errichten und darauf Stücke von allen Arten
aufführen lassen könne, und zwar bedürfe es dazu nur einer einfachen
Anzeige bei der Municipalität des Ortes. Nichts war natürlicher,
als daß die theatralischen Unternehmungen sich wie durch Zauber
vermehrten; in Paris zählte man allein während der furchtbarsten
Jahre der Revolution nicht weniger als vierzig. Diese absolute Un¬
abhängigkeit war indessen der Kunst eben so wenig günstig, als der
Industrie mit derselben; trotz der Erfolge einiger schätzenswerthen
dramatischen Erzeugnisse sank die Bühnenliteratur bis zur Erniedrig¬
ung herab. Die Schauspieler, welche damals glänzten, gehörten durch
ihre Bildung noch der vorhergehenden Periode an; die Concurrenz
zwischen den Unternehmern eröffnete einen Abgrund, welcher man¬
ches Vermögen verschlang. In Beziehung auf öffentliche Moral und
Polizei schien das Uebel noch größer zu sein. Man steht, sagte der
Minister des Innern in einem Bericht vom 5. März I8V6, man
sieht jeden Tag in der Hauptstadt eine Menge von kleinen Theatern
sich um eine schwache Einnahme streiten, und um den traurigen Er¬
folg, die unterste Klasse des Volkes durch rohe Darstellungen anzu¬
ziehen, oder die Jugend zu verderben durch angebliche Schulen, welche
der Gesellschaft nützliche Individuen entziehen, ohne der Kunst nütz¬
liche Ausüber zu verschaffen. Man sieht unbekannte Menschen in
den Provinzen Theater eröffnen, Abonnementsgelder einnehmen, An¬
leihen und ungestraft Bankerotte machen, und sich auf Kosten des
Publicums und der Gläubiger bereichern.
Ueber diese Mißbräuche empört, wollte der Kaiser ihnen ein
Ziel setzen; es war dies indeß eine sehr kitzliche Sache, da es sich
um nichts Geringeres handelte, als um die Unterdrückung von Un¬
ternehmungen, welche zufolge eines Gesetzes und unter dem Schutze
desselben gebildet worden waren. Ein energischer Entschluß wurde
dem Kaiser niemals schwer, sobald er die Nothwendigkeit desselben
eingesehen hatte. Am 29. Juli 1807 decretirte er die Reduction der
Theater in Paris auf acht, vier große und vier Theater zweiten
Ranges. Die anderen sollten bis zum 25. August geschlossen werden;
zwei von diesen zu schließenden wurden gleich darauf wieder herge¬
stellt und so besaß denn Paris nur noch zehn Theater -i-).
Die vorhergängige Autorisation der Negierung, die Trennung
der verschiedenen Genres, die Beschränkung der Anzahl der mit einan-
der rivalisirenden Unternehmungen, das sind die drei Regeln, auf
welchen die kaiserlichen Decrete beruhen und die noch heute die ad.
ministrative Basis der Thcaterbeaufsichtigung bilden. Die Nothwen¬
digkeit der vorhergängigen Autorisation beruft die Regie¬
rung, bei der Bildung von Unternehmen einzuschreiten, um zu con-
statiren, daß der Begründer derselben die zum materiellen Erfolge
nöthigen Mittel besitze und um vermöge einer Caution Sicherheit zu
geben für die Ansprüche der als Speculanten oder Künstler bei dem
Etablissement betheiligten Personen und für die Einhaltung der Be¬
dingungen deö Privilegiums. Die Trennung der Genres, welche
jedem Theater einen speciellen Kreis des Darzustellenden zuertheilt,
bereitet dem Publicum Genüsse, welche seiner würdig sind, und ver¬
hindert entmuthigende Profanationen für Theater eines höheren Ran¬
ges. Die Beschränkung der Zahl bringt die Bühnen in Pro¬
portion mit den Bedürfnissen der Bevölkerung und schützt das Gebiet
der Künste vor dem schimpflichen Eindringen der mercantilischen Con-
currenz. Der Kaiser wollte noch mehr, er machte es sich zur edelsten
Pflicht, das Blühen der <)i'<-'-> und des It.vio,» fian^-ni, zu sichern;
er betrachtete sie als National-Jnstitute, deren kostspieliger Glanz auf
Rechnung der egoistischen und kleinlichen Speculation »halten wer¬
den müsse. Er stand daher nicht an^ alle Scenen zweiten Ranges
der Oj^n, tributpflichtig zu machen, und wenn er diese Maßregel
nicht auch zu Gunsten der OkMe^i«; t>n»^i«e ausdehnte, so geschah
es nur deshalb, weil diese damals in einem Zustande merklichen
Gedeihens sich befand. Er theilte dem l'l,^-« ir-in^is und der
Os,!!,-!,, <:«imiP><; wenigstens das Eigenthum der Stücke ihres Reper¬
toires zu, und wollte, daß teilt anderes Theater von diesem Reper¬
toire Stücke entlehnen dürfe, ohne Erlaubniß der Eigenthümer und
eine Entschädigung nach gegenseitigem Übereinkommen. In Paris
wurde das Recht, Maskenbälle geben zu dürfen, der Oper allein zu-
ertheilt, und in der Provinz den approbirten Theatern.
Bei dieser Organisation combinirt sich Alles und greift in einan¬
der. Die große Oper, welche vom Staate unterhalten und von den
Theatern zweiten Ranges durch Geldabgaben unterstützt wird, steht
an der Spitze der lyrischen Theater und unter ihr die komische Oper,
welche durch ihr specielles Repertoire bereichert ist und die Opera
buffa als Anhang. Die Tragövie und hohe Komödie, welche da-
mals in großer Gunst standen, sind gleichsam das Erbe und Eigen¬
thum des l'tMtro drinne!«, zu dem das Odeon einen Anhang für
die Komödie bildet. Ein Repertoire, welches aus allen Meisterstücken
der französischen Literatur besteht, sichert der ersten französischen Bühne
die Suprematie über die anderen Theater. Eine Stufe niedriger und
für minder gebildete Geister berechnet steht das Theater av in, <Z:ut»z
und I'ctmdixn comis>ne, welche sich mit dem Melodrama beschäfti¬
gen, dann die V^ri^s und das Vimäeville, welche sür das Genre
bestimmt sind, das dem letzteren seinen Namen gegeben hat; ferner
duldet man die 1>ordo 8t. Nurtln für das Drama und ländliche
Ballet und den iüirliue olimpiaue für Reitübungen, pantomimische Dar¬
stellungen mit Pferden. Die Theater zweiten Ranges sind sich selbst
überlassen, die Privatindustrie, welche sie auf ihre Gefahr und Kosten
erhält, ist der Onvra tributpflichtig, welcher sie ein Zwanzigstel ihrer
Einnahmen zahlen muß; die großen Theater allein sind eines Schuz-
zeS würdig erachtet und unter die Vormundschaft eines Oberinten¬
danten gestellt, welcher beauftragt ist, sür das Blühen der Dramati¬
schen Kunst, wie für das Wohl Derer zu sorgen, welche zum Ver¬
gnügen des Publicums beitragen.
Unter diesem Regime war das Theater blühend, die lyrische
Kunst rief allerdings damals noch nicht jenen ausschließlichen Enthu¬
siasmus hervor, an den Rossini später die Franzosen gewöhnen sollte ;
die O^ol-it legte dem Staate schwere Aufgaben aus, trotz der verschie¬
denen Vortheile, welche ihr vorbehalten waren; die Italiener, deren
Talente schon damals voll aufgeklärten Kennern gehörig gewürdigt
wurden, erfreuten sich noch nicht deö Beifalls, welchen sie später er¬
rangen; aber die komische Oper machte daS Glück der Gesellschaft,
welche sie ausbeutete, sie brachte dem Publicum so geschickte Schau¬
spieler vor Augen, daß man kaum bemerken konnte, sie seien zu glei¬
cher Zeit auch geschickte Sänger. Was das er»»?ais be¬
trifft, so ist das zu jener Zeit unbestritten das erste Theater der
Welt; der Kaiser hielt es nicht für unwürdig, dem Glänze seines ei¬
genen Ruhmes den Schmuck der nationalen Kunst hinzuzuthun und
in jeder durch die französischen Waffen eroberten Hauptstadt lud er
Europa zur Schaustellung der Meisterstücke ein, welche dem franzö
fischen Geiste am meisten Ehre machen. Das Odeon, dessen Unter¬
nehmung Picard leitete, bringt die Lächerlichkeiten der neuen franzö-
fischen Gesellschaft vor das Parterre, und die untergeordneten Thea¬
ter genügen der Neugier der arbeitenden Klassen, welche sie durch
anständige Erregungen und Erschütterungen fesseln.
Das Gesetz, welches diese Organisation bestimmt hat, ist noch
heute in Kraft. Indeß hat sich in neuerer Zeit, besonders seit der
Julirevolution, der Uebelstand herausgestellt, daß neue Concessionen
gegeben worden sind, ohne daß die Bedürfnisse des Publicums und
das Interesse der Kunst dabei berücksichtigt worden wären, wodurch
denn das zum glücklichen Bestehen der Theater nothwendige Gleich¬
ewit zerstört worden ist.
gIn den Departements beuten achtundzwanzig stehende Truppen
mit festen Wohnorten die Hauptstädte des Königreichs aus, achtzehn
Provinzialtruppen spielen in den wichtigsten Städten nach ganz gleich
eingetheilten Umkreisen, zweiundzwanzig ambulante Truppen, welche
in denselben Arrondissements vertheilt sind, bereisen die kleinsten Städte
und vier eristiren, denen gar keine bestimmte Vorschrift über die Ge¬
gend, wo sie spielen, zuertheilt ist. Die meisten größeren Städte brin¬
gen ihren Theatern Opfer: die zu diesem Zwecke bewilligten Entschä¬
digungen steigen an manchen Orten bis auf die Summe von 80,000
Francs. Die Stadt Rouen, welche bisher von dieser Last sich frei
gehalten hat, wird stets als eine Ausnahme citirt. Die Departemen-
taltheater haben außerdem noch das Privilegium der Maskenbälle
und den Anspruch auf ein Fünftel der Bruttoeinnahme aller Schau¬
spiele und Ausstellungen, welcher Art sie sein mögen, wenn dieselben
innerhalb der dem Theater angehörigen Kreise stattfinden.
Die große Anzahl der Bankerotte hat die Verwaltung bestimmt,
von den Direktoren eine Kaution zu fordern, welche den Zweck hat,
in den Theatern, in welchen dein Staate ein Theil des Mobiliars
gehört, ihm seine Ansprüche zu sichern, und außerdem den Künstlern
und Theaterbeamten die Zahlung ihres Gehaltes zu garantiren.
Diese Caution ist für die c.i.,c.r.'. 300,000 Francs, für die Open-it
euum,.,« 200,000 Francs, für das Vaudeville 40,000 Francs, für
das ämbigii 30,000 Francs. Das drin^is und die
V-trii-to«, welche ein Privilegium für immer besitzen, sind von der
Eaulionöpflichtigkeit befreit. In der Provinz müssen die Directionen
in Städten ersten und zweiten Ranges gleichfalls eine Caution stel¬
len. Diese Maßregeln scheinen uns weise und nützlich, indeß könne»
wir nicht dasselbe von gewissen Regeln sagen, welche die Verwaltung dabei
aufgestellt hat: so bewilligt sie jetzt nur Privilegien auf eine gewöhn¬
lich sehr kurze Zeit, und im Falle des Todes des Directors erkennt
sie seinen Erben oder Stellvertretern keine weiteren Rechte zu und un¬
tersagt außerdem jede Art von Association. Dergleichen Beschränkun¬
gen scheinen mehr erfunden, um den Unternehmungen zu schaden, als
Kapitalisten zu denselben herbeizurufen.
Das Gesetz vom September 1835, wie daS Decret von 1806
hat zu gleicher Zeir mit dem Grundsatze der Privilegien die Censur
eingesetzt, und das konnte geschehen, ohne den Privilegien der Ver¬
fassung zu nahe zu treten- Die Charte von 1830 hat, als sie die
Wiedereinführung der Censur für ewige Zeiten verbot, die dramati¬
schen Darstellungen dabei nicht im Auge gehabt; man muß nicht,
wie ein Beschluß des erecutiven Directoriums vom 25. Pluviose deö
vierten Jahres der Republik sagte, „die Freiheit der Presse, welche
so mit Recht durch die Verfassung geheiligt ist, mit dem der Civil¬
behörde vorbehaltenen Rechte verwechseln, über ein öffentliches Eta¬
blissement zu verfügen, um durch das Blendwerk der Declamation
und Kunst eine große Menge von Bürgern nach Gefallen verlocken
und mit Sicherheit das Gift der gefährlichsten Grundsätze verbreiten
zu können."
Niemals haben die öffentlichen Schaustellungen trotz der Gesetze,
welche die absoluteste Freiheit proclamirten, der Ueberwachung der
Gewalt entgehen können. Wenn es die Regierung nicht that, haben
die Volksparteien eine furchtbare Censur ausgeübt. Während des
Nevolutionssturmes bestätigte der Convent das Decret der Commune
von Paris, welches das Stück I'iuni 6es lois verbot, und kündigte
an, daß jedes Theater, auf welchem Stücke dargestellt würden, die
den öffentlichen Geist verschlechterten, oder den schimpflichen Aberglau¬
ben des Königthums wieder zu erwecken suchten, geschlossen, die Di¬
rektoren verhaftet und nach der Strenge der Gesetze bestraft werden
sollten; und in demselben Augenblicke bestätigte der Convent auch die
Schließung des ir-in^is in Folge der Anklage aristokrati¬
scher Gesinnung, welche gegen seine Schauspieler und sein Repertoire
anhängig gemacht worden war. Es sind noch die Blätter übrig
geblieben, auf welchen diese Beschlüsse beantragt worden sind> und
wir haben Gelegenheit gehabt, die Bemerkungen der Verwaltungs-
mitgliedc» dabei zu lese». Nichts charakterisirt jene Epoche besser.
In einem Zeitraum von drei Monaten sind von zweihundert einund¬
fünfzig Stücken dreiunddreißig verworfen und fünfundzwanzig nur mit
Veränderungen zugelassen worden. Das ganze alte Repertoire wurde
geprüft: die Censur erklärte die Vorwurfsfreiesten Werke für schlecht
z. B. fast alle Komödien von Moliore; die Katastrophe im Bru¬
tus und im Tode Cäsar's mußte umgeändert werden und Ma-
homed wurde untersagt, da er ein Parteichef sei. Dagegen wurden
folgende Stücke autorisire, wir kennen zwar nur die Titel derselben,
aber diese deuten schon zur Genüge den Stoff an: „Der letzte Pfar¬
rer", „Keine Bastarde in Frankreich mehr", „Die Päpstin Johanna",
„Der republikanische Aesop", „Marat'ö Tod", „Der Geist der Prie¬
ster", „Adelsverbrechen" u s. w. Die Theater bemühten sich zu je¬
ner Zeit, selbst diese Verstümmelungen zu machen und kündigten an,
daß man die Qualification verdächtiger Personen in den Stücken
umgeändert haben. Das ^.abi^n t:o,»in»v machte bekannt, daß in
allen alten Stücken auf der Bühne an die Stelle des Wortes j>1n»-
diieur das Wort ,:it,^en gesetzt worden sei.
Während des ganzen Kaiserreiches und unter der Restauration
wurde die Censur auf das Theater ausgeübt und erst nach der
Julirevolution erhoben sich lebhafte Reklamationen gegen dieselbe;
die Regierung zweifelte selbst einen Augenblick an ihrem Rechte dazu.
In Ermangelung der Censur, welche aufgehoben wurde, mußte man
zu Gewaltmaßregeln seine Zuflucht nehmen, willkürliche Verbote aus-
sprechen, sie nöthigenfalls durch Dazwischenkunft der bewaffneten
Macht, unterstützen, und konnte doch nicht Darstellungen verhindern,
welche der bürgerlichen Ordnung wie der allgemeinen Moral zuwi¬
der waren. Unwürdige Entheiligungen fanden auf der Bühne statt;
man sah einen Schauspieler auf der Scene das Crucifir mit Füßen
treten, in dem Drama „der ewige Jude" erschien Christus auf der
Bühne. DaS Gesetz von 1835 hat durch die formelle Wiederherstel¬
lung der Censur diesem schwankenden Zustande ein Ende gemacht.
Seit acht Jahren wird dieses Gesetz in Ausführung gebracht. In
Paris im Ministerium des Innern ist eine Commission von vier
Prüfern eingesetzt, um über die neuen Stücke ihre Stimme abzugeben,
und hat sich dieses schwierigen Auftrages mit Eifer, Pünktlichkeit und
Geschick entledigt. In acht Jahren sind vier tausend einhundert und
neunzehn Werke, bestehend aus sieben tausend vierhundert zwei und
fünfzig Acten censirt worden; zwei tausend und fünf und vierzig sind
ohne Weiteres autorisire, ein mühend, neunhundert fünf und vierzig
sind Veränderungen unterworfen, und ein hundert neun und
zwanzig sind verboten worden. Die letztere Maßregel hat besonders
Werke betroffen, welche für untergeordnete Bühnen bestimmt waren;
die vier Theater Porte Se. Antoine, DÄassements comiques, Lurem-
bourg und Pantheon sind unter den einhundert neunundzwanzig Stük-
ken allein mit dreiundsechzig betheiligt. Die fünf großen Theater ha¬
ben im Ganzen nur sieben Stücke nicht durch die Censur bringen
können, nämlich die t^an«<lie srim^.us«? drei, die Oj>or!t cami^ii«
eins, das Odeon drei.
In der Provinz können die Präfecten Werke, welche noch nicht
in Paris gespielt worden sind, autorisiren und selbst Stücke, welche
in Paris die Censur erhalten haben, sobald sie vermuthen müssen,
daß die Aufführung derselben in ihren Departements Uebelstände her¬
beiführen könne, mit Verbot belegen. Ein antorisirtes Werk kann
später noch verboten werden, und daS Recht der Verwaltung bei Ue-
berwachung der Stücke hört niemals auf; so wurde Vautrin von
Balzac nach der ersten Vorstellung verboten. Die ^über^e clef
^'Irets und liobvrt Min'.-at'o wurden noch verboten, nachdem sie bei¬
nahe schon so viel Erfolg gehabt hatten, als Werke von dieser Art
nur beanspruchen können.
Die Manuskripte werden in zwei gleichlautenden Abschriften der
Comission von den Direktoren übergeben, deren Unterschrist dafür
bürgen muß, daß die Stücke von dem Lesecomitv ihrer Theater an¬
genommen sind. Die Zusicherung der Annahme beim Theater ist
eine erste Empfehlung, besonders von Seiten großer Theater, und es
ist ganz in der Ordnung, daß die Commission, bevor sie sich an ihre
Arbeit macht, sicher sei, daß das Stück Aussicht zur Aufführung habe.
Die Prüfung muß binnen zehn Tagen nach Einlieferung des Manu¬
skriptes an die Commission stattgefunden haben, und diese Frist wird
auch fast immer von derselben eingehalten. Die Prüfung selbst ge¬
schieht gemeinschaftlich, nachdem jedes Commtssionsmitglied von dem
Manuskripte Kenntniß genommen. Die Commission ist permanent
und versammelt sich alle Tage; wenn sie ihre Arbeiten unter sich be¬
endet hat und die Grundzüge zu einer Entscheidung herausgestellt
sind, wird den Verfassern »der Directoren gestattet, Bemerkungen und
Einwendungen in Betreff des ganzen Stückes oder einzelner Theile
desselben beizubringen. Ursprünglich entschied die Commission ohne
Zulassung von Autoren oder Direktoren, und ihre Entscheidung wurde
den Interessenten durch die Bureaus des Ministeriums mitgetheilt;
die Autoren beklagten sich indeß, daß sie ungehört verurtheilt würden,
und die Commission selbst bedauerte, daß sie die Gründe ihrer Ent¬
scheidung nicht zur Kenntniß bringen könne. Deshalb hat es nütz¬
lich geschienen, freundschaftliche Besprechungen anzustellen, bei denen
allerdings durch persönlichen Einfluß wohl mancherlei Concessionen
der Commission abgedrungen werden können, die aber doch den schäz-
zenswerthen Erfolg gehabt haben, daß der Censur heftige Angriffe
erspart wurden, welchen sie früher als wesentlich willkürliche Macht,
die über Ruhm und Vermögen zu entscheiden hatte, ausgesetzt war.
Nachdem wir die gesetzlichen Vorschriften geschildert, welche sich
auf Errichtung der Theater und das Verfahren der Censur beziehen,
bleibt uns jetzt noch übrig, auseinanderzusetzen, in welche Lage un¬
sere Gesetze die Autoren und Schauspieler gesetzt haben.
In den ersten Zeiten des modernen Theaters eristirten die Au¬
torantheile noch nicht, wenigstens nicht unter ihrer jetzigen Form.
Die Schauspieler kauften vor der Vorstellung das Stück, welches sie
aufführen wollten. Der Preis dieses Kaufes war sehr verschieden
und hing natürlich vom Verdienste des Werkes und noch mehr vom
Rufe des Autors ab. Quinaut war der Erste, welcher so viel An¬
sehen besaß, daß er bei jeder Darstellung ein pro r-leg, der Einnahme
empfing, und von ihm datirt also, was man später den Antheil und
das Recht des Autors genannt hat. Indeß erst 1697 hat ein Regle¬
ment den Schauspielern die Verpflichtung auferlegt, diese Abgabe an
den Autor zu bezahlen; bis dahin war die Bezahlung für das Stück
nur nach der Gewohnheit oder dem gegenseitigen Uebereinkommen
geregelt. Die Truppe Moliere's zahlte an Corneille 2000 Francs
für Bervnice und desgleichen 2000 Francs für Attila. Dieselbe
Summe wurde Moliere für !v k'esten ac ?lei-r<; bewilligt, aber
nur als ausnahmsweise Gratifikation, denn man weiß, daß Moliere
nur eine Handlung der bloßen Gefälligkeit zu thun glaubte, wenn er
ein Meisterstück schrieb. Gewöhnlich theilte die Truppe bei jeder
Vorstellung nach Abzug der Kosten die Einnahme in sechzehn Theile.
Die vierzehn Schauspieler, zu deren Zahl Moliere gehörte, empfingen
einen Theil und die beiden letzten Theile gehörten dem Autor,
'
Diese Regeln fanden aber nur bei der <!<>mLlli(; i,'im<?!>,ii>e An¬
wendung, bei der s)p«r!>, setzten lDecrete deö Conseil, deren letztes
von 1778 datirt ist, für die Autoren zwei hundert Francs für jede
der zwanzig ersten Vorstellungen ihrer Werke fest, einhundert fünfzig
für die zehn folgenden, und einhundert Francs für die folgenden bis
zur vierzigsten, nach welcher der Autor gar keine Ansprüche mehr zu
machen hatte. Für kleine Werke in einem Acte minderte sich das
Anrecht auf achtzig, sechzig und fünfzig Francs.
So annehmlich die Stellung der dramatischen Schriftsteller bei
der tuom^illo l'i-impuse war, wurden die Grundsätze derselben doch
nicht stets mit vorwurfsfreier Loyalität in Ausführung gebracht. Die
SocietaireS nämlich weigerten sich mit schwer zu rechtfertigender So¬
phisterei, die Logenmiethe, welche aus das ganze Jahr bezahlt wurde,
und die damals beträchtlich gewesen sein muß, mit in die Gesammt-
summe der Einnahme zu begreifen, sie wollten den Antheil der Au¬
toren nur nach der Summe berechnen, welche Abends an der Thüre
des Theaters eingekommen war. Auch die Schätzung der Unkosten
gab zu häufigen Streitigkeiten Anlaß; die Autoren glaubten ganz
reichlich zu rechnen, wenn sie achthundert Livres feststellten anstatt
neunhundert, welche von dem bei dem Unternehmen Betheiligten be¬
ansprucht wurden, die Honorare der Künstler nicht mit einbegriffen.
Die Clausel des Reglements, welche am allerleichtesten gemißbraucht
werden konnte, war jene, welche bestimmte, daß Stücke, deren Ein¬
nahmen während drei hinter einander stattfindender Vorstellungen
nicht ein bestimmtes Minimum erreichten, verfallen, d. h. der Ko¬
mödie zum uneingeschränkten Eigenthum geworden sein sollten. Die¬
ser Zustand der Dinge unterhielt eine bedauernswerthe Spannung
zwischen den dramatischen Autoren und den Dolmetschern ihrer Werke,
den Schauspielern. Die Letzteren hatten den Glanz des Talentes,
die Macht der Gunst beim Publicum für sich; aber ihre Gegner
waren so glücklich, in Beaumarchais einen Advocaten von unerschöpf¬
lichen Eifer und gefürchteter Spottsucht zu finden. Der Verfasser
der Mariage ve Figaro, der seine Berühmtheit durch Prozeßscandale
begonnen hatte, unterhielt vier Jahre hindurch den Krieg, welcher
gegen die Schauspieler geführt wurde. Seit zwölf Jahren, sagte er
1791 in einen, Bericht, welcher den Stand der Sache» resumirt,
hatten sich die dramatischen Autoren nur in achtunddreißig Francs
theilen tonnen, wahrend das Bruttoprodukt von einer Million den
Schauspielern der OmMio ir-in^is« fünfundzwanzig, sechsundzwan-
zig, siebenundzwanzig tausend Francs für den ganzen Antheil ein¬
brachte. Wenn daher die Autoren ihre Einnahmen zusammengewor¬
fen und zu gleichen Theilen getheilt hätten, würden auf den Antheil
des Einzelnen uur eintausend sechshundert und fünfzig Livres gekom¬
men sei,?. Endlich gelang es Beaumarchais, das Publicum zu Gun¬
sten seiner Clienten zu gewinnen, und 1791 schnitt die Nationalver¬
sammlung alle Debatten darüber ab, indem sie das Eigenthumsrecht
der Autoren und die völlige Vertragsfreiheit zwischen ihnen und den
Autoren als ein legitimes und natürliches Recht proclamirte. Das
Decret vom 8. Juni 1806 bestätigte auf's Neue diese Freiheit und
beauftragte die Localbehörden, streng über die Ausführung der zwi¬
schen den Theaterunternehmem und den Autoren eingegangenen Ver¬
träge zu wachen, und so ist noch heute der Stand der Gesetzgebung.
— Die dpvi-ii, und die Coinvllil; er-in^v, welche weniger mer-
cantilische Unternehmungen als öffentliche Etablissements sind, bewil¬
ligen den Autoren die Antheile, welche durch die Reglements der ober¬
sten Behörde festgestellt sind. Die l),.».-« gibt fünfhundert Francs
festen Antheil für jede der ersten zwanzig Vorstellungen einer großen
Oper, welche Summe zwischen dem Verfasser des Gedichtes und dem
der Musik getheilt wird. Ein Ballet bringt weniger ein. Nach der
zwanzigsten Vorstellung sinkt die Antheilssumme auf dreihundert Francs.
Bei der e<im<z«Ac ti-in^ise ist der Tarif für die Autorantheile auf
folgende Weise bestimmt: Für fünf Acte das Zwölftel von der Brutto-
Einncchme, für drei Acte das Achtzehntel und für einen Act das
Vienlndzwanzigüel. Bei der Opern, coal-w« ist der Antheil für ein
großes Werk in drei bis fünf Acten acht ein halb Procent von der
Einnahme nach Abzug des Antheils für die Armen,, für zwei Acte
sechs ein halb Procent und für einen Act sechs Procent. Wenn ein
Werk allein die Vorstellung des ganzen Abends bildet, hat es noch
Anspruch auf einen besonderen Nachschuß, welcher aus sechs Procent
festgestellt ist. Bei den anderen Theatern sind die Antheilsrechte nach
Uebereinkommen festgestellt oder vielmehr von der Gesellschaft der
dramatischen Schriftsteller vorgeschrieben, welche dahin strebt, alle
Theaterverwaltungen zu dem unveränderlichen Satze von zwölf Pro¬
cent der Bruttoeinnahme zu bringen. Dieser Modus ist bei fast
allen Melodramen- und Vaudevilletheatern gebräuchlich. Für die
Provinz empfangen die Autoren einen bestimmten Antheil, der nach
der Art des Werkes und der Wichtigkeit der Stadt modificirt ist.
Man weiß, daß neuerdings der König von Sardinien die Rechte der
französischen Autoren auch auf seine Continentalstaaten ausgedehnt
hat. —
Von der Anzahl Autoren, welche die Literatur als solche aner¬
kennen muß, arbeiten zwanzig ungefähr auf speciellere Weise für die
Oomellie dran^ise und die anderen königlichen Theater; Alle, aus¬
genommen fünf oder sechs, haben den Melodramen- und Vaudeville¬
theatern Stücke gegeben. Früher bildeten die Schriftsteller, welche
sich dem l'IMtre kr»nhii,i8 widmeten, eine Art von Elite, welche mit
höchst wenigen Ausnahmen es verschmähte, zu den Bühnen zweiten
Ranges hinab zu steigen. Diese Aristokratie ist verschwunden; ob
zum Stutzen der Literatur, das ist sehr zu bezweifeln. Man sucht jetzt
die leichten und lucrativen Erfolge und merkt nicht, daß selbst von
diesem eines bedeutenden Geistes unwürdigen Gesichtspunkte aus man
sich verrechnet. Die Vaudevilletheater bieten für Leute, die auf hö¬
heren Bühnen sich angewöhnt haben, das Publicum und ihr eigenes
Talent zu achten, nur wenig Aussicht auf Erfolg. Man kann es
nicht oft genug wiederholen, die edlen Bestrebungen sind niemals
ohne Belohnung geblieben, und wenn es möglich wäre, das Budget
unserer bedeutendsten Dichter zu controliren, die sich bereichert haben
durch Arbeiten für die Bühnen, so würde man sehen, daß das l'mon-
tre ki-iuihins, die 0por.^ und Operi» comiijuv die solide Basis ihres
Vermögens gewesen sind.
Die Autorantheile werden im Durchschnitte auf achtmalhundert-
tausend Francs jährlich angeschlagen und zweimalhunderttausend Francs
für die Provinz, ohne noch die Nebenvortheile zu rechnen, welche wir
später erwähnen werden. Davon muß ein Abzug abgerechnet wer¬
den von zwei Procent für Paris und fünfzehn Procent für die Pro¬
vinz zu Gunsten der mit der Erhebung der Gelder beauftragten
Agenten. Diese Million, so beträchtlich auch eine solche Summe
scheinen mag, läßt für die Heerde nur einen mageren Theil übrig,
wenn die Löwen den ihrigen davon genommen haben, und viele
goldene Träume werden zu bitteren Täuschungen. Trotzdem rekru-
tirt das Beispiel des großen Glückes einzelner Autoren und der Reiz
gewisser Beziehungen, die jungen und glühende-, Köpfen gefallen,
unaufhörlich das Corps der dramatischen Schriftsteller, und genau
genommen, ist das Theater von allen den Carrieren, welche Leuten
von Phantasie offen stehen, noch eine von denen, welche die^ meisten
Hilfsquellen darbietet.
Seit Ende des vorigen Jahrhunderts und auf Antrieb Beau¬
marchais' zeigten die Autoren eine Neigung, sich zur Aufrechthaltung
ihrer Rechte als Corporation zu constituiren. Ein erster Gesellschafts¬
vertrag vereinigte 1794 die Namen Mehul, Cherubini, Sedaine,
Picard und einige andere minder einflußreiche Schriftsteller. 1801
wurde der Contract erneuert und faßte fünfundneunzig Unterschriften;
ähnliche, zu verschiedenen Zeiten gestiftete Gesellschaften verschmolzen
sich 1829 zu der Association Avrier-die ach imteur8, welche eine
sehr große Bedeutung gewonnen hat. Ihr Zweck ist den Statuten
zufolge: 1) gegenseitige Vertheidigung der Mitglieder den Theater-
vcrwaltungen oder Personen gegenüber, welche in Beziehung zu den
Interessen der Autoren stehen; 2) die Erhebung der Autorantheile
mit geringeren Kosten und Stiftung einer gemeinschaftlichen Kasse
von einem Theile der Antheile; 3) die Stiftung eines Unterstützungs¬
fonds zu Gunsten der Mitglieder, ihrer Wittwen, Erben oder Eltern;
4) Stiftung eines gemeinschaftlichen Fonds zur Theilung des dar¬
aus erwachsenden Gewinnes. Diese Gesellschaft, welche 1837 er¬
neuert und mit neuen Statuten versehen wurde, ist jetzt noch in
voller Thätigkeit. Vierhundert und zwanzig Auroren etwa haben sich
ihr angeschlossen, eine Commission, welche in der Generalversamm¬
lung erwählt wird, verwaltet und repräsentirt die Gesellschaftsinteres-
sen; sie hat stets die ersten dramatischen Schriftsteller in ihren Reihen
und an ihrer Spitze gesehen. Die Dienste, welche sie den Autoren
geleistet, sind unbestreitbar und zahlreich: die Betrügereien, welche
von mehreren Theaterdirectionen begangen wurden, sind abgestellt
und bestraft, die Erhebung der Autorantheile ist regelmäßiger und
weniger kostspielig geworden, die Interessen Aller wurden mit Eifer
vertheidigt, Alles beweist die Ersprießlichkeit der Vermittlung dieser
Gesellschaft. Der Unterstützungsfonds hat zahlreichem Mißgeschicke
abgeholfen, von 1819 bis 1843 sind beinahe siebzigtausend Francs
dazu verwendet worden. Mit Bergnügen erwähnen wir die Ver¬
dienste dieser Gesellschaft, und unsere Aufrichtigkeit wird uns spater
das Recht geben, die Uebergriffe zu bezeichnen, welche uns die Auf¬
merksamkeit der Negierung zu verdienen scheinen.
Die Lage der Schauspieler bietet im Allgemeinen mit der der
Autoren viele Analogien dar. Vor der Revolution warm die Schau,
Spieler mehr noch durch die öffentliche Meinung, als durch die Gesetze
beeinträchtigt. Die Revolution machte dieser Intoleranz ein Ende
und stellte sie allen anderen Staatsbürgern gleich; Talma wurde
unter der Restauration in einem Wahlcollegium zum Wahlzeugen
gewählt, und seit 1830 hat ein Künstler bei der O^i'ii, das Kreuz
der Ehrenlegion bekommen, und Andere sind mancherlei Auszeichnun¬
gen werth erachtet worden.
Die Zahl der Schauspieler in Frankreich ist ungefähr dreitau¬
send. Alte Documente erhöhten schätzungsweise diese Zahl auf acht¬
tausend; vielleicht begriff man aber darin die große Menge der ihr
erstes Debüt erwartenden Kandidaten der Bühne. Unter den Schau¬
spielern, welche wirklich ihre Talente ausüben, findet eine große Un¬
gleichheit ihrer respectiven Stellungen statt. Die Bedeutendsten, welche
Gehalte haben und außerdem noch durch Gastdarstellungen in den
Provinzen bedeutende Einnahmen machen, gelangen zu Reichthum;
Andere in Paris und den Provinzen können bequem leben, der größte
Theil aber hat eine erbärmliche Existenz. Die Unternehmun¬
gen in kleinen Städten und die ambulanten Truppen werfen kaun,
so viel ab, um ihre Mitglieder zu ernähren. Nach einem Leben Vol¬
ler Entbehrungen und Leiden sind ihre letzten Tage allen Qualen
der schrecklichsten Armuth ausgesetzt. Besonders in der Provinz ist
ihre Stellung ungewiß: jedes neue Jahr stellt ihre Lage, man kann
sagen, ihre Existenz wieder in Frage. — Das Parterre richtet sie
ohne Appellation und zeigt sich häufig unerbittlich. Die Theater-
Carriere ist fast immer voller Klippen: sie reizt eine unerfahrene Ju¬
gend an und läßt den reiferen Jahren, besonders dem Alter, Nichts
als Erniedrigung und Elend.
Im Jahre 1840 ist unter den dramatischen Künstlern eine
Gesellschaft entstanden, deren Zweck die Bildung eines Unterstützungs-
fonds ist für diejenigen, welche das Unglück mit aller Strenge heim¬
sucht, und der Erfolg hat den Wünschen ihrer Urheber entsprochen.
1840 hatten die unter den Theilnehmern, deren mehr als eintausend
siebenhundert sind, gesammelten Subseriptionen, die Bälle, Benefice-
vorstellungen ein Kapital von vierundneunzig tausend zweihundert
und sechzig Francs gebildet, das zum Theil zum Ankauf einer Rente
von dreitausend Francs verwendet wurde. Monatliche Unterstützun¬
gen werden den bedürftigen Künstlern ertheilt, und vom Alter ge¬
beugten Greisen Pensionen ausgesetzt. Obgleich die Gesellschaft erst
seit wenigen Jahren besteht, ist sie doch schon sehr bedeutend gewor¬
den, und das Wachsen ihrer Einnahmen wird ihr erlauben, ihre
wohlthuende Thätigkeit immer weiter auszudehnen. Sie hat Anspruch
ans den Schutz der Regierung und auf die Sympathie Aller.
Die dramatischen Künstler bilden sich in verschiedenen Schulen :
ein Theil, seit ihrer frühesten Jugend bei den Provinzialtruppen en-
gagirt, widmen sich frühzeitig bei ihren Familien der Ausübung ei¬
ner Kunst, welche für die meisten Nichts als ein schweres unfrucht¬
bares Handwerk sein soll. Andere gehen auf Kindertheater und
spielen Rollen, welche sie nicht immer verstehen. Eine bestimmte
Anzahl geht aus dem Conservatorium hervor, der vom Staate er¬
richteten Pflanzschule für Musiker und Künstler. Das Conservatoire,
ursprünglich eine bloße Gesangschule, wurde durch Beschluß vom 3.
Januar 1784 gestiftet. Am darauf folgenden ersten April wurde es
in dem Hütel der Menüs Plaisirs des Königs im Faubourg Pois-
sonie-rc eröffnet. 1786 wurde auf Vorschlag des Barons de Breteuil
eine Declamationsklassc hinzugefügt und Mol« anvertraut. Der Zweck
derselben war, Schauspieler für die großen Theater zu bilden, man
hielt es daher für nothwendig, ihre literarische Befähigung zu ent¬
wickeln: ein Lehrstuhl für französische Sprache, Geschichte und Geo¬
graphie wurde errichtet. Dies Etablissement, welches durch die Revolution
vernichtet worden war, wurde den 18. Brumaire des Jahres II. un¬
ter dem Namen Institut n-allem-»! wieder aufgenommen und den 16.
Thermidor des Jahres 111. als ^onserv-deuil-v >Je aufn,»« reorga
nisirt. Der Kaiser interessirte sich dafür und fetzte 18V6 jährliche
Preise aus, 1809 erweiterte er den Unterrichtskreis, öffentliche Vor¬
stellungen wurden von den Schülern gegeben, die Zahl der Lehrstühle
vermehrte sich: Dugazon, Monvcl, Dazincourt, Lafon nahmen die¬
selben ein; Talma und Fleury bildeten den Ausschuß zur Beaufsich¬
tigung. Das Decret von Moskau errichtete achtzehn Schülerstellen
für das si-in«^!« und gründete aufs Neue einen Lehrstuhl
der Grammatik, Geschichte und Mythologie in Beziehung auf dra¬
matische Kunst. Die Restauration gab dem Konservatorium den Ti¬
tel lücvlv <le llvcliunittion und stellte es unter das Hausministerium
des Königs. 483l) entthronte die Musik abermals die Declamation,
der dafür errichtete Lehrstuhl wurde unterdrückt und erst 1836 wieder
hergestellt, der Lehrstuhl der Literatur ist weggefallen. Das Conser¬
vatorium hat der Kunst, der Musik große Dienste geleistet und Tau¬
sende von Jnstrumentisten gebildet, welche in Betreff auf Ensemble,
Kraft, Eleganz der Ausführung in der Welt nicht ihres Gleichen
haben. Sein Nutzen in Bezug auf die (?om6alio tun^inse ist min¬
der unzweifelhaft und bedeutende Männer bestreiten ihn; indessen ist
der größte französische Tragöde, Talma, aus den Klassen des Kon¬
servatoriums hervorgegangen. Wir haben die allgemeinen Anordnun¬
gen unserer Gesetzgebung in Bezug auf die Theater siizzirt und be¬
rührt, was unter dem Kaiserreiche dafür geschehen ist. Wollte man
nur nach dem äußeren Anscheine urtheilen, so müßte die französische
Bühne floriren, das Patronat des Staates ihr Glanz verleihen und
sie gegen die Unordnung falscher Rechnungen und der Privatspecu-
lation sichern. Dennoch leidet das Theater; sein Verfall, sein Ruin
vielleicht sind bevorstehend. Wir wollen die Ursachen dieses Verfalls
später auseinanderzusetzen suchen.
Weil mich Geselligkeit mit Vielen nicht vereint,
Hält man mich hie und da für einen Menschenfeind.
Euch flieht nur mein Verstand, mein Herz ist Euch
geblieben,
Und ich entferne mich, um fürder Euch zu lieben.
Ich debütire bei Ihnen gleich mit einer Revolutionsgeschichte.
In dem Augenblicke, wo dieser Brief anlangt, werden Sie bereits
von der Weber-Revolte in Peterswaldau und Langenbielcm erfahren
haben. Endlich ist den Armen der Geduldfaden, der starke, aus gu¬
tem Hanf gesponnene deutsche Geduldfaden gerissen, und nun sind
sie „vom Bärbel los", wie der Provinzialismus besagt. Kennen Sie
einen schlesischen „Wäber"? Denken Sie sich einen kleinen, gebückt
einhergehenden Menschen mit verkrümmten Handen und dünnen Bei¬
nen, mit einer blauen Leinwandjacke und ditto Beinkleidern, geben
Sie ihm einen Gebirgsstab in die Hand, und lassen Sie ihn keu¬
chend und stöhnend unter dem „Leinwandschock" thalwärts steigen, so
haben Sie ein ungefähres Bild davon. Und diese Jammergestalten
sind aufständisch geworden und wagen es, den Bajonetten und den
Kugeln des feinsten preußischen Commisbrod-Mavors Trotz zu bieten!
Da habt Ihr einen Commentar zu dem Bericht unseres Oberprä¬
sidenten an den König, wornach das Sprechen und Sagen von der
Noth und dem Elende der Weber nur von übelwollenden Zeitungs¬
schreibern und unberufenen Schreihälsen herrühren soll! Hoffentlich
wird uns die Genugthuung werden, daß sich die Preßungläubigen
jetzt auf unsere Seite schlagen und zugeben, daß wir am Ende denn
doch Recht gehabt. Einige fürchten zwar, daß wir gerade deshalb,
weil wir Recht gehabt, übel davon kommen werden und nach dem,
was geschehen, fürchte ich es beinahe auch. Wir" -- nämlich wir
Zeitungsschreiber — dürfen an dem Aufstande nicht Theil nehmen,
d. h. wir dürfen Nichts darüber in unseren Blattern sagen. Der
Censor, Geheimer Regierungsrath von Ebertz, streicht Alles unbarm¬
herzig durch und bemerkt, daß er ohne Erlaubniß der Regierung keine
Zeile drucken lassen dürfe. Ich habe die Censur-Instruction zum hun-
dertstenMale von Anfang bis zu Ende durchgelesen und kann durchaus
Nichts finden, was ihm die Berechtigung hiezu geben könnte. Also
nicht einmal die Preßunfreiheit ist frei! Wir sind gespannt, was das
Ober-Censurgericht, dem die Beschwerde über diese Willkür vorliegt,
dazu sagen wird. Da unsere Zeitungen also schweigen müssen, die
öffentliche Meinung aber über die Vorgänge im Gebirge unterrichtet
sein will, so gebe ick) Ihnen nachstehend einige Details darüber.
Der Aufstand nahm seinen Anfang am 4. Juni in dem eine
Meile von Frankenstein gelegenen Dorfe Peterswaldau. Die nächste
Veranlassung war ein Pasquill, das ein Haufen Weber vor der Woh¬
nung eines wucherischer sogenannten Fabrikanten absang. Letzterer
ließ einige der Sänger aufgreifen und sie heimlich durchprügeln. Auf
die Nachricht hiervon vergrößert sich bald die Zahl der Weber bis
auf mehrere Hundert, und wüthend fangen siWn, die Etablissements,
fünf an der Zahl, zu demoliren. Sämmtliche Bücher und Handels¬
papiere werden vernichtet, die Kasse erbrochen und das Geld vertheilt.
Am anderen Morgen wird das Zerstörungswerk fortgesetzt. Als der
Vorschlag gemacht wird, die Gebäude nicht zu demoliren, sondern
kurzweg zu verbrennen, wird angeführt, daß dann die Eigenthümer
Brandgelder erhalten würden, wahrend es jetzt nur gelte, sie ebenfalls
zu armen Leuten zu machen. Von Peterswaldau begeben sich die
Weber nach Lcmgenbielcm, wo sie ebenfalls drei Fabrik-Etablissements
zerstören. Hier kommt es zwischen ihnen und einem Detaschement
Soldaten zum Kampfe, wobei letztere den Kürzeren ziehen und zurück¬
geschlagen werden. Auch die Weber ziehen sich zurück in der Rich¬
tung nach Landshut und dem Hirschberger Thal hin. Sie sind be¬
reits auf zwölftausend angewachsen und man bemerkt mit Verwunde¬
rung, daß sie förmlich organisirt sind. Sehr wahrscheinlich hat sich
ihre Macht um das Doppelte verstärkt, denn gerade um. Landshut
herum ist die Noch und das Elend der Weber ganz bedeutend. Die
ansehnliche Militärmacht wird Don ihnen in Schach gehalten, und man
hört Nichts von neuen Angriffen. Die Sache nimmt eine sehr be¬
denkliche Wendung. Die „Aufrufe", welche an sie erlassen -werden,
fruchten Nichts. Freilich, wenn sie deutsch verstehen, müsse» sie. .ge¬
rade durch die „Aufrufe" in ihrem Vorhaben bestärkt werden.. Einer
z. B., vom Grasen Sandreczky-Sandraschütz erlassen, fängt so an:
Eben zurückgekehrt., bemerke ich Austritte, die nicht zu bemerken, ich
gefürchtet habe. — Der gute Mann appellirt an die Liebe der /Armen
zur Grundherrschast'. Weiß Gott, woher es kommt, daß das Echo
aus dem Gebirge bis in die Straßen unserer Haupt- und Residenz¬
stadt dringt. Schon seit drei Tagen finden des Abends Aufläufe und
Tumulte in Breslau statt, die einen so ernstlichen Charakter armes.
wen, daß gestern sämmtliches Militär die Straßen besetzt hielt. Was
die Aufrührer wollen, wissen sie selbst nicht. Sie sind „halt" unzu¬
frieden! Alle Interessen treten in den Hintergrund vor der Theil¬
nahme an diesen Vorgängen. Die Sängerin Tuczeck, auf die sich
unsere Breslauer schon so lange gefreut, hat gestern den Evclus ih¬
rer Gastrollen vor einem leeren Hause begonnen. Kunstreiter wilde
Thiere, Wachscavinete, alle Sehenswürdigkeiten, die uns ti/Woll¬
marktsaison gebracht, kündigen vergebens ihre Herrlichkeiten an, man
lies't nur die Placate an den Straßenecken, worin das Polizeipräsi¬
dium seinen tiefen Unwillen über die ärgerlichen Excesse ausspricht.
Aengstliche Gemüther prophezeihen uns nichts Gutes: Aushebung der
Preßfreiheit, Abschaffung der Constitution u. s. w. Ich denke, so
arg wird's nicht werden. Die „germanische Freiheit" wird uns blei¬
ben trotz aller Gegendemonstrationen.
^ Wenn nicht alle Zeichen trügen, so wird die Ernte dieses Som¬
mers eine große sein. In der Schweiz ist eine böse Saat aufgegan¬
gen und macht die alten Theilungsplane reifen; das türkische Reich
kann sich selber nicht mehr beschützen und wankt sichtbarlich der Grube
näher Am Osten wie im Westen drohen unnatürliche Staatenglie-
dcr zu fallen, wenn Niemand sie früher amputiren will. Und man
glaubt, die Wundärzte werden nicht ihre Hände hineinstecken, und
man glaubt, auch Andere werden müßig warten, j>i8<in« t« Kul ser-t
ttvcompli. — Asi« <l> ilcoomplirn um,« co Kul? Hier täuscht man
sich nur in Einem Kreise (freilich in dem wichtigsten, um die höchste
diplomatische Notabilität sich drehenden) über die Bedeutung des Kai¬
strbesuches im Buckinghamvalast. Wie, dies wäre Nichts als Galan¬
terie? In dem Momente, wo die russischen Familicnpläne bei unse¬
rem Kaiserhaus einen so empfindlichen Schlag erhalten und die ge¬
niale und schöne Czarentochter einen anderen als einen österreichischen
Prinzen ihrem Hause gewinnet: wird, in dem Momente, wo es sich
entschied, daß Erzherzog Stephan nicht wie Maria Louise dem Geist
eines eroberungssüchtigen Staates zur Brücke dienen soll, in diesem
Momente besucht der Monarch, der nach Wien kommen wollte und
nun nicht hierher kommen wird, die Hauptstadt Englands;
er besucht den alten Bundesgenossen Oesterreichs, auf den es aber im
Fall eines Krieges nicht mit Sicherheit zählen kann. Verständige
sich England mit Rußland über die Einverleibung Serbiens und
der Moldau (et t'.'e«t le t'.(mint>i>c«zal!„t et» I» lin), so wird Preu¬
ßen, das dabei nicht betheiligt ist, keine Schwierigkeiten machen, und
Oesterreich wird seine Grenzen in dichter Nahe russischer Soldaten
haben. Frankreich wird in seinen Journalen einigen Einspruch thun,
aber wehe uns, wenn Frankreich, der alte Feind, der Einzige wäre,
der zu uns hielte. I-,' ^nAlkteri-e, In i?,u«se et Is, Ilus8le — will«
e'est mio itUiinice inwossililv wendet man von einer gewissen Seite,
die zweifelsohne viel Erfahrung in Allianz-Dingen hat, ein. Aber
mit dem Terrain wechseln auch die Allianzen. Ein Krieg von Osten
wird die Karten anders mischen, als die Kriege gegen Napoleon sie
gemischt haben. Und was ist Monströses an dieser Allianz? Rußland
will in Europa festen Fuß fassen und wird dieses gerne mit einigen
Augeständnissen an England thun, mit dem es doch nur in Asien
collidirt. Es wird keinen Augenblick anstehen, ein Stück Asien mit
einem Stück Europa zu vertauschen. Preußen will in Deutschland weiter
vor und wird sgerne die verschwägerte Macht die Besitzungen an der
Donau dafür in Beschlag nehmen lassen. Daß die englisch-franzö¬
sische Freundschaft auf sehr schwachen Füßen steht, dafür liegen die
Actenstücke vor. Louis Philipp ist ein alter Mann und seine Söhne
haben kriegerische Tendenzen. Die Brochüre Joinville's war nicht erst
eine Warnung für England; es hat diese Richtung längst gekannt.
Zwischen einem Bunde mit Frankreich und zwischen einem mit Ru߬
land wird die britische Politik immer den letzteren vorziehen. Die
Klippen, welche dieser neuen Wendung europäischer Politik entgegen¬
stehen, hat man allerdings genau gezählt, aber eine Brücke, die über
allen diesen Widerstand hinwegläuft, schlägt man offenbar zu gering
an: die Energie des Kaisers Nikolaus.
Wir, in unserer zähen Widerstandspolitik, glauben nicht gern
an die Gewalt der Persönlichkeit und ihrer hinreißenden Kraft. Wir
setzen bei unseren Gegnern die möglichste Klugheit voraus und waff-
nen uns dagegen mit nicht minderer Klugheit. Diesen Ruhm wird
Niemand unserem Kabinet absprechen können; aber auf Eins sind
wir nicht gesaßt; auf Kühnheit. Der gefährlichste Feind, den Oester¬
reich zu fürchten hat, heißt Energie. Darum ist Nikolaus uns dop¬
pelt furchtbar als Czar von Rußland und — als Mann. In
diese Schaukelpolitik unserer Zeit hatte ein Napoleon, ein Friedrich II.
längst sein entschiedenes Schwert geworfen. Ein Mann von Energie,
und die Gestalt der Welt hat sich verändert. — Der Czar ist die¬
ser Mann, und wir haben es im Winter hier vom Grafen Orloff
gehört, was übrigens alle Briefe bestätigen, daß der Kaiser, weit ent¬
fernt, durch das herannahende Alter in seinem Willen geschwächt zu
werden, vielmehr an Festigkeit — um nicht das Wort Eigensinn von
einem so hohen Herrn zu sagen — zunimmt. Der Kaiser ist eifer¬
süchtig darauf, die Anfange seiner Politik selbst zu Ende zu bringen,
dieses weiß man hier; der Plan einer Eisenbahn zwischen Moskau
und Odessa mit ihren handgreiflichen Folgen war unserer Diplomatie
schon längst kein Geheimniß mehr, und doch warten wir hübsch ru¬
hig die Dinge ab, die da kommen werden. Unter den fünf Gro߬
mächten Europas sinnen vier auf Machtvergrößerung und stehen
schlagfertig zur Initiative bereit, nur Oesterreich wartet den Angriff
ab und beschränkt sich auf die Vertheidigung; gewiß eine weise und
würdige Politik! Aber Oesterreich ist längst angegriffen; von dem
Momente, wo die Donaumündungen in Rußlands Hände übergingen,
bis auf diese Stunde hat Rußland einen fortdauernden, vortheilhaf¬
ten Invasionskrieg gegen uns geführt, es hat unseren Einfluß in Kon¬
stantinopel geschwächt, es hat die Donaufürstenthümer moralisch er¬
obert, es hat seine Netze tief nach Ungarn, ja vielleicht bis Böhmen
geworfen, und wir, haben wir uns vertheidigt?
Für heute nur diese Frage. Wenn Sie diesen Zeilen in Ihrem
geschätzten Blatte einen Raum gönnen wollen, so werde ich mir er¬
lauben, in Zukunft noch einige andere Fragen dieser ersten folgen zu
lassen. Vielleicht wird sich hie und da auch eine Antwort finden.
Unsere diesjährige Kunstausstellung sitzt in großem Malheur,
nicht nur, daß sie über alle Maßen traurig ausgefallen ist, führt der
Zufall auch noch Peter von Cornelius herbei, den großen Maler des
Weltgerichts, den größten Dichter unter den Malern, den kühnsten
Dramatiker unter den Dichtern der Jetztzeit. Was muß der Mann,
der Meister der Düsseldorfer, Münchener und Berliner Schulen für
einen Begriff von Wiener Kunst mitgenommen haben? Wie muß er
sichnichtnuran denBildern, wiemuß er sich an den G esprach en unserer
Maler erbaut haben, an ihren Kunstansichten, an ihren Bildungsgängen.
Am Ende ist Führich, d. h. die fromme Schule, trotz ihrer Richtung, doch noch
die beste, weil sie wenigstens die vollständigste ist. — WissenSie, daßMn
unseren Beamten erlaubt hat, Privatunterricht zu ertheilen? — Dies
ist von großem Einfluß auf unseren allgemeinen Bildungsgang. Denn
fortan werden die Beamten, um unterrichten zu können, selbst erst
etwas lernen, und dieses ist ein wichtiger Fortschritt. Daß unter
unseren Beamten eine fürchterliche Unwissenheit herrscht, darüber ist
man allgemein einig Es ist sogar im Werke, der hiesigen Staats-
druckerei eine eigene Verlagsbuchhandlung beizugeben, um die Bildung
der Beamten zu befördern. Bisher nämlich bezogen die Buchhänd¬
ler der Monarchie allen Bedarf an Gesetzbüchern aus der erwähnten
Staatsdruckerei. Da diese jedoch keinen Rabatt gibt, so schlagen die
Sortimentsbuchhandlungen einige Procenre darauf, wodurch das Buch
theurer wird und der Zweck der Regierung, ihren Beamten und an¬
deren Rechtsforschenden die Belehrungsmittel wohlfeil zu geben, ver¬
loren geht. Der Antrag des Direccors Auer, der viele Thätigkeit und
Einsicht bei der Leitung der Staatsdruckerei entwickelt, geht dahin,
der Staatsdruckerei die Facultät zu geben, die gewöhnlichen Buchhänd¬
ler-Rabatte bewilligen zu können, damit ihre Artikel dem Privaten
wenigstens im Normalpreis geliefert werden können. Die Staats¬
druckerei ist übrigens wohl das größte typographische Institut der
Monarchie*). Sie beschäftigt sieben Dampfpressen, achtundzwanzig
Handpressen und mehrere lithographische Pressen, nebst den nöthigen
Schriftgießereien **). Letztere zeichnen sich namentlich durch ihre Lei¬
stungen in Bezug auf orientalische Lettern aus. Fürst Metternich
hat die Herausgabe einer Reihe von Tractaten zwischen Oesterreich
und der Pforte anbefohlen. Diese werden in tückischer, französischer
und deutscher Sprache gedruckt und die Publication zählt wohl zu
den schönsten Leistungen moderner Typographie. Auch die Bestellun¬
gen, die der Kaiser und die Erzherzoge bisweilen machen, werden mit
einer Pracht ausgestattet, die von der königlichen Druckerei in Paris
nicht übertroffen wird. — Auf dem Burgtheater gastirten Baison
aus Frankfurt und Emil Devrient aus Dresden. Unser etwas
stark alternder Ludwig Löwe fürchtete sich sehr vor dem großen
Rufe, den Letzterer in neuerer Zeit gewonnen, kam aber mit einem
blauen Auge davon. Emil Devrient hat sehr gefallen; aber doch nicht
in dem Maße, wie er es verdiente, namentlich im Vergleich mit Löwe.
Baison hatte einen nicht minder glücklichen Erfolg; es heißt, er
werde engagirt. Zu wünschen wäre es; denn unser Burgtheater hat
mehr Liebhaber im Publicum als unten seinen Mitgliedern. — Bei
der Notiz, die ein anderer Ihrer Eorresponoenten über Deinhardstein's
--'
Motesens Ihnen einsandte, hatte er den pikanten Spaß nicht verges¬
sen sollen, daß der Darsteller der Titelrolle Laroche die Maske seines
Chefs i. e. des Herrn v. Holbein angenommen hatte, was viele Leute,
als es bekannt wurde, in's Theater lockte. Herr von Holbein war
übrigens Mann von Geist genug, den Spaß hinzunehmen.
Hin und wieder ist in öffentlichen Blättern von unerquicklichen
Streitigkeiten die Rede gewesen, die unserem jüngst hier gefeierten
niederrheinischen Musikfeste vorangingen. Es hat aber meines Wis¬
sens kein Blatt Näheres davon berichtet, obgleich diese Vorgange zur
Beurtheilung hiesiger künstlerischer Zustände nicht ohne Interesse sind.
Wer bei unseren früheren und bei anderen großen Musikfesten gewe¬
sen, wird beobachtet haben, daß die Frauenchöre in der Regel vor den
Männerchören auf eine die Wirkung sehr beeinträchtigende Art zurückge¬
drängt wurden. Man hatte nicht vermocht, zur Herstellung eines
harmonischen Verhältnisses Einleitungen zu treffen. Die Direktion
des letzten Musikfestes trat aber diesem großen Mißverhältnisse vom
Haus aus entgegen. Sie setzte nämlich fest, daß von Kölner Sän¬
gern und Sängerinnen nur die Mitglieder der zwei Hauptinftitute
für gemischten Chor, der Singakademie unter Weber und des städ¬
tischen Gesangvereines unter H. Dorn, außer den zur Comitvwahl
erschienenen fünfunddreißig Wählern Antheil nehmen dürften. Der
Vortheile, die dieses Princip gewährte, waren viele. Man bekam ei¬
nen wohlgeübten Kern von Sängern und hielt eine Legion bloßer
Psingstsänger und sogenannter verkannter Talente mit allen von ihnen
zu erwartenden Störungen ab. Da die Mehrzahl des tüchtigen Män¬
nergesangvereins auch bei jenen Instituten wirkt, so wurde hier Nichts
verloren; die gleichzeitig von der Theilnahme als Ganzes ausgeschlos¬
sene Liedertafel aber ist künstlerisch von geringer Bedeutung, sie lebt
mehr für Unterhaltung. Leider hat aber die nur dankenswerthe und
im Interesse der wahren Verherrlichung des Musikfestes getroffene
Veranstaltung, in welcher die Direction von den Comites der übri¬
gen Vereinsstädte mit Erfolg unterstützt wurde, gerade hier in Köln
nicht die allgemeine Anerkennung gefunden, die kein Einsichtiger ihr
versagen kann. Namentlich hat gerade der Mannergesangverein eine
Art Opposition als Ganzes gemacht und Manchem den schönen Fest¬
genuß vergällt. So erfreulich das in gleich oppositionellen Sinne in
Deutz von ihm veranstaltete Morgen-Freiconcert war, bei dem sechzig
Männerstimmen ansprechende Compositionen vortrugen, so wenig war
die Veranstaltung doch, was sie zu sein vorgab, der Würde des Mu¬
sikfestes entsprechend. Das Getreide und Gewirre eines öffentlichen
Ortes und das Klappern der Kaffeetassen wollen sich dazu nicht Schil-
ler. Am Ende thut das für die Wirkung beim Musikfest Gewesenen
eben so viel nicht; sie erfahren wohl den rechten Grund solchen Be¬
ginnens, amüstren sich dabei und vergessen das Nebending. Allein
nach Außen nimmt sich solcher kleinlicher Hader traurig aus. Die Ver¬
herrlichung der Kunst ist das Ziel eines so künstlerisch bedeutsamen
Festes und da geben sich in Köln selbst Kunstfreunde solcher erbärm¬
lichen Eifersüchtelei hin über eine der zweckmäßigsten Veranstaltungen,
die seit der Stiftung unserer Musikfeste getroffen worden ist! Aber
ihre Umtriebe haben der Herrlichkeit des Festes doch keinen Eintrag
gethan; die Energie des städtischen Kapellmeisters H. Dorn, des Di¬
rigenten des Festes, wußte die mehr als sechshundert Sänger und
Instrumente, welche zusammenwirkten, zur einmüthigsten Erecution
der schwierigsten Tonwerke, von denen wieder Beethoven's Missa ei¬
nes der schwierigsten ist, zu beseelen, und vor der Meisterschaft des
Erfolgs ist glücklicherweise alle Einrede und alle Mißliebigkeit elen¬
diglich zu Schanden geworden.
— Wir Deutschen sind ein empfängliches Volk. In »bstr-u^o
fressen wir Welsche und Slaven, daß es ein Grauen ist, aber ein
Mächtiger, woher immer, darf sich nur zeigen, um bei Tausenden
nicht blos gerechte Bewunderung, sondern dienstwillige Anbetung zu
finden. Ja, man ließe sich von einem Solchen unterjochen, damit er
nur nicht glaube, wir wüßten seine Größe nicht zu würdigen. Viele
thun jetzt empört über die Vergötterung, die Napoleon bei uns er¬
fuhr, als er der Herr Europas war; das Traurigste ist, daß Napo¬
leon eben so gut von Osten hätte kommen dürfen, ohne den Triumph¬
wagen der Revolution, ohne ein Gefolge heilsamer Reformen, und er
wäre vielleicht von Denselben, die jetzt mit nationalem Hasse seines
Namens prahlen, wie ein gottgesandter Herrscher aufgenommen wor¬
den. Czar Nikolaus reicht lange nicht an den Schatten des großen
Eorfen, allein er ist ein großmächtiger Herr, ein energischer Souve¬
rän, der, ungleich den anderen Monarchen, „die Nacht am Fußboden
auf Strohdecken verbringt"; und stehe da, er kann nicht durch Deutsch¬
land reisen, jenes Deutschland, wo man endlich die Pentarchie zu be-
greifen anfängt, ohne Huldigungen zu empfangen, die für uns tief
beschämend sind. Aus einer norddeutschen Residenz erzählt man eine
Scene, die wir für unglaublich halten würden, wäre sie nicht in der
ersten deutschen Zeitung, in der Augsburger Allgemeinen, in wohl¬
gefälliger und beinahe rühmender Schilderung zu lesen; und die Re¬
daction jenes Blattes hielt es nicht einmal für nöthig, durch ein strafen¬
des Wort oder ein zweifelndes Fragezeichen die Aufnahme einer so
taktlosen Correspondenz zu entschuldigen. Nikolaus war, auf seiner
Reise nach London, in Braunschweig angekommen und kaum aus
dem Wagen gestiegen, so sammelte sich devotes Publicum, Mützen
flogen in die Luft, Hüte und Tücher wurden geschwenkt, und zahl¬
reiche Hurrahs! ertönten! Wäre das in mancher anderen Stadt,
z. B. in Prag, vorgefallen, wie würde man da über panslavistische
Sympathien schreien. Das Braunschweiger Beispiel zeigt, daß die
Devotion vor Nußland, die man da oder dort bemerkt, oft nichts
weniger als Panslavismus, vielmehr gutdeutscher Philistersinn ist.
Wie der Correspondent zu verstehen gibt, soll die Begeisterung nur
dem schönen stattlichen Mann! und seinem freundlichen Benehmen
gegolten haben; d. h. es war der unwillkürliche Drang des Philisters,
entzückt zu sein, wenn ein großer Herr traulich thut; das Bedürfniß,
vor einer so gewaltigen Majestät seine gute Gesinnung und respect¬
volle Aufführung zuproduciren. Nikolaus hat gewiß von Braunschweig
recht herablassend Abschied genommen: mehr Achtung, dünkt uns
wird er vor dem englischen Publicum empfunden haben, welches ihn
sehr ruhig und mit selbstbewußter Würde empfing, obwohl es seine
politischen Talente gewiß recht gut verstehen und anerkennen mag.
— In Lüttich besteht seit April 1842 eine Zufluchtsstätte für
gefallene Mädchen (in-.i8.ii, loin»-«). Es hat seit seiner Begrün-
dung bereits achtzig Mädchen (von siebzehn bis dreißig Jahren) auf¬
genommen, von denen ein Theil aus dem Gefängniß, ein anderer so-
gar aus prostituirten Häusern kamen. In diesem Augenblicke befin¬
den sich blos achtundvierzig darin. Die übrigen sind 'in Dienste ge¬
treten, oder zu ihren Eltern zurückgekehrt. Die meisten der Letzteren
haben sich durch ihre Aufführung bisher als wirklich gebessert bewährt.
— Die endlich erfolgte Verurtheilung Daniel O'Connell's zu
einem ^ahre Gefängniß, zweitausend Pfund Sterling Buße und zehn¬
tausend Pfund Bürgschaft für sieben Jahre zu haltenden Frieden wird
in England verschieden angesehen. Einige Torystimmen halten die
Strafe für gering: im Gegensatz dazu hat das katholische Irland die¬
sen Ausgang des Prozesses wie ein Nationalunglück aufgenommen,
und tiefe Trauer überschattet das grüne Erin. Am Tage, wo sich
die Kunde von der Verurteilung verbreitete, stockten an vielen Orten
die Geschäfte, die Repealblätter erschienen mit schwarzem Rande, in
den Kirchen wurde für O'Connell's Wohl gebetet, das Volk von Dub¬
lin schlich stumm einher und lagerte sich um die schwarzen Mauern
des Richmond Penitentiary, wohin der Agitator sogleich abgeführt
worden war, wie die Juden am Tage der Zerstörung Jerusalems im
Thale Josaphat. O'Connell hat das Volk von seinem Gefängniß aus
aufgefordert, sich ruhig und gesetzlich zu verhalten; seine Gegner sehen
dies als eine überflüssige Koketterie mit dem Gesetze an und meinen,
Daniel O'Connell wolle sich nur den Anschein der Macht geben, als
sei er es, der die Ruhe Irlands aufrechthalte; in der That aber
mag der Agitator fürchten, das Volk könnte in ohnmächtigen Exces¬
sen unnütz sein Blut verspritzen, da die Insel von englischen Besaz-
zungen überfüllt ist. Selbst Mer große Theil des englischen Volkes,
der gegen O'Connell ist, rechtfertigt die Verurtheilung weniger als
eine gesetzlich gerechte, wie als eine politisch nothwendige Maßregel,
um den Einfluß eines Mannes zu brechen, der jedem Ministerium
das Regieren erschwerte, oft unmöglich machte. Man denke jedoch in
uristischer Hinsicht über das Urtheil, wie man wolle: man wird im¬
mer noch Grund haben, bei einem Seitenblick auf andere politische
Prozesse die großartige und großmüthige Haltung Englands zu be¬
wundern. So sehr Daniel die Tyrannei Englands anklagen mag:
dieses war doch das einzige Land der Welt, dessen Verfassung ihm so
lange zu agitiren, ja überhaupt seine Klagen über Tyrannei auszu¬
sprechen erlaubte. O'Connell agitirte in gesetzlicher Form, aber sein
Wunsch, England zu demüthigen, Irland nicht blos zu fördern, son¬
dern zu rächen, war unverkennbar. Man halte seinen Prozeß für
einen Tendenz- oder Gesinnungöprozeß und sehe sich bei uns um; wie
kleinlich und elend stehen wir da neben unseren germanischen Vettern
jenseits des Canals! Vergleiche sind hier allerdings nicht möglich, doch
denken wir an Jordan. Der friedliche Rechtslehrer ist freilich als
Mann der That nicht so bedeutend, aber auch nicht so gefährlich wie
Daniel. Jordan war ein reformliebender Deputirter von großer Be¬
redsamkeit; das Verbrechen, das man ihm zur Last legen will, ist,
daß er vor zehn Jahren um die Vorbereitung einer Emeute gewußt
und sie nicht denunzirt habe; Jordan war ferner allgemein geliebt,
und die Zeugen gegen ihn sind felle Spione: O'Connell dagegen hat
vor noch wenig Monaten den Nationalhaß zwischen Celten und Sas¬
senachs geschürt, er ist des Versuchs angeklagt, Großbritanien zu
zerstückeln, seine Drohungen gegen England standen in allen Jour¬
nalen Europas, und er wird von der Regierung bitter, zum Theil
persönlich gehaßt. Seine Strafe wird von Vielen für hart angesehen,
und doch ist des armen Jordan Untersuchung schlimmer, als die ärgste
Straft, die Daniel treffen könnte. O'Connell reiste im Lande frei
umher und donnerte im Parlament, bis zu seiner Verurtheilung:
Jordan durste nicht einmal sein todtes Kind begraben sehen. O'Con¬
nell wohnt in den prachtvollen und geräumigen Zimmern des Gou¬
verneurs von Richmond Penitentiary, ein großer Garten dient ihm zum
Spaziergang, er betet und speist in Gesellschaft seiner Verwandten
und Mitangeklagten, er erhält theilnehmende Besuche vom Lordmayor
Dublins herab bis zum deutschen Touristen Venedey, Adressen von
allen Corporationen des Landes und in der That leitet er von seinem
Gefängniß aus ungehindert die Angelegenheiten seiner Repealer. Sol¬
len wir noch einen Blick auf Jordan werfen, den kranken, ruinirren
Mann, den die Gensdarmen mit geladenem Gewehr begleiten, wenn
er einmal einen Schritt über die Schwelle des Gefängnisses thun
darf, um Luft zu schöpfen? — Es ist genug.
— Die Verhaftung Zirndorfer's wegen Irreligiosität (siehe vo¬
rige Wochenlieferung der Grenzboten) ist, nach der Rhein- und Mo¬
selzeitung, eine reine Erdichtung, die zum Besten des Autors und
Verlegers ausgesprengt worden.
— Bettina's Brentanobuch ist, wie man jetzt hört, nicht seines
Inhalts wegen confiscire worden, sondern weil, den Gesetzbestimmun¬
gen über Zwanzigbogenschriften zuwider, der Name der Verfasserin
nicht auf dem Titelblatte genannt war. Die Freigebung der Schrift
wird demnach keine Schwierigkeiten haben. Wir berichtigen das mit
Vergnügen. Berlin hat in letzter Zeit Krähwinkeleien genug began¬
gen; man kann ihm diese eine schenken.
— Nach dem „Ausland" gibt es jetzt ein wirkliches „junges
China", obgleich dieses Wort ein Widerspruch in sich oder eine Sa-
tyre auf unsere altklugen und welkgebornen Völkerfrühlinge scheinen
könnte. Eine Hauptstütze dieses, mit dem Christenthum und dem Un¬
chinesischen gerade so, wie das junge England mit dem Katholizismus,
kokettirenden jungen China ist der Mandarine sehn, der eine Denk¬
schrift über den englisch-chinesischen Krieg und die Austande seines
Vaterlandes verfaßt hat. Gützlaff hat dieses Memoir an Professor
Neumann in München geschickt; es ist namentlich im Anfange noch
ganz in echt chinesischem, naiv hyperbolischem und schlau einfältigen
Style geschrieben, z. B.: „das Mittelreich," so sprechen wir Gelehrte, „ist
über alle Nationen der Erde erhaben, und der große Kaiser, der Sohn
des Himmels, regiert über alle Länder und herrscht über alle vier
Meere . . . Was die Barbaren betrifft, die an den vier Enden der
Erde wohnen, die ihm alle Unterthan sein müssen, diesen erlaubt er,
Tribut zu bringen, und da sie aus Mangel an Rhabarber und Thee
sterben würden, so hat er ihnen gnädiglich die Freiheit gegeben, in
Canton diese Waaren einzutauschen. Allein was thun diese Elenden?
Sie bringen ein Gift, in Geruch und Farbe dem Kothe gleich, wel¬
ches sie den Einwohnern dieses blumenreichen Landes verkaufen. Nun
denke sich Jemand diese unerhörte Frechheit! Wäre es nur der ge¬
meine Pöbel, welcher durch den Gebrauch des Opiums verführt
würde, so wäre dies noch zu ertragen, denn an dem ist nicht viel
gelegen; aber die Soldaten und ihre Offiziere nahmen so viel von
diesem betäubenden Safte, daß sie für den Dienst ganz untüchtig
wurden :c. ze." Sehr oft leuchtet aus der Denkschrift eine gewisse
Aufklärung und Bewußtheit hervor; so drückt er sich einmal über ei¬
nen ganz lügenhaften Bericht an den Kaisir dahin aus: „es wurde
ihm (des Anstandes wegen) in unserer Sprache mitgetheilt! Wie
fein da das schiefgeschlitzte Ebincscnauge blinzelt! IVmt cominv die?.
»oil8, aber doch etwas ehrlicher.
— Die entsetzlichen Gräuel, welche die Albanesen gegen die
christlichen Unterthanen der Pforte verüben, sollen immer noch im
Zunehmen sein; die türkischen Truppen, die der Sultan gegen sie
ausgesandt hat, sind theils mit den blutdürstigen Horden einverstan¬
den, theils ohne die Kraft, die Wüthenden im Zaume zu halten. Auch
in Asien sollen die Christen die fürchterlichsten Verfolgungen erfahren.
Die türkische Bestialität schwelgt wieder einmal in Blut, Brand und
unnatürlichen Wollüsten. Man schaudert bei den Nachrichten von
gespießten Kindern, lebendig verbrannten Weibern und Greisen —
dergleichen läßt sich aber von türkischem Fanatismus nicht anders er¬
warten. Empörender ist die unmenschliche phlegmatische Berechnung,
mit der die Diplomatie der christlichen Mächte diesem höllischen Trei¬
ben zuzusehen im Stande ist. Von welchen christlichen Motiven sich
die Politik im Orient leiten läßt, sieht man daraus, daß England die
Maroniten den wilden Drusen preisgegeben hat, weil jene im freund¬
lichen Verhältniß zu Frankreich stehen. Wenn in den Donauländern
die Diplomatie noch lange achselzuckend zusieht, wird es dahin kom¬
men, daß die öffentliche Meinung, bei allem Haß gegen die Mosko¬
witer, die russische Intervention und Occupation wünschen wird, nur
um der teuflischen Wirthschaft ein Ende gemacht zu sehen. Dann
wird man es glauben, daß diese froschblütige Politik nicht blos eine
Sünde, sondern auch ein Fehler ist.
Seit dem Abdrucke meines vorigen Artikels hat die „Jllustrirte
Zeitung" die malerische Physiognomie und die hervorragenden Per¬
sönlichkeiten des ungarischen Reichstags in Bild und Schrift veran-
schaulicht; bei der großen Verbreitung jenes Blattes bin ich wohl
der Mühe überhoben, den Cicerone in den Hallen des ungarischen
Parlaments zu machen. Dafür darf ich es vielleicht unternehmen,
ein Wort über die Seele dieses pittoresken Schauspiels zu sprechen;
denn die Bedeutung des politischen Dramas, welches in dem großen
Hause an der Donau aufgeführt wird, scheint in Deutschland noch
viel zu sehr unterschätzt zu werden. Man erinnert sich, wie eifrig
gewisse aus Oesterreich kommende Stimmen die constitutionelle Be¬
wegung Ungarns als eine von den modischen Luftblasen des Jahr¬
hunderts auszuschreien suchten, als ein eitles Schattenspiel an der Wand des
Bestehenden, als eine puerile Nachäffung ^„westeuropäischer Tragikomö¬
dien". Diese österreichischen Zeitungscorrespondenten sind schlauer und ge¬
wandter, als man von der ungeübten Publizistik Wiener Federn er-
warten sollte. Im Bewußtsein, daß das Terrain einer diplomatischen
und viel gelesenen deutschen Zeitung ihnen gesichert ist; im Bewußt¬
sein, daß in Preßburg wenige Concurrenten ihres Geschäftes sich
vorfinden, haben sie eine eigenthümliche Taktik eingeschlagen. Sie füh¬
ren in ihren Berichten die Conduitenliste des Reichstags. Die gute
oder schlechte Aufführung desselben wird stets als Hauptsache in den Vor¬
dergrund geschoben. Ein Bischen Juratenlärm oder die rednerische Hitze ei¬
nes feurigen Landedelmannes (als ob es in London,Paris oder Washing¬
ton an solchen Episoden fehlte!) bringt sie zu dem Minimum, daß
man nunmehr an der politischen Befähigung der Magyaren verzwei¬
feln müsse. Bringt ein Redner die Freiheit der Presse, die Oeffent-
lichkeit der Gerichte aufs Tapet, so schreien sie, daß man den Bau
des Hauses mit dem Schornstein beginne. Sie haben genau aus¬
gerechnet, wie viel Jahrhunderte noch verstreichen müssen, ehe die
Erörterung solcher Fragen an der Zeit sei, denn es wäre eine himmel¬
schreiende Unnatur, wollte ein Volk so aus heiler Haut in die Frei¬
heit springen, ohne erst die heilsame Schule der Erschlaffung und
Gedrücktheit durchgemacht zu haben. Jene Fragen aber, deren Lösung
über Leben und Tod der Nation entscheidet, werden, weil sie aller¬
dings besser schon erledigt wären, als unnütze Grillenfänger«, als
Steckenpferdreiterei, als lächerliche Monomanie geschildert; und wenn,
wie erst unlängst der Fall war, nach Durchkämpfung einer solchen
Lebensfrage, worin alle großen und edlen Leidenschaften der Nation
in voller Gluth aufloderten, die Gemüther abgespannt und für irgend
ein materielles Interesse stumpf geworden sind, so heißt es: Seht,
wie sie die reellsten Angelegenheiten vernachlässigen und nur für
schwülstige Donquiroterien und fanatisches Gepränge mit großen
Redensarten Sinn haben.
Diese schlaue Taktik trifft richtig ihr Ziel. Die deutsche Gründ¬
lichkeit, welche bald mit wohlwollendem Herablassen, bald mit vor¬
nehmem Nasenrümpfen der ungarischen Bewegung einige Theilnahme
schenkt, findet in der That, daß man nicht durch den Schornstein
steigen dürfe. Diese gründlichen Herren versündigen sich an der
Eigenthümli edlen eines fremden Nationalcharakters durch ähnliche ober¬
flächliche Ab mtheilung, wie man sie sonst nur den Franzosen vorzu¬
werfen beliebt.
Und das sind die Einen, dies sind noch die Einzigen, welche
aus Bedürfniß oder Handwerk sich um das, was in Ungarn vor¬
geht, bekümmern. Was soll man von den Andern sagen? Ich will
nur ein Beispiel anführen. Ein Berliner, dessen Aufmerksamkeit ich
auf das politische Leben des großen Donaureiches zu lenken suchte,
meinte in vollem Ernst: Es sei nicht der Mühe werth, von diesem
Ungarn >-t das zu reden. Denn, rief er von der Höhe seines phi¬
losophischen Standpunktes zu nnr nieder, was kann aus Ungarn für
eine neue Idee kommen? Die Theorien, welche sie dort erst empirisch
zusammenbuchstabiren, haben wir längst innerlich durchgemacht und
überwunden. Aus einem naturwüchsigen Lande, aus einem Volke,
das noch gar nicht anders als unfrei denken kann, wird sich nie ein
neues System entwickeln.
Diesen Herren — denn mein Berliner ist keineswegs blos ein
Einzelner, sondern der Repräsentant einer zahlreichen Philosophischen
Schule in Deutschland — ist es also vor Allem um das System,
um die Theorie zu thun. Die Völker werden von ihnen aus dem¬
selben Gesichtspunkte betrachtet, wie eine Menagerie von einem Na¬
turforscher: Dieses Thier gehört in jene und dieses in eine andere
Klasse; es ist kein neues Exemplar da, es ist Nichts dabei zu lernen.
Darin unterscheiden sich unsere philosophischen Politiker von den Eng¬
ländern und Franzosen. Diese betrachten die fremden Völker zuerst
von dem praktischen Gesichtspunkt wie ein Jäger, der in einer Me¬
nagerie ruft: wenn ich nur jenen Löwen erlegen könnte, wenn ich
nur jene Hirsche in meinem Park hätte! Der Engländer kümmert sich
wenig, von welcher ideellen Theorie dieses oder jenes Volk ausgeht,
aber er weiß haarklein, welchen Nutzen es seinem Lande bringen
kann, wenn diese oder jene Wendung einträte. Er kennt jedes Fleck¬
chen in den fünf Welttheilen, aus welchem seiner nationalen Wohl¬
fahrt ein Vortheil erwachsen könnte; und das unphilosophische Land
der Königin Pomarö ist ihm ebenso wichtig und interessant als z. B.
die theorienreiche Schweiz, das literarische Comptoir in Winterthur
mit eingerechnet.
Wir aber sind immer noch theoretisch-kritische Zuschauer vor je¬
der großen und kleinen politischen Bühne. Die Geschichte wie die
Politik ist uns eine Gellert'sche Fabel, die Hauptsache dabei bleibt
die Moral. Wir fragen nicht: Welchen Einfluß auf uns, welchen
Nutzen oder Schaden für uns haben unsere Berührungen mit die¬
sem oder jenem Volke? sondern: welche allgemeine Regel laßt sich
aus diesem politischen Prozeß abstrahiren? Trotz aller neueren Be¬
strebungen ist der politische Verstand immer noch zum größten Theil
in ein Paar Geheimcabinete eingeschlossen.
Ungarn aber ist für Deutschlands Zukunft von doppelter Wich¬
tigkeit. Alle Welt wird eingestehen, daß die deutschen Verhältnisse
einen ganz anderen Aufschwung nehmen würden, wenn Oesterreich
sich an die Spitze des politischen Fortschritts stellen, wenn Oesterreich
den ständischen und municipalen Corporationen in seiner Mitte eine
größere Ausdehnung geben wollte. In dieser Beziehung ist Ungarn
für den gesammten Kaiserstaat ein Sporn, dem man auf die Länge
nicht widerstehen kann. Ungarn hat dem übrigen Oesterreich ein
Beispiel gegeben, welches man nicht, wie einst das französische, als
anarchisch verdächtigen, oder wie das englische, als unnachahmlich
entkräften kann: das Beispiel, daß mit der feurigsten Freiheitslust sich
eine feste Anhänglichkeit an die Dynastie vereinigen könne. Die¬
ses Beispiel für Volk und Regierung kommt nicht aus blauer Ferne,
nicht weit über Meer aus einem blos dem Hochgebildeten und
Denkenden verständlichen Staatswesen, auch nicht von einem Volke,
das uns jeden Augenblick feindlich gegenüber stehen kann, sondern
von einem Lande, das mit den übrigen Provinzen Oesterreichs den¬
selben Farben huldigt und durch unzählige historische, materielle und
gesetzliche Bande verbunden ist. Daß dieses Beispiel bereits sichtbare
Folgen nach sich zieht, hat sich bei den jüngsten Landtagen in Böh¬
men und Niederösterreich herausgestellt. Der böhmische und öster¬
reichische Magnat, der mit dem ungarischen so vielfach verschwägert
ist und in den geselligen Salons Wiens, so wie in den Familien¬
kreisen der Landschlösser Jahr aus Jahr ein in gegenseitiger Berüh¬
rung lebt, wird allmälig von dem nationalen und politischen Ideen-
gange seiner Standesgenossen angeregt und fortgerissen. So stellt
sich in Oesterreich in jüngster Zeit die merkwürdige und seltene Er¬
scheinung heraus, daß die politische Bildung des Adels sich eher ent¬
wickelt, als die der mittleren Stände. Die jüngste publizistische Lite¬
ratur über Oesterreich, zum Theil von Adeligen herrührend, zeigt
dieses deutlich. Unter allen Vorschlägen zur Reform österreichischer
Zustände ist die Schrift „Oesterreich und seine Zukunft", wenn auch
nicht die annehmbarste, wenn auch in ihrem Prinzip .verfehlt, doch
immerhin diejenige, welche mit dem meisten praktischen Geiste, mit
der meisten Kenntniß der Zustände geschrieben ist. Daß das Bür-
gerthum hinter dem Adel zurückbleiben wird, ist wohl nicht zu be¬
fürchten. Möge Jener immerhin die Initiative ergreifen, ist nur das
politische Leben einmal in warmer Regung, so wird das Bürgerthum
seinen Standpunkt bald zu finden wissen. Die Regierung selbst wird
in ihm seine Hauptstütze suchen, wie dieses ja gerade der Fall in Ungarn
ist, wo die Städte in ihren Anforderungen um eine größere Repräsentation
beim Reichstage von der Negierung gefördert werden. Und jene Oe¬
sterreicher, die sonst blos in verbotenen Schriften über heimische Zu¬
stände eine Anregung suchten, die nur zu oft in unfruchtbaren Spöt¬
teleien, in wohlfeiler Verachtung, in Theilnahmlosigkeit und Entmu-
thigung bestand, blicken jetzt unverwandt und in frischer Hoffnung
nach Ungarn. Das Resultat hiervon ist nicht schwer vorauszusehen.
Wie die Negierung einerseits ihre Rechnung dabei finden wird, das
Bürgerthum allmälig zu stärken, um den Adel nicht eine gefährliche
Uebermacht gewinnen zu lassen, so wird sie andererseits dem zuneh¬
menden Uebergewicht des Magyaren- und Slaventhums nichts na¬
türlicheres und Kräftigeres entgegenstellen können, als die Emancipa¬
tion und die organische Belebung der deutschen Elemente im Kaiser¬
staat. Ein fruchtbarer Wetteifer wird dann in Oesterreich, Steyermark,
Tyrol und unter den Deutschen von Böhmen und Mähren entbren¬
nen, denn diese Völker sind im tiefsten Herzen heil und gesund, von
unentweihter jugendlicher Kraft und Frische. Kommt das deutsche
Leben auf diese Art in freier Entwickelung zu Ehren, dann hat Oester¬
reich' eine ganz andere Stellung zu Deutschland erhalten, als die es
bisher einnahm. Und wer kann die Folgen eines Umschwungs berech¬
nen, den Oesterreich, wenn es diese Bahn eingeschlagen, in die poli¬
tischen Verhältnisse Deutschlands bringt?
So wichtig nun Ungarn, durch seinen politischen Einfluß auf
Oesterreich, für Deutschland überhaupt ist, eben so wichtig ist es an sich
selbst als eine unserer festesten Vormauern gegen Rußland. Wir haben Po¬
len umwerfen und langsam zerbröckeln lassen — sollen wir auch dieses treue
eiserne Thor dem Erbfeinde gutwillig öffnen? Man täuscht sich wohl
nicht mehr über unsere Stellung zu dem Moskowitenreich, das seit
einem Jahrhundert wie eine Lawine wachsend, asiatische Volksstämme,
entwurzelte Slavcngeschlechter, Finnen, Tataren und Armenier sich
nssimilirend, mit dem doppelten Gewicht raffinirter List und ungebro¬
chener Naturkraft auf die schwachen Dämme unserer (an jenen Gren¬
zen) nur zu unfertigen Cultur und Germanisation losrückt. Man dachte
nicht an's Germanisiren, als Ungarn der verlorene Posten gegen den
Halbmond war. Auch jetzt, bei dem Kampf gegen den Türken un¬
serer Zeit, wird man einsehen, daß ein heldenmüthiges, freies und
uns befreundetes Volk ein besserer Kampfgenosse ist, als eine ver¬
waschene, äußerlich verdeutschte, innerlich grollende oder gleichgiltige
Bevölkerung. Sobald es zum physischen Kampfe kommt, wird allen
Anzeichen nach wieder Ungarn die Wahlstatt sein, wo die Geschicke
Deutschlands und der Civilisation entschieden werden. Die Magya¬
ren aber, die Hüter der Donau, kraft ihres Nationalstolzcs und ihres
ritterlichen Wesens natürliche Feinde des Russenthums, sind unwill¬
kürlich unsere Vorhut und durch die gefährliche Isolirtheit ihrer Lage
auf die innigste Allianz mit Deutschland angewiesen.
Von diesem Gesichtspunkte aus war es eine kluge und sehr zu
billigende Maßregel Oesterreichs, daß es dem Reichstagsbeschluß in
Bezug auf die ungarische Sprache sich nicht länger entgegenstellte. Was
auch die Slaven dagegen einwenden mögen, so viel muß Jedermann ge¬
stehen, daß ein Primat der slavischen Ungarn eher dem Magyaren¬
volk, als dessen Hegemonie dem Slaventhum Ungarns den Unter¬
gang drohen würde. Was die Magyaren anstreben und behaupten
wollen, die Geltung ihrer Sprache als Staatssprache, ist nur berech¬
net, Einheit in die politische Repräsentation des Reichs zu bringen,
ohne daß es im Stande wäre, die Nationalität der verschiedenen
Volksstämme Ungarns anzutasten. — Umgekehrt wäre es schlimmer.
— Es ist nicht zu läugnen, daß Rohheit oder Mißverstand von
Seiten der Magyaren oft zu weit gegangen ist. Aber die grausen¬
haften Sprachzwangshistorien, wie sie durch alle deutschen Zeitungen
liefen, waren meist Karrikatur. Wer in der Augsburger Allgemeinen
zu Anfang dieses Jahres die Erklärung Mailath's und die nicht
widerlegten Enthüllungen von Luk-lcz las, wird einen Begriff bekom¬
men von den gewissenlosen Mystifikationen, die oft von der eigenen
Partei mir ihren Führern getrieben werden. Ein Beispiel gaben die
groben Täuschungen, die man sich mit dem an sich achtungswerthen
und redlichen Slaven Seur erlaubt hatte; und wir glauben gern,
daß die Häupter der Slaven oft selbst die dämonische Hand nicht
kennen, die aus dunklen Regionen hervor sie schiebt und leitet. Dies
Alles beweis't aber nur, daß dem unseligen Sprachzwist tiefere Dinge
zu Grunde liegen, als blinder Fanatismus oder lächerliche Rechtha¬
berei. Beide Theile begehen schweres Unrecht, aber die Südsicwen
durch ihre Zwecke selbst, die Magyaren nur durch die Art, wie sie
ihre Zwecke verfolgen.
Die Magyaren kämpfen im Bewußtsein, daß es sich um ihr
Sein oder Nichtsein handelt, die Slaven im Glauben an eine große
Zukunft. Jene, bisher die Herren, nicht nur durch Besitz und Stel¬
lung, sondern durch die Ueberlegenheit moralischer Energie, waren
von jeher, obgleich nur ein kleines Häuflein, die Seele Ungarns;
das Gepräge ihres ritterlichen Charakters war allen Elementen aus¬
gedrückt, deutschen, wie slavischen, die sich aus der Dunkelheit erho¬
ben. Der Umschwung der Zeit hat anderen Elementen Macht gegeben;
es ist nicht mehr immer die Gewalt der Persönlichkeit, was in unseren
Tagen siegt: die zähe Ausdauer, die kluge Berechnung, das Gewicht
der Massen wie der materiellen Interessen, sind mächtiger als der
offene Muth und die heldenmüthige Begeisterung. Darum rafft der
Magyar all sein Feuer, all seine gebieterische Thatkraft zusammen,
und an die Herrschaft gewöhnt, tritt er manchmal zu herrisch auf:
der zähe, geduldige Slave aber, obgleich dem Andern an Zahl drei¬
fach überlegen und darauf pochend, wagt weniger den offenen Kampf,
als er durch elegische Anklagen, durch Anrufungen des Auslandes,
durch übertriebene Schilderungen seiner Leiden zu wirken sucht; ge¬
wöhnt, sich demüthig zu geberden, thut er es auch im Kampf auf Tod
und Leben. Das ist es, was den Magyar, diesen neuen Götz von
Berlichingen, mit Haß erfüllt und zu den äußersten Mitteln zu trei¬
ben droht. Er weiß, daß sein Volk nur eine Insel ist mitten in ei¬
nem endlosen Meere von Slaven, das nicht mit stürmischen Wogen
seine Felsenbrust schlägt, sondern langsam seine Wurzeln zu unterwüh¬
len und Hinwegzuwaschen sucht. Im Hintergrunde aber steht noch das
griechische Slaventhum Südungarns. Auf diese Slavenstämme ist
von den Serben, Moldauern und Wallachen eine Sympathie für
Rußland und ein Haß gegen Oesterreich übergegangen, der dessen
beklagenswerther Politik gegen die Türkei zuzuschreiben ist. Als die
Pforte nach Joseph's II. Tode alt und kraftlos geworden war, glaubte
Oesterreich, in unzeitiger Großmuth, den früheren Feind, der sich nun
in den ihm gebührenden Schranken hielt, eben so in seinem Recht
schützen zu müssen, wie es gegen ihn sein eigenes gewahrt hatte.
Jenes Recht aber war ein Unrecht gegen die jugendlichen, von der
Pforte geknechteten Christenvölker, an denen nach dem Laufe der Na¬
tur die Reihe war, sich aus den Händen der alterschwachen Despo¬
tie loszureißen. Während nun Oesterreich aus mancherlei Weise den zit¬
ternden und blutbefleckten Händen der Pforte half, diese Völker fest¬
zuhalten, warf sich Nußland zu ihrem Anwalt aus, nicht weil das
Recht, sondern weil die Kraft und der wahrscheinliche Sieg auf ih¬
rer Seite war. Vielleicht handelte Oesterreich nur so, weil es früh¬
zeitig die Sympathie der Süd-Slaven für den nordischen Glaubens¬
genossen erkannte; aber es beförderte eben dadurch nur das, was es
verhindern wollte. Und die Früchte dieser unseligen Politik beginnen
schon zu reifen. Die feindseligste Agitation gegen die Magyaren, die
vom Süden Ungarns ausgeht, hat keine blos slavische Färbung und
ist auch nicht blos gegen das Magyarenthum gerichtet. Dort sind
die Blößen, wo einst Oesterreich des Erbfeindes Klauen in seinen
Weichen fühlen wird; denn bei klug geschürter Zwietracht und
steigender Erbitterung werden einst die protestantischen Slaven
Nordungarns über der nationalen Verwandtschaft den religiösen Un¬
terschied vergessen und sich mit den Kroaten und Jllyriern verbünden,
um das Prinzipal des Slaventhums in Ungarn, umer nor¬
dischem Schutze natürlich, auszurufen. Das wittert der Magyar und
dagegen bäumt er sich in lärmender Wildheit, wie das edle Roß,
das von fern schon den Streit riecht und das lauernde Raubthier,
während sein Reiter noch harmlos in den schönen blauen Himmel
hineinschaut.
Diesem Vorposten gegen den modernen Erbfeind muß der Deut¬
sche Manches nachsehen. Das Hauptinteresse, welches die
Magyaren und Deutschen an einander bindet, ist so groß, daß man
einige untergeordnete Fragen, wie z. B. die der Deutschen in Sie¬
benbürgen jetzt auf sich beruhen lassen sollte, um so mehr, als derlei
Discussionen nur reizen, ohne zu einem Resultat zu führen. Unsere
Hilfe bedürfen jene Deutschen am allerwenigsten. Sie haben kraft
ihrer repräsentativen Verfassung, kraft ihrer Eigenschaft als Sieben-
bürgner eine Selbständigkeit, die ihnen kein deutscher Bundesstaat in
dem Grade gelassen hätte. Es sollte ihnen selbst in Baden, Sach¬
sen oder Würtemberg schwer fallen, mit derselben Hartnäckigkeit wie
dort, dem Staatsinteresse gegenüber ihre ererbten Eigenheiten und
Privilegien sich zu wahren. Kommt die Zeit, wo Ungarn und Deutsch¬
land sich verständigt haben und Hand in Hand mit einander dem
gemeinsamen Feinde die Stirne bieten, dann wird Deutschlands Wort,
zu Gunsten der sächsischen Brüder in Siebenbürgen, viel mehr Ge¬
wicht haben als die unfruchtbare nachdruckslose Journalpolenük, die
bisweilen über diesen Gegenstand geführt wird. Der echte National¬
geist besteht darin, den Vortheil der Nation im Ganzen und Gro¬
ßen zu erfassen und nicht in kleine, wenn auch noch so wünschens-
werthe Nebendinge, sich zu zersplittern und vom Hauptziel ablenken
ulaen.
Die Vortheile eines freundlichen, herzlichen Verständnisses mit
den Magyaren können hier nur angedeutet werden; sie in'ö Detail
zu verfolgen, die vielfachen materiellen und geistigen Berührungs¬
punkte, so oft sie auf der Oberfläche des Verkehrs erscheinen, zu fas¬
sen und zu commentiren, dies wäre die Aufgabe der in Ungarn le¬
benden deutschen Schriftsteller. Es erscheinen in Preßburg, im An¬
gesicht des Reichstags, zwei deutsche Blätter, deren Redacteur ein
wackerer und rüstiger junger Schriftsteller, Herr Adolf Neu¬
stadt, ist; die eine, die Preßburger Zeitung, ist wegen der Nasch-
heit und Gedrängtheit, mit welcher sie die Verhandlungen des Reichs¬
tags bringt, von Wichtigkeit. Das andere Blatt, die Pannonia,
bringt Sittenschilderungen, Localnotizen, Korrespondenzen aus Wien,
Pesth :c. und gilt als eines der rüstigsten Provinzialblätter Oesterreichs.
Aber keines von diesen beiden Blättern erfüllt den Zweck einer Ver¬
mittelung, oder wenigstens eines klaren Beleuchtens und Gegeneinan-
berstellenS der deutschen und magyarischen Interessen; eine Aufgabe,
die um so Wünschenswerther erscheint, als die Korrespondenzen, die von
Preßburg aus in die deutschen Blätter kommen, nur von Parteileiden-
schast dictirt sind und entweder allzudienstfertige Vertreter der Negie¬
rung oder heißblutige Ultramagyaren zu Verfassern haben. Die in
der Mitte liegende Wahrheit ist schwer herauszuschälen. Zudem ge-
hen in der Hitze dieses Jdeenkampfes tausend dem Kampfe fern lie¬
gende Gegenstande, deren Erörterung Deutschland höchlich interessiren
müßte, verloren, weil nur das hervorgezogen wird, was dem Kampfe
zur Nahrung dient. Wie viel Gutes, Lehrreiches und Interessantes
könnte ein deutsches Journal wie die Preßburger Zeitung nicht bie¬
ten, wenn sie ferne von Leidenschaft nur das Interesse der Wahrheit
im Auge behielte.
Um nicht ungerecht zu sein, muß vor Allem gesagt werden, daß
Herr Neustadt, der mit vielem Talente einen redlichen Willen und
einen ungewöhnlichen Rechtssinn verbindet, unzählige Versuche ge¬
macht hat, um die hier angedeutete Bahn einzuschlagen, aber immer
daran scheiterte, woran so Vieles in Oesterreich scheitern muß — an
der Censur. Denn wohlgemerkt, die deutschen Blätter in Ungarn
stehen nicht unter ungarischer, sondern unter österreichischer Censur
und bilden so ein jämmerliches Gegenbild zu den freiern Bewegungen
der magyarischen Blätter. Welch ein schreiendes Mißverhältniß! In
welchem Staate der Welt findet sich ein ähnlicher Widerspruch? In
einem und demselben Lande, unter der Herrschaft derselben Gesetze
erscheinen Blätter in verschiedenen Sprachen, und während man den
einen ihre volle Mannbarkeit zugesteht, setzt man die anderen, die
obendrein noch die Sprache der Centralregierung, des Kaiserhauses
sprechen, unter die schärfste, kleinlichste Vormundschaft.
Die Ursache dieses unerhörten Widerspruchs dürfte Manchem
unbegreiflich sein. Schützen die Landesgesetze nicht Einen wie den
Andern in diesem Ungarn? höre ich fragen, und andererseits, wenn
die Negierung die Macht hat, die Presse zu beherrschen und wenn
sie in einer strengen Censur ihren Vortheil zu sehen glaubt, warum
dehnt sie dieselbe nicht auch auf vie magyarischen Blätter aus? Hier¬
auf muß ich eine Antwort geben, die mir schwer fällt in einem Auf¬
satze, dessen Zweck es ist, zu einem freundlicheren Verständniß zwischen
Magyaren und Deutschen etwas beizutragen und den Ersteren das
Wort zu reden bei den Letzteren. Denn frei herausgesagt, in Bezug
auf die ungarisch-deutsche Presse haben die Magyaren einen unver¬
zeihlicher Egoismus an den Tag gelegt, den Blättern ihrer Zunge
haben sie Schutz und eine liberale Censur erwirkt; die deutschen
Blätter in ihrem Lande haben sie schmählich im Stich gelassen. Dies
ist keineswegs würdig einer Nation, die so gerne ihreGroßmuth rühmt,
und auch oft genug dieses Ruhmes sich würdig gezeigt hat.
Als Frankreich die Abschaffung der Censur decretirte, hat es
die Blätter deutscher Zunge, die im Elsaß erscheinen, nicht bei Seite
gelassen, obgleich in mehreren derselben für Deutschland gesprochen
wird. In England ist die irische Presse, die Nepeal und Haß der
Sassenachs predigt, unter demselben Gesetzschutz wie alle übrigen
Blätter. Der Standesunterschied, der in Ungarn zwischen magyarischer
und deutscher Presse herrscht, ist wie eine Rückkehr zu jener Tendenz,
welche den Magyar, den Adeligen, als den alleinigen Herrn
des Landes anerkennt. Die Magyaren protestiren gegen die Aus¬
legung ihres jüngsten Sprachgesetzes, sie behaupten, daß das Vor¬
recht, welches sie der ungarischen Sprache eroberten, nur ein diplo¬
matisches sei, keineswegs aber in einen Sprachzwang ausarten solle.
Der Nothstand, in dem sie die deutsche und die slavische Presse be¬
lassen, ist, wenn auch ein indirekter, aber darum nicht minder offener
und schreiender Sprachzwang. Selbst das Verfahren der Regierung, in
Bezug auf die ungarisch-deutsche Presse, ist weit eher zu motiviren
und in gewisser Art sogar eher zu entschuldigen, als das der Ma¬
gyaren. Oesterreich sieht sich in der Verlegenheit, durch Gleichstellung
der deutschen mit der magyarischen Presse in Ungarn, in der einen
Ecke der Monarchie Meinungsäußerungen sich erheben zu sehen, die in
allen übrigen proscribirt sind. Die größere Freiheit, welche die ma¬
gyarische Presse genießt, ist in den übrigen Provinzen nicht gefährlich,
da die ungarische Sprache außerhalb Ungarns nicht verstanden wird.
Bei einer freieren Bewegung der deutschen Journale in Ungarn wür¬
den die dort geäußerten Prinzipien sich mit reißender Schnelligkeit
durch die Monarchie verbreiten, wo das Deutsche überall gelesen und
verstanden wird. Die ungarischen Blatter könnten allerdings für das
übrige Oesterreich verboten werden, dies wäre jedoch bei der dichten
Nachbarschaft nicht gut durchzuführen und wäre zugleich eine Ma߬
regel, der Oesterreich in seiner Scheu vor allem Aufregenden und
Aufsehenmachenden gerne ausweicht. Viel leichter ist es, Alles beim
Alten zu lassen, bequem und vorsichtig zugleich. — Leider ist dies
eine Consequenz jenes Irrthums, den Oesterreich nicht etwa blos in
Bezug auf Preßfreiheit, sondern in Bezug auf die Presse überhaupt
hegt. Oesterreich wird noch lange nicht glauben, daß die Presse die
Wunden heilt, die sie schlägt. Und doch hat es gerade in Ungarn
den Beweis davon erhalten. Als Kossuth durch seine geschriebene
Zeitung zuerst bewies, wie alle Censurmaßregeln unzureichend sind
gegen Verbreitung politischer Ideen, da riechen die Freunde des Fort¬
schritts und der Regierung, an die Stelle dieser geheimen Presse,
die man doch weder beherrschen, noch widerlegen könne, lieber die
Meinung der Opposition in offener Schrift frei zu geben, um sie
mit ihren eigenen Waffen bekämpfen zu können. Dies geschah wirk¬
lich; der magyarischen Presse wurden die Fesseln abgenommen. Die
Discussion begann und die Negierung — war nichts weniger als
unglücklich in diesem Kampfe. Vielmehr fand sie in dem Grafen
Aurel Dessewffy, der die Leitungsartikel in dem Regierungsblatte
Vü-LZ (Welt-Licht) schrieb, einen beredten und gewinnenden Wortfüh¬
rer, der- dem „Pesel Hirlap" des feurigen und radicalen Kossuth
ungefähr in demselben Verhältniß entgegentrat, wie das Journal des
Debats dem National. Obgleich Desfewfy mittlerweile gestorben ist,
hat die Regierung bis auf diesen Augenblick nicht Ursache gehabt,
die freie Bahn, die sie der magyarischen Presse eröffnete, zu bereuen.
Sollte das für die deutsche Presse kein Beispiel geben?
In einem weit günstigeren Verhältnisse, als die deutschen Blät¬
ter in Ungarn befindet sich die von Or. Henßelmann in Preßburg
redigirte, aber in Leipzig bei Georg Wigand erscheinende „Vierteljcchrs-
schnft aus und für Ungarn." Ihr Druckort enthebt sie den österreichi¬
schen Censurschranken, während ihr Redacteur und seine vorzüglichsten
Mitarbeiter in Preßburg auf dem Schauplatze des Reichstages selbst
ihr Material sammeln. Diese Review verdiente ob ihres reichhal-
eigen Materials eine größere Aufmerksamkeit von Seiten des deut¬
schen Publicums. Daß ihr diese nicht nach dem Maße ihres Ver¬
dienstes gezollt wird, liegt vielleicht in der bisweilen leidenschaftlichen Fas¬
sung ihrer leitenden Artikel; eine Leidenschaftlichkeit, die sich sogleich im An¬
fange auch gegen Deutschland richtete».) Es ist natürlich, daß man von
einer Nationalität, die heißeres Blut besitzt, nicht fordern kann, daß sie sich
nach unserer Weise ausdrücke. Das leidenschaftliche Feuer, mit wel¬
chem ein Publizist zu seiner eigenen Nation spricht, ist hoch in Ehren
zu halten. Der Volkstribun, und ein solcher sei der Journalist, kann
nur durch Feuer die Massen hinreißen; es wäre kleinlich, um eines
zu heftigen Ausdrucks willen mit ihm zu rechten. Aber der Publi¬
zist, der zu einer fremden Nation spricht, die nicht mitwirkend, sondern
nur Zuschauerin ist, von dem erwartet man, daß er. zum Heile sei¬
nes eigenen Zweckes, auf die Natur und Richtung dieses Publicums
Rücksicht nehme. Was kann die Absicht der Vierteljahrsschrift für
Ungarn sein? An wen wendet sie sich? Nicht an die Magyaren, sonst
würde sie ihrer Sprache sich bedienen; also an Deutschland. Sie
will die Deutschen offenbar über die Rechte und Bestrebungen Un¬
garns aufklären, sie will den Magyaren Sympathien bei ihren deut¬
schen Nachbarn erobern. Ist Leidenschaftlichkeit, Ironie (wie z. B. in
dem erwähnten Artikel), das rechte Mittel hiezu? Es ist nicht anzu¬
nehmen, daß Herr or. Henßelmann deshalb die deutsche Sprache
für seine Publication wählt, um den Deutschen Bitterkeiten sagen zu
können; ich habe vielmehr die Ueberzeugung, daß nur die Entfernung
von Deutschland und das fortgesetzte Leben unter den aufregenden
magyarischen Debatten inmitten der betheiligten Landsleute, dem Re¬
dacteur und seinen Mitarbeitern ihren ursprünglichen Gesichtspunkt bis¬
weilen entrücken und ihren Artikeln eine Färbung geben, die mit ihrer
primitiven, beifallswürdigen Absicht im Widerspruche steht. Mögen
diese Herren den wohlgemeinten Rath und Tadel beachten, der aus
der Theilnahme entspringt für ein Organ, das viel dazu beitragen
könnte, Deutsche und Magyaren über ihr gemeinsames Interesse auf¬
Die Berichte über Universitätsverhältnisse, insonderheit aber über
die Zustände der Berliner Universität haben in den letzten Jahren
fast eine stehende Rubrik in den Zeitungen gebildet und das allge¬
meine öffentliche Interesse für sich in Anspruch genommen. Wurde
ein neuer Professor nach Berlin berufen, hielt ein Privatdocent dort
seine erste Vorlesung, machten die Studenten eine Demonstration,
gleich waren die öffentlichen Blätter davon voll, als handle es sich
um eine Angelegenheit von allgemeiner Wichtigkeit. Allerdings war
dies Alles immer von mehr als blos localer Bedeutung, und es lag
dem Lärm, den man davon machte, das Bewußtsein von dem Zu¬
sammenhang zu Grunde, in welchem die Entwickelung und der Kampf
der Wissenschaft mit der Gesammtentwickelung unserer Zeit überhaupt
steht. Man betrachtete aber die Sache von einem durchaus falschen
Gesichtspunkte, wenn man meinte, daß die Universitäten die Orte
seien, an denen dieser wissenschaftliche Kampf frei und aufrichtig
durchgekämpft werden könne; wenn man ihnen innerhalb desselben
noch eine Bedeutung vindicirte in einer Zeit gerade, wo sie doch so
offen zeigten, was sie ihrem Wesen und ihrer Natur nach sind und
werden wollen, nämlich Nichts weniger als Institute der Wissenschaft.
Diesen Namen konnten sie nur so lange führen, als die Wissenschaft,
an sie geknüpft und innerhalb ihrer Schranken sich bewegend, keine
weitere Freiheit kannte, als die sie ihr gewährten, und auch nach kei¬
ner weiteren verlangend, noch nicht aus innerer Nothwendigkeit jede
ihr von Außen gesetzte Grenze durchbrach, noch nicht wirklich frei,
d. h. eben von den Universitäten vertrieben sein wollte. Durch diese
nothwendige That, einerseits der mächtig emporstrebenden Wissenschaft
und andererseits der Universitäten, haben die letzteren ihre ganze
Bedeutung innerhalb der Entwickelung der Zelt verloren, sind alle
ihre Demonstrationen nur für dieselbe höchst gleichgiltig geworden.
Die Wissenschaft, indem sie mit der ihr gebotenen Lehrfreiheit Ernst
machte, zeigte, was denn nun eigentlich ihr Wesen, d. h. eben die
Freiheit sei, und die Universitäten wiederum bewiesen, wie sie sich zu
diesem Wesen der Wissenschaft verhalten müßten; daß sie eben nicht
Institute der Wissenschaft, sondern ganz außerhalb derselben stehender,
bestimmter praktischer Interessen seien, daß es ihnen nur um diese,
um die ihnen von Außen gegebenen Schranken und Voraussetzun¬
gen, nicht aber um die Wahrheit und Erkenntniß zu thun sei, die,
keine Voraussetzung und Schranken anerkennend, sie mit einer wis-
senschastlichen Nothwendigkeit durchbrechen. Indem die Universitäten
so den vermeintlichen Irrthum nicht anders zu bekämpfen, als von
sich fern zu halten oder zu verjagen wußten, haben sie sich selber das
testimomnm p-iupertittis und in ihm ihr Todesurtheil ausgestellt
innerhalb einer Zeit, wo es sich eben um einen offenen, entschiedenen
Kampf der Gegensatze, um Thaten der wissenschaftlichen Erkenntniß, um
den Muth der kritischen Aufrichtigkeit handelt und man nicht mehr
durch Polizeimaßregeln beweisen kann, ob etwas Wahrheit sei oder
nicht. Die Gründe, warum, und die Art, wie sie eine gewisse Art
derZ Wissenschaft von sich ausgestoßen haben, beweisen hinlänglich ihre
Stellung zur Wissenschaft überhaupt. Die von ihnen frei gewordene
Theorie hat uns durch ihre einfache That und deren Folgen ihr
Wesen erklärt, wir wissen jetzt, was die Universitäten der Zeit leisten
können und was sie von ihnen zu erwarten hat. Mögen sie immer¬
hin gute pädagogische Anstalten, Abrichtungsanstalten sür zukünftige
Staatsdiener sein: Institute der Wissenschaft, Repräsentanten wis¬
senschaftlichen Fortschritts und wissenschaftlicher Entwickelung sind sie
nicht mehr.
Vor mehreren Jahren hatte man es noch der Mühe werth ge¬
halten, eine weitläufige kritische Darstellung der inneren Verhältnisse
der Berliner Universität, so wie der Bedeutung und Wirksamkeit ih-
r°r hervorstechenden Persönlichkeiten zu liefern; was aber damals
noch von Interesse war, ist jetzt bedeutungslos geworden; die Wis¬
senschaft, noch innerhalb der Universitäten sich bewegend, hatte noch
nicht jene reifen Früchte erzeugt, die sie abschütteln mußten, aus der
schlummernden Knospe hatte sich noch nicht die stolze Blume entwik-
keit, für deren starken, kräftigen Duft diese Räume zu eng wurden.
Indem die Wissenschaft und Forschung sich frei machte, mußte sie
sich eben von den Universitäten emancipiren, und diese sind auch hin¬
terher gekommen, diesen Schritt auch äußerlich darzustellen. Bevor
aber dies Alles, alle diese Thaten der Wissenschaft mit dieser Ener¬
gie geschehen waren und der Bruch noch nicht vollendet, zum Durch¬
bruch geworden, als man da noch eine Kritik der Berliner Univer¬
sität schrieb, da war die letztere auch noch von Bedeutung; und Je¬
der, der die wissenschaftliche Entwickelung der beiden letzten Jahr¬
zehnte verfolgt und begriffen hat, wird auch diese Bedeutung kennen.
Die Berliner Universität verdankt ihren Ruf einzig und allein der
ersten Anregung und Entwickelung jenes frischen wissenschaftlichen
Geistes, dessen scharf ausgebildete Conseguenzen es eben sind, welche
die kritische Bewegung, die kritischen Thaten und die ganze kritische
Collision der letzten Jahre hervorgerufen haben. Seit langer Zeit
ein Sitz gelehrter und schöngeistiger Bildung, wurde Berlin seit der
Gründung der Universität nun auch ein Mittelpunkt der Wissenschaft,
nicht der trockenen dürren Brodwissenschaft, mit der die übrigen Uni¬
versitäten die Jugend fütterten, sondern jener wahrhaft wissenschastli-
chen Interessen, jener lebendigen Forschung, deren einziger Zweck die
Erkenntniß ist. Die besonders auf den Universitäten nicht mehr be¬
achtete, zurückgesetzte oder in den Staub der Trivialität herabgezogene
Philosophie flüchtete sich nach Berlin und begann von hier aus ihre
neue Entwickelung. Als Hegel den Lehrstuhl in Berlin betrat, fing
sich eben das philosophische Interesse in Deutschland aus seinem lan¬
gen Schlafe zu erheben an. Er war es, der es geweckt hat mit
seinem mächtigen, weit- und tiefgreifenden Geist, und ihm verdankt
daher auch die Berliner Universität — das abgerechnet, was Män¬
ner wie Fichte, Niebuhr u. s. w. schon früher geleistet hatten —
hauptsächlich ihre geschichtliche Bedeutung und jene letzten, schon mat¬
ter gewordenen Neste eines lebendigeren Geistes, der ihr vor den
übrigen Universitäten den großen Vorzug gewährt. Ein Geist ist es,
der noch, dahinsterbend, durch ihre Räume weht und sie lange Zeit
hindurch zur Repräsentantin eines neuen Strebens, eines neuen kräf¬
tig wissenschaftlichen Geistes gemacht hat. Bis auf den heutigen T"g
hat sich die dort studirende Juckend ein lebensvolleres, frischere-? Stre¬
ben erhalten, die allgemein wissenschaftlichen und philosophischen -dor-
träge werden mit einem Eifer besucht, wie man ihn an keiner ande¬
ren Hochschule findet, und es sind wohl nur die ganz gedankenlosen
Strohköpfe, die von Berlin nicht wenigstens etwas Interesse dafür
mitbrächten. — Hegel starb, nachdem er die Saat der Entwickelung
ausgestreut hatte. An seine Stelle traten seine Schüler, die sogenann-
ten älteren Hegelianer, Männer, die in dem Dogma des Systems
festgewurzelt^ das eigentliche Wesen desselben, die Entwickelung, ver¬
gaßen. Aus ihnen wuchs eine classische Natur hervor, Eduard
Gans, dessen Wirksamkeit nach der Hegel's zuerst wieder von wirk¬
lich historischer Bedeutung ist. Den ersten Kampf mit dem starren
Dogma unternehmend und es zuerst durchbrechend, ist er wohl an
diesem gewaltigen Zwiespalt zu Grunde gegangen. Dem: Gans
war nicht der Mann, dem es in dem dumpfen Gebäude der festge¬
wordenen Schule lange behagen konnte; er fing an, seinen Meister
zu begreifen, sein stolz emporstrebender Geist war nicht dazu geschaf¬
fen, abstracte Kategorien zu entwickeln, sein lebendiger, feuriger Cha¬
rakter zog ihn zum Leben hin, zur Geschichte, zur Politik. Eine Er¬
scheinung wie Gans hat wiederum die Geschichte keiner anderen
Universität aufzuweisen. Alle, die ihn gehört, erinnern sich seiner mit
Liebe, mit Verehrung, ja mit Begeisterung. Der kleinliche Neid hatte
ihm in der Regel gewöhnlich recht enge, kleine Hörsäle angewie¬
sen, aber schon in der ersten Vorlesung konnte gewöhnlich der be¬
schränkte Raum die herbeiströmende Menge nicht fassen, man drängte
sich, man rang um die Plätze, man stellte sich auf die Fenstergesimse,
auf die Ofenabsätze, man mußte endlich, da der Zudrang immer
größer wurde, nach dem größten Auditorium auswandern. Ein weh¬
müthiges Gefühl ergreift mich jedesmal, wenn ich in diesen Hörsaal
trete. Hier hielt Gans seine berühmten historischen Vorlesungen und
regte eine Lebendigkeit und eine Begeisterung unter seinen Zuhörern
an, wie sie wohl nie, weder vor noch nach ihm, ein deutscher Pro¬
fessor angeregt hat. Gans's Katheder war auch kein Lehrstuhl,
es war eine parlamentarische Tribune, sein Wort nicht das gedrech¬
selt, aufgeschriebene und abgelesene eines Professors sondern der
feurige wnrmc Hauch des Lebens. Da saß er mit dem männlich
schonen Kopf und dem imperatorischen Blick, in stolzem Selbstgefühl
auf die zusammengeschichteten Massen herabschauend und ihnen die
Fülle seines Geistes in großartigen Worten entaegendonnernd; ein
zweiter Mirabeau, diesem auch ähnlich durch die mehr deklamatori¬
sche Gewalt seines Wesens. Er war es, der zuerst auf einem deut¬
schen Katheder zu sprechen und in der Jugend die Begeisterung für
eine lebendigere wissenschaftliche Erkenntniß anzufachen wußte; ein
freier, rücksichtsloser Mann, war er überhaupt der Erste, der mit den
Waffen des lebendigen Wortes den Kampf gegen die Bornirtheit
und das Vorurtheil unternahm, dieses Wortes, das bald hochgeho¬
ben durch das innere leidenschaftliche Feuer, bald eine kalte oder hu¬
moristische und tiefsatyrische Geißel der Dummheit war. Auch war
er es, der nach Fichte's und Hegel's Vorgang, wieder den Anfang
damit machte, die französische Revolution in ihrer Idee aufzufassen,
in ihrer Entwickelung zu charakterisiren, ihre Helden von den dum¬
men Vorurtheilen zu befreien, die der Unverstand über sie gebreitet
hatte. Konnte er auch noch nicht die strenge theoretische Durchar¬
beitung der Sache geben, die die entschiedene, mit der Vergangenheit
abschließende Kritik jetzt liefert, so hatte er doch bei den meisten Par¬
tien die wichtigsten Gesichtspunkte und besonders eine geistvolle, wenn
auch nicht immer wahre Auffassung des Ganzen. Die Revolution
war ihm nicht gestorben, sie lebt noch, sie macht die große Reise um
die Welt und Napoleon war ihm der großartige Held, der sie auf
seine atlantische Schulter nahm und durch die Gefilde Europas trug,
das letzte große Individuum, das die Geschichte hervorgebracht hat.
Ich habe noch jene letzten Vorlesungen besucht, die Gans im Win¬
tersemester 1838—39 über „Geschichte der neueren Zeit" hielt. (Der
Facultätsneid hatte ihm untersagt, historische Vorlesungen zu halten,
da er bekanntlich Jurist war, er mußte daher auf die Ankündigung
setzen: „mit Bezug auf rechtliche Verhältnisse") Am Schlüsse dieser
Vorlesungen sagte er, er wolle und könne nicht prophezeihen, aber
die Zukunft der Geschichte sehe er klar vor sich. Die Geschichte der
neueren Zeit sei die einer großartigen Revolution. Früher habe der ^
Adel die Revolutionen gemacht, überhaupt die Privilegium, da habe
dann die französische Revolution die Aristokratie des dritten Standes
geschaffen, der die alte Welt umgestoßen und seine Privilegien ge¬
sichert habe mit Hilfe des Volkes, d. h. des armen Volks, des Pö¬
bels. Die dritte Revolution werde aber die dieses Pöbels, der g""^
zen großen Masse der Nichtprivilegirten und Besitzlosen sein; und wenn
diese einträte, werde die Welt erzittern. Das waren die le^en Worte
die Gans auf dem Lehrstuhl gesprochen. Unter lautem anhaltendem
Beifallruf verließ er den Hörsaal, den er nie wieder betreten sollte.
Sein letztes Wort war eine Prophetie.
Als der Frühling kam, da starb Eduard Gans in der Blüthe
seiner Jahre. Sie sangen fromme Lieder, sie predigten, sie beteten
und weinten an seinem Grabe; sie wußten, was sie verloren und
begriffen es doch nicht. Mit ihm war der lebendige Hauch unter¬
gegangen, den seine großartige Persönlichkeit dem deutschen Universi¬
tätswesen noch einzuhauchen wußte; er hatte es verstanden, innerhalb
des veralteten Instituts noch ein neues Leben zu schaffen, ein frischer,
grünender Baum hatte er einsam dagestanden in dürrer Sandwüste.
Mit seinem Tode war das natürlich aus, und die verwelkten Sträu¬
cher um ihn her, die an seiner Kraft gesogen, von ihr gelebt hatten,
senkten wehmüthig ihre Häupter. Mit Gans' Leichnam wurde der
letzte Lebensfunke begraben, den die Universitäten noch in sich gebor¬
gen hatten, der letzte glänzende Schein, den sie noch über sich ge¬
breitet hatten; Gans mußte sterben, ehe der große Kampf begann,
der diesen und all und jeden Schein zu einer Wahrheit machen wollte:
diesem neu sich durcharbeitenden Geiste mußte er Platz machen, und
wir wollen nicht fragen, wie er sich zu ihm verhalten hat, da er in
dem Kampfe mit dieser neuen Entwickelung wahrscheinlich gestor¬
ben ist.
Fast unmittelbar nach Gans' Tod beginnt an der Berliner
Universität, so wie in Preußen überhaupt eine Reaction gegen die
Wissenschaft, so wie auf der anderen Seite wieder die Herausarbei-
tung der letztern aus den Schranken des Universitätswesens überhaupt.
Mail fing an, die ersten Konsequenzen der bisher begünstigten Phi¬
losophie zu sehen und geriet!) in Angst und Schrecken davor; man
wollte endlich Einhalt thun. Die Kämpfe, die hier beginnen und
sich durch die folgenden Jahre hindurchziehen, trugen nur dazu bei,
das Wesen der Universitäten klar und deutlich zu entwickeln. Die
letzteren, bisher „die Sitze der freien Wissenschaft" genannt, sollten
einem ganz neu aufstrebenden Geiste gegenüber beweisen wie weit
diese Freiheit gehe und ob mit ihr Ernst gemacht werden dürfe.
Denn bis jetzt war Alles, Altes und Neues, Freiheit und Unfreiheit
noch wild durcheinander gelaufen, das Neue aber fing mit einem
Male aus diesem Wirrwarr herauszustreben an, entwickelte sich zur
Klarheit und sagte kritisch, bewußt und entschieden von jedem Zu¬
sammenhang mit dem Alten sich los und nun stießen die Sitze der
„freien" Wissenschaft und Forschung es von sich aus. Natürlich.
Sie kennen ja nur eine Freiheit, die innerhalb ihrer Grenzen und
Voraussetzungen sich bewegt, eine andere, die darüber hinaufstrebt,
und machte sie die nüchternsten, mühevollsten Forschungen und fände
sie die schlagendsten, unwiderlegbarsten Wahrheiten, dürste sie noth¬
wendig nicht dulden. So konnte man wohl auf Gans' Lehrstuhl
einen Stahl, überhaupt einen Schelling nach Berlin, einen
Hävernick — den würdigen Schüler Hengstenberg's, bekannt als
orthodoxer Ereget des Alten Testaments — nach Königsberg berufen,
während man eine Kritik und Forschung wie die Bruno Bauer's
aus Bonn vertreiben mußte. Diese letztere war ja aber nur das
Resultat eines anderen Standpunktes, den sie überschritten, aus dem
sie sich entwickelt hatte, eines Standpunktes, der allerdings auch eine
gewisse Freiheit der Forschung in Anspruch nahm — man denke
z, B. an die Kritik Vatke's — den aber die Resultate
seiner Arbeit noch nicht in direkten Widerspruch mit dem Universi¬
tätswesen gesetzt hatten und den man deshalb auch nicht so leicht
verjagen konnte. Man mußte es versuchen, ihn auf andere Weise
zu bekämpfen, und dieser Kampf war es, zu dem man die Neube¬
rufenen bestimmte, die in den letzten Jahren, besonders in den
Räumen der Berliner Universität, alle jene vielbesprochenen lächerli¬
chen Komödien aufgeführt haben. Wo in irgend einem Winkel ein
Mann von Geist saß, den man für fähig hielt, dem alten Positiven
einen neuen Glanz zu verleihen, die abgestorbene Romantik mit neuem
Glimmer zu umgeben, da berief man ihn gewiß nach Berlin. Doch
war man auch wiederum liberal; auch ein Paar politische Flücht¬
linge, die Brüder Grimm, sollten eine Zierde der preußischen Haupt¬
stadt und ihrer Hochschule werden, ein Paar brave, ehrliche Bieder¬
männer, ausgezeichnete und auch geistvolle Gelehrte, aber weder
Universitätslehrer, noch von Bedeutung für die Zeit. Das letztere
wußte man wohl vorher, und ich habe mich längst gewundert, daß
die loyalen und ehrlichen Brüder nicht schon früher — wie sie jetzt
gethan — eifrig gegen die Masse der bewußtlosen Schwätzer und
Lärmmacher protestirten, die sie durchaus zu einer politischen Scheuch¬
puppe machen wollten. - So sprach man auch lange mir großer
Wichtigkeit davon, daß nun auch Rückert nach Berlin kommen
werde. Rückert kam wirklich, der Beginn seiner Vorlesungen ist an¬
gekündigt, der Hörsaal ist gedrängt voll. Unter dem tiefsten, erwar¬
tungsvollsten Stillschweigen der versammelten Zuhörer besteigt der
gelehrte Dichter den Katheder, man sieht seine hohe Gestalt über dem
Hefte liegen, hört einige abgebrochene Laute, aber versteht kein Wort.
Natürlich waren bei diesem gänzlichen Mangel an allem Vortrag
Rückert's weitere Vorlesungen fast gar nicht besucht. Er hat sie fast
ganz eingestellt, da er überhaupt nur sehr ungern liest. — Aus sei¬
nem mystischen Versteck hervor, in das er sich vierzig Jahre gehüllt
hatte, ruft man einen dem Grabe nahen Greis, den Einzigen, auf
den man seine größte Hoffnung gesetzt hatte. Er sollte mit sei¬
nem gewaltigen Zornwort die junge Zeit niederschmettern, mit seiner
Autorität den aufstrebenden neuen Geist an der Universität vernichten.
Dieser aber war ihr leider schon längst entflohen; aus ihr heraus
gewachsen, hatte er schon außerhalb ihrer ein neues frisches Wirken
begonnen. Es handelte sich schon nicht mehr um eine neue Lehre,
ein neues Dogma, sondern um die Kritik, die sich jetzt an Alles
wagte, Alles zu durchdringen anfing, was die Welt bisher beherrscht
hatte. Doch wurde die Erscheinung Schelling's in Berlin wie eine
Weltbegebenheit begrüßt, mau sah darin den Beginn eines neuen
Kampfes, man glaubte damals noch an die Bedeutung der Univer--
sitäten, es sollten in jenem Winter großartige, entscheidende Thaten
geschehen. Alle die damaligen Parteien erwarteten Schelling mit
Spannung, Alles war begierig, sein neues System zu hören, mit dem
er die „Schmerzen" der Zeit heilen, den Sturm der Zeit beschwören,
den vierzigjährigen Irrthum, zu dem er still geschwiegen, vernichtet!
und eine neue Wahrheit verkündigen wollte. Als ob die Kritik nicht
eben damit beschäftigt gewesen wäre, die große welthistorisch neue
Wahrheit, die Wahrheit, die das achtzehnte Jahrhundert, der ganzen
Vergangenheit gegenüber, entdeckt und geschaffen, die unsere ganze
Zeit mit allen ihren politischen und wissenschaftlichen Heroen bewegt
und durchschüttert hat, als ob nicht, sagen wir, die Kritik damals
gerade angefangen hätte, diese einzig neue Wahrheit kritisch und kon¬
sequent zu entwickeln. Schelling's Hörsaal gewährte einen höchst in¬
teressanten, mehr spaßhaften als ernsten Anblick; ein Gemisch der
verschiedenartigsten Köpfe und Trachten drängte sich dort bunt durch
einander, alte und junge Universitätslehrer der verschiedensten Farben
und Fächer, Geheimräthe mit Glatzen und goldenen Brillen, Beamte,
Lehrer, Journalisten, Studenten, Kaufleute, Commis u> s. w., die
vielen Offiziere und besternten Generale nicht zu vergessen. In allen
Kreisen und Gesellschaften sprach man ja von Nichts als von Schel-
ling, und da mußte man doch natürlich in seine Vorlesungen gehen,
um auch ein Wort mitsprechen zu können. Selbst die Eckensteher, die
Barbiere u. s. w. konnte man von Schelling reden hören. Als ich
einst in einer Conditorei Kaffee getrunken hatte und um fünf Uhr
eilig weglief, sagte mir die Ladenmamsell: Ach, Sie wollen gewiß
zu Schelling.
Schelling trat mit einer anmaßenden, vielversprechenden Rede
auf und ennuyirte darauf seine Zuhörer fünf Monate lang. Sie
harrten auf das große Erlösungswort und bekamen Nichts als my¬
thologischen Wust, Malicen auf die neueren Bestrebungen, Vornehm¬
heit und hohle Abstractionen. In den nächsten Semestern waren die
Vorlesungen Schelling'ö nur von einer unbedeutenden Zuhörerschaft
besucht, der Eifer verminderte sich; es war ein kurzer Triumph, der
Nichts bewirkte als einige erzwungene Demonstrationen und Huldig¬
ungen, die wieder eine Masse anderer Gegendemonstrationen und
Fackelzüge zur Folge hatten, wobei die gelehrten Herren sich vom
Fenster aus unter dem Hurrahrufen der lieben Jugend und zum Er¬
götzen der neugierigen Berliner als Redner geritten. Außer diesen
Straßenspektakeln hielt man auch Vorlesungen gegen Schelling —
Michelet und auch Rosenkranz in Königsberg — hielt man es
der Mühe werth, gegen ihn aufzutreten, da doch sein Wirken inmit¬
ten einer Zeit, die er nicht mehr verstand, und die er nicht bekämpfen,
sondern nur verächtlich behandeln konnte, höchst bedeutungslos
war. So ist denn auch diese letzte Berliner Universitätökomödie ohne
weitere Resultate spurlos vorübergegangen. Man wollte den Geist,
durch den die Berliner Universität ihre Bedeutung erhalten hatte, ver¬
drängen und durch einen anderen, wie man ihn gerade haben wollte,
ersetzen. Man hatte aber dabei ganz vergessen, daß von jenem nur
noch die überschrittenen Standpunkte innerhalb der Universität zurück¬
geblieben waren, denn die Entwickelung derselben ist ja so schon von
den Universitäten weggezogen oder von ihnen ausgestoßen und hatte
außerhalb ihrer Schranken schon ihre neuen Thaten begonnen. Wo
gesagt, die Facultäten haben nur die Entwickelung und den Fort¬
schritt von sich vertrieben, weil er sich nicht mehr mit ihrem Wesen
vertragen, weil er so weit gediehen war, daß er sich von ihnen eman-
cipiren konnte. Was da noch zurückgeblieben, was sich noch unter
dem Namen freier Wissenschaft da bewegt, ist entweder abstracte
Theorie, die höchstens mit einer anderen abstracten Theorie im Kampf
liegt, oder wenn sie dies nicht ist, so geht ihre Freiheit bis an die
Grenze, wo sie mit der bestehenden sanctionirten Wahrheit in Colli-
sion geräth oder gerathen könnte, wenn sie dieselbe nicht vertuschte
und vermiede. Hätte sie auch über diese Grenze hinaus die höchsten
neuesten Wahrheiten gefunden, sie müßte sie verschweigen, denn — es
gilt die Ausstoßung aus der Facultät. Das aber, was diese Stand¬
punkte, die sich so mit dem Universitätswesen noch einigen, thun und
arbeiten, ihre Forschung und Kritik ist durch das, was die
neueste Kritik gethan und geleistet hat, längst überwunden und un¬
nöthig gemacht. Wer es noch würdigen will, mag es immerhin von
Seiten seiner praktischen Nützlichkeit für die aufstrebende Jugend wür¬
digen, von objectiv-wissenschaftlicher Bedeutung, von Bedeutung für
die Zeit ist es nicht mehr; und davon sprechen wir auch hier nur,
nicht von der Wirksamkeit und den früheren und jetzigen Verdiensten
einzelner Lehrer in ihren besondere!: Kreisen. Wir hoffen übrigens,
daß man auch dieses letzte Restchen beschränkter Freiheit der Wissen¬
schaft und Forschung noch an den Universitäten unterdrücken wird,
damit dieselben ihr Wesen, nicht Institute der Wissenschaft, sondern
Staatsanstalten, d. h. Anstalten dieses bestimmten, z. B. christlichen
Staates und seines Prinzips. Anstalten zu sein, in denen diesem
Staate seine Diener und Beamten eingelernt und abgerichtet werden,
immer freier und ungeschminkter Darstellen können; es wird gewiß
noch dahin kommen, daß auf ihnen die Wissenschaft nach vorgeschrie¬
benen Compendien gelehrt wird, man wird der „freien" Forschung
vorschreiben, wie sie nur forschen darf.
Den Neactionskomödien entsprechen die Freiheitö- und Fort-
schrittökomödien, die in der letzteren Zeit von Lehrern und Studirenden an
der Berliner Universität aufgeführt wurden. Es ist dies Nichts als
reiner inhaltsloser Skandal und die Negierung thut Unrecht, ihn zu
fürchten oder zu unterdrücken. Von dem großen und bewährten Mann
der Freiheit, dem Doctor Theodor Mundt gar nicht zu reden,
der jetzt dort „Aesthetik vom christlichen Standpunkt" liest und eine
Schrift über „die protestantische Universität" herausgegeben hat, so
mußte wenigstens ein Nauwerk, wenn er eben Universitätslehrer
sein und bleiben wollte, wohl seine Stellung als solcher kennen. Eine
Probe brauchte er nicht erst zumachen, denn diese ist längst gemacht;
er hat gegen seine Stellung gefehlt und kann sich nicht beklagen, daß
man ihn aus derselben vertrieben hat; man hat consequent gegen
ihn gehandelt. Was aber die mit seinen Vorlesungen und seiner
Wegweisung mehr oder minder zusammenhängenden Studentemmru-
hen betrifft, so weiß jeder vernünftige, klare Beobachter der Verhält¬
nisse, was er davon zu halten hat. Es ist dies freilich der Funke
eines neuen Bewußtseins, der in diese Jugend gefahren ist: die Art
aber, wie dasselbe sich äußert, ist ein Beweis, wie unsicher und halt¬
los es noch ist. Die Zeit ist vorüber, wo man mit dieser massen¬
haften Aufregung, mit diesem Enthusiasmus und seinen Demonstra¬
tionen, mit Straßenkrawall, Liedersingen, Toasten und Gedichtdecla-
mationen, rin bloßer Auflehnung gegen die bestehende Gewalt und
Verhöhnung der Polizisten ein Held der Freiheit wurde und etwas
auszurichten glaubte. Die ernste, klare, ruhige, theoretische Arbeit
und Kritik ist es allein, die uns die Thore der Zukunft öffnet, mit
allem Schreien und Raisonniren und Nenommiren kommt man zu
Nichts. Denn auch der ernsteste Skandal wird zuletzt lächerlich und
läuft in Nichts aus. Das haben die Berliner Studentenbewegun¬
gen wieder einmal recht deutlich bewiesen.
Das dreizehnte Jahrhundert hatte Kreuzzüge, das vierzehnte und
fünfzehnte Heinrich den Seefahrer und Wcltentdeckungen, das sechs¬
zehnte Pulver, Lettern und Reformation, das Siebenzehnte hatte gar
Nichts, das achtzehnte die französische Revolution und das neunzehnte?
'"
„Hätt ich mir nicht die „Eisenbahnen vorbehalten,
„Ich hätte nichts Aparts für mich."
Sonst hieß ein Thor, wer auf Sand baute, jetzt sind sogar diejenigen
klug, die auf ein noch beweglicheres Ding, auf Luft bauen. Die Wien-
Hütteldorfer Lufteisenbahn (durch zweihundert Actien jede von zehn¬
tausend Gulden C.M. begründet) hat noch nicht die Sanction des
Kaisers erhalten und schon werden an der Börse die Actien mit drei¬
tausend Gulden Agio verkauft. — Der Ministerialerlaß in Berlin in
Bezug auf Börsenspekulation ist nicht ohne verderbliche Rückwirkung
für den hiesigen Platz geblieben. Seit Neujahr herrschte an der hie¬
sigen Börse eine fast immerwährende Steigerung der Papiere. Starke
Gewinnste und schwache Verluste. Das Verbot in Preußen mit noch
nicht ganz eingezahlten Actien zu handeln, hat seit acht Tagen die
Sache anders gestaltet, die dortigen Börsenspeculanten senden ihre
Vorräthe Hieher, und der Platz ist daher von Papieren überschwemmt.
Natürlich, daß dieses eine Krisis brachte; seit gestern sind die Actien
abermals in die Höhe gegangen. An einem wichtigeren Unternehmen
haben sich einige Kapitalisten in Oedenburg vereinigt- diese Stadt
nämlich mit Wiener-Neustadt (an der Südbahn gelegen) durch eine
zwei und eine halbe Meile lange Eisenbahn zu verbinden. Die Bau¬
kosten sind auf eine und eine halbe Million Münze veranschlagt und
das Unternehmen für den in Oedenburg zusammenströmenden unga¬
rischen Productenhandel von großer Bedeutung.
Die Säle der diesjährigen Kunstausstellung sind wieder geschlos¬
sen; die Klage, daß es in Oesterreich an historischen Bildern fehle, ist
in Oesterreich seit Jahren stereotyp; wie anders auch ? Ist doch das
Studium der Geschichte selbst an unseren Universitäten ein unobligates
und > nur für Jene vorgeschriebenes, die vom Schulgelde (zwölf
Gulden C.M. jährlich) befreit sein wollen. Sie sehen also, wie hoch
die Geschichte bei uns taxirt ist, aber auch sonst fehlte es an Bil¬
dern, die einen bleibenden Eindruck zurückgelassen hatten. Entwickelte
Technik und gar keine Poesie charakterisiren mit wenigen Ausnahmen
die diesjährige Kunstausstellung. Ammcrling's und Dannhauser's Bil¬
der (letztere abgesondert ausgestellt) und Raffelli's Gewitterlandschaft sind
die bedeutendsten Erscheinungen. Auch an Ungeheuerlichen fehlte es
nicht; Waldmüllcr's Kreuzesabnahme mit einem veilchenblauen Leib
des Herrn und Petter's Tod des heiligen Wenzel, der so abenteuerlich
gigantisch aufgefaßt ist, daß er nur Lachen erregen konnte. Auch Führich,
Schmorr und Kuppelwiescr, die heilige Trias der gottseliger Maler¬
kunst, blieben hinter ihrem Rufe zurück. — Die Anwesenheit Corne¬
lius' wurdedurch ein Souper gefeiert, das ihm die Akadcmiegab, wobei er
auf einen ausgebrachten Toast erwiedert haben soll: „Ich erhebe
dieses Glas auf das Wohl undGedeihen der Kunst und
Künstler in Wien. Mögen sie fortan nicht blos geduldet
sein, sondern geehrt und, in's Leben eingeführt, den
Rang einnehmen, der ihnen in einem gebildeten Staate
gebührt." Der Beifallssturm, mit dem diese Worte aufgenommen
wurden, beweis't nur zu deutlich, wie unsere Künstler in gar so ge¬
ringem Grade Patrioten sein können.
Das Fronleichnamsfest wurde, wie jedes Jahr, feierlich began¬
gen und erhielt diesmal eine besondere Bedeutung. Seit längerer
Zeit nämlich regt sich die Eifersucht des wirklichen Militärs gegen das
paradirende Bürgercorps immer mehr; es kann diesem das goldene
Portepv und die Freiheit, mit auf Hofhallen sich am Büffet zu er¬
lustigen, nicht verzeihen. Man sprengte aus, daß beide Gerechtsame
den Bürgern entzogen werden sollten. Die Bürger verabredeten sich
daher, bei der Frohnleichnamsprozession nicht, wie es sonst gebräuch¬
lich ist, in höchster Gala zu folgen, sondern vielmehr völlig wegzu¬
bleiben. Der Bürgermeister erließ jedoch alsobald ein gedrucktes Ma¬
nifest, worin die Bürger an ihre frühere Tapferkeit gemahnt wurden
und worin die Grundlosigkeit der ausgestreuten Gerüchte angedeutet
und die Anmahnung zu „tapferer Ausdauer" enthalten war (letzteres ist
um so wichtiger, als die Bürgermiliz wahrend mehrstündigen Para-
direns sich gewöhnlich schaarenweise in Kneipen begibt). Wirklich
fehlte bei der Feier nicht ein Mann, und während die Waisenknaben
ihr rührend frommes Kirchenlied sangen, marschirren die Friedenswi-
daten beim Klänge Strauß'scher Quadrillen muthig hinterdrein.
Der literarischen Welt ferne stehend, höre ich gewöhnlich nur
von bedeutenderen Erscheinungen, und da ich Ihnen über solche Nichts
zu berichten weiß, so scheinen sich nur Produktionen gleichgiltiger Art
in die Druckwelt, aber nicht in's Leben zu fördern.
Die Schauspieler Baison und Devrient waren durch einige
Wochen Rivalen am Hofburgthcater; ersterer soll bei vielem Verstände
zu kalt, letzterer bei berechnetem Feuer zu geziert gespielt haben.
Wahrend aus allen Gegenden Deutschlands und Oesterreichs die
erfreulichsten Nachrichten über den Fruchtsegen dieses Jahres eingehen,
hört man aus Böhmen, namentlich aus dem Bidschower Kreise, die
betrübendsten Nachrichten. Hagelschlag und Winde sollen die Felder
verheert haben, und der Landmann soll froh sein, wenn er nicht die
Aussicht hat, verhungern zu müssen. Bei der geringen Kulturstufe,
auf welcher der Ackerbau noch in manchen Gegenden Böhmens sich
befindet, ist ein solcher Schlag doppelt hart. — Die geizige Wirth¬
schaft des Herrn Ballochini, ehemaligen Schneidermeisters und zeitwei¬
ligen Impresario unseres Kärnthner-Thortheaters, geht nun zu Ende.
Der Pachtcontract wurde ihm nicht wieder erneuert, sondern ein neuer
mit dem wackeren und eifrigen Direktor des Josephstädter Theaters,
Herrn Pokorny und dem bisherigen Geschäftsführer des Herrn Ballo¬
chini, Herrn Merelli, abgeschlossen. Beide übernehmen das Theater in
Compagnie; ob der Böhme und der Italiener in dieser Gemeinschaft
sich vertragen werden, wird von Manchem bezweifelt. Pokorny ist im
Publicum wegen seiner Gutmüthigkeit und Generosität beliebt. Herr
Merelli gilt als ein Zögling Ballochinischer Theaterpolitik, was kein
günstiges Vorurtheil für ihn erweckt.
Der Erlaß des Preußischen Ministeriums gegen den Eisen-
bahnactienschwindel, der nicht blos in Berlin und Breslau, sondern auch
in Wien, Hamburg, überhaupt an allen großen Börsenplätzen Deutsch¬
lands eine fürchterliche Krisis und ungeheuere Verluste herbeigeführt
hat, kann den Regierungen als eine große und wichtige Lehre dienen.
In Frankreich könnte eine solche Maßregel den Sturz eines
Ministeriums herbeiführen. Wir verlangen für Deutschland eine solche
Rigorosität nicht. Bei den vielfachen Geschäften, die auf den Schul¬
tern eines Gouvernements ruhen, bei den mannigfachen Decreten, die
es zu erlassen hat, kann man eine Maßregel, die namentlich
einer wohlgemeinten Absicht entsprang, nicht so hart strafen. Wohl
aber ist sie ein warnendes Ulme kekek gegen den Hochmuth, mit
welchem gewisse Staatsmänner die Kritik und den Rath der Presse
betrachten; gegen den Dünkel, in welchem manches Gouvernement
seine Beschlüsse für unfehlbar halt. Von einem Acte, wie der in
Bezug auf den Börscnschwindcl, dessen unglückliche Folgen ihm so
schnell auf dem Fuße gefolgt waren, über dessen Unangemessenheit je¬
der Börsenmakler richten kann, kurz von einem Gesetze, das auf den
lautesten Markt kam, lernt selbst der gemeine Mann auf andere Dinge
schließen. Wie viele Erlasse mögen aus dem Ressort des Ministeriums
jährlich gehen, deren Erfolge, wenn auch erst spater, minder heftig
und plötzlich, darum nicht weniger nachtheilig sich bewähren? Dieses
Mal ist alle Welt Richter und Verständiger; wie aber bei Dingen,
die nicht auf den lauten Markt kommen und über die nicht Jeder¬
mann urtheilen kann? Wir gehören nicht zu Denjenigen, die in jeder
Maßregel eines Ministeriums reaktionäre und absolutistische Tendenzen
wittern; wir setzen sogar den besten Willen und die wohlmeinendsten
Absichten voraus, aber die unfehlbare Ecipacität streiten wir Jeder¬
mann, selbst den Höchstgestellten ab; wir glauben nicht, daß ein Mi¬
nister und seine wenigen Räthe klüger sind, als der Gesammtverstand
der Nation, daß diese unbedingt als gut anerkennen müsse, was Jene
im geheimen Scrutin beschlossen. Die Organe der öffentlichen Mei¬
nung, sei es nun die Presse, seien es Stände oder Deputirte, müssen
die Regierung unterstützen, müssen ihr Aufklärung und Rath geben
über alle Dinge, die selbst ein Minister mit dem schärfsten Verstand
und mit dem patriotischsten Herzen (und nicht viele Minister sind so
ausgestattet) unmöglich ergründen kann. Das Börsenedict geht den
Leuten an den Beutel, darum schreien sie lauter als bei Dingen, die
blos Geist und Seele betreffen. Aber die höhere Einsicht eines Gou¬
vernements muß wissen, welche Bedeutung letztere im Staatsleben
haben. Möge es durch das wirksame und heftige Geschrei auf der
einen Seite auch stutzig werden in seinem Selbstvertrauen auf der
anderen, möge es die Hand auf's Herz legen und sein Gewissen be¬
fragen, ob es sich auf dem Gebiete des Justiz-, des Unterrichts-, des
Militär-, des Beamtenwesens nicht ahnliche unglückliche Irrthümer
und Mißgriffe zu Schulden kommen läßt, möge es in Zukunft eine
ernsthaftere und dankbarere Aufmerksamkeit schenken den Meinungen
jener großen Börse, die man die Presse nennt, und in der moralischere
und intelligentere Stimmen sich aussprechen, als die interessirter
Geldspeculanten und Attienspieler.
Friedrich's des Großen Werke sollen in Berlin das Licht der
Welt erblicken, d. h. in einer nicht zu kostspieligen, dem ganzen Pub-
licum zugänglichen Gesammtausgabe erscheinen. So wird seit meh-
reren Jahren prophezeiht, und immer gibt es neue Hindernisse, die den
alten Fritz nicht in die Oeffentlichkeit lassen. Erst hieß es, man fürchte
die Censur. Der berühmte Fritz war bekanntlich nicht sehr christlich-
germanisch, und Preußen wäre in das Dilemma gekommen, entweder
seinen größten Mann, oder seinen jetzigen religiös-romantischen Nim¬
bus verläugnen zu müssen. Allein auch da ließe sich helfen. Einiges
könnte ein schöpferisch begabter Censor umgießen, Anderes ließe sich
durch den Umstand entschuldigen, daß Friedrich es nicht als König,
sondern als Kronprinz, also gewissermaßen mit noch „beschränkten Un-
terthanenverstande" geschrieben. Jetzt ist man auf eine neue Klippe ge¬
stoßen. Man hat plötzlich entdeckt, daß Friedrich der Große in der
Orthographie und Grammatik seines Französisch und auch in anderen
Dingen mehr Böcke, als seine Armee in allen Schlachten Feinde ge¬
schossen hat. Also wieder ein Dilemma. Soll man den angebeteten
Fritz als einen ungeschulten, ungebildeten, autodidaktischen Menschen
erscheinen lassen? Wird die Berliner Intelligenz so viel Pietät besiz-
zen, um sich nicht über die Unwissenheit des berühmten Königs zu
moquiren? Oder soll man selber die Impietät begehen und, wie
Schlegel angerathen hat, dem Helden sein Gewand sauber ausbür¬
sten und Manschetten anziehen, d. h. ihn sauber corrigiren und einen
eleganteren Styl schreiben lassen? Wir möchten doch lieber vorschla¬
gen, den Fritz mit Haut und Haar zu geben. Man sollte bedenken,
daß Napoleon auch ein schlechter Sprachmeister gewesen wäre und die
Orthographie mit der Willkür eines orientalischen Despoten mißhan¬
delt hat. Friedrich hat ja auch andere Böcke geschossen, als stylistische,
und ist doch Friedrich. .
Im Jahre 1834 erwartete ganz Deutschland mit Herzpochen
die Ankunft der Cholera. Im Jahre 1844 erwartet man mit ähn¬
lichem Herzpochen die Ankunft des ewigen Juden. Die Anstalten
zu seinem Empfange sind dieselben; als man für die Cholera sich rü¬
stete, wurden in den Spitälern neue Betten aufgestellt, mehr Kran¬
kenwärter engagirt, Bauchpflaster geschmiert u. s. w. Nun man für
den ewigen Juden sich rüstet, da werden in den Druckereien neue
Pressen in Bereitschaft gehalten, mehr Uebersetzer engagirt, Papierbal¬
len geglättet. Wo wird der ewige Jude zuerst ausbrechen? In Leip¬
zig stehen die Druckermngen der Deutschen Allgemeinen Zeitung von
früh bis Abends auf dem Nicolaithurm und sehen nach der Frank¬
furter Straße, ob er kommt. Die Kollmann'sche Buchhandlung hat
schon vor mehreren Wochen Commissäre nach Paris geschickt, um die
große Erscheinung an Ort und Stelle zu studiren und mit dem be-
rühmten Schwitz-Eugen zu contrahiren. Auch Otto Wigand, der
glückliche Gcheimnißkrämer, und zwei andere Buchhandlungen stehen
auf der Warte der Zeit. In Frankfurt will das Conversationsblatt
dem Ankömmling rasch den Weg abschneiden und mit Hilfe der lang¬
samen Thurn- und Tarif'schen Posterpedition den anderen Concurren-
ten vorauseilen. In Berlin haben drei Buchhandlungen und ein
Unterhaltungsblatt schon die Aermel aufgeschürzt, um gleich zuzugrei¬
fen. Wer sonst im lieben Vaterlande noch wartet und sich bereit
macht von Verlegern und „Lesefrüchten", ist uns zur Zeit noch un¬
bekannt; so viel ist gewiß, ganz Deutschland ist plötzlich judenfreund¬
lich geworden. Und wenn man auch die zeitlichen Juden noch nicht
emancipirt, den ewigen Juden steckt man mit beiden Handen in die
Emancipation. Denn wohlgemerkt, die zeitlichen Juden waren vor I8t)l)
Jahren Einwohner des Orients und können daher jetzt unmöglich bereits
germanisirt sein; der ewige Jude aber kommt direct aus Frankreich und
ist in drei Tagen mit Hilfe des Lexikons deutsch getauft. Und noch
ein Grund: die zeitlichen Juden sind Concurriren in allen Gebieten
des Handels und sind daher lauter Schwerenöther; an dem ewigen
Juden aber ist was zu verdienen, und der verdienstvolle Jude ist
überall willkommen, wie es offiziell heißt. Wenn nur der ^nit moi--
l»us nicht eben so viel fahle Gesichter zurückläßt, wie die t^iolei'!» er-
«'-ni. Wenn der ewige Jude nur die Erwartungen nicht betrügt;
dies könnte ein neuer Erschwerungspunkt gegen die Verleihung des
Staatsbürgerrechts an seine zeitlichen Glaubensgenossen werden.
'»ldUn'n',?»?»Ä!M!»«ol'i6»n it'.'l
— Nichts ist charakteristischer für unsere Zeit, als daß den Of¬
fizieren in Berlin vom Kriegsministerium verboten wurde, in Actien
Geschäfte zu machen Das Verbot setzt voraus, daß man den tapfern
Friedenskriegern dergleichen moderne Spekulationen zumuthet. Und
warum nicht? Man weiß, daß Soldaten eine Stunde vor der Schlacht
zu würfeln und die Karte zu biegen pflegen. Das Börsenspiel ist ja
auch nur Hazardspiel, und stehen wir nicht fortwährend am Vorabend
großer Ereignisse? Heutzutage, wo der Staatspapiermann, wie jener
Römer aus den Falten seiner Toga, aus Coupons und Actien Krieg
oder Frieden schüttelt, ist es nur billig, daß auch Mars auf die Börse
geht.
— Fast die ganze Aeitungspresse Europas beschäftigt sich mit des
Kaisers Nikolaus „acht Tagen in London"; weniger der politischen
Wichtigkeit wegen, welche die englische Fahrt haben mag, als wegen
des Schauspiels, das der Besuch des Alleinherrschers beim freiesten
Volk der alten Welt darbot. England bewies seine Gastfreundschaft
dem Czaren in glänzender, dem gleichzeitig anwesenden König von
Sachsen mehr in herzlicher Weise; die großartige Ungenirtheit der Na¬
tion aber spricht aus dem tausendstimmiger Concert, das die Londo¬
ner Jounialpresse anhob. Da machten sich alle Meinungen, Launen
und Eigenheiten John Bull's mit gleicher Freiheit Lust; die Tory-
vlattcr, welche die Honneurs machten, vergaben Nichts der Würde
Altenglands; es fehlte nicht an Bosheiten in den radikalen Zeitungen,
der große Chorus der populären Journalistik aber behandelte die Sache
mehr mit gesundem und lustigem Humor, als mit Aerger und Bit¬
terkeit. Es regnete Wortspiele und Karrikaturen; unter den charakte¬
ristischen Zügen, die man erzählt, wollen wir blos einen erwähnen.
Kaiser Nikolaus reichte dem Herzog (Wellington) die Hand zum
Kusse Wellington nahm die Hand und — schüttelte sie. Während
dle fashionable Welt den hohen Gast mit der seiner Persönlichkeit und
Stellung gebührenden Achtung empfing, versäumte sie nicht den Polen¬
ball den Lord Dudley Stuart jährlich am W. Juni veranstaltet; ja
es wurden in diesem Jahre dreimal so viel Billets als im vorigen
verkauft, und Graf Ostrowski, der, eines Attentatsplanes beschuldigt,
tausend Pfund Caution hatte stellen müssen, wurde von den aristo¬
kratischen Damen, die an der Spitze des Ballcomites stehen, mit
besonderer Auszeichnung empfangen. Wie es scheint, glaubte der
Kaiser, durch einen eclatanten Zug die Demonstration pariren zu müs¬
sen. Man erzählt, er habe durch seinen Gesandten ein Billet zum
Polenball verlangen lassen und dafür fünfhundert Pfund dem Comitv
geschickt, welches, wie vorauszusehen, das Geld zurückwies. Wir kön¬
nen diesem Gerüchte keinen Glauben beimessen, denn die fünfhundert
Pfund würden weniger Grofimuth, als Unzarthcit verrathen. Kaiser
Nikolaus wird wohl wissen, das; es sich nicht blos darum handelt, das
materielle Elend der Polen zu lindern. Könnten diese eine Unter¬
stützung von ihrem Feinde annehmen, so dürften sie ja nur um Am¬
nestie und Anstellung bitten; und es ließ sich doch nicht erwarten, daß
die Flüchtlinge sich selbst zu mehr als gemeinen Bettlern erniedri¬
gen würden. Oder sollten die fünfhundert Pfund andeuten, daß der
Kaiser sie fürnichts Besseres halte?
— Deutschland besitzt ein Gebrüderpaar, das in seiner Thätig¬
keit den merkwürdigsten und für unsere Verhältnisse bezeichnendsten
Gegensatz bildet. Beide Brüder sind öffentliche Charaktere und füh¬
ren die Feder, der eine öffentlich, der andere geheim; doch ist jener
nicht so allgemein bekannt, als dieser. Beide suchen politisch zu wir¬
ken, und thun dies auf die verschiedenste Weise, im verschiedensten
Sinn und wohl auch mit dem verschiedensten Erfolge. Ist diese selt¬
same Erscheinung noch Niemand aufgefallen? Wir meinen die Ge¬
brüder Brünnow, von denen einer deutscher Schriftsteller und Mit¬
glied des Leipziger Literatenvereins, der andere russischer Gesandter in
London ist. Jener hat einen Ulrich von Hütten geschrieben, der den
altgermanischen Freiheitsgeist im Herzen der Jugend anfachen soll;
dieser wird wohl weniger germanische Zwecke verfolgen und keine so
lebhaften Sympathien für deutsche Einheit und Größe hegen. Wir
möchten nur Eins wissen: welche von beiden Federn hat mehr Einfluß
auf unser Wohl oder Wehe? Die, welche politische Tendenzromane
zum Besten der deutschen Einheit, oder die, welche diplomatische No
ten im Interesse Rußlands schreibt?
— Ein Berliner Denker, der einem literarischen Novizen „eine
Anleitung, den wahren philosophischen Styl zu schreiben", gab, sagt
unter Anderm: Von besonderer Wichtigkeit sind die Worte: Stand¬
punkt und Forschung, wissenschaftlich und unwissenschaftlich, frei und
unfrei, bewußt und unbewußt, beschränkt und unbeschränkt nebst
den davon abzuleitenden Haupt-, Zeit- und Kraftwörtern; ferner die
Worte: in sich und an sich, außerhalb und innerhalb, von Außen
und von Innen; nicht zu vergessen „das Wesen", „die Entwickelung",
das „sich verhalten" und „sich bewegen". In diesen wenigen Zau¬
berformeln steckt der Inhalt der ganzen modernen Weltideen. setzest
Du noch statt: „Ich", jedesmal: „Die entschiedene Kritik", so wird
kein Berliner anstehen, Dich für einen tiefen Philosophen zu halten.
Obige Wörter dürfen aber in keinem Satze fehlen, er mag noch so
groß oder klein sein; je öfter sie in einem und demselben Satze vor¬
kommen, desto besser. Zum Beispiel: Die entschiedene Kritik, die sich
auf dem vollkommen freien Standpunkt der wissenschaftlichen For¬
schung befindet, muß das Wesen des vernünftigen Menschen, das heißt
des bewußten Menschen, des Menschen an sich, darin sehen, daß er
außerhalb der Schranken der Unfreiheit, sich vielmehr innerhalb des
Bewußtseins der menschlichen Freiheit bewege und gegen die von Au¬
ßen gegebenen Resultate der unwissenschaftlichen Entwickelung mit un¬
bedingter Freiheit verhalte. — Wie schlagend und wie schön zugleich!
Sagst Du dasselbe in gewöhnlichem unwissenschaftlichen Styl, so heißt
es: Ich glaube, ein gescheidter Kerl soll nicht dumm sein. — Damit
lockst Du aber keinen Hund vom Ofen.